Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung: (Wie) Lassen sich anhand

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Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung: (Wie) Lassen sich anhand
Lehrstuhl für Politische Theorie
und Ideengeschichte
Technische Universität Dresden
Institut für Politikwissenschaft
Wintersemester 2012/13
HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings.
Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel
Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung:
(Wie) Lassen sich anhand des
Foucault’schen Begriffs der Biopolitik
Prozesse der Exklusion denken?
Autor_innen: Elisabeth Pohl, Julia Barthel
Die Grenzen der Menschenrechte
Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung / Elisabeth Pohl, Julia Barthel
Lehrstuhl für Politische Theorie
und Ideengeschichte
Inhalt
I
Einleitung .................................................................................................................................. 1
II
Theoretisches Fundament: Der Foucault’sche Biopolitikbegriff .................................................. 4
1
2
3
4
III
Von der Souveränitätsmacht zur Biomacht ............................................................................ 4
1.1
Genealogie der Macht .................................................................................................... 4
1.2
Leben ............................................................................................................................. 6
1.3
Wissen ............................................................................................................................ 6
Gouvernementalität ............................................................................................................... 7
2.1
Disziplinierung des Individualkörpers ............................................................................. 8
2.2
Regulierung der Bevölkerung ......................................................................................... 8
Sicherheitsdispositiv............................................................................................................... 9
3.1
Machtmechanismen ....................................................................................................... 9
3.2
Normalisierung ............................................................................................................. 10
Rassismus ............................................................................................................................ 11
Weiterentwicklung und Anwendung: Biopolitische Exklusionsprozesse? ............................ 15
1
Biopolitik – ein inklusives Konzept?..................................................................................... 15
2 Moderne Migrationsregime: Biopolitische Konzeption des Flüchtlings im Lichte des
Sicherheitsdispositivs ................................................................................................................... 17
2.1
Grenze als Ort der Generierung systematischen Wissens ............................................. 18
2.2
Zum Umgang mit dem Flüchtling: kollektive Regulierung und individuelle
Disziplinierung ......................................................................................................................... 18
IV
2.3
Dämonisierung des Flüchtlings als Katalysator des rassistischen Sicherheitsdispositivs19
2.4
Die biopolitische Legitimierung des Ausschlusses ........................................................ 21
2.5
Formwandel der Souveränität ...................................................................................... 21
2.6
Grenze als Instrument der Gouvernementalität............................................................ 22
Schluss ................................................................................................................................. 23
Literatur........................................................................................................................................... 26
Die Grenzen der Menschenrechte
Biopolitik – Rassismus – Ausgrenzung / Elisabeth Pohl, Julia Barthel
Lehrstuhl für Politische Theorie
und Ideengeschichte
I
Einleitung
Seit dem Westfälischen Frieden wurde auf der Welt ein Nationalstaatensystem etabliert, zusammengesetzt aus der Triade von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Doch was geschieht mit
dieser scheinbar untrennbaren Einheit, wenn ein Fremder, ein nicht dem Staatsvolk zugehöriger, die
Grenze zum Staatsgebiet überschreitet? Durch seine Person wird die Frage aufgeworfen nach der
Definition der Bevölkerung einerseits und nach dem Umgang mit dem Fremden andererseits. Wer
die Grenze überschreitet, provoziert gewissermaßen eine Entscheidung: Kann er zum Staatsvolk
dazugehören, oder bleibt er ausgeschlossen? Migration ist kein einmaliger Vorgang, sondern verläuft in fließenden Bahnen, Grenzüberschreitungen ereignen sich immer wieder neu, und somit
wird auch die Frage nach der Definition der Bevölkerung und des Flüchtlings, nach Zugehörigkeit
und Nicht-Zugehörigkeit, nach Innen und Außen kontinuierlich gestellt. Auf diese Weise werden
sich konstituierende Prozesse der Einschließung und gleichzeitiger Ausgrenzung sichtbar. Doch auf
welche Weise lassen sich diese erfassen, in welchem Rahmen lassen sie sich einordnen?
Eine mögliche Betrachtungsperspektive dieser Entscheidung über Ein- und Ausschluss, und der
Wahl der Mittel für den Umgang mit dem Flüchtling, lässt sich anhand biopolitischer Kriterien
nachzeichnen. Was ist unter Biopolitik zu verstehen? Inzwischen ist der Begriff bereits sehr häufig
rezipiert, definiert und in immer neue Kontexte gesetzt worden. Doch reizt im Zusammenhang mit
Migrationsmanagement und Flüchtlingspolitik weniger die medizinische, biowissenschaftliche und
ethische Diskussion um Gen- und Reproduktionstheorien, als vielmehr das Verständnis von Biopolitik als fundamentaler Einschnitt in das Wesen des Politischen. Biopolitik wird dabei nicht als Deskriptiv eines spezifischen Politikfeldes aufgefasst, sondern als die Markierung der Wende zur Moderne, als ein zentraler Begriff einer Analytik der Macht.
Als einen solchen machte ihn sich zuerst Michel Foucault in einem Vortrag von 1974 zu eigen
(Foucault 2003: 275; Pieper et al. 2011: 8). Er verwendet den Begriff der Biopolitik respektive der
Biomacht im Zusammenhang mit der kritischen Analyse moderner Gesellschaftsverhältnisse und
deren Machttechnologien. Zentrale Ausführungen dazu finden sich vor allem in der Vorlesung vom
17. März 1976 am Collège de France (Foucault 1999) und in seinem 1976 erschienenen Buch Der
Wille zum Wissen (Foucault 1977). Eingebettet in eine Genealogie der Macht charakterisiert er die
Zwillingsbegriffe Biomacht und Biopolitik als den Moment, in dem das Leben in die Politik eintritt.
Die Produktion des Lebens, dessen Steigerung und Optimierung werden nun zum primären Zweck
der Politik, es kommt zur „Vereinnahmung des Lebens durch die Macht“ (Foucault 1999: 276). Das
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Leben findet auf der kollektiven Ebene der Bevölkerung statt, welche es zu bewirtschaften und zu
regulieren gilt (Pieper et al. 2011: 10).
Foucaults Verständnis von Biopolitik, das er später in sein größeres Konzept der Gouvernementalität einordnet, wird häufig aufgegriffen, weiterentwickelt und, dank seines ausgeprägten analytischen Potenzials, auf die unterschiedlichsten Sachverhalte angewendet. Der Fokus liegt dabei entweder auf Souveränität (Agamben 2002), auf biopolitischer Produktion von Leben (Hardt/Negri
2002) oder auf einer Analyse der Rationalität von Regierungshandeln und neoliberalen Machtstrategien, welche die sogenannten Governmentality Studies verfolgen (Pieper et al. 2011: 14).
Interessant im Zusammenhang mit Migrationsregimen ist der Gedanke, dass es sich bei der Biopolitik und Gouvernementalität Foucaults um inklusive Konzepte handelt. Die Produktion von Leben
und die Sicherheit des Bevölkerungskörpers konzentrieren sich auf eine biologisch-monistische Gesellschaft, deren Außen nicht relevant erscheint. Es geht um die „Sicherheit des Ganzen vor seinen
inneren Gefahren“ (Foucault 1999: 288). Die Bestimmung dessen, was eine Gefahr darstellt und
was nicht, funktioniert über den von Foucault identifizierten modernen Staatsrassismus. Dieser
zieht eine Trennlinie zwischen lebenswertem und lebensunwertem leben innerhalb der Bevölkerung.
In dieser Arbeit wollen wir untersuchen, inwieweit Foucaults Konzeption auch auf den möglicherweise biopolitischen Umgang mit einem Außen anwendbar ist. Flüchtlinge treten von außen an die
Gesellschaft heran. Inwieweit speisen sich auf sie gerichtete Handlungen und Politiken aus einer
biopolitischen Denkweise? Wir sehen hier einen möglichen Anschluss an Foucault unter einer Perspektive der Exklusion. So stellen wir uns für diese Arbeit die Frage:
(Wie) lassen sich anhand des Foucault’schen Biopolitikbegriffs Exklusionsprozesse denken? Und
welche Bedeutung hat diese Perspektive für die Analyse moderner Migrationsregime?
„Alle meine Bücher […] sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten." (Foucault 1976b: 53),
erklärte bereits Foucault selbst. Um uns dieser Werkzeugkisten zur Beantwortung unserer Forschungsfrage ganz in seinem Sinne bedienen zu können, ist im ersten Teil der Arbeit eine Nachzeichnung und Kontextualisierung des Biopolitikbegriffs bei Foucault erforderlich. Eingebettet in
eine Genealogie der Macht und Konzeption der Gouvernementalität ist es hierfür sinnvoll, zuerst
den Weg von der Souveränitätsmacht zur Biomacht nachzuvollziehen. Daran anschließend wird der
Gouvernementalitätsbegriff Foucaults erarbeitet. Zentral für unsere Arbeit ist auch Foucaults Darlegung der verschiedenen Machtmechanismen, insbesondere des Sicherheitsdispositivs. Zuletzt soll
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auf Foucaults Verständnis des Rassismus eingegangen werden, dem er eine vitale Bedeutung für
das Funktionieren moderner Staaten zuschreibt. Das so erarbeitete theoretische Fundament soll im
Anschluss auf eine Analyse der Gegenwart angewandt werden. Wir wollen daher im zweiten Teil
erproben, ob und auf welche Weise der Foucault’sche Biopolitikbegriff aus einer exklusionistischen
Perspektive gedacht werden kann, um ihn dann auf die konkreten Ausgrenzungsprozesse anzuwenden, die dem gegenwärtigem Migrationsmanagement inhärent sind. Dabei liegt unserer Arbeit
die - durchaus deterministische - These zugrunde, dass ein rassistisches Sicherheitsdispositiv zu
biopolitisch legitimierten Exklusionsprozessen führt. Zwar orientieren wir uns für unsere Analyse an
Foucault und seinem Konzept der Biomacht, gehen jedoch darüber hinaus und entwickeln es weiter. Abschließend wollen wir daher bewerten, welche Relevanz die Foucault'sche Anwendung auf
aktuelle Migrationsregime haben kann. Dabei bleibt uns bewusst, dass dies nur eine Weise ist, sich
der Thematik zu nähern, die uns zu bestimmten Einsichten führen wird, während andere Aspekte
des Themas unbeleuchtet bleiben. Abschließend wollen wir daher darlegen, welche Erkenntnisse
sich für uns aus der so gerichteten Auseinandersetzung mit der Thematik ergeben haben.
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II
Theoretisches Fundament: Der Foucault’sche Biopolitikbegriff
1
Von der Souveränitätsmacht zur Biomacht
Seit 1969 bis in die 1970er Jahre setzt sich Foucault eingehend mit der Frage der Macht auseinander. Die Vielzahl der Antworten auf die er dabei stößt, lassen ihn jedoch beständig mit seiner eigenen Theorie hadern. Unaufhörlich modifiziert er seinen Machtbegriff, verwirft Erklärungsansätze,
konzipiert weite Teile von Neuem und wendet sich schließlich resigniert von seinem Biomachtkonzept ab (z.B. Foucault 1978: 114; Foucault 1999: 9f., 28).
Dennoch stützt sich seine theoretische Arbeit maßgeblich auf seine Untersuchungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse im Wandel der Zeit. Die Auseinandersetzung mit der Machtkonzeption
Foucaults ist daher konstitutiv für das Verständnis seines Werkes und den Versuch, sein analytisches Instrumentarium für eigene Arbeiten fruchtbar zu machen.
Deshalb soll zunächst untersucht werden, wie sich der diffuse Machtbegriff Foucaults fassen lässt.
Worauf gründet Macht nach Foucault? Wer besitzt sie? Ist sie positiv oder negativ, schöpferisch
oder zerstörend?
1.1 Genealogie der Macht
Als zentrales Analyseraster dient Foucault die historische und analytische Abgrenzung dreier
Machtmechanismen, die er im Laufe seiner Arbeiten entwirft. In der 1969 erschienenen Archäologie
des Wissens konzipiert er Macht zunächst als juridische Souveränitätsmacht, die rational-legal legitimiert Gewalt ausübt (Foucault 1978: 34f.). Der Souverän bedient sich dabei dem Mittel der „Abschöpfung“ („soustraction“), welche Foucault als Entzug von Gütern, Dienstleistungen oder, im
Extremfall, des Lebens selbst (Foucault 1977: 131) beschreibt. So manifestiert sich die souveräne
Macht, über Leben und Tod zu entscheiden und somit das Recht „sterben zu machen oder leben zu
lassen“ (Foucault 1999: 278). Foucault konzipiert Macht folglich als monopolisiertes, repressives
Zugriffsrecht.
In Überwachen und Strafen wendet sich Foucault von seiner juridischen Machtkonzeption ab 1. Im
Zentrum steht nun ein strategisch-produktives Verständnis von Macht. Diese, so Foucault, beruht
1
Diesem Schritt gehen ausführliche theoretische Auseinandersetzungen mit der Konzeption des Krieges voraus,
den Foucault als Ausgangspunkt für den Wandel der Realität der Machtverhältnisse sieht. Er argumentiert, die
mit dem monopolisierten Gewaltanwendungsrecht einhergehende „Verstaatlichung des Krieges“ (Foucault 1999:
58) führe zur gesellschaftlichen Kritik der Souveränitätsmacht. Durch die binäre Struktur des Kriegsdiskurses,
der die Gesellschaft in zwei Lager teilt, wird die neutrale und universale Position des juridischen Subjekts revidiert. Infolgedessen zerbricht die identifizierende Kontinuität zwischen Souverän und Bevölkerung und löst
einen Wandel der Machtverhältnisse aus.
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nicht mehr auf gewaltsamer Unterdrückung, sondern auf vernunftbegründeter Disziplinierung der
Bevölkerung (Ruoff 2007: 146). Anstelle der direkten Gewaltausübung eines Einzelnen entsteht ein
undurchsichtiges, körperloses System gegenseitiger Überwachung, gezielte Repressionen werden
durch normierende Sanktionen ersetzt. So etabliert sich ein universales Netzwerk der
Macht(beziehungen), in dem jeder in unterschiedlichem Maße zum Objekt, Träger und Mittel von
Macht wird. Macht ist nunmehr „keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt;
sondern eine Maschinerie, die funktioniert." (Foucault 1976a: 228ff.). Damit wird ein Paradigmenwechsel von der Souveränitäts- zur Disziplinarmacht eingeleitet.
In Der Wille zum Wissen analysiert Foucault staatliche Machtstrategien im Kontext der entstehenden Nationalstaaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Er kommt zu dem Schluss, dass Souveränitätsund Disziplinarmacht nicht umfassend bzw. flexibel genug sind, um den demographischen und
sozialen Herausforderungen der Moderne effektiv begegnen zu können. Demgegenüber steigt die
Bedeutung der „health of the public“ als „Gesundheit“ der Allgemeinheit, die in der Summe aller
Individuen den Leviathan formt (Bishop 2008: 545).
Diese gegenläufigen Entwicklungstendenzen kulminieren schließlich im „Eintritt des Lebens und
seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle“ (Foucault 1977: 138) und verändern
damit den Kern von Politik. Als neue Prämisse politischen Handelns gilt es, „die Gesellschaftskräfte
zu steigern“ (Foucault 1976a: 267) und „das Leben zu optimieren“ (Foucault 1999: 284). Einher
mit diesem fundamentalen Rationalitätswandel geht die Etablierung eines radikal neuen Machtmechanismus, den Foucault als „Biomacht“ bezeichnet. Diese neue Macht ist dazu bestimmt „Kräfte
hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu
vernichten.“ (Foucault 1977: 132). Dazu reformuliert er seinen Souveränitätsbegriff, modifiziert
seine Konzeption von Disziplin und ordnet beide Machtformen anschließend einem umfassenderen
Konzept von Politik unter (Lemke 2008: 80). Foucault skizziert so eine Art der Machtausübung, die
nicht länger auf der Drohung mit dem Tod beruht, sondern vielmehr die Übernahme von Verantwortung für das Leben impliziert. Damit grenzt er die Souveränitätsmacht deutlich von der Biomacht ab: Aus der repressiven Deduktion wird schöpferische Produktion, gewaltsame Abschöpfung
verkehrt sich in produktive Wertschöpfung – kurzum: der Macht über den Tod setzt er die Macht
über das Leben entgegen (vgl. Oksala 2010: 36f.).
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1.2 Leben
Diese fundamental neue Konzeption von Macht wirkt sich auch unmittelbar auf das Verständnis
ihrer „Adressaten“ aus: Durch den „Eintritt des Lebens […] in das Feld der politischen Techniken“
(Foucault 1977: 137) konstituiert das „Leben“ nicht nur den Gegenstand politischen Handelns,
sondern wird zum primären Objekt des Politischen (Foucault 1999: 284). Politisches Handeln im
biopolitischen Kontext erfolgt demzufolge nicht lediglich in Bezug auf bloße Rechtssubjekte, sondern begreift den Menschen als Lebewesen. Infolgedessen wird „Leben“ zu einer eigenständigen
und quantifizierbaren Größe, einer „kollektiven Realität“, die losgelöst von seinen substanzhaften
Trägern und deren individuellen Erfahrungen betrachtet werden kann (Lemke 2008: 81f.). „Nicht
die singuläre Existenz von Menschen, sondern deren biologische Eigenschaften, die auf der Ebene
von Bevölkerungen erhoben werden, sind Gegenstand der Biopolitik.“ (Lemke 2008: 81). Biopolitik
prägt auf diese Weise ein Verständnis von „Leben“ als abstraktes Prinzip, das allen Organismen
inhärent ist. Leben und Tod haben dabei keine statischen, sondern fließende Grenzen. Diese Grenzen sind biopolitisch (Bishop 2008: 545).
1.3 Wissen
Wie aber wird die Verbindung von Politik und Leben hergestellt? Was legitimiert die Politisierung
des Lebens? Und wie lässt sich politische Autorität jenseits gewaltbasierter Repressionsregime manifestieren? Um diese Fragen beantworten zu können, ergänzt Foucault seinen Machtbegriff um ein
weiteres konstituierendes Element: das Wissen.
In seinem Frühwerk betrachtet er insbesondere die Entstehung von Wissen, dessen Organisation in
Diskursformationen und ihren Einfluss auf die Auslegung, Relevanz und Reliabilität von Informationen (Rouse 2003: 95f.). Ab Mitte der 1970er Jahre widmet er sich zunehmend dem Zusammenhang
von Macht und Wissen, zwischen denen er eine enge Bindung feststellt. Ausgangspunkt für seine
Untersuchung dieser Verknüpfung ist eine Auseinandersetzung mit dem westlichen Strafsystem. So
beschreibt Foucault in Überwachen und Strafen einen starken Wandel der Sanktionsmethoden mit
Beginn der Moderne: Vor dem 17. und 18. Jahrhundert basierten Bestrafungstechniken auf der
punktuellen Ausübung körperlicher Gewalt mit dem Ziel der Zerstörung des Körpers. Seit der Aufklärung wurde dieses destruktive, in seiner Anwendung unregelmäßige, Strafsystem radikal verändert und an die neuen Machtstrukturen angepasst. Strafen erfolgen nun kontinuierlich durch die
systematische und permanente Disziplinierung des zu Bestrafenden. Sie zielen dabei nicht mehr auf
die Vernichtung des Menschen ab, sondern bezwecken seine Umerziehung und gesellschaftliche
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Reintegration (Mangion 2011: 80). Der Erfolg dieser Disziplinierungsmethode setzt jedoch eine
profunde Kenntnis des Zielobjekts voraus.
Es ist diese schlichte Einsicht, die für Foucault den Ansatzpunkt bildet, um die Verflechtung von
Wissen und Macht zu skizzieren und damit die Lücke zwischen Politik und „Leben“ zu schließen. Er
schlussfolgert, je detailreicher und weitschweifiger das Wissen der Politik über die Bevölkerung ist,
desto zielgerichteter und nachhaltiger kann soziale Kontrolle ausgeübt und umso intensivere Maßnahmen der Überwachung, Ahndung und Disziplinierung ergriffen werden. Durch die verstärkte
Eindringtiefe der Politik in die Gesellschaft erfolgt eine Offenlegung weiterer Informationen, die
wiederum zur Generierung neuen Wissens über den Menschen beiträgt (Rouse 2003: 97). Foucault
konstatiert daher, „dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und
konstituiert.“ (Foucault 1976a: 39). Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche Bedeutungen von
Wissen für die Politik. Erstens eine historische Relevanz insofern, als dass durch die kontinuierliche
Generierung, Weitergabe und Unterdrückung von Wissen Probleme identifiziert, Ziele definiert und
Strategien entwickelt werden, die das Bestehen des Staates gewährleisten (Lemke 2007: 53). Zweitens eine systemische Bedeutung von Wissen durch die Konstitution einer sozialen Ordnung und
Strukturierung der zu regierenden Subjekte und Objekte (Lemke 2007: 53f.). Zudem wirkt sich die
Berufung auf wissenschaftliche Erkenntnisse zum Ziel der produktiven Gesellschaftssteigerung positiv auf die Akzeptabilität eines Systems aus.
2
Gouvernementalität
Im Rahmen seiner Vorlesung am Collège de France 1977/78 nimmt Foucault eine erneute theoretische Erweiterung und Korrektur seiner Machtkonzeption vor. Anlass dafür war der von ihm diagnostizierte Bruch seiner Theorie hinsichtlich des Verhältnisses von Herrschaftsformen zu Subjektivierungsprozessen. Um diese Lücke zu schließen, führt er die „Regierung“ als neue Dimension in seine
Machtkonzeption ein, sodass Macht nun als „Führung“ verstanden und damit jenseits juridischer
oder gewaltbasierter Konzepte gedacht werden kann. Dieser analytischen Weiterentwicklung ist
somit eine "Scharnierfunktion" inhärent: Entworfen als Brücke von taktischen Machtbeziehungen
zur Herrschaftsrealität, ermöglicht es die neue Dimension der Regierung nun erstmals, Macht und
Herrschaft als separate Konzepte zu untersuchen (Bröckling et. al 2000: 8).
Ausgehend von dieser konzeptionellen Umorientierung führt Foucault in seiner Vorlesung vom 1.
Februar 1978 einen neuen gesellschaftspolitischen Begriff ein, zu dessen Gunsten er sich allmählich
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von seinem Konzept der Biopolitik abwandte: die Gouvernementalität. Der Wortstamm setzt sich
zusammen aus den französischen Begriffen für „Regieren“ (gouverner) und „Mentalität“ (menta-
lité) und kann demzufolge als eine neue spezifische Art zu Regieren verstanden werden.
Foucaults Vision einer modernen Regierungskunst basiert auf der Weiterentwicklung zweier zentraler Motive seiner Biopolitikkonzeption: der Disziplinierung des individuellen "Lebens" und der Regulierung eines statischen Bevölkerungskörpers (Sarasin 2005: 176).
2.1 Disziplinierung des Individualkörpers
„Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung steigern, seine Fähigkeiten verbessern? Wie kann man ihn an den Platz stellen, an dem er am
nützlichsten ist?“ (Foucault 2005: 233). So beschreibt Foucault in Die Maschen der Macht den Gedankengang, der dem politischen Handeln einer "gouvernementalisierten" Regierung zugrunde
liegt. Durch die Generierung systematischen Wissens über den Einzelnen soll dessen individueller
Nutzen für die Gesamtgesellschaft maximiert werden. Zahlreiche Überwachungsmechanismen,
Programme und Berichte ermöglichen es, jedes Individuum zu analysieren, zu identifizieren und zu
klassifizieren. Analog zur Biomachtkonzeption Foucaults verkommt der Mensch auch im Rahmen
der Gouvernementalität vom wesenhaften Subjekt zum analysierbaren Objekt, wird degradiert zu
einem bloßen Datenberg und reduziert auf seine messbaren Eigenschaften (Lemke 2008: 81).
Die Eindringtiefe gouvernementaler Macht übersteigt jene der Biopolitik jedoch um ein Vielfaches.
Denn in einem zweiten Schritt konstituiert und strukturiert die Regierung anhand der erhobenen
Daten die Ansichten und Gewohnheiten des Einzelnen und „dressiert“ (Foucault 1980: 115) ihn auf
ein gewisses Personenprofil. Diese gewissermaßen fremd-konstituierte gesellschaftliche Verortung
bestimmt das Selbstbild des Menschen, die Festlegung seiner Ziele und Bedürfnisse. Die Regierung
bestimmt somit auch das Unterbewusstsein des Menschen. Ihre Macht ist omnipräsent, multizentrisch und im Alltag permanent spürbar.
2.2 Regulierung der Bevölkerung
Der zweite Pol "gouvernementalisierter" Machtausübung zielt auf den gesamten Volkskörper ab.
Dabei geht Foucault von einem holistischen Verständnis des Zielobjekts aus: Er konzipiert die Bevölkerung als eigenständige biologische Entität im Sinne eines „Gattungskörpers“, „als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld und als das Ziel der Regierungstechniken“ (Foucault 1978: 64). Im
Rahmen dieser Machttechnik wird die Bevölkerung permanent überwacht, reguliert und normiert.
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Foucault‘sche Gouvernementalitätsbegriff ein
umfassendes polity-Konzept skizziert, in dessen Rahmen der Einzelne sowie die Bevölkerung mithilfe juridischer Gesetzgebung und unbewusster Wahrnehmungsprägung erfasst und ihre Handlungen
permanent kontrolliert und gelenkt werden. Die Gouvernementalitätskonzeption Foucaults greift
somit gleichsam Elemente der Disziplinar- sowie der Biomacht auf und integriert sie in die moderne
„Regierungskunst“.
3
Sicherheitsdispositiv
3.1 Machtmechanismen
Mit dieser neuen „Kunst des Regierens“ gehen Technologien der Macht einher, die sich von vorangegangenen unterscheiden. In Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevöl-
kerung von 1977/78 beschreibt Foucault drei Mechanismen der Macht: Den juridisch-rechtlichen
Mechanismus, den Disziplinarmechanismus und das Sicherheitsdispositiv (Foucault 2004: 19). Er
spürt ihren Besonderheiten nach und stellt die Frage, ob „die Gesamtökonomie der Macht in unseren Gesellschaften dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden?“ (Foucault 2004: 26), sich also
eine „Sicherheitsgesellschaft“ (Foucault 2004: 26) konstituiert. Dazu kontrastiert er die Technologien des Sicherheitsdispositivs mit denen des Rechts und der Disziplin: Während das für die Souveränitätsmacht charakteristische juridische System mit der binären Unterscheidung zwischen Erlaubtem und Verbotenem agiert und auf Verbotenes eine festgelegte Strafe folgen lässt, beschäftigt
sich der Disziplinarmechanismus des Polizeistaates mit dem Schuldigen und dessen Überwachung
und Erziehung. Sicherheitsmechanismen hingegen hantieren mit Wahrscheinlichkeiten und Kostenkalkulationen, mit der Regulierung und Kontrolle von Zirkulationen aller Art. Sichtbar wird die Unterscheidung auch an dem Raum, auf den der jeweilige Mechanismus gerichtet ist: Die Souveränität
bezieht ihre rechtlichen Unterscheidungen auf ein bestimmtes Territorium und grenzt dieses ab; die
Disziplin konzentriert sich auf die mannigfaltigen Körper von Individuen mit dem Ziel, diese auf
eine bestimmte Art zu erziehen oder dressieren, widmet sich also der Konstruktion eines künstlichen Raumes. Eine Regierung, die unter dem Dispositiv der Sicherheit handelt, greift dagegen auf
der Ebene der Bevölkerung ein, welche sie als eine natürliche, von diversen Variablen abhängige
Gegebenheit begreift. Es soll nicht willkürlich etwas geformt, sondern in das Vorhandene sinnvoll
eingegriffen werden, um einen gewissen Grad an Regulierung zu erhalten (Foucault 2004). Sicherheitsdispositive schaffen sich daher nicht einen künstlichen Raum, sondern arbeiten in der Realität:
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„Anders gesagt, das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor, und die Sicherheit hat
– ohne zu untersagen und ohne vorzuschreiben, wobei sie sich eventuell einiger Instrumente in Richtung Verbot und Vorschrift bedient – die wesentliche Funktion, auf
eine Realität zu antworten, so daß diese Antwort jene Realität aufhebt, auf sie antwortet – sie aufhebt oder einschränkt oder bremst oder regelt. Diese Steuerung im Element
der Realität ist, denke ich, grundlegend für die Sicherheitsdispositive.“ (Foucault 2004:
76)
Nun wird auch ersichtlich, weshalb Foucault für die Bezeichnung dieses neuen Mechanismus den
Begriff des Dispositivs verwendet. Ein Dispositiv ist nach Foucault ein
„Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende
Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen,
philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl
wie Ungesagtes umfaßt. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen
Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978: 119f.).
Ihm ist eine strategische Funktion inhärent, „Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von
Wissen stützen und von diesen gestützt werden.“ (Foucault 1978: 123). Im Falle des Sicherheitsdispositives ist das erklärte Ziel, Strategien zu entwickeln, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten beziehungsweise Gefahren für dieselbe einzuschränken und durch Eingriffe in die Realität zu regulieren. Daraus erwachsende Aufgabenbereiche sind beispielsweise die Sicherstellung der
Nahrungsversorgung und das Bekämpfen von statistisch erfassbaren Erkrankungen mittels flächendeckender Impfungen, also Gesundheits- und Sozialpolitik.
3.2 Normalisierung
Welche Bedeutung hat das besagte „Element der Realität“ für die Regierung der Bevölkerung qua
Sicherheitsmechanismen? Dies wird deutlich, wenn Foucault das Verhältnis der Machtmechanismen
gegenüber der sogenannten „Normalisierung“ beleuchtet. Das Recht bestimmt eine Norm, von der
es Gesetze ableitet; die Disziplinarmacht nutzt eine im Vorhinein festgelegte „optimale“ Norm, um
die Körper der Individuen daran auszurichten und zwischen „Normalem“ und „Anormalem“ zu
differenzieren. Dieser normativen Normalität steht die deskriptive Normalität gegenüber: Unter
dem Sicherheitsdispositiv wird auf der Ebene der Bevölkerung Wissen gesammelt, werden Statistiken erstellt, Geburten- und Sterberaten ermittelt, Lebensdauer gemessen und dergleichen, um eine
Normalverteilung festzustellen, welche dann als Norm gilt. Eingriffe werden vorgenommen, um
Abweichungen von diesem nachträglich ermittelten statistischen Normalzustand auszugleichen und
zu regulieren (Foucault 2004: 88ff.). „Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Unterta10
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nen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie
sie um diese herum anordnet.“ (Foucault 1977: 139). Die Norm wird somit zu einem zentralen Bezugspunkt für die Biomacht, da sich an derselben sowohl Körper disziplinieren als auch Bevölkerungen regulieren lassen (Foucault 1999: 292). Genau dieser Verknüpfung der Mechanismen bedient sich die Biomacht, um das Leben zu organisieren und im Wert zu steigern, und zwar das Leben der Individuen auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite.
Zwar ordnet Foucault die verschiedenen Machtmechanismen jeweils einer bestimmten historischen
Epoche zu, unterstreicht dabei jedoch, dass diese nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, sondern sich wechselseitig der jeweiligen Techniken bedienen. Die Sicherheitsmechanismen, die er als
in der Moderne vorherrschend ansieht, sorgen geradezu für ein Anwachsen sowohl rechtlicher Regelungen als auch disziplinarischer Überwachungs-, Diagnose- und ähnlicher Mechanismen, um die
angestrebte Sicherheit überhaupt erst ermöglichen zu können (Foucault 2004: 22). Das Wesen der
Sicherheitstechnologien besteht demnach „zu einem großen Teil in der Reaktivierung und Transformation der juridisch-rechtlichen und disziplinarischen Techniken“ (Foucault 2004: 24).
Wir haben also eine Regulierung von Wahrscheinlichkeiten, um eine Angleichung an den Normalzustand zu erzielen, der auf Ebene der Bevölkerung erreicht werden soll. Zu diesem Zweck können
durchaus bestimmte Abweichungen in Kauf genommen werden, sofern sie in einem akzeptablen
Rahmen bleiben und das große Ziel der Sicherheit der Gesamtheit befördern. Dies zieht die Anwendung disziplinarischer Techniken auf individuelle Körper nach sich. Woran kann jedoch festgemacht
werden, gegen welche Teile der Bevölkerung disziplinarisch vorgegangen werden muss, um die
allgemeine Sicherheit zu erhalten? Wer unterscheidet Gesundes von Bedrohlichem? Woher nimmt
man überhaupt die Rechtfertigung, gegen individuelles Leben vorzugehen, wenn das kollektive
Leben sich als Staatszweck in die Politik eingeschrieben hat? Oder, um es mit Foucault auszudrücken:
„Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch die Ziehung
welcher Scheidelinie, durch welches Spiel von Negation und Ausgrenzung kann eine
Gesellschaft beginnen zu funktionieren?“ (Foucault 1976: 48)
4
Rassismus
„Das Gesetz kann nicht unbewaffnet sein, und seine hervorragendste Waffe ist der Tod.“ (Foucault
1977: 139), schreibt Foucault in Der Wille zum Wissen. Er fragt danach, wie unter der neuen Form
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und Ideengeschichte
der Biomacht als einer auf das Leben gerichteten Macht mit dem Ziel, dieses zu steigern, zu optimieren und zu schützen, die Funktion des Todes ausgeübt werden kann (Foucault 1999: 294). An
dieser Stelle kommt der Rassismus ins Spiel, jedoch eine neue, moderne Form desselben. Der moderne Rassismus bedient sich zwar des Rassenkampf-Diskurses, ersetzt jedoch die zentrale Bedeutung der kriegerischen Schlacht „durch das biologische, post-evolutionistische Thema des Kampfes
ums Überleben“ (Foucault 1999: 94). Der Rassismus wird zu einem Selektionsmechanismus, dem es
um die „Differenzierung der Arten, Selektion des Stärksten, Bewahrung der am besten angepaßten
Rassen“ (Foucault 1999: 94) geht. Dies ist gleichzeitig der Beginn des Staatsrassismus. Einerseits
wird der Staat nicht mehr als „Instrument einer Rasse gegen eine andere“ (Foucault 1999: 95) angesehen, sondern gilt als Verfechter der „Reinheit“ und „Überlegenheit“ einer Rasse. Doch nicht
nur der Rassismus bedarf des Staates, auch der Staat, der sich der Lebensmacht verschrieben hat,
benötigt die Mechanismen, die ihm der Rassismus an die Hand gibt.
Foucault unterscheidet zwei Funktionen, die der Rassismus notwendigerweise erfüllt: Zum einen
erlaubt er es, in der als homogen vorgestellten Masse der Bevölkerung eine biologische Trennlinie
zu ziehen, eine „Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß.“ (Foucault 1999:
295). Für diesen Schritt ist es notwendig, zu erkennen, dass die Fragmentierung „innerhalb des
biologischen Kontinuums“ (Foucault 1999: 295) dessen Herstellung voraussetzt (Lemke 2003: 162).
Der veränderte rassistische Diskurs ersetzt die Vorstellung einer „binär strukturierten Gesellschaft,
die […] in zwei Rassen und zwei Gruppen geteilt ist“ (Foucault 1999: 94) mit dem Thema einer
biologisch monistischen Gesellschaft (Foucault 1999: 94). Innerhalb dieser muss das Fremde, Abnormale, Bedrohliche herausgefiltert werden, eben um die oben beschriebene Normalität herzustellen – diesen Schnitt, diese Differenzierung nimmt der Rassismus vor (Foucault 1999: 295; Lemke
2003: 162).
Zum anderen liefert der Rassismus die ideologische Unterfütterung und Rechtfertigung, das so
identifizierte lebensunwerte Leben von lebenswertem Leben abzugrenzen und zu töten, und zwar
durch die Formulierung der positiven Beziehung zwischen dem Tod der Anderen und dem eigenen
Leben, eine Beziehung nicht mehr militärischer oder kriegerischer Art, sondern von einem biologisch-medizinischen Wesen: Je mehr „Degenerierte“, Entartete, Anormale dem Tod ausgesetzt
sind, umso besser ist es um die Gesundheit der eigenen Gattung bestellt. Es steht nicht (allein) die
Sicherheit der Bevölkerung, sondern die Verbesserung, die Steigerung des Lebens, die Optimierung
der Reinheit und Gesundheit der Rasse auf dem Spiel (Foucault 1999: 296). Eben dies ist das Anlie12
Die Grenzen der Menschenrechte
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gen der Biomacht, und aus diesem Grund bedarf sie des Rassismus: Wenn Gegner nicht mehr als
politische Gegner gelten, sondern als biologische Gefahr kategorisiert sind, die beseitigt werden
muss, so ist es der Macht über das Leben wiederum möglich, die souveräne Funktion des Todes
einzusetzen (Foucault 1999: 296). In Foucaults Worten ist der Rassismus „die Bedingung für die
Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft.“ (Foucault 1999: 297). Die Aufgabe,
die Foucault dem modernen Rassismus zuschreibt, einem Rassismus, der umfassender wirkt als
seine historischen Vorläufer, lässt ihn schlussfolgern, „daß es kaum ein modernes Funktionieren
des Staates gibt, das sich nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einer gewissen Grenze und unter bestimmten Bedingungen des Rassismus bedient.“ (Foucault 1999: 295).
Diese von Foucault festgestellte „vitale Bedeutung“ (Foucault 1999: 297) des Rassismus für moderne Staaten kann leicht missverstanden werden, wenn eine klare Abgrenzung von alltagsverständlichem Rassismus fehlt. Thomas Lemke (2004) arbeitet drei zentrale Unterschiede des
Foucault’schen Begriffes gegenüber herkömmlich-gesellschaftlichen Vorstellungen von Rassismus
wie folgt heraus: Zum einen stellt der Staatsrassismus keine Form der Irrationalität dar, sondern
konstituiert im Gegenteil eine handlungsleitende Rationalität, die Politik und Gesellschaft innewohnt und diese strukturiert, und zwar als gemeinsames Merkmal sowohl liberaler Demokratien als
auch totalitärer Diktaturen. Daher ist Faschismus kein „Unfall“ (Lemke 2004: 267), sondern die
logische Zuspitzung rassistisch-biopolitischer Denkweise, die in weniger extremer Ausprägung in
der Mitte der gesellschaftlichen Normalität zu lokalisieren ist. Zum anderen hebt Lemke die „physische Qualität“ (Lemke 2004: 267) des in die staatlichen Institutionen eingeschriebenen Rassismus
hervor, der kein Problem von Mentalität und Ideologie mehr darstellt, sondern sich alltäglich in der
Gesellschaft materialisiert (Foucault 1999: 299). Schließlich ist noch festzuhalten, dass der Rassismus eben nicht aus sozialen Spaltungen erwächst und sich in bestimmten, voneinander abgrenzbaren Gruppen konstituiert, sondern im Gegenteil, wie bereits beschrieben, die als biologischmonistisch geschlossene Gesamtheit gedachte Gesellschaft mit Trennungslinien versieht (Lemke
2004: 267f.).
Den Begriff der Tötung verwendet Foucault nicht verengt, sondern in einem weiten Sinn. Er versteht darunter „alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes ausliefern, für
bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. erhöhen.“ (Foucault 1999: 297). Dieser erweiterte Begriff des Todes, der Ausgrenzung
und politische Irrelevanz mit einschließt, ist von Bedeutung für die Annahme, dass ein rassistisch
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Die Grenzen der Menschenrechte
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motiviertes Sicherheitsdispositiv zu biopolitischen Exklusionsprozessen führt. Die offene Auslegung
der Funktion des Rassismus sowie die weitläufige und kaum disjunkte Konzeption des Rassismus
an sich erlaubt dessen Anwendung auf neue Sachverhalte, die Foucault nur am Rande beachtet
oder von vornherein nicht in seine Überlegungen mit einbezieht, Sachverhalte, die durch die Perspektive des modernen Staatsrassismus neu gegliedert und analysiert werden können (Lemke 2003:
162f.). In unserem Fall handelt es sich hierbei in einem ersten Schritt um eine Diskussion des Begriffs der Exklusion, um in einem zweiten Schritt moderne Migrationspolitik zu untersuchen.
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Die Grenzen der Menschenrechte
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III
1
Weiterentwicklung und Anwendung: Biopolitische Exklusionsprozesse?
Biopolitik – ein inklusives Konzept?
Die Biomacht, die die Individualkörper diszipliniert und die Bevölkerung reguliert, um das Leben im
Allgemeinen zu steigern und zu optimieren, bedarf, wie oben beschrieben, des Rassismus, um die
Funktion des Todes ausüben zu können. Für Foucault ist dieser rassistische Blick auf Gesundheit,
Reinheit und Verbesserung der Gattung oder der Rasse auf das Innere der Bevölkerung gerichtet.
Die biologisch-monistische Gesellschaft wird von internen Elementen bedroht: „Es ist die Vorstellung von Fremden, die sich einschleichen, und von Abweichlern, die Nebenprodukte dieser Gesellschaft sind.“ (Foucault 1999: 95). Die Souveränitätsmacht, die sich noch auf die repressive Sicherung eines abgegrenzten Territoriums konzentrierte, wird in der Moderne abgelöst von den Disziplinar- und Sicherheitsmechanismen der Biomacht. Diese neuen Arten der Machtausübung arbeiten
inklusiv, sie produzieren ein „Feld der Sichtbarkeit“ (Foucault 1999: 95), und indem Foucault sie
von der historischen souveränen, ausschließenden Macht abgrenzt, wird die Biomacht zu einer
„Macht ohne Außen“ (Foucault 1999: 95). Ausgrenzung oder Ausschließung wird von Foucault als
„Merkmal einer längst überwundenen Machtform identifiziert“ (Krasmann/Opitz 2007: 130). In der
Foucault-Rezeption führt diese Konzeption von Biomacht und Gouvernementalität zu Anschlussstudien unter einem bevorzugt „inklusionistischen Paradigma“ (Krasmann/Opitz 2007: 130), was die
Vernachlässigung einer potenziellen Analytik der Exklusion mit sich bringt.
Um Foucaults Überlegungen zu Biopolitik und Rassismus in Begriffen der Exklusion zu denken, wird
ein adäquates Verständnis des Exklusionsbegriffs benötigt. Hierfür orientieren wir uns an Niklas
Luhmanns systemtheoretischen Konzeptionen zu Inklusion und Exklusion. Darin enthalten ist der
Gedanke, dass ein Einschluss immer auch einen Ausschluss produziert. „Inklusion“ ist das Innere
einer Form, „Exklusion“ deren Äußeres. Die sinnvolle Verwendung des einen Begriffs setzt das
Vorhandensein des anderen voraus (Luhmann 1995: 241). Im Bezug auf das soziale System bedeutet Inklusion, dass Menschen in einem Kommunikationszusammenhang „für relevant gehalten
werden“, also als „Personen“ gelten (Luhmann 1995: 241). Wenn Exklusion das bezeichnet, „was
fehlt, wenn Inklusion nicht zustandekommt“ (Luhmann 1995: 239), so handelt es sich im Umkehrschluss um einen Ausschluss aus der Kommunikation, um eine Verweigerung des Status einer relevanten „Person“. Susanne Krasmann und Sven Opitz fassen in einem Text von 2007 einige Vorteile
des systemtheoretischen Exklusionsverständnis für eine Anwendung auf die Foucault‘schen Theoriebausteine zusammen (Krasmann/Opitz 2007: 129): Zum einen wird das Objekt des Ausschlusses
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Die Grenzen der Menschenrechte
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klar bestimmt als die Unmöglichkeit, als relevante Person betrachtet zu werden. Zum anderen wird
deutlich, woraus ausgeschlossen wird, und zwar „aus sozialen Systemen“ (Krasmann/Opitz 2007:
129), wobei dieser Ausschluss nicht einfach von innen nach außen, sondern über eine Änderung
des systemischen Kontextes erfolgt. Dies erlaubt wiederum, den Ausschluss als „gesellschaftsintern“ zu betrachten: „Die Unterscheidung von Inklusion/Exklusion tritt auf ihrer Innenseite wieder
ein, denn im Ablauf spezifischer Kommunikation wird bei der Exklusion systemintern die Möglichkeit ausgeschlossen, als Person kommunikativ in Erscheinung zu treten.“ (Krasmann/Opitz 2007:
129).
In einem nächsten Schritt sollen die von Foucault charakterisierten modernen Machtmechanismen
mit dem Werkzeug des systemtheoretischen Exklusionsbegriffs auf ihr ausschließendes Potenzial
geprüft werden. Schon die Disziplin, die entlang einer vorgelagerten Norm Zuordnungen vornimmt,
identifiziert das „Normale“ und das „Anormale“ (Foucault 2004: 98), nimmt also spezifische soziale Grenzziehungen vor. Das Anormale wird zwar im sichtbaren Bereich bearbeitet und beispielsweise in Gefängnissen oder Zuchtanstalten zu „normalisieren“ versucht, dafür findet aber ein Ausschluss aus anderen systemischen Bereichen des Sozialen statt – es erfolgt eine soziale Bearbeitung
der „Passage zwischen Ein- und Ausschluss“ (Krasmann/Opitz 2007: 131). Damit wird das Außen
relativ, es konstituiert sich über disziplinarische Diskurse und Praktiken und wird nie vollständig
aus dem sozialen System herausgelöst. Dabei heben Krasmann und Opitz hervor, dass in systemtheoretischen Begriffen die disziplinäre Einschließung noch nicht „Inklusion“ als Gegensatz der
„Exklusion“ bedeutet, da der Kontext der sichtbaren Einschließung auch umcodiert als „Unsichtbarkeit nicht-relevanter Personen“ gelesen werden kann (Krasmann/Opitz 2007: 132).
Ein Außen der Regulierungsmechanismen der Sicherheitsdispositive zu bestimmen gestaltet sich
noch etwas komplexer. Während die Disziplinarmacht Körper zu einer Norm hin erzieht, richten sich
die Sicherheitsdispositive auf die gegebene Natürlichkeit der Gesamtheit der Bevölkerung, an eine
„Multiplizität von Individuen“ (Foucault 2004: 41), die in ihre Eigengesetzlichkeiten eingebettet ist.
Ein Eingreifen gestaltet sich über regulierende, hemmende, anreizende, fördernde, ausgleichende
Techniken. Die Grenze des Regulierbaren bildet somit den Rahmen der Inklusion/Exklusion. Ausgeschlossen wird, was nicht in die regulierten Zirkulationsströme integrierbar ist und somit jenseits
der gouvernementalen Berechenbarkeit liegt (Krasmann/Opitz 2007: 133). Es entsteht die Differenz
zwischen der Bevölkerung und dem nicht in der Regulierung der Verhältnisse verrechneten „Volk“
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Die Grenzen der Menschenrechte
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(Foucault 2004: 72). Damit definiert die Regierung die Bedingungen, unter welchen eingeschlossen
werden kann und legt Schwellen der Exklusion fest (Krasmann/Opitz 2007: 134).
An dieser Stelle ist die Unterscheidung der relevanten Ebenen von Bedeutung: Die Regulierungsmechanismen der Sicherheitsdispositive haben die Gesamtbevölkerung als Gegenstand, die Sicherheit
wird zum kollektiven Phänomen, das es zu verteidigen gilt. Die Vielheit an Individuen ist nach
Foucault nicht mehr Objekt der Absicherung, sondern „lediglich als Instrument relevant, als Relais
oder Bedingung, um etwas auf der Ebene der Bevölkerung durchzusetzen.“ (Foucault 2004: 70).
Innerhalb der festgelegten Grenzen des Akzeptablen kann daher durchaus das Herausfallen Einzelner in Kauf genommen werden, wenn es dem Gesamtziel dient: Der „Sicherheit des Ganzen vor
seinen inneren Gefahren“ (Foucault 1999: 288). Dies kann die disziplinäre Einschließung und Unfreiheit des Einzelnen nach sich ziehen. Entlang der identifizierten Bedrohung ist die Gewaltanwendung nur ein weiteres Mittel, um die Sicherheit und das Leben in der Bevölkerung zu gewährleisten.
Mit eben diesen Überlegungen ist es nun evident, wie der Begriff der Exklusion mit denen der Biomacht und des Rassismus zusammenzuführen ist. Die Regierung, die vor allem unter dem Sicherheitsdispositiv agiert, reguliert die Realität (Foucault 2004: 76). Dieses Reagieren und Antworten
auf natürliche Gegebenheiten räumt ihr eine höhere Flexibilität ein, als es bei einer rein juridischrechtlich agierenden Souveränitätsmacht oder einer an vorher festgelegte Normen gebundenen
Disziplinarmacht der Fall ist (Krasmann/Opitz 2007: 136). Die auf den Schutz und die Steigerung
des Lebens ausgerichtete Biomacht verwendet die Grenzziehungen, die ihr der Rassismus liefert,
um über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur Bevölkerung, Ein- oder Ausschluss zu entscheiden (Krasmann/Opitz 2007: 137). Potenzielle Bedrohungen des Überlebens oder der Reinheit und
Lebensqualität der Rasse erfordern dementsprechend deren Ausmerzung. Die Funktion des Todes,
die bei Foucault die unterschiedlichen Ausprägungen des sozialen und tatsächlichen Todes beinhalten kann, wird über die durch eine rassistische Sicherheitslogik legitimierte Exklusion ausgeübt.
2
Moderne Migrationsregime: Biopolitische Konzeption des Flüchtlings im Lichte des Sicherheitsdispositivs
Aus-Grenzungen bedingen immer auch das Vorhandensein einer Grenze, so suggeriert es bereits
der Wortstamm des Begriffs. Daher werden wir unsere These in einem zweiten Schritt von der abs17
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trakten Ebene des „Lebens“ lösen und auf eine mögliche, spezifische Stellung des Flüchtlings in
Foucaults politischer Theorie anwenden. Dazu nehmen wir eine Veränderung unserer Analyseperspektive – von der Bevölkerung zur Nicht-Bevölkerung – vor und untersuchen: Welche Auswirkungen hat das biopolitische Verständnis von Bevölkerung auf jene, die nicht Teil des „Gesellschaftskörpers“ sind? (Wie) Lassen sich im Foucault‘schen Sinne biopolitische Ausschlussprozesse an der
Grenze denken? Und in welchem Verhältnis können ausgehend von dieser Betrachtungsweise
Grenze und gouvernementale Macht stehen?
2.1 Grenze als Ort der Generierung systematischen Wissens
Im Rahmen biopolitischer Gesellschaftsstrukturen käme der Grenze eine immense Bedeutung als
Ort der Generierung systematischen Wissens über Bevölkerung und Nicht-Bevölkerung zu: Durch
umfangreiche Grenzkontrollen lassen sich Personen an und bereits vor der Grenze gezielt erfassen
und ihre Bewegungen langfristig dokumentieren. Mittels dieser Informationen wird der Einzelne
identifiziert, kategorisiert und klassifiziert (Holloway 2002: 91) und damit im Foucault‘schen Sinne
systematisch auf seine quantifizierbaren Eigenschaften reduziert. Moderne Technologien, wie die
Biometrik, steigern die Komplexität der individuellen Erfassung des Menschen und tragen dazu bei,
die Maschen des weitreichenden Kontroll- und Überwachungsnetzes enger zu ziehen. Anhand der
so generierten Daten wird die untergliederte „Biomasse“ in sogenannte „Risikokategorien“ (zum
Beispiel „terrorverdächtig“) eingeteilt. Diese Klassifizierung determiniert das Verhalten der gouvernementalen Regierung gegenüber dem Einreisewilligen und liegt dementsprechend jeglichen Handlungsentscheidungen zugrunde.
2.2 Zum Umgang mit dem Flüchtling: kollektive Regulierung und individuelle Disziplinierung
Um die Effektivität und Gesundheit der eigenen Bevölkerung zu steigern und den „Gesellschaftskörper“ möglichst nutzenmaximierend einzusetzen, ist es im Interesse der Regierung, Migration
flexibel steuern zu können. Zu diesem Zwecke erstellen Behörden klassischer Zielländer nationale
oder internationale Konzepte des Migrationsmanagements. Exemplarisch für diesen Steuerungswillen ist die International Agenda for Migration Management des heutigen Schweizer Bundesamtes
für Migration 2. Das Dokument definiert als Ziel der Einwanderungspolitik, Migration nicht zu unterdrücken, sondern zu koordinieren, um „Sicherheit und Ordnung“ zu gewährleisten (IAMM 2004:
17). Der Schutz der eigenen Bevölkerung soll, analog zum Foucault’schen Gouvernementalitätsge2
Die Agenda wurde 2004 von der „Berner Initiative“ verabschiedet, initiiert durch das heutige Bundesamt für
Migration (ehemals „Schweizerisches Bundesamt für Flüchtlinge“).
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Die Grenzen der Menschenrechte
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danken durch zwei parallel ablaufende Maßnahmen gesichert werden: erstens die kollektive Regulierung der Mobilität und zweitens die individuelle Disziplinierung der Einreisewilligen. Hinsichtlich
der kollektiven Steuerung von Bevölkerungsbewegungen bestehen weitreichende internationale
Regelungen im Rahmen bi- und multilateraler Absprachen zu Einreisebestimmungen und zur allgemeinen Lenkung von Migrationsströmen.
Eine deutlich spezifischere Perspektive auf den Flüchtling wird im Rahmen der Disziplinierung des
Einzelnen eingenommen. Den Zusammenhang zwischen disziplinarischen Maßnahmen und Migrationsmanagement verdeutlicht Foucault in Überwachen und Strafen. Er argumentiert: „Eines der
ersten Ziele der Disziplin ist das Festsetzen – sie ist ein gegen das Nomadentum gerichtetes Verfahren.“ (Foucault 1976a: 280). Der Umgang mit dem Flüchtling wird dabei maßgeblich durch die Unterscheidung regulärer/erwünschter und irregulärer/unerwünschter Migranten bestimmt. Die erste
Gruppe rekrutiert sich vor allem aus qualifizierten Fachkräften, an denen es der Bevölkerung in
spezifischen Arbeitsfeldern mangelt. Da die betreffenden Personen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Nutzenmaximierung leisten können, wird der Arbeitsmarkt und somit auch die Grenze gezielt
für sie geöffnet. Mittels erleichterter Einreiseregelungen und einer zielorientierten „Willkommenspolitik“ stimuliert die Regierung erwünschte Migrationsbewegungen und gliedert Einreisewillige
nachhaltig in die Bevölkerung ein. Dieser „sanften Disziplinierung“ (Meyer/Purtschert 2008: 162)
steht der schonungslose Umgang mit unwillkommenen Migranten diametral gegenüber. Rigoros
werden sie am Betreten des Landes gehindert. Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht fungieren als
souveränes Zugriffsrecht im Foucault’schen Sinne und ermöglichen das direkte und gewaltsame
Bekämpfen unerwünschter Migrationsströme. In beiden Fällen wird die Disziplinierung qua An-
reizsystem realisiert, das sich in einer komplexen Kombination aus internationaler Koordination,
gezielter Setzung von Rahmenbedingungen und einem umfangreichen Kontroll- und Sanktionsapparat manifestiert. „Migrationssteuerung gilt als effektiv, wenn es ihr gelingt, das Feld der Handlungsmöglichkeiten „proaktiv“ zu strukturieren, und Interessen, Handlungen und Märkte zu generieren, die sich selbstständig reproduzieren.“ (Meyer/Purtschert 2008: 156).
2.3 Dämonisierung des Flüchtlings als Katalysator des rassistischen Sicherheitsdispositivs
Neben der Regulierung der Nicht-Bevölkerung lenkt die Regierung auch den Diskurs über Migration
innerhalb der Bevölkerung. Dabei werden Asylbewerber als Ursprung wachsender Kriminalität und
nationaler Instabilität dargestellt. Durch starke mediale und politische Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit internationalen Terroranschlägen, Straftaten und Drogendelikten in ausländerdomi19
Die Grenzen der Menschenrechte
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nierten Stadtteilen werden Assoziationen von Migranten mit Kriminalität, Rauschgifthandel und
religiösem Fanatismus geschaffen (O’Dowd/Wilson 1996: 2). Ausländer gelten als Bedrohung, werden als „nicht-integrierbare, unerwünschte oder gefährliche Eindringlinge“ (Meyer/Purtschert 2008:
150) stigmatisiert, denen jegliche sinnstiftende Beschäftigung abgesprochen wird (Lanz 2006: 32).
An dieser Stelle lassen sich deutliche Parallelen zu Foucaults Rassismusbegriff erkennen: Die konstruierte Personifizierung von Bedrohung stimuliert das rassistische Phantasma (Sarasin 2003: 67),
das den Blick auf Ausländer als „gefährliche[n] Klassen“ (Sarasin 2003: 67) von Menschen lenkt.
So wird der Staatsrassismus befördert und die Meinung zu bzw. der Umgang mit Fremden negativ
beeinflusst.
Hier wird auch deutlich, dass Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit Migration immer primär
an der nationalen Bevölkerung orientiert sind. Handlungsweisend ist somit nicht der Schutz der
Flüchtlinge, sondern die Kriminalitätsbekämpfung im Land. Dementsprechend einseitig und polemisch wird die Diskussion über Asylpolitik in den Zielländern geführt. Ein anschauliches Beispiel für
die rhetorische Verschärfung des rassistischen Sicherheitsdispositivs durch die Regierung zeigt die
Ansprache des politisch rechts außen einzuordnenden Schweizer Bundesrates Blocher zur Bern II
Konferenz 2004. Er warnte, „unkontrollierte Migration" bedeute schwierige Herausforderungen für
die betroffenen Staaten, da sie „Fragen nach der Integration von Migranten in die Gesellschaften
ihrer Zielstaaten, der Durchführung von Grenzkontrollen, Fragen der nationalen Sicherheit und Fragen nach der Rückübernahme von Personen durch ihre Heimatstaaten“ aufwerfen würden (Blocher
2004).
An dieser Stelle ist auf Agamben zu verweisen, der in seiner Auseinandersetzung mit Foucault das
Konzept der Biopolitik erweitert und so auf das Thema Flucht und Migration anwendbar macht: Er
beschreibt einen „Ausnahmezustand“, in dem sämtliche Rechtsvorschriften zeitlich befristet ausgehebelt werden. Zunächst lediglich in Gefahrensituationen ausgerufen, manifestiert sich dieser im
Lager zu einer dauerhaften Situation (Agamben 2002: 177f.). Wendet man Agamben auf die Migrationsdebatte an, kann die künstlich geschürte und beständig polemisierte Angstsituation als permanenter Ausnahmezustand verstanden werden. Foucaults Sicherheitsdispositiv wandelt sich so
gesehen in ein allgemeines Risikodispositiv, das von einer faktischen, zeitlich beschränkten Gefahrensituation zunehmend losgelöst ist.
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Die Grenzen der Menschenrechte
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2.4 Die biopolitische Legitimierung des Ausschlusses
Die Ausgrenzung von Flüchtlingen wird mit der oben beschriebenen Strategie einer selektiven, der
eigenen Bevölkerung zugewandten Sicherheitspolitik legitimiert. Ziel ist es dabei, die eigene gesellschaftliche Ordnung vor migrationsbedingten Veränderungen zu schützen, die sich andernfalls negativ auf die innere Stabilität auswirken könnten. Durch die rassistische Prägung des (Migrations)Diskurses wird die Bevölkerung als integraler Körper konstituiert, der sich klar von seiner Außenwelt abgrenzt (Meyer/Purtschert 2008: 164). Damit erzeugt die Regierung bewusst das Bild eines
quasi-organischen Gesellschaftskörpers, der gegen jene Individuen verteidigt werden muss, die
seine „gesunde Homogenität“ bedrohen: „So wie der Schutz des Heims ein entscheidendes Anliegen des Bürgers und Privatmannes ist, so ist die Integrität seiner Grenzen die Existenzbedingung
des Staates.“ (Curzon 1907: 7).
Die spezifisch biopolitische Prägung dieser Herrschaftsmentalität wird mit Blick auf ihre Selektionslogik deutlich, die Leben auf seine Grundeigenschaften reduziert und dabei wertvolles von wertlosem trennt (Foucault 1999: 300ff.). Den Ausschluss des Flüchtlings legitimiert demnach, so
Foucault, das Bestreben „die Gesellschaft zu verteidigen gegen all die biologischen Gefährdungen
dieser anderen Rasse, dieser Unterrasse, dieser Gegenrasse.“ (Foucault 1999: 27).
Das Recht verkommt dabei zu einer variablen Kategorie. Es orientiert sich nicht mehr an einer natürlichen Gerechtigkeit, sondern reguliert vielmehr die Ungerechtigkeiten der Natur. Folglich bestimmt das Recht nicht mehr die Grundsätze des sozialen Miteinanders, sondern kodifiziert sie lediglich. Es wird willkürlich, „interventionistisch und sozialkorrektiv und Natur zu einem negativen
Referenzpunkt“ (Lemke 1997: 231).
2.5 Formwandel der Souveränität
Wir haben also herausgearbeitet, dass die Grenze aus Sicht der Regierung ein entscheidender Ort
für die Sicherheit und Integrität eines Staates ist. Gleichzeitig bewirkt sie jedoch auch ein Aufbrechen und Dezentralisieren der souveränen Entscheidungsgewalt durch die diffuse, territorial unbegrenzte Struktur ihres Kontrollsystems: Neben staatlichen Steuerungsgremien besitzen auch andere
Akteure weitreichende Entscheidungskompetenzen, Beschlüsse werden nicht mehr vorrangig in den
Regierungszentralen, sondern an den Schnittstellen zwischenstaatlicher Institutionen gefasst. So
vollzieht sich analog zum Foucault‘schen Biopolitikkonzept auch in der Migrationspolitik ein
„Formwandel der Souveränität“ (Walters 2011: 315; Hardt/Negri 2002: 9ff.): Die zentralistische
Regierungsgewalt bricht auf und zerfällt in ein dichtes Netzwerk von Machtbeziehungen, das sich
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im Bereich der Migration vor allem in der Entstehung neuer Zuständigkeiten, dem internationalen
Austausch von Informationen und der virtuellen Einhegung der Grenze in ein internationales Netzwerk elektronischer Datenbanken manifestiert.
2.6 Grenze als Instrument der Gouvernementalität
Einher mit dem Wandel der Machtkonzeption geht auch die Veränderung der theoretischen Stellung der Grenze. Galt diese einst als Sinnbild für die territoriale Reichweite des souveränen Rechts,
wird sie heute zunehmend zum Instrument der Gouvernementalität. Die Regierung nutzt dabei die
Außengrenze, um den Gesellschaftkörper sichtbar von seiner Umwelt abzutrennen. So kann einerseits die innere Integration und Homogenisierung uneingeschränkt vorangetrieben, andererseits
mittels der „Filterfunktion von Grenzkontrollen“ (den Boer 1995: 92) ein effektives Kontroll- und
Ausgrenzungsregime aufrechterhalten werden. Durch die vehemente Abschottung nach außen
werden Flüchtlinge daran gehindert, physisch Teil der Bevölkerung zu werden und sind somit bereits vorab der Möglichkeit beraubt, (Rechts-)Sub-jekte zu werden.
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Die Grenzen der Menschenrechte
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IV
Schluss
Welches Gesamtbild zeichnete unsere Arbeit nun in Bezug auf unsere Forschungsfragen,
(Wie) Lassen sich anhand des Foucault‘schen Biopolitikbegriffes Exklusionsprozesse denken? Und
welche Bedeutung hat diese Perspektive für die Analyse moderner Migrationsregime?
In einem ersten Schritt haben wir Foucaults Biopolitikkonzeption als theoretisches Fundament unserer Arbeit nachgezeichnet. Wir haben gezeigt, dass Machtbeziehungen im Laufe der Zeit einem
starken Wandel unterworfen sind, der sich auch auf die staatlichen Bestrafungs- bzw. Kontrolltechniken auswirkt. Die Transformation der gewaltbasierten Souveränitätsmacht zur strategischproduktiven Disziplinarmacht und schließlich zur beide Konzepte einhegenden Biomacht wirkt sich
auch auf ihre Adressaten aus. So rückt das „Leben" ins Zentrum biopolitischen Regierungshandelns, seine Effektivierung ist fortan Ziel und Konstitutionszweck ihres Daseins. Mittels der Generierung systematischen Wissens über den Einzelnen sowie die Gesamtgesellschaft wird dazu eine Verbindung von Politik und Leben geschaffen, die eine gezielte Disziplinierung der Individuen und eine
kollektive Regulierung der Gemeinschaft ermöglicht. Macht spiegelt sich somit in der Fähigkeit zur
gesamtgesellschaftlichen, wissensbasierten Steuerung und Steigerung wieder, sie wird zur omnipräsenten „Regierungskunst", eingehegt in eine universale, allumfassende Sphäre, die Foucault als
„Gouvernementalität" bezeichnet.
Wir zeigten auf, wie die Sicherheitsmechanismen auf Ebene der Bevölkerung regulierend eingreifen,
um auf natürliche Gegebenheiten zu antworten. Dabei deutet sich bereits an, dass für die kollektive
Sicherheit auch individuelle Körper aus der Regulierung herausfallen können und zum Gegenstand
der Disziplinierung werden. Zur Erfüllung der Todesfunktion bedürfen moderne, an der Biopolitik
ausgerichtete Staaten des Rassismus. Dieser ermöglicht die Identifizierung und Ausmerzung von
Fremdem oder Bedrohlichem zum Zweck der Steigerung der Gesundheit und Reinheit der Rasse, zur
Sicherung des Lebens der Bevölkerung. Der in einem weiten Sinn verstandene Tod ermöglicht die
Anwendung des Erarbeiteten auf Ausgrenzungsprozesse: Mithilfe des systemtheoretischen Begriffspaares der Inklusion/Exklusion stellten wir das exklusionistische Potenzial der Theorie
Foucaults dar, was uns zu dem Schluss führt, dass ein rassistisches Sicherheitsdispositiv Exklusion
biopolitisch rechtfertigt.
In einem zweiten Schritt lösten wir uns von der abstrakten Ebene der Foucault‘schen Theorie und
versuchten, unsere theoretische Weiterentwicklung des Biopolitikkonzeptes auf die spezifische Stel23
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lung des Flüchtlings anzuwenden. Für die dabei entstandene Neubeschreibung der Flüchtlingsfigur
und ihrer Exklusion durch die gouvernementale Regierung ist die Grenze konstitutiv. Erstens, setzt
sie als Ort der Generierung systematischen Wissens über Bevölkerung und Nicht-Bevölkerung die
Grundlage einer effektiven Regulierung und Disziplinierung des Gesellschaftskörpers und ermöglicht somit ein gezieltes und flexibles Migrationsmanagement. Zweitens dient sie der Abschottung
und Verteidigung des Volkskörpers vor den als Bedrohung der Homogenität und Stabilität der Gesellschaft personifizierten „Fremden". Drittens legitimiert sie den biopolitischen Ausschluss von
Flüchtlingen durch rassistisch geschürte Ängste im Lichte des Sicherheitsdispositivs.
Im Zuge dieses Prozesses, so unsere Schlussfolgerung, vollzieht sich die Biopolitisierung der Grenze
und damit letztlich die praktische Anwendung des Foucault‘schen Gouvernementalitätsgedankens
auf Migrationsregime. Exklusionsprozesse im Sinne unserer theoretischen Konzeption lassen sich
demzufolge täglich an den Grenzen westlicher Staaten erkennen: immer dann, wenn sich eine Regierung der Grenze bedient, um die eigene Gesellschaft vor dem Eindringen Fremder zu schützen;
wenn statistische Erhebungen, virtuelle Datenbanken und einzelne Personenangaben nationale
Einreisebestimmungen determinieren, und immer dann, wenn ein Pass über Leben und Tod entscheidet.
In unserer Arbeit haben wir gezeigt, wie sich Foucaults Biopolitikkonzeption auf Exklusionsprozesse
im Allgemeinen und auf den Ausschluss des Flüchtlings im Besonderen anwenden lässt. Dabei haben wir uns Foucaults Theorie jedoch bisweilen mit einem pragmatischen Determinismus angenähert und das Eintreten der einzelnen genealogischen Entwicklungsstufen nicht gesondert hinterfragt. Diese Herangehensweise war zwar notwendig, um die Komplexität des theoretischen Gesamtwerkes bewältigen zu können, gleichzeitig bietet sie jedoch Anknüpfungspunkte für weitere
Betrachtungen.
Diese sehen wir besonders im Hinblick auf die Frage nach dem Widerstand. Zukünftige Arbeiten
könnten beispielsweise untersuchen, inwiefern sich Teile der Gesellschaft gegen die obrigkeitliche
Disziplinierung und Kollektivierung wehren bzw. welche Möglichkeiten es gibt, sich der Biomacht
zu widersetzen. Ist es möglich, sich von dieser fremdgesteuerten Daseinsform freizumachen? Lässt
sich Biopolitik überwinden? Und wenn ja, was kommt danach? Ferner könnte man Widerstand
auch auf der Ebene der Regierung betrachten. Im Zuge des biopolitischen Wandels zerfällt die zentralistische Universalmacht des Souveräns in ein diffuses Netz der Machtbeziehungen. Doch wie
geht der Souverän mit dem Verlust seiner Zugriffsrechte um? Was tut er, um ein Recht zu verteidi24
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gen, das ihm immer schon oblag? Kann er durch seine Argumentation einen Beitrag leisten, um die
Souveränitätsmacht neu hervorzubringen? Und falls ja, welche Folgen hätte das für den biopolitischen Transformationsprozess? All diese Fragen könnten Gegenstand künftiger thematischer Auseinandersetzungen sein.
Was aber zeigt uns die Auseinandersetzung mit Foucault heute? Und was sind die Lehren, die aus
dieser Arbeit gezogen werden können?
Es ist zunächst die Einsicht, dass menschliche Existenz nicht auf biologisches Leben reduziert werden darf. Dass nicht Natur, nicht übergeordnete Steuerungsstrukturen und auch nicht gesellschaftliche Effektivitätsideale die Grenze menschlichen Handelns beschränken. Dass der Wert eines Lebens nicht von Wissenschaft und Statistik bestimmt wird. Nur wer das versteht, kann sich von der
Furcht vor dem Fremden lösen. Verliert sich diese Angst, stoppt auch ihr Katalysator: der Rassismus.
Das bringt uns zu unserer zweiten Einsicht: Gesellschaft ist keine homogene „Biomasse“. Sie ist
vielfältig – heute mehr denn je – und sie lebt von dieser Vielfalt. Die Steigerung gesellschaftlicher
Kräfte gelingt daher nicht durch Förderung ihrer Konformität, sondern im Gegenteil durch Stimulierung ihrer Verschiedenheit.
Damit einher geht unsere letzte Einsicht: Die biopolitische Effektivierung des Gesellschaftskörpers
führt zur Entwertung des Menschen. Wie ein Zahnrad in der gesellschaftlichen Maschinerie rotiert
er beständig um seine eigene Achse und ist dabei jederzeit durch ein besseres Teil austauschbar.
Verbessert sich die Maschine, verliert er an Nutzen für das Gesamtsystem. Die Subjektform
„Mensch“ wird damit an den Rand des Systems gedrängt und zunehmend aufgelöst.
Die Relevanz der Foucault’schen Biopolitikkonzeption in Bezug auf Migration ergibt sich daher sowohl aus dem Negativszenario, das sie entwirft, als auch aus dem gesellschaftlichen Bestreben,
sich dieser Entwicklung gemeinsam zu widersetzen. Nur so kann eine Gesellschaft geformt werden,
in der man, mit den Worten Adornos, „ohne Angst verschieden sein kann.“ (Adorno 1970: 131).
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