Die gestohlene Kindheit-Leseprobe-Gisela Schäfer

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Die gestohlene Kindheit-Leseprobe-Gisela Schäfer
Gisela Schäfer
Gestohlene Kindheit
Kinderjahre in der Kriegs- und Nachkriegszeit
Autobiografische Erzählung
LESEPROBE
© 2012 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden
Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Das neue Wort
Vier Jahre war ich gerade geworden, als um mich herum ein Wort auftauchte, das ich bis dahin noch nie gehört hatte: Krieg. Ich konnte mir darunter nichts vorst ellen. D ennoch macht e
es mir Angst; denn die Ges ichter der Erwachs enen verfinst erten s ich, wenn sie davon sprachen, und ihre Stimmen klangen gedrückt. In einem Atemzug gebraucht en s ie noch andere
unbekannte A usdrücke – F eind, F ront, Angriff, Kanonen. A ll das ers chreckte mich, auch
wenn mir niemand erklärte, was damit gemeint war.
Einmal erzählte einer meiner Onkel, dass jemand im Krieg gefallen war. Gefallen? Ja, davon
verstand ich etwas . Schließlich w ar ich s chon oft gefallen, meist beim Rollerfahren oder Rollschuhlaufen. Dann bluteten meine Knie und manchmal auch die Hände. Das tat w eh, und ich
jammert e immer zum Steinerweichen. Aber wenn M utti ein Pflast er darüber klebte, ließ der
schlimmst e Schmerz nach, und übrig blieb nur eine unschöne K ruste, die aber nicht mehr
wehtat.
Nach und nach begriff ich, dass es bei gefallenen Soldaten nicht um blutende Knie ging;
denn die Gefallenen kamen nicht wieder, und die Angehörigen waren s ehr traurig und weinten.
Zum ersten M al hört e ich das Wort „tot“, aber auch dies er Ausdruck w ar noch nicht mit Sinn
gefüllt. Erst als mein Lieblings kaninchen eines Tages reglos im St all lag und s ich nicht mehr
bew egte, s elbst dann nicht, als ich über sein weiches Fell streichelt e und ihm gut zuredete,
ging mir die Bedeutung dies es Wortes auf, und der erste große Schmerz überrollte mich.
Kinderfreu den mit de r Familie
Vier Jahre lang w ar mein K inderhimmel klar und s onnig gew esen. M eine Freuden hingen
vor allem mit meinem Vater zusammen. M utti war streng, aber Vati ließ mich oft jauchzen
und lachen.
Er s etzte mich auf seine Knie und spielte „Hoppe Reiter“ mit mir, bis ich „plumps“ machte
und hinunterzufallen drohte, aber er fing mich immer rechtzeitig auf.
Er hob mich hoch, um mir etwas zu z eigen oder um mich zu tragen, w enn ich müde war.
Er warf mich in die Luft und fing mich wieder auf, was ein wonniges Kribbeln in mir erzeugte und mich vor Lust aufs chreien ließ.
Er griff nach meinen H änden, die ich durch die Beine nach hinten streckte, und ließ mich in
der Luft eine Rolle vorwärts machen, einen „Trummelskopp“, wie w ir dazu sagt en.
Er ließ mich, während er rücklings im Gras lag, die nackten Füße unter meinem Bauch, einen
M eter über s ich s chw eben, w obei ich die A rme spreizte und w ie ein Flugzeug brummte.
Er s etzte mich auf seine Schultern, von wo ich den wunderbarsten A usblick der Welt hatte.
Er breitet e die Arme aus, wenn er heimkam, und w irbelte mich im Kreis herum, nachdem ich
auf ihn zu gerannt war.
Am Sonntagmorgen spaz iert e er oft mit mir auf die „Rolands höh“, einen Hügel, der gleich
hinter der Straße begann, und spendierte mir in der G aststätte oben eine herrliche grüne Brause, während er sich ein Bier genehmigt e. Ich hatte mein Glas immer viel s chneller aus getrunken als er und ruhte dann nicht eher, bis er sein Bier mit einem Ries enschluck leerte und wir
wieder gehen konnt en.
Zurück nahmen wir meist nicht dens elben Weg, sondern gingen auf der anderen Seite den
Hügel hinunter. D ann liefen wir geradew egs auf eine t iefe Senke zu, in der s ich eine Feuchtwies e aus breitet e. Sie stach mir mit der F arbenpracht ungezählter Blumen immer schon von
Weitem ins A uge, und ich rannte begeistert hinein. Dass ich hinterher jedes M al nasse F üße
hatte, störte mich nicht. Ich pflückte Blumen, vor allem Wies enschaumkraut, das ich nie mehr
in s olcher M enge irgendw o angetroffen habe, und w ar mächt ig stolz, M utti hinterher einen dicken Strauß überreichen zu können.
Auf der Rolandshöh' ließ sich aber noch anderes anstellen, als in die Gaststätte einzukehren.
Im Wint er konnte man dort Schlitten fahren, im H erbst Brombeeren nas chen und Ostern Eier
suchen. D aran kann ich mich noch besonders gut erinnern. Vati hatte vorher ges agt, ich sollt e
gut hinschauen, der Osterhas e hätte dort etwas für mich versteckt. Zunächst fand ich nichts,
aber dann gab Vati mir einen Tipp, mal links unt er einem Bus ch nachzusehen. Zu meiner
größten Freude entdeckte ich dort ein rotes Ei und hob es strahlend hoch.
„Komm, gib es mir!“, s agte Vati. „Ich stecke es in meine M anteltas che, dann hast du die
Hände frei.“
Ich reichte es ihm hin und hielt A usschau nach w eit eren Eiern. Nicht lange danach lag ein
blaues in einem G ras büs chel zur Recht en. U nd so ging das weiter. Immer nur wenige M eter,
und w ieder wurde ich fündig. A llerdings w aren es ausnahms los rote und blaue Eier.
„Der Osterhas e hatte sicher keine anderen F arben mehr“, vermutete ich, w orauf mein Vat er
in Lachen ausbrach.
Als ich etwa z ehn bis fünfzehn Eier aufges ammelt hatte, gingen w ir heim. Jubelnd rief ich
M utti entgegen:
„Ich habe ganz viele Eier gefunden, aber nur rote und blaue.“ Zu meinem Vater gewandt,
fuhr ich fort : „H ol die mal raus, Vati!“
Da griff er in s eine M anteltas che und legt e zwei Eier auf den Tis ch.
„Wo sind denn die anderen?“, fragt e ich fassungslos.
„Es waren immer dies elben, die du gefunden hast“, erw iderte Vati.
Ich fing an zu weinen.
Er nahm mich in den Arm und s agte:
„Wir haben doch nur ein Suchspiel gemacht, daran hattest du doch Spaß, oder? Du brauchst
nicht zu w einen. A ls wir unterw egs w aren, hat der Osterhas e ein Körbchen für dich hier gelass en. Schau mal!“
Wahrhaftig, da stand es, und es w aren Eier in mehreren Farben darin und dazu eine Handvoll
Bonbons. D a vers iegten meine Tränen sofort.
Erlebniss e mit Vati waren, weil er den ganz en Tag arbeiten musst e, selten und des halb umso
kostbarer. Die Erinnerungen meiner frühen Kindheit, die sich mir am tiefst en eingebrannt haben, hängen fast immer mit ihm zusammen.
Natürlich gab es auch s chöne Erfahrungen mit M utti. Sie war zum Beispiel zuständig für
M ärchen und G es chichten, die ich nicht oft genug hören konnte. Aber sie mussten am Ende
gut aus gehen. Als s ie mir einmal die traurige Erzählung von G enoveva und Schmerzensreich
vorlas, habe ich bitterlich geweint und gejammert, s ie sollte aufhören. A uch das Lied von dem
kleinen Wais enjungen, der s eine M utter auf dem F riedhof besuchte und am nächst en M orgen
dort tot im Schnee lag, erfroren, konnte ich nicht ertragen. Ich wollt e „s chöne“ Lieder und
Geschichten hören!
Spaß hatte ich an F amilienunternehmungen. M ehrmals machten wir an einem Sommersonntag einen Spaziergang in den Wald. D ann w aren immer T ante Lore und O nkel P eter mit von
der Partie. Vati und Onkel P eter hatten Wanderstöcke dabei, die s ie so lustig hoch- und zurück schw angen, dass ich hellauf lachen musste. A m allerschönst en war es , dass Onkel P eter
seinen Stock manchmal in die Luft warf. Das sah immer so aus , als w äre er ihm unabs ichtlich
aus der Hand gerutscht. Ich schrie jedes M al vor Schreck auf. Ums o größer w ar dann aber die
Freude, wenn er ihn w ieder geschickt auffing.
Das Bes ondere an dies en Wanderungen w ar, dass dabei gesungen wurde. Onkel P eter w ar
der M usikus in der F amilie. Er s ang im M ännerges angverein und spielte M andoline. K aum
hatten wir die Wohngegend hint er uns und waren im Wald angekommen, stimmt e er das erst e
Lied an. A m besten gefielen mir „Das Wandern ist des M üllers Lust“ und „Auf der H eide
blüht ein kleines Blümelein.“ In der zweiten Zeile „und das heißt … Erika“. schmetterte Onkel Pet er mit seiner kräftigen St imme jedes M al in die P ause „…zwo, drei, vier“ hinein. Darauf wartete ich immer schon und fiel begeist ert mit ein.
Einmal w aren w ir los gezogen, um Waldbeeren zu sammeln. J eder hatte eine K anne oder ein
Eimerchen dabei, und wir drehten jeden Waldbeeerstrauch um, da sich die Beeren erfahrungs gemäß darunter verst ecken. Aber w ir fanden nichts, absolut nichts. Ob es viel zu früh in der
Zeit war oder ob w ir zu spät dran w aren, weiß ich heute nicht mehr, nur noch das eine, dass
wir mit leeren K annen heimwärts zogen und dass es nichts wurde mit den WaldbeerPfannekuchen, die M utti uns versprochen hatte.
Dies e Ausflüge dauerten immer mehrere Stunden und endeten jedes M al damit, dass ich müde wurde. D ann stellte ich mich vor Vati, jammerte: „Schlappe Beine!“ und streckte ihm die
Arme ent gegen. M utti meint e zwar immer, ich wäre alt genug, um alleine zu laufen, aber Vat i
erbarmte s ich jedes M al und nahm mich auf den Arm, bis ich mich ein bisschen erholt hatte.
Sehr gern spielt e ich mit den K indern unserer Vermieter in deren Gart en, mit der ein Jahr
jüngeren Irene und M artin, der ein Jahr älter war als ich. Wir buddelten im Sandkasten, backten Sandburgen, s chaukelt en, wälzten uns durchs Gras, s chlugen Purz elbäume, w arfen uns
Bälle zu und versuchten uns im Handstandmachen, w as natürlich noch nicht klappte. Dies es
M iteinander mit den beiden tröstete mich darüber hinw eg, dass ich nicht das ers ehnt e Brüderchen bekam, für das ich immer Würfelzucker auf die F ensterbank legt e. Zwar schenkte meine
M utter zwei Jahre nach mir einem kleinen Jungen das Leben, aber da er am zweiten T age
starb, hatte ich nie den gewüns chten Spielgefährten.
Vorlieben
Ein Highlight in meinem K leinkinderleben w ar das „Licht- und Luftbad“. Es w ar, wie man
heute s agen würde, ein Freizeitcenter. A ber diesen N amen kannte man damals noch nicht. D ie
kleine Einrichtung bot genügend Platz und G elegenheit, s einen Körper dem Licht und der
Sonne auszus etzen, also gew issermaßen darin zu baden. Von daher passte der N ame aus gezeichnet, auch wenn ich darüber lachte, w eil ich meint e, baden müsste immer mit Wasser zu
tun haben.
Wenn man an der K asse den Eintritt bez ahlt hatte, teilten s ich die Familien. D ie Frauen und
M ädchen musst en nach links, die M änner und Jungen nach rechts. D ie Umkleideräume, die
Liegepritschen, ein Sandkasten und ein Rundlauf s owie die Wiese drum herum konnten als o
nur nach G eschlechtern getrennt benutzt werden. Ging man jedoch durch die hintere Tür in
der Bretterw and, stieß man auf ein noch größeres Terrain mit vielen Sitzgelegenheiten. H ier
trafen die F amilien w ieder zusammen und konnt en s ich im Schwimmbecken oder bei Ballspielen auf einer großen Wies e vergnügen. Für die K leinen gab es ein Plans chbecken und für
die Größeren verschiedene Schaukeln. Eine Querschaukel für viele P ersonen hatte es mir angetan. Ich war zwar klein, aber wild und mutig, es konnt e mir nie hoch genug gehen! So stand
ich immer an den Seiten, wo man akt iv am Hochs chaukeln mit arbeit en konnte.
Ebenso liebte ich den Rundlauf im Frauentrakt. Wenn mehrere Pers onen an den Griffen hingen und sich am Boden abst ießen, drehte s ich das G erät ganz schnell. Dann zog ich mich immer hoch und setzte mich auf den untersten Holm. Weil die anderen den Schwung beibehielten, wurde mein Sitz durch die Fliehkraft ein biss chen nach außen gedrückt wie bei einem
Kettenkaruss ell. H errlich w ar das! Es löste ein Kribbeln in meinem Bauch aus , das sich ähnlich anfühlte wie die höchst en G enüss e, die ich kannte, Eis und Schokolade.
Im Licht- und Luftbad fühlte ich mich überglücklich. Bei gut em Wetter w ar ich in der warmen Jahresz eit fast jeden T ag mit M utti dort. Vati w ar allerdings nur selten dabei, nur s onntags; denn er musste ja bis zum Abend arbeit en. An heißen T agen gingen meine Eltern aber
später noch einmal hin, w enn sie mich zu Bett gebracht hatten.
Einmal muss ich mich s elbstständig gemacht haben, w ie M utti mir später erzählte. Sie spielte
mit Vati und Freunden auf der Wiese Faustball, als eine Bekannte vorbeiging und rügend s agte: „Is t das nicht etwas spät für eur e Kleine?“
„Wieso?”, fragt e M utti zurück. „D ie liegt doch s chon lange im Bett. Ich habe sie eben nach
Hause gebracht.“
„Na, dann geh mal nach nebenan”, ent gegnete die Bekannte.
Als meine Eltern nachguckten, hing ich w ie so oft am Rundlauf. Sie waren wohl ziemlich
entsetzt darüber, dass ich wieder aufgest anden w ar. Ich hatte mich höchst selbstständig angezogen und war über drei vers chiedene Straßen alleine zum Licht- und Luftbad spaziert. Zwar
gab es damals kaum Autoverkehr. Aber meine Eltern waren doch ges chockt und las en mir
tüchtig die Leviten. So etwas habe ich dann nie w ieder gemacht.
Erw ähnen muss ich noch, dass ich ein unruhiges und aufmüpfiges Kind war. Ich wollte alles
mitbekommen, alles wiss en, alles erklärt haben und t at etwas , was mir immer w ieder als besonders s chlimm angekreidet w urde: Ich gab Widerw orte. Das machte mich nicht sonderlich
beliebt!
Aber M utti fand zwei M ittel, mich ruhig zu stellen: M alst ifte und Bauklötze. Ich malte für
mein Leben gern und legte großen Wert darauf, für alles, w as ich zu Papier brachte, auch die
richtigen Farben zur Verfügung zu haben. So kam es, dass ich eine große Auswahl an Buntstiften hatte, obgleich die M enge an sonst igem Spielzeug s ich s ehr in Grenzen hielt. Wenn ich
darüber nachdenke, w as ich alles bes essen habe, fallen mir neben den schon erw ähnt en Bauklötzen einige Bücher ein, ein Domino-Spiel, ein Ball, ein Kreis el, eine Puppe und ein Teddy.
Vielleicht war es noch etwas mehr, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Klötze hatte ich mehrere, einen Bilderbaukasten, mit dem man sechs vers chiedene Bilder zusammenstellen konnte, und einen K asten mit verschieden geformt en Bausteinen. D amit konnte ich alleine und lange spielen und immer wieder neue Türme und Häuser bauen. Nach Aus sage meiner Eltern räumte ich sie noch nach vielen M onaten immer genau in der A nordnung
wieder in den Karton ein, w ie ich s ie beim erst en M al vorgefunden hatte.
Am intensivsten aber bes chäftigt e ich mich mit M alen. Wie meine Eltern später immer erzählten, hörte man mich, wenn ich malte, zwei Stunden lang nicht, so sehr war ich auf meine
Tätigkeit konzentriert, und es stand in den Kinderjahren bei mir fest, dass ich später mal M alerin w erden würde. Leider ist das aber, als ich heranw uchs, ganz in Vergess enheit gerat en;
denn als ich die H öhere Schule besucht e, spielte lange Zeit bei mir die Ratio die H auptrolle,
und meine ganze Liebe galt der M athematik.
Verwan dte
Neben meinen Eltern war die wichtigste Pers on in meinem Kinderleben meine Omi, Vatis
M utter. Sie w ar immer schwarz angezogen und trug meist ens eine Schürze. Omi kannte nur
ihre Arbeit im H aus und im Schrebergarten, die K irche und die Läden, in denen s ie regelmäßig einkaufte.
Sie w ar klein von Gestalt und hatte nur noch einen einzigen Zahn, wodurch ihr M und eingefallen aussah und das Kinn hervortrat. Es ist mir heute s chleierhaft, wie sie ohne ein vernünftiges Gebiss kauen konnte. Ich glaube, sie s chnitt sich alles sehr klein. Ihre Haare waren
schlohw eiß und zu einem nur fingerdicken Zopf geflochten, den s ie am H interkopf zu einem
dünnen K noten rund gest eckt hatte.
Unsere Omi wohnte in einem vierstöckigen M ietshaus mit einem Tabakw arenges chäft zur
Straße hin. In den drei unt eren Stockwerken befanden s ich immer zwei Wohnungen nebeneinander. Statt einer Klingel hatten sie eine G locke, die golden aussah. Ich hätte ja zu gerne mal
damit geläut et, traute mich aber nicht. U nter dem D ach war alles anders . Da gab es nur Einzelzimmer. Das eine war die Was chküche, zwei andere Räume, die einander gegenüber lagen,
durch eine riesige Diele getrennt, hatte die Omi gemiet et. Das linke hatte sie als geräumige
Wohnküche, das rechte als Schlafz immer eingerichtet. A m Ende des F lures wohnten noch
zwei w eit ere Familien.
Die Toilette für alle drei F amilien lag zwis chen dem dritten und vierten Stockwerk im Treppenhaus . Ich erinnere mich noch an die Strippe, an der man z iehen musste, um die Wasserspülung aus dem oben angebrachten K asten in Tätigkeit zu setzen, und daran, dass es in dem
winzigen Raum immer kalt war. Eine Zentralheizung gab es ja noch nicht, und das F enster
stand auch im Wint er fast immer „auf kipp“.
M utti und ich besuchten die O mi oft. Wir mussten von unserer Wohnung aus zw ei Kilomet er
den Berg hinunt ergehen. Der H inw eg w ar ja nicht s chw er, aber zurück jammert e ich oft. Es
half nur nichts. Einen Bus den Berg hoch gab es nicht, und M utti konnte ein großes Kind von
vier, fünf J ahren nicht mehr tragen.
Hin und wieder war ich mal ein paar Stunden alleine bei meiner O mi. Bes onderen Spaß hatte
ich, wenn sie dann mit mir zum Schrebergarten ging. Er lag an einem Berghang, und es floss
ein winziges Bächlein hindurch. Die Äpfel und Birnen von den Bäumen am Ufer lagen oft im
Wass er. Ich durfte sie mir herausklauben und verspeis en und auch von den J ohannis- und Stachelbeeren, die am Gartenrand an Büs chen heranreiften, naschen. Das war für mich ein richtiger Traum – fris che Beeren s elber abzupflücken und zu „s chnabulieren“, w ie wir dazu s agten.
Besondere Ereignisse in meinem Kinderleben w aren ferner die F amiliengeburtstage, die immer bei Tant e Erna und Onkel Walter stattfanden, w eil die beiden als Einzige ein H aus besaßen und somit mehr P latz hatten als alle anderen mit ihren M ietwohnungen; denn P latz
braucht e man für die Ries enfamilie. Bei acht G es chwist ern samt Ehepartnern und K indern
kamen schnell zwanzig, dreißig P ersonen zusammen.
Es ging immer lebhaft zu! Tante Erna w ar bekannt für ihre K och- und Backkünste und Onkel
Walter ebenso w ie Onkel Pet er, s ein Bruder, für s eine verrückten Einfälle, an denen die übrigen Familienmit glieder, besonders wir Kinder, den größten Spaß hatten. Wenn die beiden
Brüder einander ein Zeichen gaben und dann nach draußen vers chw anden, wussten wir schon,
dass es gleich w ieder etwas zum Lachen geben würde. So zum Beispiel, als sie einmal die
Schnapsidee hatten, als weibliches Ges angs -Duo in Tante Ernas best en Sachen aufzutreten!
Die ganze Familie wieherte los , als die beiden nach lautem Anklopfen hereinspaziert kamen;
denn die Tant e hatte eine stattliche Walküre-Figur, die sie durch ein mächtiges Korsett zusammenhielt, und die beiden eher s chmächt igen M änner ertranken geradezu in ihren umfangreichen K leidungsstücken! Das G elächter erst arb dann jäh, als Onkel Walter zus ätzlich einen
Stepptanz darbot und dabei schief auftrat, wodurch an den Pumps ein Abs atz abbrach. Während Tante Erna eine minutenlange Schimpfkanonade losließ, vers chw anden die beiden „Sän-
ger“ s chnellst ens von der Bildfläche und ließen s ich erst w ieder blicken, als der verärgerten
Hausherrin die Worte aus gingen.
Tante Erna w ar also eine tücht ige Hausfrau und s ehr gastfreundlich, andrerseits aber streng
und energisch. M it den letzten beiden Eigens chaften kam ich einmal auf besondere und nicht
sehr angenehme Weise in Berührung. D as w ar, als M utti ihr das Leid geklagt hatte, dass ich
so eine schlechte Ess erin wäre (ich war von klein auf unterernährt), und s ie muss wohl hinzugefügt haben, dass ich keine dicken Bohnen mocht e. D arauf erwiderte T ante Erna: „Bei mir
essen alle Kinder. Bring die K leine mal mittags zu mir!“ Ja, und dann saß ich da vor einer
Portion dicken Bohnen und bekam gesagt , ich dürfte das Zimmer nicht eher verlass en, bis der
Teller leer wäre. Nach einiger Zeit kam ich dann anspaziert. Tante Erna kontrollierte den Teller, stellte befriedigt fest, dass er leer war, und freute sich sicher über ihre gut funkt ionierende
Erziehung. Etwas später bekam ihr Stolz dann einen gew altigen D ämpfer. Als s ie nämlich
Kohlen auf den Ofen nachlegen wollte und dafür den Kohlenkasten öffnet e, s ah s ie zu ihrem
Entsetzen darin die dicken Bohnen liegen, die ich kurzerhand dahin entsorgt hatte. Natürlich
gab das Ä rger und vermut lich auch einen „Klaps hinten drauf“, w as ich nicht mehr genau
weiß. Aber es ist anzunehmen, und wahrs cheinlich habe ich dann Zet er und M ordio geschrieen. Ich finde die Bestrafung noch heut e ungerecht. Tant e Erna hatte doch nur befohlen, den
Teller leer zu machen, und das hatte ich getan. Konnt e ich etwas dafür, dass s ie sich das anders vorgest ellt hatte?!
Tante Erna ging ich s eitdem möglichst aus dem Weg. G eliebt aber habe ich Onkel P eter,
ihren Schw ager. Er w ar ein Unikum. Ihm fiel auch, wenn er nicht mit seinem Bruder zus ammen w ar, immer etw as Verrückt es ein, z. B. seine D arbietung, als O mi und ich einmal bei ihm
und Tante Lore übernacht eten. Wie das damals üblich war – zu einer Zeit, als es noch keine
Gästezimmer gab – musst e man, w enn jemand über Nacht da war, zusammenrücken, d. h wir
schliefen zu viert in den Ehebetten.
Die O mi und ich lagen in dem einen Bett, Tante Lore in dem anderen, und w ir w arteten auf
Onkel Pet er, der s ich als Letzter fert ig machte. Als er endlich ers chien, verneigte er s ich und
hielt eine Rede, so als wäre er ein berühmter Zauberkünst ler, der jetzt etwas ganz Großart iges
vorführen wollte: „Hochverehrtes Publikum, meine D amen, Peterchen Wundermann zeigt Ihnen jetzt ein A krobatenstück, das Sie noch nie ges ehen haben. A chtung, aufgepasst!“ Er nahm
Anlauf, sow eit der Kleiderschrank hinter ihm das zuließ, hielt die Arme hoch w ie bei einem
Kopfsprung ins Wasser und hecht ete über das Fußende hinw eg ins Bett. Im s elben M oment
gab es einen gewaltigen Krach, Onkel P eter lag auf einmal 30 cm tiefer, und Tante Lore kollerte auf ihn. D as Bett war zus ammengebrochen! Ich musste so lachen, dass ich Tränen in den
Augen hatte. Tante Lore aber fand die Sache gar nicht komisch. Sie s chimpfte w ie ein Rohrspatz, minutenlang!
Das Fatale war, dass die beiden natürlich in einem kaputten Bett nicht schlafen, aber auch
nirgendwohin ausw eichen konnt en. N ebenan lagen O mi und ich, eine Couch hatten sie nicht,
und mitten in der N acht konnt e man s chlecht mit Hämmern anfangen; die beiden wohnten
schließlich in einer M ietwohnung. Onkel P eter, der clevere K opf, fand aber eine Lösung. Er
holte aus dem K eller eine Kiste, die er unter s eine Betthälfte s chob. Die beiden mussten dann
ganz ruhig liegen, damit es nicht wieder krachte. Tante Lore s agte später, sie hätte vor lauter
Angst die ganze N acht kein Auge zugetan. Und am nächsten M orgen hatte Onkel Pet er dann
allerhand zu tun, um das Bett wieder zu reparieren. Aber immerhin hatte er sein Versprechen,
etwas nie G esehenes gezeigt zu haben, gehalten!
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