16 - Allgemeinmedizin

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16 - Allgemeinmedizin
237
Warum unabhängige
Arzneimittelzeitschriften und
Fortbildungsveranstaltungen
wichtig sind
Jörg Schaaber, Michael M. Kochen, Bruno Müller-Oerlinghausen
und Wilhelm Niebling
16.1
Einleitung – 238
16.2
Warum ist es schwierig, die richtigen Informationen zu
finden? – 239
16.2.1
16.2.2
16.2.3
16.2.4
16.2.5
16.2.6
Publication bias – 240
Ghostwriting und ghost management – 241
Verschweigen von Interessenkonflikten – 242
Sponsoring beeinflusst Ergebnisse – 242
Pharmavertreter und Nachdrucke – 243
Aus-, Fort- und Weiterbildung – 243
16.3
Die Spreu vom Weizen trennen – 244
16.3.1
16.3.2
16.3.3
16.3.4
16.3.5
Unabhängige Arzneimittelzeitschriften – 244
Zeitschriften für Patienten – 245
Nachschlagewerke und aktuelle Informationen – 246
Andere Informationsquellen – 248
Fortbildungen – 250
16.4
Fazit und Ausblick – 250
Literatur – 250
K. Lieb et al (Hrsg.), Interessenkonfl ikte in der Medizin, DOI 10.1007/978-3-642-19842-7_16,
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
16
238
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
Zu Einführung
Medizinisches Wissen entwickelt sich schnell. Kaum
ein praktizierender Arzt hat die Zeit, alle für seine
Arbeitsschwerpunkte wichtigen publizierten Originalstudien zu finden und zu lesen. Deshalb kommt
unabhängigen Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungen als neutralen Mittlern zwischen Wissenschaft und Praxis eine wichtige Rolle zu.1 Zahlreiche
Faktoren tragen zur Verzerrung der berichteten Ergebnisse bei und machen eine Interpretation der
praktischen Relevanz für die Patientenvorsorgung
schwierig. In diesem Kapitel wird gezeigt, dass
kommerzielle Interessen für den Hersteller unvorteilhafte Studiendaten unterdrücken und dadurch
die öffentliche Wahrnehmung der Bedeutung von
neuen Medikamenten, Diagnose- oder Behandlungsmethoden gezielt beeinflusst wird. Möglichkeiten, sich mit unverzerrter und praxisnaher Information zu versorgen, werden vorgestellt.
Studie behaftet. Andere für die Praxis wichtige Fragestellungen, wie z. B. die Behandlung multimorbider Patienten, werden erst gar nicht untersucht,
weil es dafür keinen kommerziellen Anreiz gibt.
Die Ergebnisse von Arzneimittelstudien sollen
eigentlich eine optimale Therapie von Patienten
unterstützen. Sie können aber auch ganz anderen
Zwecken dienen. Kommerzielle Interessen können
das Ziel einer Verbesserung der Patientenversorgung konterkarieren. Dazu einige Beispiele:
z
Beispiel 1
Die Firma Pfizer schrieb in einer Präsentation für
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Vermarktung des Antidepressivums Sertralin (Spielmans u. Perry 2010):
» Purpose of data is to support, directly or indirectly, marketing of our product. «
Darunter verstand sie unter anderem:
16.1
Einleitung
Jährlich erscheinen in über 20.000 medizinischen
Fachzeitschriften fast eine Million Artikel, und die
größte medizinische Datenbank »Medline« wächst
täglich um knapp 2.000 Einträge (US Library of
Medicine 2011). Kein Arzt kann auf sich gestellt aus
diesem Wust an Neuigkeiten die für ihn sinnvollen
Informationen herausfiltern und gezielt für seine
ärztliche Tätigkeit nutzen. Es bedarf also anderer
Hilfsmittel oder Instrumente, um die für den klinischen Alltag wichtigen Informationen zu identifizieren und sinnvoll aufzubereiten.
16
> Kein Arzt kann auf sich gestellt aus dem
Wust an Neuigkeiten die für ihn sinnvollen
Informationen herausfiltern.
Dazu kommen weitere entscheidende Schwierigkeiten: Keineswegs alle klinischen Forschungsergebnisse sind für die Versorgung von Patienten
relevant. Zahlreiche Veröffentlichungen sind interessengesteuert und die Darstellung der Ergebnisse
oft mit Verzerrungen im Sinne des Sponsors der
» … publications that can be utilized to support
off-label dissemination. «
Ein Beispiel für ein internes Memo als Material für
die Mitarbeiter zeigt . Abb. 16.1.
z
» Per S[enio]r. M[ana]g[e]m[en]t request, these
data should not see the light of day to anyone outside of GSK. «
Was war passiert? Der Hersteller hatte in einer Studie Rosiglitazon mit Pioglitazon verglichen. Dabei
schnitt das Konkurrenzpräparat nicht nur gleichwertig ab, sondern es gab sogar klare Signale, dass
Rosiglitazon schädlicher für das Herz ist. Die Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht.
z
1
Über die Bedeutung von Leitlinien wird an anderer
Stelle in diesem Buch berichtet (7 Kap. 7).
Beispiel 2
Über das inzwischen – wegen des erhöhten Herzinfarktrisikos – verbotene Diabetesmittel Rosiglitazon kursierte schon 2001 folgende E-Mail (Harris 2010):
Beispiel 3
Auch hohe Strafen halten Firmen nicht von illegalen
Vermarktungspraktiken ab. So zahlte Pfizer 2009
16.2 • Warum ist es schwierig, die richtigen Informationen zu finden?
. Abb. 16.1 Internes Memo von Pfizer zur Vermarktung
von Sertraline. (Aus Spielmans u. Perry 2010)
in den USA eine Rekordstrafe von US $ 2,3 Mrd.
für die Bewerbung von 4 Medikamenten für nicht
zugelassene Indikationen (Off-Label Promotion).
Doch offensichtlich schmerzen solche Strafen nicht
genug. Sie mögen auf den ersten Blick hoch sein,
doch die Summe von US $ 2,3 Mrd. entspricht dem
Umsatz von Pfizer von weniger als 3 Wochen. Vor
allem aber hatte Pfizer genau in dem Zeitraum,
als es die jetzt geahndeten Verstöße beging, Verhandlungen über die Vermarktung eines anderen
Medikaments (Gabapentin) für nicht zugelassene
Indikationen geführt und damals versprochen, solche illegalen Praktiken sofort einzustellen (Newman 2010).
Diese Beispiele machen schon deutlich, dass
Marketingstrategien ein wichtiger Beeinflussungsfaktor für Therapieentscheidungen sind. Ziel aus
Sicht der Hersteller ist es, in mehreren Schritten
Einfluss zu nehmen: Zunächst gilt es, auf das Produkt aufmerksam zu machen, dann den Arzt dazu
zu bewegen, sich mit dem Mittel näher zu beschäftigen, es auszuprobieren, es zu verschreiben und
es schließlich zur Routineverordnung zu machen.
Um dieses Ziel zu erreichen, setzen Firmen unterschiedlichste Instrumente von offener Werbung
bis hin zu »eingekauften« medizinischen Meinungsführern (opinion leaders) ein. Dabei gelten
verdeckte, schwer zu durchschauende Werbemethoden als am erfolgreichsten (Mello et al. 2009).
Dazu zählt die Meinung von Fachkollegen. Nicht
zuletzt deshalb hat sich von 1999–2004 in den USA
die Zahl der von der Industrie gesponserten Fachvorträge von Ärzten vervierfacht (Caplovitz 2006).
Im Jahr 2010 zahlten 8 Firmen in den USA rund
US $ 275 Mio. für Vortragshonorare und Beratung
an Ärzte. Diese Firmen decken rund ein Drittel des
239
16
Marktes ab und wurden durch Gerichtsbeschluss
zur Offenlegung gezwungen. Ab 2013 müssen alle
Firmen in den USA solche Zahlungen bekannt geben (Pro Publica 2011). Die Rolle von (kleinen) Geschenken auf die Meinungsbildung sollte ebenfalls
nicht unterschätzt werden (Katz et al. 2010). Auf
Manipulationen bei wissenschaftlichen Artikeln
wird im nächsten Abschnitt ausführlicher eingegangen, da sie ja die wichtigste Informationsquelle
für rationale Therapieentscheidungen darstellen.
> Gesponserte Fachvorträge sind ein wichtiges Marketinginstrument.
Da Informationen über Arzneimittel zahlreichen
Störfaktoren (verzerrte Darstellung, Interessenkonflikte usw.) ausgesetzt sein können, ist es essentiell,
objektive Quellen für die vergleichende Bewertung
von Medikamenten zu finden«
16.2
Warum ist es schwierig, die
richtigen Informationen zu
finden?
Wie kann man der Informationsflut Herr werden?
Beispielhaft sei hier ein typisches Beispiel einer
Arzneimittelbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit in Gesundheitswesen
(IQWiG) genannt. Die Literaturrecherche zu langwirksamen Insulinanaloga zur Behandlung des
Diabetes mellitus Typ 1 in 3 medizinischen Datenbanken ergab zunächst 3030 Treffer, davon waren
allerdings 1279 Duplikate. Bei den verbleibenden
1751 handelt es sich aber in den meisten Fällen gar
nicht um klinische Studien. Um das zu überprüfen, mussten alle Abstracts durchgelesen werden.
Letztlich blieben 38 Studien übrig, von denen aber
wiederum die meisten (23) nicht den geforderten
Einschlusskriterien entsprachen (IQWiG 2010).
Die Durchführung eines solchen Filterprozesses
ist so zeitaufwendig, dass sie sich mit dem beruflichen Alltag eines voll praktizierenden Arztes nicht
vereinbaren lässt. Aber das ist noch das geringste
Problem, denn es gibt eine ganze Reihe weiterer
Faktoren, die eine ausgewogene Bewertung von
Arzneimitteln erschweren (s. auch die ausführliche
Darstellung der Auswirkungen von Interessenkonflikten auf Arzneimittelstudien in 7 Kap. 18).
240
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
Unterschiede in der Beurteilung der Wirksamkeit von Antidepressiva
Veröffentlichte Bewertungen
FDA Bewertung
50
50
45
45
5
40
40
6
1
35
35
30
30
25
25
20
20
37
37
37
37
16
16
15
10
15
10
6
5
5
5
6
3
positiv
fraglich
Veröffentlicht
. Abb. 16.2
16.2.1
16
3
0
0
negativ
Veröffentlicht, widerspricht
der FDA-Bewertung
positiv
fraglich
negativ
Nicht veröffentlicht
Unterschiede in der Beurteilung der Wirksamkeit von Antidepressiva. (Mod. nach Turner 2008)
Publication bias
Längst nicht alle Studienergebnisse werden veröffentlicht. Das kann zu einer erheblichen Überschätzung des Nutzens neuer Interventionen
führen. Turner et al. (2008) verglichen die Daten,
die der US-Zulassungsbehörde FDA zu 12 Antidepressiva vorlagen, mit den Veröffentlichungen
zu diesen Medikamenten. Nur bei der Hälfte der
insgesamt 74 Studien sah die FDA eine Wirksamkeit der Antidepressiva als belegt an. Während aber
die 38 »positiven« Studien mit einer Ausnahme
alle veröffentlicht wurden, blieben die Hälfte der
12 Studien mit zweifelhaften Ergebnissen und zwei
Drittel der 24 »negativen« Studien unveröffentlicht.
Durch diesen publication bias entstand also der
falsche Eindruck, dass 94 % aller Studien zu diesen
Antidepressiva eine Wirksamkeit belegen. Hierzu
s. . Abb. 16.2.
Eine solche selektive Veröffentlichung kann
negative Auswirkungen auf praktische ärztliche
Entscheidungen haben. Kirsch et al. (2008) untersuchten für 4 dieser Antidepressiva, für die bei der
FDA ausreichend Daten vorlagen, die Wirksamkeit
in Abhängigkeit von der Schwere der Depression.
Dabei zeigte sich, dass bei leichten Depressionen
keine klinisch relevante Verbesserung zu erkennen
war. Betrachteten sie dagegen nur die publizierten
Daten, wirkten die Mittel bei leichten Depressionen
deutlich »besser«.
241
16.2 • Warum ist es schwierig, die richtigen Informationen zu finden?
Im Extremfall kann der publication bias dazu
führen, dass eine Wirksamkeit nur vorgetäuscht
wird. Das war bei dem Antidepressivum Reboxetin der Fall. Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesauschusses, der über die Erstattungsfähigkeit
von Arzneimitteln zu Lasten der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) entscheidet, bewertete das IQWiG den Nutzen dieses Wirkstoffs. Von
13 Studien waren 8 nicht publiziert worden, und die
entsprechenden Daten wurden von der Herstellerfirma Pfizer erst zur Verfügung gestellt, nachdem
das IQWiG öffentlich Druck gemacht hatte. Nach
Auswertung aller Daten blieb nur der Schluss, dass
Reboxetin ein nicht wirksames und potenziell riskantes Arzneimittel ist (Eyding et al. 2010).
So führt der publication bias dazu, dass möglicherweise die falschen Patienten behandelt oder
Patienten mit den falschen Mitteln behandelt werden.
Ein zu wenig beachteter Aspekt von publication
bias ist die selektive Darstellung von Ergebnissen.
Die meisten Studien messen mehrere primäre und
sekundäre Endpunkte, in den Veröffentlichungen
wird dann aber nicht selten nur über eine Auswahl
berichtet. Auf diese Weise können unvorteilhafte
Ergebnisse verschwiegen werden (McGauran et al.
2010).
Ewart et al. (2009) haben systematisch untersucht, ob die in Fachzeitschriften publizierten Studienergebnisse mit den ursprünglich geplanten
Untersuchungszielen übereinstimmen. Bei jeder
dritten der 110 ausgewerteten Studien wurden primäre Endpunkte verändert. Am häufigsten wurden ursprünglich geplante Auswertungen schlicht
unterschlagen, bei 10 Studien wurde ein neuer
ungeplanter primärer Endpunkt hinzugefügt. Bei
70 % aller Studien gab es Veränderungen bei den
sekundären Endpunkten.
> Das selektive Berichten von Studienergebnissen zeichnet ein zu positives Bild von
Arzneimitteln.
Deshalb wäre es notwendig, die Veröffentlichung
von Studienprotokollen vor Beginn einer Studie
zwingend vorzuschreiben, um solche Manipulationen zu erschweren. Ein erster Schritt dazu ist mit
der nach jahrelanger Verzögerung im März 2011
freigeschalteten europäischen EudraCT-Daten-
16
bank getan (www.clinicaltrialsregister.eu/). Dort
werden sekundäre Endpunkte allerdings bislang
ebenso wenig aufgelistet wie die Protokolle älterer
Studien. Zeitschriften, die klinische Studien veröffentlichen, sollten verlangen, dass das ursprüngliche Studienprotokoll vorgelegt wird und eine selektive Berichterstattung unterbinden.
16.2.2
Ghostwriting und ghost
management
Pharmazeutische Unternehmer wollen gern die
Kontrolle über die Veröffentlichung der von ihnen
gesponserten Studien haben. Deshalb werden Studienpublikationen oft von sog. Ghostwritern verfasst, welche die Interessen des Herstellers in den
Vordergrund stellen. Um die Akzeptanz in der Öffentlichkeit zu erhöhen, werden später externe Autoren gesucht, die ihren Namen auf den Artikel setzen, ohne wesentlich zu ihm beigetragen zu haben.
Sie werden deshalb als »ghost authors« bezeichnet.
Die systematische Form der Publikationsplanung
wird als »ghost management« bezeichnet. Darunter
verstehen Sismondo u. Doucet (2010) die gezielte
Steuerung der öffentlichen Präsentation von Studien zur Maximierung des Umsatzes:
» We apply the term ghost management when
pharmaceutical companies and their agents control or shape several crucial steps in the research,
writing, and publication of articles: these articles
are ghostly because signs of their actual production are largely invisible, and managed because
the companies shape the eventual message conveyed by the article or suite of articles. … Ghost
management makes apparently scientific research
a marketing tool. «
Besonders bedenklich ist, dass auch große Verlage,
die medizinische Fachzeitschriften herausgeben,
selbst Firmen betreiben, die ghost management
anbieten (Pharma-Brief 2009).
Welches Ausmaß das ghost management annehmen kann, zeigt eine Recherche in Gerichtsdokumenten zu Rofecoxib (Vioxx) (Ross et al. 2008).
Das Schmerzmittel musste vom Markt genommen
werden, weil es Herz-Kreislauferkrankungen aus-
242
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
löste. Diese Erkenntnis hatte der Hersteller aber
lange erfolgreich unterdrückt. Dazu beigetragen
haben mag die vom Hersteller gesteuerte Publikationspraxis. Bei 24 frühen von Merck&Co gesponserten klinischen Studien hatte die Firma einen
eigenen Mitarbeiter als Hauptautor verpflichtet.
Die Studienergebnisse wurden in 20 Veröffentlichungen publiziert. Bei 14 der Veröffentlichungen
tauchte der hauptverantwortliche Firmenmitarbeiter im veröffentlichten Artikel nur an nachgeordneter Stelle auf, in 2 Fällen gar nicht. 77 % der ersten
3 Autorenplätze in den veröffentlichten Artikeln
wurden von externen akademischen Autoren eingenommen, die erst einbezogen wurden, als die
Manuskripte fertig waren, und die mithin zu dem
Artikel wenig beigetragen hatten. Interne Firmendokumente belegen diese Praxis im Detail.
Ghost management orientiert sich an den Umsatzerwartungen des Herstellers und nicht am gesicherten Nutzen. Wyeth beauftragte die PR-Firma
DesignWrite mit der Vermarktung seines Produkts
zur Hormonersatztherapie. In einem Konzeptpapier an den Hersteller listet DesignWrite die
»ungelösten Fragen« auf. Dazu gehört als zweiter
Punkt: »HRT bleibt ein Medikament auf der Suche nach einer Krankheit« (DesignWrite 1997). Das
hielt weder Wyeth noch DesignWrite davon ab,
Hormontherapie als Mittel gegen alle möglichen
Krankheiten anzupreisen (Fugh-Berman 2011).
> Die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse wird durch das Marketing gezielt
gesteuert.
16.2.3
16
Verschweigen von Interessenkonflikten
Bei Review-Artikeln zu Rofecoxib spielten die
von Merck &Co beauftragten Publikationsfirmen
(ghost management) eine wichtige Rolle. Die
Unterstützung durch den Hersteller war in vielen
Publikationen aber entweder gar nicht zu erkennen
oder gut versteckt (Ross et al. 2008).
Chimonas, Frosch und Rothman (2011) untersuchten 95 Publikationen von 40 Autoren, die als
»Berater« laut Angaben von 5 Herstellern orthopädischer Produkte im Jahre 2007 jeweils mehr
als eine Million US-Dollar erhalten hatten. In weniger als der Hälfte der Artikel (46 %) waren die
Interessenkonflikte angegeben. Von 27 Autoren,
die mehr als einen Artikel publizierten, gaben nur
4 den Sponsor stets an, 14 Autoren taten dies nur
gelegentlich, und 9 erwähnten nie den Sponsor. Beunruhigend ist, dass Fachzeitschriften mit rigiden
Regelungen bezüglich der Angabe von Interessenkonflikten nicht besser abschnitten.
16.2.4
Sponsoring beeinflusst
Ergebnisse
Garattini et al. (2010) verglichen systematisch die
Ergebnisse von pharmaökonomischen Studien im
Hinblick auf den Einfluss ihrer Finanzierungsquellen. Während nur die Hälfte der unabhängig durchgeführten Studien zu dem Ergebnis kam, dass die
untersuchte medizinische Intervention kosteneffektiv sei, war das bei industriegeförderten Bewertungen bei 95 % der Fall. Eine aktuelle Übersichtsarbeit
von Schott et al. (2010a, 2010b) zeigt konsistent den
negativen Einfluss des Pharma-Sponsoring auf die
Ergebnisdarstellung – und damit letztendlich auf
das ärztliche Verschreibungsverhalten.
Gravierende Unterschiede in der Bewertung
des Nutzens kontrovers diskutierter Arzneimittel
bzw. Arzneimittelgruppen (z. B. Cholinesterasehemmer, Glitazon-Antidiabetika, Insulinanaloga)
ergaben sich bei der systematischen Auswertung
von Artikeln, die im Jahr 2007 in 11 deutschen
Fachzeitschriften publiziert wurden. Während die
5 über Werbung finanzierten, kostenlos verbreiteten Zeitschriften in fast allen Artikeln eine starke
(91,8 %) oder moderate (7,0 %) Empfehlung für
das bewertete Arzneimittel aussprachen, rieten
die 5 werbefreien, über Abonnements finanzierten
Zeitschriften, darunter 3 unabhängige Arzneimittelbulletins, meistens (82,3 % der Artikel) von der
Verordnung dieser Arzneimittel ab. Im Deutschen
Ärzteblatt mit gemischter Finanzierung über Werbung und Abonnements fand sich (bei allerdings
nur 7 analysierten Artikeln zu Arzneimitteln) deutlich häufiger eine positive als eine negative Bewertung (Becker et al. 2011). Der Abdruck einer Anzeige verdoppelte in 2 über Werbung finanzierten
Zeitschriften die Wahrscheinlichkeit einer positi-
243
16.2 • Warum ist es schwierig, die richtigen Informationen zu finden?
ven Bewertung des entsprechenden Arzneimittels
in der derselben Ausgabe der Zeitschrift. Ausführliche Informationen zum Thema Sponsoring finden
sich in 7 Kap. 19.
16.2.5
Pharmavertreter und
Nachdrucke
Systematische Untersuchungen zeigen, dass Pharmavertreter keine zuverlässige Informationsquelle
sind. Die französische Zeitschrift Prescrire hat über
15 Jahre ein Netzwerk von Ärzten die Besuche von
Pharmavertretern auswerten lassen. Rund ein Drittel der Vertreter erwähnte Anwendungsgebiete, die
nicht der Zulassung entsprachen (off-label use).
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen erwähnten
dagegen zwei Drittel der Vertreter nicht spontan.
Die Schlussfolgerung der Zeitschrift (Prescrire
2006):
» 15 years of monitoring and one simple conclusion: don’t expect sales representatives to help
improve healthcare quality. «
Das Verteilen von Nachdrucken aus Fachzeitschriften erscheint auf den ersten Blick als neutrale
Information von Pharmavertretern. Die »Neutralität« muss allerdings in Frage gestellt werden, da
es sich hier um die gezielte Weitergabe von für
den Hersteller günstigen Aussagen handelt. So entsteht ein verzerrtes Bild. Übrigens profitieren auch
die Fachzeitschriften selbst von solchen Nachdrucken. Lundh et al. (2010) fanden für fünf angesehene internationale Fachzeitschriften heraus, dass
Nachdrucke zwischen 7 % und 41 % der Gesamteinnahmen der Zeitschriften ausmachten. Das
New England Journal of Medicine verkaufte rund
eine Million Kopien des Artikels zur Vigor-Studie
(Rofecoxib). Bei Nachdrucken handelt es sich um
leicht verdientes Geld, denn die Kosten sind gering,
die Einnahmen aber hoch. Richard Smith, der ehemalige Herausgeber des BMJ schreibt zu der Frage,
ob es attraktiv sei, eine industriegesponserte Studie
zu veröffentlichen (Smith 2010):
» Very few actions in business provide such substantial profit from so little. Deciding whether to
16
publish such a paper provides a stark conflict of
interest because editors have to think a lot about
money. «
Hinzu kommt, dass durch das großzügige Verteilen
von Sonderdrucken industriegesponserte Artikel
wesentlich häufiger zitiert werden. Damit steigern
die Zeitschriften ihren »impact factor« erheblich –
ein wichtiges Maß für den (wirtschaftlichen) Erfolg
einer Fachzeitschrift (Lund et al. 2010).
16.2.6
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Die Erkenntnis, dass Beeinflussungsversuche
durch Arzneimittelhersteller zum Alltag gehören,
und wie man sich davor am besten schützen kann,
sollte bereits während des Medizinstudiums verankert werden. Dazu wurde von »Health Action
International« in Zusammenarbeit mit der WHO
ein Curriculum entwickelt (WHO u. HAI 2010).
Die Heilberufsgesetze sowie die Ärztliche Berufsordnung der jeweiligen Landesärztekammern
verpflichten Ärzte zur regelmäßigen Fortbildung.
Die Einführung eines bundesweiten einheitlichen
Fortbildungsnachweises (zunächst auf freiwilliger
Basis) wurde 1999 durch den 102. Deutschen Ärztetag beschlossen. Mit dem »Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung« –
GMG vom 1. Januar 2004 – wurden Vertragsärzte
und ermächtigte Krankenhausärzte verpflichtet,
innerhalb von 5 Jahren 250 Fortbildungspunkte
und damit ein entsprechendes Zertifikat der ärztlichen Selbstverwaltung zu erwerben (SGB V § 95d).
Ärztliche Fortbildungen und deren Zertifizierung
liegen im Zuständigkeitsbereich der Kammern,
die satzungsgemäß erhebliche Beitragsmittel ihrer
(Zwangs-) Mitglieder für eine »interessenfreie«
Fortbildung einsetzen. In der Realität wird jedoch
nach wie vor ein erheblicher Teil der ärztlichen
Fortbildung durch Arzneimittelindustrie und Medizinproduktehersteller finanziert (Transparency International 2008). Die ursprünglich mit der
Einführung der oben erwähnten gesetzlichen Regelungen und Beschlüsse bzw. der Empfehlungen
der Ärztlichen Selbstverwaltung verbundenen Befürchtungen der Industrie, Einfluss auf das Verordnungsverhalten von Ärzten zu verlieren, hat sich als
244
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
unbegründet erwiesen. Nach wie vor werden Kongresse und Tagungen, auch die von renommierten
wissenschaftlichen Fachgesellschaften, zu erheblichen Teilen von der Industrie finanziert und von
den Ärztekammern zertifiziert (»bepunktet«). Diese finanziellen Aufwendungen – dazu gehören auch
die Honorare für die Vortragenden – sind jedoch
kein »verlorenes Investment«. Hinlänglich bekannt
ist, dass – entgegen der Selbstwahrnehmung von
Ärzten – Pharmasponsoring deren Einstellungen
und Verhalten beeinflusst und verändert (Schneider u. Lückmann 2008). Letztlich ist industriegesponserte Fortbildung keineswegs kostengünstig.
Sie wird durch überhöhte Arzneimittel- oder Medizinproduktepreise bezahlt und kann überdies
auch zu suboptimalen Therapieentscheidungen
beitragen.
Ein besonderer Bereich der Beeinflussung sind
die immer populärer werdenden Online-Fortbildungen. Diese mögen bequem sein, sind aber
nicht ohne Risiken. Nach Schätzungen liegen 90 %
der Online-Fortbildungen in der Hand der Industrie (at 2008). In den professionell aufgemachten
Portalen werden subtil die Produkte des jeweiligen
Anbieters hervorgehoben. Die Ärztekammern,
zu deren Aufgabenbereich die Zertifizierung von
Fortbildungsveranstaltungen gehört, sind mit der
Kontrolle solcher Inhalte offensichtlich überfordert.
16.3
16
Die Spreu vom Weizen trennen
Ist es angesichts der zahlreichen Beeinflussungsmöglichkeiten überhaupt möglich, sich adäquat
über neue Arzneimittel und Behandlungsmethoden zu informieren? Es gilt, aus der Flut der Veröffentlichungen die relevanten Studien herauszufiltern und systematisch zu vergleichen. Das ist
für den einzelnen Arzt oder die Ärztin im Alltag
unmöglich. Verschiedene Organisationen und Institutionen haben sich deshalb zum Ziel gesetzt, unabhängige Informationen für Ärzte zur Verfügung
zu stellen. Wir stellen im Folgenden einige solche
Informationsquellen beispielhaft vor.
16.3.1
Unabhängige Arzneimittelzeitschriften
Um dem Mangel an unabhängiger ausgewogener
Information abzuhelfen, wurde bereits 1962 unter
der Leitung des britischen Pharmakologen Andrew
Herxheimer das Drug and Therapeutics Bulletin
(DTB) gegründet – eine der ersten Zeitschriften,
die sich systematisch mit der vergleichenden Arzneimittelbewertung in einer für praktisch tätige
Ärzte brauchbaren Darstellung beschäftigte. Weitere Zeitschriften wurden in den nächsten Jahren
in anderen europäischen Ländern mit ähnlichen
Konzepten gegründet. Im Jahr 1986 schließlich
fanden sich mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO Europe) diese Arzneimittelzeitschriften zur International Society of Drug
Bulletins (ISDB) zusammen.
Zentrales Kriterium für solche praxisorientierten Arzneimittelzeitschriften ist deren Unabhängigkeit. Auf einem internationalen Treffen der
WHO wurde sie so definiert (WHO Europe 1985):
» … having no commercial or other interest in
the promotion of particular patterns of drug treatment, their sole aim being to optimise such treatment in the interests of the patient and society at
large. «
ISDB-Mitglied können deshalb nur Zeitschriften
werden, die sich ausschließlich durch öffentliche
Mittel, Abonnements oder Mitgliedsbeiträge finanzieren. Pharmawerbung ist tabu.
Es geht also darum, die für eine rationale (Arznei-)Therapie notwendigen Informationen zur
Verfügung zu stellen. Eine Sache, die theoretisch
sehr einleuchtend klingt, in der Realität aber keineswegs einfach umzusetzen ist. Die Mitgliedszeitschriften von ISDB versuchen, entscheidungsrelevante Informationen möglichst verständlich und
nachvollziehbar darzustellen. Erster Schritt dazu
ist die Identifizierung wichtiger Themen. Dazu
werden nicht nur systematisch wissenschaftliche
Veröffentlichungen auf neue Erkenntnisse durchgesehen. Auch aus dem Kontakt zur ärztlichen Praxis oder Anfragen von Patienten ergeben sich oft
interessante Fragestellungen. Artikel werden dann
so konzipiert, dass sie einen bewertenden Über-
245
16.3 • Die Spreu vom Weizen trennen
16
ISDB: Unabhängige Information international
Die International Society of Drug
Bulletins (ISDB) hat sich zum Ziel
gesetzt, Ärzte und Apotheker unabhängig über Arzneimittel zu informieren. ISDB hat rund 80 Mitglieder
in 40 Ländern rund um den Globus.
ISDB setzt strenge Qualitätskriterien:
4 Die Herausgeber müssen in
einer unabhängigen Struktur
arbeiten, die eine Beeinflussung der Inhalte durch Dritte
ausschließt.
4 Artikel sollen Ärzten helfen, die
Therapie im besten Interesse
der Patienten zu verbessern.
4 Dazu dienen vergleichende
Bewertungen von Nutzen und
Schaden verschiedener Therapiealternativen.
4 Quellen müssen klar und nachvollziehbar angegeben werden.
4 Interessenkonflikte müssen
vollständig deklariert werden.
4 Die Zeitschriften müssen auf
Pharmawerbung komplett
verzichten und sich aus öf-
blick über die verschiedenen Behandlungsoptionen
geben bzw. im Falle von neuen Arzneimitteln deren
Stellenwert im Verhältnis zur bisher üblichen Therapie darstellen. Vorrang bei der Bewertung haben
Studien mit der höchsten Evidenzstufe.
Auf Begrenzungen des vorhandenen Wissens
wird ebenfalls eingegangen. So mag eine Studie
nur Männer im Alter von 25–45 Jahren einbezogen haben, von denen die meisten Raucher waren,
und die deshalb für andere Patientengruppen nur
beschränkte Aussagekraft hat. Wichtig ist auch die
Suche nach unpublizierten Daten, welche die Bewertung beeinflussen könnten. Da neue Medikamente oft mit massivem publizistischem Aufwand
auf dem Markt platziert werden, kann die explizite
Richtigstellung von fragwürdigen Versprechungen aus der Werbung eine wichtige Rolle spielen.
Auch ein Vergleich der Kosten unterschiedlicher
Behandlungsoptionen und die Erstattungsfähigkeit
werden in der Regel thematisiert. Artikel werden
vor der Veröffentlichung von Fachleuten innerhalb
oder außerhalb der Redaktion kritisch gegengelesen, alle verwendeten Quellen offengelegt. Am
Redaktionsprozess beteiligte Personen müssen Erklärungen zu Interessenkonflikten abgeben, und in
der Regel werden diese Erklärungen auch offengelegt. Oberstes Prinzip ist aber, solche Konflikte
so weit wie möglich auszuschließen. Wesentliche
Faktoren, die eine gute Arzneimittelzeitschrift ausmachen, hat ISDB in einem Manual zusammengetragen (ISDB u. WHO 2005).
fentlichen Quellen oder durch
Abonnements finanzieren.
Weitere Informationen: www.isdbweb.org. In Deutschland sind die
folgenden Bulletins Vollmitglieder
von ISDB: DER ARZNEIMITTELBRIEF,
arznei-telegramm, Arzneiverordnung
in der Praxis, Pharma-Brief. In Österreich: DER ARZNEIMITTELBRIEF,
Pharmainformation. In der Schweiz:
pharma-kritik, Pharma-Flash.
ISDB als Organisation dient darüber hinaus
als Plattform für den gegenseitigen Austausch und
die Fortbildung der Mitgliedszeitschriften sowie
als Sprachrohr für gute Arzneimittelinformation
in internationalen Foren wie der Weltgesundheitsorganisation oder der Europäischen Union. Dazu
werden regelmäßig Stellungnahmen zu aktuellen
Themen wie Direktwerbung zu rezeptpflichtigen
Arzneimitteln oder dem Zugang zu Daten zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen veröffentlicht
(7 ISDB: Unabhängige Information international).
16.3.2
Zeitschriften für Patienten
Gute unabhängige Information darf sich nicht auf
medizinisches Personal beschränken. Patienten
sind einer Flut von Beeinflussungsversuchen ausgesetzt, die sich keineswegs auf frei verkäufliche
Arzneimittel und meist zweifelhafte Produkte wie
Nahrungsergänzungsmittel beschränken. Hersteller lancieren durch die Medien und auf eigenen
frei zugänglichen Webseiten auch verschreibungspflichtige Produkte. Hinzu kommt eine wachsende
Zahl von Medizinportalen für Verbraucher, deren Qualität durchwachsen ist, und bei denen die
Grenzen zwischen Information und Werbung oft
schwer zu erkennen sind (BUKO Pharma-Kampagne 2010). Selbst den Informationen von Patientenorganisationen ist nicht immer zu trauen, da
sie durch Sponsoring beeinflusst sein können. Da
246
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
Laien oftmals die zur Beurteilung notwendigen
Kenntnisse fehlen, sind sie für Beeinflussungsversuche besonders anfällig. Unabhängige Informationen für Patienten sind jedoch Mangelware.
Deshalb geben seit 2005 die 4 deutschen ISDBMitglieder (siehe Kasten) gemeinsam die Verbraucherzeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen heraus.
Sie versorgt Patienten mit unabhängigen, nicht interessengeleiteten Informationen. Übersichtsartikel erläutern die Vor- und Nachteile verschiedener
Behandlungsstrategien und Arzneimittel bei häufigen Krankheitsbildern. Weitere Themen sind die
richtige Anwendung von Medikamenten, Tipps
für besondere Situationen wie z. B. die Schwangerschaft und Warnungen vor zweifelhaften Gesundheitsprodukten. Für die Allgemeinheit interessante
Leseranfragen werden im Heft beantwortet. Die
Rubrik »Werbung – Aufgepasst!« nimmt in jeder
Ausgabe eine Pharmawerbung kritisch unter die
Lupe und schärft so die Wahrnehmung für falsche
Versprechen (. Abb. 16.3).
Letztlich kann eine solche Zeitschrift Verbrauchern Kompetenzgewinn und Orientierung bieten.
Gut informierte Patienten können auch besser mit
dem Arzt kommunizieren und so bessere Behandlungsergebnisse erzielen.
16.3.3
Nachschlagewerke und aktuelle
Informationen
Das vom arznei-telegramm herausgegebene Arzneimittelkursbuch versteht sich als umfassendes
16
Nachschlagewerk mit klaren prägnanten Bewertungstexten, die mit Quellenangaben hinterlegt
sind. Unerwünschte Wirkungen, Kontraindikationen und Wechselwirkungen finden sich ebenso wie
Informationen über Preise und ob Zuzahlungen für
die Patienten fällig werden. Alternativ zum Kursbuch finden sich alle diese Informationen monatlich aktualisiert auch im Internet in der atd Arzneimitteldatenbank (www.arznei-telegramm.de).
Die Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (AkdÄ) gibt neben ihrem regelmäßig
erscheinenden Bulletin »Arzneiverordnung in der
Praxis« (s. u.) und ihren evidenzbasierten Leitlinien (s. u.) alle 2–3 Jahre das Buch »Arzneiverord-
nungen« neu heraus. Die im Jahr 2009 erschiene-
ne 22. Auflage mit Beiträgen zahlreicher Mitglieder
der AkdÄ und anderer Experten behandelt alle
hausärztlich relevanten Indikationen und vermittelt darüber hinaus komprimierte Informationen
zu allgemeinen Themen wie z. B.
5 Arzneitherapie im Alter,
5 Arzneimitteldosierung bei Niereninsuffizienz,
5 Strategien pharmazeutischer Unternehmer, die
Verordnung verschreibungspflichtiger Arzneimittel zu beeinflussen.
Das Buch unterscheidet sich von anderen Arzneimittelkompendien dadurch, dass es jeweils von der
klinischen Situation ausgeht, wann immer möglich
präzise Therapieziele nennt, und klare bewertende,
vergleichende Empfehlungen (z. B.: Welches sind
Mittel der ersten oder zweiten Wahl?) zur hausärztlichen Primärtherapie gibt. Über doccheck
sind einzelne Kapitel zusätzlich als e-book erhältlich (www.akdae.de).
Für die tägliche hausärztliche Praxis sind gerade unter wirtschaftlichen Aspekten auch die regelmäßig erscheinenden Ausgaben von Wirkstoff
aktuell sehr wichtig. Hierbei handelt es sich um
knapp gefasste »Flyer« zu einzelnen Wirkstoffen
oder Wirkstoffgruppen (z. B. Aromatasehemmer
der 3. Generation, biologische »Disease Modifying
Antirheumatic Drugs«), die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Kooperation
mit der AkdÄ herausgegeben werden. Sie liefern
dem Arzt unabhängige Informationen, z. B. über
Arzneimittel, die im Rahmen der Verordnung zu
Lasten der GKV erhebliche Kosten verursachen,
und geben ihm Empfehlungen zur wirtschaftlichen
Verordnungsweise unter Bewertung des therapeutischen Nutzens des jeweiligen Arzneimittels. Den
Hinweisen liegen eine Bewertung der für das Arzneimittel relevanten klinischen Studien und, falls
vorhanden, auch Aussagen in Leitlinien zugrunde.
Die Aufträge hierzu kommen von der KBV, meist
nachdem in bestimmten Bereichen eine stark ansteigende und möglicherweise irrationale Verordnung von neu auf den Markt gekommenen Wirkstoffen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen
beobachtet wurde und deshalb eine unabhängige
kritische Information für die Vertragsärzteschaft
16.3 • Die Spreu vom Weizen trennen
247
16
. Abb. 16.3 Werbung – Aufgepasst! Kritischer Blick auf die Pharmawerbung in der Verbraucherzeitschrift Gute Pillen –
Schlechte Pillen
248
16
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
wünschenswert erscheint. Die Texte für Wirkstoff
aktuell inklusive detaillierter Preisvergleiche erstellen wissenschaftliche Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der AkdÄ in Zusammenarbeit mit den
Fachmitgliedern. An die Unabhängigkeit der an
diesem Flyer beteiligten Mitglieder werden hohe
Anforderungen gestellt. Die federführenden Autoren sowie Gegenleser werden nicht namentlich
genannt, um sie vor potenziellen Einflüsterungen
oder auch direkten Einschüchterungsversuchen
der pharmazeutischen Unternehmer zu schützen.
Veröffentlicht wird »Wirkstoff aktuell« als Beilage
in der Ausgabe A des Deutschen Ärzteblattes sowie
elektronisch auf der Homepage der AkdÄ und dem
Portal Arzneimittel-Infoservice (AIS) der KBV.
Weiterhin informiert die AkdÄ seit Anfang 2009 aktuell über neu auf den Markt gekommene Arzneimittel und zwar in ihren Ausgaben
zu Neue Arzneimittel, die sowohl auf der Website
der AkdÄ als auch in ihrem Bulletin »Arzneiverordnung in der Praxis« (s. u.) erscheinen. Als Basis
für diese kürzlich eingeführte Rubrik dienen die
Informationen der europäischen ArzneimittelAgentur (EMA), die im Zusammenhang mit der
Zulassung eines neuen Arzneimittels veröffentlicht
werden (Europäischer Öffentlicher Bewertungsbericht, EPAR). Die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Ergebnisse klinischer Studien erlauben häufig
noch keine abschließende kritische Bewertung von
Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Arzneimittels oder gar dessen Zusatznutzens gegenüber den
bereits für die jeweilige Indikation zugelassenen
Arzneimitteln. Die in »Neue Arzneimittel« vermittelten Informationen (z. B. Indikation, Bewertung,
unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Dosierung
und Kosten) ermöglichen jedoch eine erste unabhängige Orientierung über die Bedeutung eines
neuen Arzneimittels und können dadurch dem von
kommerziellen Interessen geleiteten Informationsmonopol der pharmazeutischen Unternehmer entgegenwirken.
Um die Kommunikation über Arzneimittelrisiken zu beschleunigen und zu verbessern, bietet die
AkdÄ die Drug Safety Mail an. Mit diesem kostenlosen E-Mail-Service wird in komprimierter Form
über aktuelle Themen der Arzneimittelsicherheit
wie z. B. Rote-Hand-Briefe oder die Bekanntgaben der AkdÄ im Deutschen Ärzteblatt informiert.
Gleichzeitig wird ein Link zu Originaldokumenten, Publikationen bzw. anderen weiterführenden
Informationen zur Verfügung gestellt.
16.3.4
Andere Informationsquellen
Verschiedene Verbände bemühen sich intensiv um
unabhängige Arzneimittelinformation und achten
dabei auch besonders darauf, Interessenkonflikte
zu minimieren.
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) setzt sich
seit vielen Jahren für unabhängige Information
ihrer Mitglieder ein (7 DEGAM als unabhängige
Informationsquelle). So bietet sie z. B. einen kostenlosen Zugang zur Cochrane-Library, die eine
Fülle von systematischen Bewertungen von Arzneimitteln und Therapieverfahren vorrätig hält. Wir
stellen im Kasten zwei Informationsprojekte der
DEGAM vor.
Die Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (AkdÄ) besteht seit 1911. Sie wurde
ursprünglich von einer Gruppe pharmakritischer
Internisten und Pharmakologen innerhalb der
»Gesellschaft für Innere Medizin gegründet«, um
den schon damals als unerträglich empfundenen
Auswüchsen der Arzneimittelproduktion und
-werbung entgegenzutreten. Die AkdÄ ist heute
ein wissenschaftlicher Fachausschuss der Bundesärztekammer und berät diese zu Fragen der Arzneimitteltherapie, Arzneimittelversorgung sowie zu
allgemeinen arzneimittelpolitischen Themen. Die
Kommission besteht aus 40 ordentlichen und ca.
140 außerordentlichen, ehrenamtlich arbeitenden
Mitgliedern aus allen für die ärztliche Praxis wichtigen Fachgebieten, einschließlich Medizinrecht,
Biometrie und Ethik. Zu ihren Aufgaben gehört,
die deutsche Ärzteschaft unabhängig und kritisch
über alle wichtigen Bereiche der Arzneimitteltherapie und -sicherheit zu informieren. Das geschieht
auf vielfältige Art und Weise. Neben den oben genannten aktuellen Informationen (Wirkstoff aktuell,
Neue Arzneimittel) werden z. B. Therapiesymposien
zusammen mit regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und Landesärztekammern organisiert.
Auf dem Gebiet der Arzneimittelsicherheit erfasst und bewertet die AkdÄ Verdachtsfälle von
249
16.3 • Die Spreu vom Weizen trennen
16
DEGAM als unabhängige Informationsquelle
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
(DEGAM; www.degam.de) ist die
wissenschaftliche Fachgesellschaft
der deutschen Hausärzte.
Leitlinienerstellung
Die Erstellung evidenzbasierter und
zugleich praxiserprobter Leitlinien
für Hausärzte zählt zu den Kernaufgaben der DEGAM. Ziel ist die
Verbesserung der hausärztlichen
Versorgungsqualität
Die Entwicklung bezieht Anwender wie Patienten ein und
umfasst bereits vor Veröffentlichung einer Leitlinie die Prüfung
von Praktikabilität (Panel-Befragung
von etwa 25 erfahrenen Allgemeinärzten aus Forschung, Lehre und
Praxis), methodischer Qualität und
Akzeptanz in einem Praxistest durch
Ärzte/innen, Praxismitarbeiter/innen und Patienten/innen. Die Evaluation von Folgen und Wirkungen
der Leitlinien auf die Patientenversorgung ist fester Bestandteil des
DEGAM-Konzeptes, das auf internationalen Vorbildern bzw. Ergebnissen von Evaluationsstudien beruht
und ein schrittweises Vorgehen im
Rahmen eines transparenten Zehnstufenplans vorsieht.
Die Leitlinienarbeit der DEGAM
wird ausschließlich durch die Beiträge der Mitglieder und durch
den Verkauf von kompletten Sets
durch einen unabhängigen Verlag
(Omikron) finanziert. Zuwendungen
der Pharmaindustrie dürfen nicht
erfolgen.
Die Zeitschrift für
Allgemeinmedizin
Die Zeitschrift für Allgemeinmedizin (ZFA) erscheint 2011 in ihrem
87. Jahrgang und wird seit 2009
beim Deutschen Ärzteverlag verlegt. Sie ist das Organ der DEGAM,
der Gesellschaft der Hochschullehrer für Allgemeinmedizin (GHA)
und der Salzburger Gesellschaft für
Allgemeinmedizin (SAGAM).
unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW),
die im Rahmen des Spontanmeldesystems von
Ärzten berichtet werden. Hinweise auf Sicherheitsprobleme, die sich aus diesen Fallmeldungen
ergeben, werden von Fachmitgliedern der AkdÄ
und Vertretern der für die Arzneimittelsicherheit
zuständigen Bundesoberbehörden (Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte, Paul-Ehrlich-Institut) in regelmäßig tagenden Ausschüssen
diskutiert. Dort wird über Maßnahmen beraten,
um neu erkannte Risiken zu vermindern, wie z. B.
Änderungen der Fachinformation oder Packungsbeilage, Einschränkung der Anwendungsgebiete,
oder sogar Marktrücknahme. Die AkdÄ informiert
die Ärzteschaft über Themen der Arzneimittelsicherheit durch die Drug Safety Mail, Bekanntgaben im Deutschen Ärzteblatt und Artikel in ihrem
Bulletin AVP.
Die AkdÄ hat als eine der ersten Institutionen
in Deutschland evidenzbasierte und auf die Be-
Die Zeitschrift deckt ein breites
Spektrum von Themen ab, die für
die hausärztliche Tätigkeit Bedeutung haben. Die behandelten
Fragestellungen reichen von so
einfachen, aber entscheidenden
Problemen, wie man z. B. mit einer
enttäuschten Patientin umgeht, die
(berechtigterweise) kein Medikament verschrieben bekam, über
gesundheitspolitische Fragestellungen bis hin zur systematischen Bewertung von Screening-Verfahren.
Die ZFA-Beiträge werden vor
Veröffentlichung von externen Experten inhaltlich begutachtet (peerreview). Autorinnen und Autoren
müssen sämtliche Interessenkonflikte gemäß den Bestimmungen
des International Committee of
Medical Journal Editors (ICMJE)
offenlegen. Zuwendungen und
Anzeigenwerbung der pharmazeutischen Industrie sind vertraglich
ausgeschlossen. Die Zeitschrift ist
in EMBASE, Scopus und Excerpta
Medica gelistet.
dürfnisse der Hausärzteschaft ausgerichtete Leitlinien (»Therapieempfehlungen«) zu allen wichtigen
hausärztlichen Indikationen erstellt und als Anlage
zur Arzneiverordnung in der Praxis« (AVP) publiziert.
Eine Beteiligung der Mitglieder an Stellungnahmen und Publikationen der AkdÄ setzt grundsätzlich eine Unabhängigkeit von den kommerziellen Interessen der pharmazeutischen Unternehmer
bzw. Hersteller von Medizinprodukten voraus. Alle
wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Geschäftsstelle und ehrenamtlichen Mitglieder der AkdÄ geben
eine Erklärung zu Interessenkonflikten ab, die sich
auf den Zeitraum des Kalenderjahres und die davor
liegenden 3 Jahre bezieht. In dieser Erklärung werden alle Formen sekundärer Interessen abgefragt,
d. h. auch Gelder, die z. B. von Krankenkassen und
berufspolitischen Organisationen gezahlt wurden.
Eine Arbeitsgruppe, die von langjährigen Mitgliedern der AkdÄ gebildet wird, erarbeitet derzeit eine
250
Kapitel 16 • Warum unabhängige Arzneimittelzeitschriften und Fortbildungsveranstaltungen wichtig sind
im Vergleich zu früher wesentlich detailliertere Erklärung von Interessenkonflikten sowie konkrete
Vorschläge für den künftigen Umgang mit Interessenkonflikten in der Kommission. Dabei orientiert
sich die Arbeitsgruppe sowohl an einem kürzlich
im Deutschen Ärzteblatt publizierten Vorschlag zur
Vereinheitlichung der Deklaration von Interessenkonflikten (Lieb et al. 2011) als auch an den vom
Institute of Medicine erarbeiteten umfangreichen
Empfehlungen (Lo et al. 2009).
> Minimierung von Interessenkonflikten ist
das Ziel.
16.3.5
16
Fortbildungen
Ärztliche Fortbildungen sind ein wichtiger Baustein des Wissenserwerbs, der den kollegialen Austausch und Diskussionen über den Stellenwert neuer Therapieoptionen für den Praxisalltag ermöglicht. Entscheidende Verbesserungen hin zu einer
von kommerziellen Interessen unbeeinflussten
ärztlichen Fortbildung sind nur zu erwarten, wenn
sich diese pharmaunabhängig etabliert haben und
industriegesponserte Veranstaltungen nicht mehr
von den Ärztekammern zertifiziert werden.
Verschiedene Beispiele zeigen, dass Veranstaltungen ohne Sponsoring möglich sind. So führt
der Ärztliche Kreisverein Breisgau-Hochschwarzwald seit 1985 alle Fortbildungsveranstaltungen
ausschließlich mit Beitragsmitteln seiner Mitglieder durch. Auch die Fortbildungen der AkdÄ (z. B.
Therapiesymposien), des Hausärzte-Verbandes
Baden-Württemberg und der ISDB Zeitschriften
werden ohne Sponsoring durch die Industrie organisiert.
Die DEGAM verzichtet z. B. bei der Durchführung ihres Jahreskongresses ebenso auf Pharmasponsoring wie das »Deutsche Netzwerk für evidenzbasierte Medizin«. Unabhängige Fortbildung
bedeutet vielleicht den Verzicht auf Luxushotels,
ferne attraktive Orte und Mega-Kongresse. Auf
der Habenseite stehen dafür bessere Qualität und
Konzentration auf das Wesentliche: von kommerziellen Verzerrungen freier Wissenszuwachs, der
eine bessere Behandlung von Patienten ermöglicht.
In 7 Kap. 14 werden verbindliche Regeln für Fortbildungen vorgeschlagen.
16.4
Fazit und Ausblick
Interessenkonflikte beeinträchtigen die optimale
Rezeption medizinischen Wissens. Es ist wichtig,
sich dieser Störfaktoren in der Kommunikation
von Erkenntnissen zu Arzneimitteln bewusst zu
sein. Die gezielte Auswahl unabhängiger Informationsquellen kann helfen, sich ein realistisches
Bild vom tatsächlichen Nutzen der Innovationen
zu machen. Solange kommerzielle Interessen in
der Arzneimittelforschung und -entwicklung eine
wichtige Rolle spielen, wird es immer Versuche
geben, »ungünstige« Erkenntnisse zu verheimlichen oder zu verharmlosen (Brody u. Light 2011).
Langfristig kann hier nur die Entkoppelung der
Forschungsfinanzierung vom Produktpreis Abhilfe
schaffen. Solange dies nicht umgesetzt wird, ist es
umso wichtiger, sich durch Quellen zu informieren, die von der Pharmaindustrie unabhängig sind.
Diese Erkenntnis sollte bereits während des Medizin- und Pharmaziestudiums verankert werden.
Die WHO setzt sich dafür ein, dass das Wissen um
die Mechanismen von Arzneimittelwerbung und
andere Manipulationsstrategien der pharmazeutischen Industrie weltweit an Universitäten gelehrt
werden sollte. Wie gezeigt wurde, gibt es sowohl
für den praktischen Alltag und die Fortbildung
als auch für die aktuelle Information unabhängige
Quellen. Diese gilt es zu nutzen und vor allem im
Bereich der Fortbildung auszubauen und weiterzuentwickeln. Die konsequente Offenlegung von
Interessenkonflikten kann nur ein erster wichtiger
Schritt sein; Ziel sollte sein sie – wo immer möglich
– zu vermeiden.
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