Rundbrief Nr. 9 - Heinrich Jacoby - Elsa Gindler

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Rundbrief Nr. 9 - Heinrich Jacoby - Elsa Gindler
Rundbrief
Nr. 9 | September 2007
Rundbrief Nr. 9 | September 2007
In Beziehung sein, das heißt bewegbar, bereit auch zum Austausch sein – so wie es dieses Titelphoto auf eindrückli-
che Weise veranschaulicht. Wir hoffen, dass dieser Rundbrief anregt, wieder neu in Beziehung zu kommen mit Themen und
Fragen aus der Arbeit Elsa Gindlers und Heinrich Jacobys. Er enthält vielfältige Beiträge: Einige erinnern an den zehnten
Todestag Sophie Ludwigs, der Gründerin der Stiftung. Andere berichten von Erfahrungen, die Auseinandersetzung mit der
Arbeit Gindlers und Jacobys heute fruchtbar werden zu lassen - in der Zusammenarbeit mit Kindern mit Behinderungen, in
Unternehmen, in der Schule, im Leben. Die Frage „Stiftung – quo vadis?“ bewegt inzwischen viele Menschen in den Gremien
und im Umkreis der Stiftung. Zu diesem Thema hat es im Jahr 2007 erste Gesprächsabende gegeben, und Vorstand und
Beirat der Stiftung laden herzlich zu einem weiteren Treffen am 13. Oktober 2007 ein (vgl. S.24 ff). Es ist der ausdrückliche
Wunsch der Stiftungsgremien, mehr Menschen aktiv in die Stiftungsarbeit einzubeziehen.
Nicht zuletzt spiegelt auch die diesjährige Ausgabe des Rundbriefs die Veränderungen, die sich in der Stiftungsarbeit
vollziehen sowie die Suche nach Wegen, die Arbeit Gindlers und Jacobys lebendig zu erhalten und in ansprechender, anregender Form nach außen zu tragen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre!
Wolfgang von Arps-Aubert, Marianne Haag, Beate Lock, Inken Neubauer
Inhalt
Erinnerungen an Sophie Ludwig
S. 3
„Wenn man anfängt Prozesse mitzuerleben, wird es interessant“ (Marianne Haag)
S. 5
Was war der Anlass, dass ich zu Sophie Ludwig kam? (Helga Franke)
S. 6
Spüren ist Leben (Rosemarie Augustin)
S. 7
„Was ist weitergegangen?“ Arbeiten bei Sophie Ludwig – (Wolfgang von Arps-Aubert)
Erfahrungen
S. 10
Pause? Pause! (Beate Lock)
S. 12
Schmerzen fordern heraus! Wie antworte ich? (Birgit Rohloff)
Aus heutiger Sicht: Die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby
S. 13
Elsa Gindler als Begründerin einer somatischen Psychotherapie (Norbert Klinkenberg)
S. 15
„Ich hoffe, dass Sie bei mir nichts lernen werden...“ - Lernen und Erfahrung in der Arbeit Heinrich
Jacobys (Inken Neubauer)
Jenseits von `Behindert´ und `Nichtbehindert´
S. 21
Hearing Essay (Evelyn Glennie)
S. 23
Ein besonderer Augenblick (Katharina Voigt)
Stiftung - quo vadis?
S. 24
Stiftung - quo vadis? - Gesprächsabend am 8.Juni (Inken Neubauer und Birgit Rohloff)
S. 27
Brief an die Stiftung
S. 28 Rezensionen und Buchvorstellungen
S. 31 Nachrichten und Hinweise
Impressum: Rundbrief (Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung) ISSN 1861-8139 | Herausgegeben vom Vorstand der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung | ViSdP: Dr.
H.P. Wüst, Nassauische Straße 64, 10717 Berlin | Redaktion: W. von Arps-Aubert, Marianne Haag, Beate Lock, Inken Neubauer | Gestaltung: steffel: marketing&pr, Ulrike Steffel, Hamburg | Mit vollem Namen gezeichnete Beiträge decken sich nicht unbedingt mit der Meinung der Redaktion. | Auflage 650 | Redaktionsschluss für den
Rundbrief Nr. 10 / 2008: 31.5.2008
Photonachweise: Titelphoto: Édouard Boubat „Rémi“ | Seiten 3, 5, 8, 9, 15: Archiv der H. Jacoby/E. Gindler-Stiftung | Seite 11: http://www.flickr.com | Seite 22: © Werner
Bischof / Magnum Photos. Mit freundlicher Genehmigung von: Werner Bischof Estate | Seiten 19, 28: Silvia Hoffmann, Mit freundlicher Genehmigung entnommen
aus dem Buch: Klinkenberg, N.: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Stuttgart 2007. | Seite 26: Marianne Wüst | Seite 30: http://www.flickr.com/photos/lioness08/435666670/ | Seite 32: Martin Hoppe
Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung
Gemmeinnützige Stiftung des privaten Rechts | Teplitzer Straße 9 | 14193 Berlin-Grunewald | Tel. 030-89 72 96 05 | Fax 030-89 72 96 04
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Erinnerungen an Sophie Ludwig
Aus Anlass des zehnten Todestages von Sophie Ludwig (21.09.1901-7.8.1997) eröffnen wir den Rundbrief
mit Erinnerungen an sie und ihre Arbeit. Langjährige Schülerinnen und Schüler berichten, wie sie die Arbeit
bei Sophie Ludwig erlebt haben und welche Erfahrungen ihnen dadurch möglich wurden. Die Beiträge zeichnen sicher kein vollständiges Bild, richten aber unterschiedliche Blicke auf Sophie Ludwig und ihre Arbeit.
„Wenn man anfängt, die Prozesse mitzuerleben,
wird‘s interessant“
Im August 1997 ist Sophie Ludwig im Alter von 96
Jahre gestorben.
Es war 1921, als sie bei Elsa Gindler die Ausbildung
zur Gymnastiklehrerin abschloss. Sie erlebte mit,
wie sich durch die beginnende Zusammenarbeit von
Elsa Gindler und Heinrich Jacoby deren Arbeit in ihren Fragestellungen weiter präzisierte. 1926 ermög­
lichte sie Heinrich Jacoby, der zu dieser Zeit noch in
Dresden wohnte, nach Berlin umzusiedeln, indem
sie eine große Wohnung zum Wohnen und Arbeiten
am Schöneberger Ufer mietete, mit Jacoby als Untermieter. Einmal wöchentlich arbeitete eine Gruppe, an der Heinrich Jacoby teilnahm und zu der auch
Sophie Ludwig gehörte, morgens unter Leitung von
Elsa Gindler in deren Atelier an der Kurfürstenstrasse.
Anschließend traf sich dieselbe Gruppe, an der jetzt
auch Elsa Gindler teilnahm, in Jacobys Arbeitsraum
am Schöneberger Ufer und arbeitete unter dessen
Leitung dort weiter. Sophie Ludwig war bei gemeinsamen Ferienkursen von Gindler und Jacoby dabei,
so auch 1933 in Ermatingen (Schweiz), als Heinrich
Jacoby danach nicht mehr nach Berlin zurückkehren
konnte. Aus dieser und der folgenden Zeit ist eine
reiche, bisher noch unerschlossene Korrespondenz
zwischen Jacoby, Gindler und Ludwig erhalten, welche ihre Auseinandersetzung über Arbeitsfragen in
der Zeit des Nationalsozialismus enthält. Nach dem
Krieg konnte sich die Zusammenarbeit mit Heinrich
Jacoby auch wieder in unmittelbarer Begegnung
fortsetzen. Elsa Gindler und Sophie Ludwig wohnten
und arbeiteten nun gemeinsam in Berlin-Dahlem.
Die Lebensumstände haben es so gefügt, dass Sophie
Ludwig wie niemand anderes Elsa Gindler und Heinrich Jacoby über Jahrzehnte begleitet hat und sich
selbst engagiert auseinandersetzte mit deren Arbeits-
fragen. Niemand war so vorbereitet wie sie, verantwortlich zu werden für das Weiterwirken von deren
Arbeit. Diese ihr nach dem Tod von Gindler und Jacoby gestellte Aufgabe, die sie oft auch als große Bürde
empfand, erfüllte Sophie Ludwigs Leben. Elsa Gindler
und Heinrich Jacoby ließen die Menschen ihre ihnen
von der Natur gegebenen Möglichkeiten bewusst erfahren und regten an zu selbständigem Erkunden und
Probieren. In Versuchen mit unterschiedlichen Stoffen (etwa Bewegung, Sprechen, Musik, Hell-Dunkel)
wurden Voraussetzungen geschaffen, dass sich Lebensmöglichkeiten entfalten konnten. Solches Arbeiten wurde Sophie Ludwig zum eigenen Anliegen. Was
sie durch Gindler und Jacoby erfahren hatte, leitete
S. Ludwig im Arbeitsraum am Schöneberger Ufer, 1942
Erinnerungen an Sophie Ludwig | 3
Aber das ist eine Grundfrage: Fürs Hören strengen wir uns an. Fürs Sehen strengen wir uns
an, denn wir wollen ja sehen. Und wenn Sie merken, ich bin so (demonstriert: mit hochgezogenen Schultern), halten Sie‘s ein bisschen fest, freuen sie sich ‚Ich merk es‘. Und dann merken Sie: Verlangt diese Arbeit eigentlich, dass ich mich so dafür anstrenge? Und dann können
Sie merken, vielleicht können Sie aufatmen. (Sophie Ludwig, Einführungskurs am 8.2.1991)
sie. Sie erkannte die Dringlichkeit, deren Fragen zu
vermitteln und erfahrbar werden zu lassen, denn nur
diese konnten Grundlage werden für die notwendige
selbständige und bewusste Auseinandersetzung.
Wie der Beitrag zu `Elsa Gindler als Begründerin einer somatischen Psychotherapie´ auf Seite XX zeigt,
berufen sich heute zahlreiche Therapierichtungen auf
Elsa Gindler. Die Erfahrungen bei Elsa Gindler wirkten
im Leben vieler Menschen fort. So sind manche Aspekte von Gindlers Arbeiten zum Tragen gekommen.
Sophie Ludwig hat durch ihre Vermittlung der von
Jacoby und Gindler erforschten Fragen in Kursen und
durch die Herausgabe von Dokumenten entscheidend
dazu beigetragen, dass auch heute die Möglichkeit
besteht, der Fülle des Arbeitens von Elsa Gindler
und Heinrich Jacoby zu begegnen. Sie hat Kursdokumente Jacobys („Jenseits von `Begabt´ und `Unbegabt´“) veröffentlicht, Zeitschriftenartikel Jacobys
neu herausgebracht und ein Buch über Elsa Gindler
(„Elsa Gindler – Wahrnehmen, was wir empfinden“)
vorbereitet. Dadurch hat sie die Arbeit Gindlers und
Jacobys über den engen Kreis direkter Schülerinnen
und Schüler einer größeren Öffentlichkeit zugänglich
gemacht.
Es war eine große Aufgabe für Sophie Ludwig, sich in
den Dienst an der Arbeit ihrer beiden Lehrer zu stellen, die herausragende, berührende Persönlichkeiten
waren, und dennoch ihre eigene Sprache zu finden.
Sie hat immer wieder probiert, was Elsa Gindler und
Heinrich Jacoby zentral bewegt hat, zum Kern auch
4 | Erinnerungen an Sophie Ludwig
ihrer eigenen Arbeit werden zu lassen. Sophie Ludwig
hat die Arbeit dieser beiden Menschen in einer Weise
zusammengebracht, wie nur sie es konnte, die mit
beiden Jahrzehnte verbunden war und der die Arbeit
von beiden zum Teil ihres Lebens wurde. 1985 hat
Sophie Ludwig die Heinrich-Jacoby/Elsa-GindlerStiftung ins Leben gerufen und damit auch organisatorische Voraussetzungen geschaffen für das weitere
Wirken der Arbeit Gindlers und Jacobys.
„Wenn man anfängt die Prozesse mitzuerleben, wird‘s
interessant“, entgegnete Sophie Ludwig oft, wenn
Kursteilnehmer stöhnten über die ihnen spürbar werdende, noch zu leistende Arbeit mit sich. Manche
empfanden sie als „strenge Lehrerin“. Ihr aber ging es
nicht um etwas, das sie forderte. Sie versuchte deutlich werden zu lassen, dass die Gesetzmäßigkeiten
im Spiel unseres Organismus nicht zu umgehen oder
„auszutricksen“ sind.
Es steht noch aus, Sophie Ludwigs Arbeiten zu dokumentieren. Hier und auf anderen Seiten des Rundbriefs
finden sich einige Zitate aus der Tonbandabschrift
eines ihrer Kurse zur „Einführung in Fragen und Aufgabenstellungen aus der Arbeit von Elsa Gindler und
Heinrich Jacoby“. Sie sind unter anderem auch Beispiele für den ihr eigenen Humor.
Marianne Haag
Erinnerungen an Sophie Ludwig
Was war der Anlass, dass ich zu
Sophie Ludwig kam?
Als mein Sohn Christoph vier Jahre alt war, 1957,
stellte der behandelnde Kinderarzt fest, dass er XBeine hätte und dass er orthopädisches Turnen machen sollte. Ich konnte das zwar nicht sehen, aber ich
ging der Sache nach und erzählte es unserer Freundin
Marie-Luise von Kleist, meiner ehemaligen Geigenlehrerin. Sie bat mich inständig, nicht zum orthopädischen Turnen zu gehen, sondern zu Sophie Ludwig.
Das taten wir auch, und er nahm an einer Kindergruppe teil. Wir begleitenden Eltern saßen im geräumigen
Flur und hörten gespannt durch die geschlossene Tür
zu, was da drinnen geschah. Bälle sprangen, es wurde
laut gelacht, alles hopste herum. Später sahen wir
eine sehr hohe Leiter.
Ich machte mir viele Gedanken und beschloss, selbst
an einer Abendgruppe teilzunehmen. Damals lebte
Elsa Gindler noch, und einmal übernahm sie unseren
Kurs. Wir haben auch Heinrich Jacoby bei einem Vortrag in der Ehrenbergstraße kennen gelernt.
Jahrelang war ich bei Sophie Ludwig. Sie half mir,
meinen eigenen Körper neu kennen zu lernen. Ich
konnte diese neuen Erfahrungen auch an meine Geigenschüler weitergeben. Später haben auch meine
Tochter Cornelia als zwölfjährige und die Mitschüler
Matthias und Martin Fischer-Dieskau bei Sophie Ludwig gearbeitet.
Diese Arbeit hat mich mein Leben lang begleitet,
und als ich 1988 aus Berlin fortzog in ein Kloster der
Klosterkammer Hannover, hat dort Eva Gaul einen
Kurs abgehalten. Einmal fuhr ich nach Israel zu Miriam Goldberg, die ich bei einem ihrer Berliner Kurse kennen gelernt hatte. Sie war Schülerin von Lotte
Kristeller in Tel Aviv. Dort nahm ich an einem internationalen Kurs teil.
Mein Sohn hat die Verbindung zu Sophie Ludwig jahrelang gepflegt. Als junger Musiker hat er immer wieder die Wiedergabegeräte gewartet und überprüft.
Sie waren sehr vertraut miteinander. Die ihm gewidmeten Buchgeschenke hat er mit nach Los Angeles
genommen, wo er heute lebt.
Ich bin heute 84 Jahre alt und denke viel an Sophie
Ludwig. Ich freue mich, dass in Berlin eine Stiftung
entstanden ist, die die Arbeiten von Elsa Gindler,
Heinrich Jacoby und Sophie Ludwig weiterpflegt, und
ich gedenke des 10. Todestages von Sophie Ludwig,
der ich so viel zu verdanken habe.
Helga Franke geb. Poelchen
Erinnerungen an Sophie Ludwig | 5
Die Bereitschaft des Organismus zu reagieren auf zweckmäßige Ansprache ist phantastisch. Man muss sie bloß merken. (Sophie Ludwig, Einführungskurs am 8.2.1991)
Spüren ist Leben
Rosemarie Augustin war fast 25 Jahre in Kursen
von Sophie Ludwig. In einem Brief an die Stiftung
betont sie, dass die Arbeit bei Sophie Ludwig ihr
Leben verändert habe: “Ich hatte bis dahin ja auch
gelebt, aber nun begann ich, bewusst zu erleben und
wahrzunehmen. Was ich bis dahin mehr oder weniger routiniert `erledigt´ hatte, wurde immer mehr
zu einem Prozess des Wahrnehmens oder manchmal sogar zu einem Vorgang des `Geschehenlassens´. Durch das Probieren an diesen Möglichkeiten
wurde ich erfahrbereiter auf allen Ebenen meines
Daseins. Sophie Ludwig hat uns mit ihrer großen
Disziplin und unerschütterlichen Überzeugungskraft die Erkenntnisse von Heinrich Jacoby und Elsa
Gindler für eine mögliche bessere Qualität unseres
Daseins nahe gebracht.“ Rosemarie Augustin ist
im Mai diesen Jahres 94 Jahre alt geworden. Eine
Auswahl ihrer während der Teilnahme an Kursen
bei Sophie Ludwig in den Jahren 1955 bis 1979
geschriebenen Resümees hat sie unter dem Titel
„Spüren ist Leben. Erinnerungen an Sophie Ludwig“ veröffentlicht (vgl. Buchhinweise S. 30):
„`Hier hört ja jeder das Gras wachsen´, das war die
komisch verzweifelte Äußerung einer neu hinzugekommenen Kursteilnehmerin. Vollständig lautetet
sie: `Ich glaube, ich gehöre nicht in diesen erlauchten
Kreis. Hier hört ja jeder das Gras wachsen´. Nein, wir
waren kein erlauchter Kreis – wir waren eine Gruppe
von etwa 10 Personen unterschiedlichster Herkunft,
Alters und Geschlechts, die in gemeinsamen Versuchen unter der Leitung von Sophie Ludwig ihre biologischen Möglichkeiten erforschen wollten. [...] Diesen
Kursen von Sophie Ludwig lag die wissenschaftliche
Forschungsarbeit von Heinrich Jacoby zu Grunde. [...]
Die zweite Quelle für ihre Arbeit war ihre Freundschaft mit Elsa Gindler. [...] Ich bin 1955 zu Sophie
Ludwig gekommen und zwar durch Frau Dr. Kaltenhäuser. [...] Diese Frau erkannte bald, dass meine Beschwerden nicht nur körperliche Ursachen hatten und
erklärte mir, welcher Art die `Gymnastik´ bei Sophie
Ludwig wäre. Wenn ich auch nicht alles verstand, so
verstand ich doch soviel, dass ich dort etwas kennenlernen würde, was mir in mancher Weise weiterhelfen könnte. [...] Mit dem Wort `Gymnastik´ ist
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das, was wir bei Sophie Ludwig lernten, keineswegs
richtig gekennzeichnet. Sie selbst bezeichnete unser
dauerndes Probieren als `Arbeit´. Wir fanden dieses
Wort nüchtern und auch zu sehr mit dem Begriff
Mühsal verknüpft. Wir hätten gerne einen so schönen
Namen wir etwa Autogenes Training oder Yoga oder
ähnliches dafür gehabt. Aber Sophie Ludwig, Heinrich Jacoby und Elsa Gindler lehnten alles ab, was
einschränkte oder festlegte. Alles sollte in Bewegung
bleiben und immer neu erfahren werden. [...]“
Resümee vom 27.11.1957
„Heute haben wir am Tauchen probiert, d.h. wir haben jeder eine kleine Schüssel mit Wasser vor uns
gehabt und, auf dem Bauch liegend, das Gesicht in
die Schüssel getaucht. Bei der allerersten Berührung,
wenn der äußerste Punkt meines Gesichts (Nase,
Wange oder Kinn) das Wasser berührt, kann ich noch
nicht spüren, dass es Wasser ist – spüre nur eine
stecknadelgroße Berührung von etwas. Im nächsten
Moment ist es, als ob das Wasser mich anspringt. [...]
Ich fühle, wie es eilig in alle Vertiefungen und Rillen
fließt, bis das ganze Gesicht von Wasser umschlossen
ist. Dann habe ich versucht, nur die Oberfläche des
Wassers mit Wange oder Kinn zu berühren. Das ist
wie ein schönes, kühles Streicheln, alle Spannung im
Gesicht löst sich.“
Rosemarie Augustin: Spüren ist Leben - Erinnerungen an Sophie Ludwig. Berlin 2007. S. 7-9
und 18f.
R. Augusin erinnert sich an Sophies Humor:
Wir hatten ein Ferienhäuschen im Spöktal gemietet.
Als Sophie mich vom Bahnhof abholte, klagte sie: „Die
Räume sind da so winzig, ich weiß gar nicht, wie wir
da arbeiten wollen. Einer muss wohl immer auf der
Bettkante sitzen!“ Natürlich war genau das Gegenteil
der Fall. Wir hatten jede Menge Platz dort.
Beim Postkarten-Schreiben zusammen mit anderen
Feriengästen fragte einer, ob jemand eine 10-Pfennig-Marke übrig hätte. Sophie: „Ich habe eine, aber
sie ist etwas beschädigt. Ich lasse sie Ihnen billiger.“
Erinnerungen an Sophie Ludwig
„Was ist weitergegangen?“ - Arbeiten bei Sophie Ludwig
Der nachstehend zitierte Text ist die leicht gekürzte
Wiedergabe eines Resümees, das ich seinerzeit zum
Kursabend vom 5. 5. 1980 geschrieben habe. Es war
verabredet, dass aus dem Teilnehmerkreis über jeden
Abend der „Arbeit“ resümiert werde, auch deshalb,
um Abwesende nachträglich teilhaben zu lassen, wobei das Resümieren reihum übernommen wurde. Ich
füge das Resümee hier ein, weil sein Inhalt als für die
Arbeitsweise Sophie Ludwigs, wie ich sie erlebt habe,
charakteristisch gelten kann.
Beginn mit der Wahrnehmungsthematik im Anschluss an den letzten Abend. Mitteilung von Probierergebnissen, -möglichkeiten und -schwierigkeiten.
Erinnerung an die Hilfestellung, die die Erfahrung der
Kleidung für die Wahrnehmung der umschlossenen
Körperteile geben kann, wird ergänzt durch den
Hinweis, dass auch der Druck, der von der Schwere der beim Gehen bewegten Schuhe auf die Füße
ausgeht, diesen Wahrnehmungskontakt erleichtern
kann. [...] Bericht (M. B.), dass es beim häuslichen
Probieren nicht gelungen sei, den rechtsseitig erreichten Kontakt auch in der linken Körperhälfte
entstehen zu lassen. Was könnte helfen? Sandsäckchen, Handauflegen, Umlagern auf die (linke) Seite,
Klopfen. Im Anschluss hieran im selben Zusammenhang Gruppenversuch mit dem zunächst linken, dann
rechten Oberschenkel: Auflegen der Hand, schließlich
Hochziehen von Hautpartien mit erfahrbereiter Hand
- unbeschadet dessen, dass Wahrnehmungsobjekt
nicht die Hand ist. („Man kann auch mit den Händen
glotzen.“) Prüfstein zweckmäßigen Vorgehens ist der
– ggf. unausbleibliche – Atemreiz (Gähnen). Das Versuchsergebnis wiederum überaus deutlich ablesbar (I.
C., M. B.). - Die Wahrnehmungsversuche bleiben Thema, wobei zwei Varianten zu unterscheiden sind: Die
spontanen Signale/Veränderungen im Organismus,
wenn ich mich frage, was ich von ihm empfinde (1)
und die (systematische) Erarbeitung des Zuganges zu
einzelnen Körperpartien oder der Ganzheit des Organismus (2).
Anschließend Sprechversuch (I. C.) mit „Gefunden“
von Goethe. Problematik der Überschrift, die sich
zunächst als „Gefunden von Goethe“ mitteilte. Bemerkenswert die Äußerung I. C‘s, dass ihr diese „Ge-
fahr“ bewusst gewesen sei und sie sie zu vermeiden
gesucht habe. Zufall? Oder bewirkt Vermeidenwollen
notwendig die Annäherung an das, was vermieden
werden soll? Mehrfache Wiederholung des Textes
und einzelner Teile in unterschiedlicher Qualität,
aber durchgehend aus dem Versuch, Beziehung zum
Gehalt entstehen und sich äußern zu lassen. Das
Abhören erweist die Lücken: Überzogene Pausen,
übersprungene Satzanfänge, realitätslose Vergleiche
(„wie Sterne leuchtend, wie Äuglein schön“) und Zusammenziehungen („Sagt es fein“ mit dem Ton auf
„sagt“), nicht eindeutige (zwischen den beiden ersten
Strophen nicht kontrastierende) Stimmungswerte.
Der Besorgnis I. C‘s., sie könne mit nochmaliger Wiederholung langweilen, wird einhellig widersprochen:
erneute Erfahrung, dass der Probierende als solcher
nicht langweilt. Erneute Erfahrung auch, wie ein
(gutes) Gedicht, in dieser Weise und Qualität erarbeitet, seinen Reichtum des lebendigen Geschehens
aufschließt. Die Folge der Versuche erweist aber auch
wieder: Es gibt kein „Rezept“, keinen „Besitzstand“
des Könnens - die Folge stellte sich keineswegs als
kontinuierliche Qualitätssteigerung dar. Was es allein gibt, ist Veränderung, „Steigerung“ im Verhalten
gegenüber dieser (oder irgendeiner) Aufgabe, aus
dem heraus unter Einsatz der ganzen Person und
mit vollem Risiko die Re-Produktion - als WiederHervorbringung - verwirklicht sein will. Nochmalige
Erinnerung an die Versuche des Auftauchenlassens
von (heiteren) Erlebnissen und ihre Beziehung zu den
Sprechversuchen. [...]
„Was ist weitergegangen?“ war Sophie Ludwigs stereotype Frage zu Beginn jedes Kursabends, die auf
Ergebnisse weiteren Probierens, aber auch darauf
zielte, ob und wie sich Themen oder Erfahrungen aus
der „Arbeit“ in Alltagssituationen ausgewirkt hatten.
Wie Elsa Gindler und Heinrich Jacoby lag auch Sophie
Ludwig daran, die „Arbeit“ sich nicht in einem Regenerationseffekt am Kursabend erschöpfen zu lassen,
sondern die Teilnehmenden tauglich zu machen für
einen zweckmäßigeren Umgang mit den Forderungen
und Schwierigkeiten des Alltags. Das Resümee lässt
darüber hinaus aber auch den Ernst, die Tiefe und die
Genauigkeit erkennen, die die Arbeit Sophie Ludwigs
Erinnerungen an Sophie Ludwig | 7
bestimmt haben. Ihr Arbeitsprinzip war strenge Sachlichkeit, die sie bis zur Schonungslosigkeit durchhalten konnte. Das hat ihr auch Kritik eingetragen, den
Vorwurf allzu großer Kühle gegenüber persönlichen
Problemen der Teilnehmenden zugezogen. Es folgte
aber daraus, dass sie die „Arbeit“ nicht als Therapie
verstand - diese Einschätzung hat sie ausdrücklich
zurückgewiesen -, sondern als Aufweis der Zustandsund Verhaltensabhängigkeit eines die „biologische
Ausrüstung“ zur Entfaltung bringenden Lebens; in
dieser Perspektive konnten persönliche Schwierigkeiten immer nur als Stoff für die Erkundung funktionaler Zusammenhänge von Bedeutung sein.
Gleichwohl habe ich Sophie Ludwig außerhalb der
Kursarbeit sehr wohl auch als teilnehmend und interessiert an persönlichem Ergehen erlebt. Ich hatte
sie 1956 als ganz junger Mann kennen gelernt, hatte
also, wie ich später nach Auseinandersetzungen mit
älteren „Einsteigern“ erkannte, den Vorzug, in mei-
ner Sicht auf den Menschen noch nicht festgelegt zu
sein und also auch nichts verlieren zu können, was
mir die Offenheit gegenüber dem, was sie zu sagen
hatte, erleichterte. Ich bin Sophie Ludwig - auch in
den Zeiten, in denen ich an den Kursen nicht teilnahm - bis zu ihrem Tode, also über mehr als 40 Jahre
persönlich verbunden geblieben, seit 1985 auch über
das gemeinsame Wirken in der im selben Jahr von ihr
gegründeten Stiftung.
Was verdanke ich der Mitarbeit bei Sophie Ludwig,
was hat sie in meinem Leben bewirkt? Ich danke ihr
die Vermittlung der Arbeit Jacobys und Gindlers, und
zwar als eine Vermittlung, die - in der Verbindung
von immer neuer und vielfältiger praktischer Überprüfung innerhalb eines weitgespannten Themenspektrums und präziser Sprache - meinem Naturell
entgegenkam und sie mir in ihrer Bedeutung und
Tragweite erschlossen hat. Freilich habe (auch) ich
für meine Person hier die Kluft zwischen Wissen und
Sein einzuräumen, einen weiten Vorsprung des besseren Wissens gegenüber dem eigenen Sein und Tun.
Ich bin gleichwohl weit davon entfernt, den Ertrag
der Arbeit bei Sophie Ludwig für mein Leben als eher
gering einzuschätzen. Diese Arbeit hat die Maßstäbe meiner Wahrnehmung des Lebendigen bestimmt,
bei mir selbst wie bei anderen - des Lebendigen in
der Abgrenzung zum ja ebenso möglichen Leben aus
und in Routine, „auf Vorrat“, „aus zweiter Hand“, wie
es - konkret demonstriert an obigem Sprechversuch
- etwa in Phänomenen des Ausdrucks begegnet. Die
auf Erfahrung gegründete Einsicht in die Möglichkeiten und Gefährdungen menschlicher Entfaltung
zu eben diesem Lebendigen ist zudem ein Wissen,
das schon deshalb nicht ein nur theoretisches ist und
sein kann, weil es im „Alltag“ vielfältig herausgefordert wird – nicht zuletzt von den vermeintlichen
Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten (weithin)
üblichen Denkens und Argumentierens. Aber auch
im unmittelbaren Handlungsbereich ist es praktisch
geworden, wenn es etwa galt, die - gut gemeinte Einmischung Erwachsener in das Vorhaben und Tun
Aus S. Ludwigs Arbeit mit Kindern:
Balancierend sein als vertrauensvoller,
gelassener Zustand…
8 | Erinnerungen an Sophie Ludwig
Können Sie sich nicht darüber freuen, dass es
Ihnen jetzt besser geht? Das ist auch eine Art
Umgang mit uns als einem Stück Natur. Das
eines Kleinkindes (aktuell: meiner Enkelin) mit einem
„Nicht helfen!“ abzuwenden.
Gleichwohl hat mich immer beschäftigt, dass ich Sophie Ludwigs Frage „Was ist weitergegangen?“ als
solche nach der Auswirkung ihrer Arbeit in meinem
Handeln und Sein vor mir selbst nur wenig befriedigend habe beantworten können. Was hat gehindert,
das Wissen um die Bedingungen und die Entfaltung
des Lebendigen so praktisch, so „wirklich“ werden zu
lassen, dass die bezeichnete Kluft zwischen Wissen
und Sein geschlossen und im beruflichen und persönlichen Alltag jener Qualitätssprung erreicht und vollzogen wurde, zu dem diese Arbeit einlädt und den sie
mir an Abenden geglückten Probierens eindrücklich
erlebbar gemacht hat? Gerade Erfahrungen solcher
Art schließen es aus, den Grund dafür allein in bloßen Beharrungskräften, in dem Wissen, dass es doch
„auch so“ geht, zu finden.
Woher aber rührt dann die Schwierigkeit, im Umgang mit sich und der Außenwelt das Verhaltensprinzip „Routine“ preiszugeben und sich der Führung zu
überlassen, die in „zweckmäßiger Fragestellung“ angelegt ist („Ding/Aufgabe - was willst du von mir?“)?
Bei dieser Formulierung liegt die - meiner Selbstwahrnehmung auch entsprechende - Antwort nahe:
Das hier vorausgesetzte Vertrauen in die Verlässlichkeit der eigenen Funktionsfähigkeit und -bereitschaft
wächst nicht parallel mit der Erfahrung zweckmäßigen Verhaltens zu, die „Routine“ scheint - vor allem
im Blick auf die stets aktuellen, auf den Leistungserfolg gerichteten Forderungen oder Erwartungen in
der Gesellschaft - für das eigene Bewusstsein als Mittel der Absicherung und Effektivität unentbehrlich zu
bleiben. Ist dies ein prinzipieller Einwand gegen die
Wirklichkeitsnähe der „Arbeit“ als solcher, stößt sie
hier an (uneingestandene) Grenzen? Ich lasse das dahingestellt - selbst aber, wenn man die Frage bejahen
wollte, bliebe ihr Wert für das Leben, so meine Überzeugung nach denn doch vielfältiger „Anwendung“
ihrer Befunde und Einsichten, unbestreitbar und auch
unschätzbar.
ist doch eine wunderbare Sache, dass sich
das so verändern kann, dass man wieder freier werden kann, dass man atmen kann. Und ich
möchte sagen: Durch solche blöden Versuche.
(Sophie Ludwig, Einführungskurs am 8.2.1991)
Wolfgang von Arps-Aubert
...er könnte alltäglich sein,
nicht nur für Schornsteinfeger.
Erinnerungen an Sophie Ludwig | 9
Erfahrungen
Es geht bei der Auseinandersetzung mit der Arbeit Elsa Gindlers und Heinrich Jacobys darum, die jeweiligen
Erfahrungen, die Menschen in diesem Zusammenhang machen, in unterschiedlichste Lebensbereiche einfließen zu lassen. Als Beispiel berichtet im Folgenden Beate Lock, wie ihre berufliche Tätigkeit als Trainerin und
Coach auch von ihren Erfahrungen mit der Arbeit Gindlers und Jacobys beeinflusst ist.
Schmerzen können im Leben immer wieder eine schwierige Herausforderung sein, manchmal werden sie gerade auch in der Auseinandersetzung mit der Arbeit Gindlers und Jacobys akut. Birgit Rohloff fragt in ihrem
Beitrag nach dem Umgang mit Schmerzen.
Pause? Pause!
Seit knapp 20 Jahren arbeite ich als Personal- und
Organisationsentwicklerin in und für Unternehmen.
Seit einigen Jahren als selbstständige Trainerin und
Coach.
1994 kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit der Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby. Ich nahm
in Hamburg an einem Wochenendkurs von Ruth Veselko teil und war beeindruckt von der Wirkung dieser doch so einfachen und nach „nichts“ aussehenden
„Übungen“ auf mich. Einige Zeit später nahm ich
den Faden wieder auf und traf – dank Internet – auf
viele interessante Informationen zu Elsa Gindler und
Heinrich Jacoby. Seitdem nehme ich regelmäßig an
Kursen, die Marianne Haag in der Stiftung anbietet,
teil und freue mich sehr, dass es uns gelungen ist,
in Hamburg mit Interessierten eine Probiergruppe ins
Leben zu rufen und lebendig zu halten.
Mein Wunsch ist es, die Erfahrungen, die ich in Kursen
und beim eigenen Probieren mache, nicht nur eine
Woche im Oktober (wenn der Kurs in der Stiftung
stattfindet) oder einmal im Monat für 3 Stunden
(wenn wir uns in Hamburg zum Probieren treffen)
zu erleben, sondern dies auch in meiner beruflichen
Tätigkeit, die zur Zeit einen großen Teil meiner Lebenszeit ausmacht, einfließen und wirken lassen zu
können.
Unter anderem geht es mir um die Erfahrung,
» dass sich durch Aufmerksamkeit und Wahrnehmung dessen, was ist Veränderungen einstellen
können,
» dass , wenn ich bereit werde, eine Aufgabe zu lösen, die Zeit des Lösens oft dicht und intensiv ist,
» dass ich mir bewusst werde, wenn ich mich anstrenge, wie ich mit Druck, Ärger, Angst und Ag-
10 | Erfahrungen
gression umgehe und wie sich dies auf mein Dasein und das Lösen einer Aufgabe auswirkt.
Nun bin ich in meiner Tätigkeit nicht auf Stressbewältigung und Selbstmanagement spezialisiert, wo
sich diese Punkte eventuell leichter platzieren ließen,
sondern arbeite schwerpunktmäßig mit Führungskräften und deren Teams zu den Themen Führen, Zusammenarbeiten, Kommunizieren, Konflikte lösen.
Die Rahmenbedingungen hierbei haben sich in den
letzten 10 Jahren deutlich verändert. Wurden beispielsweise Führungstrainings und Seminare früher
häufig mit 5 Tagen angesetzt, wird heute möglichst
der gleiche Inhalt in 2 Tagen oder in 2 bis 3 Coachingsitzungen zu 1 bis 2 Stunden bearbeitet. Das
Tempo und der Druck haben sich deutlich erhöht.
Das Ziel ist es, in kurzer Zeit spürbare Veränderungen
und Ergebnisse zu erreichen. Ich erlebe als Dienstleisterin die gleichen Erwartungen und den damit einhergehenden Druck, dem sich Führungskräfte stellen
müssen. Ich mag Herausforderungen und schaffe gern
etwas. Gleichzeitig erlebe ich die Diskrepanz zwischen meinen beruflichen Anforderungen, den nachvollziehbaren Erwartungen meiner Kunden („Können
wir das nicht mal in einem halben Tag am Sonnabend
vormittag machen, wir kommen hier einfach schlecht
raus aus dem laufenden Betrieb.“) und der von mir als
wohltuend und nützlich erlebten Arbeit mit Aufgaben und Fragen nach Gindler/Jacoby.
Anfänglich war ich damit beschäftigt, wie ich in
meinen Veranstaltungen Achtsamkeit und Wahrnehmung als Thema mit einfließen lassen konnte, ohne
dabei in Widerspruch zu den beauftragten Zielen und
Inhalten zu gelangen. Schließlich werde ich für die
Erreichung eines bestimmten Zieles oder Vermittlung
Ruhen
und Bearbeitung eines bestimmten Themas engagiert
und nicht dafür, Ideen von Elsa Gindler und Heinrich
Jacoby zu vermitteln. Mir wurde phasenweise immer
unwohler. Ich erlebte mich selbst als erfolgreich und
gleichzeitig als „ständig unter Strom“, hochkonzentriert und „immer dabei“. Meine Augen gaben mir
dann einen wichtigen Hinweis und Impuls. Mir fiel
auf, dass ich nach kurzer Zeit in der Arbeit mit Teilnehmern dazu neigte gerötete Augen zu bekommen.
Dann begann ich zu beobachten, wie es im Laufe
eines Trainingstages meinen Augen erging. Wie ich sie
wahrnahm. Im Zuge dessen wurde mir (sehr bekannt
aus den Kursen in der Stiftung) wieder bewusst, wie
wenig Pausen ich im Laufe eines Tages machte. Wie
schwer es mir fiel, überhaupt eine Pause zu machen
und nicht doch die zur Verfügung stehende Zeit für
etwas zu nutzen, das ich noch erledigen wollte. So
eilte ich sehr geschäftig durch den Tag und fragte
mich: „Was ist eigentlich eine Pause? Wie fühlt sich
eine Pause an? Was passiert in einer Pause? Wie muss
ich werden, um eine Pause einlegen zu können? Wie
lange muss eine Pause dauern, bevor es weitergehen
kann?“
Eine spannende Auseinandersetzung, in der ich mich
nach wie vor befinde. Einige Befürchtungen tauchten
auf: Schaffe ich alle Arbeiten und Herausforderungen,
wenn ich eine Pause mache? Kann ich den Faden anschließend wieder aufnehmen und beispielsweise in
einem Training oder einer Beratung den Spannungsbogen halten?
Jetzt in der Sommerzeit ist das Geschäft insgesamt
ruhiger und ich nutze die Zeit zum Mit-Pausen-Pro-
bieren. Und einige fruchtbare Entdeckungen tauchen
auf. Mit Pausen und einem Bereitwerden für eine neue
oder das Fortführen der bisherigen Aufgabe erlebe ich
meine Tage in der Nachschau als voller, zufriedenstellender. Ich erlebe es so, als wenn ich Dinge und Aufgaben erschöpfend erledigen konnte und ganz dabei
war. Statt wie sonst der Versuch des „Multitasking“,
bei nichts wirklich ganz dabei sein und am Ende des
Tages eher nur erschöpft sein. Ich erlebe es so, als
hätte ich mehr geschafft als sonst. Und bin zufriedener. Sehr erstaunlich und überraschend für mich!
Die Aufgaben gehen mir leichter von der Hand. Auch
das Niederschreiben meiner Erfahrungen für diesen
Rundbrief, eine Aufgabe, die mich Monate begleitete
und von der ich mich zwischenzeitlich schon verabschiedet hatte, war irgendwann bereit getan zu werden. Mit einer größeren Leichtigkeit und auch Freude,
als ich das vorher angenommen hatte!
Und eine weitere Erfahrung wurde mir noch einmal
nachdrücklich bewusst. Meine Arbeit profitierte davon, dass ich mich entschied, nicht danach zu suchen,
wie ich mit anderen, mit Teilnehmern oder Coachees,
besser arbeiten könnte, sondern als ich begann, mich
auf mich zu besinnen und bei mir zu schauen.
In Veranstaltungen tauchten nach einer Pause interessanterweise unerwartete und produktive Wendungen auf. So haben mit Sicherheit auch meine
Kunden einen Nutzen von meiner Beschäftigung mit
Fragen und Aufgabenstellungen nach Elsa Gindler
und Heinrich Jacoby.
Beate Lock
Erfahrungen | 11
Erfahrungen
Schmerzen fordern heraus! Wie antworte ich?
Schmerzen sind häufig sehr aufdringlich. Sie schieben
sich in den Vordergrund der Empfindungen und werden viel beachtet. Wenn ich als Krankengymnastin
frage, was z.B. gerade vom Arm spürbar ist, bekomme
ich nicht selten von Patienten die Antwort: “Nichts.“
Damit ist gemeint, dass der Arm schmerzfrei ist.
Wenn wir unseren Körper hauptsächlich als Schmerzort empfinden, verändert es unser Verhalten: Wir
nehmen uns weniger im Gesamten wahr, sondern
sind auf eine bestimmte Region fixiert. Dadurch spüren wir die schmerzfreien Gegenden allenfalls als
nebensächlich, teilen in wichtig und unwichtig ein,
was wir empfinden. Wir suchen Schonbewegungen
und Schonhaltungen, die so zur Gewohnheit werden können, dass wir sie nicht mehr als folgenreiche
Abwege erkennen. Dies führt nicht selten an anderen
Orten zu Schmerzen.
Wir kommen nicht zur Ruhe. Wir sind auf der Flucht
vor Situationen, die Schmerzen auslösen oder verstärken könnten. Wir belauern wie wir uns bewegen,
statt uns in einer Situation nur zu erleben. Sind wir
einmal schmerzfrei, erwarten wir die Rückkehr der
Schmerzen. Auch dies verändert unser Verhalten. Wir
sind also nicht frei von Schmerzen, auch wenn sie
nicht akut sind, weil wir weiterhin Angst vor ihnen
haben. Wir fühlen uns vielleicht sogar schuldig, wenn
sie wieder spürbar werden, denn dann haben wir uns
„nicht richtig verhalten“, haben eine „falsche Bewegung“ gemacht. Weil wir uns Schmerzen gegenüber
hilflos fühlen, wollen wir sie nur weg bekommen. Das
ist verständlich, führt aber nicht weiter.
Ein anderer Umgang mit Schmerzen könnte der Versuch sein, uns bewusster werden zu lassen, wie wir
auf sie reagieren, wie wir uns verhalten, wenn wir
Schmerzen spüren. Können uns Veränderungen deutlich werden? Bleiben die Schmerzen gleich oder verändert sich ihre Qualität? Erleben wir sie im Zusammenhang unserer gesamten Situation? Wenn wir uns
einsetzen, wenn wir uns „um uns kümmern“, erwarten wir oft „sofortige Belohnung“, also weniger oder
keine Schmerzen. Aber: Was jetzt Schmerzen verursacht, ist meistens schon lange in Unordnung, gereizt oder empfindlich. Nur ist uns dies bislang nicht
bewusst geworden, oder wir haben entsprechende
Empfindungen ignoriert, so lange es eben ging. Jetzt
12 | Erfahrungen
wird es wichtig, sich klarer zu werden über unsere
Struktur und Organisation, um zu erfahren, wie unser
Einsatz zweckmäßiger ist, wo er notwendig ist und
wo übertrieben. Dann können wir auch spüren, wann
weitere Forderungen den Organismus unterstützen,
sich in Richtung von Ordnen zu verändern.
Dazu gehört es, sich Gelegenheiten einzuräumen, in
denen wir mehr zur Ruhe kommen können. Wir brauchen Zeit und Raum, um Zustandsempfindungen bewusst bei uns ankommen zu lassen. Das kann für uns
schwierig sein, weil der stärkere Impuls meistens der
ist, die Schmerzen wegdrängen zu wollen. Auf diese
Weise werden aber keine Veränderungen eingeleitet,
sondern der gegenwärtige Zustand verfestigt sich.
Dies kann uns erst deutlich werden, wenn wir uns
der Lage nicht zu entziehen versuchen. Können wir
vertrauter werden mit der Schmerzsituation? Können
wir den Ängsten, die mit Schmerzempfindungen verbunden sind, begegnen? Können wir uns einen Moment sein lassen, wie wir uns vorfinden? Das könnte
ein Weg sein, uns zunehmend für unser Verhalten
interessiert werden zu lassen, und wäre ein erster
Schritt, unsere Hilflosigkeit gegenüber Schmerzen
aufzulösen.
Vielleicht wird es damit auch eher möglich, Schmerzen zu akzeptieren. Sie können spürbar werden als
konkrete Aufforderung, in unserem Alltag häufiger
der jeweiligen Situation entsprechend zu reagieren.
Es braucht wachen Einsatz, um unüberprüft routiniertes Verhalten zu überwinden. Ignorieren wir unseren Zustand, erfahren wir nichts von unseren Möglichkeiten, uns zweckmäßiger zu verhalten.
Eigentlich sind Schmerzen ein Signal, das wir als Zeichen von Unordnung oder Störung im Organismus
erkennen könnten. Wenn wir dies ernster nehmen
würden, wenn wir unseren Zustand erkennen und an­
erkennen würden, benötigten unsere Pläne für den Tag
sicher häufig Veränderungen. Lassen wir uns auch nur
für einen Moment Platz für die Frage, ob wir schon
bereit sind für die nächste Aufgabe? Oder was es jetzt
bräuchte, um anwesender weiterarbeiten zu können?
Wird uns unser Zustand bewusst? Werden uns die
Auswirkungen unseres Verhaltens spürbar? Und wie
antworten wir darauf?
Birgit Rohloff
Aus heutiger Sicht:
Die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby
Wie lässt sich die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby einordnen und welchen Bereichen ist sie zuzuordnen? Die folgenden beiden Beiträge skizzieren, wie man die Arbeit von Elsa Gindler als grundlegenden
Beitrag zu einer somatischen Psychotherapie verstehen und in der Arbeit Heinrich Jacobys Aspekte für eine
erfahrungsorientierte Pädagogik ausmachen kann. Damit sind zwei Betrachtungsweisen - unter vielen möglichen anderen - auf die Arbeit Gindlers und Jacobys umrissen.
Elsa Gindler als Begründerin einer
somatischen Psychotherapie
Das von G. Marlock und H. Weiss herausgegebene
und im Jahr 2006 erschienene Handbuch der Körperpsychotherapie liefert mit 100 Beiträgen von 84
Fachautoren aus aller Welt einen Überblick über
Körperpsychotherapie „als eine weit verbreitete Strömung der Psychotherapie,“ die, wie die Herausgeber
zu Beginn formulieren, „trotz aller Skepsis, der sie in
der Vergangenheit ausgesetzt war, inzwischen aus
dem psychotherapeutischen Feld nicht mehr wegzudenken“ ist. In der Tat ist das Interesse am Körper in
den unterschiedlichen Psychotherapie-Schulen unübersehbar und hat in jüngster Zeit sogar die sog.
„Richtlinienpsychotherapien“, d.h. die in Deutschland
von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlten Psychotherapieformen (Psychoanalyse und Verhaltens­
therapie) erreicht.
Die Wurzeln der Körperpsychotherapie liegen in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhundert und vor allem in
Deutschland. Gerade im deutschsprachigen Raum
entwickelten sich vor 1933 zahlreiche Ansätze einer
sogenannten Körperkulturbewegung und von Körperpsychotherapie. Zahlreiche ihrer Vertreter mussten
jedoch infolge des deutschen Faschismus und Rassismus emigrieren. Dies förderte zwar die Verbreitung
ihrer Ideen in der ganzen Welt, bedeutete für den
deutschsprachigen Raum aber einen weitgehenden
Entwicklungsstillstand, der erst in jüngster Zeit bewusst wird und aufgearbeitet werden kann.
In diesem Zusammenhang wartet das Handbuch nun
für die deutsche Leserschaft und die TeilnehmerInnen
an den Jacoby/Gindler-Arbeitsgemeinschaften mit
einer gewissen Überraschung auf: In dem umfangreichen Handbuch finden sich lediglich zwei biographische Kapitel. Das eine berichtet – wen wundert’s
– über Wilhelm Reich (1897-1957), mit dessen Name
eine wichtige und wirkmächtige Entwicklungslinie
der tiefenpsychologischen Körperpsychotherapie ver­
bunden ist. Das andere, Reich vorgeordnete biographische Kapitel indes ist Elsa Gindler (1885-1961)
gewidmet. Hatte Elsa Gindler für Psychotherapie eine
Bedeutung? Verstanden Elsa Gindler und Heinrich
Jacoby ihre Arbeit nicht als eine selbstverständliche
persönliche Entwicklungsarbeit ohne primäre pädagogische oder therapeutische Zielsetzung?
Ja, so verstanden sie ihre Arbeit. Aber deren therapeutischer Nutzen war und ist unübersehbar. Und ihre
Wirkung auf die Entwicklung einer Körperpsychotherapie war in der Tat, wie das Handbuch jetzt ans Licht
bringt, enorm. Da wird Elsa Gindler als „Großmutter
der somatischen Psychotherapie“ bezeichnet und
nicht weniger behauptet, als dass „die einfache und
grundlegende Arbeit, die von Elsa Gindler begründet
wurde, eine der wichtigsten Grundlagen der somatischen bzw. körperorientierten Psychotherapie“ gewesen ist (Handbuch S. 33, 39 (J.O. Weaver)). Dieses
außerordentliche Urteil wird im Handbuch durch
zahlreiche Hinweise auf Entwicklungen, die mit Elsa
Gindlers Arbeit verbunden waren, begründet. Auf
viele Ärzte und Psychotherapeuten übten Elsa Gindler und Heinrich Jacoby direkt oder indirekt über die
Teilnehmenden an ihrer Arbeit Einfluss aus, oft auf
verschlungenen Wegen. So heiratete eine Schülerin
Elsa Gindlers, Cläre Nathansohn, den Psychoanalytiker Otto Fenichel (1897-1946), einen unmittelbaren
Schüler Freuds. Fenichel, der durch seine Frau dazu
angeregt wurde, an Elsa Gindlers Arbeitsgemeinschaften teilzunehmen, war wiederum eng mit Wilhelm Reich befreundet, der sich, wie mehrere Quellen
Aus heutiger Sicht | 13
Unsere Beziehung zu unserem Zustand erschöpft sich damit, dass wir konstatieren: ‚Ich bin müde‘, ‚Ich
dass wir, in einem Instrument existieren, was auch so seine Bedürfnisse hat, auf die wir nicht reagieren,
belegen, intensiv für die Arbeit Elsa Gindlers interessierte. Reichs erste Frau, Annie Pink, studierte bei
Cläre Fenichel; und Reichs spätere große Liebe und
langjährige Gefährtin, Elsa Lindenberg, arbeitete vor
und nach dem zweiten Weltkrieg bei Elsa Gindler. Andere Vertreter körperpsychotherapeutischer Ansätze,
die durch die Arbeit Elsa Gindlers beeinflusst wurden,
sind beispielsweise Erich Fromm (1900-1980), Fritz
Perls (1893-1970), Moshé Feldenkrais (1904-1984),
Helmuth Stolze (1917-2004), Charlotte Selver (19012003), Hilarion Petzold (geb. 1944), George Downing
(geb. 1940) oder Ruth Cohn (geb. 1912). Dass diese Einflüsse erst im historischen Abstand bewusster
werden, liegt nicht zuletzt an der besonderen Auffassung Elsa Gindlers und Heinrich Jacobys, dass sich
ihre Arbeit gegen jede Methodisierung, Schulenbildung, Verzweckung, ja sogar gegen eine Namensgebung zu sperren habe.
Die Körperkultur- oder Lebensreformbewegung in
Deutschland vor 1933 war ein Schmelztiegel von
Ideen und Anregungen auch für die gerade aufkommende Psychoanalyse und ihre Vertreter. So finden
sich parallele Wurzeln der Körperpsychotherapie im
Tanz- und Theaterbereich (z.B. J. Dalcroze, R. Laban, M. Wigman usw.), der beispielsweise den Hintergrund der Therapiemethoden von F.M. Alexander
(1869-1955), A. Pesso (geb. 1929) oder J.L. Moreno
(1889-1974) bildet. Elsa Gindler stand zunächst in
der Tradition der mit der Lebensreformidee verbundenen deutschen Gymnastikbewegung, ging dann aber
überraschend früh wesentlich andere, eigene Wege
als die auf „Schönheit durch Gymnastik“ ausgerichteten Gymnastik- und Atemschulen ihrer Zeit. Sie stieß
auf die Beziehungen zwischen physischen und psychischen Zuständen und entwickelte ihre Arbeit weg
von gymnastischen Übungen zu einer experimentellen Forschungsarbeit psychosomatischer Zusammenhänge und eigener Entwicklungsmöglichkeiten. Diese
Entwicklungen wurden wesentlich durch die Zusammenarbeit mit Heinrich Jacoby (1889-1964) gefördert. Beide, Elsa Gindler und Heinrich Jacoby, interessierten sich für die noch in den Anfängen steckende
Psychoanalyse und regten ihrerseits ihre Schüler an,
sich für die Fragen der Psychoanalyse zu interessieren: „Mit den Grundeinsichten von Freud sollte sich
jeder Mensch auseinander setzen!“ (Jacoby 2004, S.
110).
Zum Verständnis der besonderen Leistung Elsa Gind-
14 | Aus heutiger Sicht
lers und Heinrich Jacobys muss man sich vor Augen
halten, dass die Psychoanalyse Freuds das Körperliche
durch Betonung des Psychischen und der Sprache als
Mittel der Aufdeckung des Unbewussten ausklammerte. Wie einer der beiden Herausgeber des Handbuchs thematisiert, hatte „die Entkörperlichung der
Psychoanalyse und damit des tiefenpsychologischen
Mainstreams auch mit Freuds Orientierung am Ideal
bürgerlicher Aufklärung zu tun“ (Marlock ebd. S. 71).
In der auf Freuds Annahmen fußenden Psychotherapie spielte – pointiert formuliert – der Körper allenfalls nur so lange eine Rolle, bis er Zugang zu unbewusstem Erleben eröffnete. Es war also nicht so, dass
Elsa Gindlers Arbeit gleichsam aus einer Addition von
Körpergymnastik und psychoanalytischem Gedankengut entstand, sondern eher als eine Synthese von
in dieser Zeit noch als gegensätzlich und antithetisch
empfundenen Aspekten. Während Psychosomatiker
heute die psychobiologische Einheit des Menschen,
die Untrennbarkeit von Bewegung, Emotionen und
Kognitionen nicht zuletzt aufgrund der jüngsten
neurobiologischen Erkenntnisse als selbstverständlich annehmen, war eine solche Annahme in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch postuliertes
Neuland. So formulierte die bereits erwähnte Cläre
Nathansohn über Elsa Gindlers Arbeit in dieser Zeit:
„Ihr Wissen über die Menschen wurde immer umfassender. Das Entscheidende jedoch ist, dass sie sich
immer stärker nicht nur für den Körper, sondern für
das ganze Sein interessierte“ (zit. nach Handbuch
S. 34). Es lohnt sich, im Bewusstsein der genannten
antipodischen Strömungen noch einmal den Vortrag
Elsa Gindlers von 1926 zu lesen, in dem sie sich deutlich sowohl gegen die Gymnastikbewegung („Es ist
für mich schwer, über Gymnastik zu sprechen, weil
das Ziel meiner Arbeit nicht in der Erlernung bestimmter Bewegungen liegt, sondern in der Erreichung von Konzentration“), als auch gegen die Psychoanalyse abgrenzte: „Ich unterlasse es absichtlich,
dieses Bewusstsein als Seele, Psyche, Geist, Gefühl,
Unterbewusstsein, Individualität oder gar Körperseele zu definieren. Für mich fasst das kleine Wort ‚ich’
dies alles zusammen, und ich rate meinen Schülern
immer, ihr eigenes Wort, mit dem sie sich anreden,
an die Stelle meines Wortes zu setzen, damit sie nicht
erst einen Knoten in die Psyche bekommen und stundenlang darüber philosophieren, wie es und was nun
gemeint ist, denn in derselben Zeit kann man immer
habe keine Lust zu arbeiten‘, ‚Mir tut der Kopf weh‘. Stimmt‘s? Wenn sich das meldet, dann merken wir,
weil wir gar nicht wissen, was wir eigentlich an Misshandlungen vollbringen.
(Sophie Ludwig, Einführungskurs am 8.2.1991)
etwas Nützliches tun“ (Ludwig S.84). Auch Jacoby
formulierte gegenüber den Psychoanalytikern 1945
kritisch: „Man kann vieles wissen und klug denken
und reden über Individualpsychologie und Psychoanalyse, man kann auch psychologisch Bescheid wissen über die Hintergründe seiner eigenen Schwierigkeiten und wird trotzdem nichts an seiner Situation
ändern können, wenn sich nicht in der gesamten Verhaltensweise etwas wesentlich ändert. Das Erkennen
der Zusammenhänge – z.B. in einer Analyse – kann
einem vielleicht Mut geben und einen veranlassen,
an sich zu arbeiten, statt die Schwierigkeiten als
‚Schicksal’ hinzunehmen. Aber Erkennen und Denken
bleibt ein Nichts, wenn sie nicht auch zu einer wirklichen Verwandlung im Grundverhalten dem Leben
gegenüber führen, wenn nicht eine konsequente Arbeit der Selbst-Erfahrung und Selbst-Nacherziehung
einsetzt“ (Jacoby 2004, S.110).
Ein Beitrag des Handbuches von G. Marlock beschreibt
Körperpsychotherapie als erfahrungsorientiertes Vorgehen oder genauer noch als einen „Prozess sinnlicher Selbstreflexivität“. Dieses Grundprinzip geht
wissenschaftsgeschichtlich auf die Arbeit Elsa Gindlers zurück, die – wie Marlock betont - bereits „sieben Jahrzehnte, bevor der zen-buddhistische Mönch
Tich Nath Hanh im Westen mit seiner langsamen
Gehmeditation berühmt wurde, ... in Berlin eine Form
der Leibpädagogik entwickelt(e), bei welcher das Gewahrwerden über bewusste und verlangsamte Bewegung und die sinnliche Erfahrung im Mittelpunkt
standen“ (Handbuch S.397). Es ist erfreulich, wenn
das gewichtige Handbuch der Arbeit Elsa Gindlers
und Heinrich Jacobys durch solche Hinweise den
ihnen gebührenden Stellenwert für die Entwicklung
einer verhaltensbezogenen Körperpsychotherapie
zuerkennt. Die vielen unterschiedlichen Schulen und
Verfahren der Körperpsychotherapie lassen sich mithilfe dieses Handbuches darauf hin befragen, wieweit
sie dem hohen Anspruch Elsa Gindlers gerecht werden. Elsa Gindler definierte als Ziel ihrer Erziehungsarbeit, „den Menschen für eine Verhaltensweise zu
interessieren, durch die seine Bewegungen und sein
Organismus möglichst störungsfrei reagieren und
funktionieren. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn die
Arbeit sich nicht in isolierten Turn- oder Gymnastikstunden vollzieht, sondern unaufhörlich in all unseren
täglichen Betätigungen versucht wird“ (Gindler 1931
in Ludwig 2002, S.120).
Norbert Klinkenberg
Elsa Gindler, Isola Superiore 1929
Ruhe und Stille erleben, um tatbereiter
und wacher zu werden
Marlock, Gustl & Weiss, Halko (Hrsg.): Handbuch
der Körperpsychotherapie. Mit Geleitworten von
Dirk Revenstorf und Bessel van der Kolk. 972 Seiten.
Stuttgart/New York 2006. Schattauer Verlag:
99,- Euro
Jacoby, Heinrich: Jenseits von ‘Begabt’ und ‘Unbegabt’. Hamburg 6. Aufl. 2004.
Ludwig, Sophie: Elsa Gindler – von ihrem Leben
und Wirken. Hamburg 2002.
Aus heutiger Sicht | 15
Aus heutiger Sicht:
Die Arbeit von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby
„Ich hoffe, dass Sie bei mir nichts lernen werden!“ Lernen und Erfahrung in der Arbeit Heinrich Jacobys
Am 11. Februar 2007 berichtete Inken Neubauer in
den Räumen der Stiftung über ihr Dissertationsprojekt zur Arbeit Heinrich Jacobys:
Lange bevor ich an meinem Dissertationsprojekt zu
arbeiten begann, stieß ich während meines Studiums in einer Buchhandlung „zufällig“ auf das Buch
„Jenseits von `Musikalisch´ und `Unmusikalisch´“.
Den Autor, Heinrich Jacoby, kannte ich damals nicht.
Aber die in dem Buch enthaltenen musikpädagogischen Positionen empfand ich als ausgesprochen
aktuell. Sie betrafen viele Aspekte, die ich in meiner
Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater
weitgehend vermisst hatte und die ich in weiten Teilen der Musikpädagogik unberücksichtigt fand, von
denen ich aber ahnte, dass sie entscheidend die (musikalischen) Ausdrucksmöglichkeiten von Menschen
beeinflussen.
Nachdem ich mich mit den vorhandenen Publikationen Jacobys auseinandergesetzt hatte, suchte ich
nach Möglichkeiten, diese primär praxis- und erfahrungsorientierte Arbeit selbst kennenzulernen.
Ich habe seitdem an vielen Kursen zur Arbeit von
Heinrich Jacoby und Elsa Gindler teilgenommen
und einige verwandte Verfahren, wie z.B. Sensory
Awareness und Konzentrative Bewegungstherapie
kennengelernt. Dabei konnte ich erleben, wie sehr
ich mich in der Auseinandersetzung veränderte und
sich mir neue Möglichkeiten und andere Voraussetzungen nicht nur zum Musizieren erschlossen. Ich
habe erlebt, wie diese Erfahrungen allmählich meine eigene (musik-)pädagogische Arbeit veränderten
und immer noch verändern. Da ich die Arbeit in sehr
unterschiedlichen Ausprägungen von verschiedenen
Schülerinnen der zweiten und dritten Nachfolgegeneration kennengelernt hatte, begann mich damals
zunehmend zu interessieren, wie die ursprüngliche
Arbeit Jacobys aussah und wie sie wissenschaftlich
zu beschreiben ist. Einige Jahre und Anstrengungen
später ist nun mein Dissertationsprojekt zur Arbeit
Heinrich Jacobys abgeschlossen.
Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht die pädagogisch-praktische Arbeit Jacobys in seinen Ar-
16 | Aus heutiger Sicht
beitsgemeinschaften. Heinrich Jacoby und auch Elsa
Gindler haben ja eine primär praxis- und erfahrungsorientierte Vermittlung ihrer Positionen und Erkenntnisse einer theoretischen Vermittlung, systematischen Darstellung und publizistischen Verbreitung
vorgezogen und arbeiteten von 1924 bis zu ihrem Tod
in sogenannten Arbeitsgemeinschaften mit erwachsenen Teilnehmenden. Sie haben sich gegenüber einer
Methodisierung und Institutionalisierung ihrer Arbeit
vehement verwehrt, weshalb ihre pädagogisch-praktische Tätigkeit eine besonders hohe Bedeutung hat.
Auf der Grundlage umfangreicher Quellen aus dem
Archiv der H.Jacoby/E.Gindler-Stiftung habe ich die
Praxis der Arbeitsgemeinschaft Heinrich Jacobys erforscht. Dabei haben mich drei Fragen geleitet: Auf
der Basis von Briefdokumenten habe ich untersucht,
in welchem Kontext die Arbeit Jacobys entstanden
ist: wie waren die Bezüge Jacobys zu zeitgenössischen Pädagoginnen / Pädagogen, zu Psychologen
und zu Vertretern des Bauhauses. Ist die vielfach unterstellte Nähe zur Reformpädagogik nachzuweisen?
Und wie hat sich Jacoby im zeitgenössischen Kontext
selbst verortet?
Am Beispiel einer Arbeitsgemeinschaft aus dem Jahr
1950/51 habe ich auf der Grundlage von Kursabschriften ausschnittartige Einblicke in den Prozessverlauf der Arbeitsgemeinschaft genommen und mit
Methoden der qualitativen Sozialforschung thematische Schwerpunkte, vor allem aber Intentionen und
Aspekte des praktischen Vorgehens Jacobys in seinen Arbeitsgemeinschaften herausgearbeitet. Dies
habe ich mit den Materialen von vier Teilnehmenden
derselben Arbeitsgemeinschaft, aus denen man die
individuellen Reflexions- und Erfahrungsprozessen
rekonstruieren kann, ergänzt und kontrastiert.
Bei meinem Vortrag im Februar 2007 in den Räumen
der Stiftung habe ich ausgewählte Untersuchungsergebnisse vorgestellt und anschließend den Aspekt
„Lernen und Erfahrung“ beleuchtet. Die Bedeutung
erfahrungsorientierter Lehr- / Lernprozesse ist in der
aktuellen Pädagogik wie in der Erziehungswissenschaft fast unumstritten. Dies ist also ein möglicher
Bezugspunkt, um Impulse der Arbeit Jacobys für heu-
tige pädagogische Praxis aufzuzeigen.
Ich werde zunächst auf die Begriffe Lernen und Erarbeiten eingehen, dann den Erfahrungsbegriff Jacobys
beleuchten und abschließend versuchen, Besonderheiten des Erfahrungsbegriffes Jacobys auszumachen
und nach Bedeutungen für die Lehrerbildung zu fragen.
Lernen versus Erarbeiten
Wer die veröffentlichten Kursdokumente Jacobys
kennt, dem ist Jacobys Gegenüberstellung von „Lernen“ versus „Erarbeiten“ vertraut. Was ist mit diesen
Begriffen jedoch genau gemeint und wie lassen sie
sich verallgemeinernd definieren? In der von mir untersuchten Arbeitsgemeinschaft 1950/51 (wie auch
1945) stellt „Lernen“ den negativen Gegenhorizont
für das intendierte Vorgehen in der Arbeitsgemeinschaft dar:
„[...] ich hoffe, dass Sie hier bei mir nichts lernen werden, wobei ich natürlich mit dem `Lernen´ jenes Lernen meine, an das wir von klein
an gewöhnt worden sind, mit Belohnungen und
Drohungen, mit Versprechungen und Strafen, wo
es tausend Dinge zu behalten gab, die uns nicht
interessierten, die uns nichts angingen, sondern
die eben zu lernen und zu behalten waren, weil
sie im Lehrplan verlangt und bei den Prüfungen
vorgewiesen werden mussten...“ (AG 1950/51, 1.
Kursabend).
Der von Jacoby explizierte negative Gegenhorizont
„`Lernen´“ ist also durch äußere Restriktionen und
Maßregelungen sowie durch Anforderungen gekennzeichnet, die das Curriculum oder die Institution Schule setzen. Dabei sind die zu vermittelnden
Wissensbestände von einem subjektiv empfundenen
Sinn, individuellen Erfahrungen und eigenem Interesse abgekoppelt.
Jacoby fokussiert in der Arbeitsgemeinschaft 1950/51
jedoch nicht nur die Konsequenzen eines so verstandenen Lernens für den Wissens- und Kompetenzaufbau von Menschen, sondern er betont auch die Konsequenzen eines solchen Vorgehens für grundlegende
Dimensionen des Person-Seins, beispielsweise hin-
sichtlich der Entstehung von Beunruhigung, Unsicherheit, Angst:
„Unter Lernen verstehe ich - beispielsweise und
unter anderem - auch das, was wir alle von klein
auf haben tun müssen, um schließlich so geworden zu sein, dass wir beunruhigt und unsicher und
ängstlich werden, sobald an uns – und dazu noch
vor anderen – eine Frage gerichtet wird. Das ist
e i n Aspekt einer wenig zweckmässigen Art des
Vorgehens“ (AG 1950/51, 1. Kursabend)
Hier deutet sich der Aspekt des zweckmäßigen bzw.
unzweckmäßigen Verhaltens an, also eine Verhaltensqualität, die u.a. durch Vertrauen, Stille, Gelassenheit,
Reagierbereitschaft im Unterschied zu Angst, Panik
und Starre gekennzeichnet ist - ein Aspekt der im
Zusammenhang mit Lehr-Lernprozessen selten fokussiert wird.
Dem negativ konnotierten „Lernen“ stellt Jacoby bekanntermaßen den Begriff des „Erarbeitens“ gegenüber. Er bezeichnet damit einen selbsttätigen, erforschenden, an der individuellen Erfahrung orientierten
und intrinsisch motivierten Prozess. Jacoby betont
besonders die Prozessstruktur des Erarbeitens, den
allmählichen Verlauf vom Nicht-Stimmenden zum
Stimmenden und die Tatsache, dass Fehler notwendige und produktive Bestandteile dieses Prozesses
sind. Eine Vorgehensweise des Erarbeitens fordert Jacoby sowohl allgemein für die Gestaltung von Lehr-/
Lernprozessen und beansprucht zugleich, sie in seiner
Arbeitsgemeinschaft zu realisieren.
Erfahrung
Für den von Jacoby intendierten Prozess des Erarbeitens ist also die Orientierung an der individuellen Erfahrung zentral. Von welchem Erfahrungsbegriff geht
nun Jacoby aus? Wie die meisten der von Jacoby verwendeten Begriffe wird auch „Erfahrung“ nicht eindeutig definiert. Jacoby lehnt sich aus meiner Sicht
an einen Erfahrungsbegriff an, der im neuzeitlichen
wissenschaftlichen Denken das mit der Sinneswahrnehmung Erkundete - im Unterschied zum Erdachten
(Rationalismus) oder zum von Autoritäten Angenommenen (Dogma) oder zum geschichtlich Überlieferten
Aus heutiger Sicht | 17
(Tradition) - sowohl den Weg als auch das Ergebnis
des auf Wahrnehmung, Beobachtung, Experiment
beruhenden Forschens und Erkennens bezeichnet.
Neben einer Nähe zu phänomenologischen Perspektiven weist der Erfahrungsbegriff Jacobys Berührungspunkte mit verschiedenen Philosophen und
Pädagogen auf, beispielsweise mit dem des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey
(1859-1952). Dewey versteht Lernprozesse ebenfalls
als Erfahrungsprozesse und betont besonders die
Prozessstruktur von Erfahrung sowie die Bedeutung
sogenannter negativer Erfahrung. Er beschreibt, dass
der Prozess negativer Erfahrung mit Irritationen,
Verwirrung, Zweifel, Schwierigkeiten, Frustrationen
etc. beginnt. Erst dadurch wird aus seiner Sicht das
Spannungsfeld zwischen Nicht-Können und Können,
zwischen Nicht-Wissen und Wissen erzeugt, das Lern­
energie auslöst (Combe 2005, S. 3).
Damit ergeben sich deutliche Bezüge zum Erfahrungsverständnis Jacobys: Jacoby verdeutlicht den
Teilnehmenden seiner Arbeitsgemeinschaften immer
wieder bestimmte Momente des Erfahrungsprozesses,
z.B. das von ihm sogenannte Stolpern (als plötzliche
Bewusstwerdung eines Nichtkönnen, als bewusstes
Erleben von etwas Änderungsbedürfigem) als erste
Etappe in einem Erarbeitungsprozess. So verweist
Jacoby z.B. im Verlauf des 10. Kursabend der AG
1950/51 im Gespräch mit Teilnehmenden darauf,
„[...], dass, bevor ich darüber gestolpert bin, dass da
irgend etwas nicht so funktioniert, wie ich spüre,
dass es funktionieren könnte, ich nicht anfangen
kann, auf eine sinnvolle Weise daran zu arbeiten,
dass ich das nächste Mal schon nicht mehr bei
ähnlichen Anlässen zu stolpern brauche.....
Aber ohne, dass ich bewusst bemerkt habe, dass
da etwas nicht stimmt, kann ich nicht darauf
kommen, etwas ändern zu wollen...“
Jacoby antwortet hier auf einen Teilnehmer, der sich
zuvor beklagt hatte, beim Setzen auf den Hocker
„schon wieder“ den Kontakt zur eigenen Last verloren
zu haben, ja dass ihm die Last erst nach dem Versuch
wieder bewusst geworden sei. Wenn ich solche Abschnitte in den Kursabschriften las, musste ich häufig schmunzeln, denn sie erinnerten mich - jenseits
meiner wissenschaftlichen Arbeit - an meine eigenen
18 | Aus heutiger Sicht
Erfahrungen beim Probieren, meine Schwierigkeiten
und meinen gelegentlichen Ärger, etwas „schon wieder“ nicht realisiert oder gekonnt zu haben. Wie folgenschwer ist aber ein solcher Gedanke. Anstelle in
Ärger, womöglich sogar Vorwürfen oder einem Gefühl
von Ungenügen zu verfallen, wäre es ebenso möglich,
ein solches Bewusstwerden von einem Nicht-Können
als produktiven und notwendigen Teil des Prozesses
zu verstehen und die daraus entstehende Lernenergie
zu nutzen.
Wenn man Lernprozesse konsequent als erfahrungsorientierte Prozesse versteht und sich die oben angedeutete Struktur von Erfahrungsprozessen, die mit
Fehlern, Irritationen und Erleben von Nicht-Können
beginnt, vergegenwärtigt, so wird deutlich, warum
die beispielsweise in der Schule auch heute noch
weitgehend verbreitete Sanktionierung von Fehlern
und der daraus resultierende Versuch der Fehlervermeidung auf Seiten der Lernenden so folgenschwer
ist. Nicht umsonst wird deshalb in der Schulpädagogik „theoretisch“ schon lange für die Entkoppelung
von Lernprozess und Leistungsbewertung plädiert.
Diese ist inzwischen sogar in einigen Rahmenrichtlinien und Lehrplänen verankert. Trotzdem wird sie
immer noch nur vereinzelt praktiziert.
Zwei Aspekte scheinen mir im Zusammenhang mit
dem Erfahrungsverständnis Jacobys besonders erwähnenswert:
» Jacoby spricht im Zusammenhang mit der Gestaltung von Lehr-/Lernsituationen konsequent von der
Notwendigkeit, Erfahrgelegenheiten zu schaffen. Er
verweist mit diesem Begriff auf die Problematik des
Anfangs erfahrungsorientierter Lehr-/Lernprozesse
und damit auf eine in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft zentrale Frage, nämlich ob und wie sich
(erfahrungsorientierte) Lehr-/Lernprozesse initiieren
lassen. Dabei kann es sich nach dem Verständnis
Jacobys wie nach dem Verständnis neuerer Wissenschaftler nur um eine Gelegenheitsstruktur handeln,
die eben nicht garantieren kann, ob eine Situation,
Aufgabe oder ein Versuch tatsächlich in einen individuellen Erfahrungsprozess münden. Käte MeyerDrawe schreibt zu dieser Problematik: „Ebenso wenig
wie mein Wille den Anfang des eigentlichen Lernens
erzwingen kann, ist ein Lehren möglich, das diesen
Beginn setzt. Es kann stets mit ihm rechnen und die
Lernen durch Erfahrung: Wirkliche Fragen
und echtes Interessiertsein ergreifen den
ganzen Menschen und nicht nur den Kopf
Bedingungen günstig gestalten, ihn aber nicht garantieren. Einer Theorie des Lernens fällt die Aufgabe
zu, diese Problematik so adäquat wie möglich zu formulieren.“ (Käte Meyer-Drawe 2005, S. 509)
» Erfahrbereitschaft
Mit diesem Begriff verweist Jacoby auf bestimmte
Voraussetzungen beim Erfahrungssubjekt, nämlich
die Bereitschaft, sich Erfahrungen zuwachsen zu
lassen. Die Aufforderung Elsa Gindlers „Werden Sie
wieder erfahrbereit ...“, die Jacoby in seinen Arbeitsgemeinschaften immer wieder aufgreift, zielt besonders auch auf eine leibliche Wahrnehmungsoffenheit.
In neuerer Zeit betont beispielsweise Arno Combe,
dass der Einzelne in einer Erfahrungskrise „nicht als
rationaler Akteur, sondern als körperlich engagiertes
Individuum reagiert und dass das anfängliche affektiv-leibliche Resonanzgeschehen die späteren Handlungsentwürfe entscheidend mitbestimmt (Combe
2005, S. 11).
Ein besonderer Erfahrungsbegriff?
Während der Arbeit an meinem Dissertationsprojekt
wurde ich oft von Kommilitonen oder Professoren danach gefragt, worin denn das Besondere des Erfahrungsbegriffes Jacobys liege. In wissenschaftlichen
Arbeiten ist es üblich, nach Gemeinsamkeiten und
Abgrenzungen mit anderen Begriffen zu schauen und
das jeweils Spezifische eines Begriffes herauszuarbeiten. Ich habe bereits angedeutet, dass sich viele
Überschneidungen mit dem Erfahrungsbegriff anderer Pädagogen und Philosophen ausmachen lassen.
Die Besonderheit scheint mir aber weniger in der
Erweiterung oder (theoretischen) Ausdifferenzierung
des Erfahrungsbegriffs zu liegen, sondern vielmehr
in der pädagogisch praktischen Arbeit selbst. Jacoby
versucht unter anderem, den Teilnehmenden seiner
Arbeitsgemeinschaft individuelle Zugänge zu Erfahrungsoffenheit und Erfahrbereitschaft wieder zu ermöglichen. Es ist letztlich der Versuch, die durch Erziehung und Schule sowie durch gesellschaftliche und
kulturelle Einflüsse weit fortgeschrittene Abtrennung
von der eigenen Erfahrung und das Misstrauen ihr
gegenüber zu überwinden. Jacoby initiiert in seinen
Arbeitsgemeinschaften Versuche, anhand derer sich
die Teilnehmenden erfahrungsorientierten Lernprozessen neu annähern können. In den Versuchen geht
es immer um zweierlei: es geht um die Annäherung
an zweckmäßiges Verhalten anhand eines Beispiels
(Setzen auf den Hocker im Kontakt zur eigenen Last),
zugleich stellen die Versuche eine Gelegenheit dar,
eigene Vorstellungen und Gewohnheiten von Lernprozessen zu erleben, sich ihrer bewusst zu werden
und allmählich neue Zugänge auszuprobieren. Es
geht also neben der Annäherung an zweckmäßiges
Verhalten um einen Erfahrungs- und Reflexionsanlass für (erfahrungsorientierte) Lernprozesse.
Wenn eine Teilnehmerin der Arbeitsgemeinschaft
1950/51 beispielsweise im Kontext der praktischen
Versuche mehrfach ihre Erwartung äußert, Jacoby
solle erklären, wie richtiges Sitzen auszusehen habe,
so zeigt sich hier ein Lernverständnis, das von einem
selbsttätigen, explorierenden, erlebens- und erfahrungsorientierten Vorgehen weit entfernt ist. Über
viele Kursabende der Arbeitsgemeinschaft hinweg
äußert die Teilnehmerin ihr Unverständnis, formuliert Widerstand und reibt sich an den Aufgabenstellungen. Allmählich kann sie aber ihre Zugangsweise
verändern und sich zunehmend einem erlebens- und
erfahrungsorientierten Vorgehen annähern:
„Das war eben meine Schwierigkeit! Ich merkte gar
nicht, `wo´ beim menschlichen Körper dieser Zug ist!
Ich habe früher viele Säcke getragen. Ich weiß daher
ungefähr, wie schwer mein Körper ist, d.h. wie schwer
er sein müsste, wenn ich ihn tragen müsste. Aber ich
habe dieses Gewicht nie gespürt, wenn ich versuchte,
abzusitzen oder aufzustehen!“
Aus heutiger Sicht | 19
Das ist bei jedem Bewegungsprozess so: Es sind drei Fakten, die erfüllt werden müssen. Nicht von mir
aus, das sind Gesetzmäßigkeiten, unter denen wir existieren. Das ist Kontakt zur Schwerkraft, Kontakt
zur Richtung und Kontakt zur Distanz. Das sind die Grundprobleme von Bewegung, wenn sie zweckmäßig ablaufen soll. Ob das erfüllt ist, ist z.B. am Atemprozess ablesbar. Das gilt für Bewegen der
eigenen Masse und gilt für Bewegen fremder Masse. (Sophie Ludwig, Einführungskurs am 18.1.1991)
In dem Bestreben, den Teilnehmenden seiner Arbeitsgemeinschaften wieder Zugänge zu erfahrungsorientierten Prozessen zu ermöglichen, scheint mir das
eigentlich Besondere und auch Faszinierende der Arbeit Jacobys zu liegen. Dies hat nicht nur für den / die
Einzelne(n) Bedeutung, sondern ist auch im Hinblick
auf professionelles pädagogisches Handeln bedeutsam: Es ist immer wieder die Frage, wie erfahrungsorientierte Lernprozesse initiiert werden können und
in welcher Weise das Handeln der Lehrenden auch
von eigenen Lernerfahrungen und -prägungen abhängig ist.
Lange Jahre und Jahrzehnte galt es für Lehrende, im
Unterricht „didaktische Reduktion“ zu betreiben, also
Probleme, die sich in Zusammenhang mit Themen
oder Aufgaben stellen, kleinzuspalten. Eine wichtige
Aufgabe der Lehrenden wurde darin gesehen, mögliche Schwierigkeiten vorab aus dem Weg zu räumen
und in gut zu bewältigende Teilaufgaben zu zerlegen.
Versteht man Lernprozesse jedoch konsequent als
Erfahrungsprozesse und berücksichtigt deren oben
angedeutete Struktur, so wird deutlich, warum ein
solches Vorgehen so fatal ist und Lernen geradezu
verhindert.
Auch der Diskurstyp im schulischen Unterricht müsste sehr viel risikobereiter werden, wenn man erfahrungsorientierte Lernprozesse initiieren will. Lehrende
dürften Probleme, Widersprüche im Zusammenhang
mit Themen nicht entschärfen, sondern müssten sie
im Gegenteil zuspitzen, verdichten und Lernende ermutigen und unterstützen, Lösungswege selbst zu
finden.
Diese Zusammenhänge sind alle einerseits nicht besonders innovativ, Heinrich Jacoby hatte sie seinerzeit erkannt genauso wie viele andere Pädagoginnen
und Pädagogen zu verschiedenen Zeiten. Aber noch
heute ist zu beobachten, dass trotz der theoretisch
erkannten Bedeutung erfahrungsorientierter Lehr-/
Lernprozesse die Praxis leider oft anders, nicht selten
sogar vollkommen widersprüchlich aussieht.
Wodurch kann gewährleistet werden, dass z.B. in
der Schule zunehmend erfahrungsorientierte Lehr/Lernprozesse im oben beschriebenen Sinn realisiert
20 | Aus heutiger Sicht
werden? Ein wichtiger Impuls, der sich meines Erachtens aus der Arbeit Jacobys ableiten lässt, liegt
in dem Hinweis auf die Notwendigkeit, auf der Basis eigenen Erlebens und eigener Erfahrungen eine
Auseinandersetzung auch auf persönlicher Ebene
anzuregen. Jacoby war überzeugt, dass methodische,
didaktische und curriculare Reformbemühungen nur
zu oberflächlichen Veränderungen im Bildungswesen
führen, solange Pädagoginnen und Pädagogen sich
ihrer (lern-) biographisch bedingten und handlungsleitenden Orientierungen nicht bewusst werden und
diese allmählich zu verändern bereit sind. Er grenzte
sich damit gegenüber einem überwiegend fachlich
und theoretisch orientierten Ausbildungsverständnis ab und fokussierte die Bedeutung persönlicher
Entfaltung und Auseinandersetzungsbereitschaft.
Beispielsweise braucht es gerade für die Initiierung
erfahrungsorientierter Lehr-/Lernprozesse den eigenen Zugang zu Erfahrungsoffenheit und das erlebte
Vertrauen, dass erfahrungsorientierte Lernprozesse
zum Erfolg führen.
Jacoby ging es darum, nicht an der Oberfläche methodischer, curricularer, konzeptioneller Veränderungen
stehen zu bleiben, weil die Konsequenzen daraus aus
seiner Sicht allzu gering und wirkungslos bleiben, solange Erwachsene sich nicht selbst verändern. Dies
ist auch heute noch gültig.
Inken Neubauer
Combe, Arno: Erfahrung und schulisches Lernen. (Unveröffentlichtes Manuskript). Hamburg 2005.
Meyer-Drawe: Lernen als Erfahrung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (6) 2003,
Heft 4. S. 505-514.
Die Dissertation von Inken Neubauer „Interessieren durch das, wie wir sind...“ – Eine Untersuchung zur Praxis der Arbeitsgemeinschaft
Heinrich Jacobys erscheint Anfang 2008 und
ist über die Stiftung erhältlich.
Jenseits von ‚behindert‘ und ‚nicht behindert‘
Heinrich Jacoby und Elsa Gindler verwiesen in ihren Arbeitsgemeinschaften immer wieder auf die Biographien von Menschen mit besonderen Beeinträchtigungen, beispielsweise erwähnen sie die ohne Arme geborenen Herman Unthan und Aimee Rapin. Sie interessierten sich für die Lebensgeschichten dieser Menschen,
ihre besonderen Fähigkeiten und die Bedingungen ihrer Entfaltung.
Die erfolgreiche britische Percussionistin Evelyn Glennie, die über kein auditives Hörvermögen verfügt, verweist in dem nachfolgend auszugsweise zitierten Essay auf die Unzweckmäßigkeit von Kategorisierungen wie
`behindert´ oder `nicht behindert´ und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Entfaltung eigener
Fähigkeiten. Katharina Voigt berichtet anschließend, welch entscheidende Folgen ein veränderter Blick auf
ein blindes Mädchen und deren Entwicklung haben kann.
HEARING ESSAY
[...] Eine Kategorie, die oft mit mir in Verbindung gebracht wird, ist die Kategorie »taub«, die selbst wiederum eine Unterkategorie von »behindert« darstellt.
In der Kategorie »taub« hat schon eine große Entwicklung stattgefunden. [...] In der Tat stehe ich heute hier und wurde eingeladen, zu Ihnen zu sprechen,
weil ich nicht in die Kategorie passe, in die mich die
meisten Menschen einordnen würden. Die Definition
der Kategorie »taub«, d.h. nicht fähig, Töne zu hören,
und die Kategorie der Musik, die aus Tönen besteht,
schließen einander aus. Im Grunde ist meine Karriere
wie die Beethovens und anderer ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür gibt es nur drei denkbare Erklärungen:
Ich bin keine Musikerin. Ich bin nicht taub. Oder das
allgemeine Verständnis der Kategorien »taub« oder
»Musik« ist nicht korrekt. Neben der Kategorie »taub«
möchte ich auch die Kategorie »behindert« in Frage
stellen. Behindert sein bedeutet per definitionem,
dass ich daran gehindert werde, etwas zu tun. Dennoch bin ich, von einigen kleinen Unbequemlichkeiten
abgesehen, nicht daran gehindert, etwas in meiner
Karriere oder meinem Privatleben zu erreichen. Wie
sollten dann die Begriffe »behindert« oder »taub« auf
mich zutreffen? Kurzum, sie tun es nicht, ja, nicht
einmal das Etikett »hörgeschädigt« funktioniert, weil
mein Gehör dem eines durchschnittlichen, nicht geschädigten Menschen in mancher Hinsicht überlegen
ist. Ich höre einfach anders als die meisten. Andere
Menschen verwenden die Kategorien, doch mir und
denjenigen, die so sind wie ich, erscheinen diese speziellen Kategorien bedeutungslos. [...]
Wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft bin ich
ungeachtet meines rechtlichen Status körperlich behindert. Beispielsweise kann ich, so gern ich es auch
möchte, niemals ein professioneller Schwergewichtsboxer, ein Supermodel oder ein berühmter Tenor
werden … jedenfalls nicht ohne eine wirksame Hormontherapie und eine drastische Erhöhung meiner
Kalorienzufuhr! Abgesehen von so genannten »Behinderungen« kann ich - wie viele andere Menschen
auch - aufgrund meiner körperlichen Eigenschaften
bestimmte Berufe einfach nicht ausüben. Ich kann
in zahllosen Berufen nicht erfolgreich sein, weil ich
es entweder nicht will oder mich für zu wenig begabt halte. Die Art und Weise, in der wir uns selbst
kategorisieren und in unseren eigenen Verständnisrahmen einordnen, führt dazu, dass der Großteil der
Menschen sich als unfähig erachtet, in seinem selbst
gewählten Tätigkeitsbereich Höchstleistungen zu
erzielen. Dies ist eine weitaus größere Behinderung
als jedes körperliche Problem, das ich mir vorstellen
kann, vom Tod einmal abgesehen!! In der Politik, der
theoretischen Physik und zahlreichen anderen Bereichen gibt es Menschen, deren Laufbahn beweist,
dass das größte Handikap der Verständnisrahmen ist,
in den sich die Menschen selbst einordnen, und dass
selbst die schwersten körperlichen Schwierigkeiten
im Vergleich dazu völlig sekundär erscheinen. [...]
Meine Gabe, wenn man es denn so nennen möchte,
liegt nicht in meiner körperlichen Fähigkeit, Perkussionsinstrumente zu spielen, sondern in meinem
Verständnisrahmen, der sich durch bewussten Input
meinerseits entwickelt hat und mir nur wenige Entschuldigungen zugesteht. Ich habe niemals wirklich
Jenseits von ‚behindert‘ und ‚nicht behindert‘ | 21
© Werner Bischof / Magnum Photos
In der Schule für Gehörlose von
Mimi Scheiblauer, Zürich 1944
geglaubt, dass die Probleme, die ich mit meinen Ohren habe, meine Fähigkeiten als Musikerin grundlegend beeinträchtigen könnten. Auch habe ich nicht
geglaubt, ich könnte keine Karriere als klassische
Solo-Perkussionistin machen, nur weil es niemandem
sonst gelungen ist. Ich bin nicht trotz oder wegen
meiner Taubheit erfolgreich. Taubheit ist schlicht und
einfach kein entscheidender Faktor in dieser Gleichung. Bei meiner Tätigkeit würde mir manches leichter fallen, wenn ich längere Arme und größere Hände hätte, und ich könnte dies somit als körperliches
Handikap betrachten. Verglichen mit der allgemein
herrschenden Vorstellung von Armen und Händen
sind meine jedoch nicht weiter ungewöhnlich, so dass
ich lieber einen anderen Weg suche, als über meine
körperlichen Unzulänglichkeiten nachzudenken. Für
andere ist mein Gehör sicherlich außergewöhnlich,
für mich jedoch nicht. Ich bin an mein Gehör ebenso
gewöhnt wie an die Größe meiner Hände. [...]
ten, beziehen sich ständig auf »taub/hörgeschädigt«
oder »traditionelle Rollen/Berufe für Hörende«. Für
mich existieren derartige Dinge nicht, es gibt nur
Berufe die mit Menschen zu tun haben und einfach
nur Berufe. Es liegt an Ihnen, ob Ihre künftigen Studenten »Studenten mit besonderen Bedürfnissen«,
»hörgeschädigte Studenten«, »behinderte Studenten«
oder einfach nur Studenten sein werden. [...] Viele Ihrer Studenten werden sich schon bei Ihrer Ankunft
als behindert, taub, blind oder sonst wie geschädigt
betrachten. Es liegt in der menschlichen Natur, nach
einem einfachen Ausweg zu suchen, und ein »Handikap« zu haben, ist eine Entschuldigung, nach der sie
gar nicht selber suchen müssen. Doch ist es gewiss
die Aufgabe eines jeden Erziehers, den Verstand und
die Weltsicht der Studenten zu erweitern und sie darin zu bestärken, die gegenwärtigen Grenzen zu überwinden, statt die Entschuldigungen zu verfestigen.
Sie [als Pädagoginnen und Pädagogen, Anm. der Redaktion] sind als Individuen so wichtig, weil Sie in der
Lage sind, bei Kindern die Entwicklung des Verständnisrahmens und die Positionierung darin unmittelbar
zu beeinflussen. Am Ende Ihrer Laufbahn werden Sie
die Verantwortung für die Ausbildung vieler hundert,
wenn nicht tausend Kinder und Studenten tragen.
Die Fragen, die mir Interviewer stellen, die aus der
»Taubengemeinschaft« stammen oder für sie auftre-
Evelyn Glennie
22 | Jenseits von ‚behindert‘ und ‚nicht behindert‘
Zitiert nach: http://www.evelyn.co.uk/live/hearing_
essay_german.htm [Ausdruck vom 1. August 2007]
Jenseits von ‚behindert‘ und ‚nicht behindert‘
Ein besonderer Augenblick
In Marianne Haags Kurs lasen wir aus dem Buch „Das
wiedergefundene Licht“ von Jacques Lusseyran. Die
Lebensgeschichte eines blinden jungen Mannes im
französischen Widerstand. Welch ein Zufall, in einer
meiner Gruppen zur musikalischen Früherziehung befand sich seit kurzem ein blindes Mädchen. Bis dato
hatte ich noch nie mit einem blinden Kind gearbeitet.
Überhaupt hatte ich mit Blindheit keine wirkliche Erfahrung. Meine Einstellung dazu war eher landläufig.
Diese Menschen taten mir leid, ich sah ihre Hilfsbedürftigkeit. Mein Blick war nur auf den Mangel gerichtet. Doch nun las ich von einem Menschen, dessen
Glück es war, Eltern zu haben, die seine Blindheit voll
bejahten und ihm die Möglichkeit gaben, seine - von
Natur aus gegebenen - Fähigkeiten wahrzunehmen
und zur Entfaltung zu bringen. Mir wurde eine Welt
offenbar, von der ich nichts geahnt, geschweige denn
gewusst hatte. Plötzlich erschien mir das kleine blinde Mädchen in einem ganz anderen Licht, als Quell
ungeahnter Möglichkeiten. In mir öffnete sich etwas.
Raum war nun spürbar für Entwicklung mit diesem
Kind.
15 Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren umfasst
die Gruppe dieses Mädchens. Es ist eine Kinderladengruppe mit sehr engagierten Erziehern. Einmal in der
Woche kommen die Kinder für eine Stunde zu mir
nach Hause. Ich habe das Glück, in einer Wohnung
mit einem sehr schönen und großem Berliner Zimmer
(ca.35-4o qm) zu wohnen, unserem Musikraum. Am
Ende einer jeden Stunde gibt es etwas zu essen und
zu trinken. Manchmal nehme ich mir diese Zeit für
Öslem, das kleine blinde Mädchen, widme mich ihr
voll und ganz.
Mit zweieinhalb Jahren kam sie zu mir. Ihr Entwicklungsstand glich dem eines Säuglings von sechs bis
acht Monaten. Ihr Körper war groß, wie von einer
vierjährigen, aber mindestens doppelt so schwer. Sie
lag nur auf dem Bauch, hielt sich die Ohren zu und
wackelte etwas mit dem Po. Von ihrer Familie schwer
vernachlässigt, zeigte sie autistische Züge.
So oft und so lange ich konnte, trug ich sie während
der Stunde in afrikanischer Art im Tuch auf dem Rücken. Nichts musste sie tun. In engem Körperkontakt
mit mir konnte sie ihr gesamtes Gewicht abgeben und
war trotzdem geschützt, das Tuch hielt sie. Ich tanzte, sang, machte alles, was mir kräftemäßig möglich
war, mit ihr auf dem Rücken. Sie liebte es und begann
sich zu öffnen. Wenn wir tanzten, jauchzte sie vor
Freude.
Und dann, an jenem Tag nun, geschah folgendes:
Während die anderen Kinder ihren Imbiss aßen, setzte
ich Öslem auf meinen runden, drehbaren Hocker ans
Klavier. Dabei sollten Sie bedenken, sie konnte noch
nicht sitzen, kannte kein Klavier, hatte noch nie ein
Klavier berührt und in meinen Stunden bis dato auch
keines klingen gehört.
Ich setzte sie also auf den Hocker, stellte mich ganz
dicht dahinter, als eine Art Lehne und legte ihre Hände behutsam auf die Tasten. Diese Situation war für
Öslem völlig fremd, neu. Ihr Körper spannte sich vor
Angst und Aufregung. Dabei machte sie ihre Arme so
steif, dass eine Taste heruntergedrückt wurde. Das Erklingen des Tones nahm sie in den Bann. Sofort hielt
sie inne, lauschte, ihr ganzes Wesen war bereit, auf
die Dinge, die kommen, zu reagieren, wie vielleicht
eine Katze in Lauerstellung. Sie saß auf dem Hocker
und ihre Finger bewegten sich behutsam, abtastend,
fragend. Jeden Ton ließ sie klingen und lauschte ihm
nach. Ich spürte die völlig andere Spannung in ihrem
Körper und löste mich sachte, so dass Öslem ganz
alleine saß. Ein kleines Zucken ging durch ihren Körper, Schreck oder Angst, doch als ich ihr meine Hände
an die Schulterblätter legte, war sie ganz ruhig. Sie
lauschte den Tönen in einer Weise hinterher, wie ich
es bisher noch nie erlebt habe. Aufnahmebereit, wissen wollend, was da vor sich geht.
Zutiefst gerührt, lief ich in die Küche, holte Erzieher
und die Mutter des Mädchens, die dort warteten, in
unseren Musikraum. Da saß nun Öslem, das kleine
blinde Mädchen, allein am Klavier, wiegte ihren Kopf
und Körper hin und her und spielte so wunderbar, dass
wir alle zu Tränen gerührt waren. Auch die anderen
Kinder hielten inne. Der gesamte Raum war von einer
bewegenden Atmosphäre erfüllt
Alle fühlten wir, es ist ein besonderer Augenblick.
Katharina Voigt
Jaques Lusseyran: Das wiedergefundene Licht.
Stuttgart 1971.
Jenseits von ‚behindert‘ und ‚nicht behindert‘ | 23
Stiftung – quo vadis?
Seit inzwischen gut zwei Jahren gibt es verstärkt Initiativen, die Stiftungsarbeit zu unterstützen und zu verändern. So gab es unterschiedliche Treffen im erweiterten Beirat, einen ersten Stiftungsaktionstag im März
2007 und den Gesprächsabend „Stiftung - quo vadis?“ im Juni 2007. Im Folgenden findet sich ein Bericht
über dieses Treffen und ein Brief als Reaktion auf eine Veranstaltung der Stiftung.
Stifung – quo vadis? Gesprächsabend am 8. Juni
Zum Informations- und Gesprächsabend „Stiftung
- quo vadis?“ am 8.6.07 hatten die Mitglieder von
Vorstand und Beirat eingeladen, weil sie stärker mit
den Interessent(inn)en an der Arbeit Gindlers und Jacobys, den Teilnehmenden von Veranstaltungen und
den Nutzer(inne)n der Stiftungsräume ins Gespräch
kommen möchten. In den Gremien der Stiftung wird
seit längerer Zeit u.a. diskutiert,
» wie „die Stiftung“ zunehmend zu einem gemeinsam gestalteten Anliegen werden kann,
» wie „die Stiftung“ sich verändern muss, damit sich
mehr Menschen aktiv in die Stiftungsarbeit einbringen,
» welche Bedeutung „die Stiftung“ für (ehemalige)
Teilnehmende von Kursen hat.
Zum Gesprächsabend am 8. Juni kamen Menschen,
die zum Teil seit mehreren Jahren oder Jahrzehnten,
zum Teil auch erst über einen kurzen Zeitraum mit
der Arbeit Gindlers und Jacobys Kontakt haben. Auch
die Nähe zur Stiftung und Stiftungsarbeit war sehr
unterschiedlich. Einige Teilnehmerinnen kamen mit
konkreten Anliegen und Themen, andere kamen, um
jenseits der Kursangebote erste Eindrücke von der
Stiftungsarbeit zu sammeln.
An dem Abend wechselten Gesprächsrunden im Plenum und in Kleingruppen, es gab Gelegenheit für
informelle Gespräche am Rande, für Austausch und
Kennenlernen und nicht zuletzt ein köstliches (!) Buffet. Der Abend hatte für uns eine angenehme, leichte
Atmosphäre, es gab viele interessante Begegnungen.
Vielen Dank an alle, die zum Zustandekommen und
Gelingen des Abends beigetragen haben! Im Folgenden soll ein kleiner Einblick in die Themen des
Abends gegeben werden:
Zur besseren Transparenz der Stiftungsarbeit wurde
zunächst über bisherige Schwerpunkte der Stiftungsarbeit, die finanzielle Situation und zukünftige Vorhaben berichtet.
24 | Stiftung – quo vadis?
Bericht über die bisherige Stiftungsarbeit
Seit 7 Jahren hat die Stiftung eigene Räume in der
Teplitzer Straße. Der Umzug und der Generationenwechsel nach dem Tod von Sophie Ludwig waren
bedeutsame Einschnitte in der Stiftungsgeschichte.
Mit dem Bezug eigener Räume scheint die Stiftung
verstärkt wahrgenommen zu werden, was sich beispielsweise durch vermehrte Anfragen an die Stiftung
zeigt. Schwerpunkte der bisherigen Arbeit waren:
» Veranstaltung von Kursen und Probierwochenenden
» Veranstaltung von Vorträgen, Ausstellungen, Lesungen in den Stiftungsräumen und außerhalb
der Stiftung z.B. Martin Gropius Bau
» Rundbrief
» Vorbereitung und Herausgabe von Publikationen
(z.B. „Wahrnehmen, was wir empfinden“, überarbeitete Neuausgaben von „Jenseits von Begabt...“,
„Musik Gespräche Versuche“)
» Schriftenreihe
» Archivierung
» Unterstützung von Dissertationsprojekten zur Arbeit Gindlers und Jacobys
» Erstellen von Flyer, Homepage etc.
» Laufender Stiftungsbetrieb, Verwaltung etc.
Bericht über die finanzielle Situation
Die finanzielle Situation der Stiftung wurde umfassend dargestellt: Die finanziellen Möglichkeiten
der Stiftung sind durch den Kauf der Räume in der
Teplitzer Strasse und andere laufende feste Kosten
sehr begrenzt. Viele Ideen lassen sich auf Grund des
geringen finanziellen Spielraums nicht umsetzen. Es
fehlen Spendengelder und Zustiftungen.
Bericht über künftige Vorhaben
In den Gremien wird intensiv diskutiert, welche
Schwerpunkte die Stiftungsarbeit zukünftig haben
soll, welche Projekte wünschenswert wären. Dabei
spielt immer auch die Frage nach Möglichkeiten, die
Arbeit Gindlers und Jacobys einem breiteren Kreis bekannt zu machen und die Außenwirkung der Stiftung
eine Rolle. Zur Zeit gibt es deutlich mehr Pläne und
Wünsche für zukünftige Vorhaben als finanzierbar
und arbeitsmäßig zu bewältigen sind, einige Beispiele
seien hier genannt:
» Herausgabe einer veränderten Ausgabe des
derzeit vergriffenen „Jenseits von Musikalisch und Unmusikalisch“
» Gemeinsames Arbeitswochenende von Marianne
Haag und der Zen-Meisterin Gundula Meyer ZuiUn-An (Ohof) mit dem Ziel einer Begegnung der
beiden Praxen
» Fortführung der Veranstaltungen außerhalb der
Stiftungsräume, wie beispielsweise die Veranstaltung im Martin Gropius Bau, die Fortbildung an
der Musikschule Schwäbisch Gmünd etc. Die Erfahrungen mit der Veranstaltung im Gropius Bau
und einigen Zeitschriftenpublikationen haben gezeigt, dass hierdurch ganz neue Menschen für die
Arbeit interessiert werden können. So haben sich
nach der Veranstaltung im Martin Gropius Bau
und auf einen Artikel in der Zeitschrift Jüdisches
Berlin Menschen aus Berliner Forschungsstellen
mit verschiedenen Anfragen an die Stiftung gewandt.
» Suche nach neuen Möglichkeiten, die Arbeit Gindlers und Jacobys und die heutigen praktischen Angebote einer breiteren Öffentlichkeit vermittelbar
zu machen, z.B. Wunsch einer Filmdokumentation, Idee der Veranstaltung einer Tagung etc.
» Überarbeitung von Flyer und Homepage, Veränderung der Außendarstellung der Stiftung
» Öffentlichkeitsarbeit
Themensammlung und -findung
Ein wichtiges Ziel dieses Abends war es, Gelegenheit
zum Gespräch, zu Äußerung von Kritik, Wünschen,
offenen Fragen und Themen zu geben. Aus diesem
Grund wurde großes Gewicht auf die gemeinschaftliche Themensammlung und -findung gelegt. Folgende Themen wurden von dem Teilnehmenden unter
anderem als diskussionsbedürftig genannt:
» Aktivierung weiterer Interessenten / Darstel-
lung der Arbeit
Wie kann die Arbeit verständlich und motivierend
dargestellt werden, damit sich neue Interessenten
finden? Wie können neue Interessentinnen gewonnen werden?
» Wirksamkeit/Wirkung der Stiftung
Wie wirkt die Stiftung, wie wird die Atmosphäre
bei Veranstaltungen wahrgenommen? Gründe für
geringe Rückmeldungen? Rückmeldungen auf den
Rundbrief? Gründe für Spendenzurückhaltung.
Welche Wirkung entfaltet die Arbeit der Stiftung?
» Ausbildung/Zertifizierung
Ist es möglich /sinnvoll eine Ausbildung anzubieten, bzw. Zertifikate auszustellen – auch wegen
der Veränderungen im Gesundheitswesen?
» Vernetzung und Austausch
Wie kann mehr Vernetzung und Austausch gewährleistet werden?
» Sophie Ludwig
Die Leistung Sophie Ludwigs scheint neben der
Gindlers und Jacobys als zu wenig beachtet und
gewürdigt.
Diskussion: Vernetzung und Kontakt:
Es wurde gemeinsam entschieden, nach der Pause als
erstes über das Thema Vernetzung und Kontakt zu
sprechen. Von vielen Seiten wurde der Wunsch nach
stärkerer Vernetzung nach außen und Intensivierung
des Kontakts mit verwandten Verfahren geäußert.
Dabei geht es insbesondere um eine Verstärkung des
Austauschs sowie um die Klärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit verwandten Verfahren.
Aus dem Beirat wurde berichtet, dass solche Kontakte und Vernetzungen bestehen und im Rahmen
der vorhandenen finanziellen und personellen Möglichkeiten vertieft werden. Der geplante Vortrag von
Verena Rauschnabel im November 2007 (u.a. zur Methode Schlaffhorst/Andersen) und das gemeinsame
Arbeitswochenende mit der Zen-Meisterin Gundula
Meyer in 2008 sind Veranstaltungen, die unter anderem solche Klärungsmöglichkeiten von Gemeinsamem und Trennendem beinhalten. Weitere Veranstaltungen sind wünschenswert.
Um den Kontakt und Austausch auszuweiten, wur-
Stiftung – quo vadis? | 25
de angeregt, die Stiftungsräume für Veranstaltungen
von Menschen aus dem Kontext Sensory Awareness
und aus dem arbeitskreis jacoby gindler (Schweiz) zur
Verfügung zu stellen.
Fazit
Insgesamt wurde an dem Abend ein großes Spektrum
zur Frage „Stiftung - quo vadis?“ deutlich. Zugleich
konnte leider nur ein kleiner Teil der angesprochenen
Fragen und Themen in den Gesprächen vertieft werden. Zur Klärung der vielen offenen Themen sind weitere Treffen, etwa im vierteljährlichen Rhythmus, geplant. Neue Interessenten sind herzlich willkommen.
Ein Ergebnis des Abend war die Gründung einer Arbeitsgruppe, die sich mit schriftlichen Darstellungsmöglichkeiten der praktischen Kursarbeit (auch zur
Werbung neuer Interessenten) beschäftigt und Textent­würfe erarbeitet (Kontakt: Katharina Voigt).
So gab es an dem Abend einige ermutigende Ideen
und Ansätze, die Stiftungsarbeit zu unterstützen.
Auch wenn die Klärung der vielen offenen Themen
sicher Zeit und Kraft kosten wird, so erscheint sie uns
nicht nur notwendig, sondern auch fruchtbar. Der
Gesprächsabend am 8. Juni spiegelt die in der Stiftung stattfindenden Veränderungen. Nur durch weitere Klärung und Auseinandersetzung können neue
Impulse aufgenommen werden. Die Mitglieder von
Vorstand und Beirat wünschen ausdrücklich, mehr
Menschen aktiv in die Stiftungsarbeit einzubinden. So
könnte die Stiftung immer mehr zu einem gemeinsam
gestalteten Anliegen werden. Es wäre schön, wenn
möglichst viele daran mitwirken würden!
Inken Neubauer und Birgit Rohloff
Engagieren Sie sich in der Stiftung!
Ohne die Stiftung gäbe es „lediglich“ einzelne Personen, die die Arbeit Gindlers und Jacobys in Kursen weitergeben. Durch die Stiftung gibt es nicht nur ein räumliches Zentrum, sondern eine Organisation, die der
Verbreitung der Arbeit, ihrer Erforschung und Veröffentlichung dient. Sie können die Arbeit der Stiftung
unterstützen durch
» Mitarbeit bei den Stiftungsaktionstagen » Mitarbeit in unterschiedlichen Arbeitskreisen
» durch Spenden und Zustiftungen
» Betreuung von Veranstaltungen
» Weitergabe von Ideen, Anregungen, Kritik
» und vieles mehr...
Sprechen Sie uns an!
» Inken Neubauer, Tel. 040/43 27 21 26
» Birgit Rohloff, Tel. 030/342 37 73
» Büro der Stiftung, Tel. 030/89 72 96 05
Das nächste Treffen Stiftung –quo vadis? findet statt am
Samstag, 13. Oktober 2007, 17-22 Uhr in den Räumen der Stiftung. Neue Interessenten sind herzlich willkommen.
Ausführliche Protokolle und weitere Informationen zu den Treffen sind per Post über das Büro der Stiftung
oder über eine mailing-Liste (Kontakt: [email protected]) erhältlich.
26 | Stiftung – quo vadis?
Die Stiftung versucht seit einiger Zeit neue Wege zu gehen und hat im letzten Jahr beispielsweise einige
Veranstaltungen auch außerhalb der Stiftungsräume angeboten. Das Ziel ist, hierdurch zu einer vermehrten
öffentlichen Wahrnehmung der Arbeit Elsa Gindlers und Heinrich Jacobys beizutragen. Die Reaktionen auf
die Veranstaltungen sind ermutigend. Sie verdeutlichen, dass sich durch sie auch Menschen angesprochen
fühlen, die bisher keinen Kontakt zur Stiftung und zur Arbeit Jacobys und Gindlers hatten, wie der folgende
Brief zeigt.
Brief an die Stiftung
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein erster Kontakt mit Ihrer Stiftung war durch
den Besuch der Fotographieausstellung von Martin
Munkácsi und durch das Anhören des Vortrags zu
dieser Ausstellung „Lebendigkeit im Moment – Die
Fotographien von Martin Munkácsi aus der Sicht
der Arbeit von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler“
am 14.10.2006 in Martin-Gropius-Bau in Berlin. Ich
möchte mich bei Ihnen in Form einiger meiner Gedanken zu dem Vortrag für diese Veranstaltung bedanken.
Gedanken einer Zuhörerin zum Vortrag „Lebendigkeit im Moment – Die Fotographien von Martin
Munkácsi aus der Sicht der Arbeit von Heinrich Jacoby und Elsa Gindler“
Kann ein Nichts/Stille einen beeindrucken? Ja, lautet
meine Antwort. Inken Neubauer hat mich durch ihr
Schweigen beeindruckt und beeinflusst. Wie ist es
dazu gekommen?
Nach einem Gang durch die Ausstellung freute ich
mich auf den Vortrag, um mehr über die Kunst der
Fotographie, über die Verbindung zu Heinrich Jacoby
und Elsa Gindler zu erfahren und all das zu hören,
was ich in der Ausstellung übersah oder missachtete. Ich war innerlich darauf eingestellt, eine Expertise
von einer Expertin zu bekommen.
Die Referentin fängt mit einer Begrüßung an, es folgt
keine strukturelle Übersicht, keine Skizze ihres Vortrags. Sie sagt ein paar Sätze zu Martin Munkácsi,
zu seiner Lebenszeit, zu Heinrich Jacoby und Elsa
Gindler und projiziert das erste Bild an die Leinwand.
Nichts passiert, sekundenlang. Dann ein paar Worte
zum Bild. Das nächste Bild. Das Thema der Aufnahme
wird kurz genannt, mehr nicht. Wieder diese Stille,
dann das nächste Bild, gefolgt von einer Schweigepause. Plötzlich habe ich Zeit, mir die Bilder anzuschauen. Ich sehe einige Bilder, die ich schon aus der
Ausstellung kenne, aber doch nicht richtig gesehen
habe. Macht vielleicht die Leinwand so einen Unterschied? Ich werde nicht gehetzt. Die Referentin gibt
mir genug Zeit, ihren Worten zu folgen und den Inhalt
der Fotographien auf der Leinwand aufzunehmen. Sie
setzt die Pausen, die Stille bewusst ein und schenkt
den Zuhörern Zeit. Dann fordert sie ihr Publikum auf,
die Bilder auf sich wirken zu lassen. Wieso? Ich soll
hier nachdenken? Wozu bin ich doch zu einem Vortrag gekommen? Ich möchte aber bedient werden,
mir sollten doch fertige Ansichten serviert werden.
Ich bin zum Belehren gekommen.
Inken Neubauer fordert noch mehr. Sie setzt ihre Zuhörer den Fotographien gegenüber. Ich kann nicht
anders, ich muss ihnen begegnen. Jetzt. Nicht, wenn
ich mir dafür Zeit nehmen will, wie ich das mit vielen
Dingen mache. Bloß später, wenn ich richtig nachdenken kann. Das sind meine inneren Ausreden in
den meisten Fällen und ich weiß sehr wohl: Dazu
komme ich nie.
Die Rednerin äußert ein paar Stichworte, anschließend folgt die Stille. Ich warte auf diese Pause. Ich
möchte jetzt überlegen. Ich brauche die von der Rednerin uns eingeräumte Stille, um das Gesagte mit
dem Bild zusammenzubringen. Sie stellt eine Frage.
Diese beantworte ich für mich und spüre, dass ich
ganz dabei bin. Ich lausche nicht einem Vortrag, ich
will mich beteiligen, ich erlebe eine neue Denkweise. Diese Fotographien bewegen mich, sie inspirieren
mich, etwas zu denken, zu fühlen, eine Körperhaltung
anzunehmen. Ich bin dabei, ich betrachte nicht nur,
ich reagiere auf die Bilder.
Vorhin, in der Ausstellung, dachte ich distanziert,
wie geschickt es Martin Munkácsi anstellte, seinen
Fotos die Funktion der Zeitzeugen zu verleihen, wie
lebendig sie von Orten und Menschen verschiedener
Länder berichteten. Ich kam mir wissend, erkennend,
wichtig vor. Aber jetzt, in dem Vortrag, spüre ich, dass
eine Betrachtungsweise nicht passiv sein darf. Ich
bin nicht nur die Empfängerin, ich bin die tatkräftige
Geberin. Die Rednerin führte mich mit stillen Pausen
durch ihren Vortrag, ohne mich mit Fakten oder Meinungen zu füttern. So entnahm ich dem Vortrag eine
aktive Betrachtungsweise. Für diesen schönen Abend
möchte ich mich bei den Veranstaltern bedanken.
Olga Weber
Stiftung – quo vadis? | 27
Rezensionen und Buchvorstellungen
Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie
Auszüge aus dem 1. Kapitel (Neurobiologie und Funktionsweisen achtsamen Verhaltens)
In diesem Frühjahr ist das Buch „Achtsamkeit in der
Körperverhaltenstherapie - Ein Arbeitsbuch mit 20
Probiersituationen aus der Jacoby/Gindler-Arbeit“ erschienen. Norbert Klinkenberg, der Autor, setzt sich
selbst schon seit mehreren Jahren praktisch und theoretisch mit Fragen und Aufgaben aus dem Arbeiten
von Elsa Gindler und Heinrich Jacoby auseinander.
Wie sich das, was ihm hier Erfahrung und Erkenntnis
geworden ist, auch in seiner Arbeit im Sinne einer
Weiterentwicklung unterstützend auswirken kann,
davon erzählt dieses Buch. In der Psychosomatischen
Klinik in Bad Bergzabern, in der er als leitender Arzt
tätig ist, gibt es eine „Achtsamkeitsgruppe“, in der er
mit Patienten „probiert“. Sie kommen in diesem Buch
mit Auszügen aus eigenen Berichten zu Wort. Dem
Buch ist eine CD beigegeben, die einen Eindruck gibt
vom Arbeiten. Zahlreiche Fotos bereichern das Geschriebene und lassen Wesentliches davon spürbar
werden. In einem theoretischen Teil wird erläutert,
was „achtsames Verhalten“ ist, und dessen Bedeutung in den aktuellen Forschungen der Neurobiologie
aufgezeigt.
Es ist ein lesenswertes Buch, in dem beispielhaft
deutlich wird, wie die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen aus der Arbeit von Gindler und Jacoby auch in einem therapeutischen Zusammenhang
fruchtbar werden kann.
Martin Hoppe
Norbert Klinkenberg: Achtsamkeit in der Körperverhaltenstherapie. Ein Arbeitsbuch mit 20
Probiersituationen aus der Jacoby/Gindler-Arbeit.
Stuttgart (2007): Klett Cotta, 26,- Euro,
ISBN 978-3-608-89040-2.
28 | Rezensionen und Buchvorstellungen
Achtsamkeit als Verhaltenszustand:
„Häufig verwechseln Patienten Achtsamkeit mit etwas, wofür man etwas Bestimmtes tun müsse. Achtsamkeit hat für sie etwas mit Konzentration oder
„sich zusammenreißen“ zu tun oder erinnert sie
- schlimmer noch - an das Aufpassenmüssen ihrer
Schulzeit. Sie strengen sich bewusst oder unbewusst
auf geradezu reflektorische Weise geistig und physisch an, schieben den Kopf vor und legen die Stirn
in Falten, um achtsam zu sein. Auch der von Psychotherapeuten benutzte Begriff einer „Aufmerksamkeitsumlenkung“ suggeriert ein bestimmtes Tun.
Derlei Missverständnisse führen leicht in die gleiche
vergebliche Situation, die Edmund Jacobson (18851976), der Schöpfer der Progressiven Muskelrelaxation, erlebte, wenn er seine Patienten aufforderte zu
entspannen: sie spannten nämlich voll guten Willens
an. Bekanntlich forderte Jacobson seine Patienten
deshalb (!) auf, bewusst anzuspannen, „to show him
what not to do“. Ebenso können wir selbst sicher sein,
dass es sich nicht um Achtsamkeit handelt, die eintritt, wenn wir uns um sie „bemühen“.
Was ist nun Achtsamkeit? Wen würden wir als achtsam bezeichnen? Vielleicht, wenn wir jemanden beobachten, der ganz bei der Sache ist, die ihn gerade
beschäftigt: ein Musiker, der lauscht, wenn er spielt;
ein Tänzer, der sich mit Leib und Seele anmutig bewegt; ein in sein Spiel vertieftes Kind. [...] Es erscheint
uns dabei eine besondere Qualität des Körperlichen:
Die Person wirkt ganz, ungeteilt, hingegeben, in der
Sache aufgehend, ganz dabei, eher still, in sich geschlossen und dennoch wach, nicht schläfrig, nicht
aufgeregt, eher spielerisch, zufällig und reagibel und
vor allem nicht krampfhaft wollend. Auf interessante
Weise stellen sich beim achtsamen Menschen Ruhe,
Stille und Wachheit zugleich ein. Wie können wir bewusst achtsam werden?“ [...]
Wenn achtsam sein kein bestimmtes Tun, kein bestimmtes Verhalten ist, sondern eine Verhaltenswei-
se, eine mit einem bestimmten Zustand verbundene
Funktionsmöglichkeit, dann heißt das zugleich, dass
jede Handlung in Achtsamkeit erfolgen kann. Jede
Tätigkeit können wir achtsam tun oder nicht, ob
wir nun unseren Tag in einem Büro verbringen oder
draußen, ob wir lesen, schreiben, reden oder einfach
nur auf etwas warten. Die Tätigkeit an sich ist nur
„der Stoff“, wie Heinrich Jacoby und Elsa Gindler es
nannten, die Aufgabe, durch die wir achtsamer, gesammelter werden, mehr bei uns selbst ankommen,
uns genauer orientieren und mehr wir selbst werden
können. [...]“
Rezension: Arbeiten bei Elsa Gindler
Die Arbeit Elsa Gindlers (1885-1961) hat viele Menschen tief bewegt, denn sie erfuhren in den Arbeitsgemeinschaften immer wieder Möglichkeiten, zu selbstständiger Auseinandersetzung mit den Forderungen
des Lebens zu kommen. [...] Die meisten Dokumente
der Arbeit von Elsa Gindler sind im zweiten Weltkrieg
vernichtet worden. Zu den erhaltenen Quellen ihrer
Arbeit in der Nachkriegszeit gehören die jetzt veröffentlichten Notizen von sechs Ferienarbeitsgemeinschaften aus den Jahren 1953 bis 1959. Diese sind
in dem hier angezeigten Buch Berichten und Briefen
einer Kursteilnehmerin zugeordnet. Durch die Verbindung von Kursnotizen und Berichten wird die Arbeit
Elsa Gindlers konkret und lebendig.
Es wird immer wieder neu erfahrbar, dass es nicht um
‚richtig‘ oder ‚falsch‘ geht, sondern um Forschen und
Erleben. Dazu können ganz alltägliche Handlungen
dienen, wie z.B. Kämmen, Türe öffnen, Strumpf anziehen ... Selbst ‚Gehen‘ wird nicht als Übung studiert, sondern ist konkretes praktisches Beispiel für
die Möglichkeit, das eigene Verhalten innerhalb der
oft selbstverständlich scheinenden Lebensforderung
‚Gehen‘ zu studieren. Die Aufgabenstellungen Elsa
Gindlers sind anspruchsvoll und fordern ständig ein
waches Fragen und Ausprobieren der Teilnehmenden
heraus. Es wird deutlich, wie vieler Erlebnisse es bedarf, bis den Teilnehmenden erste Antworten möglich
werden können. Elsa Gindlers Notizen sind entsprechend ihrer Arbeitsweise sehr dicht. Was auch immer
in den Kurssituationen, die sie auch Laborsituationen
nannte, experimentiert wird, es geht nicht darum, ein
bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Es geht um Veränderung unseres Zustands nicht nur als verändertes Lebensgefühl, sondern als Voraussetzung für mögliche
organische Leistung ohne unzweckmäßige Anstrengung und Zwang. Die Berichte der Kursteilnehmerin
sind sehr lebensnah. Sie schreibt ehrlich und offen
von ihren Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung
mit der Arbeit. Indem sie nicht beschönigt, was ihr
schwer fällt, zeigt sie durch ihre Ernsthaftigkeit, wie
man im Laufe der Zeit immer konsequenter werden
kann, mit eigenen Schwierigkeiten umzugehen, ohne
über Unklarheiten hinwegzugehen. Sie erlebt ihr Arbeiten als Spielen und lässt die LeserInnen erfahren,
wie essentiell und notwendig die Auseinandersetzung
mit Schwierigkeiten für einen Entwicklungsprozess
ist. Durch den Wechsel von Arbeitsnotizen und Berichten werden gegenseitige Offenheit und Vertrauen
in der Arbeitsbeziehung spürbar.
Der vorliegende Band wendet sich nicht nur an LeserInnen, die mit den Grundzügen der Arbeit Elsa Gindlers vertraut sind. Die Dokumente laden ein, eigene
Arbeitsfragen zu formulieren und die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit nicht nur in bezug
auf Bewegung zu vertiefen. Um die Bedeutung und
Tragweite der Arbeit Elsa Gindlers zu begreifen, ist
die schrittweise eigene praktische Erfahrung unerlässlich. Am 16.7.1959 schrieb Elsa Gindler: „Mir
liegt daran, dass sie in diesem Kurs soviel begreifen,
dass sie selbständig arbeiten können. Sich also für die
Grundbedingungen des Funktionierens interessieren
und sie sich erarbeiten, wenn sie sich davon überzeugt haben, dass es so ist!“
Silvia Hoffmann
Arbeiten bei Elsa Gindler, Notizen Elsa Gindler
und Berichte einer Teilnehmerin. Hrsg. von Marianne Haag/Birgit Rohloff, Schriftenreihe der
Heinrich-Jacoby / Elsa-Gindler-Stiftung, Band
2/3, Berlin 2006.
Die hier gekürzte Rezension erscheint im November 2007 in: Feldenkrais-Forum
Rezensionen und Buchvorstellungen | 29
Weitere neue Bücher
Rosemarie Augustin (2007): Spüren ist Leben. Erinnerungen an Sophie Ludwig. Berlin: Brünne-Verlag.
155 S., 14,80 Euro. ISBN 978-3-9809848-7-4
Rosemarie Augustin war fast 25 Jahre Schülerin von
Sophie Ludwig. In diesem Buch hat sie eine Auswahl
ihrer zwischen 1955-1979 in der Arbeit bei Sophie
Ludwig entstandenen Resümees veröffentlicht. Vgl.
S. 6
Charles V. W. Brooks und Charlotte Selver (2007):
Reclaiming vitality and presence – Sensory Awarness as a practice for life
The Teachings of Charlotte Selver and Charles V.W.
Brooks; Hrsg. von Richard Lowe und Stefan LaengGilliatt: North Atlantic Books, $ 19.95
ISBN:1556436416
Dieses Buch verbindet Texte von Charles Brooks aus
dem Buch “Sensory Awareness - The Rediscovery of
Experiencing” mit Zitaten und Auszügen aus den
Workshops von Charlotte Selver. Es enthält über 100
Photos, welche die Arbeit illustrieren.
Wilfried Gruhn (2003): Kinder brauchen Musik.
Musikalität bei kleinen Kindern entfalten und fördern. Weinheim, Basel, Berlin 2003: Beltz. 141 S.,
12,90 Euro. ISBN 13 978-3-407-22867-3
Prof. Dr. Wilfried Gruhn war Leiter des Studiengangs
Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater
in Freiburg/Breisgau und gründete 2003 das „Gordon-Institut für frühkindliches Musiklernen“, in dem
er sich mit seinen Mitarbeitern der Lernforschung und
frühen Musikerziehung von Kleinkindern widmet. Auf
Grundlage insbesondere der neurobiologischen Forschungen des amerikanischen Wissenschaftlers Edwin E. Gordon werden die Phasen frühkindlicher musikalischer Entwicklung fundiert und gut verständlich
dargestellt.
Gruhn plädiert dafür, durch musikalische Erziehung
„Kindern Musik als elementares Ausdrucksmittel
nahe zu bringen, dessen rhythmische und melodische
Grundlagen vitalen menschlichen Grundbedürfnissen entspringen“ (S.100), ohne dieses Ziel durch
die immer wieder neu angestoßene Debatte um die
kognitiven Effekte musikalischer Erziehung zu verdecken. Genau dieses Anliegen macht das Buch so
wertvoll. Gruhn betont, „dass jedes Kind in einem
ihm eigentümlichen Maße musikalisch ist, d.h. fähig, Musik als Musik wahrzunehmen, sie zu genießen
und sich musikalisch auszudrücken“ (S. 17 f.), wenn
nur die entsprechenden Lernanregungen in der Umwelt vorhanden sind. Von dieser Prämisse ausgehend,
enthält das Buch eine Fülle von Informationen und
Hinweisen für eine anregende, musikalische Lern­
umgebung. Als heuristisches Modell fungiert dabei
- ähnlich wie bei Heinrich Jacoby - das Erlernen der
Muttersprache: „Kinder lernen sprechen, weil sie in
einer Sprachumgebung aufwachsen, in der sie sich
mit Sprache verständigen können. Sie hören und
sprechen und eignen sich so aktiv die Sprache ihrer Umgebung an. Nicht anders sollte es mit Musik
und ihren Ausdrucksmöglichkeiten sein“ (S.8). Wem
die musikpädagogischen Positionen Heinrich Jacobys
vertraut sind, kann in dem Buch Gruhns viele Bezüge und interessante Erkenntnisse auf Grund neuerer
Forschungen entdecken.
Wie könnte musikalisches Lehren und Lernen aussehen, das musikalische Entfaltungsmöglichkeiten
bietet? Für Fragen dieser Art liefert das Buch von
Wilfried Gruhn wichtige Anregungen.
Inken Neubauer
Der Boden als Partner
30 | Rezensionen und Buchvorstellungen
Nachrichten und Hinweise
» Das Photoarchiv der Stiftung soll erweitert und
aktualisiert werden. Wir suchen Photos, die Themen der Arbeit Gindlers und Jacobys verdeutlichen,
z.B. zweckmäßiges und unzweckmäßiges Verhalten.
Wer eigene Photos oder Bilder aus Zeitschriften hat,
die sich dafür eignen, kann diese gerne an das Büro
der Stiftung schicken. Ansprechpartnerin ist Birgit
Rohloff. Wir freuen uns über viele und vielfältige Zusendungen.
» Neue Vorsitzende des Beirats der Stiftung ist seit
Frühjahr 2007 Birgit Rohloff. Sie löst Marianne Haag
ab, die dieses Amt die letzten zehn Jahre mit großem Engagement ausgefüllt und nun aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hat. Stellvertretender
Vorsitzender bleibt Prof. Dr. Rudolf Weber.
» Brigitte Zinn nutzt seit Frühjahr 2007 die Räume
der Stiftung, um mit Müttern von drogenabhängigen
Kindern zu arbeiten und Erfahrungen aus ihrer Auseinandersetzung mit der Arbeit Elsa Gindlers und
Heinrich Jacobys weiterzugeben.
» Auf dem 3. Kongress der Deutschen Gesellschaft
für Körperpsychotherapie zum Thema „Selbstregulation - Körper - Gefühl - Denken“, der vom 20.23.9.2007 in der FU Berlin stattfindet wird Gabriele
M. Franzen am 23.9. über Voraussetzungen zur
Auslösung von Selbstregulation in der Tradition der
Gindler/Goralewski-Arbeit und Moveri-“Körper“arbeit
sprechen: „Lebendiger werden in Disziplin und Freiheit, Forschungs- und Übungswege mit Erfahrung
von Selbstregulation als Bewegtwerden“
» Auf dem Bundeskongress des Arbeitskreises für
Schulmusik, der unter dem Motto `Sperrige Musik le-
bendig unterrichten´ vom 28.9. bis 1.10.2007 in Kassel stattfindet, wird Inken Neubauer einen Vortrag
zu musikpädagogischen Positionen Heinrich Jacobys
halten.
» Am 10. Mai 2007 hielt Dr. Reinhart Radebold in
den Räumen der Stiftung einen Vortrag zum Thema
„Die Arbeit von Elsa Gindler aus Sicht eines Naturwissenschaftlers“. Reinhart Radebold ist Physiker und
hat als junger Mann in Arbeitsgemeinschaften von
Elsa Gindler, später dann in Kursen von Sophie Ludwig mitgearbeitet. Er erläuterte die Arbeit Elsa Gindlers unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher
Modelle. Das Manuskript des Vortrags wird in Kürze
auf der webpage der Stiftung veröffentlicht.
» Am 30. März 2007 hielt Ute Strub in den Räumen
der Stiftung einen Vortrag zur Kleinkindpädagogik
Emmi Piklers. Die bei dieser Veranstaltung gesammelten Spenden kamen dem Emmi-Pikler-Haus zugute,
einer Einrichtung für Kinder aus familiären Krisensituationen, die im Mai 2007 im Spreewald in der Nähe
von Berlin eröffnet wurde. Nähere Informationen
zum Emmi-Pikler-Haus: www.emmi-pikler-haus.de
» Am 3./4 November 2006 fand an der Hochschule
für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig ein zweitägiges Seminar zu musikpädagogischen Positionen Heinrich Jacobys und zu Fragen und Aufgaben aus der Arbeit Elsa Gindlers und
Heinrich Jacobys statt. Das Seminar richtete sich an
Studierende der Schulmusik und Musikpädagogik
und wurde von Inken Neubauer und Udo Petersen
geleitet. Es wurde als Kooperationsveranstaltung der
Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung mit der Hochschule für Musik und Theater Leipzig durchgeführt.
Übersicht über die von der Stiftung herausgegebenen und lieferbaren Titel
Marianne Haag / Birgit Rohloff (Hrsg.): Arbeiten bei Elsa Gindler. Notizen Elsa Gindler und Berichte einer Teilnehmerin. Schriftenreihe der HeinrichJacoby / Elsa-Gindler-Stiftung Band 2/3. Berlin 2006. 30,- Euro
Norbert Klinkenberg: Moshé Feldenkrais und Heinrich Jacoby – Eine Begegnung. Schriftenreihe der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung, Band 1,
2.Aufl. Berlin 2005. 14,- Euro
Jenseits von `Begabt´ und `Unbegabt´
Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten – Schlüssel für die Entfaltung des Menschen. Dokumentation des Einführungskurses von
Heinrich Jacoby 1945 in Zürich. 6. durchgesehene Auflage. Hamburg 2004. 25,- Euro
Musik: Gespräche – Versuche 1953-1954. Dokumentation des Musikkurses von Heinrich Jacoby. Überarbeitete Neuauflage von Rudolf Weber mit
Hörbeispielen auf einer CD. Hamburg 2003. 25 25,- Euro
Elsa Gindler- von ihrem Leben und Wirken. Textauswahl und Darstellung von S. Ludwig, bearbeitet von Marianne Haag. Hamburg 2002. 18,- Euro
Sämtliche Titel sind sowohl über den Buchhandel als auch direkt über die Stiftung zu beziehen.
Nachrichten und Hinweise | 31
Autorinnen und Autoren
Wolfgang von Arps-Aubert, bis 1999 Richter am
Kammergericht in Berlin, ist Mitglied des Vorstandes
der Stiftung; lebt in Berlin.
Rosemarie Augustin war Modezeichnerin; lebt in
Berlin.
Dr. Dr. Norbert Klinkenberg ist Ärztlicher Direktor
der Parkklinik Bad Bergzabern, Rehabilitationszentrum für Psychosomatik und Verhaltensmedizin; lebt
in Bad Bergzabern und Freiburg/Br.
Helga Franke war Geigenlehrerin; lebt in Hannover.
Beate Lock ist Beraterin, Trainerin und Coach; lebt in
Hamburg.
Marianne Haag, Mitglied des Beirates der Stiftung,
ist Leiterin von Kursveranstaltungen der Stiftung;
lebt in Hasliberg/CH.
Dr. Inken Neubauer, Mitglied des Beirates der Stiftung, ist freiberufliche Musik- und Bewegungspäda­go­
gin; lebt in Hamburg. I
Silvia Hoffmann ist Physiotherapeutin, Musikerin
und Feldenkrais-Lehrerin; lebt in Freiburg/Br.
Birgit Rohloff, Mitglied des Beirates der Stiftung, ist
Physiotherapeutin und Leiterin von Kursveranstaltungen der Stiftung; lebt in Berlin.
Martin Hoppe, Schauspieler, ist betreuend tätig; lebt
in Hasliberg/CH.
Katharina Voigt ist Sozialpädagogin und Musikpädagogin; lebt in Berlin.
Fragen
Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich
möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber
Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste
in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen
selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und
wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach
den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden
können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und
es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie
jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages
in die Antwort hinein.
Auszüge aus einem Brief von Rainer Maria Rilke an
Franz Xaver Kappus Worpswede, 16.7.1903