Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie

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Pädagogische Intervention bei Kindern mit Legasthenie
Magisterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades Magistra Artium (M. A.)
im Fachbereich 04 Erziehungswissenschaften
am Institut für Sonderpädagogik
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Pädagogische Intervention
bei Kindern mit Legasthenie
Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und
deren Implikation für kindliche Entwicklungsprozesse
1. Gutachter: Dr. Oliver Hechler
2. Gutachter: Michael Bourgeon
Vorgelegt von: Britta Dietrich
Goerdelerstr. 23
63071 Offenbach am Main
Einreichdatum: 23.12.2010
Inhaltsverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO ...................................................... I
Danksagung ...................................................................................................................... II
Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... III
Abbildungsverzeichnis ..................................................................................................... IV
Vorwort ....................................................................................................................... 1
1
Einleitung ............................................................................................................ 5
Teil I
Multikausale Ursachenbereiche von Legasthenie und
Grundlagen des Schriftspracherwerbs
2
Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge ......................... 10
2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb ...............................10
2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung zum Konzept der
phonologischen Bewusstheit ..........................................................................18
2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder .......................24
3
Problemkreis Legasthenie ............................................................................... 29
3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung ......................................................29
3.1.1 Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung ...29
3.1.2 Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung ..................................30
3.1.3 Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung ....................................31
3.2 Genetische Ursachen ......................................................................................32
3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich .......................................34
3.4 Erkennungsmerkmale für das Vorhandensein einer Legas-thenie ..........36
Teil II
Das „Konstrukt“ Legasthenie
4
Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer
Perspektive ....................................................................................................... 40
5
Begrifflich-definitorische Aspekte ................................................................... 49
5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des Legastheniebegriffs ........................49
5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „Legasthenie“ ..................................52
5.2.1 Primärlegasthenie .......................................................................................56
5.2.2 Sekundärlegasthenie .................................................................................57
5.3 Warum nicht jedes Kind mit Problemen beim Lesen- und
Schreibenlernen Legasthenie hat … .............................................................58
5.4 Das legasthene Kind .........................................................................................62
Teil III
Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer Intervention
bei legastheniebedingten
Schriftspracherwerbsschwierigkeiten
6
Was ist eine pädagogische Intervention? ..................................................... 67
7
Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene ...................... 69
7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und präventiver Maßnahmen ...........................................69
7.1.1 Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung ..........................73
7.1.2 Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten ...........77
7.1.3 Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit ...............79
7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention
legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten .........82
7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven
Intervention ........................................................................................................84
8
Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria
Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller ....................... 85
8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori....................................85
8.1.1 Grundlagen des Montessori-Modells ......................................................88
8.1.2 Aktualität des Montessori-Modells .........................................................100
8.1.3 Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining mit MontessoriMaterial ..................................................................................................104
8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller.........................107
8.2.1 Grundlagen der AFS-Methode ..............................................................107
8.2.2 Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining nach der AFSMethode ................................................................................................109
9
Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention ........................................ 114
9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse der
Frühförderung legasthener Kinder einsetzen? ...........................................115
9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten
Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb beitragen? ..........................118
10 Abschließende Diskussion ............................................................................ 134
Literaturverzeichnis ................................................................................................138
Anhang ....................................................................................................................157
„Wir alle blicken auf das Kind, weil wir erkannt haben, daß bei ihm noch alles werden kann,
daß in ihm alle Möglichkeiten vorhanden sind, während der Erwachsene wohl Gedanken und
Grundsätze ausdrücken kann, sich aber mehr oder weniger auf sie festgelegt hat und sich
schwer noch ändern kann.“ (Maria Montessori, 31.08.1870 - 6.05.1952, italienische Ärztin und Pädagogin)
Eidesstattliche Erklärung gemäß §21 Abs. 1 StPO
Hiermit erkläre ich, dass die vorliegende Arbeit von mir selbstständig erstellt und noch nicht
anderweitig für Prüfungszwecke vorgelegt wurde. Es wurden keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel und Quellen benutzt. Soweit ich auf fremde Materialien, Texte oder Gedankengänge zurückgegriffen habe, enthalten meine Ausführungen vollständige und eindeutige
Verweise auf die Quellen. Wörtliche und sinngemäße Zitate sind als solche gekennzeichnet.
Alle weiteren Inhalte der vorgelegten Arbeit stammen im urheberrechtlichen Sinn von mir,
soweit keine Verweise und Zitate erfolgen.
___________________________________
Ort, Datum
___________________________________
Unterschrift
I
Danksagung
Damit eine Abschlussarbeit zustande kommen kann, ist man auf viele andere Personen angewiesen, welchen ich auf diesem Wege danken möchte. An erster Stelle möchte ich mich bei
Dr. Oliver Hechler und Michael Bourgeon bedanken, die mir diese Arbeit ermöglicht haben.
Mein besonderer Dank gilt dabei Dr. Oliver Hechler, der mich bei der Erstellung der Arbeit
unterstützt und mich mit sehr viel persönlichem Engagement betreut hat und bei wichtigen
Fragen immer helfend zur Seite stand. Bei Herrn Michael Bourgeon möchte ich mich dafür
bedanken, dass er sich als Zweitgutachter zur Verfügung gestellt hat.
Mein Dank gilt auch all denen, die mir des Weiteren bei der Erstellung der Arbeit behilflich
waren. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Herrn Prof. Dr. Henning Rosenkötter, Frau Prof. Dr. Renate Valtin und Frau Mag. Simone Enste. Insbesondere möchte ich
an dieser Stelle Frau Dr. Astrid Kopp-Duller meinen Dank aussprechen, die sich geduldig
meiner persönlichen Fragen annahm und mich immer mit besonderem Engagement und hoher
Kompetenz unterstützte. Frau Mag. Margit Biernat danke ich für das Korrekturlesen, Peter
Möller und Norbert Thust danke ich für den Technical Support bei der Fertigstellung der Arbeit.
Von unschätzbarer Bedeutung ist für mich der große Rückhalt, den ich bei all meinen Launen
und über alle Phasen der Arbeit von meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freunden
erfahren habe und für den ich mich ganz herzlich bedanken möchte. Insbesondere möchte ich
meiner Mutter danken, die mir immer zur Seite stand, mich unterstützte, wo sie konnte, und
mir Kraft gab, wenn ich sie brauchte.
II
Abkürzungsverzeichnis
a.a.O.
am angegebenen Ort
bspw.
beispielsweise
bzw.
beziehungsweise
d.h.
das heißt
etc.
et cetera
etw.
etwas
ggf.
gegebenenfalls
ICD-10
International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Ziffer
10: zehnte Revision der Klassifikation
LRS
Lese-Rechtschreibschwäche
o.Ä.
oder Ähnliche/r/s
od.
oder
o.g.
oben genannt
s.
siehe
S.
Seite
s.o.
siehe oben
s.u.
siehe unten
sog.
so genannt
u.
und
u.a.
unter anderem
u.a.m.
und andere mehr
u.U.
unter Umständen
u.v.m.
und viele mehr
v.a.
vor allem
z.B.
zum Beispiel
z.T.
zum Teil
z.Z.
zur Zeit
zit. n.
zitiert nach
III
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu
Intelligenzleistungen im engeren Sinne ..................................................................... 28
Abb. 2: Bausteine der kindlichen Entwicklung ...................................................................... 157
Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in überarbeiteter Version nach Ellis ................... 158
Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik ............................................................. 159
Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben
nach Frith .................................................................................................................. 159
Abb. 6: Persönlichkeitskonstitution ........................................................................................ 160
Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Überblick nach Kopp-Duller .................................. 161
Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses ....................................................................... 162
IV
Vorwort
Johannes Gutenberg (um 1400-1468), Erfinder der Buchdruckkunst, Leonardo da Vinci
(1452-1519), Maler/Bildhauer/Architekt, Napoleon Bonaparte (1769-1821), französischer
Feldherr und Kaiser, Charles Darwin (1809-1882), britischer Naturwissenschaftler, Winston
Churchill (1874-1965), ehem. Premierminister von Großbritannien und Nobelpreisträger, Albert Einstein (1879-1955), Physiker und Nobelpreisträger, Walt Disney (1901-1966), amerikanischer Filmproduzent, John F. Kennedy (1917-1963), 35. Präsident der Vereinigten Staaten, Reinhard Mey (geb 1942), deutscher Liedermacher … All diese berühmten Persönlichkeiten haben eines gemeinsam: Sie waren oder sind Legastheniker und hatten Schwierigkeiten
beim Erlernen des Lesens und Schreibens.
Das Phänomen der Lese-Rechtschreibschwäche ist eine weltweit schon lange diskutierte
Problematik. Die Diskussionen darüber wollen die Ursachen dafür klären und eine
Behandlung des häufig bei Schulkindern auftretenden Problems ermöglichen (vgl. Fischer
2003, S. 44f.). Eine der wichtigsten Kulturtechniken, die Kinder erlernen müssen, ist die
Sprache in Schrift und Wort. Die Schule ist dafür verantwortlich, dies zu vermitteln und zu
festigen. Einige Kinder haben jedoch große Schwierigkeiten, das Lesen zu erlernen, der
Grund ist oft eine Lese-Rechtschreibschwäche. Das Ziel des Lesens ist das Leseverständnis.
Doch für ein gutes Leseverständnis ist neben vielen Teilkomponenten wie Sprachverständnis,
themenbezogenem Vorwissen und Motivation auch die Fähigkeit, genau und flüssig zu lesen,
von großer Bedeutung. Bei Problemen in einem dieser grundlegenden Bereiche wird das
Textverständnis beeinträchtigt. Kinder und Jugendliche mit Leseschwierigkeiten können in
einem oder mehreren dieser Bereiche Defizite haben.
Seit vielen Jahren gibt es im Bereich der Legasthenie heftige Kontroversen, zusätzlich sind
Schwierigkeiten mit den Kulturtechniken immer noch ein Tabuthema; gesellschaftlich, im
Bildungsbereich und viel zu oft in den Familien selbst. Partielle Lernschwierigkeiten im
Bereich des Lesens und Rechtschreibens fanden in den letzten Jahrzehnten stärkere
Beachtung als etwa Leistungsprobleme in Mathematik oder anderen Lerngebieten. Dies mag
seinen Grund darin haben, dass Störungen im Lesen und Rechtschreiben einen Schüler in
unserer Gesellschaft – trotz vieler integrativer Methodenansätze und Projekte in der Schule –
im Wissenserwerb beeinträchtigen. Auch die Schullaufbahn wird mehr oder weniger massiv
gestört, und damit wird in die Lebensmöglichkeiten eingegriffen. Der Umgang mit
schriftsprachlichem Material ist heute wichtiger denn je. Eine kritische Auseinandersetzung
mit aktuellen Themen erfordert eine vielseitige Information, die nur durch die Nutzung
verschiedener Medien möglich wird. Noch ist jedoch nicht gewährleistet, dass jeder Mensch
1
in demselben Umfang von der Informationsfülle profitieren kann. Trotz der Tatsache, dass die
Fertigkeiten des Lesens und Schreibens immer wichtiger werden, bleibt das Faktum, dass
noch immer ein Teil der Jugendlichen und Erwachsenen selbst am Ende der Pflichtschulzeit
weder das Lesen noch das Schreiben in ausreichendem Maß beherrscht. Internationale
Schulvergleiche wie PISA haben gezeigt, dass der Plan, allen Schülern diese
Grundfertigkeiten zu vermitteln, nicht verwirklicht ist. Zudem steht es schlecht um die
Chancengleichheit in den Schulen; gerade schwache Schüler können nicht ausreichend vom
Unterricht profitieren, sodass die Diskrepanz zwischen guten und schlechten Schülern eher
zunimmt, statt sich zu verringern. Diese Diskrepanz ist zusätzlich von der sozialen Lage der
Familien abhängig, da Kinder sozial schwacher Familien offensichtlich weniger gefördert
werden – meist, zumindest finanziell gesehen, nicht gefördert werden können – und somit
nicht die gleichen Bildungschancen wie Schüler aus besser gestellten Familien erhalten.
Angesichts solcher bedauerlichen Befunde hat eine intensive Ursachensuche begonnen. Ein
Grund hierfür liegt unbestreitbar in der großen Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis.
Gerade die Prozesse des Lesens und Schreibens stellen ein intensiv beforschtes Gebiet dar, zu
dem verschiedene Disziplinen wie Psychologie, Linguistik, Phonetik, Medizin und Genetik in
den letzten Jahren wesentliche Beiträge geleistet haben. Einerseits hat sich dadurch das
Verständnis für die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens erweitert, andererseits hat
sich auch gezeigt, inwieweit genetische und soziale Faktoren auf das Erlernen des Lesens und
Schreibens Einfluss nehmen. Aus diesen Erkenntnissen der Forschung ergeben sich
aufschlussreiche Konsequenzen für die Praxis. Dies ist zum einen die Ermöglichung einer
frühzeitigen Prävention von Lernstörungen mit Hilfe einer Förderung phonologischer
Fertigkeiten, zum anderen aber auch die Verbesserung der Diagnostik von Teilfertigkeiten des
Lesens und Schreibens, verbunden mit der Möglichkeit einer gezielten Förderung solcher
Teilfertigkeiten. Die Einsicht der Relevanz der Forschungsgebiete für die Praxis ist allerdings
oft nicht unmittelbar erreichbar. Abgesehen davon dauert es meist längere Zeit, bis die
Forschungsergebnisse Eingang in die schulalltägliche Praxis finden. Mit Hinblick darauf
befinden wir uns an einer Wende. Allmählich wird die traditionelle Sichtweise von
Legasthenie durch umfangreiche Konzepte, die versuchen, dem Lesen- und Schreibenlernen
und den dabei auftretenden Schwierigkeiten wirklich gerecht zu werden, abgelöst. Viele
Psychologen und Pädagogen sehen Teilleistungsstörungen als Verursacher von Problemen
beim Lese- und Rechtschreiberwerb an.
Wie verlockend klingt da die Theorie, dass Legasthenie ein Zeichen für besondere Begabung
sei (vgl. Davis 2006). Besonders in der heutigen Zeit, in der dem Schulerfolg ein
maßgeblicher Anteil an späteren Berufs- und Karrierechancen zugerechnet wird, finden
2
solche Theorien natürlich positive Resonanz. Dieser Zusammenhang konnte jedoch nie
bewiesen werden. Psychologische Tests oder Legasthenie-Tests können aufgrund ihrer
Konstruktion legasthenische Besonderheiten hervorgerufen, sie sind somit kein sicherer Beleg
für die tatsächliche Existenz derartiger Schwierigkeiten.
Besonders im gesundheitlichen Bereich etablieren sich gerade in Zeiten eines Umbruchs sehr
schnell esoterische und nicht wissenschaftlich fundierte „Therapie“-Möglichkeiten, wobei
scheinbare Patentmethoden für teures Geld verkauft werden. Deshalb werden Hilfesuchende
leider nur allzu oft enttäuscht. Es ist daher ratsam, Legastheniekonzepte, die oft fanatisch
gefällige Theorien über vermeintliche Ursachen entwickeln und die Schwierigkeiten beim
Lesen und Schreiben nicht als gestörte Lernprozesse sehen, kritisch zu betrachten. Außerdem
muss abschätzbar sein, wie lange eine seriöse Hilfe in etwa dauert. Etwas anders gestaltet sich
bspw. die Sichtweise der Lerntherapie1, wie sie vom Fachverband für integrative Lerntherapie
(FiL) e.V. vertreten wird (vgl. Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. 2010).
Trotz dieser Vielfalt an neuen Erkenntnissen und der Tatsache, dass sich Wissenschaftler
verschiedener Disziplinen ausschließlich der Leseforschung verschrieben haben, ist z.Z. auf
der Seite der Lehrerschaft eher Verdruss über die Forschung zu beobachten. Einerseits
revidiert sie ständig ihre Erkenntnisse und andererseits gibt es keine Bemühungen, diese
Erkenntnisse in verständlicher Form zusammenzufassen und mitzuteilen. Dass in der Fülle an
neuen Befunden eine Orientierung schwerfällt und dies zu einer Irritation führt, mag kaum
verwundern. Bis heute ist es weder gelungen, eine ausreichende und vor allem positive
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen zu erreichen noch eine klare
Linie zu ziehen, wo die Interventionen durch den Pädagogen nicht mehr ausreichen und die
des Psychologen oder Mediziners einsetzen müssen oder umgekehrt (vgl. Kopp-Duller/PailerDuller 2008a, S. 133). Es gibt nicht einmal eine Vereinheitlichung der Begriffe. Allein auf der
Feststellungsebene kommt es schon zu Unstimmigkeiten, wobei der Psychologe und
Mediziner die Legasthenie stets als Schwäche, Störung, Krankheit oder Behinderung ansieht,
damit auch sein Einschreiten gerechtfertigt ist. Nicht selten werden Diagnosen von
Psychologen durch den Mediziner in Zweifel gezogen oder Gutachten von Pädagogen durch
den Psychologen oder Mediziner etc. Leidtragende sind die Kinder, die durch ein völlig
uneinheitliches
Vorgehen
nicht
selten
ihr
gesamtes
Schulleben
um
wichtige
1
Bei der Arbeit in diesem Sinne wird zunächst nach den Stärken und Begabungen, also den Ressourcen eines
lese-rechtschreibschwachen Kindes gesucht, da die Meinung vertreten wird, dass jeder Mensch die Welt anders
sieht und wahrnimmt. Wer z.B. im konventionellen Unterricht nicht erfolgreich lernt, vermag dies
möglicherweise durch den Einsatz von konkreten Bildern, durch Visualisierungen oder mit Hilfe von Materialien
zum Anfassen und Hantieren. Dieses ressourcenorientierte Vorgehen bewirkt im betroffenen Kind eine
verstärkte Leistungsmotivation.
3
Interventionsmaßnahmen gebracht werden. In der gegenwärtigen Diskussion streiten sich
Mediziner und Pädagogen sowie Psychologen um die Zuständigkeit für Legasthenie bzw.
LRS, die auch einen profitablen Diagnose- und Therapiebereich sichert. Eines ist sicher: Die
Legasthenie ist eine eigene Wissenschaft mit multikausalen Ursachen in komplexen
Zusammenhängen. Das wichtigste Faktum ist, dass Menschen, die eine Erbanlage für
Legasthenie haben, weder krank und schon gar nicht behindert sind.
4
1
Einleitung
Lese-Rechtschreibschwäche, Legasthenie… Wo immer diese Begriffe
Lernstörung,
auftauchen, entstehen Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und eine Fülle von Vorurteilen gegenüber
dem betroffenen Kind und seiner Familie. Stigmatisierung, psychische und physische Folgen
– das können schon vorhandene oder durch das Nichterkennen der Legasthenie und die
unterlassene Hilfestellung erworbene sein – gehören zu den vielfältigen Nebeneffekten, die
mit dieser Thematik einhergehen.
Aufgrund der immer größer werdenden Zahl von lese- und rechtschreibschwachen Kindern
fragt man sich, welche Präventionsmaßnahmen getroffen werden können. Sobald Kinder
partielle Ausfälle im Bereich der gesprochenen und geschriebenen Sprache, die auch
allgemeine Schulleistungen beeinträchtigen, aufweisen, wird in der psychologischen,
neurologischen, psycholinguistischen wie auch pädagogischen Wissenschaft von einer
Teilleistungsstörung oder Legasthenie ausgegangen (vgl. Milz 1997, S. 13). Bei guten Lesern
erfolgt das Lesen mühelos und äußerst schnell. Die Kinder mit Legasthenie oder LRS haben
jedoch bereits erhebliche Probleme mit den basalen Lesefertigkeiten, der Lesegenauigkeit und
besonders mit der Lesegeschwindigkeit. Gerade Schwierigkeiten beim Lesen sind häufig mit
erheblichen negativen Konsequenzen für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen
verbunden. Die Zahl der Kinder mit vermuteten oder tatsächlichen Lernstörungen nimmt
ständig zu. Verzögerungen in der Entwicklung von Bewegung, Wahrnehmung und Sprache,
Klagen über Aufmerksamkeitsdefizite oder Hyperaktivität häufen sich. Im Lernbereich
Schule werden immer öfter Lese- und Schreibschwierigkeiten sowie Rechenschwierigkeiten
festgestellt. Auch im Umgang der Kinder untereinander ist vermehrt aggressives oder auch
egozentrisches Verhalten zu beobachten. Viele Kinder haben darüber hinaus auch mit
emotionalen Schwierigkeiten zu kämpfen. Bei LRS und Legasthenie können der schulische
Erfolg, die Lernmotivation, das Selbstvertrauen sowie das allgemeine psychische Befinden
nachhaltig beeinträchtigt werden. Auch im sozialen Bereich, z.B. in der Klasse, kann der
Status
des
Kindes
durch
die
Miss-erfolge
leiden.
Neben allgemeinen sozialen
Anpassungsschwierigkeiten sind vor allem motorische Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten und Angst Begleiterscheinungen. Deshalb sind Kinder nicht weniger liebenswert.
Seit vielen Jahren beschäftigt man sich mit den Symptomen, Ursachen und Fördermaßnahmen
bei
Legasthenie
und
auch
LRS,
und
trotzdem
kommt
es
immer
wieder
zu
Widersprüchlichkeiten bei neuen Erkenntnissen; die Forschungsarbeiten sind noch lange nicht
abgeschlossen.
5
1 Einleitung
Lewin sagte einmal, „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Lewin/Cartwright
1951, S. 169). Die theoretischen Erkenntnisse, die in der Forschung in den letzten Jahren
gewonnen wurden, können die praktische Arbeit mit Lese- und Rechtschreibstörungen
entscheidend bereichern und erleichtern. Allerdings ist es dazu notwendig, ein Verständnis
dafür zu entwickeln, wie die kognitiven Prozesse des Lesens und Schreibens ablaufen.
Die vorliegende Arbeit soll einen einleitenden Überblick über die kognitiven Prozesse des
Lesens und Schreibens verschaffen und damit verdeutlichen, welche Prozesse sich Kinder
beim Erlernen des Lesens und Schreibens aneignen müssen. Dies soll Klarheit darüber
schaffen, welche Schwierigkeiten bei legasthenen Kindern beobachtet werden und auf welche
nachweisbaren Ursachen diese zurückgeführt werden können. Gerade im Bereich der
Ursachen soll auf die markanten wissenschaftlichen Fortschritte hingewiesen werden, die auf
dem Gebiet der genetischen Grundlagen gewonnen wurden. Da die Darstellung von
fundiertem Wissen, Befunden und Folgerungen für die Praxis in diesem Rahmen jedoch nicht
für alle Bereiche des Lesens und Schreibens möglich ist, soll der Fokus auf der pädagogischen
Intervention sowie auf Ansätzen und Möglichkeiten elterlicher Prävention und auf deren
Implikation für kindliche Entwicklungsprozesse bei legasthenen Kindern liegen. Diese Arbeit
ist in drei größere Teile gegliedert.
Der erste Teil ist den allgemeinen multikausalen Ursachenbereichen gewidmet. Es werden
kognitive Prozesse sowie grundlegende Annahmen zur Sprachentwicklung und die Stufen der
Sprachentwicklung bei normal entwickelten Kindern aufgezeigt, um den veränderten Schriftspracherwerb legasthener Kinder abzugrenzen und die Mannigfaltigkeit der Problematik
nachzuweisen. Ein integraler Teil des Erlernens sprachlicher Kompetenzen, die sich aus dem
Zusammenwirken vielfältiger Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen ergeben, ist das
Erlernen der Schriftsprache. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus Funktionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten Atemzug an richtig zusammengefügt werden muss, damit das Kind erfolgreich lesen und schreiben
lernt. Der Abschnitt der Annahmen zu Schriftspracherwerb und Sprachentwicklung beinhaltet
außerdem wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Konzept der phonologischen Bewusstheit, welche in einer neuropsychologischen Therapie zum Einsatz kommen kann, falls
pädagogisches Handeln allein nicht mehr ausreichend ist, um das Kind in seiner Entwicklung
unterstützen zu können. Schließlich folgt ein Überblick von Anzeichen und möglichen, besonders genetisch bedingten prä-, peri- und postnatalen Ursachen, die einer Legasthenie zugrunde liegen.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit der eigentlichen Legasthenie-Thematik und widmet sich
zunächst dem begrifflich-definitorischen Aspekt. Ein einleitender historisch-definitorischer
6
1 Einleitung
Entwurf des Legastheniebegriffs bildet die Einführung in die Thematik, welcher unterschiedliche Auffassungen und Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte, von der Medizin über die
Disziplin der Psychologie bis hin zum Handlungsfeld der Pädagogik, aufzeigt. Durch diese
Kontroversen und Debatten entstanden unterschiedliche Auffassungen und Definitionen der
Begrifflichkeit „Legasthenie“, die gegeneinander abgewogen werden. In diesem Kontext werden das Konstrukt Legasthenie und die Pathologisierung der Legasthenie aus pädagogischer
Perspektive kritisch beleuchtet, was zu der Definition und dem Konzept, mit denen sich diese
Arbeit primär auseinandersetzt, hinführen soll. Vor definitorischem Hintergrund werden weiterhin die Auswirkungen der Schwierigkeiten auf die Entwicklung der Kinder diskutiert, sowohl auf die Verhaltensebene als auch auf die emotionale Entwicklung, und auch die Rückwirkungen auf die Familien der Kinder. In diesem Kontext soll auch auf die biologischen,
psychologischen und sozialen Faktoren hingewiesen werden. Um die begrifflichdefinitorischen Aspekte abzurunden und Klarheit für die Diagnostik und Interventionsebene
zu schaffen, werden die Begriffe Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und Legasthenie zwecksetzend voneinander abgegrenzt. Diese kritische Auseinandersetzung hebt die pädagogische
Definition, die der Arbeit als fundamentale Richtlinie dienen soll, hervor. Diese Definition ist
die erste pädagogische Definition nach A. Kopp-Duller aus dem Jahre 1995, mit der vor allem
erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache anerkannt wurde, dass es Menschen gibt, bei
denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess andersartig abläuft, womit Legasthenie als
vorrangiges pädagogisches Interventionsgebiet etikettiert wurde. Somit wurde die Problematik nicht mehr, wie es durch die Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches
Problem definiert. Trotz dieser Definitionen fällt die Begriffsbestimmung schwer, da Faktoren
wie Intelligenz, entsprechender Unterricht oder Milieu in der Praxis nicht eindeutig feststellbar sind.
Der dritte Teil, der den Hauptteil der vorliegenden Arbeit bildet, hat wohl die stärkste Praxisrelevanz, da der Fokus vor allem auf der Bedeutung von Ansätzen und Möglichkeiten pädagogischer Intervention bei Legasthenie liegt, wobei vorrangig die präventiven Möglichkeiten
im Kontext pädagogischen Handelns erörtert werden. Zunächst wird mit einem Definitionsversuch der Begrifflichkeit der „pädagogischen Intervention“ eingeleitet. Darauffolgend steht
die Wichtigkeit der präventiven Förderung sowie der bedeutsamen Funktion der Vorschulpädagogen und besonders der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene beim Schriftspracherwerb im Fokus der Auseinandersetzung und der Arbeit mit legasthenen Kindern. Die
Bedeutung der Früherkennung von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und der Maßnahmen zu deren Prävention wird in Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Woran und
wann Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche präventiven
7
1 Einleitung
Interventionen eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen Annahmen über den
ungestörten Schriftspracherwerb und von seiner Gefährdung ab, sondern auch von den Vorstellungen darüber, welche Lern- und Verarbeitungsprozesse diagnostiziert und gefördert
werden sollen. Diese Vorstellungen haben sich erheblich verändert, seit sich in der Schriftsprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu untersuchen
und Vorläufermerkmale zu identifizieren, die für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb
wichtig sind. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen des Schriftspracherwerbs, der
Integration von Prozessmodellen des Lesens und Rechtschreibens in die Schriftspracherwerbsforschung und der Durchführung von theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es,
die Bedeutung einiger im Vorschulalter erfasster individueller Voraussetzungen näher zu bestimmen. Überwiegend aus dem angloamerikanischen Schulsystem stammende Studien belegen, dass solche frühen Interventionen das Potential haben, dem Auftreten von Leseschwierigkeiten vorzubeugen oder sie noch in der ersten Klasse der Grundschule abzufangen. Solche
Voraussetzungen sollten, falls sie vom Kind allein nicht ausreichend entwickelt werden können, vom familiären wie institutionellen Umfeld des legasthenen Kindes gefördert werden. An
dieser Stelle wird sowohl die für die elterliche Prävention bedeutsame Aufklärung und Beratung der Eltern durch pädagogische Beratung und elternbildende Maßnahmen sowie deren
Integration für die frühkindliche Förderung als auch die wichtige Funktion der Vorschulpädagogen und der Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene, besonders zu einem möglichst
frühen Zeitpunkt des kindlichen und meist noch unbewussten Schriftspracherwerbs, für das
Verständnis der Gesellschaft für die Problematik „Legasthenie“ betont. Im Folgenden wird
auf die frühkindliche Förderung in weiteren Teilbereichen des Lesens und Schreibens eingegangen und die damit zusammenhängende Relevanz der Wahrnehmung sowie der Wahrnehmungsverarbeitung für den Schriftspracherwerb sowie lerntheoretische Überlegungen pädagogisch-präventiver Intervention diskutiert.
Die weiteren Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die Arbeit Maria Montessoris
sowie auf die AFS-Methode nach A. Kopp-Duller im Kontext der pädagogischen Interventionsmöglichkeiten bei legasthenen Kindern, sie sollen einen Überblick über die Möglichkeiten
einer frühzeitigen Intervention, besonders durch das von Montessori erarbeitete Sinnesmaterial sowie durch das pädagogische Konzept der AFS-Methode, geben. Neben einer theoretischen Darstellung der konzeptuellen Grundlagen der Montessori-Pädagogik soll hier versucht
werden, das Konzept M. Montessoris auf Aktualität zu überprüfen und in den Kontext der
elterlichen Präventionsmöglichkeiten einzubetten. Es soll auf alle wichtigen Problembereiche
der Legasthenieprävention eingegangen werden, wobei die Förderung der Sinneswahrnehmung themenbedingt dominiert. Etwas ausführlicher werden verschiedene Möglichkeiten zur
8
1 Einleitung
präventiven Förderung und Intervention von Seiten der Eltern bei legasthenigefährdeten Kindern, besonders die Einbeziehung des Ansatzes, dass Eltern die Erkenntnisse Montessoris und
Kopp-Dullers selbst in einer präventiven häuslichen Förderung anwenden können, diskutiert.
Immer wieder wird in diesem Kontext besonders die Bedeutsamkeit, die eine Motivation betroffener Kinder mit sich bringt, sowie die Berücksichtigung ihrer Stärken und Schwächen
bezüglich einer angemessenen Förderung betont. Schließlich wird versucht, die elterlichen
Präventions- und Interventionsmöglichkeiten in den Prozess kindlicher Entwicklung einzubetten.
Da die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen immer wieder
unterschätzt wird, soll im Rahmen der vorliegenden Magisterarbeit und vor dem Hintergrund
der angeführten Thematik versucht werden, Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Prävention
legastheniebedingter
Schriftspracherwerbsschwierigkeiten
und
deren
Implikation
für
kindliche Entwicklungsprozesse bei legasthenen Kindern mit der Orientierung an
pädagogischem Handeln zu bestimmen sowie das Missverständnis, dass Pädagogen nur
spielen würden, auszuräumen. Folgende Thesen sollen im Besonderen als Basis der Arbeit
fungieren:
 Eine individuell an das Kind angepasste pädagogische Intervention ist kindgerechter
und somit hilfreicher und erfolgversprechender für das legasthene Kind als eine
therapeutische Hilfe.
 Legasthene Kinder haben das Recht auf Bildung und individuelle Förderung, statt
Selektion und Entmündigung durch Stigmatisierung zu erfahren.
Der Gegenstand dieser Magisterarbeit im Studiengang Erziehungswissenschaft ist aus
persönlicher Erfahrung im Umgang mit dem Phänomen Legasthenie und letztendlich aus den
daraus resultierenden Fragen entstanden: Was genau ist Legasthenie? Wann wird sie zum
Problem? Wie gehe ich als kompetenter Pädagoge mit diesem Thema um? Kann die
Pädagogik in diesem Problemkreis professionelle Hilfe leisten? Ohne einen Anspruch auf
Vollständigkeit zu erheben, hat sich die Autorin die Beantwortung dieser Fragen zum Ziel
gesetzt.
9
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Teil I
Multikausale Ursachenbereiche von Legasthenie
und Grundlagen des Schriftspracherwerbs
2
Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinärer Bereich, der Beziehungen zwischen Neurologie, Psychologie und Biologie erklärt und auch in den pädagogischen Bereich hineinwirkt, da
er sich mit den Auswirkungen neurologischer Prozesse auf Lernen und Verhalten befasst. Im
Rahmen der vorliegenden Arbeit muss auf eine Einführung in dieses umfangreiche Thema
verzichtet werden, daher sei diesbezüglich an dieser Stelle auf Milz (1996) verwiesen.
Die Entwicklung jedes Lebewesens vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung mit der
Umwelt, wobei die wechselseitige Beeinflussung von Bewegung und Wahrnehmung2 eine
wichtige Rolle spielt. Um aber Wahrnehmung und Bewegung sowie deren wechselseitige
Beziehung zueinander zu ermöglichen, ist ein funktionierendes Nervensystem (vgl. Milz
1999, S. 29ff.) erforderlich. Ohne ein Mindestmaß an neuropsychologischen Kenntnissen
werden manche Verhaltensweisen von Kindern nicht zu verstehen sein und man kann deshalb
auch nicht angemessen auf sie eingehen. In besonderer Weise erschließen sich durch diese
Kenntnisse auch die Sinnhaftigkeit und der Wert des Montessori-Materials im Rahmen der
heilpädagogischen Anwendung sowie der Arbeit mit legasthenen Kindern.
2.1 Grundlegende Annahmen zum Schriftspracherwerb
Dank Forschungen von Galaburda, Geschwind, Luria u.v.a. entstand im 20. Jahrhundert eine
Vielzahl von Abbildungen des menschlichen Gehirns, die Verarbeitungsgebiete für Tätigkeiten, Fertigkeiten oder Handlungen offenbarten und eine Zusammenarbeit der verschiedenen
Gehirnzentren bei komplexen Aufgaben darstellten (vgl. Hofmann/Sasse 2005). Inzwischen
ist in zahlreichen Untersuchungen (u.a. Frackowaik et al. 1997; Mazziotta et al. 2000) sehr
genau erforscht, in welchem Gehirnareal welche Informationen verarbeitet und daraus resultierende Reaktionen ausgelöst werden. Ist jedoch ein Areal aufgrund einer Läsion nicht fähig,
2
oder auf niedriger Stufe, auf der man noch nicht von Wahrnehmung sprechen kann, von Reizverarbeitung.
10
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
die entsprechende Informationsverarbeitung durchzuführen, so kann gegebenenfalls ein anderes Areal diese Funktion übernehmen, da das Gehirn bemerkenswerte Plastizität aufweist (vgl.
Hofmann 2005, in: Hofmann/Sasse 2005, S. 92).
Der Erwerb einer Schriftsprache ist ein bewusster und nicht angeborener Prozess, der erlernt
werden muss und nur in Verbindung mit dem bewussten Umgang mit Schrift funktioniert.
Das Erlernen der Schriftsprache ist ein kognitiver Prozess, bei dem die Kinder Regeln über
das Verhältnis von Sprache und Schrift entwickeln sowie Strategien zum Erlesen neuer Wörter bilden. Dieser Prozess stellt für Kinder zumeist eine große Herausforderung dar. Beim
Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bedarf es, anders als bei der Aneignung mündlicher
Sprache, die für die meisten Kinder relativ mühelos verläuft, einer gezielten Instruktion. Allerdings beginnt der Zugang zur Schrift in den meisten Kulturen nicht erst mit dem Schuleintritt, da Kinder unentwegt mit dem Phänomen graphischer Schriftzeichen konfrontiert sind
und in vielen Familien das Vorlesen eine wichtige Rolle einnimmt. Folglich begegnen Kinder
graphischen Schriftzeichen, die sie erkennen3 und auf diese Weise deuten können. Sie absolvieren einen Lernprozess, bei dem sie mehrere Stadien des Schrift- und Leseerwerbsprozesses
durchlaufen müssen (vgl. Dehn 1977, S. 282; Scheerer-Neumann et al. 1986, S. 89). Beim
Schriftspracherwerb steht ein Kind einigen grundlegenden Strukturmerkmalen gegenüber. Die
deutsche Sprache gehört zu den phonographischen Schriften, das bedeutet, dass lautliche Eigenschaften der gesprochenen Sprache vorrangig notiert werden. Jedoch wird nicht jeder Laut
von einem Buchstaben abgebildet. Die auf der Ebene der Phoneme und Grapheme bestehende
Korrespondenz ist auch hier nicht eindeutig (vgl. Kirschhock 2004, S. 45). Zum einen wird
die Beziehung zwischen Phonemen und Graphemen für einen Leseanfänger durch die phonetische Mehrdeutigkeit kompliziert4, zum anderen ergeben sich Probleme durch die graphemische Mehrdeutigkeit5. Diese unterschiedliche Schreibweise ist vor allem durch das für die
deutsche Sprache konstituierende Prinzip der Stammerhaltung bedingt. Im Wesentlichen dient
es der schnellen Wiedererkennung und damit der Leserfreundlichkeit.
Rechtschreibprozesse hingegen, die eine genaue orthographische Reproduktion erfordern,
unterliegen wesentlich langwierigeren Lernprozessen. Zunächst gab es in der Forschung zum
Schriftspracherwerb relativ willkürliche Vermutungen über die beim Lesen und Schreiben
ablaufenden Prozesse. Bis weit in die 70er Jahre hinein dominierte in der deutschsprachigen
Forschung ein Ansatz, der nach den psychologischen Grundfaktoren vor allem des Lesens
3
zuerst an sehr groben Merkmalen, z.B. dem Schriftzug etc.
wenn also ein Graphem für mehrere Phoneme steht.
5
wenn ein Phonem mit unterschiedlichen Graphemen oder Graphemclustern abgebildet wird.
4
11
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
suchte. Sowohl kognitive als auch nichtkognitive Merkmale des Lerners wurden zu Modellen
zusammengefügt, um die Lesefähigkeit zu erklären (sog. „additive Komponentenmodelle“,
vgl. hierzu Avramidou 2003, S. 33ff.). Bei Störungen war auch fraglich, dass die Ursachen
aller „Defizite“, unabhängig von der spezifischen Aufgabe und von allen anderen Einflussfaktoren (z.B. Unterricht), beim Lehrer vermutet wurden.
Es wird angenommen, dass Kinder als Vorstufe für die Leseentwicklung allmählich eine gewisse Sensibilität für die Merkmale schriftlicher Texte entwickeln. Zuerst scheint ihnen der
Vorgang des Lesens, den sie etwa bei ihren Eltern beobachten, unklar und sie haben Mühe,
ihn zu erklären. Erst langsam erkennen sie, dass die Schriftzeichen etwas mit den realen Objekten der Umwelt zu tun haben und Aspekte wiedergeben, die über das hinausgehen, was
Zeichnungen oder Bilder vermitteln. Sie lernen, dass die Anordnung der Wörter nicht willkürlich ist und bestimmten Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Parallel zu diesem Vorgang entwickelt
sich eine gewisse metalinguistische Bewusstheit6. Eine Gliederung der metalinguistischen
Bewusstheit, bezogen auf unterschiedliche Verarbeitungseinheiten, in vier allgemeine Kategorien nehmen Tunmer et al. (1984) vor. Zur metalinguistischen Bewusstheit zählen demnach
die phonologische Bewusstheit, die Wortbewusstheit, die syntaktische Bewusstheit und die
pragmatische Bewusstheit. Die phonologische Bewusstheit beschreibt u.a. die Isolierung von
Einzellauten. Diese Einzellaute, also Phoneme oder Silben, bilden das Fundament der
Sprachverarbeitung. Normalerweise ist ihre Verarbeitung so weit automatisiert, dass die
Aufmerksamkeit nicht auf diese Ebene gerichtet wird, wobei die Einsicht, dass unsere Sprache nach dem alphabetischen Prinzip funktioniert, oder zumindest, dass Wörter aus Phonemen
bestehen, grundlegend ist. Während Kinder etwa ab dem fünften Lebensjahr damit beginnen,
sprachliche Äußerungen selbst zu reflektieren, achten jüngere Kinder in ihren sprachlichen
Äußerungen hauptsächlich auf den inhaltlichen Aspekt. Dies schließt die zunehmende Fähigkeit, die Aufnahme und Verarbeitung von sprachlicher Information gezielt steuern und hilfreiche Strategien anwenden zu können, ein. Die Wortbewusstheit beschreibt die Fähigkeit,
Wörter als Grundeinheit der sprachlichen Mitteilung zu erkennen, sie also unabhängig von
ihrem zugehörigen Referenten und damit mit ihren speziellen Eigenschaften zu betrachten7.
Somit haben Kinder häufig ein implizites Wissen über die Gliederung der Sprache in Wörter,
wobei sie dazu tendieren, Wörter mit ihren Referenten gleichzusetzen (vgl. Klicpera/
6
Zu dem Begriff „metalinguistische Bewusstheit“ wird in der Literatur eine verwirrende terminologische
Vielfalt als Erklärung angeboten (vgl. hierzu Andresen 1985; Augst 1978; Schöler 1987; Daneman et al. 1988;
Wehr 1994).
7
z.B. die Länge der Wörter zu unterscheiden, Sätze in Wörter aufzugliedern, Synonyme und Antonyme zu
finden.
12
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 20). Erst mit allmählich zunehmender Vertrautheit
mit der Schrift bildet sich ein explizites Wissen über das Wort als solches heraus. Die syntaktische Bewusstheit ist das Erkennen und auch Korrigieren von Verletzungen der korrekten
Satzbildung, womit sie auch das Erkennen eines fehlenden Wortes und einer falschen Satzstellung beinhaltet. Demzufolge geht sie über die Bildung grammatischer Strukturformen hinaus. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Satzanalyse fallen Kindern Aufgaben zur Umstellung von Wörtern in Sätzen wie auch das Erfinden von Sätzen zu vorgegebenen Wörtern
schwer. Zudem sind den Vorschulkindern Funktionswörter wie „für“ oder „jedoch“ noch wenig vertraut, was damit zusammenhängt, dass diese Wörter keine unmittelbare Bedeutung
haben. Sie werden in dieser Entwicklungsphase häufig auch nicht als richtige Wörter erkannt
(vgl. ebd.). Die pragmatische Bewusstheit schließlich umfasst die Fähigkeiten, auf die Verständlichkeit einer Mitteilung zu achten sowie Zusammenhänge zwischen mehreren Sätzen,
also auch der gesamten Struktur eines Textes, zu erkennen. Es scheint, trotz des engen zeitlichen Zusammentreffens dieser Entwicklungen, eine phonologisch-syntaktisch-semantische
Reihenfolge im Erreichen der bewussten Kontrolle des sprachlichen Ausdrucks zu geben. Da
die phonologische Bewusstheit eine Form der Sprachrepräsentation voraussetzt, nämlich die
systematische Verwendung von Phonemen, bereitet ihre Ausbildung Schwierigkeiten.
Erste Prozessmodelle des Lesens und Schreibens wurden von Morton, der bereits 1969 eine
erste Arbeit über den Vorgang der Worterkennung beim Lesen veröffentlichte, entwickelt
(vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97). Dieser erste Entwurf wurde von ihm weiterentwickelt, und so veröffentlichte er 1979 sein „Logogen-Modell“ (Morton 1970, 1979, 1980;
Graf 1994, S. 46), das auch Vorstellungen über die beim Schreiben ablaufenden Prozesse beinhaltet (s. Abb. 1).
Viele darauffolgende Entwürfe basieren auf Mortons Modell oder wurden zumindest wesentlich davon beeinflusst (vgl. Graf 1994, S. 46). Die neuere Forschung griff zunehmend auf
Modelle aus der Informationsverarbeitung8 zurück, wobei eines der am häufigsten rezipierten
Modelle das von Coltheart (1978) stammende „Zwei-Wege-Modell“ war. Das Modell geht
zum einen von einem regelgeleiteten, indirekten Weg über das phonologische Rekodieren zur
Entschlüsselung der Wortbedeutung aus. Zum anderen führt ein direkter Weg von der gedruckten Wortvorlage zum Erkennen der Bedeutung im sog. inneren Lexikon. Neben lexikali-
8
Traditionell sind diese Modelle nach der Informationsverarbeitungstheorie entworfen, weshalb ihre Grobstruktur dem Schema Input, Verarbeitung, Output folgt. Als Input können z.B. gesprochene Sprache oder Schrift
dienen, die auf diverse Arten weiterverarbeitet werden. Der Output besteht beim Lesen aus Sprache oder Schrift
beim Schreiben (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 97ff.). Dabei sind Logogene Spracheinheiten, die den
mentalen Repräsentationen der Wortbedeutungen entsprechen.
13
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
schen Verarbeitungsmöglichkeiten von Wörtern sieht das Modell, ähnlich wie in der DualRoute-Theorie nach Coltheart (1978) auch die Umwandlung von Sprache in Schrift über die
Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln vor, wobei dieser Strategie hier nach Klicpera und
Gasteiger-Klicpera (1995, S. 99f.) nur eine untergeordnete Rolle zukommt. Das Zwei-WegeModell wird in den letzten Jahren, u.a. aufgrund seines Charakters und der Betonung expliziter Regelanwendungen beim Erlesen, kritisiert. Lese-Rechtschreibvorgänge auf der Ebene der
neuronalen Verbindungen, also konnektionistische Modelle (vgl. Klicpera/Schabmann/
Gasteiger-Klicpera 2007, S. 54f.), bilden Gegenentwürfe ab. Hierbei wird die Worterkennung
allein als Funktion der Verknüpfungsstärken der im Gedächtnis gespeicherten orthographischen Einheiten sowie deren phonologischen Entsprechungen erklärt. Coltheart et al. beantworten dies mit der Weiterentwicklung des Zwei-Wege-Modells in einem „Kaskadenmodell“
(Coltheart et al. 1993, Coltheart et al. 2001), einer computertauglichen Version des ZweiWege-Modells, mit dem es gelang, lautes Lesen am Computer erfolgreich zu simulieren (vgl.
ebd.), und das ihren Ausführungen nach mehr Erklärungswert für Lesevorgänge besitzt als
konnektionistische Modelle.
Schon relativ früh wurde versucht, das Erlernen des Lesens in unterscheidbare Stadien der
Entwicklung zu gliedern. Meist wurden von den Autoren drei bis vier verschiedene Phasen
unterschieden (vgl. Marsh et al. 1980). Explizit auf Informationsverarbeitungstheorien bezogene Stadienmodelle fanden besondere Beachtung (vgl. Ehri 1999)9. Bis das komplexe Regelwerk der Schriftsprache verinnerlicht ist und Lesen und Schreiben automatisiert gelingt,
sobald ein Kind also die Verknüpfung beim Lesen begriffen hat 10 und ein gewisser Automatisierungsprozess beginnt, erfordert das Lesen- und Schreibenlernen die Kenntnis zahlreicher
Regeln und ein jahrelanges Training. Zur Einteilung dieses Lernprozesses sei zur Verdeutlichung auf eine Untergliederung in drei wesentliche Stufen von Frith (1985), die in Anlehnung
an Marshs Theorie ein Drei-Phasen-Modell entwickelte, verwiesen.
Das Modell nach Frith (s. Abb. 5) ist ein Modell, auf das in der deutschsprachigen Leseforschung immer wieder Bezug genommen wird (vgl. hierzu auch Klicpera/Schabmann/
Gasteiger-Klicpera 2007, S. 25f.). Die Autorin unterscheidet drei Phasen: eine logographische, eine alphabetische und eine orthographische Phase. Sowohl Lesefertigkeiten als auch
das Wissen über die Rechtschreibung von Wörtern werden in drei Phasen erworben, die sich
9
Nach Ehri wird zwischen einer voralphabetischen Phase und drei alphabetischen Phasen unterschieden. Mit
bestimmten Modifikationen lassen sich die wesentlichen Phasen im Rahmen von Zwei-Wege-Modellen (vgl.
auch Coltheart 1978) mühelos als sukzessive Verbesserung lexikalischer und nicht-lexikalischer Subsysteme
interpretieren.
10
also Grapheme in Laute übersetzen und koartikulieren kann.
14
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
individuell unterschiedlich stark überlappen, doch das Lesen bildet dabei immer die Grundlage für bewusstes Schreiben11. In der logographischen Phase werden Wörter nur aufgrund globaler hervorstechender visueller Merkmale identifiziert (z.B. Anfangsbuchstaben), zunächst
werden nur Teile der zur Verfügung stehenden Buchstaben-Informationen beim Lesen beachtet12. Beim Schreiben werden ebenso lediglich die für die Kinder hervorstechenden Wortmerkmale in Schrift umgesetzt. Die logographische Phase erscheint also als ein Anhäufen von
Schreib- und Lesewörtern, auf die zurückgegriffen werden kann, während in der alphabetischen Phase die Lautstruktur des Wortes analysiert und umgesetzt wird. In dieser Phase werden die Wörter genauer und somit buchstabenweise erlesen, was allerdings nur dann funktioniert, wenn zwischen Buchstaben und entsprechenden Sprachlauten Beziehungen gebildet
werden können. So kann das gelesene Wort durch das Aussprechen erkannt werden, was das
selbstständige Lesen ermöglicht. Hier wird das Wissen über die Zuordnung von Buchstaben
und Phonemen systematisch beim Erlesen der Wörter eingesetzt. Somit findet der Erwerb von
Wissen über Phonem-Graphem- und Graphem-Phonem-Korrespondenz statt und es werden
Wörter mit irregulärer Graphem-Phonem-Zuordnung regularisiert. Unbekannte Wörter und
„Nonwords“ können gelesen werden, wobei die Silbenstruktur noch keine Rolle spielt. Oft
werden in dieser Phase Wörter lautgetreu geschrieben, weil besondere Wortmerkmale noch
nicht beachtet werden. Die orthographische Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder
eine vollständige Repräsentation der Buchstabenfolge aufbauen. Dazu kommt eine Automatisierung des phonologischen Rekodierens mit einer deutlichen Erhöhung der Lesegeschwindigkeit. Die wortspezifischen Kenntnisse der einzelnen Wörter werden zunächst durch das
Lesen gefestigt. Hierdurch kommt es zu einem unbewussten, dem orthographischen Lesen. In
dieser Lesephase wird ein so genanntes orthographisches Lexikon aufgebaut, wodurch ein
rascheres Worterkennen möglich wird. In diesem inneren Lexikon sind Buchstabenfolgen,
Aussprache, ganze Wortstämme, Gemeinsamkeiten von Wortgruppen, die Bedeutung von
Wörtern usw. gespeichert. Kann das Wort aus dem Lexikon abgerufen werden, muss es nicht
mehr erlesen werden. Dieses innere Lexikon ist eine der Voraussetzungen für das Rechtschreiben. Das Kind baut sich also beim Erlernen des Schreibens weiter sein inneres Lexikon
auf, was wiederum den Schreibvorgang automatisiert und beschleunigt. Aus pädagogischer
Sicht sind die Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen nun als Störungen in diesem
komplexen Lernprozess anzusehen und nicht mehr als Krankheitssymptome.
11
Zur ausführlicheren Betrachtung der verschiedenen Stufen der Schriftsprachentwicklung wird exemplarisch
auf Dehn (1994, 2006), Valtin (1993, 1997) und Spitta (1997) verwiesen.
12
wie bspw. Wortanfänge oder Wortlängen.
15
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Ein weiteres Modell für die Entwicklung des Lesens ist bspw. das Kompetenzentwicklungsmodell (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 26). Beim Versuch, das Phasenmodell wie das von Frith (1985) auf den deutschen Sprachraum zu übertragen (z.B. Günther 1986), ist vor allem die Annahme eines längeren logographischen Stadiums nicht unbestritten geblieben.
Pugh et al. (2001) beschreiben drei unterschiedliche Verarbeitungskreise: den dorsalen Zirkel
(temporo-parietal), den ventralen Zirkel (occipito-temporal) und die anteriore Region (Ausführlicheres hierzu: vgl. Hofmann/Sasse 2005, S. 92). Auch hier wird angenommen, dass die
Repräsentation eines Wortes in einer Art innerem Lexikon gespeichert wird. Anhand von
Merkmalen kann das Wort zukünftig zunehmend automatisiert erkannt werden. Diese annähernd automatisierte Verarbeitung, wie sie bei geübten und erfahrenen Lesern beobachtet
werden kann, erfolgt nicht mehr im dorsalen, sondern im ventralen Verarbeitungszirkel.
Shaywitz et al. (2002) konnten den Bedeutungsgewinn der Verarbeitung im ventralen Zirkel,
der Lesefähigkeit von Kindern mit normaler Leseentwicklung entsprechend, nachweisen. Im
dorsalen Zirkel werden ungeläufige Wörter auf phonologischer Basis erlesen 13, während geläufige Wörter im ventralen Zirkel verarbeitet und erkannt werden. Für die zunehmende Automatisierung des Worterkennens wird also der ventrale Zirkel aktiviert. Somit verschiebt sich
mit steigenden Lesefertigkeiten der Aktivierungsschwerpunkt vom dorsalen hin zum ventralen Zirkel. Grundlegende Dekodierungs- und Analysefähigkeiten scheinen auf einer intakten
Organisation des dorsalen Verarbeitungszirkels aufzubauen wie auch davon abzuhängen (vgl.
Shaywitz et al. 2002). Im Gegensatz zum dorsalen Zirkel, in dessen Zentrum die Lautverarbeitung steht, ist im ventralen Zirkel die visuelle Verarbeitung von zentraler Bedeutung. Diese
wird als sehr schnelle, gedächtnisbasierte Wortidentifikation auf visueller Grundlage beschrieben, die das Aufmerksamkeitspotential nur gering belastet (vgl. Pugh et al. 2001, S.
482f.). Hierbei wird die Struktur eines visuell aufgenommenen Stimulus den im Gedächtnis
verfügbaren Strukturen angeglichen; ein Verarbeitungsmechanismus, den der kompetente
Leser nützt.
Wie für das Lesen wurde auch für das Rechtschreiben von verschiedenen Autoren schwerpunktmäßig eine Entwicklung in unterscheidbaren Phasen angenommen (vgl. Marsh et al.
1980; Frith 1985; Dehn 1984). Jedoch blieb die Annahme von deutlich unterscheidbaren Phasen sowohl beim Lesen als auch beim Rechtschreiben nicht kritiklos, es stellen andere Autoren diese serielle Abfolge der Stufen in Frage und postulieren stattdessen eine parallele, sich
13
Leseanfänger erlesen Wörter Buchstabe für Buchstabe und aktivieren dazu den dorsalen Zirkel.
16
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
wechselseitig beeinflussende Entwicklung der alphabetischen und orthographischen Strategien (vgl. hierzu Lennox/Siegel 1998; Martinet/Valdois/Fayol 2004). Martinet et al. (2004)
schließen aus ihrer Untersuchung, dass auch schon in diesem frühen Stadium des Schriftspracherwerbs zumindest Spuren orthographischer Repräsentationen eingespeichert werden
und
sich
somit
lexikalisches
Wissen
und
Wissen
über
die
Graphem-Phonem-
Korrespondenzen simultan entwickeln. Die Annahme von deutlich unterscheidbaren Phasen
ist allerdings auch beim Rechtschreiben nicht unwidersprochen geblieben (z.B. Lennox/Siegel
1998). Speziell im deutschsprachigen Raum widersprechen die Ergebnisse z.T. den Erwartungen, die im Rahmen von Phasenmodellen über die Entwicklung des Rechtschreibens formuliert wurden.
Im Vergleich zum Lesenlernen wird das Rechtschreiben durch zwei Sachverhalte erschwert:
Für ein gehörtes Phonem ist die Auswahl an Graphemverbindungen größer als die Auswahl
der Phoneme für ein Graphem beim Lesen. Zudem ist das zweite tragende Prinzip unserer
Sprache, das Stammerhaltungsprinzip, zwar durch die erleichterte Wiedererkennung von
Wörtern ähnlicher Bedeutung leserfreundlich, jedoch ist es nicht rechtschreibfreundlich, da es
keine durchgängig gleiche Schreibung bei gleich klingenden Lauten erlaubt. Daher verwundert es nicht, dass Kinder normalerweise schneller kompetent lesen als sie vergleichsweise
rechtschreiben14. Im Laufe der theoretischen Diskussion wurde eine differenziertere Ansicht
der Entwicklungsmodelle gewonnen, der auch in der Praxis Bedeutung zukommt. Zum einen
ist davon auszugehen, dass die genannten Stadien nicht in sich abgeschlossen und aufeinander
aufbauend durchlaufen werden, da – wie trotz zeitlicher Vorordnung der alphabetischen Strategie15 anzunehmen ist – doch je nach Situation und je nach Schwierigkeit des Wortmaterials
auch bei primär orthographisch orientierter Zugriffsform die alphabetische Zugriffweise die
grundlegende und jederzeit verfügbare bleibt. Zum anderen hat sich mittlerweile das Missverständnis, dass sich die schriftsprachliche Entwicklung beim einzelnen Kind völlig selbstständig vollziehen würde, relativiert. Die Erkenntnis, dass jede Art von Lernen ein spezifischer
Prozess ist, bedeutet nicht, dass ein anregungsreicher und leistungsstimulierender Unterricht
sowie die Konfrontation mit der normgerechten Schriftsprache nicht ebenso wichtig wäre, um
die kindliche Entwicklung anzuregen und voranzutreiben.
„Pädagogik ist derzeit so konzipiert, dass Kinder und Jugendliche auf Anforderungen und
gesellschaftliche Bedingungen vorbereitet werden sollen, die sich heute erst in Ansätzen ab-
14
An dieser Stelle sei auf weiterführende Literatur verwiesen (vgl. hierzu u.a. Kirschhock 2004;
Richards/Berninger et al. 2005). Hier werden auch die für das Lesen- und Schreibenlernen so wichtigen
Voraussetzungen der visuellen, sprachlichen sowie auditiv-artikulatorischen Wahrnehmung dargestellt.
15
bei Scheerer-Neumann: phonemische Strategie.
17
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
zeichnen.“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 90). Die Öffnung der Pädagogik für Erkenntnisse aus der
Neurologie und Gehirnforschung scheint angesichts dieses Bewusstseins unabdingbar zu sein.
Eine solche Öffnung kündigt die Beobachtung der neurowissenschaftlichen Forschung mit
ihren Fortschritten und Ergebnissen an. Hier anknüpfend wird die neurowissenschaftliche
Forschung auf ihren möglichen Beitrag zur Unterstützung schulischen Lernens überprüft. Die
Kompetenz für kindliches Lernen ohne Einschränkung verbleibt jedoch bei Pädagogen und
Didaktikern (vgl. a.a.O., S. 91). Pädagogen ist seit Jahren bekannt, dass eine gut ausgebildete
phonologische Bewusstheit eine unabdingbare Prämisse für kompetenten Schriftspracherwerb
ist. In mehreren Untersuchungen zur Identifikation von sog. Risikokindern konnte belegt
werden, dass phonologische Bewusstheit im Verlauf des ersten Schuljahres von Kindern erworben werden muss, wenn sie nicht schon bei Schuleintritt vorhanden ist. Aus neurologischer Sicht ist phonologische Bewusstheit das Verarbeitungsergebnis eines intakten dorsalen
Zirkels, was aus pädagogischer Sicht eine erworbene Sprachkompetenz bedeutet. Verbindet
man Erkenntnisse aus Gehirnforschung und Pädagogik, so entsprechen die für ausgeprägte
phonologische Bewusstheit erforderlichen Fähigkeiten den Mechanismen eines intakten dorsalen Verarbeitungszirkels.
2.2 Wissenschaftstheoretische Überlegung
phonologischen Bewusstheit
zum
Konzept
der
Zu Beginn des Schriftspracherwerbs können Kinder lediglich mit groben lautlichen Strukturen unserer Sprache umgehen16. Erst mit dem systematischen Schriftspracherwerb bilden sich
die Möglichkeiten aus, mit einzelnen Lauten der gesprochenen Sprache umzugehen, sie zu
verbinden bzw. voneinander zu trennen. Der Begriff „Phonologie“ stammt aus der Sprachwissenschaft und beschreibt ein Teilgebiet, das sich mit der Lehre von der Funktion der Sprachlaute beschäftigt (vgl. hierzu Duden 2007, S. 1283). In der Literatur wird die phonologische
Bewusstheit nicht einheitlich definiert und gebraucht. „Je nach Art der inhaltlichen Ausrichtung und Schwerpunktsetzung lassen sich bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Definitionen des Konstruktes […] finden“ (Jansen 1992, S. 11). Von einigen Forschern wird der
Begriff mit Phonembewusstheit gleichgesetzt, synonym wird auch von phonemischer Bewusstheit gesprochen (vgl. hierzu z.B. Tunmer/Rohl 1991). In diesem Fall wird phonologische Bewusstheit als die Einsicht in die phonematische Sprachstruktur und die Fähigkeit,
Phoneme zu erkennen und kontrolliert mit ihnen zu arbeiten, angesehen. Die Mehrzahl der
16
Silben, Anlaute und Reime.
18
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Autoren definiert das Konstrukt breiter. Häufiger wird der Begriff als Sammelbegriff verwendet, unter dem verschiedene Komponenten oder Levels der phonologischen Bewusstheit subsumiert werden (vgl. hierzu z.B. Goswami/Bryant 1990; Jansen 1992 u.a.). Gombert (1992)
definiert metaphonological ability als die Fähigkeit, verschiedene phonologische Einheiten
und Sprachäußerungen zu erkennen und diese Einheiten intentional zu manipulieren. Er betont, dass dieser Bereich der Sprachbewusstheit17 heterogen ist. Bentin (1991) unterscheidet
zwischen früher phonologischer Bewusstheit und später phonemischer Bewusstheit. Auch
Morais (1991) differenziert zwei Formen von phonologischer Bewusstheit, die holistische und
die analytische18.
Dieser kurze Überblick über die phonologische Bewusstheit macht deutlich, dass es sich um
kein einheitliches Konstrukt handelt, sondern dass darunter vielmehr unterschiedliche metaphonologische Fähigkeiten bzw. Leistungen in Bezug auf größere und kleinere Spracheinheiten verstanden und gefasst werden. In Übereinstimmung mit anderen Forschern (Goswami/
Bryant 1990; Jansen 1992; Küspert 1998) wird hier eine weitere Definition zugrunde gelegt.
Phonologische Bewusstheit umfasst demnach die grundlegende Fähigkeit, vom Inhalt sprachlicher Äußerungen abzusehen und sich den formalen Merkmalen zuzuwenden, weiters die
kognitive Einsicht, dass Wörter aus unterschiedlichen phonologischen Einheiten aufgebaut
sind, sowie die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten unterhalb der Bedeutungsebene zu erkennen und damit intentional und kontrolliert zu operieren. Einfach ausgedrückt ist der Begriff
phonologische Bewusstheit als die Fähigkeit, die einzelnen Segmente der Sprache zu erkennen und wahrzunehmen, also den Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu
haben, zu bezeichnen.
Bereits in den 1990er Jahren wurde das Konzept der phonologischen Bewusstheit präsentiert
(Skowronek/Marx 1989), als zentrales Konstrukt der Schriftspracherwerbsforschung in nahezu allen Studien im Zusammenhang mit LRS und Legasthenie untersucht und in verschiedenen Varianten erfasst. Es wurde festgestellt, dass selbst bei den Prozessen des Lesens und
Schreibens, die der Nutzung des Langzeit- und Kurzzeitgedächtnisses bedürfen, phonologische bzw. phonetische Aspekte von Bedeutung sind. Deutlich wurde aber auch, dass Lesen
und Schreiben einerseits gewisse Qualitäten in der phonologischen und phonetischen Verarbeitung der gesprochenen Sprache erfordert, andererseits, dass Schriftsprachnutzung in hohem
17
Sprachbewusstheit wird unterschiedlich definiert und je nach Forschungsschwerpunkt unter verschiedenen
Aspekten betrachtet. Da eine tiefergehende Auslegung den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde, wird u.a.
auf Januschek (1981), Gombert (1992), Blässer (1994), Nickel (2006) verwiesen.
18
Holistische Bewusstheit bezeichnet u.a. die Beurteilung von Wortbetonungen. Analytische Bewusstheit
umfasst die Fähigkeit, lautstrukturelle Einheiten wie Silben als konstituierende Elemente sprachlicher Äußerung
zu isolieren und zu analysieren.
19
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
Maße diese Prozesse erst entwickelt und dann verfeinert und optimiert. Damit bietet sich das
Konstrukt der phonologischen Bewusstheit als ideale Basis für die Prädiktion und Prävention
von Problemen im frühen Schriftspracherwerb an. Phonologische Bewusstheit kann darüber
hinaus hervorragend genutzt werden, um den Übergang von der Vorschriftlichkeit zur Schriftlichkeit konzeptionell zu fassen (Marx 1997; Scheerer-Neumann 1997; Schneider 1997).
In den letzten Jahren wurde das Thema Lesen- und Schreibenlernen in vielen Ländern wissenschaftlich intensiv erforscht. Zusätzlich zur Erkenntnis, dass beim Lesen- und Schreibenlernen auf auditive, visuelle, motorische und sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgegriffen werden muss, identifizierte die neuere Forschung weit spezifischere Vorhersagemerkmale, die unter dem Oberbegriff phonologische Informationsverarbeitung zusammengefasst
wurden. Dabei wurden neben der phonologischen Bewusstheit weiterhin die Komponenten
des sprachgebundenen Arbeitsgedächtnisses und der verbalen Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit als theoretisch und praktisch bedeutsam angenommen (vgl. Marx 1997;
Schneider 1989, 2004; Wagner/Torgesen 1987). Inzwischen hat sich in einer Reihe von Langzeitstudien bestätigen lassen, dass Merkmale der im Kindergartenalter erfassten phonologischen (sprachlichen) Bewusstheit im engeren und weiteren Sinne die späteren Lese- und
Rechtschreibleistungen in der Grundschule bedeutsam vorhersagten (z.B. Landerl/Wimmer
1994; Schneider/Näslund 1993). Die beeindruckendsten Ergebnisse beziehen sich auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen Voraussetzungen
sind, die so genannten Vorläufermerkmale des Schriftspracherwerbs. Die phonologische Bewusstheit hat sich als wichtigstes spezifisches Vorläufermerkmal des Schriftspracherwerbs
erwiesen. Die Vorläuferhypothese hat durch Längsschnittstudien (vgl. hierzu aus dem englischsprachigen Raum z.B. Wagner/Torgesen 1987; Tunmer/Rohl 1991; aus dem deutschsprachigen Raum z.B. Landerl/Wimmer 1994), aufschlussreichere Trainingsstudien (vgl.
hierzu z.B. Blachman 1997) sowie vergleichende Studien (vgl. hierzu z.B. Landerl 1996) mit
leseschwachen und leseunauffälligen Kindern empirische Unterstützung bekommen. Die Studie von Wimmer und Hartl (1991) ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass auch bei leserechtschreibschwachen Kindern der zweiten Klasse die basalen Fähigkeiten der phonologischen Bewusstheit so weit ausgebildet sind, dass deren Förderung keine positive Wirkung
mehr zeigt. An dieser Stelle sei ergänzend die Konsequenzhypothese erwähnt, wonach phonologische Bewusstheit erst durch die Einführung des Kindes in ein alphabetisches Schriftsystem entsteht und als bloßes Fehlerprodukt des schulisch gesteuerten Schriftspracherwerbs
angesehen wird (vgl. hierzu Günther 1998). Laut Interaktionshypothese lässt sich der Zusam-
20
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
menhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Schriftspracherwerb am besten als reziproke Ursächlichkeit beschreiben (vgl. hierzu Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995)19.
Insbesondere im deutschsprachigen Raum wurden zahlreiche Studien durchgeführt, mit denen
die Beeinflussbarkeit der phonologischen Bewusstheit in Vorschule und Schule geprüft wurde. Schneider et al. konnten mit der Würzburger Längsschnittstudie beeindruckende Belege
für die Wirksamkeit vorschulischer Prävention, die die Verbesserung der phonologischen
Bewusstheit zum Ziel hat, liefern (Schneider et al. 1994, 1997, 1998, 2000). Darüber hinaus
zeigen die Studien von Blumenstock (1979) und Mannhaupt (1992), dass die Unterstützung
phonologischer Bewusstheit zu Beginn des Schriftspracherwerbs zu positiven Effekten für das
kindliche Lernen führt. Allerdings sollten die Inhalte dieser schulischen Förderung bereits den
Umgang mit Schriftsprache beinhalten und höhere Formen phonologischer Bewusstheit20 in
den Vordergrund stellen.
Die phonologische Bewusstheit stellt nur einen wesentlichen Bereich der sprachlich-kommunikativen Entwicklung sowie des Lesen- und Schreibenlernens dar, als eine unabhängige
Komponente hat sie aber in der Spracherwerbsforschung besondere Beachtung gefunden.
Nach engem Begriffsverständnis kann die phonologische Entwicklung als die Aneignung des
nicht direkt beobachtbaren, abstrakten phonologischen Systems der Muttersprache angesehen
werden. Wenn es um das Lesen- und Schreibenlernen geht, stellt die phonologische Bewusstheit hohe Anforderungen. „Im Rahmen des Schriftspracherwerbs müssen aus der gesprochenen Sprache linguistische Einheiten ausgebildet werden, die aus dem kontinuierlichen Verlauf
des akustischen Ereignisses nicht direkt gewonnen werden können“ (Trossbach-Neuner 1992,
S. 98). Beim Erwerb von alphabetischen Schriftsystemen kommt der Ausgliederung von Phonemen und ihrer Zuordnung zu Graphemen eine zentrale Bedeutung zu. Für das erfolgreiche
Lesen- und Schreibenlernen ist es aber auch wichtig, dass die Kinder Beziehungen zwischen
größeren Einheiten der gesprochenen Sprache und der geschriebenen Sprache erkennen lernen. Hierbei handelt es sich um die formale Struktur, um den lautlichen Aufbau, den Klang
eines Wortes. Wörter können in Silben und einzelne Phoneme zergliedert werden, was für den
geübten Leser eine mehr oder weniger triviale Einsicht ist, ist für beginnende Leser keineswegs selbstverständlich. Das höchste Ziel der phonologischen Bewusstheit ist das Heraushören einzelner Laute aus einem Wort. Ein Kind verfügt über phonologische Bewusstheit, wenn
19
Die vorliegende Arbeit schließt sich der Vorläuferhypothese an. Phonologische Bewusstheit im weiteren Sinn
(Reimpaare erkennen, Silben zusammensetzen, Silben segmentieren) besteht demnach schon vor dem Einführen
des Kindes in ein alphabetisches Schriftsystem, während phonologische Bewusstheit im engeren Sinn (An-/ Endlaute vergleichen, Phonemsegmentierung, Laute verbinden/Synthese) durch das Einführen in ein alphabetisches
Schriftsystem entwickelt, vertieft und optimiert wird.
20
Lautanalyse und Lautsynthese.
21
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
es ein Gespür für den Klang der gesprochenen Sprache entwickelt hat. Dabei geht es nicht nur
darum, dass es entdeckt, dass einer Gruppe gesprochener Laute ein bestimmtes Phonem zuzuordnen ist. Das Kind muss auch lernen, mit Phonemen als abstrakte Spracheinheiten analytisch und synthetisch umzugehen. Es muss also das Verständnis und die Anwendung des alphabetischen Prinzips implizieren und sich der Phoneme bewusst werden. Es zeigt sich, dass
es sich dabei um eine relativ schwierige Entwicklungsaufgabe handelt, die von manchen Kindern nur mit Mühe zu bewältigen ist. Allerdings scheint das Rechtschreiben stärker von der
phonologischen Bewusstheit abhängig zu sein als das Lesen. Sogar in höheren Klassen konnte
bei schwachen Rechtschreibern ein Defizit in den phonologischen Kompetenzen nachgewiesen werden (Marx et al. 2001).
Für das Ausbilden einer adäquaten phonologischen Bewusstheit ist neben dem Aspekt der
Entwicklung auch die Regelmäßigkeit des jeweiligen schriftsprachlichen Systems von wesentlicher Bedeutung. Dies gilt vor allem für die erst spät herausgebildeten Fertigkeiten. Phonologische Bewusstheit besteht also aus vielen Teilfertigkeiten und ist keineswegs eindimensional, sodass man heute wohl davon ausgehen muss, dass manche dieser Teilfertigkeiten bei
vielen Kindern schon vor dem Erstleseunterricht recht gut entwickelt sind, andere sich erst
mit dem Erlernen der Schriftsprache herausbilden. So fällt es jüngeren Kindern im Allgemeinen leichter, in Silben zu segmentieren als in Phoneme (vgl. dazu Goswami 2000a). Im Gegensatz hierzu steht das Sprachverständnis, das keinesfalls mit der phonologischen Bewusstheit gleichgesetzt werden darf, da sich dies auf die Bedeutung eines Wortes oder einer Aussage, und nicht auf dessen formale Struktur, bezieht. In der kindlichen Sprachentwicklung geht
es darum, die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen zu kennen, um verstehen und sich
mitteilen zu können. Die phonologische Bewusstheit eines Kindes kann man bereits im Vorschulalter testen lassen und dabei feststellen, ob für dieses Kind eine positive Entwicklung für
das spätere Lesen- und Schreibenlernen zu prognostizieren ist oder ob etwa das Risiko einer
späteren Legasthenie besteht. Sollte dieser vorschulische Test ergeben, dass für das Kind das
Risiko einer Legasthenie besteht, sollte es durch eine gezielte spielerische Förderung vor der
Einschulung vor diesem Schicksal bewahrt werden.
Innerhalb der phonologischen Bewusstheit gibt es die alphabetische Stufe des Lesen- und
Schreibenlernens, bei der das Kind bereits festgestellt hat, dass jeder Laut einen zugehörigen
Buchstaben hat und umgekehrt. Auf dieser Stufe schreibt das Kind, indem es das Gehörte in
die einzelnen Laute zerlegt und dann jedem Laut den passenden Buchstaben zuordnet. Diese
Fähigkeiten sind für das spätere Lesen- und Schreibenlernen von höchster Bedeutung.
Schon ab dem Alter von etwa drei Jahren setzen sich Kinder mit dem Klang der gesprochenen
Sprache auseinander. So können sie bspw. reimen bzw. Reime erkennen (Mutter – Butter)
22
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
und bald darauf Wörter in Silben zerlegen – z.B. beim Singen die Silben der Wörter
mitklaschen (E-le-fant) – und schließlich sogar die einzelnen Laute innerhalb eines Wortes
erkennen. Im Kindergarten wird ganz nebenbei spielerisch die Fähigkeit, mit Reimen und
Silben umzugehen, geübt, bspw. durch Nachsprechen und Einüben von Liedertexten und
kleinen Gedichten sowie durch Singen und rhythmisches Mitklatschen. Die Kinder kennen
einzelne Kinderreime und können oft auch schon feststellen, ob zwei Wörter am Ende gleich
klingen, sich also reimen. Dieses Verständnis von Silben und Reimen bildet die grundlegende
Eigenschaft, das Fundament für das spätere Erkennen der einzelnen Laute eines Wortes.
Jedoch wird im Vorschulalter nicht nur das Hören sowie das Analysieren des Gehörten, also
der auditive Kanal, geübt, sondern auch im visuellen und motorischen Bereich, das Sehen und
Bewegen betreffend, entwickelt sich in dieser Phase vieles, was für das spätere Lesen- und
Schreibenlernen grundlegend ist (vgl. Küspert 2005, S. 43f.). Kindergartenkinder bilden ihre
visuelle Wahrnehmung durch das Betrachten von Bildern aus, während sie sich auf bestimmte
Details konzentrieren und mit den Augen Linien und Formen nachfahren. Durch Malen und
Basteln wird unbewusst die Feinmotorik geübt. Außerdem haben Kinder großes Interesse
daran, ihren eigenen Namen schreiben zu können, sie ahmen das Schreiben von Erwachsenen
nach, indem sie Nachrichten und „Botschaften“ auf Papiere kritzeln.
In der Schule wird phonologische Bewusstheit beim Lesen- und Schreibenlernen vermittelt.
Für etliche Kinder ist jedoch die dafür aufgewendete Zeit nicht lang genug und die Übungen
sind nicht intensiv genug, um stabile Erkenntnisse über das Zerlegen der Sprache und das
Zuordnen der entsprechenden Buchstaben erwerben zu können. Somit sind Probleme beim
Lesen- und Schreibenlernen vorprogrammiert. Die deutsche Schriftsprache ist eine alphabetische Sprache, d.h., Laute werden beim Schreiben in entsprechende Buchstaben transkribiert
und auch umgekehrt. Die deutsche Schriftsprache ist sehr lautgetreu, es gibt also einen engen
Zusammenhang zwischen den Lauten und den zugehörigen Buchstaben. Demzufolge werden
Wörter, die ähnlich geschrieben werden, auch ähnlich ausgesprochen. Neben den alphabetischen Schriftsystemen gibt es noch andere Schriftsysteme, z.B. die logographische Schrift.
Ein Beispiel hierfür ist das Chinesische. Hier werden ganze Wörter oder Ausdrücke durch
Bildzeichen repräsentiert, eine Legasthenie ist in diesem Schriftsystem nicht bekannt (vgl.
Küspert 2005, S. 84).
Kinder mit phonologischen Schwächen und nicht altersgemäßen metaphonologischen Fähigkeiten zeigen in der Schule frühe Probleme bei der alphabetischen Erwerbsphase, die der entscheidende Schritt auf dem Weg zum erfolgreichen Lesen- und Schreibenlernen ist. Phonologische und metaphonologische Defizite erschweren nicht nur die Aneignung von Wissen über
Graphem-Phonem-Korrespondenzen, sondern sie haben auch ungünstige Auswirkungen auf
23
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
die Anwendung dieses Wissens beim Lesen- und Schreibenlernen im Sinne der alphabetischen Strategie. Leseschwache Kinder haben schon im Vorschulalter relevante metaphonologische Schwierigkeiten und sind dadurch nur unzureichend auf den Schriftspracherwerb in der
Schule vorbereitet.
Eine weitere Dimension, die oft betroffen ist, ist das Leseverständnis. Eine effiziente Worterkennung ist wesentliche Voraussetzung für das Satz- und Textverständnis. Eine mühsame und
ineffiziente Worterkennung aufgrund von phonologischen und metaphonologischen Schwierigkeiten wird aber gerade als das zentrale Problem von vielen lese-rechtschreibschwachen
Kindern gesehen. Die mühsame Worterkennung hat negative Effekte auf das Textverständnis,
welches durch anderweitige Sprachverarbeitungsschwächen zusätzlich beeinträchtigt werden
kann (vgl. Catts 1989). Diese Kinder können durch die Auseinandersetzung mit der Schrift
allein – d.h. ohne spezielle Förderung – ihren Rückstand in der phonologischen Bewusstheit
nicht aufholen. In einem Erstleseunterricht, in dem phonemanalytischen Übungen ausreichend
Raum gewidmet wird und Graphem-Phonem-Korrespondenzen systematisch eingeführt werden, können lese-rechtschreibschwache Kinder zwar beachtliche metaphonologische Fortschritte verzeichnen, ihre phonemanalytischen Leistungen aber bleiben von Anfang an deutlich hinter jenen von durchschnittlich und gut lesenden Kindern zurück. Ohne spezifische
Förderung hält der Rückstand von schriftsprachgestörten Kindern bis in die höheren Klassen
an.
Aus einem Risikokind für Legasthenie muss kein Schulversager werden. Ein wissenschaftlich
überprüftes Trainingsprogramm für den Vorschulbereich hilft, die Defizite aufzuholen, und es
gibt dem Kind die Chance zu erfolgreichem Lesen- und Schreibenlernen. Küspert und Schneider (1999) konnten in Langzeitstudien nachweisen, dass ein bereits im Vorschulalter durchgeführtes, gezieltes Training auditiver Teilfunktionen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens
einer LRS bei Risikokindern um bis zu 80% mindern kann. Daher sollte eine entsprechende
Störung möglichst rasch behandelt werden.
2.3 Veränderte Schriftsprachentwicklung legasthener Kinder
Aus pädagogischer Sicht ist es üblicherweise belanglos, welche Funktion in welcher Gehirnregion angesiedelt ist, doch sind für Pädagogen jene Untersuchungen, die Gehirnaktivitäten
beim Schriftspracherwerb aufklären, interessant. So zeigen verschiedene Untersuchungen
(vgl. u.a. Shaywitz et al. 2002; Pugh et al. 2000; Rumsey et al. 1997a), dass der Lesevorgang
aus mehreren komplexen Verarbeitungsbereichen besteht, „die visuelle Stimuli, BuchstabenLaut-Beziehung, Worterkennung, Wortbedeutung und weitere für den Lesevorgang bedeutsa24
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
me Funktionen umfassen“ (Hofmann/Sasse 2005, S. 92), und dass beim Lesevorgang verschiedene Verarbeitungskreise für verschiedene Arten der Verarbeitung aktiviert werden (vgl.
Eden/Zeffiro 1998). Die Aktivitäten bestimmter Gehirnareale während des Lesens können mit
bildgebenden Verfahren gemessen werden, wobei bei Kindern, bei denen Legasthenie bzw.
LRS diagnostiziert worden war, ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster beim Lesen festgestellt wurde. Jedoch betonen amerikanische Forscher, dass Legasthenie kein neurobiologisches Schicksal ist, sondern Umweltfaktoren eine entscheidende Bedeutung zukommt und
sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten bei einem Teil der Kinder nach angemessener
Förderung sogar wieder normalisieren können, was mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen ist (vgl. Berninger/Richards 2002).
Das Phänomen des gestörten Schriftspracherwerbs wird seit mehr als 100 Jahren wissenschaftlich untersucht, wobei der Ertrag erst in den letzten drei Jahrzehnten bedeutsam scheint.
Bis in die 70er Jahre hinein dominierte in der Lese-Rechtschreibforschung die Vorstellung,
dass psychologische Grundfaktoren die schriftsprachlichen Fertigkeiten steuern würden (vgl.
Kirschhock 2004, S. 24). Das Lesen und Schreiben wurde als „eine Hierarchie von Teilleistungen gesehen, die additiv aufeinander aufbauen“ (ebd.). Somit wurde ein Versagen im Lesen bzw. Rechtschreiben auf eine Funktionsschwäche, also auf schriftsprachunabhängige Bereiche im kognitiven Bereich21 zurückgeführt.
Ein entscheidender Fortschritt der Forschung bestand darin, die frühe Phase des normalen
Schriftspracherwerbs genauer zu untersuchen und dabei nicht länger von der Annahme, der
Schuleintritt stelle erst den Beginn des Schriftspracherwerbs dar, auszugehen. Daraufhin konzentrierte sich die psychologische Forschung insbesondere auf die Identifizierung so genannter Vorläufermerkmale oder Teilfertigkeiten, die für den Erfolg eines Kindes beim Lesen- und
Schreibenlernen von spezifischer Relevanz sind und sich offensichtlich schon im Vorschulalter ausbilden (vgl. Blässer 1994). Nachdem in den letzten Jahren verschiedene psychologische
Modelle über den Prozess des Worterkennens, des verständnisvollen Lesens und des Schreibens entwickelt und daraus Vorstellungen abgeleitet wurden, wie sich das Lesen bei Kindern
ohne bzw. mit Schwierigkeiten entwickelt, wurde zunächst versucht, einen kurzen Überblick
über die wichtigsten Entwicklungslinien beim Erlernen des Lesens und Schreibens zu geben.
Dies betrifft im Zusammenhang dieser Arbeit vor allem die phonologische Bewusstheit. Besonders hervorzuheben ist die im Regelfall in mehreren Linien und auf mehreren Ebenen pa-
21
z.B. auditive oder visuelle Wahrnehmungsschwächen und visuomotorische Koordinationsstörungen wie bspw.
Raumorientierungsschwierigkeiten, aber auch Störungen im Arbeitsverhalten (mangelnde Motivation und
Konzentration).
25
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
rallel ablaufende Entwicklung des Worterkennens und des Rechtschreibens und der ständige
Austausch zwischen diesen Entwicklungen. Die Annahme der auf einer bewussteren Erfassung der Strukturen der Sprache beruhenden Entwicklungslinien beim Erlernen des Lesens
und Schreibens ist ein wesentlicher Bestandteil der neueren Modelle. Die phonologische Bewusstheit bildet sich im Zusammenhang mit der Entwicklung des phonologischen Rekodierens beim Lesen und Schreiben und in gewisser Weise auf diesem aufbauend heraus.
Bei legasthenen Kindern sind Auffälligkeiten beim Schriftspracherwerb zu beobachten, Kinder im frühen Stadium der Legasthenie benötigen bereits für die alphabetische Stufe erheblich
mehr Zeit. Im logographischen Stadium wären Fehler durch Nichtbeachtung der orthographischen Konventionen beim Schreiben und geringe Lauttreue zu charakterisieren. Im alphabetischen Stadium hingegen verringern sich Fehler, bei denen die Entsprechung der Schreibweise
mit der Phonemfolge der Wörter nicht gewahrt ist, deutlich. Gegen die orthographische Konvention verstoßende Fehler hingegen22 bilden den mehrheitlichen Teil der Rechtschreibfehler
und sind weiterhin in größerer Zahl vorhanden (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera
2007, S. 32). Im orthographischen Stadium schließlich werden zunehmend nicht nur die Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln, sondern auch orthographische Regeln und Ableitungsregeln von Stammmorphemen beachtet.
Bei Schülern mit Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen sind von Beginn des
Schriftspracherwerbs an Schwächen in mehreren Entwicklungslinien, die zum reifen und
selbstständigen Lesen und Schreiben führen sollen, festzustellen. Vor allem ist, neben
Schwierigkeiten beim Behalten bereits gelernter Wörter und damit beim Einspeichern und
Abrufen von Wörtern im schriftsprachlichen Lexikon, das phonologische Rekodieren gestört.
Dies zeigt sich besonders in Anfangsschwierigkeiten beim Lesen von unbekannten Wörtern.
Obgleich sich diese Probleme im Lauf der Zeit bessern, verbleiben Schwierigkeiten insbesondere in der Geläufigkeit, mit der wenig vertraute Wörter gelesen werden können (vgl.
Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, 2010). Bei der Mehrzahl der Kinder sind auch
in höheren Klassen, neben der Geläufigkeit des Lesens, Schwierigkeiten beim Erlernen des
Rechtschreibens festzustellen, auch wenn ihre Schreibweise lautgetreu und damit verstehbar
wird, sind doch viele Fehler im Bereich der orthographischen Konventionen auffallend. Ebenso hat ein Teil der Kinder auch Probleme in den Grundfertigkeiten des Worterkennens23 sowie
beim Leseverständnis und beim freien Schreiben, d.h. beim selbstständigen schriftlichen Ausdruck. Nebst Abstufungen im Schweregrad (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 17f.) sind auch unter-
22
23
bei Erkennbarkeit der Lautfolge.
bzw. des mündlichen Lesens und Rechtschreibens.
26
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
schiedliche Ausprägungen der Schwierigkeiten in den einzelnen Teilbereichen zu beobachten.
Demnach sind die Schwierigkeiten der Kinder im schriftsprachlichen Bereich enorm. Vermutlich hängt diese Heterogenität auch mit der Vielzahl der an der Entstehung der Schwierigkeiten beteiligten Faktoren zusammen (vgl. Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007,
2010).
Ein nach der Meinung vieler Wissenschaftler besonders hervorzuhebender Faktor ist die differenzierte Wahrnehmung, die als grundlegende Voraussetzung des Lese- und Schreiblernprozesses gesehen wird (vgl. u.a. Affolter 1975; Firnhaber 2005). Ob man von Funktionsschwäche, Teilleistungsschwäche oder von Schwächen der zentralen Verarbeitung von Wahrnehmungen24 spricht – es ist immer der gleiche Sachverhalt gemeint (vgl. Dummer-Smoch 2002,
S. 53f.). Trotz Intaktheit des äußeren Gehörs und des Sehens können „in allen Wahrnehmungsbereichen Schwächen der zentralen Verarbeitung liegen, nicht nur in der Seh- und
Hörverarbeitung“ (a.a.O., S. 43). Legasthene Menschen haben eine besondere Informationsverarbeitung und dadurch bedingt eine besondere Lernfähigkeit. Hinzukommend erschweren
Störungen der Grob- und Feinmotorik das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmungen und
Bewegungen. Beim Lese- und Schreibprozess kommt es nicht nur auf die genaue Unterscheidung von teils sehr ähnlichen Lauten, sondern auch auf das Zusammenspiel zwischen
Sprachwahrnehmung und Artikulationsmotorik an (vgl. a.a.O., S. 43f.). Verarbeitungsschwächen sind generell mit undeutlicher Aufnahme über die Wahrnehmung und entsprechend unsicherer Speicherung verbunden25. Infolgedessen kommt es gewöhnlich auch zur Verlangsamung aller mit dem Lesen und Schreiben verbundenen Teilschritte26.
Ein Verfahren, mit dem man fünf Teilleistungen, die für das Lesenlernen von großer Bedeutung sind, bereits im Vorschulalter und auch noch während des ersten Schuljahres überprüfen
kann, haben Breuer und Weuffen (1993) entwickelt. Diese Teilleistungen sind die Fähigkeit
zur optisch-graphomotorischen Differenzierung, die Fähigkeit zur phonematisch-akustischen
Differenzierung, die Fähigkeit zur kinästhetisch-artikulatorischen Differenzierung, die Fähigkeit zur melodischen Differenzierung sowie die Fähigkeit zur rhythmischen Differenzierung
(vgl. Breuer/Weuffen 1993, S. 23). Breuer und Weuffen meinen dazu: „Die exakte und
schließlich automatisierte Wahrnehmung und graphomotorische Realisierung der optischen
Modalitäten von Schriftzeichen ist eine der Voraussetzungen, um den Schreib- und Lesevor-
24
seit den Ergebnissen von Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren.
Z.B. kann sich das betroffene Kind infolgedessen nicht gut an die Buchstabenformen oder an den richtigen
Buchstaben für einen unsicher wahrgenommenen Laut erinnern.
26
Dies gilt vor allem für die visuelle und auditive Wahrnehmung sowie für die intakte bzw. ausreichend funktionierende Motorik.
25
27
2 Zum Verständnis neuropsychologischer Zusammenhänge
gang von Lernbeginn an als eine Einheit von Fähigkeiten und Verstehen zu sichern“
(Breuer/Weuffen 2000, S. 28). Beim einzelnen Kind können eine oder mehrere dieser Verarbeitungsschwächen vorhanden sein. Durch ein bewährtes Training der schwachen Differenzierungsfähigkeiten konnte der Schweregrad von Leselernschwächen nachweislich vermindert
werden (vgl. Breuer/Weuffen 1993)27. Dies bestätigt wiederum, dass auch die Fein- und
Grobmotorik eng mit der Wahrnehmung verbunden sind, infolgedessen sollte bei einem Training legasthener Kinder nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern das gesamte sensorische Spektrum berücksichtigt werden. Bei einem solchen mehrkanaligen Training geht es wie
auch beim Entwicklungskonzept nach Piaget (1969) insbesondere um die Herstellung von
Verknüpfungen zwischen taktilen, visuellen, kinästhetischen und auditiven Sinneseindrücken.
Abb. 1: Verhältnis: Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung und Motorik zu
Intelligenzleistungen im engeren Sinne
Quelle: Dummer-Smoch 2002, S. 46
In diesem stark vereinfachten Modell wird die Informationsaufnahme und -verarbeitung dargestellt. Von Seiten der Wahrnehmungskanäle wird die Information aus der Umwelt aufgenommen, sie gelangt über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle in das Gehirn. Das Gehirn
kann die aufgenommenen und verarbeiteten Informationen abspeichern und abrufen, wenn es
für die Verarbeitung der neuen Informationen benötigt wird. Auf der Seite der Motorik gelangen die gespeicherten Informationen wieder nach außen, vor allem in mündlicher oder schriftlicher Form. Im Falle einer Wahrnehmungsstörung kann der gestörte Wahrnehmungskanal die
27
Bei Maria Montessori liest man in diesem Zusammenhang über das „globale Absorbieren“ (Montessori 1984,
S. 78).
28
3 Problemkreis Legasthenie
Informationen nicht richtig aufnehmen und somit auch nur mangelhaft an das Gehirn weiterleiten28.
Bei einer geeigneten Förderung sollte darauf geachtet werden, dass ein und dieselbe Information über nicht nur einen Wahrnehmungskanal aufgenommen wird, sodass eine parallele
Kopplung neben dem jeweils gestörten Wahrnehmungskanal entstehen kann, die die Informationen unbeschädigt an das Gehirn weiterleiten kann.
Vertiefende Ausführungen der Ursachenbereiche würden den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Deshalb sei an dieser Stelle für weiterführende Literatur und breitere Darstellungen u.a. auf die Autoren Dummer-Smoch (2002), Milz (2001, 1989) und Rosenkötter
(2007) verwiesen.
3
Problemkreis Legasthenie
3.1 Ursachen im Bereich der Wahrnehmung
Die Ursachen und Anzeichen für eine Legasthenie und damit verbundene bevorstehende bzw.
bereits vorhandene Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen sind vielfältig. Unterschiedlichste Leistungen unserer Sinne sind notwendig, um den komplexen Vorgang des Schreibens
und Lesens zu bewerkstelligen. Sobald eine oder mehrere dieser Teilleistungen nicht oder nur
partiell erbracht werden können, kommt es zu Problemen in den entsprechenden Bereichen.
3.1.1
Sinneswahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung
Durch genetische Faktoren bedingte Schriftspracherwerbsschwierigkeiten entstehen aufgrund
einer Reifungsverzögerung der für das Lesen und Schreiben wichtigen Gehirnareale, die sich
in unterschiedliche Gebiete einteilen lassen. Sobald auch nur eines dieser Gebiete betroffen
ist, ergeben sich bereits Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Diese kooperative Integration der einzelnen Sinnesorgane des frühkindlichen Entwicklungsprozesses nennt die amerikanische Hirnforscherin A. Jean Ayres „sensorische Integration“ (Ayres 2002, S. 7). Ayres
stellt fest, dass dem Lesen und Schreiben, das ein großes Maß an sensorischer Integration
28
Bspw. kann ein Kind mit einer auditiven Wahrnehmungsstörung die Laute <e> und <i> oder <o> und <u>
nicht unterscheiden. Bei legasthenen Kindern kommt dies besonders häufig bei kurzen Vokalen vor (vgl.
Dummer-Smoch 2002).
29
3 Problemkreis Legasthenie
fordert und sehr komplexe Anforderungen an das Gehirn stellt, ein langer Prozess von Erfahrungen und Verarbeitung der Sinneseindrücke vorangegangen sein muss (vgl. Ayres 2002).
Teilgebiete der sensorischen Wahrnehmung (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 34f.) sind das visuelle bzw. optische System, das auditive bzw. akustische System, das vestibuläre System, das
propriozeptive System sowie das taktile System. Einige Kinder haben jedoch Störungen in
dieser Entwicklung. Dadurch verläuft die Wahrnehmungsverarbeitung29 bei legasthenen Kindern anders. Infolge einer Störung der Wahrnehmungsverarbeitung ist meist ein für das unbewusste Wissen über die Funktion und die Eigenschaften der einzelnen Laute der Wörter
unserer Sprache sowie über die Fähigkeit zur Aufgliederung der Wörter in diese Laute verantwortlicher Bereich, als phonologische Bewusstheit designiert, betroffen. Die Ursachen für
eine Legasthenie sind demnach in den differenzierten Teilleistungen bzw. Sinneswahrnehmungen zu finden. Die Betroffenen machen im Gegensatz zu Rechtschreibfehlern aufgrund
ihrer differenten Wahrnehmung immer unterschiedliche Fehler; teils werden im gleichen Text
dieselben Wörter unterschiedlich geschrieben. Nach Raapke kommen sensorische Integrationen, die vor der Schule stattfinden, durch die Eigenwahrnehmung des ganzen Körpers und
weniger durch das Hören und Sehen zustande (vgl. Raapke 2001, S. 39).
Wie bereits dargestellt, können vielfältige Ursachen zur Entstehung einer Legasthenie beitragen, wobei stets verschiedene Faktoren zusammenwirken. Die neurobiologisch orientierte
Forschung der letzten Jahre hat zu einem deutlichen Erkenntnisgewinn bezüglich der zentralnervösen Verarbeitung auditiver und visueller Informationen (vgl. u.a. Tallal 2000; Falcoetti
et al. 2003; Rosenkötter 2003) bei der Lese-Rechtschreibstörung geführt.
3.1.2
Störung der zentralen auditiven Wahrnehmung
Von Legasthenie betroffene Kinder fallen zuerst durch ihre Unaufmerksamkeit auf, sobald sie
auf Symbole, also Buchstaben oder Zahlen, treffen. Die Folge ist eine Fehlersymptomatik, so
genannte Wahrnehmungsfehler. Im Moment des Produzierens solcher Wahrnehmungsfehler
nimmt das Kind die unkorrekte Schreibweise nicht wahr (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25). Zu
den Störungen der zentralen auditiven Wahrnehmung (vgl. hierzu Rosenkötter 2003) gehört
die unzureichende Wahrnehmung von sprachlichen sowie nichtsprachlichen Reizen.
Sind die Sinneswahrnehmungen different, so muss entsprechend dem diagnostischen Testergebnis30 die Förderung, d.h. das Training an den Fehlern, der Symptomatik, einsetzen. Die
29
Ausführliches zum Begriff Wahrnehmung in Kapitel 6.1.5.
Eine Diagnostik sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden, erst wenn Sekundärproblematiken
hinzukommen, sollten weitere Ebenen (wie die psychische oder medizinische) herangezogen werden.
30
30
3 Problemkreis Legasthenie
sog. „Phonologie-Defizit-Hypothese“, die besagt, dass die Fähigkeit, lautliche Segmente der
Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern, bei der Lese-Rechtschreibstörung
gestört ist (vgl. Schulte-Körne 2001b), weshalb Betroffene Schwierigkeiten bei der Zuordnung von einzelnen Buchstaben zu entsprechenden Lauten und umgekehrt haben, stand im
Vordergrund der Forschung der letzten Jahre. Neurobiologische Untersuchungen (z.B. Rumsey et al. 1997a,b; Georgiewa et al. 2002) konnten zeigen, dass Regionen des Großhirns, die
bei der Wahrnehmung und Unterscheidung von Sprachreizen und Lauten hauptsächlich aktiviert werden, bei legasthenen Menschen signifikant geringer aktiviert werden, das bedeutet,
dass für die gestörte Sprachwahrnehmung hirnorganische Korrelate vorliegen. Da dieses
Sprachwahrnehmungsdefizit bereits in den ersten Lebensjahren vorhanden ist, könnte es ein
wesentlicher Prädiktor für einen gestörten Schriftspracherwerb sein. Möglicherweise stellen
diese Befunde eine Grundlage für eine Frühdiagnostik und Frühförderung dar.
3.1.3
Störung der zentralen visuellen Wahrnehmung
Die Befunde neurobiologischer Forschungen (Salmelin et al. 1996) zeigen, dass Wort- bzw.
Buchstabeninformationen bei Lese-Rechschreibgestörten in spezifischen Hirnarealen deutlich
verzögert und ineffektiver wahrgenommen werden. Die Bedeutung solcher visuellen Wahrnehmungsdefizite für die Legasthenie ist zurzeit noch nicht vollständig aufgeklärt. Nach
Breuer und Weuffen sind mit dem Lesen und Schreiben „wahrnehmungsmäßig zwei optische
Differenzierungsleistungen verbunden. Erstens sind die Unterschiede zwischen den einzelnen
Buschstaben präzise zu erfassen. Diese Leistung vollzieht sich in der Ebene und in den Einzelheiten des Buchstabens selbst. Zweitens sind die einzelnen Buchstaben in ihrer Abfolge
innerhalb der Wortstruktur zu erkennen. Diese Leistung vollzieht sich beim Lesen und Schreiben in einer räumlichen Gliederung, orientiert durch Lautklangfolgen im Wort und Sinnentnahme aus Wortfolgen“ (Breuer/Weuffen 2000, S. 26). Damit sind die kindlichen Wahrnehmungsfähigkeiten im Bereich der optischen Differenzierung und der optischen Serialität angesprochen. Kinder mit einer gestörten optischen Differenzierung können die ähnlich aussehenden Buchstaben nicht voneinander unterschieden, da sie sich nur in minimalen Einzelheiten ihrer optischen Struktur unterscheiden. Legastheniker haben ebenso Probleme bei der Erkennung der Buchstabenreihenfolge innerhalb des einzelnen Wortes, die Buchstabenverbindungen werden falsch erkannt. Bei Kindern mit geringer visueller Merkfähigkeit treten besonders oft Fehler bei mehrdeutigen Laut-Buchstabenzuordnungen auf. Die wichtigste Teilleistung innerhalb der optischen Differenzierungsfähigkeit auf dem Wege zur Buchstabenkenntnis ist die Erfassung räumlicher Beziehungen. Dabei müssen einzelne optische Modali31
3 Problemkreis Legasthenie
täten in ihren Beziehungen innerhalb des Buchstabens und in ihrer strukturellen Ganzheit als
Buchstabe erkannt werden, was sowohl für die Buchstaben- als auch für die Wortstrukturen
zutrifft. Die Qualität und Anzahl der eingeprägten optischen Buchstaben- und Wortbilder sind
eine Voraussetzung dafür, dass das Lesen und die Rechtschreibung gelingen. Ohne die Fähigkeit, optische Einzelheiten genau und automatisiert zu erfassen, gibt es keine verlässliche
Speicherung im Gedächtnis, die für die Lösung von wiederkehrenden Aufgaben beim Schreiben- und Lesenlernen erforderlich ist (vgl. ebd.). F. Affolter stellte fest, dass leserechtschreibschwache Kinder in der Nachahmung und in Manipulationstätigkeiten, beide sind
die Grundlage für den Erwerb begrifflicher Inhalte und für das Bilderkennen, stark eingeschränkt sind (vgl. Affolter 1975, S. 205). Neuropsychologische Forschungsergebnisse belegen, dass in der Verbindung der Bildpunkte der Schlüssel zum Verständnis der visuellen
Wahrnehmung liegt. Durch das Trainieren des visuellen Bereiches können neue Verbindungen nachentwickelt werden (vgl. a.a.O., S. 232).
3.2 Genetische Ursachen
Durch die neuen Methoden der genetischen Forschung sind mögliche Genorte, die wahrscheinlich für die Entstehung der Legasthenie relevant sind, entdeckt worden. Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren scheint zurzeit ein plausibles Erklärungsmodell für Legasthenie zu sein. Jedoch führen einzelne Einflüsse, wie bspw. eine Vulnerabilität 31, nicht
zwangsläufig zur Herausbildung einer schicksalsbestimmenden Lernstörung, sondern sie
können durch präventive Maßnahmen im Vorschulalter und weitere intensive Betreuung während der gesamten Schulzeit kompensiert werden.
Unter anderem wird derzeit in der Genetik verstärkt eine genetische Komponente diskutiert,
da Legasthenie in bestimmten Familien gehäuft auftritt. Bei eineiigen Zwillingen beträgt die
Konkordanz für Legasthenie 68%, bei zweieiigen Zwillingen hingegen nur 38%, daher ist ein
substantieller genetischer Einfluss nicht zu negieren (vgl. Fischer/DeFries 2002). SchulteKörne (2001a) konnte durch Familienuntersuchungen u.a. in den USA zeigen, dass die Leseund Rechtschreibstörung familiär gehäuft auftritt (vgl. hierzu auch Guttorm et al. 2001),
jedoch würde dies allein nicht ausreichen, um von einer genetischen Disposition sprechen zu
können. Zusätzlich erscheint es problematisch, in diesem Kontext von einem Gendefekt zu
sprechen, da in den meisten Fällen mit der erblichen Legasthenie hohe mathematisch-
31
Im Kontext eines sehr allgemeinen Definitionsansatzes kann unter Vulnerabilität eine in der Person
verankerte, genetisch, biochemisch oder auch durch Geburtstrauma bedingte Disposition, Anfälligkeit oder
Sensibilität verstanden werden.
32
3 Problemkreis Legasthenie
naturwissenschaftliche Begabungen zusammenhängen. Deshalb scheint es, wie bei der
Linkshändigkeit, eher angemessen, von einer „Normvariante menschlicher Begabung“ (vgl.
Dummer-Smoch 2002, S. 52) zu sprechen. Eine solche Normvariante fällt immer dann nicht
negativ auf, wenn sie in der Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert wird.
Die Suche nach relevanten Genen hat zu verschiedenen Gen-Regionen geführt. Vermutet wird
eine polygenetische Ursache (vgl. u.a. Fischer/DeFries 2002; Aylward et al. 2004; Richards/
Berninger 2005) mit Bezug zu den Chromosomen 2, 3, 6, 18 und vor allem 15. Vermutlich
beeinflussen diese nicht direkt die Lese- und Rechtschreibfähigkeit, sondern sie steuern
neurophysiologische und neuropsychologische Funktionen, deren Störung z.B. bei der
Sprachverarbeitung den Schriftspracherwerb entscheidend beeinflusst. Forschungen belegen,
dass die Ursache für eine Legasthenie hauptsächlich durch die Gene bestimmt ist, wobei das
15. und 6. Chromosom maßgeblich an der erblichen Weitergabe beteiligt sind (vgl. Klasen
1999, S. 15, 178; Kopp-Duller 2008a, S. 25; Kopp-Duller 2008b, S. 16). In diesen Regionen
werden Gene vermutet, denen eine bedeutsame Funktion bei der Regulation von zentralnervösen Prozessen zukommt. Durch diese biogenetischen Anlagen entstehen differente Sinneswahrnehmungen32, welche zu Wahrnehmungsfehlern führen, die die Probleme von legasthenen Menschen beim Erlernen des Schreibens, Lesens und Rechnens (Dyskalkulie) verursachen. Die ursächliche Verantwortung eines einzelnen Gens ist hingegen sehr fraglich. Ein
genetischer Einfluss ist bei einem Teil der Kinder mit Legasthenie nachgewiesen. Doch dies
sollte nicht entmutigend sein, da sich nicht nur die Gene, sondern auch die Umwelt, also Kindergarten, Schule und Elternhaus, entscheidend auf die kindliche Entwicklung und somit auch
auf die Lese-Rechtschreibentwicklung auswirken. Dies bedeutet zugleich, dass eine angemessene und professionelle frühkindliche Förderung in Kindergarten und Schule, v.a. im Anfangsunterricht, aber auch im Elternhaus von enormer Bedeutung ist, sodass die LeseSchreiblern-entwicklung betroffener Kinder nicht zu sehr in Verzögerung gerät.
Im neurologischen Bereich zeigen bereits Neugeborene aus Risikofamilien veränderte Gehirnstrommuster bei der Darbietung sprachlicher und nichtsprachlicher akustischer Stimuli.
Mit Hilfe bildgebender Verfahren können auch bei Schülern und Erwachsenen mit Legasthenie Veränderungen der Aktivierungsmuster in der Großhirnrinde beim Lesen nachgewiesen
werden (vgl. Berninger/Richards 2002). Diese betreffen vorwiegend die sprachverarbeitenden
Zentren im Schläfen- und Stirnlappen der linken Hirnhälfte, in der im Vergleich zu nicht legasthenen Personen unterschiedliche Aktivierungszentren und -lokalisationen zu finden sind
32
Von Ayres wurde die Bedeutung der Verarbeitung der einzelnen Sinnesmodalitäten in besonderer Weise
berücksichtigt, da bei manchen Kindern hier der Schlüssel zu ihrem Problem liegt (vgl. Ayres 1992, 2002).
33
3 Problemkreis Legasthenie
(vgl. ebd.). Dies zeigt, dass die zuständigen Hirnzentren nicht ausreichend synchron arbeiten
oder nicht ausreichend vernetzt sind. Ferner belegen Hinweise auf eine defizitäre Verarbeitung schneller Folgen von Stimuli eine weniger effiziente Reizweiterleitung in der Hör- und
Sehbahn. In diesem Kontext konnte auch eine Deregulierung der Blicksteuerung beobachtet
werden. Die Sakkaden (vgl. hierzu u.a. Fischer et al. 1998; Fischer/Hartneggm 2008) von
legasthenen Kindern sind weniger präzise als diejenigen gleichaltriger nicht legasthener Kinder. Weiters kann eine Sprachentwicklungsverzögerung (vgl. Grimm 1995) ein Risikofaktor
für Legasthenie sein.
Das Gehirn wird noch lange Gegenstand biologischer, medizinischer wie auch neurologischer
Forschungen sein und in seiner Komplexität und Kompliziertheit wahrscheinlich nie zur Gänze erforscht werden können. Dank moderner Medizintechnologie kann die relative Minderleistung der linkshemisphärischen Sprachgebiete der Legastheniker definitiv auf Bildschirmen
sichtbar gemacht werden (vgl. u.a. Rosenkötter 1997; Firnhaber 2005).
Normalerweise sind die Lese- und Rechtschreibleistungen durch die Vernetzung einer Reihe
von Gehirnarealen gewährleistet. Hinweise auf Funktionsdefizite bzw. Teilleistungsschwächen sind übereinstimmend in den zitierten Untersuchungen für eine Reihe von Hirnregionen,
die sich mit Sprache, Sprachwahrnehmung sowie mit Prozessen zwischen äußerer Aufnahme
und zentraler Wahrnehmungsverarbeitung beschäftigen, belegt. Aus den Ergebnissen lassen
sich mindestens drei Aussagen als gesichert ableiten: Legasthenie hat neuropsychologische
Ursachen. Selbst bei erwachsenen Legasthenikern sind diese Ursachen immer noch nachweisbar. Bereits vor der Geburt sind diese neurobiologischen Ursachen vorhanden. Milieubedingungen, d.h. Einflüsse aus Elternhaus und Schule, wirken sich erst sekundär aus. Vor
allem entscheiden sie darüber, ob das betroffene Kind trotz seiner Schwächen ausreichend
Motivation erhält, um den Mut zum Lernen nicht zu verlieren. Die pränatalen Ursachen sind
nicht behebbar. Es besteht die Möglichkeit zur Verhinderung der später in Erscheinung tretenden Teilleistungsschwächen, indem Schwierigkeiten vor allem beim Lesen und Schreiben
durch angemessene Übungs-/Trainingsmethoden kompensiert werden.
Je mehr das Gehirn erforscht wird, desto deutlicher wird, dass bis dato nur Teilkenntnisse
existieren, welche keine vereinfachenden Theorien über die Entstehung der Legasthenie erlauben (vgl. Dummer-Smoch 2002).
3.3 Ursachen im prä-, peri- und postnatalen Bereich
Auch schädliche Einflüsse im prä-, peri- und postnatalen Bereich werden diskutiert. Insbesondere zählen dazu Komplikationen während der Geburt sowie im Kopfbereich befindliche
34
3 Problemkreis Legasthenie
Läsionen, die Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD), ein leichter frühkindlicher Hirnschaden mit verschiedenen Ursachen, oder Unfälle des Säuglings. Diese können im peri- und
postnatalen Bereich begründet sein. Auch Krankheiten im Bereich des zentralen Nervensystems eines Säuglings können als Ursache für die Ausprägung einer Legasthenie in Erwägung
gezogen werden.
Bereits in den 80er Jahren hatte Galaburda mit seiner Forschungsgruppe33 aufgrund anatomischer Befunde darauf hingewiesen, dass bereits vor der Geburt die Weichen für die spezielle
Entwicklung im legasthenen Gehirn gestellt werden (vgl. Galaburda 1989; Galaburda et al.
1992 zit. nach Dummer-Smoch 1986). Als schädliche Einflüsse im pränatalen Bereich gelten
beispielsweise Infektionskrankheiten der Mutter, Schwangerschaftsblutungen, vorgeburtliche
Hirnhautentzündung oder erhöhter Alkohol- und/oder Nikotinkonsum der Mutter während der
Schwangerschaft. Hinzukommen können hirnfunktionelle Ursachen sowie Infektionskrankheiten oder Blutungen. Galaburda untersuchte Gehirne verstorbener Legastheniker und erschloss minimale Veränderungen. Da man heute sehr genau über die embryonale Hirnreifung
informiert ist, konnte er feststellen, dass Zellen, die überwiegend in den Sprachzentren der
linken Hemisphäre liegen, im 4. Schwangerschaftsmonat u.a. nicht weitergereift waren. Daraus ergibt sich offensichtlich die bereichsspezifische Abschwächung bzw. das Fehlen der
führenden Rolle der linken Hemisphäre (vgl. Firnhaber 2005). Es zeigt sich, dass sich das
Gehirn eines Legasthenikers von einem Nicht-Legastheniker unterscheidet. Durch das Mikroskop kann die Feinstruktur der Hirnrinde im Bereich des sensomotorischen Sprachzentrums
sichtbar gemacht werden. Die Zellstruktur in einem dysplastischen Zellbereich im Gehirn
eines Legasthenikers ist desorganisiert und hat den säulenförmigen Charakter der Zellanordnung verloren (vgl. Rosenkötter 1997, S. 80). Ferner kann es durch Probleme im perinatalen
Bereich, also während der Geburt, zu kleinsten Hirnfunktionsstörungen kommen, etwa durch
Quetschung des Kopfes, Verlängerung des Geburtsvorganges aufgrund von Lageanaomalien
etc., die dazu führen, dass die Verarbeitung von Sprachreizen im Gehirn über Umwege verläuft. Aktuell werden auch Wahrnehmungsstörungen immer häufiger untersucht. Die Aktivitäten bestimmter Gehirnregionen während des Lesens können mit bildgebenden Verfahren
(vgl. hierzu u.a. Dummer-Smoch 2002) gemessen werden, wobei festgestellt wurde, dass legasthene Kinder ein verändertes Gehirnaktivitätsmuster beim Lesen aufweisen. Amerikanische Forscher (vgl. Berninger/Richards 2002) jedoch akzentuieren, dass die Entwicklung ei-
33
Galaburda et al. untersuchten das Planum temporale. Dies ist ein Gehirnareal, das bei Rechtshändern und
guten Lesern in etwa 70% der Fälle in der linken Hemisphäre größer ist als in der rechten. Sie fanden bei
Legasthenikern nahezu umgekehrte Verhältnisse.
35
3 Problemkreis Legasthenie
ner Legasthenie entscheidend von Umweltfaktoren beeinflusst wird, dass sie kein neurobiologisches Schicksal ist, sodass sich neuronale Aktivierungsauffälligkeiten bei einem Teil der
Kinder nach angemessener Förderung sogar wieder normalisieren können. Als mögliche Ursachen im postnatalen Bereich sind Unfälle, infektiöse oder fieberhafte Erkrankungen, Hirnhautentzündung, Krampfanfälle etc. sowie Stoffwechselkrankheiten des Kindes im Säuglingsund Kleinkindalter zu vermuten.
Es ist davon auszugehen, dass es nicht nur „die eine Lese-Rechtschreibstörung“ mit ausschließlich „nur eindeutiger Symptomatik“ und „nur einer einzigen Ursache“ gibt, sondern
dass Legasthenien unterschiedlicher Ätiologie und Ausprägung bestehen, wobei unterschiedlichen Subgruppen unterschiedliche Ursachenfaktoren zugrunde liegen können.
3.4 Erkennungsmerkmale für das Vorhandensein einer Legasthenie
Dem Vorschulkind bereiten das Binden von Schuhbändern, das Fangen von Bällen, das Seilspringen usw. fortlaufende Probleme? Demnach machen sich Anzeichen für mögliche differente Sinneswahrnehmungen besonders in der motorischen Entwicklung bemerkbar. Außerdem ist es unaufmerksam und erfährt Frustration, die zu Verhaltensproblemen führen kann.
Anzeichen für Legasthenie im Vorschulalter können etwa folgende sein (vgl. Kopp-Duller
2008, S. 39f.): Das Kind erlebt eine verkürzte oder gar keine Krabbelphase. Dadurch kommt
es zu verspätetem Gehen, schlechter Körperkoordination, Schwierigkeiten beim Binden von
Maschen oder beim Knöpfen, zu Problemen beim Umgang mit der Schere, beim Umgang mit
Messer und Gabel, beim Erlernen des Radfahrens, Skifahrens oder Schwimmens, zu Koordinationsschwierigkeiten beim Malen oder etwa zur Schiefhaltung des Kopfes34. Im sprachlichen Bereich kommt es zu verspätetem Sprechen, das Kind erlernt später als erwartet das
Klarsprechen35 oder es spricht schneller, als es handelt. Zusätzlich fällt die Verwendung von
ähnlichen Wörtern oder Ersatzwörtern sowie von falschen Beziehungen (z.B. Lampenschirm
für Laternenpfahl) auf. Ebenso werden richtungsweisende Wörter (hinauf/hinunter, innen/
außen) durcheinandergebracht. Probleme treten beim Erlernen von Kinderliedern, beim Reimen von Wörtern, beim Herausfinden eines nicht passenden Wortes sowie mit Reihungen auf.
Das Kind kann durch besonders „gute“ und „schlechte“ Tage auffallen, ist oft überhastet, oft
extrem langsam und zeigt andererseits eine hohe Merkfähigkeit. Treten eben genannte Auffäl-
34
35
bei einseitigen Hör- oder Sehproblemen.
Phrasen werden vermischt bzw. verwechselt.
36
3 Problemkreis Legasthenie
ligkeiten auf, sollte das Kind, sobald es in die Schule kommt, sehr genau bei seinen Fortschritten beobachtet werden. Auch eine Frühförderung ist an dieser Stelle ratsam.
Anzeichen einer Legasthenie nach Schuleintritt können etwa auffällige Wachheit und Interesse in Alltagssituationen, leichte Ablenkbarkeit und Abwesenheit bzw. Tagträume sein. Das
Kind hört bzw. sieht alles und kann nicht immer Unwichtiges von Wichtigem unterscheiden.
Es reibt sich wahrscheinlich oft die Augen, muss öfter blinzeln als seine Mitschüler und klagt
über Sehprobleme36. Zusätzlich zeigt sich verzögertes Merkvermögen bei Buchstaben, Wörtern und Zahlen sowie beim Auswendiglernen, z.B. des Einmaleins. Hinzu kommen scheinbare Hörprobleme37, eine herabgesetzte Körperkoordination, mangelnde Raum- und/oder Zeitkoordination. Diese allgemeinen Anzeichen beziehen sich auf Persönlichkeitsmerkmale, die
Legasthenikern eigen sind. Ein Zusammentreffen von mehreren Merkmalen lässt darauf
schließen, dass es sich um einen legasthenen Menschen handelt.
In der ersten Klasse hat ein Teil der Kinder Probleme beim Lernen der Buchstaben-LautVerbindungen, was auf fehlende oder mangelhafte phonologische Bewusstheit und mangelhafte phonematische Fähigkeiten zurückzuführen ist. Auch eine phonologische Informationsverarbeitungsstörung kann auf das Vorhandensein einer Legasthenie hinweisen. Doch können
Kinder, bei denen später eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert werden würde, anhand
von Schwächen in der phonologischen Bewusstheit bereits im Vorschulalter oder zum Zeitpunkt der Einschulung erkannt werden (vgl. Jansen et al. 2002). Selbst in höheren Klassen
verwechselt ein Teil von ihnen noch das <b> und <d> und die Buchstabenverbindungen <ei>
und <ie>. Das Zusammenlesen fällt ihnen schwer. Dabei stellen Konsonantenhäufungen wie
<bl> (wie in Blatt) oder <schm> (wie in Schmuck) eine besondere Schwierigkeit dar38. Diese
kann im artikulatorischen wie auch im phonematischen Bereich begründet sein und individuell abweichen. In den weiteren Schuljahren bleibt das Lesen der Schüler, die von Legasthenie
betroffen sind, oft beschwerlich und langsam. Neue Wörter, besonders wenn sie komplexer
sind, werden nur schwer erlesen. Auch der Sichtwortschatz, also die Wörter, die bereits gespeichert sind und sofort gelesen werden können, ist beschränkt. Das anstrengende und verlangsamte Lesen hat häufig ungünstige Auswirkungen auf das Leseinteresse und kann auf die
verlangsamte Sprachwahrnehmung zurückgeführt werden. Die Zunahme des Lesewortschatzes ist gegenüber anderen Kindern reduziert. Allein aufgrund der geringen Lesetüchtigkeit
kann das Leseverständnis deutlich eingeschränkt sein. Es ist offensichtlich, dass ein Text gar
36
bspw. über Verschwimmen der Buchstaben und Zahlen.
Diese äußern sich bspw. darin, dass das Kind schlecht versteht, in verwaschener Sprache spricht und
sprachliche Mängel aufweist. S. hierzu auch Rosenkötter 2003.
38
Vgl. hierzu Samuel T. Ortons Theorie (1927) eines Defizits im visuellen Gedächtnis.
37
37
3 Problemkreis Legasthenie
nicht oder nur höchst erschwert verstanden werden kann, wenn der Leser bereits Schwierigkeiten beim Dekodieren der einzelnen Wörter hat. Gerade aus der Beobachtung schwacher
Leser kommt die Evidenz dafür, dass das Leseverständnis einen eigenen Bereich möglicher
Schwierigkeiten im Umgang mit der Schriftsprache offenbart 39 (vgl. Klicpera/Schabmann/
Klicpera-Gasteiger 2007, S. 61f.). Gewiss wirkt sich diese Einschränkung demotivierend aus;
viele betroffene Kinder und Jugendliche lesen deshalb nur sehr wenig und ungern. Die LeseRechtschreibentwicklung ist jedoch in der ersten Klasse noch relativ variabel.
Anzeichen für Legasthenie bei Kindern unter oder mit 9 Jahren sind weiterhin große Schwierigkeiten beim Lernen des Lesens und Schreibens sowie ständiges und fortlaufendes Vertauschen von Zahlen und Buchstaben (z.B. 15 für 51, <b> für <d>). Das Kind hat Seitigkeitsanomalien40 und Schwierigkeiten beim Behalten des Alphabets, beim Multiplizieren von Tabellen und im Erinnern von Reihenfolgen (wie z.B. der Tage, der Wochen, der Monate des
Jahres und der Jahreszeiten). Kinder, die leicht auswendig lernen, kompensieren u.U. die Lese- und Rechtschreibstörung; sie versagen erst in der 3. Klasse oder erst nach dem Wechsel in
eine weiterführende Schule, sofern geübte Schriftsprachleistungen und Aufsätze gefordert
werden oder ein höheres Leistungs- und Temponiveau bei schriftlichen Arbeiten abverlangt
wird. Schwerer betroffene Kinder sind meist nicht fähig, die Fehler beim Lesen und Rechtschreiben selbst zu erkennen und zu korrigieren.
Bei 9- bis 12-jährigen Kindern ist die Legasthenie an fortlaufenden Fehlern beim Lesen und
bezüglich des Leseverständnisses zu erkennen. Überdies fallen kontinuierliche Fehler durch
eine sonderbare Aussprache auf, Buchstaben oder ganze Wörter werden bspw. ausgelassen
oder in der falschen Reihenfolge ausgesprochen. Hinzu kommt, dass das Kind zu Hause wie
auch in der Schule desorganisiert ist, Probleme beim genauen Abschreiben von der Tafel oder
vom Lehrbuch und beim Aufschreiben von mündlichen Anweisungen hat und für Schreibarbeiten eine überdurchschnittlich lange Zeit benötigt. In der Folge aufkommender, wachsender
Mangel an Selbstvertrauen und wachsende Frustration verkompliziert die Situation zusätzlich.
Bei Schülern mit 12 Jahren und älteren sind Anzeichen für Legasthenie die Neigung zu falschem, ungenauem oder nicht zusammenhängendem Lesen und dazu, mündliche Anweisungen und Telefonnummern durcheinanderzubringen, inkonsequentes Buchstabieren, Probleme
beim Entwerfen und Schreiben von Aufsätzen sowie ernsthafte Probleme mit fremden Sprachen. Leistungsdefizite aufgrund von eingeschränktem, d.h. verlangsamtem oder fehlerhaftem
39
Aufgrund dieser Tatsache muss Leseverständnis als mehrdimensionales und von vielen Faktoren abhängiges
Konstrukt begriffen werden, wobei die basale Lesefähigkeit nur eine Einflussgröße neben vielen anderen ist.
40
Schwierigkeiten beim Unterscheiden von rechts und links.
38
3 Problemkreis Legasthenie
Lesevermögen und mangelhafter Rechtschreibung machen sich auch in anderen Fächern bemerkbar, so treten ebenfalls Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben in den Fremdsprachen auf. Schwierigkeiten beim Lesen und vor allem die Verlangsamung können eine
eingeschränkte Wissensaufnahme in den übrigen Lernfächern verursachen, zumal z.B. im
vorgegebenen Zeitrahmen das Wissen nicht aufgenommen bzw. niedergeschrieben werden
kann. Legasthenie kann somit schnell zur erheblichen Beeinträchtigung der gesamten schulischen Leistung führen. Obwohl sich Eltern und Kinder sehr bemühen, durch häufiges Üben
die Leistung zu verbessern, macht das Kind nur geringe, teilweise sogar keine Fortschritte, da
bloßes Üben am Symptom nicht erfolgsfördernd ist. Rechtschreibfehler treten hauptsächlich
beim Diktat und bei spontanem Schreiben (von einem Aufsatz z.B.) auf, während das Abschreiben von Anfang an oder in späteren Klassenstufen weitgehend fehlerlos sein kann. Die
Kinder können die Worte in aller Regel korrekt artikulieren und dennoch das Wort fehlerhaft
schreiben. Oft wird zu Unrecht schuldhaftes Versagen vermutet. Die Legasthenie betreffend
kann trotz der Tatsache, dass die Medizin, inklusive ihrer Teilwissenschaften wie auch der
Genforschung, in Zukunft im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten noch viele offene Fragen
wird beantworten müssen, zumindest das Kriterium aufgeworfen werden, dass Zusammenhänge zwischen dem sozialen Milieu (vgl. hierzu z.B. Nave-Herz 2007) und einer Legasthenie
bei einem Kind zwar vermutet und durch unqualifizierte Gruppentests bestätigt wurden, aber
dennoch definitiv ausgeschlossen werden kann, dass ein Unterschichtsmilieu als Auslöser für
Legasthenie angesehen werden kann (vgl. Sommer-Stumpenhorst 2006).
39
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
Teil II
Das „Konstrukt“ Legasthenie
4
Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus
pädagogischer Perspektive
Konstrukte sind in der reinen Beobachtungssprache nicht definierbar und werden aus einem
theoretischen Zusammenhang heraus sowie mit Hilfe von beobachtbaren Ereignissen erschlossen (vgl. Dorsch/Becker-Carus 1994, S. 400). Ein hypothetisches Konstrukt bzw. eine
hypothetische Konstruktion ist daher eine Annahme über einen nicht unmittelbar zu beobachtenden Prozess, der als intervenierende Variable mit zusätzlicher Bedeutung Bedingung für
das Verhalten sein soll. Aus dem theoretischen Zusammenhang heraus wird abgeleitet, mit
welchen messbaren Größen die Bedingung kovariiert. Die Prüfung dieser Bedingung nennt
man auch Konstrukt-Validierung (vgl. a.a.O., S. 400f.).
Vom Ende der 60er Jahre an wurden zahlreiche größere empirische Untersuchungen durchgeführt, die zeigten, dass – wenn überhaupt – nur ein verschwindend geringer Anteil von
Legasthenikern die postulierten Charakteristika aufweist. Legasthenie wurde deshalb als deskriptiver Begriff, zur Beschreibung unterschiedlicher Schwierigkeiten beim Lesen und
Schreiben und als Synonym für Lese-Rechtschreibschwäche, verwendet. Andere Autoren
führen zum einen eine medizinisch orientierte und zum anderen eine pädagogischpsychologisch orientierte Begriffsbestimmung durch. Auch hier wird ausdrücklich von durchschnittlicher bis guter Intelligenz der betroffenen Kinder gesprochen. Die Legasthenie ist eine
organische und nicht psychogene, eine genetische und nicht durch Umwelteinflüsse determinierte Störung (vgl. Angermaier 1970, S. 24ff.). Weiters wird, wie bereits bei SchenkDanzinger, zwischen zwei Formen der Legasthenie unterschieden, der literalen41 und der verbalen Legasthenie42. Die literale Legasthenie „besteht darin, dass das Kind die Beziehung
zwischen dem Grundelement der Schrift, die ja geschriebene Sprache ist, dem Buchstaben
41
Die literale Legasthenie ist eine sehr seltene Schwerstform der Legasthenie. Kinder, die davon betroffen sind,
können meist Buchstaben überhaupt nicht erlernen oder die Laute nicht bestimmten Buchstaben zuordnen. Bei
der literalen Legasthenie handelt es sich also um das Grundelement der geschriebenen Sprache. Zwischen Laut
und Lautzeichen kann keine Beziehung hergestellt werden.
42
Die verbale Legasthenie ist die Form, von der nach neuesten Studien der International Dyslexia Association
zwischen 10 und 15% der Gesamtpopulation betroffenen sind. Sie wird in die relativ kurzfristige Entwicklungslegasthenie (siehe Kapitel 4.2.1 und 4.2.2) ohne sekundäre allgemeine Leistungsstörung und jene mit sekundärer
allgemeiner Leistungsstörung gegliedert.
40
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
und dem Laut nicht herstellen kann“ (Hartmann 1975, S. 10ff.). Im Falle einer verbalen
Legasthenie hingegen bereitet das Wort dem Kind Schwierigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11ff.). Wie
Hartmann unterscheiden auch Hägi, Bürli und Mathis zwischen den beiden Erscheinungsformen der Legasthenie. Bei der literalen Legasthenie handelt es sich laut deren Ausführung um
Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Einzelbuchstaben (vgl. Hägi/Bürli/Mathis 1970, S.
12ff.). Außerdem sind, nach Hägi, Bürli und Mathis, bei der Legasthenie die akustische und
die optische Wahrnehmung gestört (vgl. a.a.O., S. 21ff.).
Wurde Legasthenie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als „klassisches
Legastheniekonzept“ mit charakteristischen visuellen Fehlern und einer Intelligenzdiskrepanz
propagiert, so wird in den 70er Jahren zunächst zwischen „Legasthenie“ als Schwäche im
Lesen und Rechtschreiben bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz und LeseRechtschreibschwäche als Schwäche im Lesen und Rechtschreiben bei insgesamt
unterdurchschnittlicher Intelligenz unterschieden und schließlich als „Unfug mit der
Legasthenie“ gescholten und ad acta gelegt. Die Phänomenologie der Legasthenie wurde in
den 70er Jahren um den Terminus „Lernstörung“, zusätzlich zum von Linder eingeführten
Terminus Teilleistungsstörung, erweitert. Schenk-Danzinger, die dieser Problematik ein umfassendes „Handbuch der Legasthenie im Kindesalter“ (1975) widmete, prägte den Begriff
Legasthenie im deutschen Sprachraum. Sie differenziert zwischen zwei Arten der Legasthenie, der literalen Legasthenie (einer sehr seltenen Schwerstform der Legasthenie) und der verbalen Legasthenie, von der gemäß neuesten Studien etwa 15% der Gesamtbevölkerung betroffen sind. Eine Einbindung der Ergebnisse von Diplompsychologin Dr. E. Klasen, die gemeinsam mit anderen Autoren Therapiefälle näher untersuchte, war ihr ein wichtiges Anliegen.
Der Hauptschwerpunkt ihrer Forschungsarbeiten kann als vorwiegend symptomorientiert angesehen werden. Ferner setzte sie sich mit der von Valtin (1970b) aufgeworfenen Frage nach
der Milieuabhängigkeit auseinander. Dies ist ein wesentlich zu beachtender Aspekt, da durch
die Reihenuntersuchungen von unqualifizierten Personen um 1970 der Trugschluss gezogen
wurde, dass Probleme im Erlernen der Rechtschreibung milieuabhängig seien und Legasthenie folglich ein Problem der Unterschicht sei. Die Einteilung in Legasthenie (auch spezielle
LRS/Lese-Rechtschreibstörung43) und LRS geht auf Grissemann zurück, der Legasthenie
gegen Ende der 60er Jahre als eine „global-gnostische Störung“ deutete und somit einen
neuen Beitrag zur Ätiologie leistete. In seinem Buch „Legasthenie und Rechenleistungen“
43
Die meisten Autoren empfehlen in diesem Zusammenhang eine Trennung von „Störung“ und „Schwäche“, da
davon ausgegangen wird, dass beide unterschiedliche Gruppen mit verschiedener Genese sind (vgl. hierzu auch
Schulte-Körne 2001a).
41
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
lieferte Grissemann 1974 eine graphische Darstellung der Arten und Formen der Legasthenie,
die er sehr übersichtlich definierte. Aus verschiedenen Studien können die Merkmale Milieu
(vgl. Valtin 1970b, 1974; Niemeyer 1974; auch Schneider 1980), stärkere emotionale
Labilität, z.B. Ängstlichkeit der Kinder (vgl. Angermaier 1974), Geschlecht (vgl. ebd.; auch
Schneider 1980), die Bedeutung von Lehrer und Unterricht (vgl. ebd.; Sirch 1975), akustische
Wahrnehmungsschwächen, Mängel der Artikulation und der visuell-auditiven Integration
(vgl. Niemeyer 1971; Angermaier 1973), visuelle Wahrnehmungsschwächen (vgl. Valtin
1972), Intelligenz (Angermaier 1973; auch Schneider 1980) sowie Gedächtnisfaktoren
(Angermaier 1973; auch Schneider 1980) als Determinanten einer Legasthenie identifiziert
werden. Vertreter des Legastheniekonzepts sahen die Legasthenie, bei sonst intakter oder im
Verhältnis zur Lese- und Rechtschreibfähigkeit relativ guter Intelligenz, als partielle
Lernstörung, weshalb darauf aufbauende Therapiekonzepte fehlertypisch orientiert sind. Sehr
bald ließ jedoch die Vielzahl der Störungsbilder und Schwächen Kritik am Konstrukt der
Legasthenie entstehen. Hierbei sind die vom Diagnoseinstrumentarium abhängigen
unterschiedlichen Definitionen für Legasthenie das eigentliche, immer wiederkehrende
Problem, das wiederum auf das zugrunde liegende Theoriekonzept44 ausgerichtet ist.
Mitte der 70er Jahre lösten Sirch (1975) und Schlee (1976) eine Anti-Legasthenie-Bewegung
aus, wodurch es zu einem bis heute nicht wieder gutzumachenden Schaden in der Erforschung
und der gesellschaftlichen Aufarbeitung hinsichtlich des Verständnisses für das Legastheniephänomen kam. Es wurde zunehmend Kritik sowohl gegen methodische als auch inhaltliche
Aspekte des Legastheniekonzeptes erhoben. Das Fehlen theoretischer Grundlagen und
Modellvorstellungen wurde bemängelt, da die empirischen Untersuchungen zur Genese der
Legasthenie und die Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen Beiträge an der unpräzisen
Terminologie, die verschiedene Autoren verwendeten (vgl. Warnke 1990), litten. Sirch sah als
Ursache der Legasthenie nur eine fehlende didaktische Grundlage der Methode des Lesenund Schreibenerlenens, während Schlee (1976) wesentlich schärfer kritisierte, indem er die
Legasthenie
schlichtweg als
Erfindung abtat
und
das
ersatzlose
Streichen
des
Legastheniebegriffs sowie das Einstellen der darauf basierenden Forschungen forderte (vgl.
Schlee 1976; Klasen 1999, S. 19). Die Störungen liegen nach Schlee nicht in den betroffenen
Kindern, sondern in der Unzulänglichkeit schulischer Lehr- und Lernverhältnisse45. Vor allem
44
Ausführliche Literatur zu einem konzeptuellen Überblick bietet z.B. Torgesen 2008.
Nicht selten wird das Verhalten des Kindes falsch gedeutet und man glaubt, dass sich Lese- oder
Rechtschreibprobleme des Kindes durch dessen Verhalten ergeben. Schnell wird die Hilfe bei diversen
Gesundheitsberufen gesucht und nicht bei Pädagogen. Doch nur Pädagogen haben die Befähigung, Kindern das
45
42
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
bezog sich Schlee auf die willkürliche Etikettierung eines „Legasthenikers“, da die Auswahlbzw.
Testverfahren
sowie
die
Festlegung
der
kritischen
Grenzwerte
für
eine
Legastheniediagnose nicht festgelegt sind. Außerdem bezieht er sich auf das Bestehen einer
Korrelation zwischen Intelligenzquotienten und Rechtschreibleistung und die operationale
Definition von Legasthenie, die deshalb als Diskrepanzkriterium zwischen beiden Merkmalen
nicht aufrechtzuerhalten ist. Schließlich kritisiert er, dass die Legasthenieforschung selbst
kaum theoriegeleitet ist, sondern durch eine naiv empiristische Vorgehensweise46
gekennzeichnet ist, dass die Definition des Begriffs Legasthenie die Testintelligenz als
Maßstab für den Schulerfolg zum wesentlichen Kriterium erhebt und dass aus der Forschung
Vorstellungen und Materialien zur Legastheniebehandlung, deren Effizienz sich experimentell
nicht nachweisen lässt, unsystematisch und wahllos entwickelt wurden. In den
darauffolgenden Jahren hat die massive Kritik von Schlee, insbesondere für den schulischen
Alltag lese-rechtschreibschwacher Kinder, zu weitreichenden Konsequenzen geführt47.
Ebenso wurde das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung von Störungen der
Schriftsprachentwicklung durch diese Kritik erheblich beeinflusst. Eine umfassende Kritik der
Forschungsaktivitäten zur Legasthenie legt Scheerer-Neumann (1997) vor. Auch von Seiten
der Legasthenieforscher selbst (z.B. Valtin 1974, 1975) häuft sich die Kritik an den
angewandten Forschungsmethoden und den der Legasthenie zugrunde liegenden Theorien. In
der
Willkür
der
Stichprobenzusammenstellung
sowie
in
der
Verwendung
des
Intelligenzquotienten als Parallelisierungsmerkmal wird ein weiterer Schwachpunkt gesehen.
Auch die Annahme eines kausalen Funktionsmodells des Lesens, demzufolge das Lesen von
der Intaktheit verschiedener kognitiver Funktionen wie der visuellen Unterscheidungs- und
Gliederungsfähigkeit, von auditiven, sprechmotorischen und sprachlichen Fähigkeiten sowie
von Gedächtnis und Symbolverständnis abhängt, wird von ihr in Frage gestellt. Die
korrelationsstatistisch als legasthenietypisch ermittelten Minderleistungen würden vorschnell
als kausal interpretiert und als Ansatz für therapeutische Förderung herangezogen. Weinert
kritisiert
die
Legasthenieforschung
1977
als
„defizitäre
Erforschung
defizitärer
Lernprozesse“.
Als Reaktion auf die Anti-Legasthenie-Bewegung und auf die Kritik am Lese- und Rechtschreibunterricht wurde eine bessere Erfassung des Lesevorganges und der Lernprozesse ge-
Lesen und Schreiben beizubringen. Manche Kinder benötigen über das Standardschulangebot hinausgehende
Methoden zum Schriftspracherwerb (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 66f.).
46
bei der die abhängigen Variablen eher willkürlich ausgewählt werden und durch die Parallelisierung von
Gruppen die Generalisierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt wird.
47
z.B. die Aufhebung des LRS-Erlasses durch die Kultusbehörden.
43
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
fordert. Hierbei sollten linguistische Gesichtspunkte im Bereich der Grundlagenforschung
sowie im Bereich der praxisorientierten Unterrichtsforschung berücksichtigt werden (vgl.
Schenk-Danziger 1991, S. 29). Defizitorientiert sucht die medizinische Forschung nach den
Ursachen in der biologischen Konstitution der Kinder. Auch die pädagogische Forschung ist
von der Suche nach Entwicklungsdefiziten geprägt. Zum Themenbereich Legasthenie gibt es
bereits umfangreiche Literatur, doch trotzdem besteht noch immer Uneinheitlichkeit sowohl
in den Forschungsergebnissen als auch darüber, was man unter Legasthenie zu verstehen hat.
„Wir wissen heute, dass Legasthenie lediglich ein Konstrukt ist, das bedeutet, dass Legasthenie ausschließlich durch theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von
der Definition existiert“ (Weinschenk 1981, zit. nach Schenk-Danzinger 1991, S. 28). Aus
dieser Konstruktdefinition kann geschlossen werden, dass Legasthenie ausschließlich durch
theoretische Vorannahmen definiert wird und nicht unabhängig von der Definition existiert
(vgl. ebd.). Demnach handelt es sich bei der Legasthenie um ein Konstrukt im Sinne der vorangegangenen Definition, ja sogar um ein länder- bzw. bundesländerspezifisches Konstrukt,
da unterschiedliche Länder bzw. Bundesländer den Begriff „Legasthenie“ unterschiedlich
definieren und unterschiedliche Messgrößen in der Diagnostik verwenden.
In den 80er Jahren setzte die Legasthenie-Therapeutin E.-M. Soremba Schwerpunkte in einem
„Früherkennen und Frühbehandeln von unzureichenden Lesevoraussetzungen im Anfangsunterricht“ (1986). Sie fordert eine genaueste Beobachtung sämtlicher Kinder während des gesamten Erstunterrichts, da sich ihrer Meinung nach sehr früh in den entsprechenden Beobachtungsrubriken
optisch
Häufungen
abzeichnen,
die
auf
eine
spezielle
Lese-
Rechtschreibschwäche hinweisen, sie bedient sich bei der Beschreibung der Legasthenie
überwiegend der Terminologie „Spezielle Lese-Rechtschreibschwäche“ (vgl. Soremba 1995,
S. 41). Im Laufe ihrer Erörterungen erwähnt Soremba auch die nicht zu unterschätzende Tatsache, dass sich manche Kinder bei Schuleintritt in einem Entwicklungsstadium befinden, in
dem die Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens und Schreibens noch nicht vollends
gegeben sind. Bezüglich Forschungsarbeiten der 80er Jahre kommt man nicht umhin, den
Namen der Grundschullehrerin und Diplompsychologin Ch. Mann (1987) zu erwähnen. Sie
legte ihren Schwerpunkt vor allem auf eine effiziente Arbeit im Unterricht im ersten Schuljahr, da im Anfangsunterricht des Lesens und Schreibens für viele Kinder die Weichen für
Erfolg oder Misserfolg gestellt werden. Ihre Devise ist demnach die Verhinderung von Legasthenie, indem das Einsetzen von Maßnahmen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erfolgt.
Dies sieht sie als ein probates und effizientes Mittel, um vor allem dem gefürchteten Einset-
44
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
zen der Sekundärproblematik48 entgegenzuwirken. Entscheidend für den Verlauf einer Legasthenie sind die Einstellung des Umfelds gegenüber dem betroffenen Kind und, wie schon
erwähnt, ein rechtzeitiges und effizientes Einsetzen von professioneller frühkindlicher Hilfe.
Bei der Diagnose „Legasthenie“ muss jedoch eine klare Abgrenzung gegenüber vorwiegend
emotional bzw. motivational bedingten Störungen, intellektuellen Minderbegabungen (Kognitive LRS) und Störungen, die durch ein nicht adäquates Lernangebot bedingt sind, vorgenommen werden. Nach jahrzehntelangen Forschungsarbeiten, die sich mit einem stetigen
Wechsel bezüglich der Terminologie und der Interpretation dieses Phänomens hinzogen, kann
Legasthenie definitiv als eine entwicklungs- oder anlagebedingte Teilleistungsstörung des
Gehirns angesehen werden. Dies bedeutet, dass die für das Lernen wichtigen Funktionen beeinträchtigt sind. Unter diesen Funktionen sind die sog. Sinneswahrnehmungen als das Bewusstwerden eines den Organismus treffenden Reizes zu verstehen49.
Schließlich erlebte die Legasthenieforschung in den Neunzigern eine ungeahnte Renaissance.
Die 90er Jahre brachten in Amerika dank moderner Apparate und Methoden aufschlussreiche
Ergebnisse hinsichtlich der hirnorganischen Lernfunktionen. Als einer der bedeutendsten
Hirnforscher dieser Zeit ist Dr. A. M. Galaburda (1989) zu nennen, der den genetischen Ursachenbereich von Legasthenie aufzeigen konnte. Bis heute gilt Legasthenie als ungemein lebendiges, interdisziplinäres Forschungsgebiet, dem eine ganze Reihe von internationalen Zeitschriften, von Reading Research Qualities bis zu den Annals of Dyslexia, gewidmet ist.
Das große Verdienst der medizinischen Sichtweise war, dass sie eine Alternative zur pädagogischen Sichtweise bot, in der die Kinder, die das Lesen und Schreiben nicht zufriedenstellend
erlernten, einfach als dumm abgestempelt und ausgesondert wurden. Während das pädagogische Aussonderungskonzept dem biologischen Denken verhaftet war („Wer nicht stark genug
ist, geht unter“), entsprach das medizinische Konzept einer kulturellen, dem Menschen gemäßen Weiterentwicklung („Wer krank und schwach ist, braucht unsere besondere Fürsorge“).
Legasthenie und LRS gelten als Erklärungskonzepte für das partielle Versagen von Kindern
und Jugendlichen beim Erlernen der Schriftsprache. Die Kritik am medizinischen Modell ist
vielfältig (s. auch Scheerer-Neumann 2003, Valtin 2001). Das Konstrukt Legasthenie ist theoretisch nicht sinnvoll, da es von der Annahme ausgeht, dass die Intelligenz ein wesentlicher
Faktor für den Erfolg im Lesen- und Schreibenlernen sei, weshalb Legasthenie eine erwartungswidrige Störung sei. Das medizinische Konstrukt ist außerdem methodisch nicht sinnvoll, da eingehende Messfehlerschwankungen bei der Feststellung einer Diskrepanz zwischen
48
49
z.B. psychische Probleme aufgrund permanenter Misserfolge.
bspw. wird der Gehörsinn durch Schallwellen gereizt.
45
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
Intelligenzquotient und Leistungen im Lese- und im Rechtschreibtest zu unzuverlässigen Resultaten führen (vgl. Valtin et al. 1981) und zudem, je nach Verwendung unterschiedlicher
Intelligenztests, unterschiedliche Kinder als Legastheniker diagnostiziert werden (vgl. ebd.).
Zusätzlich ist das Konstrukt diagnostisch nicht sinnvoll, da sich die so definierten Legastheniker weder in ihren Schwierigkeiten im Lesen und in der Rechtschreibung (vgl. Klicpera/
Gasteiger-Klicpera 1993) noch in anderen Funktionsbereichen (vgl. Valtin 1981; Weber/
Marx/Schneider 2002) von anderen Kindern mit LRS unterscheiden. Es ist also diagnostisch
nutzlos, weil die Tests nicht trennscharf sind und verschiedene Tests zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen. Darauffolgend zielte die Forschung in eine andere Richtung, um den betroffenen Kindern helfen zu können. Man erkannte, dass Sprache mehr als bloßes Auswendiglernen von Buchstaben und das Umsetzen von Buchstaben in Laute und umgekehrt ist. Jedes
Kind konstruiert sich Sprache in einem individuellen Lern- und Entwicklungsprozess. Der
Fortschritt diesbezüglich hängt von der Berücksichtigung des individuellen Erkenntnisstandes
der Kinder im Unterricht ab. Werden Fähigkeiten vorausgesetzt, die das Kind noch nicht hat,
kommt es mit größter Wahrscheinlichkeit zu Lernstörungen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die individuellen Voraussetzungen zu diagnostizieren und folglich individuellen
Schriftspracherwerb zuzulassen und zu fördern. In der Öffentlichkeit wie auch bei vielen Lehrern und bei Eltern setzte sich diese Einsicht nicht durch, sodass ein sich ständig weiter ausbreitender Nachmittags-Nachhilfe- und Legasthenie-Markt entstanden ist. Demzufolge war
und ist das klassische Legastheniekonzept eine profitable Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für
Ärzte, Therapeuten und Psychologen. Dieser pädagogische Irrtum hat zur Folge, dass dem
Schriftspracherwerb eine nur untergeordnete Bedeutung beimessen wird. Schließlich ist das
Konstrukt Legasthenie wissenschaftlich nicht haltbar, da ihm die Annahme, das Kind könne
aufgrund einer krankhaften Eigenschaft nicht Lesen und Schreiben lernen, zugrunde liegt. So
verweisen vor allem Mediziner auf Teilleistungsschwächen bzw. Funktionsschwächen im
kognitiven Bereich, z.B. Schwierigkeiten in der visuellen Wahrnehmung, in der
visomotorischen Koordination und in der auditiven Differenzierung. Die Annahme, dass
Funktions- oder Teilleistungsschwächen wesentlich zur Legasthenie beitragen, gilt jedoch als
falsifiziert
und
ist
empirisch
widerlegt
(vgl.
auch
Bühler-Niederberger
1991;
Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995; Valtin 2001). Nur ein geringer Prozentsatz der von Legasthenie betroffenen Kinder weist überhaupt derartige Defizite auf (vgl. Valtin 1981;
Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1993), jedoch gibt es viele Kinder mit Teilleistungsschwächen,
die keinerlei Probleme beim Schriftspracherwerb haben (vgl. Schenk-Danzinger 1991). Hieraus ergibt sich die Frage, warum solche Teilleistungsschwächen in einigen Fällen zu Legasthenie führen sollten und in anderen nicht und warum es Legastheniker ohne derartige Schwä46
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
chen gibt. Das Modell der Teilleistungsschwächen gibt darauf keine Antwort, eine detaillierte
Auseinandersetzung mit empirischen Befunden zu Teilleistungsstörungen bietet Valtin 2001.
Letztlich ist das klassische Legastheniekonzept therapeutisch nicht brauchbar, weil eben so
definierte Legastheniker keine anderen Therapiemaßnahmen als andere Kinder mit LRS brauchen und der Therapieerfolg auch nicht von der Intelligenz der Kinder abhängig ist (Weber/Marx/Schneider 2001). Dieses Ergebnis spricht für die Empfehlungen der KMK von
1978, alle Kinder mit Lese-Recht-schreibschwierigkeiten unabhängig von ihrem Intelligenzniveau zu fördern. Die fehlenden therapeutischen Erfolge von Programmen im visuellen oder
visuomotorischen Bereich (Scheerer-Neumann 1979) sind daher nicht überraschend. Dies gilt
auch für auditive Trainings nach Warnke (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1996). Innerhalb des
medizinischen Modells werden Kinder mit vermuteter Legasthenie vor allem einer umfangreichen Diagnose hinsichtlich ihrer Hirnfunktionen und verschiedener Wahrnehmungsbereiche unterzogen. Demnach kann das medizinische Modell therapeutisch schädlich sein, wenn
aufgrund falscher Fördermaßnahmen verhindert wird, dass Legastheniker gezielt am Versagen beim Lesen und Schreiben und an ihrer Einstellung zur Schule und zur Schriftsprache
ansetzende Hilfen erhalten. Der am klassischen Legastheniekonzept orientierte Förderunterricht in der Grundschule hat keinerlei Effektivität (Klicpera/Gasteiger-Klicpera 2001). Ursprünglich als Entlastung für betroffene Kinder gedacht, kann die Diagnose „Legasthenie“
ferner negative Auswirkungen auf deren Selbstbild haben (Naegele/Valtin 2001). Weil das
medizinische Legastheniekonzept die Ursachen für Defizite beim Lesen und Schreiben in das
Kind verlegt und damit den Blick auf die notwendigen Verbesserungen im Unterricht und bei
der Lehrerbildung verlegt, ist es schädlich für die kindliche Entwicklung. Die KMK stellte
1978 in den Grundsätzen zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim
Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens fest: „Das Lesen und Schreiben zu lehren gehört zu den Hauptaufgaben der Grundschule, und es ist ihre pädagogische Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass möglichst wenige Schüler gegenüber diesen Grundanforderungen versagen“
(Naegele/Valtin 2003).
Nach wie vor findet das medizinische Legastheniekonzept viel Anerkennung in der Öffentlichkeit. Zahlreiche ursächlich im Kind begründete Funktionen fallen in den Rahmen der
Symptomatik. Innerhalb des medizinischen Ansatzes finden sich ungeachtet dessen, dass alle
Annahmen des „klassischen“ kausalen Legastheniekonzepts als falsifiziert gelten, immer noch
Anhänger dieses Konzepts, die in der Öffentlichkeit viel Resonanz finden. Sie definieren Legasthenie als eine krankhafte Erscheinung und im Kind begründete Störung mit den Kennzeichen einer guten Intelligenz und dennoch schwacher Lese-Rechtschreibleistung, weshalb Betroffene allzu oft als krank, gestört oder gar behindert bezeichnet werden. Das medizinische
47
4 Kritische Betrachtung der Pathologisierung des Begriffs aus pädagogischer Perspektive
Modell ist insbesondere unbefriedigend, da es Defizite beim Lesen und Schreiben in das Kind
verlegt und deshalb der Blick auf die notwendigen Verbesserungen in Schule, Unterricht und
Lehrerbildung verstellt ist. Schließlich stellt sich die Frage, warum sich das Modell der Teilleistungsstörungen und das klassische Legastheniekonzept nach wie vor großer Beliebtheit
erfreuen und sich viele Gruppen darauf berufen50. Weil dieses Konzept eine entlastende Funktion für betroffene Kinder und alle Beteiligten hat51, bietet sich als eine mögliche Antwort an.
Auch für Eltern ist dieses Konzept nützlich, da Krankenkassen eher für eine Therapie von
Wahrnehmungsstörungen als für ein Lese- und Rechtschreibtraining zahlen. Indem es bestimmten Berufsgruppen eine zahlungswillige Klientel beschert, dient dieses Konzept ferner
als vortreffliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme standespolitischer Interessen.
Schlussfolgernd sind also Uneinheitlichkeit in den Förderkonzepten, unterschiedliche Forschungsansätze, kritische Analysen und Evaluationsberichte zur Wirksamkeit schulischer Legasthenikerbetreuung keine Irrwege der Pädagogik, da die Forschung auf dem Gebiet der Pädagogik und Psychologie einen wichtigen, sogar unentbehrlichen Stellenwert in der Schule
einnimmt. Verbesserungen in Didaktik und Methodik des Unterrichts sollen daraus abgeleitet
werden können, wodurch wiederum auch eine Möglichkeit zur Förderung der Flexibilität und
Kreativität im Unterricht gegeben ist. Bezüglich dieses Prozesses besteht auch für die wissenschaftliche Forschung eine permanente Herausforderung. Um genauestens jene Förderinhalte,
die den Kindern im Unterricht vermittelt werden, erfassen zu können, müssen stets die diagnostischen Instrumentarien aktualisiert werden, wodurch die Effektivität von Fördermaßnahmen richtig beurteilt und entsprechende Erkenntnisse für den Unterricht abgeleitet werden
können.
Die Antwort auf die Frage, wie nun auf die besondere und immer wiederkehrende Kritik in
Evaluationsberichten zur Förderung von Legasthenikern reagiert werden kann, die besagen,
dass je nach Theoriekonzept und Diagnoseinstrumentarium unterschiedliche und unterschiedlich viele Kinder legastheniespezifische Förderung erhalten und unterschiedlich hohe Fördereffekte erzielt werden, kann nur wie folgt lauten: Individualisierung sowohl in Diagnose und
Frühförderung als auch später im Unterricht. Eine solche Individualisierung fordert sowohl
Vorschulpädagogen als auch Eltern und später Lehrer in ihren fachlichen und menschlichen
Kompetenzen. Die resultierende Konsequenz wird die dem jeweiligen Kind individuell ange-
50
so zum Beispiel der „Bundesverband Legasthenie“, eine Interessensvertretung von Eltern legasthener Kinder,
aber auch eine Reihe von Lehrpersonen und Therapeuten.
51
Wenn es sich um eine Teilleistungsschwäche handelt, ist keiner schuld und niemanden trifft Verantwortung.
Lehrpersonen können sich von Schuldgefühlen befreien, wenn sie die Ursachen für schulische Leistungsprobleme in Defekten des Kindes sehen (z.B. in der neu erfundenen Dyskalkulie) und ihre Verantwortung für das Lesen- und Schreibenlernen des Kindes an außerschulische Instanzen delegieren können.
48
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
messene, den gerade aktuellen emotionalen, sozialen und leistungsmäßigen Bedürfnissen entsprechende und das Kind als ganzheitliche Persönlichkeit erfassende Förderung sein.
5
Begrifflich-definitorische Aspekte
5.1 Historisch-definitorischer Entwurf des Legastheniebegriffs
Legasthenie ist einer jener Begriffe, der in der Pädagogik und Psychologie durch eine sehr
wechselvolle Geschichte aufgefallen ist. Als ein an Legasthenie Interessierter stößt man in
Fachkreisen oft auf verschiedene Auslegungen von Legasthenie. Dazu trägt vor allem die
historische Entwicklung bei. Die ersten Publikationen über Legasthenie wurden im vorigen
Jahrhundert registriert. Immer wieder wurde es deutlich, dass es zuerst Ärzte waren, die sich
um 1900 mit der merkwürdigen Erscheinung beschäftigten, dass im sonstigen geistigen Leistungsbereich unauffällige Kinder nicht imstande sind, mehrsilbige Wörter zu lesen und nach
Diktat richtig zu schreiben. Aufgrund der genbedingt andersartigen Verarbeitung von
Eindrücken im Gehirn legasthener Menschen, wodurch es beim Erlernen des Lesens und
Schreibens mit den in Schulen üblichen Methoden zu Problemen kommen kann, haben Ärzte
dies vor über 100 Jahren als pathologisch eingeordnet und bis heute ist es unserer Gesellschaft
nicht gelungen, sich von dieser eklatanten Fehleinschätzung gänzlich zu befreien. Nur weil
Betroffene Eindrücke anders verarbeiten, sind sie nicht schwach, gestört, krank oder
behindert. An dieser Stelle soll ein historischer Einblick zu einem besseres Verständnis der
gesamten Problematik beitragen.
Unsere genormte Rechtschreibung wurde u.a. von Duden sowie von den humanistischen
Aufklärern Kant, Herder, Goethe und Lessing in die Gesellschaft getragen. Man muss sagen,
dass das 17. Jahrhundert letzte wichtige Grundlagen zur Normierung der Rechtschreibung
legte und unsere heutige Sprachkultur mehr prägte, als man wahrscheinlich vermuten möchte.
Daher ist eine gute Lese- und Rechtschreibkompetenz sehr stark abhängig von der
gesellschaftlichen Akzeptanz des Intellekts sowie von der gesellschaftlichen und kulturellen
Teilhabe. Die Forschung geht etwa auf das Jahr 1861 zurück, in dem der Pariser Arzt Broca
erstmals den Verlust der Sprache bei Erkrankten sowie bei Unfallopfern untersuchte und so
seine erste Studie herausbrachte. So waren die Mediziner die ersten, die sich für die Thematik
zu interessieren begannen. Der Neurologe Kussmaul (vgl. Müller 1964) bezeichnete 1877 das
Phänomen der Schriftsprach- bzw. Schriftspracherwerbsschwierigkeiten als erworbene
Wortblindheit bzw. „kognitive Alexie“. Er testete Erwachsene und die Erkenntnis, dass diese
49
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
erwachsenen „Alektiker“ Bilder, die man ihnen vorlegte, eindeutig bezeichnen konnten, während die Benennung von Buchstaben und einfachen Wörtern große Schwierigkeiten bereitete,
versetzte viele Ärzte in Erstaunen. 1899 spricht Dr. O. Berkhan sogar von einer partiellen
Idiotie52. Diese Definition bestätigten J. Kerr und der Augenarzt W. P. Morgan 1896, sie
beschrieben das Phänomen des gestörten Lesens und Schreibens genauer, sprachen in diesem
Zusammenhang jedoch von „angeborener Wortblindheit“. Diese Bezeichnung beschreibt ein
Defizit im Lesezentrum, das damals auch als mangelnde Entwicklung des Lesezentrums
bezeichnet wurde. Die „angeborene Wortblindheit“ ist jedoch von der „erworbenen
Wortblindheit“53 abzugrenzen. Morgan (1896) fand einen unmittelbaren Zusammenhang
zwischen einer Störung und einer pathologischen Veränderung eines exakt definierten
Bereiches des menschlichen Hirns. Er führte die gleichen Symptome auf die gleichen
Ursachen zurück; im Falle einer Schädigung dieses bestimmten Bereichs im Gehirn verliert
der Betroffene die Fähigkeit zu lesen. Folglich ging Morgan von einer Hirnschädigung in
diesem Bereich des Gehirns aus. Dies war damals ein verständliches Erklärungsmodell, um
dieses Phänomen als Krankheit zu bezeichnen. Durch seine Forschungen gab Morgan einen
weltweiten Forschungsanstoß.
Der ungarische Psychologe und Psychiater P. Ranschburg studierte umschriebene Ausfallserscheinungen erstmals an Kindern, bei denen jedoch kein neurologischer Befund erhoben werden konnte. Er führte 1916 die heute noch gebräuchlichen Bezeichnungen „Legasthenie“54
und Arithmasthenie (Rechenschwäche) ein. Er verstand darunter die Unfähigkeit von Schulkindern, sich das Lesen innerhalb der ersten Schuljahre anzueignen, obwohl sie normale Sinnesorgane besitzen. Auch eine ganze Reihe weiterer bedeutender Studien (u.a. Orton 1927)
wurden nur in einem relativ kleinen, vorwiegend psychiatrisch-neurologischen Kreis von
Fachleuten bekannt. Die Lehrerschaft, welcher die LRS-Problematik eigentlich zuerst und vor
allem hätte auffallen müssen, leistete jahrzehntelang praktisch keinen Beitrag zur Erforschung
der Lese-Rechtschreibschwäche (vgl. hierzu Schenk 1968). Ranschburg widmet 1928 als einer der Ersten dem Phänomen der „Lese- und Schreibstörungen des Kindesalters“ eine umfassende Arbeit. Im Zuge seiner Forschungen kam er allerdings zu der Erkenntnis, dass diese
„Störung“ auf einen Mangel an Intelligenz für höhere geistige Leistungen, die Lesen und
Schreiben seiner Meinung nach darstellen, zurückzuführen sei. Man sprach noch immer von
52
Dieser Begriff bezeichnet bereits eine Vorstufe der geistigen Behinderung.
Noch heute findet man den Begriff der kongenitalen Wortblindheit in der Medizin vor. In Dänemark findet der
Begriff „Wortblindheit“ noch bis heute Anwendung.
54
zunächst als „Leseschwäche“ bezeichnet. Für eine kurze Darstellung historischer Aspekte vgl. bspw. auch
Warnke 1990, S. 17ff.
53
50
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
partieller Idiotie oder partiellem Intelligenzdefekt55. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts einigte man sich bezüglich der Terminologie auf die Bezeichnung „Dyslexie“ als eine
Störung des Lesens und Schreibens. Bedingt durch die Isolation und die historischen Gegebenheiten zwischen 1930 und 1945 wurden andere Forschungsergebnisse in Deutschland
bzw. Österreich nicht bekannt. Das deutsche Bildungssystem wurde im Dritten Reich in Mitleidenschaft gezogen. In der Kriegszeit war Deutschland von der regen Erforschung der Legasthenie der USA abgeschottet. Im deutschsprachigen Raum beschäftigte man sich mit der
allgemeinen Erforschung des Lesens, in Amerika dagegen stand die Legasthenie bereits stärker im Blickpunkt der psychologischen und pädagogischen Forschungen. Während sich in
Amerika vorwiegend Pädagogen und Psychologen mit „reading disabilities“ beschäftigten,
setzte gleichzeitig eine intensive Arbeit in empirischen Forschungen ein, die auf Untersuchungen von etwaigen Zusammenhängen der legasthenen Störung mit anderen psychischen
Besonderheiten erweitert wurde. M. Monroe lässt 1932 in einem Standardwerk ein Motiv für
den Einsatz der Psychologen und Pädagogen in der Legasthenieforschung anklingen (vgl.
Monroe 1932), womit die pädagogisch-psychologischen Forschungen einsetzten. In Deutschland kannte man außer der alten Definition Ranschburgs keine anderen Sichtweisen. Im Jahr
1937 verglich die Psychologin L. Mach die Fehler Leseschwacher mit denen „normaler“ Leser, hierbei führte sie die Schwierigkeiten beim Lesevorgang auf ein geringes optisches Unterscheidungsvermögen für bestimmte Materialien und ein geringes Gedächtnis für optische
Gebilde zurück und brachte sowohl eine Aufzählung der Fehlermöglichkeiten als auch einen
Erklärungsversuch in ihre Forschungen ein (vgl. Mach 1937). Aufgrund der Tatsache, dass
die von Monroe erstellten Methoden und Ergebnisse für die Behandlung leseschwacher Kinder durchwegs erfolgreich waren, bezüglich der Symptomatologie und Diagnose als auch der
Therapie, entwickelte sich ein Umdenken hin zu einer optimistisch-pädagogischen Haltung
und weg von einer einseitig theoretischen Zielsetzung. Erst nach den Psychologen rückte die
Problematik demnach auch für Pädagogen in den Mittelpunkt, da man in dieser Zeit die Relevanz der Intervention auf pädagogisch-didaktischer Ebene erkannte. Es gab einen Forschungsschub in Sachen Legasthenie. Die Isolierung Deutschlands zwischen 1930 und 1945
sorgte dafür, dass in Deutschland erst in den fünfziger Jahren eine breitere Diskussion über
das Phänomen der Legasthenie begann. In den 50er und 60er Jahren gab es für viele bessere
Chancen im Bildungssystem in den alten Bundesländern. Zahlreiche Autoren der 50er und
55
Dies war eine falsche Diagnose, die jahrzehntelang bis zum heutigen Zeitpunkt nachhaltige Auswirkungen für
betroffene Schüler zur Folge hatte und noch haben kann. Ein Schicksal in Sonderschulen war besiegelt, obwohl
diese Schüler aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer durchschnittlichen, sehr oft auch überdurchschnittlichen Intelligenz in einem anderen schulischen System besser aufgehoben gewesen wären.
51
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
60er Jahre verwiesen darauf, dass Lese-Rechtschreibschwäche bzw. Lese- und Buchstabierunfähigkeit Symptome ganz verschiedener Syndrome sein können. Die Verschiedenheit von
Typen, Ursachen und Formen wurde mit zunehmenden Forschungsergebnissen immer deutlicher (vgl. Schenk-Danzinger 1991, S. 20f.). Die klassische Definition der Züricher Psychologin M. Linder aus dem Jahre 1951, sie definierte Legasthenie im Sinne eines kausalen Begriffs als spezifische Lesestörung mit Krankheitscharakter bei Kindern mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz, geht von der Diskrepanz der Intelligenz und der LeseRechtschreibleistungen aus und lautet wörtlich: „Unter Legasthenie versteht man eine spezielle, aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und
indirekt auch des selbstständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im
Verhältnis zur Lesefertigkeit) relativ guter Intelligenz“ (Schenk-Danzinger 1975, S. 71; vgl.
auch Linder zit. nach Angermaier 1970, S. 21ff.). Diese Definition ist deshalb gut, weil sie
einen wichtigen Hinweis darauf gibt, dass Legasthenie nicht auf einer Intelligenzminderung
basiert. Die Schweizer Psychologin gab mit ihrer Veröffentlichung „Über Legasthenie“
(1951) einen wichtigen Anstoß für Psychologen und Heilpädagogen. Die Legasthenie wird
von der Psychologin eindeutig als Teilleistungsschwäche identifiziert, wodurch das gängige
Vorurteil, dass Schüler mit Leseschwierigkeiten an einem Intelligenzdefizit leiden, widerlegt
wird. Ihr gelang es mit ihrer Diskrepanzdefinition, die Legastheniker aus ihrer Isolierung hervorzuholen.
Neben Linder waren es vor allem L. Schenk-Danzinger, H. Kirchhoff und A. Busemann, die
die ersten bahnbrechenden Forschungsarbeiten hervorbrachten und die Probleme des
leserechtschreibschwachen
Kindes
einem
größeren
Erzieher-
und
Lehrerkreis
im
deutschsprachigen Raum bekannt machten. Man war nicht mehr der Meinung, dass
Legastheniker auf eine Sonderschule für Lernbehinderte müssten, sondern dass Betroffene
einen besonderen pädagogischen Ansatz benötigen, um die Kulturtechniken zu erlernen. Zu
dieser Zeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, die in den verschiedenen
Forschungsbereichen bis heute andauern. Die Literatur über das Problem der Legasthenie ist
seit 1950 enorm angewachsen, sodass sie vom Einzelnen kaum mehr überblickt werden kann.
5.2 Definitionsversuch der Begrifflichkeit „Legasthenie“
Vereinfacht gesagt bedeutet Legasthenie „Lernschwierigkeiten mit Worten und der Sprache“.
Ausgehend von dieser Definition ergaben sich in der Historie verschiedene Ansatzpunkte
52
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
sowie sich ändernde Bezeichnungen56 und Sichtweisen, die die Ursache und den Umgang mit
dieser Problematik zu regeln versuchten. Das Phänomen der Lese-Rechtschreibstörung ist
schon im letzten Jahrhundert beschrieben worden, seither wurden, wie in den vorigen
Kapiteln gezeigt wurde, zahlreiche aber meist mäßig befriedigende Versuche unternommen,
den Begriff Legasthenie zu definieren. Dass Legasthenie eine nicht durch die Umwelt verursachte, sondern angeborene Entwicklungsbeeinträchtigung ist, wurde u.a. auch durch die Forschungsergebnisse des amerikanischen Neuropsychologen A. Galaburda bestätigt (vgl.
Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1998, S. 289). Die amerikanische International Dyslexia
Association definiert Legasthenie als „eine von mehreren umschriebenen Lernstörungen“ (zit.
nach Klasen 1999, S. 17) 57. Daher ist sie keine „Krankheit“, die man „hat“, sondern eine Art
und Weise, wie jemand funktioniert.
1995 lieferte Dr. A. Kopp-Duller die erste pädagogische Definition von Legasthenie, die dazu
beitragen möge, dass die noch immer vorherrschenden Vorurteile bezüglich der Begrifflichkeit allmählich aus unserer Gesellschaft verdrängt werden. Die erfolgreichen Forschungsarbeiten von Dr. A. Kopp-Duller in Amerika ermöglichen es im Besonderen legasthenen Kindern, die Hindernisse des Lesens, Schreibens oder Rechnens leichter zu bewältigen. Sie prägt
und bestätigt damit eine pädagogisch-didaktische Definition von Legasthenie, die Maria
Linder schon in den 50er Jahren erkannte. Diese pädagogische Definition von Legasthenie
impliziert auch eine Definition von Dyskalkulie und lautet wie folgt: „Ein legasthener
Mensch, bei guter oder durchschnittlicher Intelligenz, nimmt seine Umwelt differenziert
anders wahr, seine Aufmerksamkeit lässt, wenn er auf Symbole trifft, nach, da er sie durch
seine differenten Teilleistungen (Sinneswahrnehmungen) anders empfindet als nicht
legasthene Menschen. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens,
Schreibens oder Rechnens“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 23). Sie hat sehr erfolgreiche pädagogische Arbeitsprogramme für legasthene Menschen erstellt, die in ihren Büchern
(z.B. „Der legasthene Mensch“) ausführlich erläutert werden. Sie verlangt erstmals die
Förderung von legasthenen Kindern in drei Teilbereichen, diese sind die Aufmerksamkeit in
Zusammenhang mit dem Schreiben, Lesen und Rechnen, das Training an den differenzierten
Sinneswahrnehmungen, die man zum Schreiben, Lesen und Rechnen benötigt, und das
individuelle und spezielle Training am Symptom, an den Fehlern, die das legasthene Kind
macht. Besondere Bedeutung misst die Pädagogin dem Zeitfaktor bei, da jedes legasthene
56
isolierte oder umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, Legasthenie, LRS, LeseRechtschreibschwäche …
57
Die so genannte Dekodierung wird auch von Fachleuten übereinstimmend als das Kernproblem gesehen. Auf
ihr basiert das phonologische Verarbeitungsproblem.
53
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Kind, das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernt, hierfür seinen Bedürfnissen angepasste
Lernmethoden und wesentlich mehr Zeit benötigt als nicht legasthene Kinder. Außerdem
bestätigt sie, dass sich Legasthenie unabhängig von der Intelligenz entwickelt und dass die
Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen mit der sehr differenzierten Sinnes- und
Teilleistungswahrnehmung konfrontiert sind. Im Zusammenhang mit Legasthenie von
Schwächen und Störungen zu sprechen, vermeidet sie. Weiters hat sie die Begriffe
Primärlegasthenie und Sekundärlegasthenie geprägt (s. Kopp-Duller 2008a, S. 25f.). Mit ihrer
pädagogischen Definition wird vor allem erstmals klar und nachvollziehbar die Tatsache
anerkannt, dass es Menschen gibt, bei denen der Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozess
andersartig
abläuft,
womit
Legasthenie
als
vorrangig
pädagogisch-didaktisches
Interventionsgebiet etikettiert wird. Somit wurde die Problematik nicht mehr, wie es durch die
Gesundheitsberufe üblich war, als lediglich pathologisches Problem definiert (vgl. KoppDuller/Pailer-Duller 2008a, S. 24). Der amerikanischen Legastheniewissenschaftlerin Dr. S.
Shaywitz gelang es 1998, die Legasthenie funktionell zu belegen, wobei sie feststellen konnte,
dass die Gehirnmuster legasthener Menschen signifikant anders sind als die nicht legasthener
Menschen. In der Folge wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends von der amerikanischen
Wissenschaftlerin Dr. P. Tallal das reibungslose Funktionieren der optischen und akustischen
Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Erlernen des
Schreibens und Lesens beschrieben (vgl. Tallal 2000). Tallal zeigte, dass Kinder mit Defiziten
der Laut- und Schriftsprache auch Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung der zeitlichen
Reihenfolge von rasch aufeinander folgenden akustischen Signalen haben und deshalb
bestimmte Konsonanten und Phoneme nur schwer wahrnehmen können. Neben den Effekten
der auditiven zeitlichen Wahrnehmung und der Entwicklung eines funktionierenden
phonologischen Systems spielt nach derzeitigem Forschungsstand auch die visuelle zeitliche
Wahrnehmung eine große Rolle beim Erwerb des Lesens und Schreibens (vgl. auch
Livingstone et al. 1991). In einer Legasthenie-Definition von führenden amerikanischen
Wissenschaftlern ist das Intelligenz-Diskrepanz-Kriterium nicht mehr enthalten, da es sich
aufgrund
der
aktuellen
wissenschaftlichen
Erkenntnislage
zwar
als
historisch
nachvollziehbare, aber falsche Hypothese erwiesen hat (vgl. Lyon et al. 2003, S. 1-14). In den
USA wurden 2004 entsprechende rechtliche Änderungen für die Diagnostik vorgenommen,
womit ein Intelligenztest nicht mehr vorgeschrieben ist (vgl. U.S. Individuals with Disabilities
Education Act [IDEA] 2004, S. 118; Silverstein 2005). Erforderlich ist eine kenntnisreiche
und genaue Förderdiagnostik des Lesens sowie lese- und schreibbezogener Fähigkeiten von
Anfang an. Dabei sollen auch standardisierte Tests zum Einsatz kommen. Eine bloße
Ermittlung von Prozenträngen in standardisierten Tests genügt allerdings nicht.
54
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Das Phänomen Legasthenie ist als eine „umschriebene Beeinträchtigung der Lese- und
Rechtschreibfähigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch unkorrigierte
optische oder akustische Beeinträchtigungen oder unangemessene Beschulung erklärbar ist.
Sie ist nicht Folge anderer Störungen (wie z.B. Intelligenzminderung, grober neurologischer
Defizite, unkorrigierter Seh- und Hörstörungen oder emotionaler Störungen), aber sie kann
zusammen mit diesen auftreten. […] Häufiger treten andere klinische Symptome (wie z.B.
Aufmerksamkeitsstörung
oder
Störungen
des
Sozialverhaltens)
oder
andere
Entwicklungsstörungen (wie umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen
oder des Sprechens und der Sprache) gemeinsam auf. Sie gilt also als entwicklungsbiologisch
und zentralnervös bedingte Störung des Erlernens des Lesens und Schreibens alphabetischer
Schriftsprache“ (Warnke/Wewetzer/Grimm 1998 zit. nach Schulte-Körne 2001b, S. 32) zu
definieren. Eines der wichtigsten und fundamentalsten Kriterien ist die sich in der Norm
befindliche Intelligenz. Kinder mit Leseschwierigkeiten, die sich aufgrund einer allgemeinen
Intelligenzschwäche ergeben, sind also nicht als legasthen zu bezeichnen, womit Legasthenie
„eine ganz spezifische Schwäche beim Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens bei
mindestens durchschnittlicher Intelligenz“ (Küspert 2005, S. 50) zu verstehen ist. Diese
Einsicht verhalf legasthenen Kindern zur Chance auf eine spezielle Förderung, ohne generell
als wenig intelligent eingestuft zu werden. Somit kann die Legasthenie als eine
Lernschwierigkeit beim Schriftspracherwerb bezeichnet werden, die Defizite bzw.
Teilleistungsstörungen58 im Bereich des Lesens und Rechtschreibens zur Folge hat, die bei
jedem Intelligenzgrad vorkommen kann und unabhängig von sonstigen schulischen
Leistungsfähigkeiten des Betroffenen auftritt. Von einer Legasthenie kann man sprechen,
wenn bei dem Betroffenen prä-, peri- und/oder postnatal genbedingte Wahrnehmungs- bzw.
Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen feststellbar sind, also die Sinneswahrnehmungen
differenziert
sind,
und
eine
entsprechende
Fehlersymptomatik
trotz
mindestens
durchschnittlicher Intelligenz vorliegt. Im Falle der Legasthenie handelt es sich also um eine
anlagebedingte Hirnfunktionsschwierigkeit, durch die der Schriftspracherwerb trotz
mindestens durchschnittlicher Intelligenz und Beschulung außerordentlich und langfristig
erschwert wird, wodurch Schulkinder nicht die für ihre Altersgruppe zu erwartenden Lese-
58
Die legastheniebedingten Defizite im Bereich des Lesens und Rechtschreibens werden als
Teilleistungsstörungen definiert, weil das legasthene Kind, obwohl es über eine mindestens durchschnittliche
Allgemeinintelligenz verfügt, in einem bestimmten Teilbereich auffällige, schwer zu mildernde Schwierigkeiten
hat. Diese können im Lesen und/oder in der Rechtschreibung (Legasthenie), allein in der Rechtschreibung
(isolierte Rechtschreibstörung) sowie allein im Lesen (umschriebene Lesestörung) liegen. Teilleistungsstörung
wird als Oberbegriff verwendet.
55
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
und Schreibfähigkeiten erlangen. Diese Definition soll der vorliegenden Arbeit als Grundlage
dienen.
Heute weiß man, dass Legasthenie in einem multikausalen Zusammenhang gesehen werden
muss, wobei es sich um eine sehr individuelle Diagnostik sowie einen individuellen Förderbedarf handelt. Legasthenie wird nicht als Lernbehinderung oder als Beeinträchtigung der
Lernfähigkeit, sondern als Problem einer fehlenden Passung (vgl. auch Holtstiege 2009, S. 7,
86, 120) zwischen Lernvoraussetzungen und Lernangeboten verstanden. Hinsichtlich der Legasthenie-Symptomatik sowie der Diagnostik gilt es, zwischen Primärsymptomen, Begleitsymptomen und Sekundärsymptomen zu unterscheiden. Zur den Primärsymptomen59 werden
all jene Auffälligkeiten gerechnet, die direkt auf der Leistungsebene des Lesens und Rechtschreibens zu beobachten sind. Unter Begleitsymptomen sind Beeinträchtigungen und Störungen auf anderen Leistungsgebieten zu verstehen, die jedoch gehäuft bei leserechtschreibschwachen und -gestörten Kindern auftreten. Sekundärsymptome60 sind solche,
welche sich indirekt auf der Leistungsebene des Lesens und Rechtschreibens auswirken, ihrerseits dann auch wiederum Rückwirkungen auf die schulische Leistungsfähigkeit haben.
5.2.1
Primärlegasthenie
Allgemein wird die grundsätzliche Ausprägung von Lese- und Schreibproblemen, die einen
biologischen Ursprung haben, als Primärlegasthenie bezeichnet, womit eine Legasthenie ohne
sekundäre allgemeine Lesitungsstörungen gemeint ist. Es kann beobachtet werden, dass das
Kind bei diesen Tätigkeiten zeitweise überhaupt nicht bei der Sache ist und deshalb vermehrt
Fehler (Wahrnehmungsfehler) produziert, ohne sich dessen im Moment des Schreibens bewusst zu sein. Hervorgerufen werden diese Unaufmerksamkeit und die daraus folgenden
Wahrnehmungsfehler dadurch, dass der legasthene Mensch über eine abweichende Ausprägung der für das Lesen und Schreiben benötigten Sinneswahrnehmungen verfügt. Hier treten
Schwierigkeiten lediglich durch unzureichende Methoden und biogenetische Anlagen auf
(vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 55). Es müssen spezielle Förderungen im pädagogisch didaktischen Bereich erfolgen.
Hat ein Kind eine zeitweise Unaufmerksamkeit beim Lesen, Schreiben oder Rechnen61, differente Sinneswahrnehmungen und weist es eine entsprechende Fehlersymptomatik auf, ist
sonst aber nicht auffällig geworden (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 25), und ergeben sich beim
59
s. Primärlegasthenie, Kapitel 5.2.1.
s. Sekundärlegasthenie, Kapitel 5.2.2.
61
Es kann auch nur ein Bereich betroffen sein.
60
56
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Erlernen des Schreibens oder Lesens Schwierigkeiten, die eine biogenetisch bedingte Ursache
haben, ist von einer Primärlegasthenie zu sprechen. Die Betroffenen haben Probleme beim
Erlernen des Schreibens und Lesens „mit standardisierten, in den Schulen angebotenen Methoden […], weil die Informationsverarbeitung anders erfolgt“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller
2008a, S. 55).
Falls diese Form von Legasthenie gleich als solche erkannt wird, kann dem Betroffenen direkt
geholfen werden, so verbleibt er in der Primärlegasthenie, wobei bei dieser Ausprägung der
Legasthenie keinerlei psychische, physische oder andere Verursachungen mitwirken, die die
Anlage negativ beeinflussen könnten.
Wenn die eigentliche Primärlegasthenie unerkannt und unbehandelt bleibt, kann durch die
Frustration oder andere begleitende Umstände eine Sekundärlegasthenie entstehen. Die dann
notwendigen Maßnahmen sind umso umfangreicher und schwieriger. Gegenmaßnahmen zur
Prävention des Auftretens von Sekundärproblematiken sind das Training der Aufmerksamkeitsfokussierung, die Schärfung der Sinneswahrnehmung sowie das Training an den Fehlersymptomen. Treten Sekundärprobleme auf, so sind Interventionen in den Bereichen, die eine
Sekundärlegasthenie kennzeichnen, anzustreben.
5.2.2
Sekundärlegasthenie
Von einer Sekundärlegasthenie spricht man, wenn sich zu den Schwierigkeiten der Primärlegasthenie psychische oder physische Probleme – das können schon vorhandene oder durch
das Nichterkennen der Legasthenie und die unterlassene entsprechende Förderung erworbene
sein – hinzugesellen. Die Entwicklung einer Sekundärlegasthenie basiert also auf denselben
Gründen wie eine erworbene Lese-Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche.62 Demzufolge wird das Kind ständig Misserfolge haben und in den Teufelskreis der Lernstörungen
hineingezogen werden, die Begleit- oder Folgeerscheinungen einer unbeachteten Legasthenie
sind. Vor allem das Unverständnis der Umgebung, ein Mangel an Ermutigung, Lob und Zuspruch63, das Fehlen von Erfolgserlebnissen, die ständige Überforderung, aber auch der ständige Vergleich mit den Klassenkameraden, Zeitdruck, Bloßstellungen u.Ä. führen leicht zu
einer Sekundärlegasthenie mit den typischen Anzeichen. Folglich können sich zusätzlich zu
den Lese-, Schreib- oder Rechenproblemen auch im psychischen Bereich Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Zu diesen zählen Aggressionen durch ständige Selbstverteidigung des Kindes,
62
etwa Verursachungen im physischen Bereich und Verursachung im psychischen Bereich.
Die Funktion des Lobes ist es, das Kind dazu zu motivieren an einer Sache weiterzuarbeiten, es zu
unterstützen und nicht nachzulassen und damit seine Lernbereitschaft zu bekräftigen (vgl. Prange/ Strobel-Eisele
2009, S. 88).
63
57
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Depressionen, Destruktivität und Verleugnen der Misserfolge, Abwehrverhalten vor allem
gegen Schulbelange, mangelnde Frustrationstoleranz (dem Kind mangelt es durch die ständigen Misserfolge an Selbstvertrauen und Leistungsbereitschaft), Impulsivität bzw. unerwartetes plötzliches Handeln (das Kind gibt voreilige Antworten, hat Schwierigkeiten Aufträge
ganz zu erfassen, es hat generell Schwierigkeiten mit dem Zuhören, unterbricht andere) sowie
Unruhe (diese tritt nur im direkten Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Schreibens und
Lesens auf und unterscheidet sich dadurch von krankhafter Unruhe, sog. Hyperaktivität) 64
u.v.m.
Die Ausbildung einer Sekundärlegasthenie ist als Prozess aufzufassen. Besonders beim Vorhandensein von psychischen Auffälligkeiten durchwandert der Betroffene verschiedene Stufen, da die nötige Anerkennung, die jeder Mensch braucht, um gesund zu bleiben, fehlt. Die
auftretenden Leistungsdefizite werden für die Betroffenen deutlich spürbar und in dieser Phase suchen viele Kinder die Begründung dafür bei sich selbst (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller
2008a, S. 56). Die mit den Leistungsdefiziten zusammenhängende ständige Kritik von Seiten
der Schule (Lehrer sowie Schüler) als auch von Seiten des näheren privaten Umfeldes zu
Hause (Eltern, Geschwister) schädigt das Selbstwertgefühl schwer, was eine Blockade der
Lernbereitschaft zur Folge hat. Somit kommt es zu einem scheinbar ausweglosen Zustand. Zu
den speziellen Förderungen im pädagogisch-didaktischen Bereich, die bei einer Primärlegasthenie für einen Erfolg ausreichen, müssen in diesem Fall individuelle Interventionen und
somit fachlich gezielte Hilfe durch die Gesundheitsberufe, Psychologen, Mediziner, Ergotherapeuten, Logopäden etc., erfolgen.
5.3 Warum nicht jedes Kind mit Problemen beim Lesen- und
Schreibenlernen Legasthenie hat …
Kinder mit erheblichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten werden in der medizinischpsychiatrischen Diagnostik in zwei Gruppen eingeteilt. Die Diagnose „Legasthenie“ wird vergeben, wenn zwischen der gemessenen Intelligenz eines Kindes und seinem Abschneiden in
normierten Lese- und Rechtschreibtests eine starke Diskrepanz vorliegt. Ist der Unterschied
zwischen den Werten im Intelligenztest und im Lese-Rechtschreibtest nicht so groß und
64
Die echte Hyperaktivität ist eine hirnbiologisch bedingte Krankheit, die auch als ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) bezeichnet wird. Sie kann von der genannten Unruhe nur schwer unterschieden
werden, weil die Symptomatik sehr ähnlich bis gleich ist.
58
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
kommen komorbide Störungen 65 hinzu, wird die Diagnose „LRS“ gestellt. Diese Vorgehensweise ist international längst höchst umstritten66, da diese Diagnostik meist nur zu sehr generellen Empfehlungen führt und keine Bedeutung für die Förderung hat. Außerdem gibt es
(psychometrische) Schwierigkeiten bei der Diagnostik67 und die beiden Kindergruppen unterscheiden sich in ihren Leseleistungen und leserelevanten kognitiven Fähigkeiten nicht oder
nur äußerst schwach voneinander. Es wird den Kindern – wenn überhaupt – viel zu spät geholfen, da die Diagnose „Legasthenie“ oder „LRS“ meist frühestens am Ende der zweiten
Klasse gestellt werden kann.
Es wird im Allgemeinen zwischen der biogenetischen Problematik (Legasthenie) und der erworbenen Problematik (LRS) unterschieden (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 42).
LRS ist eine Problematik, die durch besondere Umstände im Leben des Kindes bedingt und
erworben werden kann, sie ist die Bezeichnung für alle Störungen, die dazu führen, dass Lesen und/oder Rechtschreiben nicht bzw. nur schlecht erlernt werden kann. Hierbei ist selbstverständlich die Verursachung zu beachten, eine gezielte Förderung im Fehlerbereich ist dringend erforderlich. Zum einen können diese Verursachungen im physischen Bereich68 und zum
anderen im psychischen Bereich69 liegen. Im psychischen Bereich können sich außerdem
Verhaltensstörungen wie Unruhe (besonders beim Lesen oder Rechnen), Abwehrhaltung
hauptsächlich auf Schulbelange bezogen, Aggressionen durch andauernde Selbstverteidigung
von Seiten des Kindes, Depressionen, Impulsivität sowie Destruktivität entwickeln (vgl.
a.a.O., S. 47f.). Um das Jahr 1970 brachte R. Valtin die Bedeutung des Milieus für die Entstehung der Legasthenie ins Gespräch und fand als Ursache für eine LRS Merkmale einer sozialen Grundschicht vor, die dazu zu neigen scheint, ihre Kinder zu vernachlässigen (vgl. Valtin
1970a). Als solche Merkmale bezeichnete sie schlechte Wohnverhältnisse, hohe Geschwisterzahl, allgemeine sprachliche Schwäche, geringes Bildungsniveau der Eltern sowie wenig Zeit
und Interesse für das Kind. Hieraus schloss Vatlin, dass LRS neben endogener Disposition
auch durch die Zugehörigkeit zur sozialen Grundschicht begünstigt würde. Da legasthene
65
Als Komorbidität wird in der Medizin ein zusätzlich zu einer Grunderkrankung vorliegendes, diagnostisch
abgrenzbares Krankheits- oder Störungsbild bezeichnet. Komorbiditäten können, müssen aber nicht – im Sinne
einer Folgeerkrankung – ursächlich mit der Grunderkrankung zusammenhängen.
66
Arbeiten zur Fragwürdigkeit der Diskrepanz-Definition der Legasthenie aus Deutschland sind bspw. Marx/
Weber/Schneider 2001, aus den USA bspw. Lyon/Fletcher 2001.
67
So kann ein Kind z.B. bei wiederholter Testung die Gruppe wechseln, weil ein anderer IQ-Wert und/oder
Lese-Rechtschreibtestwert gemessen wird.
68
Das sind beispielsweise Störungen in der motorischen Entwicklung, der Seh- oder Hörfunktion, in der
Sprachentwicklung, kognitiven Entwicklung etc. Hierzu gehören auch die durch Sehfehler bedingten
Lesestörungen, die durch Korrektur z.B. mittels einer Sehhilfe schnell und nachhaltig verbessert werden können.
69
Hierzu zählen etwa der Wechsel im sozialen Umfeld, Krankheit bzw. längeres Fehlen im Unterricht, der Tod
eines dem Kind nahestehenden Menschen, die Scheidung der Eltern, sexueller Missbrauch, Geschwisterrivalität,
Überforderung und Frustration.
59
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Kinder aus der Oberschicht wesentlich mehr Förderangebote bspw. in Form von Privatkursen
erfahren als Kinder aus der Mittel- und Unterschicht70, darf die Rolle des Milieus nicht unterschätzt werden. Erkennungsmerkmale sind Augenprobleme wie etwa Schielen oder unerkannte Fehlsichtigkeit, Entwicklungsstörungen des sensorisch-integrativen Bewegungssystems,
aber auch sozio-ökonomische oder kulturelle Deprivation71 und emotionale Probleme72 beim
Lesen- und Schreibenlernen sowie viele Rechtschreibfehler, die sich jedoch nicht in Kategorien einteilen lassen, vielmehr liegt die schwache Lese- und Rechtschreibleistung in der Unkenntnis des Wortes, in Flüchtigkeitsfehlern und in lückenhaftem Regelwissen begründet. So
wird z.B. ein Wort in einem Text immer gleich falsch geschrieben. Durch ein gezieltes Training an den Fehlern und durch Verbesserung des Regelwissens werden gute Erfolge erzielt.
Bei der LRS sind keine differenten Sinneswahrnehmungen vorhanden, sie kann durch intensives und gezieltes Üben an den Fehlern und eine eventuell notwendige psychologische
und/oder medizinische Betreuung korrigiert werden. Wurde in einer pädagogischen Förderdiagnostik festgestellt, dass es sich um eine erworbene LRS handelt, so ist eine multiaxiale Diagnostik73 sowie eine Hilfe durch entsprechende Gesundheitsberufe anzustreben, da sich andernfalls eine Behebung oder Verbesserung und damit der gewünschte Erfolg nicht einstellen
wird (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 47, 77). Da auch mehrere Ursachen parallel
wirken können, ist für die Erstellung eines Förderplans eine genaue Diagnostik notwendig.
Die Legasthenie sowie die LRS umfassen den gesamten Problembereich im Lesen und Rechtschreiben. Bei manchen Kindern besteht ein erhöhtes Risiko für die Entstehung bzw. das
Vorhandensein einer Legasthenie, wenn z.B. deren Sprachentwicklung im Vorschulalter ge-
70
Studien zeigen, dass der schulische Erfolg durch Legasthenie stark beeinträchtigt wird. Bei großer Unterstützung durch finanziell gut situierte Eltern können betroffene Kinder und Jugendliche, die häufiger auch über
einen überdurchschnittlichen IQ verfügen, höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die Legasthenie mit weiteren
Störungen, z.B. Verhaltensstörungen und ADHS auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus mit
geringeren/geringen Ressourcen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich (vgl. Strehlow 2004).
71
z.B. das Aufwachsen in einem schriftfernen Elternhaus. Das bedeutet, dass es dort wenig Bildungsgüter – also
anregende und kindgerechte Bücher und Zeitschriften, Computer und Software, Rückzugsmöglichkeiten zum
Lesen etc. – gibt und das Kind wenig literalitätsfördernde Interaktionen erlebt. Möglicherweise besteht im Elternhaus eine Intoleranz gegenüber dem Lesen oder den Lesestoffen, sodass das Kind keine Lesevorbilder hat.
72
Scheidung, Todesfall in der Familie, aber auch Überbehütet-Sein.
73
Die multiaxiale Diagnostik besteht aus drei Ebenen, und zwar aus der pädagogischen, der psychologischen
und der medizinischen Diagnose. Diese Form der Diagnostik dient dazu, weitere mögliche Ursachen von
Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens aufzudecken. Der erste
Ansprechpartner ist zunächst natürlich der Klassenlehrer sowie eine pädagogische Institution. Bei den folgenden
Schritten kommt es auf der externen Ebene zur Untersuchung von seelischen Erkrankungen, zum Überprüfen der
Intelligenzentwicklung, der Entwicklung der Sprache, der Motorik, des Lebensumfeldes des Kindes sowie der
familiären und schulischen Gegebenheiten (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 77f.).
60
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
stört oder verzögert verläuft oder eine einschlägige familiäre Vorbelastung vorliegt74 (vgl.
Fischer/DeFries 2002; Schulte-Körne 2001a).
Der Begriff Legasthenie wird für Schwächen beim Erlernen von Lesen, Schreiben oder
Rechtschreibung, die nicht durch Verursachungen im physischen und psychischen Bereich
oder durch allgemeine geistige Minderbegabung verursacht sind, verwendet. Im Gegensatz
zur LRS wird die Legasthenie durch differente Sinneswahrnehmung und dadurch entstehende
Desorientierung hervorgerufen. Sofern keine weiteren körperlichen Ursachen festgestellt werden, können vereinzelt vorschulisch Auffälligkeiten im akustischen Bereich, wie verzögerter
Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, Sprechschwierigkeiten, beobachtet werden. Eine relativ gute Vorhersage erlauben standardisierte Verfahren, die in den letzten Jahren
publiziert wurden, z.B. das „Bielefelder Screening zur Früherkennung von LeseRechtschreibfähigkeit“ (BISC), das im Kindergarten eingesetzt wird. Faktoren, die infolge
einer Legasthenie auffallen, sind im Wesentlichen Einschränkungen im phonematischen Bereich, in der Wahrnehmung und der Unterscheidung von Reimen, Silben und Lauten. Probleme in anderen schulischen Teilgebieten sind darüber hinaus möglich. Legasthenie-Betroffene
weisen trotz mindestens durchschnittlicher Intelligenz einen deutlichen Rückstand in ihrer
Lese- und Rechtschreibfähigkeit gegenüber Mitschülern auf. Die multikausal verursachte Legasthenie wird oft vererbt und ist als biogenetische Anlage vorhanden. Das bedeutet, dass
Legasthenie ein Leben lang besteht und nicht „heilbar“ ist. Nur durch ein spezielles Training
können Erfolge im Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich und schließlich im
Symptombereich erzielt werden. Linder grenzte Legastheniker ab: nicht nur von den unterdurchschnittlich intelligenten Kindern, sondern auch von solchen mit manifesten Störungen
oder sonstigen körperlichen Behinderungen. Legasthenie sei erkennbar an typischen Fehlern,
den Reversionen75, sowie an typischen Erscheinungsformen wie Raumlagelabilität bzw.
Rechts-Links-Unsicherheit, visuellen Gliederungsschwächen und Linksdominanz (vgl. Linder
1951). Sehr typisch ist, dass in einem Text unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes zu
finden sind. Hier führt das Üben an den Fehlern nur zu Frustration und Blockaden, bei ausbleibender Hilfe sogar zu psychischen Störungen. Es muss ein individuelles, speziell auf das
Kind abgestimmtes Trainingsprogramm erstellt werden, indem besonders die differenzierten
Sinneswahrnehmungen des Kindes geschult werden. Die Vorstellung von Verarbeitungsschwächen in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen, in der Motorik und im Zusammen-
74
Dies sind Kinder, deren nahe Familienangehörige (Eltern, Großeltern, Geschwister) während der Schulzeit mit
gravierenden Lese-Rechtschreibproblemen zu kämpfen hatten.
75
Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben oder Vertauschungen der Reihenfolge von Buchstaben.
61
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
spiel zwischen Wahrnehmungsbereichen und Motorik, macht zugleich einsichtig, warum die
Lernprobleme legasthener Kinder nichts mit zu geringer Intelligenz zu tun haben (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 45). Neben einer mindestens durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Intelligenz ist für die Diagnostizierbarkeit einer Legasthenie wichtig, dass keine erkennbaren Gründe für das Versagen beim Lesen- und Schreibenlernen, wie bspw. ein Seh- oder
Hörfehler, vorliegen.
In Deutschland unterscheidet man die Begriffe Legasthenie und Lese-Rechtschreibschwäche
meist überhaupt nicht. Dies bedeutet für legasthene Kinder oft schwere Nachteile, da die Förderung meist ausschließlich ein Üben am Symptom mit sich bringt. Die Münchner Psychologin Dr. E. Klasen betont, dass Lese-Rechtschreibschwäche nicht gleichzusetzen ist mit LeseRechtschreibstörung, da Schwächen auch bei Kindern, die zweisprachig sind oder die die
Schule versäumt bzw. gewechselt haben, vorliegen können. Sie sind vorübergehender Art und
können mit entsprechender Hilfe meist bald überwunden werden. Eine Legasthenie, die hier
synonym mit einer Lese-Rechtschreibstörung verwendet wird, ist dagegen eine neuropsychologische Teilleistungsstörung im Bereich der Schriftsprache (vgl. Klasen 2003), die den
Schriftspracherwerb erheblich beeinträchtigt. Betroffen sind wichtige höhere Funktionen des
Gehirns, sodass die Verarbeitung des Wahrgenommenen im Gehirn nicht fehlerfrei funktioniert. Wie wichtig eine mehrdimensionale Unterstützung von legasthenen Kindern ist, zeigen
die beträchtlichen Erfolge, die man mit einem umfassenden Training erzielen kann.
Die Unterscheidung der biogenetisch bedingten Legasthenie und der erworbenen LeseRechtschreibschwäche ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil die Förderungen und Interventionen, die in beiden Fällen stattfinden sollten, unterschiedlich sein müssen. Voraussetzungen für den angestrebten Erfolg sind nicht nur das rechtzeitige Erkennen der Legasthenie
und die individuelle Förderung, sondern auch das weitreichende Verständnis, das dem legasthenen Kind von seiner Umgebung sowie von der Gesellschaft entgegengebracht werden sollte.
5.4 Das legasthene Kind
Die Prävalenzrate für die von Legasthenie Betroffenen divergiert nach Aussage verschiedener
Wissenschaftler von 2 bis 20% der Bevölkerung, wobei eine Prävalenz von 4-5% im
internationalen Vergleich konvenabel ist (vgl. hierzu Scheerer-Neumann 1996; Schulte-Körne
2001a; auch Eichler 2002). Den Anforderungen des Unterrichts zu genügen, gelingt
Legasthenikern trotz großer Anstrengungen nur mühsam oder gar nicht. Obwohl es
62
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
inzwischen zahlreiche Untersuchungen über die LRS und Legasthenie gibt, sind diese
Beeinträchtigungen noch lange nicht vollständig erforscht.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Legasthenie, im Sinne der zehnten Internationalen Klassifikation für psychische Störungen (ICD-10), als Entwicklungsstörung anerkannt,
jedoch unterstützt dies eine medizinisch definierte Auffassung der Problematik. Da die Ebenen der Gesundheitsberufe und des pädagogisch-didaktischen Bereichs auseinanderzuhalten
sind und die Relevanz der Pädagogen und ihrer Arbeit betont werden sollte, wird die Pathologisierung von Legasthenie, wie sie vor allem durch die ICD-10 gerechtfertigt scheint, da
Probleme beim Schriftspracherwerb in diesem Fall als Krankheit bezeichnet werden, abgelehnt. Dies ist eine Definition der Gesundheitsebene, womit eine Feststellung und auch eine
Intervention auf pädagogischer Ebene völlig ausgeblendet werden, sodass diese Definition aus
pädagogischer Sicht als völlig unzureichend anzusehen ist.
Da sich die Legasthenie nur im Zusammenhang mit Symbolen (Buchstaben und Zahlen) negativ auswirkt, ist es leider nur begrenzt möglich, im Kleinkindalter Erkenntnisse über das
Vorhandensein einer Legasthenie zu erlangen. Legasthenie wird meist erst ab Beginn der
Schriftsprachaneignung diagnostiziert, da sie sich definitionsgemäß als Schriftsprachproblem
zeigt. Allerdings können bereits im Kindergartenalter im Bereich der für den LeseRechtschreiberwerb notwendigen Vorläuferleistungen Risikofaktoren festgestellt werden76.
Generell spricht man die Legasthenie betreffend von einer völlig natürlichen Veranlagung, da
das legasthene Gehirn lediglich genbedingt anders gesteuert wird. Je jünger der Betroffene ist,
umso wandlungsfähiger und flexibler ist auch sein Gehirn, daher ist ein frühes Training der
Basissinne erstrebenswert und notwendig, um die reibungslose Wahrnehmungsverarbeitung
zu ermöglichen. Da legasthene Menschen eine genbedingt andersartige Wahrnehmung haben,
muss diese mit gezielter Förderung trainiert werden. Im Bereich der Sinneswahrnehmungen
kann und sollte daher schon sehr früh im Bereich des Tastsinnes (taktil), des Gleichgewichtssinns (vestibulär), der Raumlage (propriozeptiv) in Kombination mit den auditiven und optischen Sinnen mit einem individuellen Training begonnen werden. Gerade die kompetente
Frühförderung der Vorläuferfähigkeiten bzw. die Beseitigung von organischen Beeinträchtigungen wie Augen- und Ohrenproblemen ist von größter Wichtigkeit, da sich legastheniebedingte Schriftspracherwerbsprobleme so bei Schulantritt weniger drastisch auswirken. Das
Erlernen schriftsprachlicher Kompetenzen ergibt sich aus dem Zusammenwirken vielfältiger
Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen. Störungen in diesem komplexen System können
76
Näheres hierzu s. Kapitel 3.1.
63
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
ein Anzeichen für Legasthenie sein. Dieses komplexe System ist ein kompliziertes Gefüge aus
Funktionen auf psychischer, emotionaler, sozialer und körperlicher Ebene, das vom ersten
Atemzug an richtig zusammengefügt werden muss, um dem Kind erfolgreiches Lesen- und
Schreibenlernen sichern zu können. Dieser sensible Prozess kann von vielerlei Störfaktoren
beeinträchtigt werden (Klein/Träbert 2009, S. 26ff.). Angesichts der Tatsache, dass legasthene
Kinder aufgrund ihrer differenten Teilleistungen durch enorme Leistungsschwankungen auf
sich aufmerksam machen, kann dem hyperkinetischen Syndrom77 in Zusammenhang mit Legasthenie nicht genug Beachtung geschenkt werden. Doch ist dringend zwischen einer Unruhe, ausgelöst durch die nicht zu bewältigende Anforderung des Umgangs mit der Schriftsprache, und einer krankhaften Hyperaktivität zu unterscheiden. Bei mindestens durchschnittlicher
Intelligenz nimmt ein legasthener Mensch seine Umwelt anders wahr, weshalb oft Probleme
mit der Umsetzung der gesprochenen Sprache in die geschriebene Sprache auftreten. Sobald
ein legasthenes Kind auf Buchstaben oder Zahlen trifft, lässt seine Aufmerksamkeit nach, da
die Basissinne ungleichmäßig zusammenarbeiten und es die Buchstaben und Zahlen durch
seine differenten Sinneswahrnehmungen anders verarbeitet als nicht legasthene Menschen.
Somit verläuft auch die Verarbeitung der Sprache und vor allem der Vorgänge beim Sprechen
anders. Dadurch ergeben sich Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens oder
auch Rechnens, was das Üben auch in diesem Bereich unabdinglich für ein ganzheitliches
Training78 macht.
Legasthene Kinder benötigen beim Schreiben und Lesen mehr Zeit und werden oft noch ausgelacht, wenn sie laut vorlesen müssen. Unwissende Lehrer ermahnen das Kind oft, es solle
mehr zu Hause üben, doch dies ist hier fehl am Platz. Auch haben die Eltern oft den Eindruck,
dass das Kind nur nicht lernen will und bockt. In dieser Situation ist das Kind völlig überfordert und dadurch an seine physischen sowie psychischen Grenzen gestoßen. Es verliert den
Anschluss an den Leistungsstand der Klasse und fühlt sich dumm, missverstanden und ausgegrenzt. Das Selbstbewusstsein leidet stark, die intrinsische Lernmotivation79 geht verloren.
Das macht legasthene Kinder zu einer Randgruppe, da in unserem Kulturkreis fälschlicher-
77
Wird vom hyperkinetischen Syndrom gesprochen, sind Kinder gemeint, die hauptsächlich durch motorische
Unruhe, Impulsivität mit spontanen Aktionen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, Störungen der Aufmerksamkeit und Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, leichte Erregbarkeit im Gefühlsbereich und erhebliche
Stimmungsschwankungen auffallen. Je nach Störungsbild steht die Hyperaktivität (also das ständige Zappeln,
die exzessive Ruhelosigkeit) oder die Aufmerksamkeitsstörung im Vordergrund.
78
Ein solches ganzheitliches Training umfasst summarisch den Bereich der Aufmerksamkeit, der
Sinneswahrnehmungen (Funktionen) sowie den der Symptome (den Bereich des Lesens und Rechtschreibens).
Diese drei Bereiche sind im Training mit der AFS-Methode impliziert.
79
Diese intrinsische Motivation entspringt dem „anfänglichen Lernen“ (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 52), das
offenbar einer „einer inneren, biophysisch angelegten Zielstrebigkeit, die für die Übungsbereitschaft sorgt“ folgt
(ebd.).
64
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
weise von einer mangelnden Rechtschreibfähigkeit auf mangelnde Intelligenz geschlossen
wird. Da legasthene Kinder in der Regel über einen mindestens durchschnittlichen Intelligenzquotienten verfügen, sind sie sich ihrer Defizite sehr häufig bewusst und merken schnell,
dass sie mehr Probleme als ihre Mitschüler haben. Um zu verhindern, dass ihre Schwächen
bemerkt werden, setzen sie oft Vermeidungsstrategien in Gang, was zu Verhaltensstörungen
sozialer und emotionaler Art führen kann. Der schulische Erfolg wird durch Legasthenie stark
beeinträchtigt, und obwohl sie sich gerade in den ersten beiden Schuljahren sehr bemühen,
gute Leistungen zu erbringen, sind ihre Anstrengungen ohne die richtige, im besten Fall frühkindliche Förderung nicht von Erfolg gekrönt. Bei großer Unterstützung der Eltern können
betroffene Kinder höhere Schulabschlüsse erreichen. Tritt die Legasthenie mit sekundären
Störungen auf und kommt das Kind zusätzlich aus einem Elternhaus mit geringeren Ressourcen, verschlechtern sich seine Chancen deutlich. Sind Auffälligkeiten aufgetreten, so sollte
das Kind schnellstmöglich von einem speziell ausgebildeten Lehrer oder Legasthenietrainer80
getestet werden. Ein Legasthenietrainer ist dazu berechtigt, das pädagogische AFSTestverfahren (vgl. hierzu Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a) zur Feststellung einer eventuell
vorliegenden Legasthenie bzw. Dyskalkulie durchzuführen und kann damit sehr schnell Aufschluss geben81, wo die Förderung einsetzen muss. Durch dieses Testverfahren wird die individuelle Legasthenie eines Kindes festgestellt und kategorisiert. Durch testtheoretische
Grundkenntnisse und Wissen über Diagnostik der Intelligenz, Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, Wahrnehmungsstörungen, Sprech- und Sprachstörungen, motorische Störungen sowie
psychopathologische oder neurologische Gutachten ist es dem Legasthenietrainer auch möglich, anderweitig erstellte Diagnosen zu erfassen und sie in seiner Arbeit zu berücksichtigen.
Wird ein betroffenes Kind auch in psychologischer oder medizinischer Hinsicht auffällig, so
sollte der Legasthenietrainer Hilfe durch Psychologen, Ärzte, Ergotherapeuten, Logopäden
etc. implementieren.
80
Der Beruf des Legasthenietrainers ist ein Berufsstand, der sich 1996 im deutschsprachigen Raum etablierte.
Der Erste Österreichische Dachverband Legasthenie (EÖDL) bildet diplomierte Legasthenietrainer aus, die
durch ständige Fortbildung stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft sind. Durch ihre umfassende Ausbildung verfügen diplomierte Legasthenietrainer über Kenntnisse der Sprachentwicklung, der motorischen Entwicklung, der emotionalen Entwicklung und auch über die in diesen Bereichen auftretenden Störbilder. Sie haben ein umfassendes Wissen über neurobiologische Grundlagen, insbesondere hinsichtlich des Schriftspracherwerbs, der Bedeutung der Sinneswahrnehmungen und der Relevanz des Aufmerksamkeitsbereiches für den intakten Lese-, Schreib- und Rechenprozess sowie lernpsychologische und lerntheoretische Kenntnisse. Sie arbeiten mit den Betroffenen in einer systematischen Vorgehensweise mittels wissenschaftlich fundierter Methoden.
81
Das pädagogische Testverfahren überprüft die Aufmerksamkeit sowie die Sinneswahrnehmungen/Funktionen/
Teilleistungen (Optik, Akustik, Raumwahrnehmung, Serialität, Intermodalität). Das pädagogische Testverfahren
trifft keine Aussagen über etwaige Entwicklungsverzögerungen, medizinische oder psychologische,
psychosomatische oder psychopathologische, grob- bzw. feinmotorische Probleme, Sprech- oder
Sprachprobleme oder den Lebensbereich des Testkandidaten.
65
5 Begrifflich-definitorische Aspekte
Je eher mit einem angemessenen individuellen Training begonnen wird, desto besser funktionieren auch die für das Lesen und Schreiben erforderlichen Basissinne. Das Training dieser
Sinne, sowohl die gezielte Förderung der Motorik, des Gleichgewichts als auch der Körperund Raumwahrnehmung, sollte bereits in der frühkindlichen Förderung stattfinden, die grundsätzlich für alle Kinder wichtig ist, um späteren Schwierigkeiten in den Bereichen der Sinneswahrnehmungen vorzubeugen. Setzt man früh genug in diesen Bereichen an und begreift
das Kind all seine Sinne zur Benutzung und Erfassung der Welt, werden auch die ersten
Schritte im Schriftspracherwerb weniger beschwerlich. Demnach ist eine frühe sensorische
Förderung der Sinnesorgane auf jeden Fall richtig und wichtig. Dabei sollte vor allem die Bezeichnung „Therapie“ vermieden und statt dessen von „Training“ gesprochen werden. Zentral
ist hierbei das Einbeziehen aller für das Lesen- und Schreibenlernen erforderlichen Sinne, um
das Denken und Handeln zusammenzuführen. Lernen durch Handeln statt stupidem Lernen,
wie es in spielerischer Form geboten werden kann, ist für ein legasthenes Kind sehr wichtig.
Dies zeigt, dass die frühkindliche Förderung die wichtigste Basis überhaupt ist.
Die Andersartigkeit der von Legasthenie betroffenen Kinder muss in das Bewusstsein der
Gesellschaft vorrücken, um den von Legasthenie betroffenen Kindern die verdiente gesellschaftliche Akzeptanz zu gewährleisten. Einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung dieser Vision leistet Dr. A. Kopp-Duller.
66
6 Was ist eine pädagogische Intervention?
Teil III
Ansätze und Möglichkeiten pädagogischer Intervention bei legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten
6
Was ist eine pädagogische Intervention?
Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist unter „pädagogischem“ Handeln jene fachspezifische,
also auf die richtige Erziehung ausgerichtete Handlungsrichtung zu verstehen, die nicht therapeutisch, psychologisch oder medizinisch orientiert ist. Eine „Intervention“ ist das Eingreifen
in ein Geschehen (vgl. Duden 2007, S. 893). Oft wird die Pädagogik, ebenso wie pädagogische Interventionsmöglichkeiten, im Gegensatz zu neurobiologischen und genetischbiologisch orientierten Forschungsergebnissen degradiert, da sie aufgrund der mangelnden
messbaren Effizienz weniger plakative und praxisgemäße Behandlungsmöglichkeiten aufweist. Ein Erfolg pädagogischen Handelns ist nicht vorhersagbar, da nicht alle Tätigkeiten im
pädagogisch-professionellen Kontext auf beschreibbare Bestimmungen und Prämissen zurückzuführen sind, sodass pädagogisches Handeln vor allem nicht nur situationsabhängig ist,
sondern auch angestrebte Effekte nicht konform und mit zureichender Sicherheit kontrollieren
kann (vgl. Koring 1992a). Der Terminus der pädagogischen Tätigkeit nimmt in Korings Argumentation eine wichtige Stellung ein. Zunächst lässt sich eine Annäherung an diesen Begriff über die allgemeine Bedeutung des Wortes „Tätigkeit“ finden, das für die „Gesamtheit
derjenigen Verrichtungen, mit denen jmd. in Ausübung seines Berufs zu tun hat“ steht (Duden
2007, S. 1664). Dabei handelt es sich, bezogen auf die pädagogische Tätigkeit, um alle Verrichtungen, die ein professioneller Pädagoge im Rahmen seiner beruflichen Ausübung vollzieht. Dementsprechend fasst Koring unter der pädagogischen Tätigkeit jene menschlichen
Aktivitäten zusammen, „die darauf zielen, anderen Menschen Lernangebote zu machen, sie
zum Lernen zu bringen, Lernsituationen herzustellen und ihnen Beratung, Kontrolle und Hilfe
beim Lernen zu geben“ (Koring 1999, S. 127)82. Dieses Verständnis des Begriffes umfasst
sowohl alle zwischen dem pädagogisch Tätigen und seinem Klienten ablaufenden Aktivitäten
82
Daher umfasst der Begriff der pädagogischen Tätigkeit auch den Begriff der Erziehung, jedoch bleibt unklar,
warum Koring dennoch beide stets explizit getrennt nennt, wenn er von der pädagogischen Tätigkeit spricht.
67
6 Was ist eine pädagogische Intervention?
als auch jene Prozesse, welche im Rahmen dieser zwischenmenschlichen Aktivitäten vom
pädagogisch Tätigen durchgeführt werden. Von Koring wird der Begriff der pädagogischen
Tätigkeit in das pädagogische Handeln und das pädagogische Deuten unterteilt, welche er
beide als „die grundlegenden Operationen, die jeder Pädagoge lernen und beherrschen muß“
bezeichnet (Koring 1992a, S. 61)83. „Beim Handeln werden Wissenselemente aus Wissenschaft, konkreter Praxis und Profession verknüpft, um gemeinsam mit den Adressaten in bestimmten Formen deren Lebensprobleme und Lerninteressen zu bearbeiten“ (Koring 1992b,
S. 299). Nach Koring wird das pädagogische Handeln als die aktiv-gestaltende Komponente
der pädagogischen Tätigkeit, die sich durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis
zur Bearbeitung von Lernproblemen kennzeichnet, bestimmt. 2007 entwickelte er seine 1992
getroffene Untergliederung des pädagogischen Handelns in die drei Grundformen Unterrichten, Beraten und Arrangieren, weiter und benennt nun Unterrichten, Beraten und Erziehen als
die Grundformen der pädagogischen Tätigkeit. Demnach wird nun das Arrangieren nicht
mehr den Grundformen, sondern den Grundoperationen zugeordnet und bezieht sich auf „das
Gestalten von Lernsituationen in sachlicher, zeitlicher und sozialer und organisatorischer
Hinsicht“ (Koring 2007, S. 135). Summarisch betrachtet geht es um das Lernen des Menschen, sodass jedem einzelnen die sinnvolle Partizipation an der Gesellschaft möglich wird,
womit die pädagogische Tätigkeit letztendlich auf Partizipationsfähigkeit, verstanden als
Teilnehmen am gesellschaftlichen Leben, zielt. Grundlegend bezieht sich professionelles pädagogisches Handeln auf die Ermöglichung von Lernvorgängen. Das professionelle pädagogische Handeln kann folglich als bewusste, planvolle, zielgerichtete Aktivität, die auf einem
systematischen und in der Regel wissenschaftlichen, durch eine spezielle Ausbildung erworbenen Wissen basiert und darauf abzielt, Lernen zu ermöglichen, um damit die Option der
individuellen Weiterentwicklung und der selbstständigen Lebensgestaltung zu eröffnen, definiert werden.
Pädagogisches Handeln ist speziell auf die Bedürfnisse eines Kindes abgestimmt. Die Übungen sind spielerisch und somit besonders kinderfreundlich gestaltet. Es gab und gibt keine
Methode, die in jedem Fall hilfreich ist, da Legasthenie in ihrer Ausprägung immer individuell ist (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 135). In diesem Kontext sind die AFSMethode und die Materialien Montessoris geeignete vorschulische Mittel zur Prävention späterer legastheniebedingter Schulprobleme. Erst wenn man mit pädagogisch-didaktischer In-
83
Da Koring den Operationsbegriff später in ähnlicher Weise wie Prange verwendet, kann die offenbar nicht
ausschlaggebende terminologische Differenz bezüglich der Verwendung des Operationsbegriffs an dieser Stelle
vernachlässigt werden.
68
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
tervention an die Grenze gelangt, z.B. bei Begleitsymptomatik wie psychischen oder physischen Problemen, sollte eine medizinische, neuropsychologische, ergotherapeutische oder
psychologische Interventionsebene herangezogen werden und als zusätzliche Unterstützung
für das legasthene Kind und seine Familie fungieren.
7
Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
7.1 Die Bedeutung der Früherkennung von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten und präventiver Maßnahmen
Die Bedeutung der Früherkennung84 (vgl. Dummer-Smoch 2001; Rosenkötter 2004) von
Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb und der Maßnahmen zu deren Prävention wird in
Theorie und Praxis übereinstimmend betont. Mit der Konzeption von Entwicklungsmodellen
des
Schriftspracherwerbs,
der
Integration
von
Prozessmodellen
des
Lesens
und
Rechtschreibens in die Schriftspracherwerbsforschung und der Durchführung von
theorieabgeleiteten Längsschnittstudien gelang es, die Bedeutung einiger im Vorschulalter
erfasster individueller Voraussetzungen näher zu bestimmen (vgl. hierzu Schneider et al.
1994; Küspert 1998, Snow et al. 1998, Jansen et al. 2002).
Einen zentralen Punkt bei der Förderung legasthener Kinder nimmt die Motivation ein.
Hierdurch können enorme und nachhaltige Erfolge erzielt werden (vgl. Kopp-Duller/PailerDuller 2008a, S. 147ff.). Die Rechtschreibung kann viel ungestörter aufgebaut werden, wenn
das legasthene Kind in kleineren Schritten voranschreitet als andere Schüler, dabei aber
Erfolg erlebt (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 37). Sofern Legasthenie frühzeitig erkannt wird,
kann sie sehr effektiv behandelt werden. Präventive Maßnahmen vor dem eigentlichen
Schriftspracherwerb oder innerhalb der ersten Schulklasse sind am erfolgreichsten. Solche
präventiven Maßnahmen basieren meist auf der Förderung der phonologischen Bewusstheit,
da diese, wie bereits gezeigt wurde, das wichtigste spezifische Vorläufermerkmal des
Schriftspracherwerbs ist (vgl. Ehri et al. 2001; Schwenck/Schneider 2003; Alloway et al.
2005). Potentielle Schwierigkeiten sollten idealerweise erkannt und gegengesteuert werden,
bevor überhaupt Probleme beim Schriftspracherwerb auftreten. Bleiben dauerhafte Probleme
bestehen, so ist ein möglichst frühzeitiger Beginn der Förderung zu empfehlen, da
84
Vgl. dazu Prof. Dr. Henning Rosenkötter (2010), der sich mit der Früherkennung von LRS und Legasthenie
beschäftigt.
69
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Interventionsmaßnahmen ihre größte Wirkung in den beiden ersten Grundschulklassen
entfalten (vgl. Landerl/Wimmer 1994; Küspert 1998). Danach besteht die Möglichkeit einer
raschen Chronifizierung der Probleme. Aus diesem Grund scheint eine Forderung nach
Früherkennung von Leselernproblemen
möglichst vor dem Schuleintritt , nach einer
möglichst frühen Feststellung von Legasthenie inklusive Diagnose von Stärken und
Schwächen in den allgemeinen Lernvoraussetzungen, nach einer speziellen Förderung mit
kompensatorischen Hilfen85 sowie nach Information und Beratung der Eltern über die Stärken
und Schwächen ihres Kindes und über Hilfen, die sie zu Hause geben können, angemessen.
Woran und wann Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen erkannt werden und welche
präventiven Interventionen eingeleitet werden, hängt nicht nur von den theoretischen
Annahmen über den ungestörten Schriftspracherwerb und seiner Gefährdung ab, sondern auch
von den Vorstellungen darüber, welche Lern- und Verarbeitungsprozesse gefördert werden
sollen.
Diese
Vorstellungen
haben
sich
erheblich
verändert,
seit
sich
in
der
Schriftsprachforschung der Trend abzeichnet, den frühen Erwerbsprozess genauer zu
untersuchen und Voraussetzungen zu identifizieren, die für den Erfolg von Kindern beim
Lesen- und Schreibenlernen wichtig sind.
Die
internationale
metaphonologischen
Forschung
hat
Fähigkeiten
als
die
phonologische
wichtige
Bewusstheit
Voraussetzung
des
bzw.
die
alphabetischen
Schriftspracherwerbs dokumentiert und diskutiert. Ob metaphonologische Fähigkeiten durch
eine gezielte Förderung schon vor dem Schuleintritt deutlich verbessert werden können und
ob eine solche vorschulische Intervention dazu führen würde, dass das Lesen- und
Rechtschreibenlernen in der Schule besser gelingt, wurde in verschiedenen aktuellen
Interventionsstudien untersucht (vgl. u.a. Wehr 1994; Breuer/Weuffen 1993, 2000, 2002;
Georgiewa et al. 2002; Weber et al. 2002; Rosenkötter 2004). Hinter diesen
Forschungsarbeiten stehen wissenschaftliche und praxisbezogene Ziele. Zum einen soll der
Stellenwert der phonologischen Bewusstheit für den Schriftspracherwerb besser geklärt
werden. Zum anderen ist mit solchen Studien die Intention verknüpft, theoriegeleitete
Interventionen zu entwickeln und zu evaluieren, die darauf abzielen, den Anteil der Kinder,
die Lese-Rechtschreibschwächen ausbilden, zu vermindern (vgl. Schneider et al. 1998, 2000;
Catts et al 2001; Jansen et al. 2002). Bisherige Interventionsstudien mit unausgelesenen
Stichproben sprechen dafür, dass die phonologische Bewusstheit von Vorschulkindern durch
ein systematisches Training erfolgreich gefördert werden kann. Noch wichtiger ist es, dass ein
85
Mit Hilfe der kompensatorischen Entwicklungsförderung sollen Entwicklungs- und Lerndefizite von Kindern
ausgeglichen und Versäumtes nachgeholt werden.
70
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
solches Training über kurzfristige Effekte hinaus erleichternde Auswirkungen auf den
Schriftspracherwerb hat. Aufgrund dieser positiven Befunde
ist
gegenüber dem
Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit eine etwas euphorische Stimmung
aufgekommen.
Dies
darf
nicht
darüber
hinwegtäuschen,
dass
zur
Entwicklung,
Implementierung und Wirksamkeit von metaphonologischen Vorschultrainings verschiedene
Fragen noch offen bzw. unzureichend geklärt sind (vgl. Blachman 1997; Byrne et al. 1997).
Da aktuell nicht ausreichende Befunde aus Interventionsstudien vorliegen, um die Frage der
Stabilität und Generalisierung der Effekte von metaphonologischen Vorschultrainings bei
solchen Kindern schlüssig beantworten zu können, werden weitere Studien gefordert.
Im angloamerikanischen Raum weist Catts (1998) auf das Forschungsdefizit zum
Präventionsansatz der phonologischen Bewusstheit hin, das speziell in Bezug auf
sprachgestörte Kinder besteht. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen haben sehr häufig
Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen, die zumeist mit weiteren Schulproblemen
einhergehen. Solche Kinder gelten daher als Risikokinder für LRS. Im Vergleich zu
unauffälligen Kindern verfügen sprachgestörte Kinder beim Schuleintritt nicht über die reiche
sprachliche Grundlage, auf der die Schriftsprachentwicklung aufbauen kann. Vorwiegend
angelsächsische Studien belegen, dass Vorschulkinder mit primärsprachlichen Störungen
häufig auch Rückstände in spezifischen Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs haben
(vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Snow et al. 1998; Romonath 1998). Eine wesentliche Rolle
bei der präventiven Förderung kommt den Logopäden zu. Sie erfassen und betreuen sprachund sprechgestörte Kinder häufig schon vor dem Schuleintritt. Vorschulische Interventionen
zur Ausdifferenzierung und Erweiterung sprachlich-kommunikativer Basisfähigkeiten bilden
ohne Zweifel ein wichtiges Element der Prävention von kindlichen Schriftspracherwerbs- und
Schriftsprachproblemen sowie anderen Schulschwierigkeiten. Allerdings muss bezweifelt
werden, dass die herkömmlichen logopädischen Fördermaßnahmen ausreichen, um
sprachgestörte Kinder vor Misserfolgen beim Lesen- und Schreibenlernen bewahren zu
können. Deshalb wird gefordert, vermehrt spezifische Interventionen zur Prävention von
legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in die (heil-)pädagogische Arbeit 86
mit Vorschulkindern einfließen zu lassen. Das Forschungsdefizit betrifft besonders auch den
deutschsprachigen Raum. In der Literatur wird die Bedeutung einer frühen präventiven
86
Die Heilpädagogik als ganzheitlicher Förderansatz ist ein wichtiger Bestandteil der Frühförderung. Gerade im
Vorschulalter, in einer Zeit extremer Lernfähigkeit, ist es notwendig, Schädigungen, Funktionsschwächen und
Entwicklungsrisiken möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen gezielt entgegenzuwirken. Praktiker erhalten
mit Übungen zur Wahrnehmung, zu Motorik und Kognition, zu schulischen Fertigkeiten, zum Sozialverhalten
und zur Sprache immer neue Anregungen für eine abwechslungsreiche Gestaltung der täglichen Förderarbeit.
71
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Intervention mit lese-rechtschreibschwachen Kindern zwar betont, und es wurden bereits
Prinzipien und Möglichkeiten der metaphonologischen Förderung vorgestellt, doch mangelt
es an vergleichenden Untersuchungen der metaphonologischen Voraussetzungen von leserechtschreibschwachen und nicht lese-rechtschreibschwachen Vorschulkindern wie auch an
Studien zur Überprüfung der Effekte von präventiven metaphonologischen Interventionen für
lese-rechtschreibschwache Kinder. Diese Feststellung erstaunt wenig, da die deutschsprachige
Sprachheilpädagogik/Logopädie die Grundlagen- und Interventionsforschung bislang stark
vernachlässigt
hat:
Konzepte
und
Verfahren
sowie
Unterrichtsmethoden
werden
problematischerweise nur sehr selten hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft (vgl.
Grohnfeldt 1989). Dieser Sachverhalt ist umso bedenklicher, als die Evaluation von
pädagogisch-therapeutischen Interventionen zur berufsethischen Pflicht der Heilpädagogen
gehört. Obgleich das Prinzip der pädagogischen Effizienzkontrolle im Hinblick auf die
heilpädagogische Berufsethik „zu einseitig und zu vereinfachend“ ist, würde ein Verzicht auf
dieses Prinzip „eine fatale Fehleinschätzung“ (Haeberlin 1996, S. 348f.) verantwortbaren
heilpädagogischen Handelns bedeuten.
Um den Kindern eine frühe und effektive Hilfestellung für das Lesen- und Schreibenlernen
geben zu können, werden besonders gezielte Fördermaßnahmen zur phonologischen
Bewusstheit als sinnvoll angesehen und empfohlen (vgl. Magnusson/Nauclér 1993; Catts
1998). Diese Frühförderung sollte auf pädagogisch-didaktischer Ebene stattfinden. Erste
Studien zeigen, dass eine vorschulische metaphonologische Förderung von Kindern möglich
und erfolgversprechend ist. Paula Thallal (2000) stellte das reibungslose Funktionieren
optischer und akustischer Sinneswahrnehmungen als unumgängliche Voraussetzung für ein
erfolgreiches Erlernen des Schreibens und Lesens fest (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a,
S. 152f.). Da Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben das Kind sowohl in der Schule als
auch in anderen Lebensbereichen beeinträchtigt und belastet, sind Hilfestellungen, etwa in
Form von Interventionen, relevant. Zur Überprüfung der Wirksamkeit diverser Trainings oder
neu entwickelter Methoden werden Trainingsstudien (vgl. Schneider et al. 2000;
Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008) durchgeführt. Eltern,
Lehrer, Schüler und
Erziehungswissenschaftler geben in den letzten Jahren vermehrt ihre Unzufriedenheit mit der
gegenwärtigen Situation unseres Bildungs- und Schulsystems kund. In öffentlichen und auch
privaten Diskussionen wird verzweifelt nach Lösungen für die aktuell proklamierte
Bildungsmisere verlangt. Verstärkt wird hierbei auch wieder im reformpädagogischen
Repertoire gesucht, um zu überprüfen, welche in Vergessenheit geratenen Ideen heute
potentielle Lösungsansätze bieten könnten. In diesem Kontext rücken gegenwärtig sowohl
Aspekte der Montessori-Pädagogik als auch anderer reformpädagogischer Ansätze in den
72
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Fokus der öffentlichen Diskussionen. Inwiefern deren Verknüpfung mit der Berufsgruppe der
Vorschulpädagogen heutzutage dazu beitragen kann, lese-rechtschreibschwachen und
besonders legasthenen Kindern eine angemessene Förderung zur Erleichterung des
Schriftspracherwerbs zu ermöglichen, bedarf einer fundierten Überprüfung. Maßnahmen in
die Richtung der öffentlichen Anerkennung und Kostenübernahme bei Lese- und
Schreibproblemen, wenn durch Spezialisten auf pädagogisch-didaktischer Ebene geholfen
wird, sind mehr als erstrebenswert. Klare gesetzliche Regelungen, die eindeutig festlegen,
welche Berufsgruppe wann zum Einsatz kommen muss, müssten erfolgen (vgl. KoppDuller/Pailer-Duller 2008a, S. 133), das bedeutet, dass es für alle beteiligten Gruppen
umfassende Richtlinien geben sollte, wann wer Interventionen setzen muss, wenn Lese- oder
Schreibprobleme auftreten. Solche Festlegungen fehlen bis heute.
Ausgehend von dieser Standortbestimmung beschäftigt sich dieser Teil der vorliegenden
Arbeit mit Möglichkeiten der Prävention von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten durch
vorschulische Interventionsmaßnahmen sowie mit Ansätzen und Möglichkeiten elterlichpräventiver
Frühförderung
der
für
den
Schriftspracherwerb
primär
bedeutsamen
Sinneswahrnehmungen.
7.1.1
Einbindung der Eltern in die frühkindliche Förderung
Eine der größten Herausforderungen im Leben vieler Eltern ist die Erziehung eines Kindes.
Im Allgemeinen verfügt jeder Elternteil selbst über Erfahrungen und Kompetenzen, um die
Herausforderungen des täglichen Erziehungsgeschehens zu bewältigen. Jedoch gibt es immer
wieder Momente, in denen Eltern an ihre Grenzen stoßen und nach geeigneter, optimaler Förderung verlangen. Die Anforderungen an Familien sind in den letzten Jahrzehnten durch Veränderungen im Berufsleben und in der Gesellschaft stark gestiegen. Deshalb sollte auch eine
adäquate Berücksichtigung der spezifischen Schwierigkeiten im Umfeld der betroffenen Kinder angestrebt werden und nicht nur eine Verbesserung der Lese-Rechtschreibfähigkeit. Hier
kann pädagogische Beratung (vgl. Krause 2003; Hechler 2010) und Elternbildung87 die gesuchte Information und Unterstützung bieten und Sicherheit in der Bewältigung der Erziehungsaufgaben des Alltags geben.
Da im Falle des Vorhandenseins von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten oft wertvolle Zeit
vergeudet wird, ist Erziehungsberatung, besonders wenn Legasthenie mit erheblichen psychischen Störungen einhergeht, unerlässlich. Zunächst erweist sich die Aufklärung der Eltern
87
Elternbildung bedeutet Informationssammlung, Austausch von Erfahrungen, eigene Stärken zu entdecken und
schließlich auch praktische Anregungen für den Erziehungsalltag zu erhalten.
73
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
über das Phänomen Legasthenie als sehr wichtig, wobei die Information über Möglichkeiten
der familiären, schulischen und therapeutischen Hilfe sowie schul- und sozialrechtliche Belange zentral sind. Es ist bewusst zu machen, dass Legasthenie eine kräftezehrende Barriere
beim Schriftspracherwerb darstellt und das Kind seine Energien nicht durch Abwehrmechanismen erschöpfen darf. Hierbei müssen Elternhaus und jeweilige Institutionen (später etwa
die Schule) zusammenarbeiten, sodass Konfliktsituationen weitestgehend vermieden werden.
Es ist unabdingbar, auch das Kind über seine Schwäche, vor allem aber über seine Stärken
aufzuklären und es darauf hinzuweisen, dass es keine Schuld – vor allem keine durch Dummheit oder Faulheit hervorgerufene – an seinen schulischen Problemen hat.
Beratung für Legasthenie-Betroffene wird von verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen angeboten. So wird bspw. auch in psychologischen Beratungs- und Erziehungsstellen
Beratung bei Legasthenie durchgeführt. Auch der zuständige schulpsychologische Dienst und
die öffentliche Jugendhilfe (Jugendamt) bieten Beratung an. Auch in Einrichtungen, die die
Diagnostik durchführen, wird Beratung angeboten, hierzu zählen die Ärzte für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, psychologische Praxen und private Anbieter88, die ihr
diagnostisches Angebot mit einer Therapieempfehlung verbinden.
Einen sehr großen Anteil der Beratungsarbeit übernehmen Elternselbsthilfegruppen, wobei
der überwiegende Teil dieser Selbsthilfegruppen in den Landesverbänden der einzelnen Bundesländer organisiert ist. Die Landesverbände wiederum sind im Bundesverband Legasthenie
(BVL) zusammengefasst. Der BVL, ein Eltern-Selbsthilfe-Verband89, hat sich zur Aufgabe
gemacht, Eltern zu informieren, ihnen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, wie sie mit ihren
Kindern üben können. So erscheint es notwendig, den Eltern für eine Reihe von Grundsätzen
gewissermaßen Hilfestellung zu geben, damit sie nicht falsch und erfolglos üben und womöglich gemeinsam mit dem Kind verzweifeln. Hier wird die Beratung von Eltern übernommen,
die im Rahmen einer Selbsthilfegruppe Elternabende veranstalten. Diese Abende dienen dem
gegenseitigen Austausch, der Beratung beim Umgang mit Schulen, dem Austausch von Empfehlungen zu Förderangeboten und bieten Hilfen bei der Umsetzung sozialrechtlicher Ansprüche. Es ist sinnvoll, vor der Durchführung des Elterntrainings im Rahmen eines Elternabends
oder über einen Fragebogen die Interessen und Bedürfnisse abzuklären. Fragen an die Eltern
sind u.a. deren Wahrnehmung und Bewertung der kindlichen Schriftsprachentwicklung sowie
ihr Vorwissen zu sprachtheoretischen Inhalten. Ebenso wichtig sind Informationen zum elter-
88
Die freien, privaten Anbieter sind sehr unterschiedlich. Verschiedene Berufsgruppen, wie z.B.
Ergotherapeuten, Lehrer, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Logopäden, bieten hier ihre Dienste an.
89
vgl. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V.
74
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
lichen Belastungserleben und zu Bewältigungsprozessen sowie die Frage nach der elterlichen
Motivation zur Mitarbeit.
Da sich die Probleme, die legasthene Kinder in der Schule haben, auf die ganze Familie auswirken, kommt der Mutter90 in der Regel eine zentrale Rolle zu, weil sie durch die Betreuung
der Hausaufgaben meist genauere Beobachtungen nicht nur zu den Fehlern sondern auch zu
den Stimmungen des Kindes macht. Es ist meist ihre Aufgabe, in der ganzen Familie Sachverstand und Problemverständnis zu erreichen, damit nicht durch ein unbedachtes Wort das
Selbstwertgefühl des Kindes und der Erfolg bereits stattfindender Hilfen gefährdet werden.
Oft sperrt sich ein Familienmitglied schon gegen den Gedanken, dass das Kind Legastheniker
sein könnte, womit es wiederum zum Verlust wertvoller Zeit für eine frühestmögliche Förderung kommen kann. Da Legasthenie auch in der heutigen Gesellschaft noch immer von vielen
Menschen als Makel empfunden wird, spielt bisweilen Prestigedenken mit Rücksicht auf die
Umwelt eine fatale Rolle. Mit einer aufklärenden Beratung und angemessener Elternbildung
ist es möglich, solche Missverständnisse abzubauen und beim legasthenen Kind – zumindest
in der eigenen Familie – Sicherheit, Motivation und besonders ein gesundes Selbstwertgefühl
aufzubauen. Trotz aller Aufklärung kann es bei der Zusammenarbeit zwischen Mutter und
Kind zu Spannungen in der Mutter-Kind-Beziehung kommen. Im Wesentlichen ist die Ursache hierfür der Rollenkonflikt, da die Mutter in der Förderung und beim gemeinsamen Üben
zwangsläufig in die Rolle der Lehrerin schlüpft, die das Kind mit Forderungen, die es nur
schwer oder gar nicht erfüllen kann, mit Leistungsbewertung im Klassenmaßstab, insofern
mit Misserfolgen und dem Anspruch, noch mehr zu üben, verbindet. Jedoch sollte die Mutter
für das Kind primär die Bezugsperson für emotionale Bedürfnisse, für Trost, Zuflucht, Liebe,
Geborgenheit sein. Sofern die Mutter auch zur Lehrerin wird, entstehen für das Kind Schwierigkeiten, die am ehesten überwunden werden können, indem die Mutter verdeutlicht, dass sie
für ihr Kind die Mutter bleibt und eine partnerschaftliche Haltung einnimmt, ihr Kind motiviert und ihm helfend zur Seite steht (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 90). Dies dient wiederum
dazu, das Kind möglichst zum selbstständigen Arbeiten zu führen. Trotz dieser Selbstständigkeit benötigen Kinder, und besonders legasthene Kinder, sobald ihnen etwas schwerfällt, die
Nähe der Mutter. Firnhaber (1995) befasst sich ausführlich mit der Zusammenarbeit von Mutter und Kind91. Um das Kind optimal zu fördern, können alle Familienmitglieder die Hilfe in
90
Traditionell betrachtet ist es meist der Vater, der berufstätig ist, sodass die Mutter mehr Zeit mit dem Kind und
dessen Problemen verbringt. Betrachtet man jedoch moderne Familienkonstellationen, so ist durchaus auch der
Vater derjenige, der sich mehr der Erziehung des Kindes widmet, wenn die Mutter berufstätig ist, sofern nicht
beide Elternteile berufstätig und paritätisch in die Kindeserziehung eingebunden sind.
91
Als Negativbeispiel vgl. auch Klicpera/Schabmann/Gasteiger-Klicpera 2007, S. 187.
75
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Anspruch nehmen. Von besonderer Wichtigkeit für Eltern legasthener Kinder ist das Wissen
über die jeweilige Entwicklungsphase92 ihres Kindes sowie über die Schwerpunkte innerhalb
einzelner Lebensphasen. Zusätzlich wird der partnerschaftliche Umgang miteinander weiterentwickelt, unterschiedliche Möglichkeiten der Konfliktlösung werden kennengelernt, die
Gesprächsfähigkeit wird gestärkt.93 Infolgedessen werden sich Eltern ihrer Stärken in der Vater- bzw. Mutterrolle bewusst, so kann der persönliche Erziehungsstil weiterentwickelt werden, aber vor allem können eventuell auftretende Probleme frühzeitig erkannt und rechtzeitig
eine geeignete Hilfe in Anspruch genommen werden. Hierbei ist darauf Wert zu legen, den
Eltern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, da sowohl die Pädagogen als auch die Eltern
Expertenwissen einbringen, das von beiden Seiten anerkannt werden sollte.
Verschiedene Förderprogramme konnten nachweisen, dass eine wirksame und nachhaltige
Förderung erst dann gesichert ist, wenn sie von der gut angeleiteten und motivierten Mutter
durchgeführt wird (vgl. Bronfenbrenner 1974 zit. nach Kerkhoff 1982, S. 160). Aus den Bereichen Psychologie und Pädagogik besteht Einigkeit über die Risiko- und Schutzfaktoren der
Familie bzw. der Bezugspersonen für die kindliche Entwicklung. Neben der Erzieherrolle
können und müssen Eltern daher auch als wertvolle Ressource für eine gezielte frühkindliche
häusliche Förderung einbezogen werden. Ob Eltern unmittelbar in den Förderprozess integriert werden sollen, ist für den Einzelfall zu beurteilen. Das Bewusstsein der Eltern bezüglich
der Stärken und Schwächen ihres Kindes für eine häusliche Frühförderung des späteren
Schriftspracherwerbs ist meist nicht ausreichend, auch wenn das Kind nicht von Legasthenie
betroffen ist. Daher ist es wichtig, die Eltern über das Störungsbild zu informieren und hinsichtlich der erreichbaren Erfolge unter Betrachtung der Schwächen und Stärken des Kindes
realistische Erwartungen zu erarbeiten (vgl. Suchodoletz 2006, S. 288). Bei der Integration
elterlicher Frühförderung für die kindliche Förderung gilt eine gelingende Interaktion zwischen Kind und Eltern als wesentliche Voraussetzung für sämtliche Förderinhalte, die in der
Elternarbeit94 weitergegeben werden sollen. Daraus ergibt sich die notwendige Kombination
von Einzel- und Gruppenarbeit, die im Elterntraining umgesetzt werden soll. Je nach Instituti-
92
Die Bezeichnung „Entwicklungsstufe“ wird im Allgemeinen nicht mehr verwendet, da sie leicht zu
Missverständnissen führt. Entwicklung geht nicht in eng abgrenzbaren Schritten vor sich, sondern es breiten sich
Vernetzungen aus, die differenzierbarer werden. Unbestritten ist jedoch, dass eine Entwicklung auch komplexer
Systeme von einfachen Formen zu immer ausgeprägteren vor sich geht.
93
Es ist besonders wichtig, mit dem legasthenen Kind ins Gespräch zu treten und ihm zu verdeutlichen, dass es
nicht dumm ist, es zu motivieren und somit dessen Selbstwertgefühl aufzubauen.
94
Elternarbeit versteht sich als eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften einer
pädagogischen Institution und den Eltern. Neben den Eltern werden ebenso alle weiteren wesentlichen
Bezugspersonen des Kindes einbezogen. Ziel ist es, das Kind gemeinsam nach besten Kräften in seiner
Entwicklung zu fördern (vgl. Dusolt 2008, S. 11).
76
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
on wird die Elternarbeit in unterschiedlichem Umfang umgesetzt. Im Bereich der Sonderpädagogik hat sie einen besonderen Stellenwert. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzung
einzelner Institutionen steht die kindliche Entwicklung im Mittelpunkt der Elternarbeit95.
Formen einer aktiven Elternarbeit sind z.B. persönliche Elterngespräche sowie regelmäßige
Elterninformationen oder Erziehungsvereinbarungen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit
ist von Seiten der Pädagogen eine intensive Kenntnis der Lebenswelt des Kindes und der elterlichen Ressourcen. Es ist entscheidend, „dass die Elternressourcen genutzt und wertgeschätzt werden als Helfer, Mitwirkende und Rückmeldende“ (Eikenbusch 2006, S. 9). Den
Eltern ist der kindliche Entwicklungsprozess verständlich zu machen (vgl. Hardmeier-Hauser
1997), die informierenden, beratenden und anleitenden Inhalte sind über die Dauer der Durchführung in den Familienalltag zu integrieren. Zunächst wird die Eltern-Kind-Interaktion optimiert, um darauf aufbauend positiven Einfluss auf die davon abhängigen kindlichen Entwicklungen (Sprache, Lernen, Verhalten) nehmen zu können. Um die Erziehung eines Kindes zu
einer selbstbewussten, eigenständigen Persönlichkeit zu gewährleisten, bietet Elternbildung
die geeignete Information, Unterstützung und Sicherheit in der Bewältigung der Erziehungsaufgaben des Alltags. Die Elternbildung sollte die Eltern-Kind-Beziehung stärken, die Kompetenz von Eltern bzw. Bezugspersonen in Erziehungsfragen unterstützen, über kindliche Bedürfnisse und Entwicklung informieren, Selbstreflexion, Erfahrungsaustausch und eine emotional-affektive Entlastung ermöglichen sowie präventiv gegen Erziehungsprobleme und Gewaltanwendung wirken.
Elternbildung wird vor allem von gemeinnützigen Trägern organisiert und im gesamten Bundesgebiet von Bildungseinrichtungen wie Familienorganisationen, Eltern-Kind-Zentren, öffentlichen Anbietern und zahlreichen privaten initiativen Veranstaltungsreihen sowie Einzelveranstaltungen angeboten.
Das Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend informiert Eltern über die Vielzahl der Möglichkeiten, zusätzlich trägt die Arbeit des Ministeriums zur Sicherung der Qualität der elternbildenden Angebote sowie zur Reduktion der Kosten bei.
7.1.2
Institutionelle Frühförderung und Prävention im Kindergarten
In deutschen Kindergärten steht die ganzheitliche Erziehung im Vordergrund. Der vorschulische Bildungsauftrag besteht in einer umfassenden Unterstützung der Handlungs-, Lern- und
Bildungsfähigkeit von Kindern. Alle Persönlichkeitsbereiche sollen im Kindergarten ange-
95
Themen sind Betreuung, Entwicklungsförderung und Wissensvermittlung mit Sozialisations- und
Kompensationsfunktion.
77
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
sprochen und gefördert werden, wobei der curriculare Zielsetzungskatalog eine Vielzahl von
Fähigkeiten (soziale, emotionale, sprachliche, kognitive, motorische u.a.) nennt, welche die
Kinder erwerben sollen, mit Schwerpunktsetzung auf dem emotionalen und sozialen Bereich
(vgl. Brazelton/Greenspan 2002).
Phonologische Bewusstheit, hier verstanden als Einsicht in die Lautstruktur der Sprache,
sowie die Fähigkeit, sprachliche Einheiten wie Silben und Phoneme zu erkennen und mit
diesen Einheiten kontrolliert zu operieren, gilt als die am besten untersuchte Lese- und
Schreiblernvoraussetzung. Trotz der Hinweise, dass sich metaphonologische Fähigkeiten
teilweise auch als Folge des Lese- und Schreibunterrichts entwickeln (vgl. Dehn 1977; Bentin
et al. 1991), wird deren kausale Rolle im Schriftspracherwerb klar gesehen. Es gibt keinen
Zweifel
daran,
dass
von
einer
bedeutenden Beziehung zwischen
vorschulischer
phonologischer Bewusstheit und dem späteren schulischen Schriftspracherwerb auszugehen
ist. Die förderliche Vorhersage des späteren Erfolges beim Lesen- und Schreibenlernen durch
Indikatoren für frühe metaphonologische Fähigkeiten sollte grundsätzlich Möglichkeiten der
vorschulischen Prävention96 von kindlichen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten eröffnen (vgl.
hierzu u.a. Scheerer-Neumann 1996; Blachman 1997; Küspert 1998; Snow et al. 1998; Jansen
et al. 2002).
Kritiker beanstanden die Förderung eines einzelnen Aspekts, da ganzheitliche Erziehung der
Kinder wichtiger sei und es den Kindern einen Teil ihrer Kindheit rauben würde, wenn man
sie schon vor Schuleintritt mit schulischem Wissen belaste (vgl. Blässer 1994). Der Forderung
nach einer gezielten Förderung von metaphonologischen Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs im Kindergarten stehen in Deutschland der pädagogische Standpunkt einer ganzheitlichen Erziehung und die Befürchtung einer Verschulung der Kindergartenarbeit entgegen,
weshalb der Schriftspracherwerb ausgeklammert wird. In Deutschland und anderen deutschsprachigen Ländern ist es demnach pädagogisch unerwünscht, schulbezogene Elemente in den
Kindergartenalltag hineinzutragen, und hierzu gehört eben auch ein Training zur phonologischen Bewusstheit (vgl. Blässer 1994; Scheerer-Neumann 1996). Blässer erachtet die Integration von metaphonologischen Trainings in deutschen Kindergärten als wünschenswert. Sie
weist aber darauf hin, dass in den deutschsprachigen Ländern der Streit darüber, ob im Kin-
96
Dieser Ansatz früher Förderung besteht in einem Training der phonologischen Bewusstheit bereits im
Kindergarten, ein Jahr vor der Einschulung. Man testet und übt diese Fähigkeit, indem man Aufgaben
bereitstellt, die das Heraushören von bspw. Anfangslauten, von Endlauten oder aller Laute in einem kurzen,
gesprochenen Wort erfordern. Auch die Erfassung der Silbenzahl eines Wortes ist eine Leistung der
phonologischen Bewusstheit und ebenso die Fähigkeit, unter drei oder vier verschiedenen Wörtern zwei
herauszufinden, die sich reimen. Auf spielerische Weise entwickelt das Kind durch diese „Spiele mit Wörtern“
ein Gefühl für die Schriftsprache.
78
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
dergarten eine präventive Förderung von Kindern hinsichtlich spezifischer Voraussetzungen
für das schulische Lesen- und Schreibenlernen erlaubt ist oder nicht, recht ideologische Züge
angenommen hat. Daher muss „noch sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden“, wenn
man metaphonologische Trainings in das Kindergartencurriculum einführen will (vgl. Blässer
1994, S. 236). Dabei geht die Autorin nicht weiter auf die Frage ein, inwieweit es sinnvoll ist,
metaphonologische Trainings flächendeckend einzusetzen. Ein solches Training kommt letztlich allen Kindern zugute: „Selbst wenn man gar nicht von einem drohenden Risiko für LRS
sprechen will, ist eine Erleichterung des beginnenden Schriftspracherwerbs auf jeden Fall zu
begrüßen“ (Blässer 1994, S. 159).
Andere Autoren hingegen erachten es als nicht erforderlich, im Kindergarten alle Kinder zu
trainieren (vgl. Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008; Marx/Weber 2004). Eine präventive
Intervention ist in erster Linie bei solchen Kindern indiziert, die Schwierigkeiten in der phonologischen Bewusstheit und in weiteren Voraussetzungen des Schriftspracherwerbs zeigen.
Dabei sind Kinder angesprochen, „die nicht reimen können, die Schwierigkeiten haben, Wörter in Silben zu zerlegen; es mögen auch Kinder sein, die prinzipiell Schwierigkeiten haben,
sich auf die klanglichen Einheiten der gesprochenen Sprache zu konzentrieren“ (Küspert/Schneider 1999, S. 17).
7.1.3
Vorschulische Förderung der phonologischen Bewusstheit
Das „Bielefelder Screening“ (BISC) (vgl. Jansen et al. 2002; Marx/Weber 2004), ein im deutschen Sprachraum ziemlich verbreitetes Testverfahren zur Legasthenierisikoklassifikation,
greift neben der visuellen Aufmerksamkeitssteuerung konsequenterweise vor allem Merkmale
der phonologischen Informationsverarbeitung auf. Kombiniert mit einer Überprüfung des
Sprachentwicklungsstandes des jeweiligen Kindes ergibt sich damit die Möglichkeit einer
zufriedenstellenden Bestimmung eines Risikos für legastheniebedingte Schriftspracherwerbsprobleme bei Kindergartenkindern (vgl. u.a. Schneider et al. 1994; Schneider 2004; Marx et
al. 2005a,b), wobei sich wiederum die phonologische Bewusstheit als wertvollstes Vorhersagemerkmal herauskristallisierte.
Eine Möglichkeit zur Förderung der phonologischen Bewusstheit bietet das bereits in der 5.
Auflage vorliegende Förderprogramm „Hören, lauschen, lernen“ (vgl. Küspert/Schneider
1999, 2006, 2008; Küspert 1998). Die Programmstruktur beinhaltet sechs Übungseinheiten,
die inhaltlich aufeinander aufbauen und das Ziel verfolgen, den Vorschulkindern Einblick in
die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu vermitteln. Hier steht nicht das Erlernen des
79
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Lesens und Schreibens, sondern die akustische Diskrimination bzw. Abstraktion sprachlicher
Segmente, etwa Wörter, Reime, Silben und Laute, im Fokus.
Das Training beginnt mit der ersten der sechs Übungseinheiten, die aus dem Training des
„Lauschens“ besteht. Es wird also mit Lauschspielen begonnen, bei denen Geräusche, Flüstersprache und klingende Wörter97 zum Einsatz kommen. Hierbei werden die Kinder über
konzentriertes Lauschen, Orten und Identifizieren von Geräuschen auf die darauffolgende
Einheit des Programms, nämlich die Sprachspiele, eingestimmt.
Die zweite Einheit besteht darin, den Umgang mit Reimen, und somit die Beachtung der formalen Struktur der gesprochenen Sprache, mit den Kindern zu üben. Zu Beginn dieser
Übungseinheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge Reime vor und lässt die Kinder wiederholen, wobei viele bekannte Kinderreime zum Einsatz kommen. Anschließend dürfen die Kinder
selbst Reimwörter zu vorgegebenen Wörtern bilden.
In der nachfolgenden dritten Einheit lernen die Kinder Sätze und Wörter, dass sich (gesprochene) Sätze in kleinere Einheiten, nämlich Wörter, zerlegen lassen. Sie lernen auch, Wörter
zu verbinden98, sie ergänzen Sätze um jeweils ein Wort und beginnen auch bereits, Wörter
hinsichtlich ihrer Länge99 zu vergleichen.
Die vierte Übungseinheit „Silben“ umfasst Spiele zum Umgang mit Silben und mit der Silbengliederung, mit der die Kinder meist recht vertraut sind 100. Sie vertiefen ihre Erfahrungen,
indem sie vorgegebene Einzelsilben zu Wörtern zusammenfügen (Synthese) oder Wörter in
Silben zerlegen (Analyse). Dies wiederum ist immer kombiniert mit rhythmischen Bewegungen zur Synchronisierung von Sprache und Motorik.
Nachdem die Kinder mit der Silbe vertraut geworden sind, wird in der fünften Übungseinheit
nun die kleinste sprachliche Einheit, der Laut, eingeführt. Da Laute koartikuliert werden und
dementsprechend schwer zu isolieren sind, muss eine Abstraktionsleistung vollbracht werden.
Um den Kindern den Zugang zu den Einzellauten zu erleichtern, wird mit der Identifizierung
des Anlauts im Wort begonnen, wobei zunächst relativ leicht erkennbare Laute wie Vokale
oder dehnbare Laute (/m/, /s/, /r/), und erst später Plosivlaute (/p/, /k/, /t/) eingeführt und behandelt werden. Bei der Einführung in die Welt der Laute gilt es, den Kindern diesen Schritt
durch möglichst vielfältige Sinneserfahrungen zu erleichtern. So können Laute gehört, an der
Mundstellung des anderen erkannt oder über Resonanzräume unseres Körpers erfühlt werden.
97
Minimalpaare: Phonologisch gesehen bilden zwei Wörter oder Ausdrücke ein Minimalpaar, wenn sie
unterschiedliche Bedeutung haben und sich dabei in nur einem Phonem unterscheiden (z.B. Wand – Wind).
98
Z.B. ergibt die Zusammensetzung der Wörter „Schnee“ und „Mann“ das neue Wort „Schneemann“.
99
also hinsichtlich der Zeit, die man zum Aussprechen braucht.
100
etwa durch Singen oder rhythmische Übungen im Kindergartenalltag.
80
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Zu Beginn dieser Einheit spricht der Erzieher bzw. Pädagoge verschiedene Wörter vor und
dehnt dabei den Anlaut (z.B. Ssssssonne), nachdem die Kinder nachgesprochen haben, dürfen
sie bspw. aus Bildkarten diejenigen aussuchen, die Wörter mit gleichem Anlaut darstellen.
Die sechste und letzte Trainingseinheit schließlich dient der Analyse und Synthese von Lauten. Die Kinder beschäftigen sich in dieser Einheit mit den Lauten, die sie innerhalb eines
Wortes hören können. Zunächst werden Übungen zur Phonemsynthese durchgeführt, wobei
die Erzieherin ein Wort in Einzellauten vorspricht und die Kinder diese zu dem Wort zusammenfügen. Auch die Analyse wird ähnlich eingeführt. In den folgenden Spielen wird der Umgang mit Lauten geübt, indem z.B. aus einem Set von Bildkarten dasjenige herausgesucht
werden soll, auf dem das Wort mit den meisten Lauten dargestellt ist. Schließlich beschäftigen sich die Kinder auch mit Phonemen, den bedeutungsunterscheidenden Einheiten der
Sprache, indem sie etwa untersuchen, in welchem Laut sich zwei Wörter unterscheiden.
Die Einheiten des Trainingsprogramms werden in täglichen zehn- bis fünfzehnminütigen Sitzungen während der letzten zwanzig Wochen des Kindergartenjahres in Kleingruppen in einem separaten Raum des Kindergartens durchgeführt, wobei die Förderung schwächerer Kinder vorrangig ist. Das Programm ist mit vielen Bildern, Bewegungs- und Singspielen sehr
spielerisch gestaltet und soll den Kindern nicht nur Einblick in die Welt der Laute geben, sondern auch Freude am spielerischen und kreativen Umgang mit Sprache vermitteln. Ein detaillierter und exakt einzuhaltender Trainingsplan regelt die gesamte Trainingsphase. Für weiterreichende Ausführungen wird u.a. auf Schneider 1989 und Roth/Schneider 2002 verwiesen.
Weitere Trainingsprogramme zur phonologischen Bewusstheit sind z.B. das „Lautwortoperationsverfahren“ (Kossow 1979)101, der „Kieler Leseaufbau“ (Dummer-Soch & Hacketal
1996), das „Marburger Rechtschreibtraining“ 102 (Schulte-Körne/Mathwig 2009), „hören, lauschen, lernen …“ (Küspert/Schneider 1999, 2006, 2008), „hören, lauschen, sprechen …“
(Küspert/Schneider 2006) sowie „hören, sehen, verstehen“ (Rosenkötter et al. 2007). Je nach
Alter und individueller Symptomatik des Kindes führen diese Verfahren nachgewiesenermaßen zu Verbesserungen der Lese- und/oder Rechtschreibleistung.
101
Als eine der frühesten Veröffentlichungen stellte Kossow (1979) Aufbau und Erprobung eines Programms zur
Behandlung von Lese-Rechtschreibproblemen im Rahmen einer wissenschaftlichen Veröffentlichung vor.
Dieses Trainingsprogramm nach Kossow stellt ein theoretisch begründetes, umfangreiches Förderprogramm für
lese-rechtschreibschwache Kinder in den ersten Grundschulklassen dar und enthält sowohl kognitive als auch
lerntheoretische Prinzipien.
102
Für eine theoretische Einordnung des Trainingskonzepts ist das Phasenmodell von Frith (1985) relevant.
81
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
7.1.4 Frühkindliche Wahrnehmungsförderung zur Prävention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten
Da sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit dem Prozess der Wahrnehmung beschäftigen, sind in der Literatur viele Definitionen für die Begrifflichkeit zu finden. So wird
Wahrnehmung etwa im medizinischen Wörterbuch als „allgemeine Bezeichnung für den komplexen Vorgang von Sinneswahrnehmung, Sensibilität und integrativer Verarbeitung von
Umwelt- und Körperreizen“ definiert (Pschyrembel 2002, S. 1779). R. Zimmer versteht
Wahrnehmung als „Prozess der Informationsaufnahme aus Umwelt- und Körperreizen […]
und der Weiterleitung, Koordination und Verarbeitung dieser Reize im Gehirn“ (Zimmer
2005, S. 32), bei dem individuelle Erfahrungen, Erlebnisse und subjektive Bewertungen bedeutend sind. Generell folgen der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen Reaktionen
in der Motorik oder auch im Verhalten eines Menschen, die wiederum zu neuen Wahrnehmungen führen (vgl. ebd.). Bereits im Embryonalstadium beginnt die Sinnesentwicklung (vgl.
Fröhlich/Büker 2005, S. 40), wobei sich zuerst das taktile System (der Tastsinn), später, jedoch ebenfalls bereits im pränatalen Verlauf, das vestibuläre System (der Gleichgewichtssinn)
und die auditive Wahrnehmung herausbilden, während sich die visuelle Wahrnehmung zuletzt
entwickelt. Vom Tag der Geburt an sind die Sinne des Menschen voll funktionsfähig (vgl.
Zimmer 2005, S. 52; Spallek 2004, S. 42f.). In diesem Zusammenhang spricht Fröhlich von
einer Grundausstattung, mit der das neugeborene Kind auf die Welt kommt (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 42), jedoch entwickelt sich die Zusammenarbeit der Sinne in ihrer Entität,
die vom täglichen Gebrauch der Sinnesorgane abhängig ist, erst während der ersten Lebenswochen und -monate. Um zunehmend sensible Wahrnehmung zu ermöglichen, benötigt diese
Entwicklung vielfache Übungen, wozu sämtliche Handlungen des Säuglings bzw. Kindes
dienen. Bei diesen Handlungen werden die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert, wodurch sich synaptische Verbindungen im Gehirn bilden, die ein immer
dichteres und verzweigter werdendes Netz bilden, das wiederum einen schnelleren und zuverlässigeren Austausch von Informationen ermöglicht. Damit derartige Vernetzungen stattfinden können, muss eine ausreichende sensorische Stimulation der Sinnesrezeptoren gewährleistet sein (vgl. ebd.). Dieser Prozess führt zu einer zunehmend differenzierteren Wahrnehmung.
Die Begriffe Wahrnehmung bzw. Perzeption werden als Prozess des Auffassens und des Erkennens, ohne gedankliche Verarbeitung oder Beurteilung, als ein ganzheitlicher, komplexer
und aktiver Prozess, der durch die subjektive Auswahl und Einschätzung des Wahrgenomme-
82
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
nen eine emotionale Färbung bekommt (vgl. Fröhlich/Büker 2005, S. 17; Lueger 2005, S. 33)
und der nicht der willkürlichen Hinwendung der Aufmerksamkeit bedarf, definiert.
Der Prozess der Wahrnehmung wird von Zimmer als mehrstufiger Kreislauf verstanden (s.
Abb. 8), demzufolge Umweltreize zunächst über die Rezeptoren des korrespondierenden Sinnesorgans aufgenommen werden, wobei bereits an dieser Stelle die Reize nach aktuell subjektiver Bedeutsamkeit vorausgewählt werden. Diesbezüglich spricht Ayres auch von hemmenden Kräften, die die unwichtigen Reize unterdrücken und die Impulsmenge auf die wichtigsten reduzieren (vgl. Becker 2005, S. 22). Nachdem diese präselektierten Reize über aufsteigende Bahnen in die entsprechenden sensorischen Zentren des Gehirns weitergeleitet worden
sind, wird das Perzipierte dort gespeichert und mit bereits Perzipiertem verglichen und bewertet. Hier werden die Reize mit initialisierten Handlungen und Erfahrungen verknüpft. Schließlich sendet das Gehirn über absteigende Bahnen Impulse zu den ausführenden Organen, wodurch eine Resonanz in Form einer motorischen Handlung hergerufen wird. Infolgedessen
kommt es schließlich zu erneuten Wahrnehmungen. Diesbezüglich spricht Zimmer von einem
sich repetitiv erneuernden Regelkreis (vgl. Zimmer 2005, S. 46). Ayres spricht von sensorischer Integration. Im Unterschied zu Affolter vertritt Ayres die Auffassung, dass jedes Kind
mit einer bestimmten Kondition sensorischer Integration geboren wird, die durch das kindliche Spielen kombiniert mit vielfältiger Erfahrung bei der Auseinandersetzung mit seiner
Umwelt gefördert und weiterentwickelt wird (vgl. a.a.O., S. 9). Nach Ayres verläuft die umfassende Entwicklung der sensorischen Integration in so genannten Anpassungsreaktionen,
die sie als eine primär zielgerichtete und sinnvolle Reaktion auf sinnliche Erfahrungen definiert103. Während der Mensch Herausforderungen bewältigt und immer wieder neue Erfahrungen macht, entwickelt sich sein Gehirn weiter, sodass es zunehmend bessere Organisation
erlernt. Da Kleinkinder ihre Erfahrungen bis zum siebten Lebensjahr insbesondere mittels der
Motorik und ihrer Sinneswahrnehmungen generieren und Anpassungsreaktionen weniger vom
Verstand ausgehen, spricht Ayres von einem Lebensabschnitt „der sensomotorischen Entwicklung“ (a.a.O., S. 10f.). Trotz der im Verlauf der weiteren Entwicklung zunehmend durch
geistige sowie soziale Resonanzen ersetzen Teile sensomotorischer Prozesse bleibt die Motorik die Basis für komplexe sensorische Integration, wie sie etwa für den Schriftspracherwerb
vorausgesetzt wird. Je besser diese Sensomotorik in den ersten Lebensjahren ausgeprägt ist,
desto leichter wird für das Kind der Schriftspracherwerb und das spätere Erlernen von geistigen und sozialen Fähigkeiten (vgl. a.a.O., S. 11).
103
So versucht etwa ein Baby, einen Gegenstand, den es sieht, durch Ausstrecken seiner Hand zu erreichen.
83
7 Präventive Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene
Wie gezeigt werden konnte, sind Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung ein wichtiger Indikator für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb. Da die Entwicklung einer zunehmend sensiblen Wahrnehmung vielfacher Übung bedarf, wozu sämtliche Handlungen des
Kindes dienen und wobei die benötigten Erfahrungen gemacht und im Gedächtnis gespeichert
werden, sollte dem Kind eine dazu geeignete und somit an Übungsmöglichkeiten reiche Umgebung bereitgestellt werden. Diese vorbereitete Umgebung ermöglicht den Aufbau von Gewohnheiten und Routinen, besonders auf das Lernen bezogen. „Die Gewöhnung ist am besten
zu erreichen, wenn sie alternativlos und latent erfolgt. Das heißt, der Erzieher ist gehalten,
ein bestimmtes, abgeschlossenes soziales Umfeld zu gestalten, das andere, gegenläufige Einflüsse oder alternative Erfahrungen ausschließt. (Prange/ Strobel-Eisele 2009, S. 55).
Unter diesem Aspekt sollen in Kapitel 8 die Möglichkeiten pädagogisch-didaktischer Intervention nach dem Modell Maria Montessoris sowie nach dem Konzept der AFS-Methode
Astrid Kopp-Dullers sowie Ansätze und Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention legastheniebedingter Schriftspracherwerbsschwierigkeiten näher erörtert werden. Zuvor
soll
noch dieses Kapitel der präventiven Förderung auf pädagogisch-didaktischer Ebene mit lerntheoretischen Reflexionen über vorbeugendes pädagogisches Intervenieren seinen Abschluss
finden.
7.2 Lerntheoretische Überlegungen zur pädagogisch-präventiven
Intervention
Im Wesentlichen umfasst eine lerntheoretische Basis von Frühförderprogrammen die Durchführung und Strukturierung der Förderung, ohne dass damit Annahmen über den Gegenstand
der Förderung verbunden sind. So werden lerntheoretische Prinzipien bei unterschiedlichen
Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs eingesetzt, wie bspw. bei der Vermittlung von
phonologischem und orthographischem Wissen (vgl. Suchodoletz 2006, S. 34).
Aus der empirischen Forschung (z.B. Kossow 1979; Mannhaupt 1992; Schulte-Körne/
Mathwig 2009) können folgende Ableitungen für das Übungs- und Lernverhalten zusammengefasst werden: Förderung der intrinsischen kindlichen Motivation, der sukzessive Aufbau
der Lernschritte, sukzessives Vorgehen104, Gliederung, Akzentsetzungen und Sinnverbindungen des Lernstoffs, Unterstützung von Selbstregulation und Anleitung zu planvollem Handeln, Lernen durch Nachahmung, Unterstützung einer positiven Haltung zur Lernsituation
und zu eigenen Fähigkeiten, unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg bzw. Fehlerkontrolle
104
Entdecken, Aneignen, Verbalisieren, Verinnerlichen, Automatisieren.
84
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
sowie Beachtung der Prinzipien der Ermüdung105 (vgl. Suchodoletz 2006, S. 38). Lerntheoretisch fundierte Ansätze können sowohl schulisch als auch außerschulisch umgesetzt werden
(vgl. a.a.O., S. 55). So lässt sich auch eine häusliche Förderung durchführen. In diesem Rahmen werden in den Förderstudien von Machemer (1979) und Schulte-Körne (et al. 1997,
1998) Eltern beauftragt, fünfmal in der Woche für kurze Intervalle mit ihren Kindern von den
Beratern hoch strukturiert vorgegebene Rechtschreibübungen durchzuführen. Die Studien zur
Wirksamkeit des präventiven Trainingsprogramms „hören, lauschen, lernen“ (Küspert 1998;
Schneider et al. 1994, 1998, 2000) unterstützen die Interpretation, dass mit der einfachen
Maßnahme des aufgeteilten Lernens die Effektivität der Förderung verbessert werden könnte.
Der Einsatz lernstrategisch orientierter Förderprogramme kontrastiert unter lernpsychologischer Perspektive besonders, da in Studien, in denen sich lese-rechtschreibschwache Kinder
unterschiedlichen Alters entweder eine komplette Schreibhandlungsstrategie (Mannhaupt
1992) oder spezifische Rechtschreibstrategien (Nock et al. 1988; Scheerer-Neumann 1988;
Schulte-Körne et al. 1997; 1998) aneignen sollten, positive Befunde festgestellt werden konnten. Gerade diese Belege verlangen in Verbindung mit den aktuellen Lernforschungserkenntnissen den Einsatz von Fördermaßnahmen, die den Kindern Einsicht in die Schritte ihres Tuns
vermitteln und ihnen Anregung zur strategischen Selbstkontrolle geben.
Insgesamt ist der Einsatz lerntheoretisch begründeter Behandlungsmöglichkeiten bei der Förderung von lese-rechtschreibschwachen Kindern zu empfehlen.
8
Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der AFS-Methode nach Astrid
Kopp-Duller
8.1 Ansätze nach dem Konzept von Maria Montessori
Kein reformpädagogisches Konzept ist so weit verbreitet wie das von Maria Montessori. Allein in Deutschland gibt es mehr als 400 Montessori-Kinderhäuser und über 1000 MontessoriSchulen. Viele Förderschulen wie auch Diagnose- und Förderklassen arbeiten nach dieser
Methode. Der Ansatz ist darüber hinaus weltweit verbreitet. Seit den 1990er Jahren kann man
einen regelrechten Boom des Ansatzes feststellen. Neue Montessori-Einrichtungen werden
105
die Abnahme der Reaktionsbereitschaft auf einen bestimmten Reiz.
85
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
gegründet, zahlreiche Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren erschienen und Ausbildungskurse werden verstärkt angeboten, offensichtlich weil die Nachfrage entsprechend groß
ist. Schließlich versuchen auch viele Regeleinrichtungen, Elemente der Arbeit nach Montessori in ihren Alltag zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist die so genannte Freiarbeit, die derzeit
an Grundschulen umgesetzt wird. Die Motivation, sich mit dem Ansatz Maria Montessoris zu
beschäftigen, ist sehr unterschiedlich. Für einige Pädagogen sind allgemeine (Erziehungs-)
Probleme Anlass, nach neuen Wegen zu suchen, für andere sind es Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwächen und Probleme beim Schriftspracherwerb. Es bereitet zunehmend
Schwierigkeiten, Kinder mit solchen Problemen in den Gruppenalltag (wie er vor allem in der
Schule stattfindet) zu integrieren. Auch der Wunsch, individueller mit Kindern zu arbeiten,
spielt für Pädagogen eine Rolle. Durch die Montessori-Pädagogik erhofft man sich, mehr auf
das Kind eingehen zu können, wobei man erwähnen sollte, dass Erzieher bewusst Elemente
der Montessori-Pädagogik aufnehmen, deshalb aber nicht zu einer Montessori-Einrichtung
werden oder werden möchten, indem sie womöglich die Gesamtkonzeption verändern. Es
stellt sich die Frage, welche Erfolgschancen der Ansatz bietet, dass er sich so lange weitgehend unverändert hält und immer neue Anhänger findet. Ist er auch geeignet, Antworten auf
aktuelle pädagogische Fragen und Probleme zu geben? In diesem Kontext interessiert, ob der
Ansatz von Montessori geeignet ist, neue Wege in der Prävention von legastheniebedingten
Schulproblemen bzw. Problemen beim Schriftspracherwerb aufzuzeigen.
Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studie scheint die Forderung nach einer gezielten
(Früh-)Förderung unserer Kinder wieder in aller Munde zu sein, jedoch war diese schon vor
über einem Jahrhundert eine der zentralen Forderungen in den pädagogischen Ansätzen von
Maria Montessori. Sie hatte die Gelegenheit, kleinere Kinder in ihrem Umgang mit und in
ihren Reaktionen auf verschiedene Materialien zu beobachten, und als Ärztin war sie in der
Lage, ihre Beobachtungen entwicklungspsychologisch einzuordnen. So ist es nicht
verwunderlich, dass sie zu einer Zeit, als es die Neuropsychologie dem Namen nach noch gar
nicht gegeben hat, ihrem pädagogischen Konzept eine neuropsychologische Grundlage gab.
Aber das ist nur ein Aspekt, ein weiterer ist die tiefe Achtung vor der Würde des Kindes, das
bereits den zukünftigen Erwachsenen in sich birgt und dem es zu einer sinnvollen
Entwicklung zu verhelfen gilt. Um die frühen Lernphasen der Kinder zu nutzen und wichtige
Lernpotentiale nicht zu vergeuden, schuf sie die ersten Kinderhäuser, in welchen schon
Vorschulkindern ab dem dritten Lebensjahr eine gezielte Bildung und Erziehung ermöglicht
werden sollte. Die Zeit von der Geburt an bis zum sechsten Lebensjahr hat Montessori als die
Phase des absorbierenden Geistes (vgl. Montessori 1996) beschrieben, da das Kind in dieser
86
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Lebensspanne mit großer Leichtigkeit vielerlei Lernanreize aufzunehmen vermag und diese
einfach zu absorbieren scheint. Das Alter vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr stellt eine
der wichtigen Entwicklungsphasen im Leben des Kindes dar, in der eine gezielte Förderung
von außen beim Kind Anklang finden kann, da viele Entwicklungsfenster geöffnet sind und
folglich das Lernen besonders leichtfällt. Ab dem dritten Lebensjahr ist das Kind
„sensomotorisch betrachtet“ ein „reifes Wesen, das sprechen und zu vielen Menschen
Kontakt aufnehmen kann“ (Ayres 2002, S. 42). In dieser Zeit werden die Fundamente für den
Erwerb der höheren intellektuellen Funktionen gelegt.
Jedes Kind durchläuft Entwicklungsphasen, sie sind Ausdrucksformen neurologischer
Reifungsprozesse, und diese werden wiederum durch das biologische Potential, genetische
Anlagen und eine Umwelt, die Erfahrungen und damit Lernen ermöglicht, bestimmt. In all
diesen Bereichen, im Bereich der Sensomotorik, der Motorik, des Spracherwerbs und
schließlich des Verhaltens, ist eine neurologische Entwicklung zu beobachten, die das Kind
selbst mitbestimmt (vgl. Milz 1999, S. 60f.), indem es sich durch seine Lebensneugier der
Umwelt zuwendet. Montessori spricht im Zusammenhang mit diesen Entwicklungsschritten,
wie oben erwähnt, vom absorbierenden Geist106. Durch diese Zuwendung zur Umwelt werden
immer wieder neue Reize verarbeitet, die die Grundlage für komplexe Verarbeitungssysteme
bilden. „Bei den psychischen Funktionen kann die Reife nur durch Erfahrungen in der
Umwelt eintreten, die während der einzelnen Entwicklungsabschnitte unterschiedlich sind.
[…]“ (Mon-tessori 1984, S. 88). Von Geburt an soll sich das Kind zu einem
selbstverantwortlichen, unabhängigen Menschen entwickeln, wobei Erwachsene – Eltern,
Erzieher und Lehrer – die beschriebene Entwicklungsarbeit so wenig wie möglich stören und
dem Kind genügend Freiraum für die kindliche Entwicklung gewähren sollten. „Wird das
Kind von den Möglichkeiten, diese Erfahrungen zu sammeln, ferngehalten zu dem Zeitpunkt,
da es die Natur dazu bestimmt, vergeht diese spezielle, anregende Sensitivität, und die
Entwicklung, wie auch die Reife, werden dadurch gestört“ (ebd.). Das Kind soll in seiner
ganzen Person geachtet werden, um ihm die Möglichkeit zu geben, so individuell wie
möglich zu arbeiten und ganzheitlich mit all seinen Sinnen zu lernen. So kann dem Kind
ermöglicht werden, selbstständig und kritisch zu denken und zu handeln, eigene
Entscheidungen zu treffen und verantwortungsbewusst mit Freiheit umzugehen.
106
Neurowissenschaftler bestätigen diese „Geistesform“ und verfeinern die Beschreibung, z.B. beschreibt Stern
(1992) die selektive Wahrnehmung von Säuglingen. Weitere Erkenntnisse sind die reizabhängige Entwicklung
des Gehirns, die Bedeutung der Umgebung sowie der bewussten Förderung.
87
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Die Montessori-Materialien sind besonders dafür entwickelt, diese Reize anzubieten und dem
Kind somit Entwicklungsanstöße zu geben bzw. seine Umwelt angemessen für die Entwicklungsphasen des Kindes zu gestalten. So kann ihm die Möglichkeit gegeben werden, die sensiblen Phasen auszuschöpfen und eventuell versäumte Lerninhalte durch Reize auf spielerische Weise nachzuholen. Nach M. Fritz lässt sich das allgemeinere „Problem versäumter
Lernbereitschaften“ mit Hilfe der phasenspezifisch erarbeiteten Materialien Montessoris präventiv lösen, weil auf diese Weise ein „Ausfall von Lernprozessen“ (Fritz 1971, S. 139f.) didaktisch verhindert wird.
8.1.1
Grundlagen des Montessori-Modells
Auch in der Montessori-Pädagogik geht man davon aus, dass die Phonetik der Zugang beim
Erlernen unbekannter Wörter ist. Aus diesem Grund nutzt man in dieser Pädagogik die phonetische Annäherung an das Lesen (vgl. Montessori 2001a, S. 152). Von Bast wird die Montessori-Pädagogik „als in Deutschland bis heute wirkungsmächtige Strömung“ angesehen, bei
der „das Kognitive und das Aufgeklärte der Mittelpunkt ihrer Pädagogik“ (Bast 1996, S. 167)
sind. Ein Kind wird mit dem Drang zu lernen und zu wachsen geboren. Dieser Drang geht
einher mit dem spontanen Bedürfnis, sich aktiv mit der Umwelt auseinanderzusetzen, was zu
Erkenntnisprozessen führt, die seine Persönlichkeit bilden. So erlebt jedes einzelne Kind sein
Wachstum, sofern es von einfühlsamen Erwachsenen begleitet wird und in einer anregenden
Umwelt lebt, mit großer Freude. Im Wesentlichen ist der Erziehungsprozess demzufolge ein
Selbsterziehungsprozess, den es mit Hilfe von außen zu unterstützen und zu fördern gilt.
Folglich geht Entwicklung nach Montessori vom Kind aus, welches nicht Objekt, sondern
Subjekt in diesem von biologischen Rahmenbedingungen beeinflussten Prozess ist (vgl. Bast
1996, S. 55). Nach Maria Montessori kann eine Person niemals von einer anderen Person
entwickelt werden, genauso wie auch Entwicklung nicht gelehrt werden kann (vgl. Montessori 1984, S. 184). Nach Montessori muss Erziehung immer entwicklungsgemäß sein, d.h., dass
sie den inneren Kräften und den Bedürfnissen des Kindes auf seiner jeweiligen Entwicklungsphase entsprechen muss. Demnach darf das Kind weder überfordert noch geistig unterfordert werden. Da Entwicklung in Wechselwirkung von Bewegung und Wahrnehmung geschieht, werden Sinnesreize mit Hilfe von Bewegungen aufgenommen, bekommen Bedeutung, machen Erkennen möglich und führen wiederum zu motorischen Reaktionen. So entsteht ein Regelkreis, der im Zusammenspiel von Empfindung und Gedächtnis zu neuen Vernetzungen und damit zu Fähigkeiten führt. Dadurch werden Denken und Sprechen und damit
Kommunikation mit dem sozialen Umfeld möglich. Für eine differenzierte Ausprägung dieses
88
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Netzwerks sind vielfältige Erfahrungen mit der Umgebung, die aufgenommen, verarbeitet und
gespeichert werden, notwendig. Montessori entwickelte ihre weltbekannte Methode, um die
Erziehung und Förderung behinderter wie auch nicht behinderter Kinder zu ermöglichen, wobei sie schwerpunktmäßig mit dieser Methode „als Organisation des Lernprozesses begonnen“ und „später […] theoretisch nachgeholt [hat], was in ihrem Konzept für die Praxis
schon lange realisiert war, nämlich die Verbindung von Inhalt und Methode“ (Raapke 2003,
S. 238). Montessori erstellte eine komplexe Verknüpfung zwischen wissenschaftlicher Theorie und erzieherischer Praxis, wobei sich in diesem Erziehungsmodell das pädagogisch orientierte Handeln im Kontext der kindlichen Entwicklung bewegt. Dieser Kontext impliziert sowohl körperliche als auch geistige, psychische sowie intellektuelle Bedürfnisse des Kindes,
wobei das Material als Leiter für die psychischen Bedürfnisse fungiert (vgl. Montessori 1987,
S. 84).
„Die Sinne sind ‚Greiforgane‘ der Bilder der Außenwelt, die für den Verstand so notwendig
sind, wie die Hand als Greiforgan der für den Körper notwendigen Dinge. Doch beide – Sinne und Hand – können sich über solche einfachen Aufgaben hinaus verfeinern und dadurch
immer wertvollere Gehilfen des großen inneren Motors werden, der sie in seinen Dienst
stellt“ (Montessori 1987, S. 165). Wie hier beschrieben erkannte Montessori dank ihrer Fähigkeit zur genauen Beobachtung sowie ihrer ärztlichen Ausbildung, die sie dazu befähigte,
ihre Hypothesen über kindliches Verhalten in ein neuropsychologisches Raster einzuordnen,
welche Bedeutung der Verarbeitung von Sinnesreizen im Rahmen der kindlichen Entwicklung zukommt. Montessori geht davon aus, dass jeder Mensch bei der Geburt über einen „inneren Bauplan“107 verfügt, der die Entwicklung steuert.
Die Montessori-Pädagogik steht sozusagen auf zwei Säulen, die erste Säule ist die Entwicklung des Kindes, das mit einem genetischen Potential geboren wird, dessen Ziel das Wachsen
und Lernen ist (vgl. Raapke 2001, S. 14). Ihr ist der Grundsatz, Folge dem Kind, es wird dir
seinen Weg zeigen, zuzuordnen, während die zweite Säule ihrer Pädagogik die Umwelt des
Kindes ist, durch die es nur lernen und wachsen kann, indem es sich mit ihr auseinandersetzt.
Der Grundsatz der zuletzt genannten Säule lautet demnach: Hilf mir, es selbst zu tun (ebd.;
Montessori 1978, S. 274). Das Kind weist den Weg, der Pädagoge folgt ihm, indem er angemessene Materialien108 vorbereitet. Das Sinnesmaterial109 soll helfen, die erworbenen Sinnes-
107
Die Anlagen für die geistige Entwicklung liegen im Kind verborgen, der Plan entfaltet sich in vielen Entwicklungsschritten durch eine „geheimnisvolle Kraft“.
108
Angemessenes Material folgt dem methodischen Vorgehen nach dem Prinzip der kleinen didaktischen
Lernschritte unter Beachtung der Entwicklungsphasen eines Kindes.
89
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
eindrücke zu ordnen und somit geistige Kategorien zu erzeugen. Es ist ihrem Ausgangspunkt
gemäß, dass sich jedes Kind in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt.
Nach Montessori soll das von ihr erarbeitete Material „kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht
allein die Kenntnis der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere
Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein
Rüstzeug, die ganze Welt und die Kultur zu erobern. Es ist wie ein Schlüssel zur Welt und ist
nicht mit der Welt selbst zu verwechseln“ (Montessori 1985, S. 274). Das Lern- und Entwicklungsmaterial verschafft dem Kind also einen Zugang zur abstrakten Welt, indem bereits erworbenes Wissen betrachtet, objektiviert, geordnet und bewertet wird, so werden unreflektierte, ganzheitlich aufgenommene Eindrücke zu reflektierter Erfahrung gemacht. Mit Hilfe des
didaktischen Materials von Montessori als Grundlage ist es möglich, die Wahrnehmung des
Kindes gezielt und individuell zu fördern. In diesem Kontext kann der Umgang mit dem didaktischen Material als das zentrale Moment Montessoris bei der Erziehung der Sinne bezeichnet werden (vgl. Montessori 2001a, S. 112). Zu diesen Materialien gehören das Material
zur Unterscheidung von Dimensionen (rosa Turm, braune Treppe, rote Stangen, Einsatzzylinder, farbige Zylinder), das Material zur Unterscheidung von Formen (geometrische Kommode, konstruktive Dreiecke, geometrische Körper)110 sowie das Material zur Unterscheidung
elementarer Sinnesempfindungen (zur Unterscheidung von Farben, Oberflächen- und Materialstrukturen, Gewichten, Geräuschen und Tönen, Gerüchen, Wärmequellen und zur Unterscheidung des Geschmacks). Montessoris Sinnesmaterial setzt sich aus einem System von
Gegenständen zusammen, die nach spezifischen Eigenschaften wie Farbe, Form, Gewicht,
Oberflächenbeschaffenheit, Temperatur, Klang usw. geordnet werden können (vgl. Holtstiege
1977, S. 103). Eine weitere Dimension, die das Material erschließt, ist die Fähigkeit zur Kategorienbildung, sodass Sinneseindrücke in abstrakter Weise organisiert und benannt werden
können. Didaktisch entsprechend geordnet und aufbereitet ermöglicht das Material auch legasthenen Kindern einen für sie gangbaren Weg für den Schriftspracherwerb. Dies bildet die
fundamentalen didaktischen Auswahlprinzipien und somit die Qualitäten des von Montessori
erarbeiteten Sinnesmaterials. Diese Isolierung der einzigen Eigenschaften im Material wird in
109
Bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Itard und Sequin die „physiologische Methode“ für die Behandlung
von geistig behinderten Kindern, die später auch für die Arbeit mit normal intelligenten übernommen wurde.
Maria Montessori übernimmt weite Teile des Werks von Itard und Sequin. Die physiologische Methode bedeutet
„die Einheit von Intellekt und Sinnestätigkeit bzw. Motorik und die Aktivierung des Intellekts durch Einwirkung
auf die Sinne und den Bewegungszusammenhang. […] Die Aktivierung des Geistes geschieht daher über die
Sinne. Durch die Peripherie wird auf das Zentrum eingewirkt“ (Heiland 1991, S. 39).
110
Die Übungen mit diesen Materialien dienen in besonderer Weise der Vorbereitung des mathematischen
Denkens.
90
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Ästhetik, Abstufung, Anregung, Begrenztheit, Organisiertheit, Fehlerkontrolle sowie das
kindliche Interesse kategorisiert. Die Isolierung des Materials ist so gestaltet, dass bei dessen
Umgang jeweils eine Eigenschaft isoliert wird. Es sind Gegenstände vorzubereiten, die mit
Ausnahme der unterschiedlichen Eigenschaften untereinander vollkommen gleich sind. Zu
große Komplexität und Phantasie würden nur Verwirrung stiften. Die gesamten Materialien,
wie auch die Umgebung, sind harmonisch und ästhetisch ansprechend gestaltet, sodass sie die
Kinder anziehen. Jedoch dient diese Ästhetik nicht in erster Linie der Freude oder der Vervollkommnung des sinnlichen Eindrucks, sondern sie soll dem Kind vermitteln, sorgfältig mit
dem Material umzugehen. Zudem sollte das Material dem Kind Anregung zum Handeln geben und somit seine Tätigkeit hervorlocken. Nach Montessori ist es unzweckmäßig, wenn ein
Kind von zu vielen Reizmitteln umgeben ist. Sie vertritt den Standpunkt, dass ein Kind keine
Reizmittel benötigt, die es „aufwecken bzw. anreizen“, um mit der konkreten Umgebung in
Kontakt zu treten. Vielmehr müsste ihm die Gelegenheit gegeben werden, die vielfältigen
Eindrücke, die wie ein Chaos aus der Umgebung auf es einwirken, zu ordnen. „In der Begrenzung der Hilfsmittel, die das Kind dazu führen, Ordnung in seinen Geist zu bringen und ihm
das Verständnis der unendlich vielen Dinge erleichtern, die es umgeben, liegt das höchste
Erfordernis, das es dem Kind ermöglicht, seine Kräfte zu schonen und das es sicher auf den
schwierigen Pfaden seiner Entwicklung voranschreiten läßt“ (Montessori 1987, S. 119). Nach
Montessori soll das Prinzip der quantitativen Begrenzung (vgl. Fischer et al. 1999) gelten,
d.h., dass der Pädagoge bewusst die Zahl der einzelnen Lehrmittel begrenzt und zwischen
dem Erforderlichen und dem Ausreichenden entscheidet, da zu viele Lernmaterialien die
Konzentrationsfähigkeit blockieren und zu wenige die Wahlmöglichkeit einschränken. Die
Aufgaben dürfen vom Kind beliebig oft, gemäß dem Prinzip der Wiederholbarkeit (vgl. ebd.),
wiederholt werden. Die Abstufung gestaltet sich durch bestimmte physikalische Eigenschaften des Materials wie Farbe, Form, Maße, Klang, Zustand von Rauheit, Gewicht, Temperatur
usw. „Jede einzelne Gruppe verfügt über die gleiche Eigenschaft, jedoch in verschiedenen
Abstufungen; es handelt sich also um eine Abstufung, bei der sich der Unterschied von einem
Gegenstand zum anderen gleichmäßig verändert und, wenn möglich, mathematisch festgelegt
ist“ (Montessori 2001a, S. 114). Zusätzlich wird das Material mengenmäßig begrenzt, um
einerseits ein äußeres Chaos durch zu viele Materialien zu verhindern und andererseits deshalb, damit die Kinder einen Weg für ihre Entdeckungen finden, ohne Umwege machen zu
müssen. Das kindliche Interesse wird dahingehend berücksichtigt, dass nur ein Material ausgewählt wird, das sich erfahrungsgemäß für die Erziehung eignet und „das kleine Kind auch
tatsächlich interessiert“ (ebd.). Die Erfahrung, etwas Neues benennen zu können, eine Entde91
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
ckung gemacht zu haben, führt zu weiteren Erkundungen in der vorbereiteten Umgebung, die
Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein fördern. Es gibt jedoch Kinder, die bestimmte Materialien bewusst meiden. Es besteht hier die Möglichkeit, dass eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungsverarbeitung vorliegt. Diesen Kindern sollte in besonderer Weise und mit behutsamem, gezieltem Vorgehen „Entwicklungshilfe“ gegeben werden. Schließlich ist ein ebenso
wichtiges Merkmal die Gestaltung und der Umgang mit den Lernmaterialien auf die Art und
Weise, dass die Möglichkeit zur selbstständigen Fehlerkontrolle111 gegeben ist. Das Kind soll
im Umgang mit dem Material auf seine Fehler aufmerksam werden. „Die sachliche Fehlerkontrolle führt das Kind dazu, bei seinen Übungen überlegt, kritisch, mit seiner an Genauigkeit immer stärker interessierten Aufmerksamkeit, mit einer verfeinerten Fähigkeit kleine Unterschiede zu erkennen. So wird das Bewußtsein des Kindes durch die Kontrolle der Fehler
vorbereitet, auch, wenn diese nicht immer stofflich oder sinnlich112 wahrnehmbar sind“
(Montessori 1987, S. 117; Verweis B.D.). Das Kind soll sich mit dem selbstständigen Erlernen der Gesetzmäßigkeit des Materials beschäftigen, ohne vom Erwachsenen, der indirekten
Erziehung entsprechend, davon abgebracht zu werden. Dies trägt wiederum zur Selbstständigkeit bei. Voraussetzung dafür ist die den spezifischen Kriterien entsprechende Gestaltung
der Umgebung und des Lernmaterials. Diese Fehlerkontrolle beschränkt sich nicht nur auf das
Material, sondern erstreckt sich auf die gesamte Umgebung.
Die Altersangaben, die bei der Beschreibung der Materialien und für deren Einsatz angegeben
sind, sollen einen Anhaltspunkt geben, ab wann es sinnvoll ist, die jeweiligen Materialien
anzubieten. Je nach Entwicklungsphase des Kindes sind diese als Richtwert zu verstehen.
Auch das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung älterer Kinder sollte aufmerksam beobachtet werden. Das Lern- bzw. Sinnesmaterial sollte ausschließlich für den Zweck genutzt
werden, für den es geschaffen wurde. Die entwicklungsanregenden Mittel sollten so genau
bestimmt sein, dass eine wirkliche Kongruenz zwischen den inneren Bedürfnissen und den
Anregungen gegeben ist (vgl. Montessori 1985, S. 82, 125), womit sich die Auswahl der Fördermittel am Kind selbst, an dessen Alter, seinen jeweiligen Fähigkeiten und der Umgebung
orientieren. Folglich ist das vorbereitete Material sowohl der sensiblen Phase als auch der
Entwicklungsphase des Kindes angepasst. Hierbei wird auf das Prinzip des aufbauenden
111
Dies kann etwa durch bestimmte Merkmale, die auf die Rückseite des Aufgabenkärtchens aufgetragen sind,
erfolgen.
112
Der Ausdruck „sinnlich“ kann hier leicht zu Missverständnissen führen. Gemeint ist wohl eine so
konzentrierte Hinwendung, dass Fehler ohne sensorisch-motorische Kontrolle empfunden werden. So wie
Kinder, die an eine bestimmte Ordnung im Raum gewöhnt sind, bereits auf kleine Veränderungen aufmerksam
werden.
92
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Schwierigkeitsgrades (vgl. Fischer et al. 1999) geachtet, welches die Aufschlüsselung komplexer Sachverhalte in logisch aufeinanderfolgenden Stufen verlangt113.
Die unter neuropsychologischem Verständnis in Wechselwirkung zueinander geschehende
Zuordnung von Gegenstand, oder seiner Eigenschaft, und der zugehörigen Benennung verdeutlicht, wie notwendig die Arbeit mit dem Sinnesmaterial auf die von Montessori empfohlene Art und Weise für die Sprachentwicklung und die Wahrnehmungsverarbeitung, auch für
Kinder mit beeinträchtigter Wahrnehmungsverarbeitung und Sprachkompetenz, sein kann.
Ausgangspunkt für die Entwicklung des Materials ist die Notwendigkeit, die kindlichen Sinne
zu entwickeln und zu differenzieren. Schließlich muss sich ein Kind mit seiner Umwelt verständigen, was es nur anhand von Erfahrungen kann. Die Erwachsenen müssen ihm die Freiheit lassen, diese Erfahrungen auf seine eigene Weise machen zu können. Wenn möglich sollten sie ihm zugleich helfen, seine Welt und die darin herrschenden Prinzipien zu erkunden
und sich zu assimilieren. Daher müssen sie eine Brücke zwischen ihrer Welt und der des Kindes schlagen. In Gestalt einer besonders vorbereiteten Umgebung schlägt die MontessoriPädagogik eben diese Brücke.
Das Ziel, auf das alle didaktischen Bemühungen gerichtet sind, besteht nach Montessori in der
Intention, dem Kind zu helfen, sich durch Selbstständigkeit zur freien Persönlichkeit zu entwickeln (vgl. Holtstiege 2009, S. 84). Dies geschieht durch die mit didaktischer Systematik
vorbereitete Umgebung. Alles, was ein Kind zum Lernen braucht, soll in dieser vorbereiteten
Umgebung (vgl. Holtstiege 2009, S. 128ff., 181) bereitgestellt werden, sodass das Kind in der
freien Arbeit mit dem Lernmaterial allein arbeitet und lernt. Die erzieherische Praxis und somit die Aufgabe des Erziehers bzw. Pädagogen stellt sich nun als die Bereitstellung der äußeren Bedingungen, also der mit didaktischer Systematik vorbereiteten und geordneten Umwelt
dar, die der freien Entwicklung sowie dem ursprünglichen Wissensdrang und somit den Bedürfnissen und Interessen des Kindes entspricht (vgl. Montessori 1996, S. 12). Mehrheitlich
lernt das Kind in diesem Zusammenhang im handelnden Umgang mit konkreten Gegenständen. Das Fundament für die intellektuelle kindliche Entwicklung konstruiert das Kind nur
durch Konzentration, also durch das konzentrierte Arbeiten (vgl. Montessori 1987, S. 84),
weshalb Konzentration zum zentralen Begriff von Montessoris Methode wurde (vgl. von Oy
1996, S. 12). Solche tiefen Konzentrationsprozesse kommen besonders bei jüngeren Kindern,
bezüglich des Lernens mit vorbereiteten Materialien, unter Inklusion der Bewegung vor (vgl.
113
Z.B. werden zunächst Buchstaben durch das Ertasten von Sandpapierbuchstaben kennengelernt, anschließend
wird mit der Arbeit mit Buchstabenkärtchen begonnen.
93
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Holtstiege 2009, S. 101). Diese vorbereitete Umgebung ist notwendig, weil sich eine Persönlichkeit in der Gesellschaft nur hier ungehindert entwickeln kann (vgl. von Oy 1996, S. 16).
Nach Montessoris Meinung ist es „besser als alle Leistungsanforderungen und Erwartungen,
die an Kinder gestellt werden […], dass das Kind die Umgebung und die Anreize bekommt,
die es zur ungehinderten Entfaltung seiner Anlagen braucht“ (vgl. a.a.O., S. 11). Außerdem
müsse man „eine Umgebung schaffen, in der das Kind das wachsende Bedürfnis seines Lebens befriedigen kann. In der Umgebung muss es deshalb auch Nahrung finden, mit der es
sein Wissen vertiefen und die Fähigkeiten seines Verstandes entwickeln kann. […] Wenn das
Kind die Gelegenheit bekommt, aus der Umgebung nach seinem eigenen Rhythmus und seiner
eigenen Arbeitsweise Wissen zu erwerben, entwickelt es sich auf erstaunliche Weise. Beim
Erwerb dieses Wissens ist das Kind immer tätig“ (Montessori 2003, S. 73). Diese vorbereitete
Umgebung ist nur eines der gewichtigen Kernprinzipien der Montessori-Pädagogik. Weitere
sind u.a. die Schulung der Wahrnehmungsfunktion, Bewegung, Aktivität und Arbeit – „tun
durch Tun lernen“ (vgl. Montessori 2001b, S. 16), – Gleichgewicht, Rhythmus, Ordnung,
wiederum eng verknüpft mit der programmierten und dem Kind angepassten Vorbereitung
durch den Pädagogen, Individualität und Selbstwertungsprozess, außerdem Freiheit und
Spontaneität, Entdeckungen sowie Entwicklungen und besonders das „Kind als Baumeister
seiner selbst“ (vgl. Raapke 2001, S. 39; hierzu auch Abb. 4). „Durch den Kontakt mit der
Umgebung und ihre Erforschung baut der Verstand diesen Schatz wirkender Gedanken auf,
ohne die seine abstrakten Funktionen, Grundlagen und Präzision, Genauigkeit und Inspiration entzogen wären. Dieser Kontakt wird durch die Sinne und die Bewegung hergestellt. Es ist
zwar möglich, die Sinne zu erziehen und zu verfeinern, auch wenn es sich dabei nur um einen
zeitlich begrenzten Gewinn im Leben des einzelnen handelt […]. Der Wert dieser Erziehung
der Sinne wird jedoch deshalb nicht geringer, denn gerade während dieser Entwicklungsperiode nehmen die Grundgedanken und -gewohnheiten des Verstandes Gestalt an“ (Montessori
2001a, S. 112f.). „Mit dem sich allmählich äußernden Bewusstsein und Willen ergibt sich ein
zwingendes Bedürfnis, Ordnung und Klarheit zu schaffen und zwischen Wesentlichem und
Zufälligem zu unterscheiden [...] Um dieses Bedürfnis zu erkennen, braucht das Kind eine
exakte wissenschaftliche Führung, wie sie durch unsere Ausstattung mit Anschauungsmaterial
und unsere Übungen möglich wird“ (a.a.O., S. 113).
Die Montessori-Pädagogik basiert auf den verborgenen, schöpferischen Kräften des Kindes,
sodass die Aufgabe des Pädagogen darin liegt, diese Kräfte zu erwecken und zu aktivieren,
um das Kind zu motivieren und zu harmonisieren (vgl. Montessori 2001b, S. 15). Dabei soll
die Führung vom Material ausgehen, das vom Pädagogen vorbereitet ist und zur Lösung ent94
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
wicklungsfördernder Aufgaben motiviert. Somit wird ein Lehrer, Erzieher bzw. Pädagoge im
Sinne Maria Montessoris zu einem Organisator verschiedener Lernprozesse (vgl. Montessori
2002, S. 9ff.). Wie bereits erwähnt, muss ein Erzieher also lernen114 zu beobachten, wie Kinder die unterschiedlichen Mittel benutzen, wie oft sie diese Materialien gebrauchen, welche
Reaktionen durch sie im Kind hervorgerufen werden „und vor allem, welche Entwicklung
dadurch ermöglicht wurde“ (Montessori 2001a, S. 112). Diese Beobachtungsgabe ist nach
Montessori die pädagogische Basisqualifikation (vgl. hierzu auch Hagemann/Börner 2009, S.
109f.), sie ist auch notwendig, um Ergänzungsmaterialien so zu gestalten, dass sie die Polarisation der Aufmerksamkeit115 (vgl. Holtstiege 2009, S. 134, 180ff., 195; Hedderich 2005, S.
42; hierzu auch Abb. 6), einen Zustand, der gleichzusetzen ist mit Konzentration, der Bindung
der kindlichen Kräfte, dem intensiven Kontakt des Kindes mit dem Lerngegenstand 116, auslösen kann. „Das ist wohl der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke
der Konzentration zu erkennen, um sie […] auszunützen“ (Montessori 1954, S. 59).
Auch die Wissenschaft, z.B. die Aufmerksamkeitsdefizithypothese (vgl. u.a. Holcomb et al.
1985; Facoetti et al. 2002, 2003), liefert wesentliche Erkenntnisse für die gezielte Förderung
von legasthenen Menschen, woraus sich u.a. die Erkenntnis ergibt, dass legasthene Menschen
in den Bereichen der Aufmerksamkeit eine gezielte Förderung benötigen, um der zeitweise
auftretenden Unaufmerksamkeit beim Lesen und Schreiben entgegenzuwirken. Daraus lässt
sich folgern, dass „die Stärkung bzw. Schärfung der Funktion der Sinneswahrnehmungen, die
man für das Erlernen des Schreibens und Lesens braucht, und eine Förderung im Symbolbereich“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 153) stattfinden müssen. Eine signifikante
Voraussetzung für diese Polarisation der Aufmerksamkeit ist die Selbstständigkeit, die bei der
Bewegung in der vorbereiteten Umgebung von essentieller Bedeutung ist. „Das Kind wird
dabei zum Entdecker der Welt und hat den Wunsch immer tiefer einzudringen und seine Entdeckungen zu verwerten. Konzentration als tätige Meditation am Detail bedeutet ein SichAuftun des Geistes, das […] als aktives Verstehen bezeichnet wird und ein schöpferisches
Phänomen darstellt“ (Montessori 1976, S. 101, 118, 204).
114
Grundlegend dafür ist die entsprechende Aufklärung der Eltern durch pädagogische Beratung sowie
elternbildende Maßnahmen (s.o. Kapitel 7.1.1).
115
Findet das Kind während einer sensiblen Phase eine seinen Bedürfnissen exakt entsprechende Beschäftigung,
so ist es zu einer tiefen Konzentration fähig, die als Polarisation der Aufmerksamkeit bezeichnet wird. Das
Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit wird heute von der Neuropsychologie bestätigt.
116
Für das Auftreten dieser Polarisation der Aufmerksamkeit sind der Altersstufe des Kindes entsprechende
Lernmethoden zu entwickeln.
95
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
So löst jeder neue bzw. bedeutungsvolle Reiz eine Aktivierungsreaktion aus. Nach mehrmaliger Wiederholung desselben Reizes tritt die Habituation ein. Wird ein neuer Reiz angeboten
oder wird der alte Reiz bzw. Anteile dessen verändert, tritt diese allgemeine Aktivierung wieder auf. Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind unterschiedlich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die
notwendigen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein,
eine dem Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erarbeiten. Nach langjährigen Beobachtungen erkannte Montessori einen dreiteiligen Arbeitszyklus: „Die Konzentration umfaßt demnach drei Stufen: die ‚vorbereitende Stufe‘, die ‚Stufe der großen Arbeit‘, die mit
einem Gegenstand der äußeren Welt im Zusammenhang steht, und eine dritte, die sich nur im
Inneren abspielt und die dem Kinde Klarheit und Freude verschafft“ (Montessori 1992a, S.
52f.). Hieraus leitet sich die zentrale Frage der Montessoripädagogik ab: durch welche didaktischen Bedingungen dieses Phänomen wiederholt hervorgerufen werden kann. In einer solchen tiefen Konzentrationsphase lässt sich das Kind durch keine anderen Reize von seiner
Tätigkeit abbringen. Dieser Erkenntnisprozess beeinflusst nicht nur sein Denken, sondern
seine gesamte Persönlichkeitsentwicklung positiv. Für diesen Prozess prägt Montessori den
Begriff der Normalisation bzw. Normalisierung (vgl. Holtstiege 2009, S. 18, 189ff.; Raapke
2001, S. 206), der nach Montessori den Prozess und den Zustand beschreibt, nach dem Kinder
allmählich friedlich und ausgeglichen werden, sich in aller Ruhe an eine selbst gewählte Arbeit machen, sich den Umgang mit einem bestimmten ausgewählten Material zeigen lassen,
daran solange sie wollen intensiv arbeiten und zufrieden mit dem Ergebnis, und mit sich
selbst, die Arbeit abschließen können. Hiermit ist demnach die Wiederherstellung der wahren
positiven Möglichkeiten, über die das Kind von Natur aus verfügt, die aber bei einer unangemessenen Behandlung durch die Erwachsenen verbogen werden, gemeint.
Bereits die Bezeichnung „Sinnesmaterial“ weist darauf hin, welche Bedeutung Montessori der
Schulung der Sinne beigemessen hat. Diese Schulung der Sinne ist eine Übung im differenzierten Empfinden, mit Hilfe der Sprache im Wahrnehmen und damit auch im Bedeutunggeben, als ein Weg zur Entwicklung und Förderung der Kognition. Und in diesem Sinne soll
dieser Ausdruck auch verstanden werden. Alle von ihr erarbeiteten Materialien, die der Förderung einer differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung dienen sollten, waren in Abstimmung
darauf, in welchem Entwicklungsalter das Material Interesse wecken und zu konzentriertem
Handeln anregen konnte und auch welche Ausmaße es haben müsste, konzipiert (vgl. Montessori 1987). Was nach Montessori mit dem Material erreicht wird, ist eine zunehmend feinere Verarbeitung von Reizen diverser Modalitäten. Es ist die differenzierte Wahrnehmungsver96
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
arbeitung, die zu immer komplexeren funktionellen Systemen und damit schließlich zu kognitiven Leistungen führt. Das Material soll durch seine Ästhetik Anziehungskraft auf das Kind
ausüben und es so zur Tätigkeit anregen. „Um eine Sache interessant zu machen, genügt es
nicht, daß sie von sich aus interessant ist, sondern sie muß dem Tätigkeitsdrang des Kindes
angemessen sein. Wenn das Kind einen unveränderlichen Gegenstand nur „sehen“ oder „hören“ oder „anfassen“ darf, ist das Interesse nur oberflächlich und springt von einer Sache zu
anderen“ (Montessori 1987, S. 118).
Sinnvollerweise muss das Material einerseits der jeweiligen Entwicklungsphase117 des Kindes
entsprechen, d.h., es muss mit ihm umgehen, es bewegen und benutzen können. Der Ansatz,
bzw. die Orientierung dieser Pädagogik ist die konsequente Art und Weise, dem Kind bei
seiner Entwicklung zum menschlichen Werden geeignete Hilfe im Kontext und unter der Bedingung menschlichen Fortschritts anzubieten. Zu solch wichtigsten Hilfen gehört die Lehre
über die sensitiven Phasen118. Dem Kind zur Selbstständigkeit zu verhelfen119 und „zu erkennen, was das Kind in den verschiedenen Zeitpunkten seiner Entwicklung lernen muss“ (zit.
nach Holtstiege 1997, S. 10), war für Montessori von zentraler Bedeutung. Jedes Kind durchläuft verschiedene Entwicklungsphasen, die jeweils durch bestimmte Sensibilitäten, Montessori nennt sie sensible Perioden (Montessori 1978, S. 46f.), gekennzeichnet sind. Es sind Phasen in der Entwicklung des Kindes, die von einer besonderen Empfänglichkeit für bestimmte
Lernvorgänge und spezifische Fähigkeiten (z.B. Bewegung, Sprache u.a.) in der Begegnung
mit der Umwelt geprägt sind, weshalb sich das Kind mit intensiver Konzentration entsprechenden Bildungsanreizen zuwenden kann, formale und inhaltliche Kompetenzen erwirbt und
sich diese dauerhaft einprägt. Es handelt sich dabei um ein „entwicklungsspezifisches inneres
Gerichtetsein auf die Umwelt zur Bewältigung immanent gesetzter Aufgaben, deren Lösung
erst Reifung ermöglicht“ (Röhrs 1998, S. 263). Für Montessori bezeichnen die sensiblen Perioden quasi den Strukturplan der geistigen Entwicklung des Kindes. Sie beschreibt diese sensiblen Phasen wie folgt: „Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitsperioden. […] Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zugang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an
117
Auf die Bezeichnung „Entwicklungsstand“ wird verzichtet, da Entwicklung fließend und nicht stufenartig
und in exakt voneinander abgegrenzten und abgrenzbaren Stufen verläuft.
118
Diese Begriffe werden als Synonyma verwendet für: „sensible Perioden“, „sensible Phasen“ oder auch
„Empfänglichkeitsphasen“.
119
Die zunächst extrinsische Motivation nach einer ersten Begegnung des Kindes mit dem Montessori-Material
wandelt sich später bei vielen Kindern zu einer intrinsischen Motivation. Anfangs kennt das Kind das Material
nicht, doch bald kann es selbstständig damit umgehen.
97
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen
Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende
Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit
über die Seele des Kindes. Kaum ist jedoch eine dieser seelischen Leidenschaften erloschen,
da entzünden sich auch schon andere Flammen, und so schreitet das Kind von einer Eroberung zur nächsten fort“ (Montessori 1996, S. 49). Die kindliche Entwicklung teilt Montessori
in drei Hauptgruppen ein (vgl. Montessori 1996). Die „Zeit des Aufbaus“ betrifft Kinder von
der Geburt an bis zum dritten Lebensjahr, das Kind lernt unbewusstes Absorbieren von Sinneseindrücken für das Laufenlernen sowie das Sprechen und einen Sinn für Ordnung (absorbierender Geist120) (vgl. u.a. Holtstiege 2009, S. 35f., 39f., 70, 77). Vom dritten bis zum
sechsten Lebensjahr entwickelt sich eine Sensibilität für Feinmotorik, erstes begriffliches Kategorisieren, Sprachdifferenzierung und für soziale Beziehungen. Die zweite Hauptgruppe
bildet die „Zeit des Ausbaus“, die das Alter von sechs bis zwölf Jahren umfasst. In dieser
Phase entwickelt sich die Sensibilität für moralische Wertungen, kooperative Sozialbeziehungen und Naturerscheinungen unterschiedlichster Art. Die dritte Hauptgruppe schließlich ist
die „Zeit des Umbaus“, umschließt das Alter von zwölf bis achtzehn und fokussiert Sensibilität für Gerechtigkeit und Menschenwürde, soziale und gesellschaftliche Prozesse, wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Verantwortung.
Die Ausdauer, Aufnahmebereitschaft und Konzentration sind von Kind zu Kind unterschiedlich, daher muss der Erzieher, um jedem Kind in „einer vorbereiteten Umgebung die notwendigen Erziehungsmöglichkeiten zu eröffnen“ (Montessori 2002, S. 130), fähig sein, eine dem
Kind entsprechende pädagogische Strategie zu erarbeiten.
Die pädagogische Folgerung daraus ist die Tatsache, dass diese Sensibilitäten durch erzieherische Hilfen herausgefordert und optimal gefördert werden müssen, denn „keine Erziehung
kann später auslöschen, was in der konstruktiven Epoche der Kindheit inkarniert wurde“
(Montessori 1987, S. 161). So führt bspw. die Sensibilität für Bewegung bei einem kleinen
Kind zur Freude an allen Übungen, die entscheidend zur Bewegungskoordination, zum Begreifen der Umwelt und zur Selbstbeherrschung beitragen. Die Sensibilität für Ordnung führt
zum Aufbau geistiger Ordnungsstrukturen und zum Erfassen ordnender Kategorien 121, während die Sensibilität für Sprache zum mühelosen Absorbieren jeder Muttersprache und die
120
Der absorbierende Geist stellt einen sehr dominierenden Aspekt der Geistesform des Kindes dar: als die Form
der unbewussten Tätigkeit der kindlichen Intelligenz.
121
Eigenschaften von Gegenständen wie Größe, Länge, Gewicht etc., von zeitlichen Ordnungen, von Ritualen
usw.
98
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Sensibilität für soziale Interaktionen (bereits bei Neugeborenen) zur Kontaktaufnahme mit der
Umwelt führen122.
Diese Empfänglichkeitsphasen sind jedoch von vorübergehender Dauer, es besteht die potentielle Gefahr, sie zu verpassen, da sie an bestimmte Entwicklungsphasen geknüpft sind. Deshalb ist es für Montessori, um Rückschlüsse darauf ziehen zu können, welche Lernangebote in
dieser Phase vonnöten sind, von großer Bedeutung, die Kinder genau in ihrem Verhalten, bei
ihrer Arbeit und ihrer Artikulation zu beobachten. Da sich Entwicklung individuell innerhalb
einer gewissen zeitlichen Variationsbreite vollzieht und ein Nachreifen neben der Motivation
des Kindes auch von der Plastizität des Gehirns abhängt, ist nach Montessori dieses Nachreifen nicht der sensiblen Phase entsprechend, sodass das Kind auch nicht mehr „auf natürliche
Weise“ lernt. Als Folge eines Versäumnisses einer sensiblen Phase „können weitere Errungenschaften nur mit reflektierender Tätigkeit, mit Aufwand von Willenskraft, mit Mühe und
Anstrengung gemacht werden. […] Es gibt also eine besondere innere Lebenskraft, welche
die wunderbaren natürlichen Errungenschaften des Kindes erklärt. Stößt das Kind jedoch
während einer Empfänglichkeitsperiode auf ein Hindernis für seine Arbeit, so erfolgt in der
Seele des Kindes eine Art Zusammenbruch, eine Verblindung“ (Montessori 1996, S. 49). „Die
Ergebnisse dieser gehemmten Sensitivitäten prägen sich dann als Fehler für den Rest des Lebens ein“ (Montessori 1978, S. 120f.). Die Einflüsse, die das Reifen, Lernen und Verhalten
bestimmen, sind so vielfältig, dass es oftmals erstaunlich ist, was bei einem Kind trotz ungünstiger Voraussetzungen möglich ist. Doch es ist wichtig, die Bedeutung der sensiblen Phasen innerhalb der kindlichen Entwicklung zu kennen, in der Pädagogik zu berücksichtigen
und für die Erziehung der Kinder die Konsequenzen daraus zu ziehen. Es ist Aufgabe der erziehenden Personen, durch genaue Beobachtung zu erkennen, welche Aspekte der Umgebung
sich das Kind für das Lernen besonders intensiv nutzbar machen kann. Der Erzieher sollte
sich also an den Lernbedürfnissen der jeweiligen Entwicklungsphase orientieren, damit er
durch entsprechende Angebote bestmöglich darauf antworten kann. In diesem Zusammenhang spricht die Entwicklungsbiologie des 21. Jahrhunderts von Zeitfenstern oder kritischen
Perioden, innerhalb derer ein bestimmtes Verhalten erlernt werden muss, da es nach dem
Schließen dieses Fensters schwer oder fast unmöglich ist, dieses Verhalten noch zu erwerben
(vgl. Klein 2007, S. 30).
Der zentrale Punkt aller Überlegungen Montessoris und somit ihres ganzen Erziehungskonzepts ist ihre Grundhaltung dem Kind gegenüber. Priorität haben die Liebe und Achtung der
122
So kann das Kind in die menschliche Gemeinschaft hineinwachsen.
99
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Erwachsenen gegenüber den Kindern, für die die Menschenrechte selbstverständlich ebenso
gültig sind wie für Erwachsene (vgl. Raapke 2001, S. 18). Das gesamte pädagogische Konzept sowie die von Montessori entwickelte Didaktik und ihre umfassende Pädagogik lassen
sich für die Förderung geistig behinderter, normal entwickelter und auch legasthener Kinder
einsetzen123. Zu Recht darf Montessoris pädagogisches Konzept nach Biewer nicht als „Kanon eindeutiger festgelegter pädagogischer Maßnahmen“ (Biewer 2001, S. 197), sondern
eher als Ansatz zum richtigen pädagogischen Handeln gesehen werden.
8.1.2
Aktualität des Montessori-Modells
Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen bei Kindern sind eine ebenso vielbeklagte
Auffälligkeit wie die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, wodurch der Sichtweise
Montessoris aktuelle Bedeutung zukommt. Die Montessori-Pädagogik lebt in vielfältiger nationaler und internationaler124 Form auch im neuen Jahrtausend. Insgesamt gibt es in Deutschland
ca.
1000
Montessori-Einrichtungen,
die
die
frühpädagogischen
Montessori-
Einrichtungen, die Montessori-Kitas (Kinderhäuser) und die Montessori-Schulen der Primarsowie Sekundarstufen umfassen125. In vielen Bundesländern haben sich eigene MontessoriLandesverbände gegründet, die als Interessensvertretung fungieren und als Anlaufstellen dienen. Um die Interessen auch auf Bundesebene zusammenzuführen, bildungspolitische Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, allgemeine Ausbildungsstandards und die Qualitätsentwicklung
von Montessori-Einrichtungen zu garantieren, wurde im Jahr 2004 der MontessoriDachverband Deutschland e.V. (MDD) gegründet. Die Aktualität der Montessori-Pädagogik
lässt sich neben dem durch eine Fülle empirischer Untersuchungsergebnisse belegten wissenschaftlichen Interesse auch in der Pädagogik nachweisen.
Durch falsches Erziehungsverhalten kann Entwicklung leicht beeinflusst bzw. beeinträchtigt
und sogar gestört werden, weshalb es ein pädagogischer Auftrag ist, die Umwelt so zu gestalten, dass Entwicklung nicht gefährdet wird. Hierbei ist es wichtig, dass Erzieher und Pädagogen gute Kenntnisse über die Entwicklung bzw. die Bedürfnisse eines Kindes besitzen, die sie
123
Einige Elemente lassen sich für die Förderung bzw. das Training lese- und rechtschreibgestörter Kinder
vielversprechend einsetzen, da es sich bei den elementaren didaktisch-pädagogischen Materialeigenschaften um
grundlegende Eigenschaften handelt, die allen Gegenständen der erzieherischen Umwelt eines Kindes
entsprechen sollen, nämlich Ästhetik, Begrenzung, Aktivitätsmoment und Fehlerkontrolle (vgl. hierzu auch
Holtstiege 2009, S. 110ff.).
124
Z.B. zeichnet Gebhardt-Seele (1999) die Geschichte der Montessori-Pädagogik nach, eine ausführliche
Darstellung der internationalen Entwicklung der Montessori-Pädagogik findet sich bei Ludwig (1999).
125
Vgl. dazu Montessori Dachverband Deutschland, Homepage (2010).
100
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
über die genaue Beobachtung von Kindern gewinnen können. Auf der Grundlage dieser Annahmen entwickelte Maria Montessori ein bis in die heutige Zeit gültiges Handlungskonzept
für Erzieher und Lehrkräfte (vgl. hierzu u.a. Missmahl-Maurer 1994; Ludwig 2009), wobei
die Bedeutung der Arbeit Montessoris für die Gegenwart darin zu liegen scheint, Kriterien für
die Beschaffenheit von didaktischen Entwicklungsmaterialien, die eine angemessene Herausforderung von Entwicklung durch gezielte didaktische Mittel und Materialien ermöglichen,
gefunden zu haben. Das Material Montessoris gilt nur als Mittel zum Zweck, nämlich dem
Kind aktiv bei seiner Entwicklung zu helfen, wobei das Kind immer das Wichtigste in allen
Bemühungen bleibt (vgl. Holtstiege 2009, S. 119). „Mit Montessori hätten wir eine Orientierung, eine pädagogische Leitlinie innerhalb der wohl zeitgemäße Erkenntnisse mit berücksichtigt werden, auf der aber nicht am Symptom, sondern an der Verursachung, den nicht
befriedigten Bedürfnissen des Kindes, angesetzt wird“ (Milz 1999, S. 87). Die Grundsätze und
Prinzipien Montessoris lassen sich durchaus in angemessener Weise auf die heutige Zeit übertragen, sie haben immer noch eine gewisse Aktualität, doch sollte berücksichtigt werden, dass
man es mit einer „veränderten Kindheit“ zu tun hat, da die Kinder in der heutigen Zeit in einer
ganz anderen Umwelt aufwachsen und viel weniger Bezug zur Natur haben als die Kinder vor
einer oder zwei Generationen. Da die meisten Kinder ihre Zeit hauptsächlich in der Wohnung
verbringen, wenig Bewegung haben und immer mehr Kinder ohne Geschwister oder mit alleinerziehenden Elternteilen aufwachsen, machen sie völlig andere Kindheitserfahrungen.
Zieht man die Übungen des praktischen Lebens als Beispiel heran, so kommt der Sorge für
die Umgebung heute eine noch tiefere Bedeutung zu und damit auch der MontessoriPädagogik Aktualität. Betraf dieser Bereich ursprünglich Haus und Garten, so muss der Blick
unter den heute gegebenen Umständen auf eine bedrohte Umwelt erweitert werden. Heute
werden die damals von Montessori empfohlenen Materialien126 von den Übungen mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs in Kombination mit solchen, die mit etwas Phantasie leicht
selbst herzustellen sind, ergänzt (vgl. Milz 1999, S. 91). Solche Elemente aus dem pädagogischen Konzept Montessoris127 haben heute durch neuropsychologische Erkenntnisse eine neue
Bestätigung bekommen (vgl. Milz 1997, S. 229; Schulze-Frieling 2003b, S. 119). Bereits
kleine Kinder müssen zu einer Verantwortlichkeit gegenüber ihrer Umwelt erzogen werden,
126
Mit ihrem Werk „Ein Weg für alle“ (1996) hat Lore Anderlik eine Fülle von Anregungen dazu gegeben.
Ausführlich hierzu: s. Hellwig 2007.
127
wie die Schulung der Sinne, die sensorische Stimulation zur Wahrnehmungsförderung (vgl. Holtstiege 2009,
S. 98), die vielfältigen Variationen zur Generalisierung der erworbenen Fähigkeiten, Erziehung des
Selbstbewusstseins des Kindes durch das eigene Tun.
101
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
die sie entsprechend ihrer Entwicklungsphase leisten können. In diesem Kontext spricht Montessori von komischer Erziehung128 (Montessori 1988), einem wesentlichen Erziehungsansatz.
„Einzelheiten lehren bedeutet Verwirrung stiften. Die Beziehung unter den Dingen herstellen
bedeutet Erkenntnisse vermitteln“ (Montessori 1988, S. 126). Der Pädagoge soll dem Kind
zunächst den Ablauf der betreffenden Tätigkeit zeigen, das Kind soll dann jedoch die Freiheit
haben, die Aktion auf seine eigene Weise auszuführen. Montessori unterscheidet zwischen
Zeigen129 und Lehren (vgl. Milz 1999, S. 91), besonders wichtig ist allerdings, dass dabei die
Serialität, das geordnete Nacheinander, deutlich erfahren wird.
Ist die Montessori-Pädagogik also eine moderne Pädagogik, die Neues oder zumindest anderes als die verschiedenen Varianten der konventionellen Pädagogik bringt, die wir alle mehr
oder weniger kennen? Befindet sie sich auf der Höhe der Zeit, ohne nur eine modische Strömung zu sein? Betrachten wir dazu einige Punkte der Montessori-Pädagogik genauer.
In der Montessori-Pädagogik hat jedes Kind das Recht, seinen eigenen individuellen Weg zu
gehen, wodurch ein hohes Maß an individueller Unabhängigkeit entsteht, jedoch nur im Rahmen eines pädagogisch vorstrukturierten Raumes. In ihrem Werk „Die Entdeckung des Kindes“ beschreibt Montessori zahlreiche didaktische Materialien und gibt außerdem Hinweise
zur deren Einsatzmöglichkeiten. Ein besonderes Maß an eigenständigem Lernen bietet die
beliebige Wiederholbarkeit der Lernaktivitäten und eine Isolierung der Lernschwierigkeit im
Material. Dieses von Montessori entwickelte Material und die zugeordneten Übungen fördern
tätige, die Sinnesorgane ansprechende Vorgänge, die von geistiger Konzentration begleitet
werden und zur Ordnung sowie zur Polarisation der Aufmerksamkeit führen. Das pädagogische Ziel Montessoris besteht demzufolge darin, durch die richtige erzieherische Methode
zum Zusammentreffen von körperlicher und geistiger Konzentration beim Kinde beizutragen
und die bestmögliche Selbstentfaltung des Kindes zu gewährleisten. Diesem Ziel kommt die
Theorie einer Entwicklungspädagogik nach H. Roth sehr nahe, nach der Entwicklung in erzieherischer Perspektive als ein beeinflussbares Geschehen betrachtet wird, das durch das
Interesse des Pädagogen und die Ermöglichung aktiver Entwicklungshilfe und aktiver Entwicklungssteigerung „bis zum Optimum der potentiellen Möglichkeiten eines Kindes“ (Roth
1971, S. 26) gelenkt wird. Die zwei vorausgesetzten Auffassungen dieser Theorie sind zum
einen die Entwicklung des Menschen als eine aktiv zu betreibende Aufgabe im Sinne einer
fördernden Beeinflussung und zum anderen die Einsicht, dass Entwicklung abhängig ist „von
128
129
Die aktuelle Wissenschaft spricht von Tiefenökologie.
Zum Begriff des Zeigens in der Pädagogik ausführlicher auch Prange/ Strobel-Eisele 2006.
102
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
einer angemessenen Herausforderung des sich entwickelnden Kindes […] durch initiierende
Aufgaben […]“ (Roth 1971, S. 34). Selbstverständlich ist eine solche Entwicklungsförderung
von der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes und von einer angemessenen Herausforderung abhängig. Darunter ist die Bereitstellung von Anregungen in Familie, Kindergarten und
Schule zu verstehen. Als Beispiel eines angemessenen Modells kann das Prinzip der Passung
(vgl. Holtstiege 2009, S. 7, 86, 120) nach H. Heckhausen (1969) herangezogen werden. Die
entwicklungspädagogische Herausforderung gemäß dem Prinzip der Passung ist gebunden an
die Gestaltung von Förderungsprogrammen nach dem Grundsatz der Kontinuität – eine Forderung, die sich bei Maria Montessori bereits verwirklicht findet.
Ferner bestehen Übereinstimmungen der Montessori-Pädagogik mit aktuellen systematischkonstruktivistischen Denkmodellen der heutigen Pädagogik. In Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik, Frühförderung, Beratung und Therapie der 90er Jahre hat das systematischkonstruktivistische Gedankengut 130 breite Anerkennung gefunden (vgl. Hedderich 2005, S.
127). Eine Parallele zu Montessori wird von Mantura und Varela (1987) gezogen, die Selbstorganisation als grundlegenden Mechanismus des Lebendigen sehen. Diese Selbstorganisation liegt bei Montessori im Kind, das „Baumeister seines Selbst“ ist. In der Heil- und Sonderpädagogik hat der skizzierte Bezugsrahmen besondere Berücksichtigung erfahren, da auch ein
Mensch mit Behinderung nicht ein defizitäres, sondern ein sich selbst organisierendes Wesen
ist. In der neueren Diskussion zur Frühförderung zielt diese auf die individuell bestmögliche
Entwicklung ab. Nach Kautter et al. (1988) wird das Kind folglich als „Akteur seiner Entwicklung“ (Kautter et al. 1988) charakterisiert, „der sich konstruktiv und verstehbar mit der individuellen Lebenswelt auseinandersetzt, in der er sich vorfindet, als kreatives Wesen, das für die
in seiner Lebenswelt auftretenden Probleme Lösungen findet, die für es akzeptabel sind“
(Kautter 2002, S. 194), charakterisiert. Dies bedeutet konkret, dass die Verhaltensweisen des
Kindes als individuelle, eigenständige Lernwege in eine angemessene, kindgemäße Förderung
einzubeziehen sind, wie es auch nach Montessoris Methode geschehen soll131.
Obwohl es sich bei der Montessori-Pädagogik um eine Konzeption handelt, die zur Jahrhundertwende entwickelt wurde, bietet sie wertvolle Anregungen für Erziehung und Unterricht
auch nach der Jahrtausendwende. Notwendig ist es allerdings, das Kind „als Kind des 21.
Jahrhunderts“ in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken und zu verstehen.
130
Ein bedeutsamer Vertreter dieses sog. radikalen Konstruktivismus ist u.a. Piaget.
S.o.: „Hilf mir, es selbst zu tun“ (Raapke 2001, S. 14), d.h., dass das Kind den Weg weist und die erziehende
Person ihm folgt, indem sie angemessene Materialien vorbereitet.
131
103
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Der Begriff „Methode“ war Montessori für ihre erzieherische Konzeption zu eng, da es „vielmehr um eine umfassende Förderung menschlicher Personalität“ gehe (vgl. Ludwig 2000, S.
14). Schließlich kann zu Recht gesagt werden, dass Montessori wahrscheinlich immer aktuell
sein wird132, weil durch die von ihr entwickelten Materialien ein systematisch durchdachtes
Programm der Förderung und Anregung sowie der spielerisch herausfordernden, initiierten
Aufgaben durch stimulierendes Beschäftigungsmaterial gegeben ist.
8.1.3
Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining mit Montessori-Material
Die italienische Ärztin und Pädagogin entwickelte ihre pädagogische Methode für die Arbeit
mit behinderten Kindern und übertrug sie später auf normal entwickelte Kinder (vgl. Montessori 2001a, S. 29ff.). Die Ärztin Montessori beobachtete zunächst das Kind und stellte dann
ihre Diagnose, indem sie den Entwicklungsfortschritt 133 des Kindes einschätzte und beobachtete, wofür es sich von sich aus interessierte. Erst danach machte sie ein „Trainingsangebot“
und beobachtete weiterhin, wofür sich das Kind von sich aus interessierte. Montessoris Pädagogik ist eine Pädagogik, die das Kind als eigenständige, individuell orientierte Persönlichkeit
betrachtet, auf die der Unterricht und die Erziehung ausgerichtet sein sollten, damit das Prinzip der freien Wahl (vgl. Fischer et al. 1999) und der individuellen Erziehung Geltung haben.
Die natürlich initiierte Neugier der Kinder wird zum Fokus, sie erhalten Motivation über ihre
Lernschritte durch die freie Wahl, selbst entscheiden zu können und dabei gut in ihrer Entwicklung fortzuschreiten. So liegt in der Montessori-Pädagogik beständig die Betonung auf
Reziprozität bzw. Interaktion, Differenzieren, Vergleichen und Verifizieren, was ein Hilfsmittel für die genaue, wissenschaftliche Erkundung seiner Lebenswelt darstellt. Folglich sind die
von Montessori erarbeiteten Materialien für das selbstständige Erarbeiten von Sachinhalten
konzipiert. Bei dieser freien Beschäftigungswahl gelten das Prinzip der relativen Zeitfreiheit134 und das Prinzip der relativen Wahlfreiheit135, d.h., dass die Lernutensilien in ihrer Beschaffenheit vom Kind selbstständig genutzt werden können, dass sie also kindgerecht be-
132
wenn auch im Laufe der Jahre immer wieder mit kleineren Abänderungen bzw. Ergänzungen zu rechnen sein
muss.
133
In Montessoris Buch „Das kreative Kind“ (1984) finden sich Diagramme für bestimmte Bereiche der
Entwicklung des kleinen Kindes: Bewegung, Sprache, Stadien der Unabhängigkeit und möglicherweise
gegenläufiger Regressionen. Hier sind Entwicklungsverläufe schematisiert worden. Die Zeitraster sind
selbstverständlich nicht für jedes Kind gleich. Wenn ein Kind eine bestimmte Entwicklungsphase zum
angegebenen Zeitpunkt noch nicht erreicht hat, besteht noch kein Grund zur Besorgnis, jedoch ist es ein
Hinweis, diese Entwicklung etwas genauer zu beobachten.
134
Wann und wie lange es sich mit einer Aufgabe bzw. einem Material beschäftigt, kann das Kind selbst
bestimmen, wobei selbstverständlich die Zeitressourcen, z.B. durch eine Trainingsstunde, begrenzt sind.
135
Das Kind wählt aus den vorhandenen Materialressourcen.
104
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
schaffen sind. Das Kind wird mit dem Material in der Dreistufenlektion (vgl. Milz 1999, S.
130f.) vertraut gemacht. Die erste Stufe bildet die Verbindung von Sinneswahrnehmung und
Assoziation, indem ein Gegenstand benannt wird. Der Pädagoge weist auf den Gegenstand
oder dessen Eigenschaft hin und nennt klar und deutlich den zugehörigen Namen. Außer dem
Namen darf kein Wort gesprochen werden, da ausschließlich Gegenstand und Name in Assoziation zueinander das Bewusstsein des Kindes erreichen dürfen. Nachdem das Kind die Benennung wiederholt hat, gelangt es zur zweiten Stufe, auf der der Name des entsprechenden
Gegenstandes repetiert wird. Dies ist der wichtigste Abschnitt, da er die Festigung der Zuordnung des Namens zum Gegenstand oder zur Eigenschaft beinhaltet. Er wird durch abwechslungsreiche Aufgaben interessant und unterhaltsam gestaltet, wobei der Bewegungsdrang des Kindes berücksichtigt werden muss. Die dritte Stufe schließlich besteht aus der
Erinnerung an die Abstraktion, die dem Gegenstand entspricht. In dieser Phase wird die Assoziation zwischen Gegenstand und Namen überprüft. Wenn das Kind das Material kennt, mit
seinem Gebrauch vertraut und in der Lage dazu ist, die jeweiligen Eigenschaften zu unterscheiden, soll es demnach auch in die genauen Benennungen eingeführt werden. Dies geschieht durch Fragen wie z.B. „Was ist das?“ oder „Wie ist es?“ Falls die Aussprache des
Kindes noch unsicher ist, kann sie durch wiederholtes Vor- und Nachsprechen gefestigt werden. Damit werden das Sprachverständnis und die Sprachbenutzung gefördert, es wird dem
Kind ermöglicht, seinen Wortschatz zu erweitern. Vor allem aber wird durch die Verbindung
der erfahrenen Qualitäten, ihrer Gleichheiten oder Unterschiede mit der dazugehörigen Bezeichnung auch die Fähigkeit zum differenzierten Wahrnehmen unterstützt. Hierbei geht es
um eine Wechselwirkung von Erkennen und Benennen, wobei die korrekte Handlung das
Bindeglied darstellt. Schafft man es, das Kind zur konzentrierten Tätigkeit zu bringen, so darf
es durch keine äußeren Einflüsse von seiner Arbeit abgelenkt bzw. gestört werden. Die Aufgabe des Trainers ist es, für eine ruhige Atmosphäre in einer geeigneten Umgebung zur sorgen.
Nachdem das Kind durch das Spiel mit Montessori-Material Selbstbewusstsein erlangt und
gelernt hat, seine initiierte Motivation zu steuern, folgt als Ziel der Arbeit mit dem Montessori-Material die Materialablösung, d.h., dass das zunächst konkret und aktiv Gelernte ab-strakt
erfasst werden soll. Der Pädagoge trägt zum Erfolg der Montessori-Methode bei, indem er
neben der Beobachtungsgabe auch über „Flexibilität, adäquate Reaktionen und entsprechendes Handeln“ (Montessori 2002, S. 129) verfügt, sodass er sich immer wieder auf neue Kinder, deren Eltern und neue Situationen einstellt. Die von Montessori erarbeiteten Materialien
und Methoden können auf diese Weise die Grundlage für eine systematische Behandlung le105
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
gasthener Kinder schaffen. Montessori ist vor allem die Entwicklung eines umfassenden Konzepts zur Schulung der Sinneswahrnehmung bzw. die Bereitstellung von Materialien zur Förderung der gesprochenen und geschriebenen Sprache (vgl. Holtstiege 2009, S. 100) zu verdanken, hier wird die Bedeutung für die Behandlung der Legasthenie evident. Für den Umgang mit legasthenen Kindern, deren seelischer Bereich besonders empfindsam sein kann,
benötigt der Trainer Einfühlungsvermögen, Beobachtungsgabe und Phantasie. Durch ständige, kritische Überprüfung können die Grenzen der kindlichen Entwicklung und der Möglichkeiten des Kindes erkannt werden (vgl. von Oy 1996, S. 15). Die Aktivität des Kindes besteht
im möglichst richtigen Handeln. So findet das Kind bei jedem Schritt Neues und schreitet mit
der inneren Kraft vorwärts, die ihm Befriedigung gibt. Es geht auch nicht um ein eigenständiges Suchen, Finden und vielleicht sogar Erfinden, da dies das Heraussuchen von etwas aus
einem komplexen Ganzen voraussetzt. In der Montessori-Pädagogik wird nur gesucht, was
eindeutig gefunden werden kann, und nur erfunden, was sich aus der zwingenden Logik des
Materials und seiner Organisation in der adäquat vorbereiteten Umgebung ergibt. Das Sinnesmaterial Montessoris ist nicht nur ein in seiner Logik miteinander vernetztes didaktisches
(Lern-)Material, sondern es kann ebenso diagnostischen Zwecken dienen. So lassen sich
bspw. mit Geräuschdosen sehr schnell Hörschäden erkennen, die sonst vielleicht unbemerkt
bleiben und derentwegen das Kind schlimmstenfalls später als lernbehindert erklärt werden
würde, nur weil es im Unterricht nicht ausreichend hören konnte. Die speziellen Farbtäfelchen
können eine Farbblindheit erkennbar machen. Aber auch Schwierigkeiten in der Bewegungskoordination, im Formgefühl und in der visuellen Wahrnehmung können beim Umgang mit
dem Sinnesmateriel schon früh erkannt und, wenn nötig, behandelt werden. Dies gilt für den
berühmten „rosa Turm“, die „roten Stangen“ oder die „braune Treppe“ ebenso wie für das
Material zum Riechen oder zum Tasten (vgl. auch Raapke 2001).
Was Kinder in den Regelschulen lernen sollen, steht im Lehrplan oder in den Rahmenrichtlinien. Dabei wird die Frage, ob ein Kind individuell in seiner psychischen Konstitution sowie
in seiner Intelligenzentwicklung so weit fortgeschritten ist, dass es sich mit Interesse diesen
Anforderungen widmen und sie so auch bewältigen kann, offiziell nicht berücksichtigt. Maria
Montessori hatte kein Interesse daran, dass alle Kinder im gleichen Zeitraum mit dem gleichen Tempo die gleichen Ziele erreichen, da jedes Kind seinen eigenen, individuellen Weg
gehen sollte. Ebenso wie auch anderen Pädagogen war Montessori bewusst, dass Kinder über
unterschiedliche Talente sowie verschiedene Lernfähigkeiten verfügen. Leistungskonkurrenz
und Begabungsdifferenzen waren für sie unwesentlich, woraus zu schließen ist, dass sie kein
Interesse an Selektion und Leistungsdifferenzierung hatte (vgl. Raapke 2001, S. 18). Erst
106
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
dann, wenn das Kind von sich aus die Kraft dazu hat, werden Leistungen erwartet, denn auch
wenn Kinder unterschiedliche Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb mitbringen, sollten sie alle die gleichen Möglichkeiten haben. Nur unter besonderer Berücksichtigung der
oben beschriebenen Bedingungen kann die von Montessori betonte Normalisation erreicht
werden. Das bedeutet, dass das legasthene Kind die eigene Legasthenie akzeptieren, die
Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben so weit wie möglich überwinden, zum seelischen
Gleichgewicht kommen und somit zur Integration in die Gesellschaft vorbereitet werden
kann. Denn „ein Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen […] oder das soziale Wesen
par excellence“ (zit. nach Ludwig 2000, S. 15).
8.2 Ansätze nach der AFS-Methode von Astrid Kopp-Duller
8.2.1
Grundlagen der AFS-Methode
Die AFS-Methode bietet eine Möglichkeit der gezielten pädagogischen Förderung legasthener
Kinder. Ausgehend von der Tatsache, dass legasthene Menschen136 eine andere Informationsverarbeitung haben, die sich lediglich beim Lesen- und Schreibenlernen bemerkbar macht und
aufgrund dessen Betroffene eine andere Lernfähigkeit haben, wurde die AFS-Methode entwickelt. Ziel ist es, den Menschen mit Schreib- und Leseproblemen eine individuelle Förderung
zu ermöglichen, pädagogisch-didaktisch orientiertes Handeln besser zu erklären und planbar
zu machen, um damit einen Beitrag zur Professionalisierung zu leisten. Die AFS-Methode
wird auch als umfassende Methode bezeichnet, weil die Förderung auf allen Gebieten ansetzt,
in denen das Kind Auffälligkeiten zeigt. Die Entwicklung dieser speziellen Methode erfolgte
auch im Hinblick auf die zunehmende Fülle an empirischen Forschungsergebnissen, die immer größer werdende Diskrepanz zwischen der Wissenschaftsentwicklung und den unbewältigten Praxisproblemen. Zwischen der Wissenschaft und der Praxis einen Bezugspunkt zu
schaffen, indem wissenschaftliche Forschungsergebnisse für die praktische Arbeit mit Betroffenen umgesetzt werden, ist von großer Bedeutung.
Die multisensorische Methode, die sowohl den Ursachen als auch den Symptomen einer Legasthenie gerecht wird, ist Ergebnis qualitativer und quantitativer empirisch-pädagogischer
Forschung und bietet einen neuen modernen Weg der pädagogischen Förderung bei Lese- und
Schreibproblemen. Ihre Entwicklung wurde durch Feldstudien in interdisziplinärer Zusam-
136
Im Rahmen der AFS-Methode sind, wenn von legasthenen Menschen oder von Menschen mit Lese- und
Schreibproblemen gesprochen wird, dyskalkule Menschen (also solche mit Rechenproblemen) impliziert.
107
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
menarbeit unter Einbeziehung neuester wissenschaftlicher Forschungsergebnisse ermöglicht
(vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 151ff.). Studien, die im Rahmen pädagogischer
Forschung durchgeführt wurden, belegen, dass bei einem Teil der von Lese- und Schreibproblemen betroffenen Menschen die alleinige vermehrte Förderung am Symptom, d.h. an den
Fehlern, nur eine geringe oder gar keine Wirkung zeigt, also nicht erfolgreich ist. Das Fundament der Methode bildet die „logische Schlussfolgerung, dass ein legasthener Mensch nur
durch ein spezielles und umfassendes Training“ (Kopp-Duller 2008a, S. 39) befähigt wird,
das Schreiben und Lesen zu erlernen, da seine differenten Sinneswahrnehmungen und Sinnesleistungen miteinbezogen werden müssen. Besonders im Falle einer genetisch bzw. biologisch
bedingten Verursachung, wenn also eine Legasthenie vorhanden ist, ist eine verstärkte Förderung alleine im Schreib- und Lesebereich in Form von vermehrtem Üben nicht ausreichend.
Da der Denk- und Handlungsprozess bei legasthenen Kindern meist nicht parallel verläuft, ist
eine weitere Grundlage der AFS-Methode die Forderung nach einem Zusammenschluss dieser
beiden Prozesse (vgl. a.a.O., S. 40).
Die Erkenntnis, dass ein ausschließliches Schreib- und Lesetraining bei einem legasthenen
Menschen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt 137, impliziert die Interventionen im
Aufmerksamkeits- und Sinneswahrnehmungsbereich. Daher verbindet die AFS-Methode spezielle Elemente zur Gewährleistung einer umfassenden Förderung. Die Besonderheit der
AFS-Methode ist das Zusammenwirken der drei besonders zu fördernden Komponenten –
Aufmerksamkeit, Funktion, Symptom – zusätzlich zum bedeutenden Lobes- und Zeitfaktor.
All diese Elemente sollen sich gegenseitig ergänzen, ineinander wirken und somit das legasthene Kind bei seiner Entwicklung unterstützen. Die grundlegenden Anforderungen, die erfüllt sein sollten, sind folgende: „Das bewusste Steigern der Aufmerksamkeit beim Lesen und
Schreiben muss erreicht werden, […] die Sinneswahrnehmungen, die Funktionen, müssen
durch ein gezieltes Training verbessert werden,, […] im Symptombereich, also beim Schreiben, Lesen und Rechnen, müssen spezielle Techniken angewendet werden“ (a.a.O., S. 39), um
dem legasthenen Menschen die Bewältigung der Kulturtechniken zu ermöglichen. Die zusätzlichen Faktoren zu diesen drei bedeutsamen Bestrebungen, der „Lobesfaktor“ und der genauso relevante „Zeitfaktor“ (vgl. ebd.), müssen die grundlegenden Elemente umrahmen. Da legasthene Menschen in wesentlich größerem Ausmaß als nicht legasthene auf eine positive
Rückmeldung und Motivation (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 148) bezüglich ihrer
Leistungen im Schreiben und Lesen angewiesen sind, ist es besonders wichtig, jede auch noch
137
Hierzu tragen maßgeblich die genaue Beobachtung sowie die daraus gezogenen Schlüsse bei.
108
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
so kleine Leistung positiv zu reflektieren. Ohne Lob, das bereits ein Erfolgserlebnis darstellt,
können betroffene Kinder die Schule nicht ohne Sekundärschäden bewältigen. Zusätzlich zu
diesen positiven Resonanzen benötigen Legastheniker „effektiv mehr Zeit, um Buchstaben,
Wörter, Zahlen oder Rechenoperationen im Gedächtnis zu verankern“ (Kopp-Duller 2008a, S
40). Nur mit Rücksichtnahme auf diese beiden genannten Faktoren ist ihnen die Möglichkeit
gegeben, Lesen und Schreiben relativ mühelos zu erlernen. Die AFS-Methode kann ein optimales Resultat, nämlich das erfolgreiche Erlernen der Kulturtechniken, nicht ohne diese beiden Faktoren erreichen (vgl. ebd.).
Die AFS-Methode garantiert eine Orientierung an den Bedürfnissen des Betroffenen selbst,
d.h., dass jeder Ansatz, der zur Verbesserung der Schreib- und Lesefertigkeiten eines legasthenen Menschen führt, integriert werden kann. Die Offenheit dieser Methode sichert individuelle Interventionen (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 147ff.), womit diese der multikausalen Problematik gerecht wird und sich dadurch ein Erfolg einstellen kann. Nach einem
pädagogischen Feststellungsverfahren, dem AFS-Computertestverfahren (vgl. ebd., S. 29ff.) –
das gleichzeitig mit der AFS-Methode entwickelt worden ist und dem Spezialisten eine individuelle Planung des Trainings ermöglicht – soll dem Betroffenen dort geholfen werden, wo
seine Probleme liegen. Dies ist für einen optimalen Erfolg unbedingt notwendig, da jede Legasthenie eine individuelle Ausprägung hat. Ein enormer Vorteil der Methode ist die Flexibilität, jederzeit das Angebot ändern zu können und auf die aktuellen Bedürfnisse des Betroffenen einzugehen. Dank der intensiven wissenschaftlichen Forschung rückt die „unbedingt notwendige pädagogisch-didaktische Hilfe“ (Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008a, S. 145) bei Leseund Schreibproblemen immer mehr in den Fokus. Mit rechtzeitiger Hilfe auf dieser Ebene ist
garantiert, dass dem Kind Sekundärproblematiken, die sich zumeist im psychischen Bereich
zeigen, erspart bleiben.
Die Daten und Fakten der Langzeitstudie, die zwischen den Jahren 2001 und 2006 mit insgesamt 3370 Probanden durchgeführt wurde, bestätigen die Wirksamkeit der Methode. 85% der
Probanden verbesserten ihre Schreib-, Lese- und Rechenleistungen kontinuierlich im zweijährigen Beobachtungszeitraum und konnten somit die Anforderungen in der Schule erfüllen
(vgl. a.a.O., S. 165ff.).
8.2.2
Pädagogisch orientiertes Legasthenietraining nach der AFS-Methode
Es ist außerordentlich wichtig, dass man den individuellen Anforderungen eines legasthenen
Menschen bei Interventionen im Schreib- und Lesebereich als Legastheniespezialist, Lehrer
und auch als Elternteil nachkommt. Die Kombination von vorgegebenen Strukturen und frei
109
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
wählbaren Teilen138 der AFS-Methode erlaubt ein völlig individuelles Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes (vgl. a.a.O., S. 162).
Aufmerksamkeitstraining
Legastheniker, die gelernt haben, ihre Gedanken, also ihre Aufmerksamkeit, bewusst zu benutzen und zu lenken, erzielen wesentlich bessere Leistungen beim Schreiben, Lesen oder
Rechnen. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu halten, wenn es um das Schreiben, Lesen
oder Rechnen geht, ist bei legasthenen Menschen stark beeinträchtigt, betroffene Kinder driften meist mit ihrer Aufmerksamkeit ab und sind nicht konzentriert bei der Sache. Eine der
Grundlagen der AFS-Methode ist es, Denken und Handeln wieder zu verknüpfen. Diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, zu erwerben, erfordert viel Geduld und Einfühlsamkeit. Gedankenlenken ist eine Leistung, die Zeit zum Üben, Geduld und liebevolle
Unterstützung benötigt. Auch Übungen der Edu-Kinästhetik, des autogenen Trainings und
anderer bewährter körpertherapeutischer Methoden werden im Aufmerksamkeitstraining genutzt (s. Abb. 7). Neben dieser intensiven Arbeit ist es selbstverständlich notwendig, dass von
Seiten des Kindes der Wunsch und der Wille, seine Situation wirklich zu verbessern, vorhanden sind (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 41), da eine Verbesserung seines Zustandes nur mit der
Bewusstheit und der Mitarbeit des legasthenen Kindes herbeigeführt werden kann. Grundlegend hierfür ist zum einen das Gespräch (vgl. ebd.). Das konstante Trainieren der Aufmerksamkeit bringt wesentliche Fortschritte, indem sich das Kind angewöhnt (vgl. a.a.O., S. 43),
sich selbst zu beobachten, und selbst immer öfter wahrnimmt, dass es abgelenkt war. Die
Technik des Gedankenlenkens sollte so tief in das Bewusstsein des Kindes dringen (vgl.
ebd.), dass sie schließlich automatisch angewendet wird139. Doch auch da ist die Unterstützung der Erwachsenen gefordert. Zum anderen besteht eine Möglichkeit zur Hilfe beim
Schriftspracherwerb in der „Anwendung verschiedener Techniken und Übungen zur Steigerung der Aufmerksamkeit“ (vgl. a.a.O., S. 44), wobei mit Hinblick auf die Offenheit der Methode alle Methoden und Ansätze140 erlaubt und erwünscht sind, die dem Kind helfen, seine
Gedanken besser zu fokussieren. Es ist wichtig, „dass konsequent unterschiedliche Übungen
zu den einzelnen Teilleistungen mit und ohne Symbolik durchgeführt werden“ (Kopp-Duller
2008a, S. 50).
138
Dies ist vergleichbar mit Montessoris Gesetz der Sache bezüglich vorgegebener Strukturen und mit dem
Prinzip der freien Wahl hinsichtlich der frei wählbaren Teile in der AFS-Methode.
139
Sobald sich das Kind dem Schreiben, Lesen oder Rechnen widmet, aktiviert sich diese erworbene Fähigkeit.
140
Viele so genannte Alternativmethoden können ein erfolgreiches Legasthenietraining ergänzend abrunden.
110
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Funktionstraining
Dank der kontinuierlichen Verbesserung der Wahrnehmungsleistungen durch das Training der
Aufmerksamkeit werden wesentliche Voraussetzungen für bessere Leistungen beim Lesen,
Schreiben oder Rechnen geschaffen. Zu diesen Voraussetzungen gehören besonders die Sinneswahrnehmungen. Zweifellos sind intakte und gut entwickelte Sinneswahrnehmungen 141
eine enorm wichtige Voraussetzung für einen problemlosen Schriftspracherwerb. Ein weiterer
bedeutender Bereich, der in einem pädagogisch-didaktischen Training unbedingt zu beachten
ist und eine individuelle Förderung erfordert, ist die Notwendigkeit der Aufmerksamkeit beim
Lesen und Schreiben. Nicht nur Übungen zur Steigerung der Aufmerksamkeit, sondern auch
eine ausreichende Erklärung, warum genau eine gute Aufmerksamkeit vor Fehlern beim Lesen und Schreiben bewahrt, ist für die Betroffenen hilfreich. Dieses Postulat ist als Analogie
zu Montessoris Polarisation der Aufmerksamkeit anzusehen. Unter Funktionen der Sinneswahrnehmungen142 ist, wie der Begriff schon nahelegt, ein einwandfreies Zusammenspiel der
verschiedenen Sinneswahrnehmungen beim Schreiben und Lesen zu verstehen (vgl. a.a.O., S.
45). Sobald einige dieser Sinneswahrnehmungen different arbeiten, ergeben sich Schwierigkeiten. Es ist wichtig, dass bei „diesem Prozess der Umsetzung von Lauten zu Buchstab, die
Sinneswahrnehmungen Optik, Akustik und Raumlage funktionieren“ (a.a.O., S. 47) und miteinander korrespondieren. Sowohl die Optik als auch die Akustik werden jeweils in drei Unterkategorien gegliedert, wobei zur Optik die Kategorien optische Differenzierung, optisches
Gedächtnis, optische Serialität und zur Akustik die Kategorien akustische Differenzierung,
akustisches Gedächtnis sowie die akustische Serialität gehören143. Optische Informationen
werden von den Betroffenen generell schlecht gespeichert, weshalb die meisten Kinder mit
differenter optischer Wahrnehmung alles anfassen müssen, um es begreifen zu können. Diese
Probleme setzen sich beim Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen fort.
Weitere Sinneswahrnehmungen, die beim Schriftspracherwerb korrekt funktionieren müssen,
sind die Raumorientierung und das Körperschema. Beim Lesen fallen Kinder mit Raumlageproblemen besonders durch sehr langsames, unsicheres Lesen auf. Beim Lesen fehlt die Orientierung im Text und beim Schreiben kann die Aufteilung des Blattes (Raum) nur schlecht
eingeschätzt werden. Unter die Raumorientierung fällt außerdem das gesamte Raum- und
141
Diese wichtige Voraussetzung intakter Sinneswahrnehmungen kann durch das Training mit dem MontessoriMaterial erreicht werden. Dieses „Sinnesmaterial“ ist naturgemäß zum Training der Sinneswahrnehmungen
konzipiert.
142
Diese werden auch Teilleistungen genannt.
143
Ausführliches hierzu: s. Kopp-Duller 2008a, S. 46ff.
111
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Zeitgefüge (vgl. Kopp-Duller 2008a, S. 48)144, Distanzen, Größen oder Einheiten erscheinen
als nicht Greifbares. Kindern, die Schwierigkeiten mit dem Körperschema haben, gelingt die
Einschätzung der Lage und Richtung am eigenen Körper nicht, häufig fällt eine Rechts-LinksVerwechslung auf, deshalb ist das Körperschema auch anders ausgeprägt als bei nicht legasthenen Menschen. Nicht hinreichend entwickelte Wahrnehmungsleistungen im optischen
und/oder akustischen Bereich sind, im Gegensatz zu anderen Sinneswahrnehmungen145, relativ häufig anzutreffen (vgl. a.a.O., S. 49). Da besonders die Sinneswahrnehmungen den Leseund Schreibprozess stark beeinflussen, nimmt das Funktionstraining in der AFS-Methode
einen besonders wichtigen Platz ein. Das Übungsmaterial sollte hier besonders abwechslungsreich sein und die Übungen müssen genau auf die Bedürfnisse des jeweiligen Kindes abgestimmt werden. Nur wenn in diesem Bereich wesentliche Veränderungen eintreten, sind Fortschritte und Erfolgserlebnisse für das legasthene Kind im Schreiben, Lesen und Rechnen
möglich. Wie beim Aufmerksamkeitstraining ist auch beim Funktionstraining konsequent auf
unterschiedliche Übungen zu achten.
Symptomtraining
Auch einer individuellen Förderung im Symptombereich wird in der AFS-Methode eine große Bedeutung beigemessen. Das Erlernen der Buchstaben und Zahlen in den ersten Monaten
der Schulzeit ist für ein legasthenes Kind eine besondere Leistung. Je früher eine Hilfe einsetzt, desto schneller wird der Lernprozess vorangehen. „Leider wird gerade der schwierige
Prozess des Buchstaben- und Zahlenlernens beim legasthenen Kind oft völlig unterschätzt“
(a.a.O., S. 52). Deshalb ist es besonders wichtig, dass auch Eltern selbst mitwirken, wobei es
selbstverständlich legitim ist, die Hilfe inner- oder außerschulischer Spezialisten in Anspruch
zu nehmen. Von den Eltern sollte das Legasthenietraining durch einen individuell für das
Kind zusammengestellten Trainingsplan ergänzt werden. Dieser Trainingsplan wird von einem Trainer für einen bestimmten Zeitraum entworfen und dann immer wieder den nächsten
Entwicklungsphasen des Kindes angepasst. Selbstverständlich wird sowohl mit dem Lehrer
als auch mit den Eltern des Kindes intensiv zusammengearbeitet, wobei der Trainer Fördermöglichkeiten vorschlägt.
144
Die Kinder können ihre Position im Raum nicht richtig einschätzen und sie haben oftmals ein sehr schlechtes
Zeitgefühl und ein geringes Orientierungsvermögen.
145
Es kommt so gut wie nie vor, dass beim legasthenen Kind alle Sinneswahrnehmungen different ausgeprägt
und betroffen sind, wodurch die erwünschte Lese-, Schreib- oder Rechenleistung nicht erbracht werden könnte.
112
8 Möglichkeiten der pädagogischen Intervention mit dem Modell Maria Montessoris und der
AFS-Methode nach Astrid Kopp-Duller
Das individuelle Training im Lese- und Schreibbereich ist eine Notwendigkeit, die als konsequent durchgeführte, ausgiebige und anhaltende Übung auch zu einem nachhaltigen Erfolg in
allen Bereichen führen kann.
113
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
9
Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Für die Planung einer Förderung ist die Einbeziehung des Elternhauses wesentlich. Daher
sollten die Eltern ausführlich beraten und durch eine aktive Beteiligung an den Interventionen
ihren Beitrag leisten können (z.B. Schulte-Körne et al. 1997, 1998). Bei der Durchführung der
Förderung durch Behandlungsmaßnahmen ist vor allem die emotionale Unterstützung von
großer Bedeutung. Durch das Vermeiden von Schuldzuweisungen und das Schaffen einer für
das Kind protektiven familiären Atmosphäre kann der Schweregrad einer LeseRechtschreibstörung beeinflusst werden. Bedeutung kommt der Art der Verstärkung (positive
und negative Verstärkung) zu, z.B. in der späteren Hausaufgabensituation, bei der Unterstützung beim Lernen in Form von Hilfen und beim Umgang mit Fehlern. Durch adäquate Anregungen und Unterstützungen, bspw. beim Lesen, können für das Kind lernförderliche Bedingungen im Elternhaus geschaffen werden. Dabei spielt das regelmäßige Vorlesen, das Sprechen über die Bücher (oder zusätzlich auch das Hören von CDs) und überhaupt eine sprachlich und kommunikativ anregende Umwelt eine große Rolle. Relativ leichte Texte sollten so
gewählt werden, dass das Interesse des Kindes geweckt wird und das Lesen keine übermäßigen Probleme bereitet. Es kommt dabei weniger auf das richtige Lesen an, sondern darauf,
dass sich das Kind mit dem Lesen beschäftigt, sich damit auseinandersetzt und Freude daran
findet (vgl. auch Suchodoletz 2006, S. 288). Indirekt wird dadurch auch die phonologische
Bewusstheit trainiert, da das Kind beim Zuhören den Klang, den Rhythmus sowie die Betonung der Sprache erfassen kann. Wenn dem Kind somit Möglichkeiten für Erfolgserlebnisse
eingeräumt werden, kann es ein besseres Selbstbewusstsein im Umgang mit der Schriftsprache entwickeln.
Längsschnittstudien konnten belegen, dass die phonologische Informationsverarbeitung von
entscheidender Wichtigkeit für den Schriftspracherwerb ist. Die bedeutsamste Komponente
dabei ist die phonologische Bewusstheit, die auch bereits im Kindergartenalter in Form von
kindgemäßen spielerischen Übungen146 trainiert werden kann. Metaanalysen (z.B.
Bus/Ijzendoorn 1999) haben gezeigt, dass das Training effizienter ist, wenn es mit einem
Buchstaben-Laut-Training kombiniert wird. Haben Kinder sprachliche Defizite bzw. Sprachentwicklungsstörungen, so ist eine gezielte frühe Sprachförderung bzw. Sprachtherapie
notwendig.
146
Diese sind z.B. Reime, Silben, Anlaute, Lautsynthese und Lautanalyse.
114
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
9.1 Wie können Eltern die pädagogisch-didaktischen Erkenntnisse
der Frühförderung legasthener Kinder einsetzen?
Die Eltern und andere Bezugspersonen sichern im Allgemeinen Lernen und Wachstum des
Kleinkindes, sie wenden sich ihrem Kind liebevoll zu und geben ihm Orientierung durch Zuverlässigkeit der persönlichen Beziehungen und durch einen geregelten Tagesablauf. Sie sprechen mit ihm und lassen es an ihrem Leben teilhaben. Bestimmte Fehlertendenzen werden
den Eltern bei den täglichen Beobachtungen ihres Kindes deutlicher auffallen als Außenstehenden. Darüber sollten sie offen mit dem Kind sprechen, um gemeinsam mit ihm herauszufinden, wie es sich bei diesen Fehlern selbst wirksam kontrollieren kann. Das elterliche Potential zur Unterstützung des kindlichen Schriftspracherwerbs, der Kognition und Emotion wird
meist nicht ausgeschöpft. Da der soziale Kontext der Familie „als stabilisierend und fördernd“ (Dehnhardt/Ritterfeld 1998) betrachtet wird, stellt die Familie eine wertvolle Ressource dar. Somit muss die Hilfe auf das gesamte familiäre und pädagogische Umfeld ausgeweitet
werden, da nicht nur das betroffene Kind bestimmte Auffälligkeiten zeigt, sondern auch das
Lebensumfeld des Kindes dessen Situation beeinflusst (vgl. Kramer/Trappe 2006). Im Rahmen der Elternarbeit geht es darum, wie sie ihr Wirken bestmöglich in die frühkindliche Förderung integrieren können (vgl. Siegert/Ritterfeld 2000), ein „konsequentes Weiterdenken“
(Rodrian 2008, S. 57) der Frühförderung bezüglich des psychosozialen Umfeldes des Kindes
ist zielführend.
Hinweise auf Defizite der Kinder, etwa in der phonologischen Bewusstheit, von Erzieherinnen oder aus eigener Vermutung bzw. Beobachtung sollten unbedingt ernst genommen werden und ggf. auch von psychologisch-pädagogisch geschulten Fachkräften in Frühförderstellen, Erziehungsberatungsstellen usw. fachdiagnostisch abgeklärt werden. Wenn sich die Eltern dann zur Förderung der eigenen Kinder entschließen, sollten sie auch Kontakt zu geschulten Fachkräften an Frühförderstellen und Erziehungsberatungsstellen halten, die sie bei
dieser Fördermaßnahme beratend begleiten, da es nicht hilfreich ist, verschiedene Lernmethoden, die möglicherweise sich widersprechende Instruktionen beinhalten, gleichzeitig anzuwenden. Dass Eltern in der Lage sind, ihr Kind adäquat zu fördern, konnte in mehreren empirischen Arbeiten nachgewiesen werden. So untersuchten Bushell et al. (1982) sowie Fry
(1977) den Therapieeffekt verschiedener Programme zur Förderung der Lesefähigkeit, die
Eltern mit ihren leseschwachen Kindern durchführten. Es konnte gezeigt werden, dass alle
Kinder hinsichtlich der Lesegenauigkeit wie auch des Leseverständnisses durch das Üben mit
ihren Eltern profitierten. Eltern konnten anhand eines Lernprogrammes ihre Kinder sowohl im
Lesen als auch in der Rechtschreibung erfolgreich fördern, was sich auch auf die schulischen
115
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Leistungen übertrug (vgl. Thurston/Dasta 1990). Für den deutschsprachigen Raum fanden
Schulte-Körne et al. (1997, 1998) heraus, dass Eltern unter systematischer und regelmäßiger
Anleitung in der Lage sind, die Rechtschreibleistung ihres Kindes zu verbessern. Auch die
positive Veränderung der Interaktion und die Tatsache, dass das Selbstwertgefühl der Kinder
durch das Eltern-Kind-Training signifikant verbessert wurde, sind ein weiterer wesentlicher
Befund dieser Untersuchungen. Sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, können Eltern also mit der Unterstützung von Fachleuten auch spezifische Förderprogramme mit ihrem
Kind durchführen. Zu diesen Voraussetzungen zählen etwa ausreichende Zeit von Seiten der
Eltern und konsequentes Üben über einen längeren Zeitraum hinweg, wobei die Beziehung
zwischen Eltern und Kind nicht durch negative Lernerfahrungen belastet sein darf, wenn ein
gemeinsames Üben etwa zu ausgeprägten Auseinandersetzungen führt. Außerdem sollte die
Möglichkeit einer Beratung bezüglich des Förderprogramms bestehen. Das Marburger Rechtschreibtraining (Schulte-Körne/Mathwig 2009) ist ein Beispiel für ein Programm, das hinsichtlich seiner Wirksamkeit als Elterntraining überprüft ist.
Weder professionelle Pädagogen noch die Eltern können wissen, auf welche Weise das legasthene Kind seine Schwächen kompensieren kann, wie es lernt und wann es eine Pause
braucht. Ebenso wie die Pädagogen können und müssen auch Eltern das Kind für eine Zusammenarbeit gewinnen. Es soll ihnen sagen, was ihm schwerfällt, wie es versucht, sich
selbst zu helfen, und wo es ratlos ist. Dies ist jedoch nur in einer Atmosphäre der Gleichberechtigung und des verstehenden und angstfreien Umgangs miteinander möglich. Es wird
meist gelingen, mit dem Kind gemeinsam herauszufinden, was es besonders gut kann. Zeigt
ein Kind kein Interesse an den angebotenen Materialien, sollte das für Eltern ein Anlass sein,
das Kind und seine Situation noch einmal genauer zu betrachten, da es möglicherweise überfordert ist. Sobald Kinder ihre Schwierigkeiten spüren, versuchen sie automatisch, problembehaftete Situationen zu meiden. In diesem Fall ist es besonders wichtig, das Interesse behutsam zu wecken, indem das Kind mit vereinfachten Aufgaben an die Arbeit herangeführt wird.
Bei mangelnder Förderung könnte es später in der Schule weiterhin ein Vermeidungsverhalten zeigen, das wiederum negative Auswirkungen auf das Selbstbild und Selbstbewusstsein
des Kindes hat. Voraussetzungen für eine solche häusliche Förderung und Hilfe von Seiten
der Eltern sind vor allem die Anerkennung der Eigenart der Lese-Rechtschreibstörung des
Kindes und viel Geduld, um dem Kind langfristig Hilfen zu geben. Der Rückhalt in der Familie ist zentral für die Unterstützung eines legasthenen Kindes. Die Anerkennung durch die
Eltern trotz minderer Leistungen bildet die Basis für eine positive Entwicklung des legasthenen Kindes. Die Arbeit mit dem Kind bringt immer wieder neue Erkenntnisse im Hinblick auf
Tätigkeiten, die es ausführen kann oder auch nicht, oder auf Leistungen, die in einigen Berei116
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
chen möglich sind und in anderen eben nicht. So soll bspw. das Erfassen von Beeinträchtigungen nach dem Ansatz von M. Frostig147 zur Planung einer Förderung dienen, um einen
Ausgangspunkt für einen Weg zu finden148, den man mit dem Kind gehen kann (vgl. Frostig
1976). Da die Diagnose Legasthenie nicht selten erst relativ spät gestellt wird und die Beziehung zwischen dem legasthenen Kind und den Eltern durch quälendes Üben u.U. schon extrem angespannt ist, ist die Entlastung des Kindes und der Eltern wichtig (vgl. Warnke et al.
1989). Diese Entlastung erfolgt meist schon durch die Diagnose149 und die Aufklärung über
die Problematik. Beim Vorhandensein einer Legasthenie sollte eine spezielle pädagogischdidaktische Förderung durchgeführt werden, was eine Unterstützung des Schriftspracherwerbs
von Seiten der Eltern keinesfalls ausschließt. Elterliche Hilfe muss pädagogisch zweckmäßig
sein, sodass daraus eine Entlastung des Kindes resultiert und zugleich chronische Konflikte
vermieden werden. Zur häuslichen Förderung können bspw. Wortspiele mit Bildern und Memory-Spiele zum Training der phonologischen Bewusstheit150 leicht selbst zusammengestellt
werden. Eltern könnten z.B. Bilder von Wörtern mit gleichen Anfangslauten aussuchen, anfangs besonders mit den dehnbaren Konsonanten /l/, /m/, /n/, /r/, /s/, /w/ und /z/ (vgl. Dummer-Smoch 2001, S. 45). Ebenso bieten sich Bilder, mit denen man Reimpaare finden kann,
oder Bilder von Wörtern mit gleicher Silbenzahl zum Üben an (vgl. ebd.). Lerntipps für Eltern
sind z.B. auch Farben, mit denen etwas hervorgehoben und gekennzeichnet werden kann.
Außerdem ist Lautgebärdensprache beim Einüben von Buchstaben und beim Buchstabieren
von Wörtern hilfreich, was besonders legasthenen Kindern eine große Hilfe bietet, da diese
Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung haben und ihnen auf diese Weise die Möglichkeit zur
mehrkanaligen Wahrnehmungsverarbeitung gegeben wird. Zusätzlich sind Merkwörter bzw.
„Eselsbrücken“ aus eben genannten Gründen hilfreich. Das Kind wird „Eselsbrücken“ ausprobieren oder sich selbst welche konstruieren, daher sollten Eltern versuchen, gemeinsam
mit dem Kind solche hilfreichen Assoziationen für spezielle Rechtschreibprobleme zu finden
und möglichst viele Übungen als Spiel durchzuführen, weil Lernen im Spiel viel leichter fällt.
Somit können beim Lernen möglichst viele Sinne genutzt werden. Legasthene Kinder sind
bereit, mehr zu lernen als andere Kinder, wenn sie motiviert werden und ihr Problem akzep-
147
Der Ansatz von Frostig beruht auf der Annahme, dass sich Lernstörungen auf gestörte oder unzureichend
ausgebildete Wahrnehmungsfunktionen zurückführen lassen und dass spezifische Lernstörungen ebenso spezifischen perzeptiven Dysfunktionen entsprechen.
148
Für Frostig besteht die Möglichkeit dazu in einer Art Bestandsaufnahme, die sie als Evaluation bezeichnet.
149
Diese kann z.B. durch das pädagogische AFS-Testverfahren (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller 2008b, S. 51ff.)
oder den Pädagogischen Sinneswahrnehmungstest im Vorschulalter (PSV) (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 51ff.)
erfolgen.
150
Siehe hierzu auch „hören, lauschen, lernen“ nach Küspert/Schneider (1999, 2006, 2008) oder „hören, sehen,
verstehen“ nach Rosenkötter et al. (2007).
117
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
tiert wird (vgl. Dummer-Smoch 2002, S. 79). Dennoch ist von großer Bedeutung, dass sie
weder durch den Zeitaufwand noch durch den Schwierigkeitsgrad der Übungen überfordert
werden dürfen.
Für weitere Anregungen zur pädagogisch orientierten elterlich-präventiven Intervention wird
auf die Werke der Autoren Irene Klöck und Caroline Schorer, Charmaine Liebertz, Armin
Sohns, Matthias Paul Krause, Walter Straßmeier, Alexandra Braunmiller, Karin Grether, Martin Thurmair und Monika Naggl verwiesen.
Im Folgenden sollen Ansätze und Möglichkeiten elterlicher Frühförderung durch das Material
und das Konzept Maria Montessoris sowie durch die AFS-Methode zur Prävention von legastheniebedingten Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb diskutiert werden.
9.2 Wie können Eltern zur Prävention von legastheniebedingten
Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb beitragen?
Im Vorschulalter sollten alle Sinne (vgl. Kopp-Duller 2008b, S. 41ff.), etwa durch Seh- und
Hörspiele, musikalisch rhythmische Erziehung, bildnerische Gestaltung und Werken, zur
Entwicklung einer bewussteren Wahrnehmung gefördert werden. Hierzu trägt auch die Schulung der Sinne besonders im Bereich der Mengenerfassung und im Bereich der Berührung
bei. „Mit Sand, Wasser und Gefäßen zu hantieren“ sowie die Vorbereitung auf die Fertigkeit,
Schreibgeräte zu halten, „durch das ausgiebige Befassen mit Ton oder anderen Knetmassen“
(a.a.O., S. 42) sollte den Kindern ermöglicht werden, da diese interaktive Wahrnehmungsförderung eine wichtige Voraussetzung für die Denkförderung ist und den Schriftspracherwerb
erleichtert. Demzufolge besteht „zwischen der Sinnesschulung und den motorischen Aktivitäten des Kindes“ (ebd.) ein relevanter Zusammenhang.
In der Schule werden das Hören und Sehen überbeansprucht, wohingegen das Fühlen und
Tasten mit Haut und Muskeln relativ selten gebraucht wird. Infolgedessen bleibt die Koordination der Bewegungen oft unterentwickelt, was sich höchstwahrscheinlich auf die schulischen Leistungen auswirkt. Wurde vor dem Schuleintritt nicht genug Anreiz zur Entwicklung
der sensorischen Integration gegeben, so kann hier mit Hilfe des von Montessori entwickelten
Sinnesmaterials nachgearbeitet werden (vgl. Raapke 2001, S. 40). Das zentrale Thema der
didaktischen Materialien Montessoris und damit der gesamten Montessori-Pädagogik ist der
Zusammenhang von Intelligenz und Bewegung, Körper und Geist, Kopf und Hand. Die sensomotorischen Prozesse der taktilen Ebene spielen also eine zentrale Rolle in Montessoris
pädagogisch-didaktischem Konzept (vgl. Hellwig 2007). Nach Ingeborg Milz sind die Prinzipien der Montessori-Pädagogik für legasthene Kinder von besonderer Bedeutung, da Montes118
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
sori auf die Förderung der Sinne sowie der gesprochenen und geschriebenen Sprache einen
besonderen Wert legte und eine Methode und Materialien erarbeitete, mit denen „besonders
bei teilleistungsschwachen Kindern eine Grundlage für eine systematische Behandlung“
(Milz 1997, S. 229) gegeben ist. Selbstverständlich fühlen sich nicht alle Kinder von der Arbeit nach Montessori angesprochen, weshalb auch kein Kind „dazu gezwungen“ werden sollte. Durch die ständigen Misserfolge, die die legasthenen Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen begleiten, entwickelt sich bei ihnen eine gewisse Abneigung dieses Prozesses. Sie verfügen zwar über eine normale, oft auch überdurchschnittliche Intelligenz, zeigen aber kein
spontanes Interesse und verlangen eine ständige aktive Erregung ihrer Aufmerksamkeit.151
Deshalb müssen sie nach Montessoris Prinzipien zur Beobachtung, zum Vergleichen aufgefordert und zur Tätigkeit ermuntert werden (vgl. Montessori 2001a, S. 198). Die Förderung
durch das Montessori-Material und nach Montessori-Prinzipien soll bei legasthenen Kindern
u.a. auch die fehlende Lern- und Wissbegierde wecken, wobei das Verhalten und der Lernstil
in einer geeigneten Umgebung genau beobachtet und jeder Schritt analysiert werden soll. Erst
wenn das Kind den zu bearbeitenden Stoff aufgenommen und richtig erkannt hat, sollten weitere Trainingsschritte unternommen werden. Dabei ist nicht das Lernvorgehen, wie es im üblichen schulischen Unterricht praktiziert wird, gemeint, da es sich um eine außerschulische
Förderung der kognitiven, sensorischen und motorischen Fähigkeiten des Kindes in einer vorbereiteten Umgebung handelt. Durch das ständige Vermitteln zwischen Material und Kind
werden Entwicklungsspielräume eröffnet, damit das Kind sich entfalten kann (vgl. Montessori
2002, S. 129), da sich nur so „die Betonung der motorischen und sensorischen Fähigkeiten
der Montessori-Pädagogik positiv aus[wirkt]. Sie liefert dem Erzieher [Legasthenietrainer]
Anhaltspunkte für die Beobachtung. Die konzentrierte Tätigkeit, vom Kind […] direkt vollzogen, von dem Erzieher […] reflektiert beobachtet“ (Oy 1996, S. 14), ist ein Weg für die Bewältigung der Schwierigkeiten eines legasthenen Kindes.
Gerade aufgrund der häufig zusätzlich vorliegenden Konzentrationsstörung bei legasthenen
Kindern sind die Elemente der vorbereiteten Umgebung und der Stille von besonderer Bedeutung. Bei der Arbeit mit dem Sinnesmaterial geht es Montessori, die sich viele Jahre mit der
Förderung der Sinneswahrnehmung beschäftigte sowie zahlreiche Materialien und Vorgehensweisen zu diesem Zweck entwickelt hat, um die gezielte Förderung einer differenzierten
Verarbeitung. Diese differenzierte Wahrnehmung soll durch das Ordnen der erworbenen Eindrücke und das Unterscheiden zwischen Wesentlichem und Zufälligem angeregt werden, um
151
Eine Polarisation der Aufmerksamkeit lässt sich beim Legastheniker kaum feststellen.
119
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
den Erwerb von Konzept- und Begriffsbildung und die Aufdeckung von Beeinträchtigungen
der Wahrnehmungsverarbeitung zu einem Zeitpunkt, in dem eine gezielte Förderung noch
Aussicht auf Erfolg haben kann, zu ermöglichen (vgl. Milz 1999, S. 126). Betrachtet man die
Arbeit mit dem Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterial Montessoris unter neuropsychologischem
Gesichtspunkt, bekommt sie einen neuen Stellenwert und eine aktuelle Bedeutung für die
heilpädagogische Praxis im Bereich der Frühförderung, insbesondere in Kindergarten, Vorschule und Schule, aber auch für häusliche Frühförderung legasthener Kinder. „Mit der Sinnesausbildung muß in der formativen Periode begonnen werden, wenn wir sie später durch
Erziehung für jede besondere Form von Bildung vervollkommnen und verwerten wollen. Deshalb soll die Sinnesausbildung im kindlichen Alter methodisch beginnen und dann während
der Periode des Unterrichts fortgeführt werden, dessen Aufgabe es ist, den einzelnen auf das
praktische Leben in der Umwelt vorzubereiten“ (Montessori 1987, S. 164). Methodisches
Vorgehen bedeutet in diesem Zusammenhang: die Förderung der sensorischen und motorischen Entwicklung durch das von Montessori erarbeitete Material und auf die von ihr empfohlene Art und Weise durch gezielte Angebote. Zur Förderung und Unterstützung der Wahrnehmungsentwicklung des Legasthenikers eignet sich insbesondere das Kinderhaus- und Vorschulmaterial, das von Montessori als „Schlüssel zur Umwelt“ bezeichnet wurde (vgl. Montessori 1985; von Oy, 1996, S. 16). Die Materialien können je nach Schwerpunkt der Teilleistungsstörung eingesetzt werden und dienen gleichermaßen der Sprach-, Lese- und Rechtschreibförderung. Da sich die äußeren Reize zur Erziehung des Kindes in dessen Umgebung
befinden, muss diese so gestaltet sein, dass sie alles enthält, was dem Reifegrad des Kindes
angepasst ist und die Entwicklung fördern kann. Demzufolge gehören gezielte Angebote und
Anreize zum individuellen und sozialen Lernen zu einer vorbereiteten Umgebung. Es wurde
mehrfach darauf hingewiesen, dass die Entwicklung eines Kindes Zeit und Raum zur Entfaltung der inneren Kräfte benötigt. Wird davon ausgegangen, dass Entwicklung durch biologisches Potential, die genetische Veranlagung und die Interaktion mit der Umwelt bestimmt
wird, wird deutlich, wie wichtig der Einfluss der Umgebung für das Kind ist. Zur vorbereiteten Umgebung gehören vor allem auch die Erwachsenen, die Eltern und Erzieher des Kindes
(vgl. Milz 1999, S. 189). Damit bekommt der Begriff „Umgebung“ einen weiten Rahmen, der
die Pädagogen vorrangig mit einbezieht und hohe Anforderungen an sie stellt. In dieser entsprechend „reiz-voll“ gestalteten Umgebung, deren Reize jedoch begrenzt angeboten werden,
erfolgt die Förderung der Wahrnehmungsverarbeitung durch Tätigkeiten und Handlungen. Es
geht darum, Bewegung, Sprache, die Wahrnehmungsbereiche und die höheren kognitiven
Funktionen im Entwicklungszusammenhang zu fördern. Wichtige Voraussetzungen dafür
sind das Verständnis und die Zusammenarbeit mit Eltern. Das Verständnis der Bezugsperson,
120
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
möglicherweise unter Einbeziehung verschiedener diagnostischer Ebenen, und der beteiligten
Pädagogen für die Situation und die besonderen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes ist dabei
Voraussetzung für eine elterliche, häusliche Förderung (vgl. Kopp-Duller/Pailer-Duller
2008a, S. 133).
Bei Montessori geht es immer um die Förderung der Entwicklung, die besonders die Aufgabe
der Eltern und Vorschulpädagogen ist. Dafür sind insbesondere die Übungen des praktischen
Lebens (Holtstiege 2009, S. 94f.) nach Montessori geeignet. Die verschiedenen Bereiche, die
unter dem Oberbegriff Übungen des praktischen Lebens zusammengefasst sind, geben dem
Kind vielfältige Möglichkeiten, grundlegende Fähigkeiten im Rahmen von praktischem Alltagsgeschehen zu erwerben. Gegenstände des täglichen Gebrauchs sind kein Spielmaterial im
herkömmlichen Sinn, sie geben dem Kind nach sorgfältiger und exakter Einführung die Möglichkeit, Erfahrungen und Erkenntnisse zur Schulung der unterschiedlichen Wahrnehmungen,
zum Training der Grob- und Feinmotorik, zum Erwerb eines großen Wortschatzes, zum Erkennen mathematischer Grundeinheiten sowie zum gezielten Handeln zu sammeln und verhelfen ihm damit zu einem kleinen Stückchen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit (vgl.
Anderlik 1996, S. 125). Diese Grundfähigkeiten sind die Voraussetzung für die sog. „höheren
psychischen Funktionen“ (vgl. Luria 1992; vgl. auch Abb. 2), womit kognitive Leistungen,
bspw. auch Schulleistungen, gemeint sind. Diese höheren psychischen Funktionen setzen zunächst zu erlernende elementare Verarbeitungsprozesse voraus, wozu es vielfältiger Anregung
bedarf. Diese Anregungen bieten die Entwicklungs- bzw. Sinnesmaterialien Montessoris.
Voraussetzung für eine Übung des praktischen Lebens in dieser Form und für die Vertiefung
einer konkret erfahrenen Handlung ist allerdings, dass die Umgebung dafür entsprechend vorbereitet ist. Sowohl für den Elternteil als auch für das Kind ist es wichtig, den Verlauf des
Vorgehens zu strukturieren. Die Serialität muss deutlich erfahrbar sein (vgl. Milz 1999, S.
102). So kann etwa die Tätigkeit des Herstellens eines Zitronensaftgetränkes „unter heilpädagogischem Aspekt zur Förderung unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in verschiedenen
Erfahrungsbereichen hilfreich sein (Milz 1999, S. 103), indem sie die Sensomotorik, die Motorik, die Sprachbenutzung sowie eventuell soziales Miteinander fördert. Es sollte immer um
die Erfahrungen gehen, die das Kind konkret macht und zu denen es die Anregung aus der
vorbereiteten Umgebung bekommt. Es ist wichtig zu bedenken, dass viele Kinder in ihrer
häuslichen Umgebung wenige Möglichkeiten für lebenspraktische Selbsterfahrungen haben,
da ihnen zu oft Entscheidungen abgenommen und Lösungswege vorgegeben werden. Je nach
Alter des Kindes können sich Aufgaben zur Erweiterung des Wortschatzes, zur Sprachpflege,
zur Wortlehre und zur Begriffsbestimmung anschließen, solche können etwa Wortkästchen
mit Wörtern der verschiedenen Wortarten sein.
121
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Wie alle Tätigkeiten in der Montessori-Pädagogik dienen auch die Übungen des praktischen
Lebens zur Förderung der Entwicklung. In seinem Werk „Maria Montessori. Leben und
Werk“ hat E. M. Standing, ein langjähriger pädagogischer Wegbegleiter Montessoris, ihre
pädagogischen Grundsätze dargestellt. Nach Standing besteht die Hilfe darin, dass „in der
vorbereiteten Umgebung ‚Anreize zum Tätigsein‘ angeboten werden, die eine spezielle Antwort auf eben die sensitive Periode des Kindes geben, die es gerade durchläuft. Neben dem
intensiven Interesse an ‚synthetischen (aufbauenden, miteinander verbundenen) Bewegungen‘
eignet dem Kind zugleich die besondere Fähigkeit, sie zu fixieren, sie sich zur Gewohnheit zu
machen, und zwar mit einer Leichtigkeit und Spontaneität, die niemals wiederkehren“ (Standing 1959, S. 125). Beispiele für Tätigkeiten sind folgende: Gegenstände nach deren Gebrauch wegräumen, Staub wischen, Gegenstände abwischen, Tisch decken und abräumen,
Fußboden säubern, Geschirr spülen, Tier- und Pflanzenpflege sowie Tätigkeiten, die sich im
Zusammenhang mit der äußeren Umgebung anbieten, wie etwa Blätter zusammenrechen oder
Unkraut jäten. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Tätigkeiten, wie sie in Haus und
Garten vorkommen, wobei das Kind den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erfährt
und erlebt. Die Sorge für die Umgebung kann Verantwortungsgefühl und Ordnungssinn entwickeln. Im Umgang mit Lappen und Besen macht das Kind räumliche Erfahrungen, durch
die besonders legasthene Kinder den Umgang mit Begriffen, die Beziehungen definieren und
den Raum strukturieren152, lernen. So kann einer Raumlagelabilität oder einer Seitigkeitsanomalie schon früh gegengearbeitet werden. Störungen im Bereich der Raumlage-Orientierung
stehen häufig in Verbindung mit Störungen des Körperschemas, vor allem mit unausgeprägter
Seitigkeit. Kindern, die eine Figur-Grund- und Raumlage-Wahrnehmungsstörung haben, sodass sie ähnlich aussehende Buchstaben verwechseln oder oft gar nicht voneinander unterscheiden können153, kann durch Förderung des Tastsinns mit Montessori-Sandpapierbuchstaben geholfen werden. Zur vorschulischen Förderung kann mit Übungen mit verschiedenen
geometrischen Figuren aus Sandpapier und anderen Stoffen trainiert werden. Quadrate, Kreise, Dreiecke u.Ä., in verschiedenen Größen und Positionen in den Tastkasten gelegt, müssen
blind ertastet und erkannt werden. Hierbei sollen sie vom Kind genau erkannt und nicht mit
152
Dazu zählen Begriffe wie: oben, unten, hinten, vorne, zwischen, neben, innen und außen.
Später in der Schule wird auf dreierlei Beeinträchtigungen kaum geachtet: Kinder, die mit der Raumlageverarbeitung Probleme haben, werden u.U. Schwierigkeiten mit Buchstaben- und Zahlenvertauschungen und Verdrehungen bekommen, z.B. bei <b>/<d>, <q>/<p>, <d>/<p>, <b>/<g>, <n>/<u>, <m>/<w>, auch mit <a> und
<e> und mit den Ziffern 6/9. Sie werden als „typische“ Legastheniker in Förderkursen behandelt, oft nur mit
geringem Erfolg, weil die Ursachen nicht alleine im kognitiven Bereich zu suchen sind, sondern auch im körperlichen. Das Körperschema ist unzureichend entwickelt. Manche dieser Kinder kommen in die Sonderschule,
obwohl sie (mindestens) durchschnittlich intelligent sind. Sie quälen sich Jahr für Jahr mit dem Gefühl, dumm zu
sein.
153
122
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
ähnlichen Formen verwechselt werden. Hat das Kind die Formkonstanz dieser Figuren wahrgenommen, wird mit ähnlich aussehenden Buchstaben, wie „p“/„q“, „W“/„M“, „u“/„n“,
„b“/„d“, die sich nur bzgl. der Raumlage unterscheiden, genauso verfahren, sofern das Kind
die Buchstaben-Laut-Zuordnung beherrscht154. „Unsere Hand, die taktil-kinästhetische Wahrnehmung, hat uns im Laufe unserer Entwicklung gelehrt. So erkennen wir im Allgemeinen
auch unter perspektivischer Veränderung die eigentliche Form, sie ist für uns konstant“ (Milz
1997, S. 123). So wird durch das Trainieren der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung der
Hand die Buchstabengestalt oder die Buchstabenfolge über das Muskelgedächtnis gespeichert
und kann auf diesem Wege behalten, vorgestellt und wieder abgerufen werden.
Die von Montessori dafür vorgesehenen Übungen zur Entwicklung von Bewegung und Geschicklichkeit betreffen vor allem die Förderung des Gleichgewichts und damit grundlegende
neuropsychologische Funktionen, die an der Wahrnehmung des eigenen Körpers beteiligt
sind. Es ist nicht nur die Geschicklichkeit155 (Koordination), die gefördert wird, sondern es
werden auch Beziehungen zu Gegenständen, Tätigkeiten und Personen hergestellt. Diese Erfahrungen des In-Beziehung-Setzens können unter psychoanalytischer Sichtweise auch als
Erwerb von Objektbeziehungen betrachtet werden. Bei der Koordination handelt es sich um
das Zusammenspiel, die Integration von taktil-kinästhetischen Reizen, die im Gehirn verarbeitet werden. Nach Katz werden durch die tastende Hand genaue Vorstellungen über die Welt
vermittelt. Demnach zieht nach seiner Ansicht die Welt als Tastvorstellung durch die Hand
ins Bewusstsein ein, da der Mensch durch das Tasten über die taktilen Eigenschaften der Dinge informiert wird. Die Tastvorstellungen, die durch Berührungsempfindungen entstehen,
werden im Gedächtnis gespeichert. Katz spricht hierbei vom „Gedächtnistasten“ (vgl. Katz
1989). Beim Tasten werden Hypothesen gebildet, Eindrücke analysiert, korrigiert, wieder
aufgenommen und zu Bildern vereint (vgl. Holtstiege 2001, S. 11). Die Hand ist demnach das
eigentliche Tastorgan, dabei sind Fingerspitzen die tastempfindlichsten Körperteile. Je besser
und differenzierter diese Wahrnehmungsverarbeitung gelingt, umso präziser können auch die
Bewegungen ausgeführt werden. Diese Präzision von Bewegungen, besonders die Feinmotorik betreffend, ist von großer Bedeutung für den kindlichen Schriftspracherwerb. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers, das Bewusstwerden einzelner Körperteile und deren Stellung
154
So legt man die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge nach und lässt sie bei geschlossenen Augen mit den
Fingerspitzen, mit dem Zeige- und Mittelfinger nachfahren, erkennen und benennen. Dann werden die
Buchstaben gemischt und das Kind versucht, sie zu ertasten und zu benennen. Schwierigkeiten bereitende
Buchstaben werden aussortiert. Im weiteren Verlauf wird ein Buchstabe vor das Kind gelegt und mit beiden
Schreibfingern nachgefahren. Dann soll dieser unter die anderen gemischte Buchstabe vom Kind gefunden und
erkannt werden.
155
Montessori spricht von der Anmut der Bewegung, die durch die Übungen des praktischen Lebens gefördert
werde.
123
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
zueinander sind Voraussetzung für die extrakorporale Raumwahrnehmung. Dabei kann es
sich um den ganz nahen Raum, wie z.B. das Heft und die Linien, auf denen das Kind schreibt,
oder auch um den erweiterten Raum, in dem es sich orientieren muss, handeln.
Die Übungen des praktischen Lebens betrachtet Montessori als eine regelrechte „Gymnastik“
(Montessori 1987, S. 165), durch die alle Bewegungen verfeinert werden und wozu die Umgebung den Anlass gibt. Neuropsychologisch betrachtet ist diese Verfeinerung der Bewegung
bereits ein Entwicklungsprozess, an dem verschiedene Empfindungen und Reaktionen beteiligt sind (vgl. Milz 1999, S. 97). Sie ermöglichen die Eigenwahrnehmung des Menschen, an
der wiederum die Kinästhesie beteiligt ist. Der Schulung des Tastsinns widmet Montessori
viel Aufmerksamkeit, weshalb sie hierfür ihre ins Detail gehenden Übungsvorschriften gibt
(vgl. Katz 1989), indem sie empfiehlt, dem Kind das Berühren und Betasten einer Oberfläche
beizubringen. Dabei bewegt sich die Hand um den Gegenstand herum, wodurch der „Gegenstand konkreter und genauer wahrnehmbar“ (Montessori 2002, S. 129, 132) wird. So wird
durch das Hinzukommen des Muskelsinns die Speicherung möglichst vieler Eindrücke im
Muskelgedächtnis ermöglicht. Zu diesem Zweck hat Montessori eine Sammlung von Tastmaterialien und Übungen entwickelt, die das Kind befähigen, verschiedene Oberflächenstrukturen zu erkennen und somit den Tastsinn auszubauen. Zu diesen tastsinnfördernden und somit
auch tastgedächtnisfördernden Materialien sind die geometrische Kommode oder verschiedene Stoffe und Sandpapierbuchstaben zu zählen. Dieses Material sollte die Vorschulkinder auf
den Schriftspracherwerb vorbereiten, indem die dazu notwendige Feinmotorik und das genannte Muskelgedächtnis trainiert werden. Auch zur Förderung legasthener Kinder kann es
eingesetzt werden, da die Legasthenie häufig in Kombination mit einer beeinträchtigten Feinbzw. Grobmotorik sowie einer reduzierten Merkfähigkeit vorzufinden ist (vgl. SchulzeFrieling 2003a, S. 118.). Für die Bewältigung der Lese-Rechtschreibstörungen ist u.a. die
Förderung des Tastsinns die Voraussetzung. Vom Tasten gewinnen die legasthenen Kinder
über das Muskelgedächtnis neue Erkenntnisse, indem sie die „Beschaffenheit der Umwelt mit
den Händen kennenlernen“ (Kükelhaus/Zur Lippe 1982, S. 119). Um das Tastgefühl zu entwickeln, werden Materialien mit verschiedenen Eigenschaften wie rau und glatt, hart und
weich, starr und elastisch angeboten, wobei es sehr wichtig ist, stufenweise vorzugehen156, da
sich beim Zugreifen nur Wahrnehmungen verschiedenen Drucks und verschiedener Grade
von Warm und Kalt ertasten lassen. „Erst im Betasten, d.h. im leichten Hingleiten über die
Flächen und im vorsichtigen Umfahren der Gegenstände werden besondere Qualitäten,
156
Am Anfang soll an der Entwicklung des Fingerspitzengefühls gearbeitet werden, bevor man zum Zugreifen
übergeht.
124
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Strukturen fühlbar“ (a.a.O., S. 119). Für die Förderung des Fingerspitzengefühls sind Übungen mit den Perlen einsetzbar, die mit den Fingern aufgefädelt werden, wobei, beginnend mit
Daumen und Zeigefinger, immer nur zwei Finger benutzt werden. Ist mit jedem Finger eine
Perle aufgefädelt worden, wird in umgekehrter Reihenfolge, beginnend mit dem kleinen Finger, wieder zurückgefädelt. Aufgefädelt wird erst mit der rechten, dann mit der linken Hand,
zu Beginn wird das Auffädeln mit den Augen verfolgt, nach einiger Zeit darf die Übung mit
geschlossenen Augen durchgeführt werden. Nach mehreren Trainingswiederholungen kann
die Aufgabe erschwert werden157. Eine weitere Möglichkeit zur Förderung des Tastsinns bietet die Tastkiste. Zum Tasttraining mit verschiedenen Materialien gehören Täfelchen aus glattem Papier und Sandpapier, Pappkarton und Plastik, Holz, Schaumstoff und Metall, Seidenund Wollstoffen. Es werden z.B. Haus- und Wildtiere aus Plastik betastet, erkannt und benannt. Das Kind sitzt vor dem Tisch und seine Hände befinden sich in einer „Tastkiste“. Ein
Gegenstand wird vom Trainer hereingeschoben, bleibt aber für das Kind verdeckt. So wird die
Konzentration durch die Hände auf das Fühlen gelenkt. Die Aufgabe besteht darin, die Materialien mit den Fingerspitzen zu betasten, zu erkennen und zu benennen. So wird in der ersten
Stufe die Assoziation von Sinneswahrnehmung158 hergestellt. Taktil-kinästhetische Erfahrung, also das Spüren, ist die Voraussetzung für Geschicklichkeit, denn „die Hand ist das Organ des Geistes“ (Montessori 1984, S. 137) und das „Kind baut sich auf durch das Werk seiner Hände“ (Montessori 1992a, S. 108). So verhilft differenzierte Wahrnehmungsverarbeitung zu Sicherheit und Selbstvertrauen, zu Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle und hat
letztlich auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Kognition (vgl. a.a.O.). Jedoch ist allein
durch die Förderung des Tastsinns bei einem legasthenen Kind noch lange nicht das LeseRechtschreibproblem behoben. Um einen Erfolg zu erzielen, muss mit der gespeicherten taktil-kinästhetischen Erfahrung eine Leistung der visuellen Information eng verbunden werden
(vgl. Affolter 1975, S. 234). Andererseits aber wird eine Störung im taktil-kinästhetischen
Sinnesbereich durch das Training des visuellen Bereichs kompensiert (vgl. Affolter 1977, S.
210). Da die optische Differenzierungsfähigkeit die Voraussetzung für das Schreiben- und
Lesenlernen ist, weil die Sinnentnahme aus einem Text ohne differenzierte Erfassung der
Struktur der einzelnen Buchstaben unmöglich ist, ist das Training des visuellen Bereichs als
besonders wichtig einzuschätzen. Demnach sind neben der phonologischen Bewusstheit und
der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung die Koordination von Hand und Auge, die Figur-
157
Das Kind soll z.B. verschiedenfarbige Reihen mit jeweils 8 Perlen und später 4 verschiedenfarbige Reihen
mit jeweils 4 Perlen auffädeln. All diese Übungen sollten nach einigen Trainingsstunden auch mit geschlossenen
Augen durchgeführt werden.
158
In diesem Fall ist es der Tastsinn.
125
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Grund-Unterscheidung und damit die visuelle Wahrnehmung zusätzlich erforderliche Teilfunktionen für das Erlernen des Lesens und Schreibens. Bei der Koordination von Hand und
Auge handelt es sich um Fertigkeiten, die bereits ein komplexes Zusammenspiel visueller und
motorischer Funktionen voraussetzen. Ist diese sensorisch-motorische Integration noch nicht
oder unzureichend möglich oder ist die Reafferenz verlangsamt, so wirkt sich dies auf die
Feinanpassung und Kraftdosierung aus, was wiederum zur Verlangsamung von Handlungsabläufen und zu einem größeren Energieaufwand führt159. Wie bei den Übungen des praktischen
Lebens sind es also zunächst die Handlungen, die Auge-Hand-Koordination, die taktilkinästhetische Wahrnehmung, welche dem Kind die Erfahrungen vermittelt, in welcher Richtung ein Objekt liegt, in welchem Abstand zu ihm selbst und in welchem Abstand zu einem
anderen Objekt. Begriffe wie „vor“, „hinter“, „darüber“, „darunter“ u.v.m., aber auch Relationen wie „größer“, „kleiner“, „mehr“ oder „weniger“ sind Prämissen für den Schriftspracherwerb. Auch die Fähigkeit zur Seriation wird dadurch bestimmt (vgl. Milz 1999). Abgesehen
von den Schwierigkeiten, die es in der Rechtschreibung geben kann, weil die Beziehung der
Buchstaben untereinander, ihre Reihenfolge im Wort, nicht erfasst und behalten werden kann,
kann sich das auch auf das Sprachverständnis auswirken, wenn ein Kind Probleme im Verstehen von Begriffen wie „gegenüber“, „zwischen“, „davor“ und „dahinter“ hat. Neben Missverständnissen bei Arbeitsaufträgen zeigt sich das z.B. dann, wenn Geschichten nacherzählt werden sollen, da es hierbei vor allem um die zeitlichen Beziehungen geht und Zeit und Raum
untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. a.a.O.).
Die Figur-Grund-Unterscheidung ist die Fähigkeit, eine Figur visuell aus ihrem Hintergrund
herauszulösen, von ihm zu differenzieren, sie als getrennt von ihm zu erkennen. An diesem
Prozess sind verschiedene Wahrnehmungsfunktionen beteiligt. Hierfür muss vor allem die
Fähigkeit der visuellen Erfassung einer geometrischen Gestalt entwickelt sein. Hierfür bedarf
es besonders des In-Beziehung-Setzens von Geraden, Winkeln und Kurven, des Analysierens
und Abstrahierens (Milz 1999, S. 116). Wie ein Kind diese Erfahrungen macht, hängt auch
von der Veranlagung zur Wahrnehmungsverarbeitung und von der jeweiligen Entwicklungsphase, in der es sich befindet, ab. Bei Reifungsverzögerungen und bei frühkindlicher Hirnschädigung kann möglicherweise auch die Fähigkeit zum Analysieren verzögert sein (vgl.
Milz 1999, S. 117). Schließlich spielt auch die genetische Veranlagung zur Bevorzugung der
einen oder anderen Hemisphäre eine Rolle. So gilt es immer, Kinder mit Problemen beim
159
Die Kinder werden später im Unterricht beim Schreiben schneller ermüden als ihre Klassenkameraden,
werden unaufmerksam und können sich nicht konzentrieren. Aufgrund dieses Aufmerksamkeitsdefizits kommt
es zu einer Fehlerhäufung in schriftlichen Arbeiten.
126
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
Schriftspracherwerb auch hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsverarbeitung zu überprüfen. Beeinträchtigungen der Figur-Grund-Unterscheidung können sich auf vielfältige Weise auf das
spätere schulische Lernen auswirken und sich gegenseitig bedingen. Sie können das Erkennen
von Buchstabengestalten im Wort, auf einer Heft- oder Buchseite, die Konzentration160, die
Aufmerksamkeit sowie das Lesen und Schreiben beeinträchtigen161. Dementsprechend können Beeinträchtigungen vielfältige und unterschiedliche Auswirkungen haben, je nachdem,
welche Ursachen ihnen zugrunde liegen. Für die Förderung des optisch-visuellen Bereichs
erarbeitete Montessori ein bis in die feinsten Details durchdachtes Material. Beim Training
des visuellen Unterscheidungsvermögens kommen zum Erkennen der Dimensionen ein rosa
Turm, eine braune Treppe und rote Stangen zum Einsatz, zum Erkennen der Farben Einsatzzylinder und Farbtäfelchen sowie zum Erkennen der Figuren eine geometrische Kommode
(vgl. Hammerer 1997, S. 128).
Das Material zur Unterscheidung von Formen bietet neuropsychologisch betrachtet Hilfen
und Anregungen zur Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung, gleichzeitig sieht Montessori in diesen Materialien eine Möglichkeit zur Vorbereitung des mathematischen Denkens, wofür sensorische und motorische Erfahrungen erforderlich sind. Aufgrund
dieser mathematischen Schwerpunktsetzung wird nicht weiter auf diese Materialienkategorie
eingegangen.
Neben den Übungen des praktischen Lebens dient zur Vorbereitung auf den Schrifterwerb im
genannten Kontext das Training der Schreibmotorik z.B. durch metallene Einsatzfiguren. Dieses Material besteht aus zehn quadratischen rosa Metallplatten mit herausnehmbaren blauen
geometrischen Einsätzen162. Wie auch die Einsatzzylinder haben sie einen Knopf zum Anfassen. Vor allem durch das Ausmalen der Figurenumrisse übt das Kind die für das Schreiben
notwendige Feinmotorik. Für viele andere Sinnesfunktionen, wie etwa den Farbensinn, Tastsinn, Gewichtssinn und den Gehörsinn, gibt es ebenfalls Materialien, die nach den gleichen
Prinzipien aufgebaut sind und in Verbindung mit begrifflichen Übungen stehen. Materialien
zum Training dieser für den Schriftspracherwerb bedeutenden Vorläuferfertigkeiten sind das
Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfindungen und das Material zur Unterscheidung von Dimensionen. Das Material zur Unterscheidung elementarer Sinnesempfin-
160
Diese erfordert nämlich die Zentrierung der Wahrnehmung.
Hierbei wird neben dem Erfassen der Buchstabengestalt auch die Figur-Grund-Wahrnehmung beansprucht.
Ob es sich um einzelne Buchstaben oder um Silben handelt, immer ist die Figur-Grund-Wahrnehmung beteiligt.
Wenn diese nicht gut genug ausgebildet ist, kann sich das auf den Leseprozess und die Rechtschreibung
auswirken. Sofern die verschiedenartigen Auswirkungen von Beeinträchtigungen visueller Wahrnehmung
bekannt sind, kann bei manchen Kindern der Schwerpunkt der Störung anhand von Beobachtungen und
Testergebnissen herausgefunden werden (vgl. Milz 1999, S. 118).
162
Diese sind: Quadrat, Rechteck, Kreis, Ellipse, Trapez, Fünfeck, Kreisbogendreieck, Dreieck und Vierpass.
161
127
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
dungen impliziert neben Sinneseindrücken von Gewicht, Wärme und Farbe auch das Riechen,
Schmecken, Tasten, Hören und Sehen und solche, die durch Oberflächen- und Tiefensensibilität vermittelt werden. Betrachtet man die Entwicklung eines Kindes von der Geburt an bis
zum Schuleintritt, so setzt der Umgang mit den Materialien zur Unterscheidung von Dimensionen und Formen bereits Fähigkeiten voraus, die nur durch die Verarbeitung unterschiedlicher Sinnesempfindungen auf intermodaler Ebene möglich sind. Es findet also sensorische
Integration statt, durch die einzelne Empfindungen zu einem ganzheitlichen Eindruck verarbeitet werden. Dieser Prozess, die sog. intermodale Verarbeitung, geschieht für taktile, kinästhetische, visuelle und auditive Informationen in den sich überlappenden Feldern der Gehirnrinde (vgl. Milz 1999). Differenzierte Wahrnehmung beginnt jedoch bereits innerhalb jedes
einzelnen Sinnesbereiches, die sich immer mehr verfeinernde Analyse eingehender Reize betreffend. Intramodale Verarbeitung im Bereich einer Sinnesmodalität ist an der intermodalen
Verarbeitung beteiligt, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass Montessori bei dem von
ihr erarbeiteten Entwicklungsmaterial auch die Förderung elementarer Sinnesbereiche berücksichtigte, denn differenziertes Wahrnehmen betrifft die Entwicklung aller o.g. Sinnesbereiche.
Montessori hat darauf geachtet, dass beim Umgang mit folgenden Materialien die Wahrnehmung auf jeweils einen Sinnesbereich konzentriert ist (s. Kapitel 8.1.1). Zum Material zur
Unterscheidung von Dimensionen gehören: der rosa Turm, die braune Treppe, die roten Stangen, die Einsatzzylinder sowie die farbigen Zylinder163 (vgl. von Oy 1996). Die Aufgaben zur
Unterscheidung der Dimensionen fördern die Differenzierung sensorischer und motorischer,
visueller und in Verbindung mit der Sprache auch auditiver Eindrücke. Die Arbeitsschritte
laufen jeweils nach der bereits erwähnten Dreistufenlektion ab.
Zum rosa Turm gehören zehn rosa lackierte Holzwürfel mit einer Kantenlänge von 1 x 1 x 1
cm bis 10 x 10 x 10 cm. Das direkte Ziel des Materials rosa Turm ist die Begriffsbildung
„groß/klein“. Das indirekte Ziel besteht aus der Entwicklung der Motorik, der Koordination
der Bewegung und der Bildung von Ordnungsstrukturen, bezüglich der Wortschatzerweiterung sollen die Adjektive „groß/klein“ zusammen mit dem Komparativ und Superlativ verknüpft werden. Beim Umgang mit dem Material rosa Turm wird die unterschiedliche Größe
der einzelnen Würfel propriozeptiv164, taktil-kinästhetisch und visuell empfunden. Im Allgemeinen ist die Differenzierung angesprochen, insbesondere die Differenzierung einer Figur
163
Zu den folgenden detaillierten Ausführungen des Sinnesmaterials vgl. Oy 1996 und u.a. auch Milz 1999.
Das Wort „Propriozeption“ kommt aus dem Lateinischen (proprius = „eigen“, recipere = „aufnehmen“), übersetzt heißt das Eigenwahrnehmung. Das propriozeptive System ist kein eindeutig lokalisierbares Sinnesorgan.
Die Rezeptoren der propriozeptiven Wahrnehmung heißen Propriozeptoren und liegen über den ganzen Körper
verteilt z.B. in den Sehnen, Bändern, Muskeln und Gelenkkapseln.
164
128
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
vor ihrem Hintergrund, die Figur-Grund-Differenzierung sowie das Differenzieren von Größen. Die Materialeigenschaften werden erfahren und mit Hilfe der Sprache erfasst. Durch das
taktile und kinästhetische Abtasten mit den Händen und durch das visuelle Abtasten mit den
Augen wird die Unterbrechung einer Serie wahrgenommen. Wird die visuelle Wahrnehmung
durch das Schließen der Augen verhindert, so konzentrieren sich die Empfindungen auf das
Umgreifen und die dadurch empfundenen Reize. Insgesamt werden die Beziehungen der
Elemente einer Serie zueinander erfahren. Gefördert wird die Verknüpfung von Vorstellungsbild und Vorstellung: das Speichern einer Größenordnung als Vorstellungsbild, das Vergleichen des visuellen Vorstellungsbildes mit den konkreten Gegenständen der gleichen Gruppe
und die Schulung des Gedächtnisses. Außerdem werden erste Erfahrungen mit Schwerpunkt
und Statik erworben. Während das Kind einzelne Würfel aufeinandersetzt, besteht die Möglichkeit zur Beobachtung, ob es bspw. bei der Bewegung der Hand einen leichten Tremor 165
gibt, ob es die Hand zielgerichtet steuern kann und ob es aus der Menge der Würfel immer
den richtigen findet. Diese Beobachtungen dienen in erster Linie als Voraussetzung für eine
gezielte Förderung. Generell sollte bei der beobachtenden Beurteilung der Tätigkeit das Alter
des Kindes berücksichtigt werden und es sollten keine voreiligen diagnostischen Schlüsse
gezogen werden.
Zum Material braune Treppe gehören 10 Holzprismen, die jeweils 20 cm lang und 1 x 1 cm
bis 10 x 10 cm groß sind. Damit schließt sich die braune Treppe dem rosa Turm systematisch
an. Hier lernt das Kind die Unterscheidung von Größenverhältnissen und erweitert seine Ordnungsstrukturen auf der Grundlage eines weiteren Materials. Das direkte Ziel des Materials
braune Treppe ist die Begriffsbildung „dick/dünn“. Als indirekte Ziele sind die Entwicklung
der Motorik, die Koordinierung der Bewegung und die Bildung von Ordnungsstrukturen zu
betrachten. Zur Wortschatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ
trainiert. Zusätzlich kann die akustische Wahrnehmung mit einbezogen werden, indem bspw.
Bälle verschiedenen Materials die Treppe hinuntergerollt werden. Beim Aufbau der Treppe
werden Dicke und Beschaffenheit des Materials beim Umgreifen der einzelnen Quader mit
den Händen taktil-kinästhetisch wahrgenommen. Es gibt die Möglichkeit, den rosa Turm und
die braune Treppe zu kombinieren, da beide Materialien an den Seiten die jeweils gleichen
Maße haben166. Beim Umgang mit dem rosa Turm in Kombination mit der braunen Treppe
werden das Vergleichen und Vorstellen beansprucht. Piaget (1975) geht davon aus, dass der
Übergang von der Wahrnehmung zur anschaulichen Vorstellung bzw. zu einem Vorstellungs-
165
166
Das ist ein Muskelzucken oder ein Zittern.
Jeweils zwei Flächen der Treppe sind quadratisch und passen zu den Würfeln des rosa Turms.
129
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
bild mit einer Übersetzung taktiler Erfahrungen ins Visuelle einhergeht (vgl. Piaget/Inhelder
1975, auch 1990), womit das sog. Visualisieren trainiert wird. Zusätzlich werden durch die
unterschiedlichen Ausmaße und Gewichte propriozeptive Reize im Gehirn gespeichert, sie
führen über taktil-kinästhetische Eindrücke zu räumlichen Vorstellungen. Die Speicherung
sensomotorischer Vorstellungen, also zunächst die Aufnahme sensorischer und motorischer
Erfahrungen, um sie dann aus der Erinnerung handelnd zu reproduzieren, sind wichtige
Übungen zur Festigung räumlicher Erfahrungen, räumlicher Vorstellung und räumlichen
Denkens.
Das Material der roten Stangen besteht aus zehn rot lackierten Holzstangen, die jeweils das
Maß 2,5 x 2,5 cm haben, 10 cm bis 100 cm lang sind und sich gegenseitig ergänzen lassen.
Das direkte Ziel dieses Materials ist die Begriffsbildung „lang/kurz“. Die Entwicklung der
Motorik, die Koordinierung der Bewegung, die Bildung von Ordnungsstrukturen sowie die
Vorbereitung auf die Arbeit mit den numerischen Stangen sind indirekte Ziele. Zur Wortschatzerweiterung werden jeweils der Komparativ und der Superlativ trainiert. Im Umgang
mit den roten Stangen werden gezielt Bereiche der visuellen Wahrnehmungsverarbeitung angesprochen. Es sind die Feinmotorik, die Auge-Hand-Koordination, die Figur-GrundDifferenzierung, die Längenkonstanz, die Raumlage und die Raumbeziehung, das Erkennen
von Abstufungen sowie Gleichmäßigkeiten, die unter dem Aspekt neuropsychologischer Voraussetzungen zur Entwicklung des mathematischen Denkens, aber auch als Voraussetzung
für das Lesen- und Schreibenlernen anzusehen sind. Gleichzeitig werden die sprachliche Verarbeitung und damit das begriffliche Verständnis gefördert. Um räumliche Erfahrungen zu
präzisieren, helfen Begriffe wie „lang“, „länger“, „am längsten“, „kurz“, „kürzer“, „am kürzesten“. Sehen, Sprechen und Handeln in Kombination ermöglichen die mehrkanalige Verarbeitung von Wahrgenommenem, was zu besserer Speicherung und Vorstellung führt.
Die Einsatzzylinder bestehen aus vier Einsatz-Zylinderblöcken mit zehn unterschiedlichen
Zylinderbohrungen und jeweils zehn dazugehörigen Einsatzzylindern. Ein Einsatzblock besteht aus Einsätzen gleichen Durchmessers und zunehmender Höhe, einer aus Einsätzen zunehmenden Durchmessers und gleichbleibender Höhe, einer aus Einsätzen mit zunehmendem
Durchmesser und zunehmender Höhe und einer aus Einsätzen mit abnehmendem Durchmesser und abnehmender Höhe. Das direkte Ziel dieses Materials besteht im Erkennen von Dimensionsunterschieden bei gleichbleibender Form. Es werden Reihen nach vorgegebenen
Ordnungsstrukturen gebildet, Farben sowie Dimensionsunterschiede werden wahrgenommen.
Indirekte Ziele sind die Ausbildung der Feinmotorik der Schreibhand, Vorbereitung auf die
Stifthaltung beim Schreiben und die Bildung von Ordnungsstrukturen im Bereich der Dimensionen. Zur Wortschatzerweiterung werden die Adjektive „dick/dünn“, „hoch/niedrig“,
130
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
„groß/klein“, „tief/flach“ mit dem Komparativ und Superlativ eingeführt und trainiert (vgl.
von Oy 1996, S. 68). Hierbei wird eine Basis für das Erlernen der Rechtschreiblogik gelegt,
da innerhalb einer Wortfamilie der Wortstamm meistens gleich geschrieben wird, und Grammatik (Wortdurchgliederung, Wortart, Komparation) geübt. Der Umgang mit den verschieden
dimensionierten Zylindern fördert besonders das visuelle und taktil-kinästhetische Unterscheiden bzw. das differenzierte Erkennen von Eigenschaften, von abgestuften Reihenfolgen
und von Relationen wie etwa Zusammengehörigkeit, von Gleichheiten und von Gegensätzen.
Zusätzlich werden die Koordination von Auge und Hand, die Figur-Grund-Differenzierung,
das Erkennen räumlicher Strukturen und der Sprachausdruck im Sinne des Gebrauchs von
passenden Adjektiven und des Gebrauchs von Komparativ und Superlativ gefördert. Die Einszu-Eins-Zuordnung der Zylinder in die passenden Öffnungen bildet eine Vorbereitung zum
späteren Abzählen. Durch die taktil-kinästhetische Rückmeldung beim Einsetzen eines Zylinders in eine Öffnung geschieht eine Vorbereitung auf eine Leistung im mathematischen Bereich. Zum Material der farbigen Zylinder gehören vier Aufbewahrungskästen mit verschiedenfarbigen Deckeln, die verschiedene Sätze Zylinder, insgesamt 40, enthalten. Die Farbe
eines jeden Zylindersatzes hat eine besondere Bedeutung. So beinhaltet der blaue Kasten Zylinder gleicher Durchmesser und unterschiedliche Höhe, der rote Kasten beinhaltet Zylinder
unterschiedlichen Durchmessers und gleicher Höhe, der gelbe Kasten beinhaltet Zylinder,
deren Höhe und Durchmesser synchron kleiner werden, und der grüne Kasten beinhaltet Zylinder, deren Höhe und Durchmesser sich gegenläufig verändern. Das Erkennen und Vergleichen nach Seriengesetzen bildet das direkte Ziel dieses Materials, während das indirekte Ziel
das Bilden von Reihen nach selbst gefundenen oder vorgegebenen Ordnungskriterien und das
Erkennen der Gesetze der Statik sind. Die Wortschatzerweiterung gleicht der der Einsatzzylinder.
Hierbei ist allein die visuelle Wahrnehmung angesprochen. Es gibt keine eindeutige sensomotorische Fehlerkontrolle, was neuropsychologisch verstanden eine komplexe Leistung erfordert und wofür die bereits gemachten taktil-kinästhetischen Erfahrungen die Voraussetzung
bilden. Damit wird eine höhere Anforderung an die Wahrnehmungsverarbeitung des Kindes
gestellt. Die farbigen Zylinder können übereinander angeordnet werden, womit die Serialität
nicht nur in der horizontalen, sondern auch in der vertikalen Richtung trainiert wird. Zusätzlich erweitern die Begriffe „unter“, „darüber“, „darunter“ den Wortschatz.
Bei der Arbeit mit den Farbtäfelchen wird bei jedem Training mit nur einer bestimmten Farbe
gearbeitet. Sie sind für das Training von Vorschul- sowie Schulindern geeignet. Das Kind
wird aufgefordert, die Farbtäfelchen nach Farbabstufungen zu sortieren, z.B. die hellgrünen,
grünen, dunkelgrünen. Unter die Farbtäfelchen werden Kärtchen mit dem dazugehörigen Be131
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
griff, in Druckschrift in derselben Farbe geschrieben, gelegt. Für Kinder, die Leseprobleme
haben, werden die Farbtäfelchen und die Wortkärtchen gemischt. Das Kind muss sie richtig
auslegen, zuordnen und benennen. Dann werden die farbig beschriebenen Kärtchen durch
schwarz beschriftete ausgewechselt. Das Kind soll sich an das Wortbild erinnern und es dem
entsprechenden Farbtäfelchen zuordnen. Beherrscht das Kind bereits das Lesen und Schreiben, so wird das Wort mit geschlossenen Augen noch einmal buchstabiert und dann in das
Heft geschrieben. So wird die Beziehung vom abstrakten Wort „grün“ zum konkreten Farbenbild und zum Wortbild hergestellt. Genauso wird mit den anderen Farbabstufungen verfahren. Montessoris Farbtäfelchen bieten weitere Möglichkeiten, die optische Differenzierung
und das optische Gedächtnis zu fördern und somit gleichzeitig zum besseren Lesen und
Schreiben beizutragen, indem eine Reihe von Farbtäfelchen, die zu einer Farbe in verschiedenen Farbabstufungen gehören, vor das Kind gelegt wird. Die beiden kontrastreichsten Täfelchen werden dem Kind gezeigt und auf den Tisch gelegt. Das Kind vergleicht die Farbtäfelchen miteinander und stuft sie gleichmäßig in eine Farbreihe ein. Danach werden die übrigen
Täfelchen ihrer Schattierung entsprechend nacheinander so geordnet, dass eine abgestufte
Farbreihe von hell bis dunkel entsteht (vgl. a.a.O., S. 66.). Die Übung wird mehrmals wiederholt. Das Kind wird aufgefordert, die Farbabstufungen zu benennen, indem es auf ein entsprechendes Kärtchen zeigt und dabei „hell, heller, am hellsten“, „dunkler als“ usw. ausspricht.
Dann werden Kärtchen mit dem entsprechenden Begriff, die in derselben Farbschattierung
beschriftet sind, unter die Farbtäfelchen gelegt, die Begriffe werden gelesen und buchstabiert.
Mit geschlossenen Augen muss das Kind mit dem Zeigefinger der rechten Hand über das aus
Sandpapierbuchstaben ausgelegte Wort fahren. Noch einmal wird mit geschlossenen Augen
buchstabiert. Nachdem das Kärtchen mit den Begriffen vom Kind ausgesucht und dementsprechend zugeordnet und gelesen worden ist, soll es abgeschrieben werden. Schließlich darf
das Kind mit derselben Farbe, mit der gearbeitet wurde, ein Phantasiebild malen, z.B. einen
Kobold mit dunkelgrünen Augen, hellgrünem Haar, einer Mütze in einer anderen Abstufung
der Farbe Grün. Genauso werden das Hemd, die Hose, die Schuhe, die Strümpfe etc. bemalt.
Als zusätzliche Trainingsaufgabe werden die Kärtchen mit den erlernten Begriffen, die in der
Farbe, mit der gearbeitet wurde, beschriftet sind, an einem Ort befestigt, an dem das Kind sie
öfter sehen kann. Es dürfen jeweils nicht mehr als fünf Begriffe sein. Von Vorteil ist, wenn
sie zu einer Wortfamilie gehören, z.B. hellgrün, hell, heller, am hellsten. Zusätzlich kann das
Computer-Programm „Easy-Training“ vom Kärtner Landesverband Legasthenie für die häusliche Förderung dem Training des optischen Gedächtnisses und der optischen Serialität auf
eine ähnliche Weise dienen. Die Übung heißt Opticlick. Nachdem das Programm gestartet
wurde, erscheinen auf dem Monitor zwei Reihen aus je sechs Farbtafeln (hellgrün, hellblau,
132
9 Möglichkeiten elterlich-präventiver Intervention
dunkelgrün, dunkelblau, rot und grau). Die untere Farbreihe wird nach 20 Sekunden ausgeblendet und die Aufgabe für das Kind besteht nun darin, sich die Reihenfolge der unteren
Farbreihe zu merken und sie per Mausklick der oberen Reihe richtig zuzuordnen, ähnlich wie
beim Memory-Spielprinzip.
Beim Umgang mit dem Sinnesmaterial geht es also um die Entwicklung und Förderung einer
differenzierten Wahrnehmungsverarbeitung verschiedener Sinnesempfindungen, wobei unterschiedliche Reifungsebenen und unterschiedlich komplexe Leistungen angesprochen werden.
Diese bauen neuropsychologisch gesehen aufeinander auf, obgleich sie in der Praxis nicht
unbedingt in festgelegter Reihenfolge angeboten werden, da sich die Vorgehensweise nach
der Entwicklungsphase des jeweiligen Kindes zu richten hat. Für Montessori ist die Erziehung
der Sinne (vgl. Montessori 1987, S. 230, 304), die einem biologischen und einem sozialen
Ziel dient, von höchstem pädagogischem Interesse. Das Soziale besteht nach Montessori in
der Vorbereitung des Individuums auf die Umwelt, wobei die biologische Komponente darin
besteht, die natürliche Entwicklung des Kindes zu unterstützen. Der Zweck der Erziehung der
Sinne besteht nach Montessori darin, durch wiederholte Übung eine Verfeinerung in der
Wahrnehmung der Unterschiede der Sinnesreize herbeizuführen. „Sie hat ein Unterrichtsmaterial für die Erziehung der wichtigsten Sinne konstruiert, das dazu dienen soll, dem Kind die
Selbstverbesserung nahe zu legen, indem es Irrtümer ohne Weiteres erkennen lässt“ (Katz
1925, S. 83).
133
10 Abschließende Diskussion
10 Abschließende Diskussion
In den letzten Jahren hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entwicklung des
Lesens und Schreibens sowie mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten einen rasanten Aufschwung erlebt. Mehrere wissenschaftliche Disziplinen befassen sich mit diesem Themenbereich: Sprach- und Kommunikationswissenschaftler ebenso wie Psychologen, Pädagogen und
Mediziner. Dabei wird von einem recht weiten Verständnis von Schriftspracherwerbsschwierigkeiten bzw. Legasthenie ausgegangen. Es handelt sich nicht nur um Schwierigkeiten beim
Worterkennen, also beim Lesen im engeren Sinn, und beim Rechtschreiben als seinem Gegenstück, sondern auch um Schwierigkeiten beim Leseverständnis, beim schriftlichen Ausdruck und beim Schreiben, also bei der motorischen Ausführung selbst. In all diesen Bereichen haben sich neue Entwicklungen abgezeichnet.
Die Schulreife setzt einen gewissen Grad an neuropsychologischer Reife voraus, wie er sich
bspw. auch in der grob- und feinmotorischen Geschicklichkeit und in der Ausbildung einer
Seitigkeit167 darstellt. Spätestens dann, wenn ein Kind in die Schule kommt, sind besonders
die Fähigkeiten im sozialen Bereich wie auch die Voraussetzungen zum Erlernen der Kulturtechniken von Bedeutung. Die Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb sind neben der
motorischen Geschicklichkeit, dem Gedächtnis, der zweckvollen Aktivität und der Raumwahrnehmung auch die Bereiche der visuellen Wahrnehmung, die u.a. Marianne Frostig in
mannigfaltiger Weise beschrieben hat (vgl. u.a. Frostig et al. 1977; Büttner et al. 2008). Sie
sind von entscheidender Bedeutung für das Erlernen des Lesens und Schreibens. Selbstverständlich kommen weitere Fähigkeiten, wie das Gedächtnis, die visuelle Vorstellung, das vorausschauende Planen, also die Antizipation, die Fähigkeit, Denkvorgänge hintereinander
auszuführen, die Fähigkeit zur Umstellung auf neue Aufgabenformen sowie die Anwendung
bestimmter Prinzipien auf wechselnde Situationen hinzu, insbesondere jedoch die Sprache.
Für all diese Fähigkeiten, und damit auch für die kognitive Entwicklung, sind neuropsychologische Prozesse168, im Besonderen funktionierende Sinneswahrnehmungen, die Voraussetzung.
Trotz der Tatsache, dass Legasthenie nicht geheilt werden kann, werden die Kinder und Jugendlichen, die ihre Schulkarriere normal durchlaufen, später auch kein Problem mehr im
Beruf haben. Frühestmögliches Erkennen von Defiziten im Bereich des Schriftspracherwerbs
167
Das ist die Dominanz einer Hemisphäre für bestimmte Funktionen.
Wenn Montessori im Kontext der Erziehung der Sinne von einem biologischen Ziel spricht, ist die neuropsychologische Entwicklung gemeint, die eng in Wechselwirkung mit dem sozialen Ziel steht.
168
134
10 Abschließende Diskussion
und dem Kind das Gefühl des Versagens nehmen zu können, sind wichtige Ziele. Bei legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten handelt es sich um eine Problematik,
die sowohl von individuellen Lernvoraussetzungen als auch von der Umgebung und der Förderung beeinflusst wird. Hierbei ist von einer wechselseitigen Einflussnahme auszugehen.
Von besonderer Bedeutung sind die Fortschritte im Verständnis für die biologischen Grundlagen der Legasthenie. Der Beitrag der Vererbung für das Auftreten der Lernprobleme ist in
den letzten Jahren deutlich sichtbar geworden. Bisherige Untersuchungen weisen darauf hin,
dass ein größerer Teil dieser Risikokinder früh auffällig wird. Hier ergeben sich Chancen für
eine gezielte frühkindliche Prävention legastheniebedingter Probleme beim Schriftspracherwerb. Auch an die weiteren Untersuchungen der neurophysiologischen Grundlagen des Worterkennens knüpfen sich Hoffnungen. Die Messung der hirnphysiologischen Aktivitäten während des Lesens bzw. bei speziellen Aufgaben könnte es in Zukunft erlauben, die Funktionsweise verschiedener Teilprozesse beim Lesen und Schreiben differenzierter zu beurteilen und
damit auch einen Beitrag für die Planung und die Beurteilung der Fortschritte in der Frühförderung zu leisten. Inzwischen wurde eine Vielzahl diagnostischer Methoden, die eine differenzierte Darstellung der Entwicklungsphasen im Lesen und Schreiben und damit eine rationale Planung der Interventionsmaßnahmen ermöglichen sollte, entwickelt. Die breitere Anwendung dieser diagnostischen Methoden sollte im Weiteren zu Fortschritten bei der Individualisierung der Förderung führen.
Hierzu können Eltern einen enormen Beitrag leisten, indem sie eine geeignete Förderung finden. Pädagogen sind die erste Anlaufstelle beim Verdacht auf Schriftspracherwerbsschwierigkeiten bzw. Legasthenie; gemeinsam mit ihnen und mit eventuell zusätzlich hinzuzuziehenden Experten der Gesundheitsebene sollte dann die geeignete Förderung gewählt werden.
Wie gezeigt werden konnte, beschränkt sich die Förderung legasthener Kinder nicht lediglich
auf ein Training im Symptombereich, also des Lesens und Schreibens. Da Legasthenie auch
gravierende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, muss neben der Förderung
des Schriftspracherwerbs auch eine Erhöhung des Selbstwertgefühls und emotionaler Stabilität ein bedeutendes Behandlungsziel sein. Folglich integriert ein umfassendes Trainingskonzept neben institutioneller Hilfe auch den Bereich des Elternhauses. Die Eltern werden bei der
häuslichen Frühförderung von Pädagogen unterstützt, sie haben so die Möglichkeit, durch
eine nach sonder- oder heilpädagogischen Grundsätzen aufgebaute Förderung auf die individuellen Schwächen und Stärken des Kindes einzugehen. Das Elternhaus kann Teilbereiche
der Förderung übernehmen. Für jedes Kind wird in diesem Fall ein individuelles Trainingsprogramm zusammengestellt. Ausschlaggebend für den Erfolg der Behandlung sind die Unterstützung und der Rückhalt in der Familie. Das Ausmaß emotionaler Unterstützung, das die
135
10 Abschließende Diskussion
Kinder in ihrer jeweiligen Familie bekommen, beeinflusst wesentlich die Fortschritte beim
Erlernen des Lesens und Schreibens. Von unmittelbarer Bedeutung sind hier sowohl das Fehlen einer kritischen Haltung seitens der Eltern als auch das Ausmaß an positiver Unterstützung, Motivation und Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung169. So können sich positive Effekte wie Konzentration und Ruhe einstellen. Gelingt es, Abneigung und Ängste gegenüber
allem Schriftsprachlichen aufzulösen und Lernzuversicht bzw. Motivation zu vermitteln, so
werden sich bei der Förderung des Schriftspracherwerbs Erfolge einstellen. Wie Längsschnittstudien gezeigt haben, ist die Unterstützung durch das Elternhaus für die langfristige Schriftspracherwerbsentwicklung des legasthenen Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. Unter
diesem Aspekt ist eine außerschulische Betreuung von allen Kindern mit einer ausgeprägten
Legasthenie erforderlich. Statt das Lernen als etwas Unmögliches anzusehen, kann das Kind
auf diese Weise begreifen, dass es seine eigene Lernsituation durch bestimmte Methoden verbessern kann.
Maria Montessori hat das Kind in ihrer Pädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter heute
noch aktuellen Aspekten betrachtet, die deutliche Parallelen zu den derzeit favorisierten systematisch-konstruktivistischen Denkmodellen aufweisen, sie hat damit weit mehr an „pädagogischem Erbe“ hinterlassen als nur eine Methode. Die Montessori-Pädagogik ist pädagogische Theorie, Erziehungskonzeption und Praxismethode. Nicht nur für die frühkindlichen
Fördermaßnahmen im Rahmen allgemeiner Erziehung, sondern besonders auch für die Ansätze und Möglichkeiten der Prävention legastheniebedingter Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb bedarf es einer Öffnung und Weiterentwicklung ihrer Gedanken. In diesem Sinne bestehen vielerlei Möglichkeiten der pädagogisch-didaktischen Frühförderung legasthener
Kinder, nicht nur in institutionellen Einrichtungen, sondern auch für elterlich-präventive Intervention.
Im Gesamtgebiet der Legasthenieforschung ist die frühkindliche pädagogisch-didaktische
Intervention bei legasthenen Kindern immer noch ein relativ vernachlässigter Bereich. Jedoch
haben sich auch hier wesentliche Fortschritte ergeben. Es ist zu beobachten, dass sich die Situation zunehmend verbessert, da es vielen Menschen gelingt, sich von althergebrachten Stereotypen zu befreien. Ein besonderer Akzent wurde auf die Frühförderung und die Prävention
von legastheniebedingten Schriftspracherwerbsschwierigkeiten in der Vorschulzeit bzw. in
den ersten Phasen des Erstleseunterrichts gelegt. Es ist klar geworden, dass die frühkindliche
169
Sowohl die Geduld des Kindes als auch die Geduld der Mutter sollte nicht zu sehr strapaziert werden. Beim
Üben bzw. bei den Hausaufgaben ist es daher wichtig, sich bei der Reihenfolge der Aufgaben nach dem Kind zu
richten (manche möchten mit den leichteren beginnen, andere möchten zuerst die schweren hinter sich bringen).
136
10 Abschließende Diskussion
Förderung legasthener Kinder intensive Formen der Unterstützung braucht, damit die Kinder
Fortschritte beim Schriftspracherwerb machen. Um eine optimale individuelle Förderung legasthener Kinder zu ermöglichen, werden auch andere Organisationsformen als die schulische
Förderung im Kurssystem benötigt.
Durch fächerübergreifende Hilfestellungen, besonderes bei Auftreten von Begleit- und Sekundärproblemen, können die Möglichkeiten und Grenzen professioneller Pädagogen deutlich
besser und sinnvoller eingeschätzt werden. Dies kann sowohl zu einem realen Selbstbild als
auch zu einer realistischen Einschätzung durch die Gesellschaft in Hinblick auf die pädagogischen Leistungen führen. Zudem sollte durch die Akzeptanz der Verwobenheit der Lernprozesse, u.a. mit den Rahmenbedingungen, auch der Blick für die Bedingungen, unter denen
professionelles pädagogisches Handeln häufig stattfinden muss, geschärft werden.
Die Legasthenie ist als eine Normvariante menschlicher Begabung, als eine andere geistige
Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten zu betrachten. Es bedarf noch intensiver Aufklärungsarbeit, um eine Akzeptanz in Gesellschaft, Kultur und - ein nicht zu unterschätzender
Faktor - in der Politik zu erreichen. Vor allem die Politik wird in Zukunft die Augen vor der
Tatsache, dass circa 15% der Weltbevölkerung bereits unter Legasthenie leiden, nicht verschließen können. Es ist zu hoffen, dass es zu einem gänzlichen Umdenken hinsichtlich des
gesellschaftlichen Verständnisses der Legasthenieproblematik kommt und diese als pädagogisch-didaktisches Interventionsgebiet betrachtet wird. Zudem ist es wünschenswert, dass sich
die Gesellschaft wie auch die verschiedenen forschenden Disziplinen weiterhin vermehrt aus
einem pädagogischen Verständnis heraus mit der Problematik der Legasthenie beschäftigen.
Hier lassen sich viele neue Wege entdecken, wie legasthenen Kindern beim Schriftspracherwerb besser geholfen werden kann – und daher mag sich die Anstrengung lohnen.
Hinter dieser Arbeit stand keinesfalls die Option einer Degradierung neuropsychologischer
bzw. therapeutischer und alternativer behandelnder Interventionen bei Legasthenie. Vielmehr
soll ein Anstoß zur vermehrten Anwendung von Maßnahmen zur unterstützenden präventiven
Förderung und zur pädagogisch-didaktischen Intervention bei legasthenen Kindern, vor allem
von Seiten der Eltern, gegeben werden, um die Erfolgschancen für alle Betroffenen zu erhöhen. Ich hoffe, mit der vorliegenden Arbeit einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Umdenken in Bezug auf das Verständnis von Legasthenie und die damit in Zusammenhang stehenden Schriftspracherwerbsschwierigkeiten geleistet zu haben. Es war mir auch ein Anliegen, die wichtige Funktion der Berufsgruppe der Vorschulpädagogen zu betonen: Pädagogen
sind „Mitformer“ der zukünftigen Gesellschaft, und in diesem Kontext sollte auch ihre Arbeit
gesehen werden.
137
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Anhang
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Quelle: Ayres 1984
157
Abb. 3: Das Logogenmodell nach Morton in überarbeiteter Version nach Ellis
Quelle: zit. nach Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995, S. 98170.
170
Die neben den Verbindungspfeilen befindlichen Abkürzungen geben die Art der weitergegebenen
Informationen an visuell, akustisch, grammatikalisch, semantisch, phonemisch, lexikalisch, als motorisches
Muster von Graphemen und kinästhetisch.
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Abb. 4: Das Grundgerüst der Montessori-Pädagogik
Quelle: Hagemann/Börner 2009, S. 20
Abb. 5: Das Drei-Phasen/Sechs-Stufen-Modell des Erwerbs von Lesen und Schreiben nach Frith
Quelle: Graf 1994, S. 108
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Abb. 6: Persönlichkeitskonstitution
Quelle: Holtstiege 2009, S. 66
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Abb. 7: AFS-Methode im visualisierten Überblick nach Kopp-Duller
Quelle: Kopp-Duller 2008a, S. 42
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Abb. 8: Verlauf des Wahrnehmungsprozesses
Eigene Darstellung in Anlehnung an Zimmer 2005, S. 47
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