Ein Blick in`s Buch - Michael Imhof Verlag

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Ein Blick in`s Buch - Michael Imhof Verlag
I N H A LT
9
ZUM GELEIT
K ATA LO G
Hubertus Gaßner
13
21
114
FRÜHE ARBEITEN MANETS
Michael Lüthy
122
M A N E T U N D S PA N I E N
W I E M A N E T D E N S A LO N B E S P I E LT E
129
LÉON ALS MODELL
136
LEBEN AUF MANETS BALKON
Matthias Krüger
140
BERTHE MORISOT ALS KÜNSTLERIN UND ALS MODELL
J E A N - L É O N G É R Ô M E, E R N E S T M E I S S O N I E R U N D D E R PA R I S E R S A LO N
147
NANA
153
BILDNISSE VON FRAUEN
168
VICTORINE MEURENT
Dorothee Hansen
173
FREUNDE UND KRITIKER
LEHRJAHRE DES AUGES:
214
PA A R B E Z I E H U N G E N
Joachim Kaak
222
CAFÉHAUSSZENEN
BILDINTERNE ALLIANZ ZWISCHEN MALER UND MODELL
229
FREUNDE IM BLICK
DIE WENDUNG DES BLICKS
Matthias Krüger
35
45
M A N E TS S A LO N PA A R E I N D E R H A M B U R G E R AU S S T E L LU N G
Matthias Krüger
51
MANET-KONJUNKTUR IN DEUTSCHLAND
W I E H E N R I R O C H E F O R T, J E A N - B A P T I S T E F A U R E U N D N A N A I N D I E
HAMBURGER KUNSTHALLE KAMEN
61
É D O U A R D M A N E T, G E S E H E N M I T W E R N E R H O F M A N N
69
Viola Hildebrand-Schat
M A N E T S G R A P H I S C H E B I L D N I S S E V O N B E R T H E M O R I S O T, C H A R L E S
BAUDELAIRE UND EVA GONZALÈS
81
93
MOMENTS MUSICAUX
MANET UND DER (NACH-)KLANG DER BILDER
240
Biographie Édouard Manets
Michael Diers
242
Literatur
255
Abbildungsnachweis
256
Impressum
MALEREI AUF DEN ERSTEN BLICK
ÉDOUARD MANETS BILDNISSE DER BERTHE MORISOT
Barbara Wittmann
103
MEDIALE TRANSPOSITIONEN
ÉDOUARD MANET UND DIE FOTOGRAFIE
Diana Wiehn
6
Autoren des Katalogteils
AD
André Dombrowski
HG
Hubertus Gaßner
VH
Viola Hildebrand-Schat
DK
David Klemm
BW
Barbara Wittmann
7
ZUM GELEIT
Édouard Manet kann als der erste Ausstellungskünstler par excellence gelten und ist damit wegweisend für einen Künstlertypus, der sich seitdem als das Modell für die Künstlerexistenz in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt hat. Ihren ersten Höhepunkt erlebte die temporäre Kunstausstellung
mit den zu Manets Zeiten einmal jährlich stattfindenden Salons in Paris, zu denen bis zu 3000 Künstler
ihre Werke einreichten. Bei dieser offiziellen, staatlich gelenkten Institution mussten sich die Werke,
von denen jeder Künstler maximal zwei einliefern durfte, im Meer der Bilderflut behaupten. Bei der
enormen Konkurrenz versuchten die Künstler mit allen möglichen Themen die Aufmerksamkeit der
Besucher auf sich zu ziehen, oder aber, wie Manet, mit einer neuartigen Darstellungsform. Unsere
Ausstellung setzt mit einer Reihe von bedeutenden Gemälden ein, die Manet 1867 auf einer von ihm
selbst organisierten privaten Ausstellung zeigte. Manet kommt, die Situation des modernen Ausstellungskünstlers reflektierend, zu dem Schluss: »Ausstellen ist die Lebensfrage, das sine qua non für den
Künstler, denn […] ausstellen heißt, Freunde und Verbündete finden für den Kampf« um Aufmerksamkeit beim Publikum und um Anerkennung.
Wie die im Pavillon von 1867 präsentierten und in unserer Ausstellung versammelten Bilder zeigen,
beeinflusste dieser Kampf um die Aufmerksamkeit die Konzeption und Gestalt der Werke ganz unmittelbar, jedoch nicht in dem Sinne, dass Manet sich mit seinen Bildmotiven oder seiner Malweise dem
Publikumsgeschmack angepasst hätte, sondern indem seine Gemälde das Ausstellen selbst reflektierten. Denn Manet war sich sehr bewusst, dass er mit seinen Arbeiten den Betrachter ganz unmittelbar
ansprechen musste, um Interesse zu wecken. Solche Ansprache des Betrachters geht von den Personen
in den Bildern selbst aus, wenn sie sich dem Betrachter nicht nur frontal zuwenden, sondern ihn auch
direkt anschauen. So richten sich die Lola de Valence, die Angelina genannte Spanierin, die aus dem
Fenster schaut, der Philosophe (Le mendiant) und Enfant aux cerises, die alle in Manets Pavillon von
1867 zu sehen waren, nicht nur nur direkt an den Betrachter, sie schauen ihm auch direkt in die Augen
und sprechen ihn damit ganz unmittelbar an. Diesem Blick kann sich der Besucher der Ausstellung
nicht entziehen, er muss Stellung nehmen, für oder gegen das Bild. So haben es auch Manets Zeitgenossen gesehen. Ein Mitstreiter Manets, der Kunstkritiker Edmond Duranty, formuliert 1870 pointiert:
»In jeder Ausstellung gibt es ein einziges Gemälde, das sich von allen übrigen auf zweihundert Schritte,
quer durch die Reihe der Säle abhebt, und das ist immer das Gemälde von Manet.«
Durch die Großzügigkeit der Leihgeber ist es erstmals gelungen, in unserer Ausstellung eine Reihe
von Bildpaaren zu zeigen, die Manet in den jährlichen Salons ausgestellt hat, oder mit denen er sich
für diese zumindest beworben hat, auch wenn manche Einreichungen abgelehnt wurden. Von den
ZUM GELEIT |
9
MAT THIAS KRÜGER
WIE MANET DEN
S A LO N B E S P I E LT E
MANET ALS AUSSTELLUNGSKÜNSTLER
Manet, so schreibt Marius Chaumelin in seiner Rezension des Salons von 1869, habe den Pfad der
Ehre verlassen: »Für ihn geht es allein darum, dass das Publikum seine Gemälde bemerkt. Er schreckt
daher vor keiner Kühnheit – ich würde sogar sagen vor keinem exzentrischen Einfall zurück, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die beiden Gemälde dieses Jahres, Le balcon [Kat. 21] und Le déjeuner [dans
l’atelier]1 [Kat. 19], haben die Liebhaber einer adretten, sauberen, rührseligen und bürgerlichen
Malerei kräftig skandalisiert.«2 Von den heftigen Reaktionen, die insbesondere der Balcon auslöste,
berichten auch andere Kritiker und Kritikerinnen. Glaubt man Manets erstem Biographen Edmond
Bazire, übertraf der Aufruhr sogar noch denjenigen, den Manet 1865 mit seinem Skandalbild Olympia
provoziert hatte.3 Wie damals wurden auch 1869 seine beiden Bilder ständig von der Menge
umlagert.4 Doch die Entrüstung, die sich vier Jahre zuvor gegen Olympia gerichtet hatte, war
angesichts des Balcons in Spott und Belustigung umgeschlagen. Eine Frauenzeitschrift riet ihren Leserinnen sogar, den durch den Salonbesuch ermüdeten Geist vor Manets Balcon zu erquicken –
einem Bild, vor dem man gar nicht anders könne, als sich zu amüsieren.5
Manet hatte es vermutlich geahnt: Am Eröffnungstag des Salons hatte er es nicht gewagt, den
Salle M, den Raum, in dem die Werke der Künstler und Künstlerinnen untergebracht waren, deren
Nachnamen mit dem Buchstaben »M« begannen, aufzusuchen, und stattdessen die befreundete
Künstlerin Berthe Morisot, die für den Balcon Modell gestanden hatte, gebeten zu erkunden, welche
Reaktionen seine Bilder hervorriefen. Er versicherte ihr, dass seine Gemälde ihm diesmal gründlich
misslungen seien, weshalb er mit einem großen Erfolg rechnen könne.6 »Der arme Manet«, schreibt
Morisot einige Tage später an ihre Schwester, »wie immer kommen seine Bilder beim Publikum nicht
an; für ihn ist das indes jedes Mal wieder eine böse Überraschung.«7
1
Außenansicht des Palais de l’Industrie (Palais de l’Expo sition universelle an den Champs-Elysées), 1854, Stich,
22,5 x 32,6 cm, in: L’Illustration 11. November 1854,
Brown University
2
Grundriss und Schnitt des Palais de l’Industrie (Palais de
l’Exposition universelle an den Champs-Elysées), 1854,
Stich, 22,5 x 32,6 cm, in: L’Illustration 11. November
1854, Brown University
War Manet also ein Provokateur, der mutwillig Aufsehen zu erregen suchte, oder war er das
Opfer der Salonkritik; einer, dessen Qualitäten das Publikum in seiner Borniertheit damals nicht zu
erkennen vermochte? Die wohl treffendste Antwort auf diese Frage hat Oskar Bätschmann in seinem
Buch Der Ausstellungskünstler gegeben.8 Édouard Manet war vielleicht der Ausstellungskünstler par
excellence – ein Künstler, der das Medium Ausstellung und speziell den Salon sehr strategisch zu bespielen wusste. Einer von Antonin Proust überlieferten programmatischen Aussage zufolge hatte
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21
in einem eigens errichteten Pavillon präsentierte. Zudem brachte Manet, wenn seine Gemälde
von der Salonjury zurückgewiesen wurden, diese oft zeitgleich zum Salon andernorts zur Ausstellung; etwa 1876, als er die beiden Gemälde L’artiste (Kat. 41) und Le linge im eigenen Atelier zeigte
– oder 1877, als er Nana (Kat. 25), heute in der Hamburger Kunsthalle, im Schaufenster einer
Boutique in der Rue de Capucines ausstellen ließ. Dort hatte es – sofern man Joris-Karl Huysmans
glauben darf – einen ähnlichen Menschenauflauf provoziert und im selben Maß Wut und Spott
hervorgerufen, wie seine Bilder dies üblicherweise im Salon taten.11 Dennoch war und blieb der
Salon für Manet stets das wichtigste Ausstellungsforum. Ziel des Aufsatzes ist es, zu zeigen, wie
Manet mit seinen Saloneinsendungen gezielt auf die spezifischen Ausstellungsbedingungen im
Palais de l’Industrie reagierte.
D E R S A LO N I M PA L A I S D E L’I N D U S T R I E
In seinen Ausmaßen von 260 m Länge und 105 m Breite war der Palais de l’Industrie, in dem der
Salon seit 1857 gastierte, tatsächlich alles andere als eine ‚kleine Bude‘ (Abb. 1 u. 2). Traditionell hatte
der Salon im Louvre stattgefunden. Doch angesichts der stetig wachsenden Zahl der Exponate hatte
3
man sich Mitte des 19. Jahrhunderts nach einem neuen Domizil für ihn umsehen müssen und dieses
Pierre-Ambroise Richebourg: Salonwand mit den Werken
Jean-Léon Gérômes im Salon von 1861, Bibliothèque
nationale de France
5
Édouard Manet: Le Christ insulté par les soldats / Christus
von den Soldaten verspottet, 1865, Öl auf Leinwand,
191,5 x 148,3 cm, Chicago, The Art Institute of Chicago.
Gift of James Deering 1925.703
6
Édouard Manet: Olympia / Olympia, 1863, Öl auf Leinwand 130,5 x 190 cm, Paris, Musée d’Orsay
schließlich in der anlässlich der Weltausstellung von 1855 errichteten Messehalle gefunden. In den
sechziger und siebziger Jahren betrug die Anzahl der Werke, die alljährlich im Salon zu sehen waren,
zwischen zwei- und siebentausend. Im Salon von 1869, dem Jahr, in dem Manet den Balcon und das
Manet dem Salon – trotz der bitteren Niederlagen, die er in ihm erlitt – bewusst nie den Rücken ge-
Déjeuner ausstellte, waren es 4230, darunter allein 2452 Gemälde. Der Salon, der bis 1789 noch eine
kehrt,9 um stattdessen etwa an den Ausstellungen der Impressionisten teilzunehmen. Demnach
elitäre Einrichtung gewesen war, in der es ausschließlich den Mitgliedern der Akademie vorbehalten
hatte der Künstler verkündet: »der Salon ist der wahre Kampfplatz. Da muß man seine Kräfte messen.
war, der Öffentlichkeit ihre Werke zu präsentieren, war längst zu einem Massenspektakel mutiert –
Mit all den kleinen Buden [im Original ist von ›petites chapelles‹, von ›kleinen Kapellen‹ die Rede]
zu einem, wie es in der Gazette des Beaux-Arts von 1880 heißt, »gigantischen Festival, von langer
10
kann ich nichts anfangen.«
Die Aussage verschleiert allerdings, dass der Künstler durchaus alternative Ausstellungsformate
Hand angekündigt und ungeduldig erwartet«, das während der zwei Monate seiner Laufzeit von der
gesamten Pariser Bevölkerung frequentiert werde.12
für seine Bilder erprobte, etwa während der Weltausstellung von 1867, als er an der Place de l’Alma
Man betrat die Ausstellung über den Salon d’honneur, in dem vor allem staatliche Auftragsarbeiten
in unmittelbarer Nähe des Weltausstellungsgeländes dreiundfünfzig Gemälde und drei Graphiken
ausgestellt waren, darunter vor allem Staatsporträts und Schlachtenbilder. Die anderen Gemälde
hingen in den seitlich anschließenden Galerien, in denen die Künstler und Künstlerinnen in alphabetischer Reihenfolge gehängt waren. Die Orientierung am Alphabet mag heute banal erscheinen, galt
aber als demokratisch, da sie niemanden bevorzugte. Reichten die Galerien im Erdgeschoss nicht für
alle Gemälde aus, so wurden auch die Galerien im darüber liegenden Stockwerk bespielt, wo zumeist
auch die Zeichnungen und Graphiken untergebracht waren. Die Skulpturen wurden dagegen in der
weitläufigen Halle aufgestellt. Sowohl im 6 m hohen Salon d’honneur als auch in den 3,80 m hohen
Galerien waren die Gemälde nahezu wandfüllend gehängt. Anders als in der Jahresausstellung der
Royal Academy in London nahmen sie jedoch nicht den gesamten Bereich vom Boden bis zur Decke
ein, sondern wurden erst oberhalb einer in Brusthöhe angebrachten Leiste, der cimaise, gehängt.13
Aufgrund solcher Hängeprinzipien kam es notgedrungen zu einem Durcheinander von Gattungen
und Stilen, das zweifelsohne seinen Platz in Felix Thürlemanns Kunstgeschichte des hyperimage verdiente.14 Leider lassen sich einzelne Salonhängungen heute kaum noch rekonstruieren. Ungefähre
Angaben darüber, wo und in welchem Zusammenhang ein Gemälde im Salon hing, finden sich bisweilen in den Salonberichten. So weiß man aus ihnen, dass etwa Espagnol jouant de la guitare, mit
dem Manet 1861 sein Salondebüt feierte, zunächst sehr hoch und damit an einem schlecht sichtbaren
Platz hing. Doch aufgrund des Zuspruchs, den das Gemälde beim Publikum und in der Presse fand,
entschloss man sich zur Halbzeit des Salons, zu der man stets einige Umhängungen vornahm, es
niedriger zu hängen.
4
22
Pierre-Ambroise Richebourg: Salonwand mit den Werken
Alexandre Cabanels im Salon von 1861, Bibliothèque
nationale de France
Das umgekehrte Schicksal widerfuhr den beiden Gemälden Olympia und Jésu insulté par les
soldats, mit denen Manet im Salon von 1865 vertreten war (Abb. 6 u. 5). Sie hatten so wütende Re-
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23
DOROTHEE HANSEN*
MANET-KONJUNKTUR
IN DEUTSCHLAND
Wie Henri Rochefort, Jean-Baptiste Faure und Nana
in die Hamburger Kunsthalle kamen
Die Hamburger Kunsthalle besitzt drei Gemälde von Édouard Manet. Verfolgt man ihre wechselvollen
Geschichten vom Künstleratelier bis ins Museum, so begegnen einem die bedeutendsten Akteure
der frühen Rezeption Manets in Deutschland und Frankreich: die Kunsthändler Paul Durand-Ruel in
Paris und Paul Cassirer in Berlin, die französischen Manet-Sammler Jean-Baptiste Faure und Auguste
Pellerin sowie der Sammler Eduard Behrens in Hamburg und schließlich die fortschrittlichen deutschen Museumsdirektoren Hugo von Tschudi, Alfred Lichtwark und Gustav Pauli. Der Blick auf die
Provenienz der drei Hamburger Bilder veranschaulicht exemplarisch den Einzug der französischen
Impressionisten in die deutschen Museen und Sammlungen und deren Siegeszug auf dem Kunstmarkt. Dabei erweist sich die Preisentwicklung Manets als ein deutlicher Indikator seiner zunehmenden Wertschätzung. Sie weckt aber auch Neid und Nationalismus – ein Vorspiel für die große
Kontroverse um die Aufnahme der französischen Kunst in deutsche Museen, die 1911 im Bremer
Künstlerstreit kulminierte und 1924 in Hamburg noch einmal auflebte.
1. DIE VORGESCHICHTE: DURAND-RUEL, LICHTWARK UND DER EINZUG DER
IMPRESSIONISTEN IN DEUTSCHE MUSEEN
»Was früher der Priester, der Fürst, der Patrizier dem Künstler war, Beschützer, Brotherr, geistiger
Führer, das ist heute der Kunsthändler«, schrieb Alfred Lichtwark, der Direktor der Hamburger
Kunsthalle 1901 (Abb. 1). »Was in den beiden letzten Jahrzehnten die Museen nicht vermocht haben,
hat der Kunsthandel durchgesetzt, bei uns wie in Frankreich.« Und mit höchstem Respekt fügt er
hinzu, dass »ein einziger Kunsthändler, Durand-Ruel, Alles, einfach Alles besitzt, was eine grosse und
originelle Schule, die von Manet-Monet, geschaffen hat. Solange die Welt steht, ist das nie dagewesen.«1
Lichtwark charakterisiert hier sehr treffend die Schlüsselrolle des Pariser Kunsthändlers Paul DurandRuel (1831–1922) für die Vermittlung von Édouard Manet auf dem deutschen Kunstmarkt (Abb. 2). Er
gilt als der Erfinder des Impressionismus, der diese Malerei entgegen der anfänglichen Ablehnung
durch den akademischen Kunstbetrieb bei Sammlern und Museumsleuten durchgesetzt hat.2
Paul Durand-Ruels Vater betrieb in Paris ein Geschäft mit Künstlerbedarf, das er zum Kunsthandel
ausbaute. Nach dessen Tod 1865 führte der Sohn die Galerie weiter. Während er zunächst eine breite
MANET-KONJUNKTUR IN DEUTSCHLAND |
51
Auswahl zeitgenössischer akademischer Künstler anbot, konzentrierte er sich zunehmend auf die
Alfred Sisley, je vier Werke von Pierre-Auguste Renoir und Camille Pissarro. Dazu kamen einige
Schule von Barbizon, die er in den folgenden Jahren sehr erfolgreich vermarktete.3 Als er während
weitere impressionistische Bilder von anderen Leihgebern.13 Im Rahmen der Ausstellung, die 690
des deutsch-französischen Krieges 1870/71 nach London emigriert war, lernte er Camille Pissarro
Nummern umfasste, handelte es sich zwar nur um eine kleine Abteilung; seit der Ausstellung bei
und Claude Monet kennen. Von nun an begann er, systematisch ihre Werke zu kaufen. Diese Begeg-
Gurlitt dreizehn Jahre zuvor war dies jedoch die erste größere Präsentation impressionistischer
nung hatte Folgen: Durand-Ruel war jetzt offen für weitere Entdeckungen, vor allem für Manet. Kurz
Malerei in Deutschland – noch dazu in einem renommierten Museum.
nach seiner Rückkehr nach Paris sah er im Januar 1872 zwei Gemälde Manets im Atelier von Alfred
4
Stevens und erwarb sie sofort für 800 Francs. Noch im selben Monat besuchte er Manet in seinem
1
Leopold Graf Kalkreuth: Alfred Lichtwark, 1912, Öl auf
Leinwand, 99,5 x 85 cm, Hamburg, Hamburger Kunsthalle
Dornac (Raul Marson): Paul Durand-Ruel in seiner Galerie,
ca. 1910, Fotografie
Atelier und kaufte auf einen Schlag weitere 21 Gemälde für 35.000 Francs, darunter waren großfor-
Es fällt auf, dass er zunächst nicht die Nähe zu den Kunsthändlern suchte. Entscheidend für seinen
Zugang zum Berliner Kunstmarkt wurden zwei Männer, die mit Lichtwark gut befreundet waren: der
Zeit gab es keinerlei Nachfrage nach Manets Werken, doch Durand-Ruel setzte darauf, dass sie
Künstler Max Liebermann (1847–1935) (Abb. 5) und der Kunsthistoriker Hugo von Tschudi (1851–
später geschätzt werden würden. Diese Erfahrung hatte er jedenfalls mit den Bildern der Künstler
1911) (Abb. 4), der seit 1896 die Berliner Nationalgalerie leitete. Im Juni 1896 unternahmen Liebermann
von Barbizon gemacht.
und Tschudi eine Reise nach Paris, wo sie die Galerie Durand-Ruel besuchten. Die Betrachtung von
Doch so weit war es noch lange nicht. In den folgenden Jahren geriet Durand-Ruel, der viele
Manets Gemälde Dans la serre (Kat. 50) beschrieb Liebermann später als ein »Erweckungserlebnis«
Bilder der Impressionisten erwarb, aber kaum etwas verkaufen konnte, mehrfach an den Rand des
Tschudis: »In der Galerie Durand-Ruel erblickte er zum ersten Male Manets Werke in ihrer ganzen Ori-
Bankrotts. Die Wende begann erst 1886. Damals wurde Durand-Ruel eingeladen, in New York auszu-
ginalität. Manets Genius offenbarte ihm eine neue Welt.«15
stellen. Bei der National Academy of Design zeigte er 289 Bilder, von denen er 49 verkaufen konnte.5
Damals reifte Tschudis Entschluss, in der Nationalgalerie eine Sammlung der jüngeren französi-
Mary Cassatt schuf wichtige Kontakte zu reichen amerikanischen Sammlern wie Louisine Elder, die
schen Malerei anzulegen.16 Er erwarb noch im August dieses Jahres Manets Gemälde von Durand-
mit ihrem späteren Ehemann Henry Havemeyer die damals größte Impressionistensammlung der
Ruel zum Preis von 22.000 Francs. Um das Geld aufzubringen, suchte er sich vier Mäzene: Eduard
Vereinigten Staaten aufbauen sollte.6 Mit der 1887 eröffneten Filiale in New York (Abb. 3) gelang Du-
Arnhold, Ernst und Robert von Mendelssohn und Hugo Oppenheim.17 Die vermögenden Kunstlieb-
rand-Ruel dann endgültig der geschäftliche Durchbruch.
haber wurden von nun an mit der jungen französischen Malerei »infiziert« – indem Tschudi sie vom
Wenig später versuchte Durand-Ruel, auch verstärkt nach Deutschland zu expandieren. Vereinzelt
Impressionismus überzeugte, gewann er automatisch neue Kunden für Durand-Ruel. Dieser erkannte
hatte er bereits in den 1870er und 1880er Jahren geschäftliche Kontakte zu Berliner Kunsthändlern
seine Chance und sandte im Oktober 1896 zwölf Gemälde zur Ansicht in die Nationalgalerie: sieben
wie Rudolf Lepke und Fritz Gurlitt gehabt. Bei letzterem fand 1883 die erste Ausstellung von Malerei
Bilder von Monet, drei von Edgar Degas, einen Pissarro und ein Bild von Max Liebermann.18 Tschudi
der französischen Impressionisten in Deutschland statt, zu der Durand-Ruel 24 Gemälde nach Berlin
erwarb zwei Werke von Monet und Degas für die Nationalgalerie,19 aber noch ein weiteres Gemälde
geschickt hatte, darunter Manets Gemälde Le chemin de fer (Abb. 9, S. 40). Damals war jedoch kein
fand einen Käufer, denn Eduard Arnhold (1849–1925) investierte 10.000 Francs für Monets Bild
einziges Bild verkauft worden. Durand-Ruels neuerlicher Vorstoß in den deutschen Markt lief nicht
Marrée basse à Pourville.20 In den folgenden Jahren baute er, beraten von Tschudi, eine der bedeu-
über Berlin, sondern zunächst über Hamburg. Der entscheidende Vermittler war der Kunstkritiker
tendsten Sammlungen französischer Malerei in Deutschland auf.21
Emil Heilbut, der auch unter dem Pseudonym Hermann Helferich bekannt ist. Der gebürtige Ham-
»Ein gut placiertes Bild macht Junge«,22 pflegte Max Liebermann zu sagen, und so traf Durand-
burger begeisterte sich für die Malerei der Impressionisten und vermittelte diese in seine Heimat, in-
Ruel in Berlin auf ein zunehmendes Interesse privater Sammler. Auch Liebermann gehörte zu seinen
8
Kunden. Neben Tschudi war er der wichtigste Fürsprecher der Impressionisten in Berlin, und auch
dem er beispielsweise 1890 den ersten Text über Claude Monet in deutscher Sprache veröffentlichte.
3
Fassade der Galerie Durand-Ruel in New York, 389 Fifth Av.,
1879, Fotografie
Entscheidend für Durand-Ruel aber waren Heilbuts Kontakte zu bedeutenden Hamburger Sammlern
seine eigene Malerei zeugte zunehmend von der Rezeption der französischen Künstler. Seit Dezember
wie Erdwin Amsinck (1826–1897)9 und Eduard L. Behrens (1824–1895)10, die er seit 1889 bei ihren Er-
1896 erwarb er bei Durand-Ruel unter anderem Bilder von Gustave Courbet und Degas,23 vor allem
werbungen beriet.11 So konnte der Pariser Händler wichtige Werke der Schule von Barbizon nach
aber interessierte er sich für Manet, von dem er damals bereits mindestens drei Werke besaß.24 Im
Hamburg verkaufen.
Oktober 1897 kaufte er erstmals bei Durand-Ruel einen Manet: Mme Édouard Manet dans le jardin de
Im Oktober 1892 berichtete Durand-Ruel in einem Brief an Heilbut von seinem Plan, nach
Auch in Hamburg war Durand-Ruel im Winter 1896 weiter erfolgreich. Nun setzte er seine bereits
seinen Plan umsetzte, wissen wir nicht. Alfred Lichtwark (1852–1914), der Direktor der Hamburger
früher geäußerte Idee um und arrangierte eine Ausstellung im vornehmen Hôtel de l’Europe am Als-
Kunsthalle, erwarb von ihm jedoch in diesem Jahr Millets Pastell Narcisses et violets. Er könnte das
terdamm (heute Ballindamm).26 Vom 5. bis 8. Dezember 1896 waren dort 38 Bilder zu sehen, von
Bild auch schon im Juni in Paris gekauft haben, denn von nun an besuchte er die Galerie Durand-
denen die meisten anschließend auch in Berlin ausgestellt wurden.27 Neben einigen niederländischen
Ruel regelmäßig. Im folgenden Jahr scheint er Durand-Ruel dann noch näher kennen und schätzen
Gemälden des 17. Jahrhunderts und hochpreisigen Bildern von Camille Corot, Constant Troyon und
gelernt zu haben: Der Kunsthändler lud ihn zu einem Besuch seiner privaten Sammlung ein, die
Millet wurden vor allem prachtvolle impressionistische Landschaften, Stillleben und Figurenbilder
Lichtwark tief beeindruckte: »Das ist eine ganz moderne Sammlung, sehr viel Monet, einige famose
von Monet, Pissarro, Degas und Renoir präsentiert.28 Jetzt konnte Durand-Ruel eine Reihe von Bildern
Manet, Degas, […], Pissarro, Sisley und namentlich Renoir […]. Alle diese Künstler kann man gegen-
an Hamburger Sammler wie Eduard Behrens verkaufen. Am wichtigsten war jedoch Lichtwarks
wärtig nur in dieser Sammlung kennenlernen. […]. Man sagt, er [Durand-Ruel] verkaufe von diesen
Ankauf von Claude Monets Stillleben Poires et raisins für die Hamburger Kunsthalle: Wenige Monate
12
Als im März und April 1895 die Große Kunst-Ausstellung des Kunstvereins in der Hamburger
4
Hugo von Tschudi, Fotografie in der Berliner Illustrierte
Zeitung 49/1911
5
Max Liebermann: Selbstbildnis vor der Staffelei, 1916, Öl
auf Leinwand, 112 x 92 cm, Bremen, Kunsthalle Bremen –
Der Kunstverein in Bremen
Bellevue.25
Hamburg zu kommen, um in einem Hotel einige Bilder Jean-François Millets zu präsentieren. Ob er
Bildern nichts. Aber dem Frieden traue ich nicht.«
52
schäftsbeziehungen nach Berlin, wo sich damals der lebendigste deutsche Kunstmarkt entwickelte.14
matige Hauptwerke wie La femme au perroquet. Das waren hoch spekulative Erwerbungen: Zu dieser
7
2
Neben seinen Aktivitäten in Hamburg knüpfte Durand-Ruel im Laufe des Jahres 1896 erneut Ge-
nach dem Ankauf der Berliner Nationalgalerie war es Durand-Ruel gelungen, an ein weiteres
deutsches Museum ein impressionistisches Werk zu verkaufen.29
Kunsthalle stattfand, wurden Lichtwark insgesamt 27 Gemälde von der Galerie Durand-Ruel zur Ver-
1897 und 1898 veranstaltete Durand-Ruel noch drei weitere Hotel-Ausstellungen in Berlin und
fügung gestellt, darunter je drei Bilder von Eugène Boudin, Gustave Courbet, Claude Monet und
Hamburg, doch der Kostenaufwand für Kisten, Transporte, Versicherungen, Hotels und Reisespesen
MANET-KONJUNKTUR IN DEUTSCHLAND |
53
LEBEN AUF MANETS BALKON
Édouard Manets Gemälde Le balcon wurde sowohl von zeitgenössischen Kritikern als auch von
Kunsthistorikern größtenteils auf systematische Brüche mit Darstellungskonventionen hin untersucht, und zwar in Hinblick auf das, was das Bild nicht bieten oder sogar aktiv verweigern würde.1
Insbesondere werden die fehlende Narration, die Abwesenheit jeglichen Zusammenhangs zwischen
den Figuren und den anderen Elementen sowie die Unbestimmtheit der Gesten und Rollen der
Protagonisten moniert. Dies sind nur einige der malerischen Kriterien der Akademie und des
Salons jener Zeit, von denen es häufig heißt, Manet habe sie unterwandert oder sogar obsolet gemacht. In vielen Beschreibungen von Manets Modernismus werden in erster Linie diese anarchischen Verweigerungen als die erste Phase der Befreiung der modernistischen Malerei von den
traditionellen, außerbildlichen Quellen des Mediums benannt. Es ist allerdings notwendig, nicht
Kat. 21 Le balcon / Der Balkon
nur die semantischen und visuellen Unvereinbarkeiten von Le balcon zu untersuchen, sondern
auch die zugrundeliegende Gesellschaftspolitik jener Zeit, die diesen Mangel an erzählerischer
Kohärenz eben erst als Mangel sichtbar machte. Die staatliche Kontrolle von Wissens- und Informationsvermittlung im späten Zweiten Kaiserreich – wie zum Beispiel die Zensurmaßnahmen
oder auch die Versuche, eine Grenzlinie zwischen dem Öffentlichen und Privaten zu ziehen –
gaben Manet in gewisser Hinsicht auch Anstöße für die komplexe Komposition des Gemäldes. Indem Manet den Zusammenbruch von Bedeutung und Botschaft inszenierte, verwies er auf den
übergeordneten Kontext, der geprägt war von den weitreichenden Versuchen des französischen
Staates, Kontrolle über Interpretation im Allgemeinen auszuüben.
Immerhin besteht ein besonders bemerkenswerter Aspekt des Gemäldes in der Anspielung
auf die Wohnung hinter dem Balkon, die uns tiefer in den Raum hineinlockt als sonst bei einem
Manet-Bild üblich. Le balcon verweigert aber jegliche konkrete Information über diesen Innenraum,
1
»Moloch«: Karikatur von Manets Le balcon, in: Belphégor
au Salon: Album critique et satirique de l’exposition de
1869, Nr. 1, 1869
außer der vagen Erscheinung des jungen Léon Leenhoff, der ein Tablett mit Getränken balanciert.
Und an der hinteren Wand erahnt man dekorative Gegenstände, darunter ein Gemälde. »Der Hintergrund ist zu undurchdringlich«, bemerkte bereits Edmond Duranty in seiner kurzen Kritik zu
Manets Bild im Jahr 1869.2 Viele zeitgenössische Karikaturen von Le balcon spielen die starken
Kontraste zwischen Vorder- und Hintergrund gegeneinander aus, sie schenken den Gegenständen
an der Wand wenig Beachtung, schieben die Figuren beiseite, um die dunkle Lücke zwischen
ihnen zu betonen oder verschmelzen Antoine Guillemet fast gänzlich mit dem übermäßig dunklen
Hintergrund (Abb. 1). Offensichtlich hat Manet diesen Innenraum erst spät in der Entwicklung des
Bilds eingefügt, denn in den noch existierenden Skizzen ist er nicht vorhanden.
Mit Le balcon fordert Manet die Betrachter auf, sowohl auf die drei Hauptfiguren des Bilds als
auch hinter sie zu schauen, in die spärlich beleuchtete Wohnung, die als Hintergrund dient.
Während die Figuren, insbesondere Berthe Morisot zur Linken und Fanny Claus zur Rechten, in ein
helles, frontales Licht getaucht sind, ist der Raum im Hintergrund in Dunkelheit gehüllt. Er verleiht
der Undurchdringlichkeit ihrer Mienen und der Mehrdeutigkeit ihrer Verhältnisse zueinander
daher einen direkten, materiellen Ausdruck. Obwohl das Gemälde über die Jahre vermutlich nachgedunkelt ist, muss dieser verschwommene Hintergrund immer schon schwer zu deuten gewesen
sein. Das ist umso bemerkenswerter als dem Künstler sehr wohl bewusst war, dass der moderne
Maler einen starken Kontrast zwischen Hell und Dunkel erzeugen musste, um die Aufmerksamkeit
der Betrachter im Salon auf sich zu ziehen, gerade dann, wenn das Gemälde hoch hing. Diese Ver-
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Kat. 21 Le balcon / Der Balkon
1868/69, Öl auf Leinwand, 170 x 124,5 cm, Paris, Musée d’Orsay
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Kat. 31 Portrait de Lise Campinéanu / Porträt Lise Campinéanu
1878, Öl auf Leinwand, 55,5 x 46,5 cm, Kansas City/Missouri, The Nelson-Atkins Museum of Art (Purchase: William Rockhill Nelson Trust) 36-5
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Kat. 32 Portrait d‘Émilie Ambre dans le rôle de Carmen / Porträt Émilie Ambre als Carmen
1880, Öl auf Leinwand, 92 x 73,5 cm, Philadelphia, Philadelphia Museum of Art. Gift of Edgar Scott, 1964
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während des Staatsstreichs von Napoléon III., konnten sie in der Pariser Rue Lafitte den Schüssen der
pro-napoleonischen Truppen nur knapp entkommen. Zwei Tage später machten die über 500 erschossenen Passanten, die auf dem Montmartre-Kirchhof aufgebahrt lagen, einen so »fürchterlichen
Eindruck«23 auf die beiden Freunde, dass ihre anti-napoleonische, republikanische Haltung durch
den Friedhofsbesuch noch bestärkt wurde. Zu dieser Zeit studierten Manet und Proust im Atelier
von Thomas Couture, in das sie 1850 gemeinsam eingetreten waren. Doch während Manet der Berufung zum Künstler treu blieb, schlug Antonin Proust eine journalistische Laufbahn ein, bevor er als
Politiker der republikanischen Regierung tätig wurde. So bekleidete er während der Belagerung von
Paris durch die preußischen Truppen vom September 1871 bis Januar 1872 das Amt des Innenministers
und zehn Jahre später, von November 1881 bis Januar 1882, das Amt des Ministers der Schönen
Künste im Kabinett Gambettas.
Kat. 42 Portrait de Monsieur Antonin Proust /
Porträt Antonin Proust
Zu Recht nennt Joachim Kaak das Porträt von Antonin Proust »das eigentlich politische Bild
Édouard Manets«. Denn die »Gelassenheit des elegant, aber zurückhaltend gekleideten Städters
zeigt den langjährigen Freund gleichsam en passant und dennoch in der Würdeformel eines königlichen Porträts von Velázquez. Die ruhige Wachsamkeit der Augen aber verrät die vielen Kämpfe, die
Proust und mit ihm auch Frankreich ausgefochten und überstanden haben. Allerdings unterstreichen
keine Attribute das Erreichte oder den gesellschaftlichen Rang des Dargestellten«24, so wie noch in
Manets früher entstandenen Porträts weiterer Freunde wie Théodore Duret (Kat. 37), Zacharie Astruc
(Abb. 1, S. 70) oder Émile Zola (Abb. 2, S. 71). Der Politiker ist ohne alles Beiwerk als Privatmensch dargestellt. Der Eindruck seiner Souveränität entsteht nicht durch eine Pose und die Attribute der
Macht, sondern durch die innere Verfassung, die im Gesichtsausdruck, in den wachen Augen und
der selbstbewussten Haltung des Citoyens zum Ausdruck kommt. Die ganz auf das Gegenüber ausgerichtete und sich zu ihm öffnende Körperhaltung sowie die auf die Taille gelegte rechte Hand und
der Stock in der Linken verweisen durchaus noch auf Velázquez’ Herrscherporträts aus der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts, die Manet so bewunderte. Doch hat der Maler in Anspielung auf den
Spanier den bei diesen Herrscherdarstellungen so häufig zu findenden Kommandostab in einen
Spazierstock verwandelt und die Herrscherpose mit der in die Hüfte gestemmten Hand in das Innehalten eines Spaziergängers, der sein Gegenüber unverwandt anschaut, so als würde er ihm auf der
Straße gerade begegnen. Prousts Porträt in Dreiviertelfigur hält die subtile Balance zwischen der statuarischen Pose in der Tradition repräsentativer Staatsporträts und einer fotografischen Momentaufnahme, die en passant den auf den neuen Boulevards von Paris flanierenden Bürger ins Bild bannt.
Als elegante Accessoires und nicht als Insignien der Macht trägt dieser republikanische Bürger in der
Gestalt des Flaneurs seinen seidig glänzenden Zylinder, das Blumebouquet im Knopfloch des blauschwarzen Gehrocks und die gelben Handschuhe – beides hingeworfen mit einer malerischen
Bravour, an der selbst der erfahrene Maler und der Porträtierte ihre wahre Freude hatten. So lässt
Manet, bald nachdem er das Gemälde vollendet hat, Proust in einem Brief wissen: »Ich erinnere mich
noch, als wäre es gestern, wie ich mit raschen knappen Strichen den Handschuh in der unbehandschuhten Linken gemalt habe. Und als Du in eben jenem Moment riefst: ›Keinen Strich mehr, ich
bitte Dich!‹, da verspürte ich eine so vollkommene Übereinstimmung zwischen uns, dass ich dem
Wunsch, Dich zu umarmen, einfach nicht zu widerstehen vermochte.«25
Diese herzliche Zuneigung findet sich auch in der Beschriftung des Gemäldes von der Hand des
Malers wieder: à mon ami Antonin Proust. Die Widmung weist einmal mehr auf das enge Verhältnis
von Maler und Modell hin, weshalb Manets Porträt von Proust in Haltung und Kleidung auch nicht
von ungefähr dem Bildnis ähnelt, das Fantin-Latour 1867 von Manet gemalt hat. In Prousts eigenen
Worten, die so gut zu Manets eleganter und modebewusster Erscheinung in diesem Bild passen:
»Auf dem Lande wie in der Stadt war er gleich sorgfältig gekleidet, er trug stets einen kurzen Rock
oder einen in der Taille sehr geschweiftes Jackett, helle Beinkleider und einen Hut mit flachen
Rändern, elegantes Schuhwerk und einen leichten Spazierstock.« 26 Manets Konterfei als modebe-
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Kat. 42 Portrait de Monsieur Antonin Proust / Porträt Antonin Proust
1880, Öl auf Leinwand, 129,5 x 95,9 cm, Toledo, The Toledo Museum of Art. Gift of Edward Drummond Libbey, 1925.108
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PA A R B E Z I E H U N G E N
Für Manets Bilder sind immer wieder die ins Leere gehenden Blicke vermerkt worden, die nicht nur
die Kommunikation der Dargestellten problematisch erscheinen lassen, sondern ebenso auch die
Beziehung zwischen Werk und Betrachter. Bei einem Großteil der Einzelfiguren, wie sie weitgehend
Manets Œuvre dominieren, fällt diese Diskrepanz insofern nicht ins Gewicht, als das Bild und der außerhalb des Bildes liegende Raum des Bildbetrachters zwei unterschiedliche Seins- bzw. Realitätsebenen darstellen. Den Betrachter, der sich diesen Unterschied bewusst macht, wird der nicht
zustande kommende Blickkontakt nicht weiter stören, bestenfalls irritieren. Zugleich aber wird er
hier den Verweis der Malerei auf sich selbst finden.
Auffallender sind hingegen die bildinternen Kommunikationsbezüge, die einerseits gegeben
und zugleich durch eine Form der Beziehungslosigkeit unterwandert sind. Sie betreffen vor allem
Manets Darstellungen von kleinen Personnengruppen, insbesondere aber Paare.
Solche Kommunikationsbrüche zeigen sich, wenn auch durch das gemeinsame Spiel kaschiert,
Kat. 49 Une partie de croquet à Paris /
Die Krocketpartie
bei der Partie du croquet à Paris aus dem Städel Museum in Frankfurt am Main. Das Krocketspiel hat
sich, als Manet es 1873 darstellt, längst als ein bei der wohlhabenden Mittelschicht beliebtes Spiel
etabliert. Auch wenn es in Frankreich schon seit dem 17. Jahrhundert bekannt war, hatten um die
Jahrhundertmitte neue Regeln aus England das Spiel für weite Kreise attraktiv gemacht.
Manets Darstellung zeigt zudem, dass nicht nur das gesellschaftliche Miteinander in den Außenraum zieht, sondern auch die Malerei. Deutlich ist eine Hinwendung zur impressionistischen Auffassung zu erkennen, die die geschlossene Malweise mehr und mehr hinter sich lässt. Die Farben, aber
auch der lockere, nicht mehr detailverhaftete Pinselstrich sind vom Licht im Außenraum bestimmt,
und dies, obwohl Manet Beobachtungen seiner Zeitgenossen folgend keineswegs nur im Freien gearbeitet hat, sondern weiterhin im Atelier, wo er nach entsprechenden Arrangements mit eigens zur
Sitzung herbeigebetenen Modellen seine Gemälde ausführt.1
Die Hinwendung Manets zur impressionistischen Malweise fällt mit den ersten Aufenthalten in
Boulogne-sur-Mer zusammen, wo er seit 1868 mit seiner Familie wiederholt die Sommermonate
verbringt. Der am Meer gelegene Ort liefert gleichsam den Auftakt für eine Folge von Arbeiten, die
in Kolorit und Sujet die Freilichtmalerei reflektieren. Und hier entsteht 1871 auch eine erste Fassung
des Krocketspiels, die Paare beim Spiel zeigt, doch weniger vereinzelt und über die Bildfläche verteilt
als vielmehr zu einer weitgehend geschlossenen Gruppe vereint. Diese Geschlossenheit weicht auf
der 1873 ausgeführten Fassung einer Vereinzelung der Spieler. Dennoch sind die Paare der Partie du
croquet à Paris nicht sich selbst überlassen, sondern im gemeinsamen Spiel zueinander in Beziehung
gesetzt. Doch ist, wie schon bei den anderen Paardarstellungen, auch hier das Beziehungsgefüge
nicht frei von Brüchen. Nur die beiden Frauen geben durch den Krocketschläger zu erkennen, dass
sie sich am Spiel beteiligen, während die zwei Herren lediglich zuschauen. Allein durch die disparate
Beteiligung am Spiel wird das Paarverhältnis ambivalent. Verbindet die beiden Frauen das Spiel, so
die Männer das Zuschauen. Bildet die eine der Spielerinnen mit einem der Herren aufgrund der
räumlichen Nähe eine kleine Gruppe, so zerfällt dieses Gefüge zum Rand hin durch den fast aus dem
Bild heraustretenden Herrn, der gleichwohl wieder durch einen gelben Sonnenfleck eingefangen
wird. Die Blicke aller im Bild Dargestellten sind entweder vom Betrachter abgekehrt oder durch die
Malweise verschleiert, weil unter dem Lichteinfall sich die Gesichter in helle Flecken auflösen. Der in
Streifen untergliederte Bildaufbau, der noch die in Boulogne-sur-Mer entstandene Darstellung des
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Kat. 49 Une partie de croquet à Paris / Die Krocketpartie
1873, Öl auf Leinwand, 72,5 x 106 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e. V.
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Kat. 54 Bal masqué à l’opéra / Maskenball in der Oper
1873, Öl auf Leinwand, 59,1 x 72,5 cm, Washington, National Gallery of Art, Gift of Mrs. Horace Havemeyer in memory of her mother-in-law, Louisine W. Havemeyer, 1982.75.1
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Kat. 55 Coin de café-concert / Eine Ecke im Café-Concert
1879, Öl auf Leinwand, 98 x 79 cm, London, National Gallery. Bought, Courtauld Fund, 1924
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