Horrorkids? - Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH

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Horrorkids? - Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH
Horrorkids?
Jugendkriminalität:
Ursachen – Lösungsansätze
Herausgegeben von:
Adolf Gallwitz
Norbert Zerr
Mit Beiträgen von:
Dieter Beese, Gunther Dreher, Udo Dreher,
Norbert Gescher, Heike P. Gramckow,
Werner Jakstat, Christoph-E. Palmer,
Bernd Rösch, Uli Rothfuss, Hans-Dieter Schwind,
Wiebke Steffen, Peter Struck,Wolfgang Weikert
VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH
Buchvertrieb
1
Vorwort
„Jugendlicher Amokläufer erschießt vier Menschen in Bad Reichenhall.“
„Lehrerin in Meißen von eigenem Schüler erstochen.“ „Schüler nach Pausenstreit mit Messer schwer verletzt“ – Schlagzeilen, wie sie in dieser oder
ähnlicher Form in jüngster Zeit häufig zu lesen waren. Quer durch die
Bevölkerung geht die Diskussion darüber, warum Jugendliche in immer
stärkerem Maße Gewalt anwenden oder Opfer von Gewalt werden.
War der Verlauf der Jugendkriminalität in den 80er Jahren noch weitgehend unauffällig und entsprach parallel der übrigen Kriminalitätsentwicklung, so ist in den Jahren 1990 bis 1999 ein enormer Anstieg zu verzeichnen. In diesem Zeitraum verdoppelte sich nahezu die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen. Täter, aber auch Opfer, werden immer jünger, die Taten – so titeln die Tageszeitungen – immer gewalttätiger, immer brutaler.
Im Gegensatz zu manchen Jugendexperten dürfte die Auffassung, dass
die Kinder- und Jugendkriminalität als „normales Phänomen“ zu betrachten und damit zu vernachlässigen sei, nicht zutreffen. Auch die Prognose, dass sich kriminelles Verhalten auf eine „altersbedingte Phase“ reduziere und sich „auswachse“, dürfte zu gewagt sein. Die polizeiliche Alltagserfahrung spricht häufig genug dagegen: Kriminelle Karrieren können recht früh und bereits mit einem Ladendiebstahl beginnen und sich
durch ein ganzes Leben ziehen.
Die Gewerkschaft der Polizei bemüht sich seit Jahren darum, die Diskussion um die gestiegene Kinder- und Jugendkriminalität bei aller Bedeutung, die diesem Thema zukommen sollte, zu versachlichen. Es empfiehlt
sich nicht, sich in die Reihe derer einzugliedern, die stets, wenn ein neuer
spektakulärer Fall medienwirksam aufgearbeitet wird, neben den Erklärungsmodellen auch immer die dazugehörigen Lösungsansätze in Form
von Patentrezepten parat haben. Vielmehr erfordert nicht zuletzt auch
die Komplexität des Problems eine Verfahrensweise, die problemadäquate
Ursachenforschung und verantwortungsbewusste Lösungsansätze miteinander vereint.
In diesem Sinne ist das Buch zu verstehen. Mit Beiträgen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus geschrieben sind, versuchen sich die
Autoren dem Problem mit der gebotenen Differenzierung zu nähern. Die
Bandbreite der unterschiedlichen Sichtweisen verhindert zum einen einseitige Analysen zum anderen Patentrezepte und Allheilmittel.
Norbert Spinrath
(Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
von Norbert Spinrath ................................................................................
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Erster Teil:
Phänomenologie – Kriminalätiologie – Ursachenforschung .........
9
Einführung
von Gunther Dreher und Norbert Zerr .....................................................
Kinder und Jugendliche sind zunächst einmal Opfer!
Ein Plädoyer gegen klare Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge und einfache Rezepte
von Adolf Gallwitz .....................................................................................
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Junge Ausländer: Lebenslagen und Delinquenz
von Wiebke Steffen .....................................................................................
30
Jugendkriminalität durch Erziehungsfehler
von Peter Struck .........................................................................................
50
„Jugendkriminalität“ aus ethischer Perspektive
von Dieter Beese .........................................................................................
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Jugend ohne Vorbilder? – Einer, der es geschafft hat:
Wie war das mit Wolfgang Niedecken?
von Wolfgang Weikert ................................................................................
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Zweiter Teil:
Lösungsansätze – Präventionsgedanken und -möglichkeiten ......
113
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Bekämpfung der Jugendkriminalität – Möglichkeiten und Grenzen
der Politik
Ein Beitrag aus baden-württembergischer Erfahrung
von Christoph Palmer ................................................................................ 115
„Kultur und Anti-Aggressivitätstraining gegen Jugendgewalt“ –
Ein vielversprechender Ansatz?
von Uli Rothfuss ........................................................................................
Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht in den USA –
Schwingt das Pendel wieder zurück?
von Heike P. Gramckow ..............................................................................
Boot-Camp-Programme als jugendstrafrechtliches
„Allheilmittel“?
von Norbert Gescher ...................................................................................
163
172
194
3
Inhaltsverzeichnis
Gewaltprävention in der Schule
von Hans-Dieter Schwind ..........................................................................
„Virtuelle Präsenz“ – Ein innovatives Projekt der Kriminalpolizei Villingen-Schwenningen in der Bekämpfung der
Jugendkriminalität
von Gunther Dreher ...................................................................................
AG „Wir gegen Jugendkriminalität“ – Ein in Westmittelfranken
praktizierter gesamtgesellschaftlicher Lösungsansatz
von Bernd Rösch, Werner Jakstatt und Udo Dreher ..................................
215
231
239
Jugend ohne Vorbilder? Einer, der es nicht geschafft hat:
Tod eines Jugendidols – Rob Pilatus von Milli Vanilli
von Gunther Dreher und Norbert Zerr .....................................................
265
Autoren- und Herausgeberverzeichnis ..............................................
275
Stichwortverzeichnis .............................................................................
279
4
Erster Teil:
Phänomenologie
Kriminalätiologie
Ursachenforschung
5
Einführung
Gunther Dreher und Norbert Zerr
Spiegeln Fälle wie „Mehmet“ oder Sascha K., der einen jungen Polizeibeamten und einen Polizeihund niedergestochen hat, die herrschende Situation der Jugendkriminalität in unserer Republik wider?
Diese Fälle erregen die Gemüter und sorgen flächendeckend für Empörung und spektakuläre Berichterstattungen.
Die öffentliche Diskussion liefert eine Vielzahl von Erklärungsmodellen,
wobei die Meinungen von erschreckenden Szenarien bis zur Negierung
einer quantitativen oder qualitativen Zunahme dieser Art von Kriminalität kontrovers auseinander gehen.
Solche Einzelfälle machen unmissverständlich deutlich, wohin Jugendkriminalität in ihrer ausgeprägtesten Form noch führen kann. Es finden
sich für diese Auswüchse in der soziologisch-kriminologischen Literatur
genügend Erklärungsmodelle, die die Ursachen hinreichend kennzeichnen. Oftmals werden dazu die klassischen wie neuen Kriminalitätstheorien strapaziert oder es werden einfach nur „Mixturen“ aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Erklärungsmodellen gefertigt. Gleichgültig, welche Theorie oder Ursache wir uns zurechtlegen oder welche ausschlaggebend sein kann, es bleibt festzuhalten, dass hier in erheblichem
Umfang Handlungsbedarf besteht.
Wo soll man ansetzen?
Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich in unserer Gesellschaft tief greifende Wandlungen vollziehen, dass sich traditionelle Strukturen auflösen. Das „Ich“ steht im Vordergrund, Ellbogen sind angesagt, keiner traut
dem anderen mehr über den Weg, Menschlichkeit und tradierte Werte
verliert immer mehr an Bedeutung.
Solidarität, was ist das?
Dieser Zustand wirkt sich gerade auf junge Menschen, in welcher Form
auch immer, aus.
In einer gefühlskalten Umgebung verlaufen sich junge Leute häufig auf
der Suche nach ihrem eigenen Lebensweg. Orientierungshilfen gehen
mehr und mehr verloren und unser Zusammenleben gestaltet sich in einer zunehmend kühler werdenden Atmosphäre.
6
Einführung
Wie sollen sich Jugendliche in einer solchen Gesellschaft zurechtfinden?
Endlich haben wir die grenzenlose Freiheit erreicht. Nicht nur Landesgrenzen fallen weg, sondern auch die Grenzen, die das Zusammenleben
miteinander und die Privatsphäre des Einzelnen regeln sollten. Die einzelnen Generationen reiben sich nicht mehr „direkt“ aneinander, sondern
fließen vielmehr ineinander.
Kinder werden zu kleinen Erwachsenen und Erwachsene, bei denen sich
das Älterwerden von Jahr zu Jahr bemerkbar macht, trimmen sich häufig
gewaltsam auf eine ewige Jugend in Fitnesszentren, Schönheitsfarmen
etc. Nebenbei bemerkt blüht der Kommerz überall dort, wo sich der Jugendwahn niederschlägt. Auch diese gesellschaftliche Veränderung wirkt
sich sicherlich auf das Verhalten der Jugend aus. Grundsätzlich gilt festzuhalten, dass unsere Jugend nicht besser oder schlechter ist, als dies vorherige Generationen waren.
Was in unserer hektischen Zeit stark vermisst wird, ist die richtige Erziehung.
Wie erzieht man Kinder in einer fast tabulosen und ichbezogenen
Gesellschaft überhaupt noch einigermaßen richtig?
Kinder schränken junge Eltern, die es erst lernen müssen, Kinder zu haben, auch in ihrer persönlichen Entfaltung ein. Allzu schnell liegen dabei
die Nerven blank. Ein Kabarettist wurde einmal in einer Talkshow auf
seinen Hund (den er hat) und Kinder (die er nicht hat) angesprochen. Er
ließ dabei die „comedyträchtige“ Bemerkung fallen: „Lieber den Teppich
versaut, als das ganze Leben“. Es findet sich also auch sicher genügend
Zündstoff in der Familie, in der Erziehung und im Umgang mit Kindern.
Gerade dort aber vollziehen sich gravierende Schritte, die sich auf den
Reifeprozess und das Formen der Persönlichkeit von Kindern und späteren Erwachsenen auswirken. Kinder selbst haben nur geringe Möglichkeiten, auf ihre Eltern und die Entwicklung ihrer Familie einzuwirken.
Die Scheidungsraten erreichen Rekordhöhen. Ausgehend davon, könnte
die Zukunft so aussehen, dass Kinder sich regelmäßig an wechselnde
Bezugspersonen, wie neue Elternteile und Geschwister, gewöhnen oder
darauf einstellen müssen.
Sofern Erziehung in unserer „modernen“ Zeit überhaupt noch ernsthaft
versucht wird, stellt man häufig fest, dass sich immer mehr Eltern schnell
dabei das Heft aus der Hand nehmen lassen und letztendlich resignie7
Einführung
ren. Zugegeben, es ist nicht einfach, sich tagtäglich mit Kindern auf einer
gewissen Ebene und in einer Vorbildfunktion auseinander zu setzen. Darüber hinaus sorgt die heutige Arbeitswelt nicht unbedingt für ausgeglichene Eltern, die zudem im Kampf um Erhalt des Arbeitsplatzes und im
Streben nach Karriere zusätzlichen belastenden Stressfaktoren ausgesetzt
sind.
Soll die Schule wieder ins Gleichgewicht bringen, was bereits zu
Hause nicht funktioniert?
In den Fällen, in denen Kinder kriminalitätsanfällig werden und als Jugendliche „zur Tat“ schreiten, spielen die Biographien bekanntermaßen
eine ausschlaggebende Rolle. Diese Biographien sind sich in der Regel
ähnlich. Zerrüttete Familienverhältnisse, „Schlüsselkind“, kaum bis keine Erziehung, geringe Schulbildung, Abschiebung in Heime und viele
andere Negativfaktoren sind mitursächlich, dass Kinder und Jugendliche deviant werden können.
Bei der Analyse der Kinder- und Jugendkriminalität ist allerdings eine
bedeutende Komponente zu beachten und zu unterscheiden: die Qualität des kriminellen Verhaltens. Die häufigsten Delikte sind immer noch
im Bereich der Eigentumskriminalität, insbesondere beim Ladendiebstahl,
oder Sachbeschädigungen (Vandalismus) zu finden. Vielfach handelt es
sich dabei einfach nur um Mutproben oder um eine maßlose Ausgelassenheit, die bei Kindern und Jugendlichen entwicklungsbedingt oder aus
Gegebenheiten des Umfelds heraus auftreten kann.
Erschreckend und bedenklich ist, dass Gewalt gegen Personen oder Sachen eine zunehmend größere Rolle spielt.
Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass dies ein gesamtgesellschaftliches
Problem ist, dem wir nur durch Einbeziehung der unterschiedlichsten
Fachdisziplinen begegnen können. Diesen Grundgedanken spiegelt dieser Sammelband wider.
Unter den Überschriften „Ursachenforschung“ und „Lösungsansätze“
sind hier durchaus kontroverse Beiträge versammelt, die das Thema aus
der Sicht des jeweils Schreibenden beleuchten und sich mit den oben aufgeführten Fragen auseinander setzen. Dem Leser soll durch diese Vorgehensweise der aktuelle Diskussionsstand verdeutlicht und darüber hinaus die Möglichkeit angeboten werden, sich ein eigenes Meinungsbild
zu verschaffen.
Ein Blick in das Themenfeld der „Jugendidole“, deren Vorbildfunktion
nicht zu unterschätzen ist, soll darüber hinaus an zwei Beispielen zeigen,
8
Einführung
wie schwer es ist, aus dem Sog der suchtbedingten Abhängigkeiten herauszukommen, und wie tief der Absturz – auch in die Kriminalität und
Selbstzerstörung – sein kann.
Angesichts der Komplexität der Thematik erscheint dies, nach Ansicht
der Herausgeber, die angemessene Verfahrensweise zu sein, um sich differenziert mit einem Problem zu befassen, das uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin verstärkt beschäftigen wird.
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