Lyrikauswahl, Seite 54

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Lyrikauswahl, Seite 54
Gedichte und Lieder
Auswahl zur Einführung
in die Lyrikanalyse
[Druckempfehlung: 2 Seiten pro Blatt]
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
G. Naschert
WiSe 2005−2006
INHALT
Erster Teil: Gedichte
Martin Opitz: Ach Liebste / laß vns eilen
Paul Fleming: An Sich
Andreas Gryphius: Thränen in schwerer Kranckheit
Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau: Sonnet. Vergänglichkeit des schönen
Johann Christian Günther: Studentenlied (Das Haupt bekränzt, das Glas gefüllt!)
Friedrich v. Hagedorn: Das Dasein
Friedrich G. Klopstock: Der Zürchersee
Johann Wolfgang v. Goethe: Prometheus / Römische Elegien, V / Mignon /
Daimon, Dämon
Friedrich Schiller: Nänie / Distichen
Friedrich Hölderlin: Hyperions Schicksalslied / An die Parzen / Menschenbeifall /
Brot und Wein (1. Strophe)
Ludwig Uhland: Romanze vom Rezensenten
Heinrich Heine: Im Hafen
Adelbert v. Chamisso: Erscheinung
Eduard Mörike: Der Feuerreiter
August v. Platen: Kassandra
Clemens Brentano: Wenn der lahme Weber träumt, er webe
Joseph v. Eichendorff: Das Alter
Anette v. Droste-Hülshoff: Der Loup Garou
Friedrich Nietzsche: Der Freigeist
Hugo v. Hofmannsthal: Ballade des äußeren Lebens
Stefan George: Komm in den totgesagten park und schau
Rainer Maria Rilke: Das Karussell
Georg Heym: Ophelia
Gottfried Benn: Kleine Aster
Georg Trakl: Abendlied
August Stramm: Sturmangriff
Kurt Schwitters: An Anna Blume
Bertolt Brecht: Gedenktafel für 12 Weltmeister
Kurt Tucholsky: Lied ans Grammophon
Paul Celan: Todesfuge
Gottfried Benn: Was schlimm ist
Ingeborg Bachmann: Lieder auf der Flucht, VII
Peter Huchel: Der Garten des Theophrast / Blick aus dem Winterfenster
Ernst Jandl: schtzngrmm / wien: heldenplatz
Eugen Gomringer: schweigen
Peter Handke: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968
Sarah Kirsch: Landaufenthalt
2
Rolf Dieter Brinkmann: Ein gewöhnliches Lied
Hans-Magnus Enzensberger: Andenken
Albert Ostermaier: brennstoff
Durs Grünbein: Erklärte Nacht
Zweiter Teil: Lieder und Songs
Frank Wedekind: Der Tantenmörder / Die Schriftstellerhymne / Brigitte B.
Bertolt Brecht: Die Moritat von Mackie Messer
Friedrich Hollaender / Marlene Dietrich: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe
eingestellt
Ton Steine Scherben: Macht kaputt, was euch kaputt macht
Wolf Biermann: Ballade vom preußischen Ikarus
Nina Hagen: TV-Glotzer
Ideal: Eiszeit
Kraftwerk: Computerliebe
Udo Lindenberg: Sonderzug nach Pankow
Die Ärzte: Das Schlaflied
Rio Reiser: Junimond
Depeche Mode / Rammstein: Stripped
Stephan Krawczyk: Das geht solange gut
Element of Crime: Damals hinterm Mond
Dildo took a Taxi: Alles wegen Dir
Trinkende Jugend: Hamburg Lied
Freundeskreis: A−N−N−A
Sabrina Setlur: Du liebst mich nicht
Kettcar: Wäre er echt
Bernd Begemann: Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
3
Erster Teil: Gedichte
4
Martin Opitz (1597−1639)
Ach Liebste / laß vns eilen
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15
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Ach Liebste / laß vns eilen /
Wir haben Zeit:
Es schadet das verweilen
Vns beyderseit.
Der edlen Schönheit Gaben
Fliehn fuß für fuß:
Das alles was wir haben
Verschwinden muß.
Der Wangen Ziehr verbleichet /
Das Haar wird greiß /
Der Augen Fewer weichet /
Die Brunst wird Eiß.
Das Mündlein von Corallen
Wird vngestalt /
Die Händ' als Schnee verfallen /
Vnd du wirst alt.
Drumb laß vns jetzt geniessen
Der Jugend Frucht /
Eh' als wir folgen müssen
Der Jahre Flucht.
Wo du dich selber liebest /
So liebe mich /
Gieb mir / das / wann du giebest /
Verlier auch ich.
(Erstdruck 1624)
5
Paul Fleming (1609−1640)
An Sich
Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh' höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
hat sich gleich wieder dich Glück' / Ort / und Zeit verschworen.
5
10
Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß' alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kanst / das wird noch stets gebohren.
Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / laß deinen eiteln Wahn /
und eh du föder gehst / so geh' in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann /
dem ist die weite Welt und alles unterthan.
(Erstdruck 1641)
Andreas Gryphius (1616−1664)
Thränen in schwerer Kranckheit
A. MDCXL
Mir ist ich weiß nicht wie / ich seuffze für und für.
Ich weyne Tag und Nacht / ich sitz in tausend Schmertzen;
Vnd tausend fürcht ich noch / die Krafft in meinem Hertzen
Verschwindt / der Geist verschmacht / die Hände sincken mir.
5
10
Die wangen werden bleich / der muntern Augen Zir
Vergeht / gleich als der Schein der schon verbrannten Kertzen.
Die Seele wird bestürmt gleich wie die See im Mertzen.
Was ist diß Leben doch / was sind wir / ich und ihr?
Was bilden wir uns ein! was wündschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß / und morgen schon vergraben:
Itzt Blumen morgen Kot / wir sind ein Wind / ein Schaum /
Ein Nebel / eine Bach / ein Reiff / ein Tau' ein Schaten.
Itzt was und morgen nichts / und was sind unser Thaten?
Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum.
(Erstdruck 1643)
Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616−1697)
Sonnet
Vergänglichkeit der schönheit
Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit umb deine brüste streichen
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand /
5
10
Der augen süsser blitz / die kräffte deiner hand /
Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen /
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen /
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.
Der wohlgesetzte fuß / die lieblichen gebärden /
Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden /
Denn opfert keiner mehr der gottheit deiner pracht.
Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen /
Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen /
Dieweil es die natur aus diamant gemacht.
(Erstdruck 1695)
7
Johann Christian Günther (1695−1723)
Studentenlied
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Das Haupt bekränzt, das Glas gefüllt!
So leb ich, weil es Lebens gilt,
Und pflege mich bei Ros' und Myrten.
Fort, Amor, wirf den Bogen hin
Und komm, mich eiligst zu bewirten!
Wer weiß, wie lang ich hier noch bin?
Komm, bring ein niedliches Coffee,.
Komm, geuß der Sorgen Panazee,
Den güldnen Nektar in Krystallen!
Seht, wie die kleinen Perlen stehn!
Mir kann kein beßrer Schmuck gefallen,
Als die aus dieser Muschel gehn.
Mein Alter ist der Zeiten raub,
In kurzem bin ich Asch und Staub;
Was wird mich wohl hernach ergötzen?
Es ist, als flöhen wir davon.
Ein Weiser muß das Leben schätzen,
Drum folg ich dir, Anakreon.
Werft Blumen, bringt Cachou und Wein
Und schenkt das Glas gestrichen ein
Und führt mich halb berauscht zu Bette!
Wer weiß, wer morgen lebt und trinkt?
Was fehlt mir mehr? Wo bleibt Brunette?
Geht, holt sie, weil der Tag schon sinkt!
(Erstdruck 1724−35)
Friedrich von Hagedorn (1708−1788)
Das Dasein
Ein dunkler Feind erheiternder Getränke,
Ein Philosoph, trat neulich hin
Und sprach: Ihr Herren, wißt, ich bin.
Glaubt mir, ich bin. Ja, ja! Warum? Weil ich gedenke.
5
Ein Säufer kam und taumelt' ihm entgegen,
Und schwur bei seinem Wirth und Wein:
Ich trink, o darum muß ich sein.
Glaubt mir, ich trink: ich bin. Wer kann mich widerlegen?
(Erstdruck 1747)
8
Friedrich G. Klopstock (1724−1803)
Der Zürchersee
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht
Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht,
Das den grossen Gedanken
Deiner Schöpfung noch Einmal denkt.
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Von des schimmernden Sees Traubengestaden her,
Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,
Kom in röthendem Strale
Auf dem Flügel der Abendluft,
Kom, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süsse Freude, wie du! gleich dem beseelteren
Schnellen Jauchzen des Jünglings,
Sanft, der fühlenden Fanny gleich.
Schon lag hinter uns weit Uto, an dessen Fuss
Zürch in ruhigem Thal freye Bewohner nährt;
Schon war manches Gebirge
Voll von Reben vorbeygeflohn.
Jetzt entwölkte sich fern silberner Alpen Höh,
Und der Jünglinge Herz schlug schon empfindender,
Schon verrieth es beredter
Sich der schönen Begleiterin.
(Erstdruck 1750)
9
Johann Wolfgang von Goethe (1749−1832)
Prometheus
5
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Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus noch ein,
Kehrt ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
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Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
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Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht
alle Blütenträume reiften?
55
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
(Entstehung 1774 / Erstdruck 1785)
Römische Elegien V
5
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Froh empfind ich mich nun auf klassischem Boden begeistert;
Vor- und Mitwelt spricht lauter und reizender mir.
Hier befolg ich den Rat, durchblättre die Werke der Alten
Mit geschäftiger Hand, täglich mit neuem Genuß.
Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt.
Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens
Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab?
Dann versteh ich den Marmor erst recht; ich denk und vergleiche,
Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand.
Raubt die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages,
Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin.
Wird doch nicht immer geküßt, es wird vernünftig gesprochen;
Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel.
Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet
Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand
Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer,
Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust.
Amor schüret die Lamp indes und denket der Zeiten,
Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan.
(Entstehung 1788 / Erstdruck 1795)
11
Mignon
(aus: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 3. Buch, 1795)
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Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Kennst du das Haus? auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!
(Entstehung spätestens 1783 / Erstdruck 1795)
Daimon, Dämon
5
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
[aus: Urworte. Orphisch]
(Entstehung 1817 / Erstdruck 1820)
12
Friedrich Schiller (1759−1805)
Nänie
5
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Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
(Erstdruck 1800)
Verschiedene Distichen aus dem Jahr 1796:
Die verschiedene Bestimmung
Millionen sorgen dafür, daß die Gattung bestehe,
Aber durch wenige nur pflanzet die Menschheit sich fort.
Tausend Keime zerstreust der Herbst, doch bringet kaum einer
Früchte, zum Element kehren die meisten zurück.
Aber entfaltet sich auch nur einer, der einzige streuet
Eine lebendige Welt ewiger Bildungen aus.
Xenien
Distichen sind wir. Wir geben uns nicht für mehr noch für minder.
Sperre du immer, wir ziehn über den Schlagbaum hinweg.
Der Teleolog
Welche Verehrung verdient der Weltenschöpfer, der gnädig,
Als er den Korkbaum schuf, gleich auch die Stöpsel erfand!
Kant und seine Ausleger
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.
13
Friedrich Hölderlin (1770−1843)
An die Parzen
Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.
5
10
Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heilge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
(Erstdruck 1798)
Hyperions Schicksalslied
5
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Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
(Entstanden 1797/98 / Erstdruck 1799)
14
Menschenbeifall
Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll,
Seit ich liebe? warum achtetet ihr mich mehr,
Da ich stolzer und wilder,
Wortereicher und leerer war?
5
Ach! der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt,
Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen;
An das Göttliche glauben
Die allein, die es selber sind.
(Erstdruck 1798)
Brot und Wein
An Heinze
1
5
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Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,
Und, mit Fackeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,
Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond,
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen,
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
(Entstanden 1800/1801 / Erstdruck der 1. Strophe unter dem Titel 'Die
Nacht' 1806)
15
Ludwig Uhland (1787−1862)
Romanze vom Rezensenten
Rezensent, der tapfre Ritter,
Steigt zu Rosse, kühn und stolz;
Ist's kein Hengst aus Andalusien,
Ist es doch ein Bock von Holz.
Statt des Schwerts die scharfe Feder
Zieht er kampfbereit vom Ohr,
Schiebt statt des Visiers die Brille
Den entbrannten Augen vor.
Publikum, die edle Dame,
Schwebt in tausendfacher Not,
Seit ihr bald, barbarisch schnaubend,
Ein Siegfriedscher Lindwurm droht,
Bald ein süßer Sonettiste
Sie mit Lautenklimpern lockt,
Bald ein Mönch ihr mystisch predigt,
Daß ihr die Besinnung stockt.
Rezensent, der tapfre Ritter,
Hält sich gut im Drachenmord,
Schlägt in Splitter alle Lauten,
Stürzt den Mönch vom Kanzelbord.
Dennoch will er, groß bescheiden,
Daß ihn niemand nennen soll,
Und den Schild des Helden zeichnet
Kaum ein Schriftzug rätselvoll.
Rezensent, du Hort der Schwachen,
Sei uns immer treu und hold!
Nimm zum Lohn des Himmels Segen,
Des Verlegers Ehrensold!
5
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20
25
(Erstdruck 1815)
16
Heinrich Heine (1797−1856)
Im Hafen
(aus: Die Nordsee, Zweiter Zyklus, IX)
Glücklich der Mann, der den Hafen erreicht hat,
Und hinter sich ließ das Meer und die Stürme,
Und jetzo warm und ruhig sitzt
Im guten Ratskeller zu Bremen.
5
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Wie doch die Welt so traulich und lieblich
Im Römerglas sich widerspiegelt,
Und wie der wogende Mikrokosmus
Sonnig hinabfließt ins durstige Herz!
Alles erblick ich im Glas,
Alte und neue Völkergeschichte,
Türken und Griechen, Hegel und Gans,
Zitronenwälder und Wachtparaden,
Berlin und Schilda und Tunis und Hamburg,
Vor allem aber das Bild der Geliebten,
Das Engelköpfchen auf Rheinweingoldgrund.
Oh, wie schön! wie schön bist du, Geliebte!
Du bist wie eine Rose!
Nicht wie die Rose von Schiras,
Die hafisbesungene Nachtigallbraut;
Nicht wie die Rose von Saron,
Die heiligrote, prophetengefeierte; −
Du bist wie die Ros' im Ratskeller zu Bremen!
Das ist die Rose der Rosen,
Je älter sie wird, je lieblicher blüht sie,
Und ihr himmlischer Duft, er hat mich beseligt,
Er hat mich begeistert, er hat mich berauscht,
Und hielt mich nicht fest, am Schopfe fest,
Der Ratskellermeister von Bremen,
Ich wäre gepurzelt!
Der brave Mann! wir saßen beisammen
Und tranken wie Brüder,
Wir sprachen von hohen, heimlichen Dingen,
Wir seufzten und sanken uns in die Arme,
Und er hat mich bekehrt zum Glauben der Liebe −
Ich trank auf das Wohl meiner bittersten Feinde,
Und allen schlechten Poeten vergab ich,
Wie einst mir selber vergeben soll werden −
Ich weinte vor Andacht, und endlich
Erschlossen sich mir die Pforten des Heils,
Wo die zwölf Apostel, die heil'gen Stückfässer,
Schweigend pred'gen, und doch so verständlich
Für alle Völker.
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Das sind Männer!
Unscheinbar von außen, in hölzernen Röcklein,
Sind sie von innen schöner und leuchtender
Denn all die stolzen Leviten des Tempels
Und des Herodes Trabanten und Höflinge,
Die goldgeschmückten, die purpurgekleideten −
Hab ich doch immer gesagt,
Nicht unter ganz gemeinen Leuten,
Nein, in der allerbesten Gesellschaft
Lebte beständig der König des Himmels!
Halleluja! Wie lieblich umwehen mich
Die Palmen von Beth-El!
Wie duften die Myrrhen von Hebron!
Wie rauscht der Jordan und taumelt vor Freude! −
Auch meine unsterbliche Seele taumelt,
Und ich taumle mit ihr, und taumelnd
Bringt mich die Treppe hinauf, ans Tagslicht,
Der brave Ratskellermeister von Bremen.
Du braver Ratskellermeister von Bremen!
Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen
Die Engel und sind betrunken und singen;
Die glühende Sonne dort oben
Ist nur eine rote, betrunkene Nase,
Die Nase des Weltgeists;
Und um die rote Weltgeistnase
Dreht sich die ganze betrunkene Welt.
(Erstdruck 1826−27)
18
Adelbert von Chamisso (1781−1838)
Erscheinung
5
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Die zwölfte Stunde war beim Klang der Becher
Und wüstem Treiben schon herangewacht,
Als ich hinaus mich stahl, ein müder Zecher.
Und um mich lag die kalte, finstre Nacht;
Ich hörte durch die Stille widerhallen
Den eignen Tritt und fernen Ruf der Wacht.
Wie aus den klangreich fest-erhellten Hallen
In Einsamkeit sich meine Schritte wandten,
Ward ich von seltsam trübem Mut befallen.
Und meinem Hause nah, dem wohlbekannten,
Gewahrt ich, und ich stand versteinert fast,
Daß hinter meinen Fenstern Lichter brannten.
Ich prüfte zweifelnd eine lange Rast,
Und fragte: macht es nur in mir der Wein?
Wie käm zu dieser Stunde mir ein Gast?
Ich trat hinzu, und konnte bei dem Schein
Im wohlverschloßnen Schloß den Schlüssel drehen,
Und öffnete die Tür, und trat hinein.
Und, wie die Blicke nach dem Lichte spähen,
Da ward mir ein Gesicht gar schreckenreich, Ich sah mich selbst an meinem Pulte stehen.
Ich rief: "Wer bist du, Spuk?" - er rief sogleich:
"Wer stört mich auf in später Geisterstunde?"
Und sah mich an, und ward, wie ich, auch bleich.
Und unermeßlich wollte die Sekunde
Sich dehnen, da wir starrend wechselseitig
Uns ansahn, sprachberaubt mit offnem Munde.
Und aus beklommner Brust zuerst befreit ich
Das schnelle Wort: "Du grause Truggestalt,
Entweiche, mache mir den Platz nicht streitig!"
Und er, als einer, über den Gewalt
Die Furcht nur hat, erzwingend sich ein leises
Und scheues Lächeln, sprach erwidernd: "Halt!
Ich bin's, du willst es sein; −um dieses Kreises,
Des wahnsinn-drohnden, Quadratur zu finden,
Bist du der rechte, wie du sagst, beweis es;
Ins Wesenlose will ich dann verschwinden.
Du Spuk, wie du mich nennst, gehst du das ein,
Und willst auch du zu Gleichem dich verbinden?"
Drauf ich entrüstet: "Ja, so soll es sein!
Es soll mein echtes Ich sich offenbaren,
Zu Nichts zerfließen dessen leerer Schein!"
Und er: "So laß uns, wer du seist, erfahren!"
Und ich: "Ein solcher bin ich, der getrachtet
Nur einzig nach dem Schönen, Guten, Wahren;
Der Opfer nie dem Götzendienst geschlachtet,
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Und nie gefrönt dem weltlich eitlen Brauch,
Verkannt, verhöhnt, der Schmerzen nie geachtet;
Der irrend zwar und träumend oft den Rauch
Für Flamme hielt, doch mutig beim Erwachen
Das Rechte nur verfocht: −bist du das auch?"
Und er mit wildem, kreischend lautem Lachen:
"Der du dich rühmst zu sein, der bin ich nicht.
Gar anders ist's bestellt um meine Sachen.
Ich bin ein feiger, lügenhafter Wicht,
Ein Heuchler mir und andern, tief im Herzen
Nur Eigennutz, und Trug im Angesicht.
Verkannter Edler du mit deinen Schmerzen,
Wer kennt sich nun? wer gab das rechte Zeichen?
Wer soll, ich oder du, sein Selbst verscherzen?
Tritt her, so du es wagst, ich will dir weichen!"
Drauf mit Entsetzen ich zu jenem Graus:
"Du bist es, bleib, und laß hinweg mich schleichen!" −
Und schlich, zu weinen, in die Nacht hinaus.
(Erstdruck 1828)
20
Eduard Mörike (1804−1875)
Der Feuerreiter
5
Sehet ihr am Fensterlein
Dort die rote Mütze wieder?
Nicht geheuer muß es sein,
Denn er geht schon auf und nieder.
Und auf einmal welch Gewühle
Bei der Brücke, nach dem Feld!
Horch! das Feuerglöcklein gellt:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
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Brennt es in der Mühle!
Schaut! da sprengt er wütend schier
Durch das Tor, der Feuerreiter,
Auf dem rippendürren Tier,
Als auf einer Feuerleiter!
Querfeldein! Durch Qualm und Schwüle
Rennt er schon, und ist am Ort!
Drüben schallt es fort und fort:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
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25
Brennt es in der Mühle!
Der so oft den roten Hahn
Meilenweit von fern gerochen,
Mit des heilgen Kreuzes Span
Freventlich die Glut besprochen Weh! dir grinst vom Dachgestühle
Dort der Feind im Höllenschein.
Gnade Gott der Seele dein!
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
30
35
Rast er in der Mühle!
Keine Stunde hielt es an,
Bis die Mühle borst in Trümmer;
Doch den kecken Reitersmann
Sah man von der Stunde nimmer.
Volk und Wagen im Gewühle
Kehren heim von all dem Graus;
Auch das Glöcklein klinget aus:
Hinterm Berg,
Hinterm Berg
40
Brennt's! -
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Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe samt der Mützen
Aufrecht an der Kellerwand
Auf der beinern Mähre sitzen:
Feuerreiter, wie so kühle
Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällt's in Asche ab.
Ruhe wohl,
Ruhe wohl
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Drunten in der Mühle!
(Entstehung 1824 / Erstdruck 1832)
22
August von Platen (1796−1835)
Kassandra
Deinem Los sei’n Klagen geweiht, Europa!
Aus dem Unheil schleudert in neues Schrecknis
Dich ein Gott stets; ewig umsonst erflehst du
Frieden und Freiheit!
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Kaum versank allmählich, im trägen Zeitlauf,
Jener Zwingburg südlicher Bau zu Trümmern,
Wo des Weltherrn Zepter dem Inquisitor
Schürte den Holzstoß:
Sieh, da keimt schon, unter dem Hauch des Nordpols,
Frischen Unheils wuchernder Same leis auf:
Hoch als Giftbaum ragt in die Luft bereits dies
Riesige Scheusal!
Selbst dem Beil fruchtloser Begeisterung trotzt
Dieser Stamm, der Alles erdrückt, und keiner
Wolke, weh uns, rettender Blitz zerschmettert
Wipfel und Ast ihm!
Ketten dräun, wie nie sie geklirrt, der Menschheit
Bangen Hals zuschnürend, und parrizidisch
Reiht im Wettlauf mächtiger Ungeheur sich
Frevler an Frevler!
(Entstehung 1832 / Erstdruck 1834)
23
Clemens Brentano (1778−1842)
Wenn der lahme Weber träumt, er webe
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Wenn der lahme Weber träumt, er webe,
Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe,
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe,
Daß das Herz des Widerhalls zerspringe,
Träumt das blinde Huhn, es zähl' die Kerne,
Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
Träumt das starre Erz, gar linde tau' es,
Und das Eisenherz, ein Kind vertrau' es,
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Führt der hellen Töne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schalmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all schreien;
Weh, ohn' Opfer gehn die süßen Wunder,
Gehn die armen Herzen einsam unter!
(Entstehung 1835−37 / Erstdruck 1838)
Joseph von Eichendorff (1788−1857)
Das Alter
Hoch mit den Wolken geht der Vögel Reise,
Die Erde schläfert, kaum noch Astern prangen,
Verstummt die Lieder, die so fröhlich klangen,
Und trüber Winter deckt die weiten Kreise.
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Die Wanduhr pickt, im Zimmer singet leise
Waldvöglein noch, so du im Herbst gefangen.
Ein Bilderbuch scheint alles, was vergangen,
Du blätterst drin, geschützt vor Sturm und Eise.
So mild ist oft das Alter mir erschienen:
Wart nur, bald taut es von den Dächern wieder
Und über Nacht hat sich die Luft gewendet.
Ans Fenster klopft ein Bot' mit frohen Mienen,
Du trittst erstaunt heraus −und kehrst nicht wieder,
Denn endlich kommt der Lenz, der nimmer endet.
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Anette von Droste-Hülshoff (1797−1848)
Der Loup Garou
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Brüderchen schläft, ihr Kinder, still!
Setzt euch ordentlich her zum Feuer!
Hört ihr der Eule wüst Geschrill?
Hu! im Walde ist's nicht geheuer.
Frommen Kindern geschieht kein Leid,
Drückt nur immer die Lippen zu,
Denn das böse, das lacht und schreit,
Holt die Eul' und der Loup Garou.
Wißt ihr, dort, wo das Naß vom Schiefer träuft
Und übern Weg 'ne andre Straße läuft,
Das nennt man Kreuzweg, und da geht er um,
Bald so, bald so, doch immer falsch und stumm,
Und immer schielend; vor dem Auge steht
Das Weiße ihm, so hat er es verdreht;
Dran ist er kenntlich, und am Kettenschleifen,
So trabt er, trabt, darf keinem Frommen nahn;
Die schlimmen Leute nur, die darf er greifen
Mit seinem langen, langen, langen Zahn.
Schiebt das Reisig der Flamme ein,
Puh! wie die Funken knistern und stäuben!
Pierrot, was soll das Wackeln sein?
Mußt ein Weilchen du ruhig bleiben,
Immer sind deine Händ' im Gang,
Denkst du denn nicht an den Loup Garou?
Vom reichen Kaufmann hab' ich euch erzählt,
Der seine dürft'gen Schuldner so gequält,
Und kam mit sieben Säcken von Bagnères,
Vier von Juwelen, drei von Golde schwer;
Wie er aus Geiz den schlimmen Führer nahm,
Und ihm das Untier auf den Nacken kam.
Am Halse sah man noch der Kralle Spuren,
Die sieben Säcke hat es weggezuckt,
Und seine Börse auch, und seine Uhren,
Die hat es all zerbissen und verschluckt.
Schließt die Tür, es brummt im Wald!
Als die Sonne sich heut verkrochen,
Lag das Wetter am Riff geballt,
Und nun hört man's sieden und kochen.
Ruhig, ruhig, du kleines Ding!
Hörst du? - drunten im Stalle - hu!
Hörst du? Hörst du's? kling, klang, kling,
Schüttelt die Kette der Loup Garou.
Doch von dem Trunkenbolde wißt ihr nicht,
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Dem in der kalten Weihnacht am Gesicht
Das Tier gefressen, daß am heil'gen Tag
Er wund und scheußlich überm Schneee lag;
Zog von der Schenke aus, in jeder Hand
'ne Flasche, die man auch noch beide fand;
Doch wo die Wangen sonst, da waren Knochen,
Und wo die Augen, blut'ge Höhlen nur;
Und wo der Schädel hier und da zerbrochen,
Da sah man deutlich auch der Zähne Spur.
Wie am Giebel es knarrt und kracht!
Caton, schau auf die Bühne droben
−Aber nimm mir die Lamp' in acht Ob vor die Luke der Riegel geschoben.
Pierrot, Schlingel! das rutscht herab
Von der Bank, ohne Strümpf und Schuh!
Willst du bleiben! tapp, tipp, tapp,
Geht auf dem Söller der Loup Garou.
Und meine Mutter hat mir oft gesagt
Von einem tauben Manne, hochbetagt,
Fast hundertjährig, dem es noch geschehn,
Als Kind, daß er das Scheuel hat gesehn,
Recht wie 'nen Hund, nur weiß wie Schnee und ganz
Verkehrt die Augen, eingeklemmt den Schwanz,
Und spannenlang die Zunge aus dem Schlunde,
So mit der Kette weg an Waldes Bord,
Dann wieder sah er ihn im Tobelgrunde,
Und wieder sah er hin - da war es fort.
Hab' ich es nicht gedacht? es schneit!
Ho, wie fliegen die Flocken am Fenster!
Heilige Frau von Embrun! wer heut
Draußen wandelt, braucht keine Gespenster;
Irrlicht ist ihm die Nebelsäul',
Führt ihn schwankend dem Abgrund zu,
Sturmes Flügel die Toteneul',
Und der Tobel sein Loup Garou.
(Erstdruck 1844, als drittes Gedicht des Zyklus' Volksglauben in den Pyrenäen)
26
Friedrich Nietzsche (1844−1900)
Der Freigeist
"Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei'n −
Wohl dem, der jetzt noch −Heimat hat!
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Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts ach! Wie lange schon!
Wast bist du Narr
Vor Winters in die Welt −entflohn?
Die Welt −ein Thor
Zur tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer Das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt!
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht.
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg', Vogel. Schnarr'
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! −
Versteck', du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei'n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei'n −
Weh dem, der keine Heimat hat!"
(Entstanden 1884 / Erstdruck 1894)
27
Hugo von Hofmannsthal (1874−1929)
Ballade des äußeren Lebens
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.
5
Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
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Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte ...
Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
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Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der »Abend« sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
(Entstehung 1894? / Erstdruck 1896)
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Stefan George (1868−1933)
Komm in den totgesagten park und schau
Komm in den totgesagten park und schau:
Der schimmer ferner lächelnder gestade 
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.
5
10
Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau
Von birken und von buchs, der wind ist lau 
Die späten rosen welkten noch nicht ganz 
Erlese küsse sie und flicht den kranz 
Vergiss auch diese lezten astern nicht 
Den purpur um die ranken wilder reben
Und auch was übrig blieb von grünem leben
Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.
(Entstehung 1895 / Erstdruck 1897)
29
Rainer-Maria Rilke (1875−1926)
Das Karussell
Jardin du Luxembourg
5
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Mit einem Dach und seinem Schatten dreht
Sich eine kleine Weile der Bestand
Von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht.
Zwar manche sind an Wagen angespannt,
doch alle haben Mut in ihren Mienen;
ein böser roter Löwe geht mit ihnen
und dann und wann ein weißer Elephant.
Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,
nur dass er einen Sattel trägt und drüber
ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.
Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge
Und hält sich mit der kleinen heißen Hand,
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.
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Und dann und wann ein weißer Elephant.
Und auf den Pferden kommen sie vorüber,
auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge
fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge
schauen sie auf, irgendwohin, herüber −
20
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Und dann und wann ein weißer Elephant.
Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil −.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet
an dieses atemlose blinde Spiel . . .
(Erstdruck 1907)
30
Georg Heym (1887−1912)
Ophelia
1.
Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.
5
10
15
Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?
Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,
Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.
2.
Korn. Saaten. Und des Mittags roter Schweiß.
Der Felder gelbe Winde schlafen still.
Sie kommt, ein Vogel, der entschlafen will.
Der Schwäne Fittich überdacht sie weiß.
5
10
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20
Die blauen Lider schatten sanft herab.
Und bei der Sensen blanken Melodien
Träumt sie von eines Kusses Karmoisin
Den ewigen Traum in ihrem ewigen Grab.
Vorbei, vorbei. Wo an das Ufer dröhnt
Der Schall der Städte. Wo durch Dämme zwingt
Der weiße Strom. Der Widerhall erklingt
Mit weitem Echo. Wo herunter tönt
Hall voller Straßen. Glocken und Geläut.
Maschinenkreischen. Kampf. Wo westlich droht
In blinde Scheiben dumpfes Abendrot,
In dem ein Kran mit Riesenarmen dräut,
Mit schwarzer Stirn, ein mächtiger Tyrann,
Ein Moloch, drum die schwarzen Knechte knien.
Last schwerer Brücken, die darüber ziehn
Wie Ketten auf dem Strom, und harter Bann.
31
Unsichtbar schwimmt sie in der Flut Geleit.
Doch wo sie treibt, jagt weit den Menschenschwarm
Mit großem Fittich auf ein dunkler Harm,
Der schattet über beide Ufer breit.
25
30
Vorbei, vorbei. Da sich dem Dunkel weiht
Der westlich hohe Tag des Sommers spät,
Wo in dem Dunkelgrün der Wiesen steht
Des fernen Abends zarte Müdigkeit.
Der Strom trägt weit sie fort, die untertaucht,
Durch manchen Winters trauervollen Port.
Die Zeit hinab. Durch Ewigkeiten fort,
Davon der Horizont wie Feuer raucht.
(Erstdruck 1911)
Gottfried Benn (1886−1956)
Kleine Aster
5
10
15
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelle Aster
Zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter die Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen heraussschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Bauchhöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
(Erstdruck 1912)
32
Georg Trakl (1887−1914)
Abendlied
Am Abend, wenn wir auf dunklen Pfaden gehn,
Erscheinen unsere bleichen Gestalten vor uns.
5
Wenn uns dürstet,
Trinken wir die weißen Wasser des Teichs,
Die Süße unserer traurigen Kindheit.
Erstorbene ruhen wir unterm Hollundergebüsch,
Schaun den grauen Möven zu.
Frühlingsgewölke steigen über die finstere Stadt,
Die der Mönche edlere Zeiten schweigt.
10
Da ich deine schmalen Hände nahm
Schlugst du leise die runden Augen auf,
Dieses ist lange her.
Doch wenn dunkler Wohllaut die Seele heimsucht,
Erscheinst du Weiße in des Freundes herbstlicher Landschaft.
(Erstdruck 1913)
August Stramm (1874−1915)
Sturmangriff
5
10
Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen
Kreisch
Peitscht
Das Leben
Vor
Sich
Her
Den keuchen Tod
Die Himmel fetzen.
Blinde schlächtert wildum das Entsetzen.
(Entstehung 1914−1915 / Erstdruck 1915)
33
Kurt Schwitters (1887−1948)
An Anna Blume
O Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir −−−−wir?
Das gehört beiläufig nicht hierher!
5
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
10
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich, Dir, ich Dir, Du mir, −−−−wir?
Das gehört beiläufig in die kalte Glut!
Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1.) Anna Blume hat ein Vogel,
2.) Anna Blume ist rot.
3.) Welche Farbe hat der Vogel.
15
20
25
30
35
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares.
Rot ist das Girren Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, −−−−wir!
Das gehört beiläufig in die −−−−Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, A−−−−N−−−−N−−−−A!
Ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es, Anna, weißt Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten, wie von vorne:
A−−−−−−N−−−−−−N−−−−−−A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume.
Du tropfes Tier,
Ich −−−−−−−liebe −−−−−−−Dir!
(Erstdruck 1919)
34
Bertolt Brecht (1898−1956)
Gedenktafel für 12 Weltmeister
Dies ist die Geschichte der Weltmeister im Mittelgewicht
Ihrer Kämpfe und Laufbahnen
Vom Jahre 1891
Bis heute.
5
10
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20
25
30
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Ich beginne die Serie im Jahre 1891 −
Der Zeit rohen Schlagens
Wo die Boxkämpfe noch über 56 und 70 Runden gingen
Und einzig beendet wurden durch den Niederschlag −
Mit Bob Fitzsimmons, dem Vater der Boxtechnik
Inhaber der Weltmeisterschaft im Mittelgewicht
Und im Schwergewicht (durch seinen am 17. März 1897 erfochtenen Sieg über
Jim Corbett).
34 Jahre seines Lebens im Ring, nur sechsmal geschlagen
So sehr gefürchtet, daß er das ganze Jahr 1889
Ohne Gegner war. Erst im Jahr 1914
Im Alter von 51 Jahren absolvierte er
Seine beiden letzten Kämpfe:
Ein Mann ohne Alter.
1905 verlor Bob Fitzsimmons seinen Titel an
Jack O'Brien genannt Philadelphia Jack.
Jack O'Brien begann seine Boxerlaufbahn
Im Alter von 18 Jahren
Er bestritt über 200 Kämpfe. Niemals
Fragte Philadelphia Jack nach der Börse.
Er ging aus von dem Standpunkt
Daß man lernt durch Kämpfe
Und er siegte, so lange er lernte.
Jack O'Briens Nachfolger war
Stanley Ketchel
Berühmt durch vier wahre Schlachten
gegen Billie Papke
Und als rauhster Kämpfer aller Zeiten
Hinterrücks erschossen mit 23 Jahren
An einem lachenden Herbsttage
Vor seiner Farm sitzend
Unbesiegt.
Ich setze meine Serie fort mit
Billie Papke
Dem ersten Genie des Infighting.
Damals wurde zum ersten Male gehört
Der Name: Menschliche Kampfmaschine.
Im Jahre 1913 zu Paris
Wurde er geschlagen
35
45
Durch einen größeren in der Kunst des Infightins:
Frank Klaus.
50
Frank Klaus, sein Nachfolger, traf sich
Mit den berühmten Mittelgewichten seiner Zeit
Jim Gardener, Billie Berger
Willie Lewis und Jack Dillon
Und Georges Carpentier war gegen ihn schwach wie ein Kind.
Ihn schlug George Chip
Der unbekannte Mann aus Oklahoma
Der nie sonst Taten von Bedeutung vollbrachte
Und geschlagen wurde von
55
60
Al Maccoy, dem schlechtesten aller Mittelgewichtsmeister
Der weiter nichts konnte als einstecken
Und seiner würde entkleidet wurde von
Mike O'Dowd
Dem Mann mit dem eisernen Kinn
Geschlagen von
Johnny Wilson
Der 48 Männer k.o. schlug
Und selber k.o. geschlagen wurde von
65
70
75
Harry Grebb, der menschlichen Windmühle
Dem zuverlässigsten aller Boxer
Der keinen Kampf ausschlug
Und jeden bis zu Ende kämpfte
Und wenn er verloren hatte, sagte:
Ich habe verloren.
Der den Männertöter Dempsey
Den Tigerjack, den Manassamauler
Verrückt machte, daß er beim training
Seine Handschuhe wegwarf
Das "Phantom, das nicht stillstehen konnte"
Geschlagen 1926 nach Punkten von
Tiger Flowers, dem Neger und Pfarrer
Der nie k.o. ging.
80
85
Nach ihm war Weltmeister im Mittelgewicht
Der Nachfolger des boxenden Pfarrers
Mickey Walker, der den mutigsten Boxer Europas
Den Schotten Tommy Milligan
Am 30. Juni 1927 zu London in 30 Minuten
In Stücke schlug.
Bob Fitzsimmons
Jack O'Brien
Stanley Ketchel
36
90
95
100
Billie Papke
Frank Klaus
George Chip
Al MacCoy
Mike O'Dowd
Johnny Wilson
Harry Grebb
Tiger Flowers
Mickey Walker −
Dies sind die Namen von 12 Männern
Die auf ihrem Gebiet die besten ihrer Zeit waren
Festgestellt durch harten Kampf
Unter der Beobachtung der Spielregeln
Vor den Augen der Welt.
(Erstdruck 1927)
37
Kurt Tucholsky (1890−1935)
Lied ans Grammophon
Nobody's fault but your own
Brunswick A 8284
5
10
15
Nun komm, du kleine Nähmaschine,
und näh mir leise einen vor.
Ich denk dann an Clementine,
du säuselst sanft mir in das Ohr.
Und am Klavier ohn Unterlaß
Führt rhythmisch einer seinen Baß.
Sie war so lieb. Kocht ich im Grimme,
weil jemand mich geärgert hat,
dann sang sie mit der Oberstimme
und strich mir alle Falten glatt.
Und am Klavier ohn Unterlaß
Führt rhythmisch einer seinen Baß.
pom-pom
Still sah sie immer nach dem Rechten
und stellte alles so nett hin.
Am Tage kühl. Doch in den Nächten
zerschmolz die süße Schaffnerin.
pom-pom
O spiele weiter!
20
25
30
35
Clementine
War ihrerseits aus Brandenburch.
Sie trog mich mit der Unschuldsmiene
Und ging mit einem Dichter durch.
Bei dem ist sie bis heut geblieben.
Gewiß ... der Mann hat keinen Bauch.
Und er hat alles klein geschrieben;
stefan george tut das auch;
und im klavier ohn unterlaß
führt rhythmisch einer seinen baß.
Du spielst. Ich muß mich still besaufen.
Voll ist das Glas und wieder leer.
He! Holla! Du bist abgelaufen ...
Die Nadel knirscht. Du singst nicht mehr.
In meinem Ohr ohn Unterlaß
Rauscht rhythmisch unser Schicksalsbaß
pom-pom
(Entstehung 1931)
38
Paul Celan (1920−1970)
Todesfuge
5
10
15
Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden
herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man
nicht eng
20
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf
25
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
30
35
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith
(Erstdruck 1952)
39
Gottfried Benn (1886−1956)
Was schlimm ist
5
10
15
Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.
Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.
Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.
Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.
Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.
Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.
(Erstdruck 1953)
40
Ingeborg Bachmann (1926−1973)
Lieder auf der Flucht VII
Innen sind dein Augen Fenster
auf ein Land, in dem ich in Klarheit stehe.
5
Innen ist deine Brust ein Meer,
das mich auf den Grund zieht.
Innen ist deine Hüfte ein Landungssteg
für meine Schiffe, die heimkommen
von zu großen Fahrten.
Das Glück wirkt ein Silbertau,
an dem ich befestigt liege.
10
15
Innen ist dein Mund ein flaumiges Nest
für meine flügge werdende Zunge.
Innen ist dein Fleisch melonenlicht,
süß und genießbar ohne Ende.
Innen sind dein Adern ruhig
und ganz mit dem Gold gefüllt,
das ich mit meinen Tränen wasche
und das mich einmal aufwiegen wird.
Du empfängst Titel, deine Arme umfangen Güter,
die an dich zuerst vergeben werden.
20
Innen sind dein Füße nie unterwegs,
sondern schon angekommen in meinen Samtlanden.
Innen sind deine Knochen helle Flöten,
aus denen ich Töne zaubern kann,
die auch den Tod bestricken werden ...
(Erstdruck 1956)
41
Peter Huchel (1903−1981)
Der Garten des Theophrast
Meinem Sohn
5
10
Wenn mittags das weiße Feuer
Der Verse über den Urnen tanzt,
Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer,
Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt.
Tot ist der Garten, mein Atem wird schwerer,
Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast,
Mit Eichenlohe zu düngen den Boden,
Die wunde Rinde zu binden mit Bast.
Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer
Und ist noch Stimme im heißen Staub.
Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden.
Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.
(Erstdruck 1962)
Blick aus dem Winterfenster
5
10
Kopfweiden, schneeumtanzt,
Besen, die den Nebel fegen.
Holz und Unglück
wachsen über Nacht.
Mein Meßgerät,
die Fieberkurve.
Wer geht dort ohne Licht
und ohne Mund,
schleift übers Eis
das Tellereisen?
Die Wahrsager des Waldes,
die Füchse mit schlechtem Gebiß
sitzen abseits im Dunkel
und starren ins Feuer.
(Erstdruck 1974)
42
Ernst Jandl (1925−2000)
schtzngrmm
5
10
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20
25
30
schtzngrmm
schtzngrmm
t−t−t−t
t−t−t−t
grrrmmmmm
t−t−t−t
s-----c-----h
tzngrmm
tzngrmm
tzngrmm
schtzn
schtzn
t−t−t−t
t−t−t−t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
schtscht
t−t−t−t−t−t−t−t−t−t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t−t−t−t−t−t−t−t−t−t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t−tt
(Erstdruck 1957)
43
wien: heldenplatz
5
der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem menschenmeere
darunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick.
und brüllzten wesentlich.
verwogener stirnscheitelunterschwung
nach nöten nördlich, kechelte
mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme
hinsensend sämmertliche eigenwäscher.
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15
pirsch!
döppelte der gottelbock von Sa-tz zu Sa-tz
mit hünig sprenktem stimmstummel
balzerig würmelte es im männechensee
und den weibern ward so pfingstig ums heil
zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.
(Erstdruck 1971)
Eugen Gomringer (* 1925)
schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen
schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
(Erstdruck 1969)
Peter Handke (* 1942)
Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968
Wabra
Leupold
Ludwig
Starek
Müller
Strehl
Popp
Wenauer
Brungs
Heinz
Spielbeginn: 15 Uhr
44
Blankenburg
Müller Volkert
Sarah Kirsch (* 1935)
Landaufenthalt
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Morgens füttere ich den Schwan abends die Katzen dazwischen
gehe ich über das Gras passiere die verkommenen Obstplantagen
hier wachsen Birnbäume in rostigen Öfen, Pfirsichbäume
fallen ins Kraut, die Zäune haben sich lange ergeben, Eisen und Holz
alles verfault und der Wald
umarmt den Garten in einer Fliederhecke
Da stehe ich dicht vor den Büschen mit nassen Füßen
es hat lange geregnet, und sehe die tintenblauen Dolden, der Himmel
ist scheckig wie Löschpapier
mich schwindelt vor Farbe und Duft doch die Bienen
bleiben im Stock selbst die aufgesperrten Mäuler der Nesselblüten
ziehn sich nicht her, vielleicht
ist die Königin
heute morgen plötzlich gestorben
die Eichen
brüten Gallwespen, dicke rosa Kugeln platzen wohl bald
ich würde die Bäume gerne erleichtern doch der Äpfelchen
sind es zu viel sie erreichen mühlos die Kronen auch faßt
Klebkraut mich an, ich unterscheide Simsen und Seggen so viel Natur
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die Vögel und schwarzen Schnecken dazu überall Gras Gras das
die Füße mir feuchtet fettgrün es verschwendet sich
noch auf dem Schuttberg verbirgt es Glas wächst in aufgebrochne
Matratzen ich rette mich
auf den künstlichen Schlackeweg und werde wohl bald
in meine Betonstadt zurückgehen hier ist man nicht auf der Welt
der Frühling in seiner maßlosen Gier macht nicht halt, verstopft
Augen und Ohren mit Gras die Zeitungen sind leer
eh sie hier ankommen der Wald
hat all seine Blätter und weiß
nichts vom Feuer
(Erstdruck 1967)
45
Rolf Dieter Brinkmann (1940−1975)
Ein gewöhnliches Lied
"Ich schlag euch nieder,
ich weiß nicht, ob aus Wut,
dann kommen die Lieder
besonders gut,"
5
brüllte er in das Dunkel, wo die
Gesichter waren, die er nicht kannte, nie
hatte er sie gesehen,
alles zu viel.
In der darauf folgenden Stille
10
gabs nur das Atmen.
Die Instrumente warteten, berührt zu werden.
Aber es geschah nichts.
Sie warteten und hörten, was geschehen würde.
"Ja, ja," sang er und atmete.
15
Er flüsterte, laut, tanzte.
Sie schauten ihm bei dieser Arbeit zu,
von den bezahlten Sitzen aus, stumm, eine Art
der Wiederholung, wie Menschen
Menschen anschauen,
20
aus dem dunklen Fetzen heraus, an.
Wenn er sie aufforderte zu singen, sangen sie,
was er gesungen hatte, noch einmal, bevor er
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weiter sang: "Mein Lied
ist gewöhnlich, mein Lied ist
ein Dreck, und ihr sitzt da
und seid ganz weg. Am besten
ist, ich geh nach Haus, wenn der
Weg nicht zu lang wär.
30
Also gebt mir das Geld, ich muß den
Flug bezahlen, das Hotel,
und die Band."
(Erstdruck 1975)
46
Hans-Magnus Enzensberger (* 1929)
Andenken
5
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Also was die siebziger Jahre betrifft,
kann ich mich kurz fassen.
Die Auskunft war immer besetzt.
Die wundersame Brotvermehrung
beschränkte sich auf Düsseldorf und Umgebung.
Die furchtbare Nachricht lief über den Ticker,
wurde zur Kenntnis genommen und archiviert.
Widerstandslos, im großen und ganzen,
haben sie sich selber verschluckt,
die siebziger Jahre,
Türken und Arbeitslose.
Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte,
wäre zuviel verlangt.
(Erstdruck 1980)
47
Albert Ostermaier (* 1967)
brennstoff
5
10
mein kleiner hitzkopf da
kannst du dich heissreden
wie du willst mich lässt das
völlig kalt wenn du mir
die augränder mit benzin
bespuckst & glaubst das
feuert mich an wenn ich
deine blicke schluck bis
ich speien muss für deine
flammenden worte bin ich
wie löschpapier es sei denn
wir schlagen unsre herzen
aneinander bis es funkt
(1999)
48
Durs Grünbein (* 1962)
Erklärte Nacht
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Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle ...
Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil.
Die Kälte der Selbstbegegnung, ein Tanz zwischen sämtlichen Stühlen.
Nichts Halbes, nichts Ganzes also, doch das gewisse Etwas zuviel.
Dem einen Gebet ohne Gott, dem andern das "Echt Absolut Reelle."
Jene Zichzacknaht −Vernunft, an Affekt und Mythen gebunden,
Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen.
Rückkehr des Echos zur Quelle, zum Mund, wo die Laute sich runden.
Atembild, hingehaucht in die Frostluft, ins taufrische nihil.
Magisches Gängelband, Ariadnefaden durchs Dunkel der Aporien.
Kette aus Glücksmomenten bis zurück zu den Mädchenbädern am Nil.
Innigste Linie, nie in Zahlen zu fassen, entflieht sie den Geometrien,
Seit die Welt als beschreibbar gilt, in Formeln auflösbar, in Gesetze.
Vergeßt dieses schamlose Ich und sein Du, herbeigeholt aus der Ferne.
Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen
Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen.
Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer
Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren,
Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer
Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen.
Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding.
Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht.
Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt.
Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht.
(2002)
49
Zweiter Teil: Lieder und Songs
50
Franz Wedekind (1864−1918)
Der Tantenmörder
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ich hatte bei ihr übernachtet
Und grub in den Kisten-Kasten nach.
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Da fand ich goldene Haufen,
Fand auch an Papieren gar viel
Und hörte die alte Tante schnaufen
Ohn Mitleid und Zartgefühl.
Was nutzt es, daß sie sich noch härme −
Nacht war es rings um mich her −
Ich stieß ihr den Dolch in die Därme,
Die Tante schnaufte nicht mehr.
Das Geld war schwer zu tragen,
Viel schwerer die Tante noch.
Ich faßte sie bebend am Kragen
Und stieß sie ins tiefe Kellerloch. −
Ich hab meine Tante geschlachtet,
Meine Tante war alt und schwach;
Ihr aber, o Richter, ihr trachtet
Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.
(Erstveröffentlichung 1905)
Die Schrifstellerhymne
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Der Schriftsteller geht dem Broterwerb nach,
Mit ausgefransten Hosen.
Er schläft sieben Treppen hoch unterm Dach,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
Ist irgendwer gegen sein Schicksal erbost,
Mit ausgefransten Hosen,
Der Schriftsteller bringt auch dem Ärmsten noch Trost,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
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Der König spricht nach, was ein Schriftsteller schrieb,
Mit ausgefransten Hosen.
Dem Volk ist er fast wie sein König so lieb,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
Der Schriftsteller ragt zu den Sternen empor,
Mit ausgefransten Hosen.
Er raunt seiner Zeit ihre Wonnen ins Ohr,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
Der Schriftsteller schafft am Webstuhl der Zeit,
Mit ausgefransten Hosen.
So wirkt er der Gottheit lebendiges Kleid,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt,
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
Und trägt er die Schriftstellerei zu Grab,
Mit ausgefransten Hosen,
Gleich lösen ihn hundert Schriftsteller ab,
Mit ausgefransten Hosen.
Schöner, grüner,
Schöner, grüner Lorbeerzweig, der dich neckt,
Und die Stirn bedeckt, wenn der Lump verreckt,
Mit ausgefransten Hosen.
(Erstveröffentlichung 1905)
Brigitte B.
Ein junges Mädchen kam nach Baden,
Brigitte B. war sie genannt,
Fand Stellung dort in einem Laden,
Wo sie gut angeschrieben stand.
5
Die Dame, schon ein wenig älter,
War dem Geschäfte zugetan,
Der Herr ein höherer Angestellter
Der königlichen Eisenbahn.
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Die Dame sagt nun eines Tages,
Wie man zur Nacht gegessen hat:
"Nimm dies Paket, mein Kind, und trag es
Zu der Baronin vor der Stadt."
Auf diesem Wege traf Brigitte
Jedoch ein Individium,
Das hat an sie nur eine Bitte,
Wenn nicht, dann bringe er sich um.
Brigitte, völlig unerfahren,
Gab sich ihm mehr aus Mitleid hin.
Drauf ging er fort mit ihren Waren
Und ließ sie in der Lage drin.
Sie konnt es anfangs gar nicht fassen,
Dann lief sie heulend und gestand,
Daß sie sich hat verführen lassen,
Was die Madam begreiflich fand.
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Daß aber dabei die Tournüre
Für die Baronin vor der Stadt
Gestohlen worden sei, das schnüre
Das Herz ihr ab, sie hab sie satt.
Brigitte warf sich vor ihr nieder,
Sie sei gewiß nicht mehr so dumm;
Den Abend aber schlief sie wieder
Bei ihrem Individium.
Und als die Herrschaft dann um Pfingsten
Ausflog mit dem Gesangverein,
Lud sie ihn ohne die geringsten
Bedenken abends zu sich ein.
Sofort ließ er sich alles zeigen,
Den Schreibtisch und den Kassenschrank,
Macht die Papiere sich zu eigen
Und zollt ihr nicht mal mehr den Dank.
Brigitte, als sie nun gesehen,
Was ihr Geliebter angericht',
Entwich auf unhörbaren Zehen
Dem Ehepaar aus dem Gesicht.
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Vorgestern hat man sie gefangen,
Es läßt sich nicht erzählen, wo;
Dem Jüngling, der die Tat begangen,
Dem ging es gestern ebenso.
(Erstveröffentlichung 1905)
53
Bertolt Brecht (1898−1956)
Die Moritat von Mackie Messer
Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und Macheath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht.
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Ach, es sind des Haifischs Flossen
Rot, wenn dieser Blut vergießt!
Mackie Messer trägt 'nen Handschuh
Drauf man keine Untat liest.
An der Themse grünem Wasser
Fallen plötzlich Leute um!
Es ist weder Pest noch Cholera
Doch es heißt: Macheath geht um.
An 'nem schönen blauen Sonntag
Liegt ein toter Mann am Strand
Und ein Mensch geht um die Ecke
Den man Mackie Messer nennt.
Und Schmul Meier bleibt verschwunden
Und so mancher reiche Mann
Und sein Geld hat Mackie Messer
Dem man nichts beweisen kann.
Jenny Towler ward gefunden
Mit 'nem Messer in der Brust
Und am Kai geht Mackie Messer
Der von allem nichts gewusst.
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Wo ist Alfons Glite, der Fuhrherr?
Kommt das je ans Sonnenlicht?
Wer es immer wissen könnte −
Mackie Messer weiß es nicht.
Und das große Feuer in Soho
Sieben Kinder und ein Greis −
In der Menge Mackie Messer, den
Man nicht fragt und der nichts weiß.
Und die minderjährige Witwe
Deren Namen jeder weiß
Wachte auf und war geschädet −
Mackie, welches war dein Preis?
Text: John Gay, bearbeitet von Bertold Brecht.
Musik: Kurt Weill.
Universal-Edition Wien 1928/1956.
54
Friedrich Hollaender (1896−1976) / Marlene Dietrich (1901−1922)
Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt
[aus dem Josef-von-Sternberg-Film: Der blaue Engel, 1930]
Ein rätselhafter Schimmer,
Ein 'je ne sais-pas-quoi'
Liegt in den Augen immer
Bei einer schönen Frau.
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Doch wenn sich meine Augen
Bei einem vis-à-vis
Ganz tief in deine saugen,
Was sprechen dann sie?
Ich bin von Kopf bis Fuß
Auf Liebe eingestellt,
Denn das ist meine Welt.
Und sonst gar nichts.
Das ist, was soll ich machen,
Meine Natur,
Ich kann halt lieben nur
Und sonst gar nichts.
Männer umschwirr'n mich,
Wie Motten um das Licht.
Und wenn sie verbrennen,
Ja dafür kann ich nicht.
Ich bin von Kopf bis Fuß
Auf Liebe eingestellt,
Ich kann halt lieben nur
Und sonst gar nichts.
Was bebt in meinen Händen,
In ihrem heißen Druck?
Sie möchten sich verschwenden.
Sie haben nie genug.
Ihr werdet mir verzeihen,
Ihr müßt' es halt versteh'n,
Es lockt mich stets von neuem.
Ich find' es so schön!
Ich bin von Kopf bis Fuß
Auf Liebe eingestellt,
Denn das ist meine Welt.
Und sonst gar nichts.
Das ist, was soll ich machen,
Meine Natur,
Ich kann halt lieben nur
Und sonst gar nichts.
Männer umschwirr'n mich,
Wie Motten um das Licht.
Und wenn sie verbrennen,
Ja dafür kann ich nichts.
55
Ton Steine Scherben
Macht kaputt, was euch kaputt macht
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Radios laufen
Platten laufen
Filme laufen
TVs laufen
Reisen kaufen
Autos kaufen
Häuser kaufen
Möbel kaufen
Wofür?
Refrain:
MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTT MACHT!
Züge rollen
Dollars rollen
Maschinen laufen
Menschen schuften
Fabriken bauen
Maschinen bauen
Motoren bauen
Kanonen bauen
Für wen?
Refrain
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30
Bomber fliegen
Panzer rollen
Polizisten schlagen
Soldaten fallen
Die Chefs schützen
Die Aktien schützen
Das Recht schützen
Den Staat schützen
Vor uns!
Refrain
(Entstehung 1970)
Text: Rio Reiser.
Komposition: Ton Steine Scherben.
Album: Warum geht es mir so dreckig [LP]. David Volksmund (Indigo) 1971.
56
Wolf Biermann (* 1936)
Ballade vom preußischen Ikarus
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Da, wo die Friedrichstraße sacht
den Schritt über das Wasser macht
da hängt über der Spree
die Weidendammer Brücke. Schön
kannst du da Preußens Adler sehn
wenn ich am Geländer steh
dann steht da der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht weg −er stürzt nicht ab
macht keinen Wind −und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree.
Der Stacheldraht wächst langsam ein
tief in die Haut, in Brust und Bein
ins Hirn, in graue Zelln
Umgürtet mit dem Drahtverband
ist unser Land ein Inselland
umbrandet von bleiernen Welln
da steht der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht weg −er stürzt nicht ab
macht keinen Wind −und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree.
Und wenn du weg willst, mußt du gehn
ich hab schon viele abhaun sehn
aus unserem halben Land.
Ich halt mich fest hier, bis mich kalt
dieser verhaßte Vogel krallt
und zerrt mich übern Rand
dann bin ich der preußische Ikarus
mit grauen Flügeln aus Eisenguß
dem tun seine Arme so weh
er fliegt nicht weg −er stürzt nicht ab
macht keinen Wind −und macht nicht schlapp
am Geländer über der Spree.
(Erstveröffentlichung 1976)
Text & Komposition: Wolf Biermann.
Album: Trotz alledem [LP]. 1978.
57
Nina Hagen (* 1955)
TV-Glotzer
Einen rechtschönen guten Abend, meine Damen und Herren.
Ich begrüße Sie recht herzlich zu unserem heutigen Fernsehprogramm
und wünsche Ihnen einen rechtguten Empfang.
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Allein!
Die Welt hat mich vergessen
Ich hänge rum!
Hab's bei allen verschissen
Ich sitz' zu Hause
Keine Lust zu gar nichts!
Ich fühl' mich alt
Im Sumpf wie meine Omi:
Ich schalt' die Glotze an
Die Daltons Waltons, everyone
Ich glotz' von Ost nach West, 2, 5, 4
Ich kann mich doch gar nicht entscheiden,
Ist alles so schön bunt hier!
Ich glotz' TV (sie glotzt TV)
Ich glotz' TV (sie glotzt TV)
Wau!
Ich bin so tot!
War das nun schon mein Leben?
Meine schöne Phantasie!
Meine Schaltstellen sind hinüber
Ich schalt' die Glotze an
Happiness, flutsch-flutsch! fun fun!
Ich glotz' von Ost nach West, 2, 5, 4
Ich kann mich gar nicht entscheiden
Ist alles so schön bunt hier!
Ich glotz' TV (sie glotzt TV)
Ich glotz' TV (sie glotzt TV)
Yeah!
Ich krieg' ne Meise weil
Na, ich fass' kein Buch mehr an
Literatur??? Kotz kotz uuuuaah!
Da wird mir übel
Und die Arztromane hab' ich mit zwölf hinter mich gebracht
Man, bin ich belesen eij!
Und die Erfrischungswaffeln sind ausgelaufen −würg würg
Und diese Scheißschokolade macht einen fetter und fetter
Und fetter und fetter und ach!
Ich schalt' die Glotze an
Happiness −flutsch-flutsch! fun fun!
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45
50
Ich glotz' von Ost nach West, 2, 5, 4
Ich kann mich doch gar nicht entscheiden
Ist alles so schön bunt hier!
Ich glotz' TV
Ich glotz' TV
Ich glotz' TV
Ich glotz' TV
Ich glotz' TV, TV, TV, TV, TV , TV, TV
Ich glotz' TV (vau, vau, vau, vau, vau)
TV TV TV TV ist eine Droge
TV macht süchtig!
TV TV TV TV TV
Text: Nina Hagen.
Album: Nina Hagen Band [LP 1978] [CD]. Col (Sony BMG) 1985.
Ideal
Eiszeit
5
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Das Telefon seit Jahren still −kein Mensch mit dem ich reden will
Ich seh im Spiegel mein Gesicht −nichts hat mehr Gewicht
Ich werfe Schatten an die Wand und halte zärtlich meine Hand
Ich red mit mir und schau ins Licht −mich erreichst du nicht
In meinem Film bin ich der Star, ich komm auch nur alleine klar
Panzerschrank aus Diamant −Kombination unbekannt
Eiszeit −mit mir beginnt die Eiszeit
Im Labyrinth der Eiszeit −minus neunzig Grad
Eiszeit −mit mir beginnt die Eiszeit
Im Labyrinth der Eiszeit −minus neunzig Grad
Alle Worte tausend Mal gesagt, alle Fragen tausendmal gefragt
Alle Gefühle tausend Mal gefühlt −tiefgefroren −tiefgekühlt
In meinem Film bin ich der Star, ich komm auch nur alleine klar
Panzerschrank aus Diamant −Kombination unbekannt
15
Eiszeit −mit mir beginnt die Eiszeit
Im Labyrinth der Eiszeit −minus neunzig Grad
Eiszeit −mit mir beginnt die Eiszeit
Im Labyrinth der Eiszeit −minus neunzig Grad
(Erstveröffentlichung 1980)
Text & Komposition: Ideal.
Album: Der Ernst des Lebens [CD]. Wea (Warner Music) 1981.
59
Kraftwerk
Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
5
10
Ich bin allein, wieder ganz allein,
starr auf den Fernsehschirm, starr auf den Fernsehschirm,
hab heut Nacht nichts zu tun, heut Nacht nichts zu tun,
ich brauch ein Rendezvous, ich brauch ein Rendezvous.
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Ich wähl die Nummer, ich wähl die Nummer,
rufe Bildschirmtext, rufe Bildschirmtext,
hab heut Nacht nichts zu tun, heut Nacht nichts zu tun,
ich brauch ein Rendezvous, ich brauch ein Rendezvous.
15
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Computerliebe, Computerliebe
Text & Komposition: Kraftwerk.
Album: Computerwelt [CD]. Klingklang (EMI) 1981.
60
Udo Lindenberg (* 1946)
Sonderzug nach Pankow
Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ich muß mal eben dahin, mal eben nach Ost-Berlin.
Ich muß da was klär'n mit eu'rem Oberindianer.
Ich bin ein Jodeltalent und ich will da spielen mit 'ner Band.
5
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20
Refrain:
Ich hab'n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker,
das schlürf' ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker,
und ich sag: Ey, Honey, ich sing für wenig Money
im Republik-Palast, wenn ihr mich laßt.
All' die ganzen Schlageraffen dürfen da singen,
dürfen ihren ganzen Schrott zum Vortrage bringen,
nur der kleine Udo, nur der kleine Udo,
der darf das nicht und das verstehn wir nicht.
Ich weiß genau, ich habe furchtbar viele Freunde
in der DDR und stündlich werden es mehr.
Och, Erich, ey, bist Du denn wirklich so ein sturer Schrat.
Warum läßt Du mich nicht singen im Arbeiter- und Bauernstaat?
Ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ist das der Sonderzug nach Pankow?
Ist das der Sonderzug nach Pankow?
Refrain
25
Honey, ich glaub', du bist doch eig'ntlich auch ganz locker.
Ich weiß, tief in dir drin, bist Du eig'ntlich auch 'n Rocker.
Du ziehst dir doch heimlich auch gerne mal die Lederjacke an,
und schließt dich ein auf'm Klo und hörst West-Radio.
30
Hallo, Erich, kannst' mich hören?
Hallolöchen −Hallo
Hallo, Honey, kannst' mich hören?
Hallo Halli, Halli Hallo
Joddelido
Text: Udo Lindenberg.
Musik: Henry Warren: "Chattanooga Choo-Choo", 1941.
Album: Lindstärke 10 [LP]. PolyGram 1983.
61
Die Ärzte
Das Schlaflied
5
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25
30
Schlaf mein Kindchen, schlafe ein,
die Nacht, die schaut zum Fenster rein.
Der runde Mond, der hat dich gerne,
und es leuchten dir die Sterne.
Schlaf, mein Kleines, träume süß,
bald bist du im Paradies.
Denn gleich öffnet sich die Tür,
und ein Monster kommt zu dir.
Mit seinen elf Augen schaut es dich an,
und schleicht sich an dein Bettchen ran.
Du liegst still da, bewegst dich nicht,
das Monster zerkratzt dir dein Gesicht!
Seine Finger sind lang und dünn,
wehr dich nicht, 's hat keinen Sinn.
Und es kichert wie verrückt,
als es deinen Hals zerdrückt!
Du schreist, doch du bist allein zu Haus,
das Monster sticht dir die Augen aus.
Dann bist du still und das ist gut,
es beißt dir in den Hals und trinkt dein Blut.
Ohne Blut bist du bleich wie Kreide,
dann frisst es deine Eingeweide.
Dein kleines Bettchen, vom Blut ganz rot,
die Sonne geht auf und du bist tot!
Schlaf mein Kindchen, schlaf jetzt ein,
am Himmel stehn die Sternelein.
Schlaf mein Kleines, schlafe schnell,
dein Bettchen ist ein Karussell.
Schlaf mein Kindchen, schlaf jetzt ein,
sonst kann das Monster nicht hinein.
Text & Musik: Die Ärzte.
Album: Debil [CD]. CBS 1984.
62
Rio Reiser (1950−1996)
Junimond
Die Welt schaut rauf zu meinem Fenster
Mit müden Augen ganz staubig und scheu
Ich bin hier oben auf meiner Wolke
Ich seh dich kommen aber du gehst vorbei
5
10
Doch jetzt tut's nicht mehr weh
Nee jetzt tut's nicht mehr weh
Und alles bleibt stumm
Und kein Sturm kommt auf
Wenn ich dich seh
Es ist vorbei bye bye Junimond
Es ist vorbei es ist vorbei bye bye
15
Zweitausend Stunden hab ich gewartet
Ich hab sie alle gezählt und verflucht
Ich hab getrunken geraucht und gebetet
Hab dich flussauf −und flussabwärts gesucht
20
Doch jetzt tut's nicht mehr weh
Nee jetzt tut's nicht mehr weh
Und alles bleibt stehn
Und kein Sturm kommt auf
Wenn ich dich seh
Es ist vorbei bye bye Junimond
Es ist vorbei es ist vorbei bye bye
Text & Komposition: Rio Reiser.
Album: Rio I. [CD]. Col (Sony) 1986.
63
Depeche Mode / Rammstein
Stripped
Come with me
Into the trees
We'll lay on the grass
And let the hours pass
5
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20
Take my hand
Come back to the land
Let's get away
Just for one day
Let me see you
Stripped down to the bone.
Let me see you
Stripped down to the bone.
Metropolis
Has nothing on this
You're breathing in fumes
I taste when we kiss
Take my hand
Come back to the land
Where everything's ours
For a few hours
Let me hear you make decisions
Without your television
Let me hear you speaking
Just for me
25
30
Let me see you
Stripped down to the bone.
Let me hear you speaking
Just for me
Let me see you
Stripped down to the bone.
Let me hear you crying
Just for me
Text & Musik: Depeche Mode: Black Celebration. Mute Records 1986.
Cover-Version: Rammstein: Stripped (Single). 1998.
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Stephan Krawczyk (* 1955)
Das geht solange gut
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Da schmeißt 'ne Frau in schönem hohen Bogen
das allerheiligste Parteibuch hin.
Das ist für sie der große Wurf gewesen,
doch leider ist sie noch nicht Rentnerin.
Auf einmal sizt 'se zwischen allen Stühlen,
so daß 'se schnellstens ihren Job verliert,
das ist nicht gut, weil nämlich die Genossen
in ihre Akte bißchen Dreck geschmiert.
Das geht solange gut, solang das gut geht,
solange du dich an die Regeln hälst,
doch wenn du fällig bist, dann bist du fällig,
weil du dann meistens auf die Schnauze fällst.
Du liegst solange drauf, solang du drauf liegst,
bist du dich wieder auf die Füße stellst.
Oder so 'n Typ mit achtzehn Jahren,
der will 'ne Arbeit, die ihm Laune macht,
da kann er höchstwahrscheinlich lange suchen,
denn schließlich will er nicht auf Friedenswacht.
Da zeigt man ihm im allerschönsten Frieden,
wie drohend über ihm der Hammer hängt.
Und unter unbetäubten Trennungsschmerzen
hat er sich aus 'm Vaterland gerenkt.
Das geht solange gut, solang das gut geht,
solange du dich an die Regeln hälst,
doch wenn du fällig bist, dann bist du fällig,
weil du dann meistens auf die Schnauze fällst.
Du liegst solange drauf, solang du drauf liegst,
bist du dich wieder auf die Füße stellst.
Oder so 'n Kirchenpop' in Amt und Würden,
lebt sich mit seiner Frau an 'n Eherand
und um sich selber letztlich treu zu bleiben,
zerhaun 'se Gott sei Dank das Hochzeitsband.
Dann muß er den Talar an 'n Nagel hängen
und über sieben Brücken stiften gehen,
der hohe Himmelsfürst kriegt nasse Augen,
wie die auf Erden hier sein Wort verdrehn.
Das geht solange gut, solang das gut geht,
solange du dich an die Regeln hälst,
doch wenn du fällig bist, dann bist du fällig,
weil du dann meistens auf die Schnauze fällst.
Du liegst solange drauf, solang du drauf liegst,
bist du dich wieder auf die Füße stellst.
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Oder so 'n Sängerlein, wie ich zum Beispiel,
hab' wie 'n Dackel jahrelang gebellt,
bis ich auf's heikle Thema mit der Macht kam,
da ham 'se mich dann erst 'mal kalt gestellt.
Natürlich bin ich daran schließlich selbst schuld,
hätt' ich mein'n Psalm durchs Blümchen doch gespuckt.
Ich weiß, das sehen die Herrn seit jeher gern,
man kann ja stehen, aber leicht geduckt.
Das geht solange gut, solang das gut geht,
solange du dich an die Regeln hälst,
doch wenn du fällig bist, dann bist du fällig,
weil du dann meistens auf die Schnauze fällst.
Du liegst solange drauf, solang du drauf liegst,
bist du dich wieder auf die Füße stellst.
(Entstehung 1987)
Text & Komposition: Stephan Krawczyk.
Album: "Wieder Stehen" [CD]. BuschFunk 1987/1996.
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Element of Crime
Damals hinterm Mond
Das Leben lief im Schweinsgallopp, die Liebe war ein Fest, der Mensch war gut
Damals hinterm Mond
Der Whisky war ein Kitzel und das zweite Glas unser ganzes Hab und Gut
Damals hinterm Mond
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Zu trinken gab es nie zuviel und abends wusst ich immer, wo du warst
Was haben wir gelacht
Damals hinterm Mond
Ein Blick war ein Versprechen, nichts als Lächeln war die Welt, der Mensch war gut
Damals hinterm Mond
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Regeln warn zum Brechen da, wir kämpften mit der Kraft gesunder Wut
Damals hinterm Mond
Zu streiten gab es nie zuviel und abends wusst ich immer, wo du warst
Was haben wir geliebt
Damals hinterm Mond
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Ein nackter Bauch war Himmel und die Hölle eine Bank, der Mensch war gut
Damals hinterm Mond
Der Baggersee war Ozean, die Ente war ein Schwan, ein Topf ein Hut
Damals hinterm Mond
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Zu spielen gab es nie zuviel und abends wusst ich immer, wo du warst
Was haben wir gelacht
Damals hinterm Mond
Text: Sven Regener.
Komposition: Element of Crime.
Album: Damals hinterm Mond [CD]. Polydor (Universal) 1991.
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Dildo took a Taxi
Alles wegen dir
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Es ist alles viel zu spät,
weil die Welt sich nicht mehr dreht;
sie ist still und hält den Mund,
keiner kennt den Grund.
Vielleicht kann's das Alter sein
oder Bier und Schnaps und Wein;
ohne Warnung heute früh
stand sie still so wie noch nie.
Und heut' abend um halb acht
hat der Mond auch dicht gemacht,
keiner weiß mehr wo er steht,
er hat das Licht halt abgedreht.
Und nun sitz' ich ziemlich dumm
die ganze Nacht im Dunkeln rum,
und bestimmt ist morgen früh
auch die Sonne noch perdü.
Und das alles wegen Dir,
und das alles wegen Dir,
und das alles wegen Dir, mein Schatz.
Text und Musik: P. Oeter.
Erstveröffentlichung: Dildo took a Taxi [LP]. 1992.
Trinkende Jugend
Hamburg Lied
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Ich steh hier und singe am Elbestrand
Und schaue mich um, da ist allerhand
Die Schiffe, die schippern
elbauf und elbab
Sie legen hier an und legen auch ab
Matrosen fahr'n in die Welt hinaus
Doch ich bleib in Hamburg,
da bin ich zuhaus
Ich war auch schon einmal im Ruhrgebiet
Doch Hamburg,
Dir widme ich dieses Lied
Jetzt hör ich ein Shantie
das macht mich ganz froh
Matrosen, sie singen,
und das klingt so
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Ick heff' mol'n
Hamburger Veermaster sehn
Mit Masten, so sheep,
als den Schipper sien Been
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Was ißt man in Hamburg
zu Korn und Bier?
Du weißt es nicht?
Na, dann sag ich's Dir:
Schnuten und Pooten
dat is'n fein Gericht
Arfen und Boon,
wat schöneret gifft dat nicht!
Das ist ein Poem von der Heidi Kabel
Bei der Hamburger Muse
ist sie der Nabel
Sie spielt oft und gern
im Ohnsorg-Theater
Für Jung und für Alt
und für Mutter und Vater!
Doch auf St. Pauli
ist das Leben noch bunter
Für fünf Mark holt Reni
dem Klaus einen Hot-Dog
Und wenn die Reni
einmal nicht pariert
Na, dann kriegt sie vom Loddel
die Lippen poliert!
Ich kenne die Kirchen
von Frankfurt bis Essen
Auch die Münchener Kirchen
kannst Du vergessen
Der Kölner Dom?
Na, Du hast wohl'n Stichel
Am schönsten bimmelt der
Hamburger Michl!
Ich hör' gerne Heino, U2
und die Doors
Am liebsten hör ich Hummel Hummel,
Moors Moors!
In Wien sagt man Servus,
Adieu in Paris
In Hamburg sagt man
einfach nur Tschüss!
(1993)
Text und Musik: Ernst Kahl, Hardy Kayser, H. Siewert.
Erstveröffentlichung: Wo ist zu hause Mama. Perlen deutschsprachiger Popmusik #1 [CD]. Trikont
(Indigo) 1995.
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Freundeskreis
A−N−N−A
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Refrain:
immer wenn es regnet muss ich an dich denken
wie wir uns begegnen kann mich nicht ablenken
nass bis auf die haut so stand sie da
immer wenn es regnet muss ich an dich denken
wie wir uns begegnen kann mich nicht ablenken
nass bis auf die haut so stand sie da
A−N−N−A
pitsch patsch nass floh ich unter das
vordach des fachgeschäfts vom himmel goss ein bach ich schätz'
es war halb acht doch ich war hellwach
als mich anna ansah anlachte
ich dachte sprich sie an denn sie sprach mich an
die kleidung ganz durchnässt klebte an ihr fest
die tasche in der hand stand sie an der wand
die dunk'len augen funkelten wie 'ne nacht in asien
strähnen im gesicht nehmen ihr die sicht
mein herz klopft die nase tropft ich schäme mich
benehme mich dämlich bin nämlich eher schüchtern
"mein name ist anna" sagte sie sehr nüchtern
ich fing an zu flüstern ich bin max aus dem "schoss der kolchose"
doch so 'ne katastrophe das ging mächtig in die hose
mach' mich lächerlich doch sie lächelte "ehrlich wahr mann"
sieh' da anna war ein hiphop-fan
Refrain
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plitsch platsch fiel ein regen wie die sintflut
das vordach die insel wir waren wie strandgut
ich fand mut bin selbst überrascht über das selbstverständnis
meines geständnis' anna
ich fänd es schön mit dir auszugeh'n
könnt mich dran gewöhn dich öfters zu seh'n
anna zog mich an sich "an sich mach' ich das nicht"
spüre ihre süssen küsse wie sie mein gesicht liebkost
was geschieht bloss lass mich nicht los
anna ich lieb bloss noch dich and're sind lieblos du
wie vinyl für meinen dj die dialektik für hegel
pinsel für picasso für philippe schlagzeugschlegel
anna wie war das da bei dada
du bist von hinten wie von vorne A−N−N−A
Refrain
sie gab mir 'nen kuss denn dann kam der bus
sie sagte "max ich muss" die türe schloss "was ist jetzt schluss" es goss
ich ging zu fuss bin konfus fast gerannt
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anna nahm mein verstand fand an anna allerhand
manchmal lach' ich darüber doch dann merk' ich wieder wie's mich trifft
komik ist tragik in spiegelschrift
A−N−N−A von hinten wie von vorne dein name sei gesegnet
ich denk' an dich immer wenn es regnet
Refrain
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lass mich nicht im regen steh'n
ich will dich wieder seh'n
Text & Komposition: Philippe Kayser, Martine Welzer, Max Herre.
Album: Quadratur des Kreises [CD]. For (Sony) 1997.
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Sabrina Setlur (* 1974)
du liebst mich nicht
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es könnte mich nicht weniger interessieren ob du tot bist oder lebst ob du
gesund bist oder krank ob du krebs hast oder aids mir geht's am arsch vorbei
du wichser reißt mein herz in zwei millionen teile aus schmerz und die sind
schwer wie blei meine gedanken kreisen wie'n adler immer wieder um die selbe
kacke: wie gehts ihm, wo is' er, wo war er hat er an mich gedacht wie ich an ihn
denk' merkt er nicht wie er mich kränkt ich will doch nix geschenkt dann fängt
die scheiße von vorne an ich greif' rosen und fass' dornen an du bist für mich
gestorben mann hast alles verdorben am anfang war's lieblich du sagtest du
liebst mich denn heute bist du der kühlste mann ober lockerer super duper
chabo wie fühlt's sich an ziehst du dir darauf 'n has' alter macht dir das spaß
ich scheiß' auf dich das war's du liebst mich nicht ich weiß ich weiß daß die
welt groß und schlecht ist hart und ungerecht ist daß jeder depp 'n hecht ist
und was er labert meistens blech ist aber mein pech ist daß ich vergesse was ich
weiß deshalb dreht sich mein scheißleben auch in 'nem scheißkreis ich reiß' mir
'n arsch auf und wart' drauf daß du's erkennst wußtest du eigentlich daß du
laberst während du pennst du nennst mich manchmal namen von alten die du
mal hattest sagst was obermattes wie: "ich lieb' nur dich" und erwartest daß ich
stolz bin denkst du dass ich aus holz bin du arsch kommst nach zwo minuten
und schnarchst und fragst mich vor deinen jungs: "wie war ich?" meistens spar'
ich mir meinen kommentar du findest mich sonderbar alter du bist faker als 'n
wonderbra schlechter als der sommer war kälter als der winter laberst mich voll
von wegen kinder und ich denk' nur jetzt spinnt er die rinder der wahn oh bitte
erbarmen das werd' ich mir ersparen du liebst mich nicht ich wünsch' dir zum
abschied 'n beschissenes gewissen mit gewissensbissen 'ne seele voll mit rissen
und daß du lernst mich zu vermissen 'n kissen da[s] nur leer liegt und ewig
davon zeugt daß die alte die da ma' lag dich verabscheut und heute noch bereut
irgendwann mit dir zu tun gehabt zu ham' schick' deine rosen deinen
schlampen die auf blumen abfahren bei mir tragen sie keine früchte wie
gerüchte und lügen du hast mich viel zu oft belogen und betrogen du wirst
mich niemals mehr betrügen mir genügen die erinnerungen an die scheißtage
im bann von 'nem beschissenen mann ich kann heut' kaum noch glauben wie
sehr man sich erniedrigt in zeiten die widrig sind für scheiße die man nie kriegt
aber wie blickt 'ne alte den dreck wenn se' verliebt is' das gibt es und das is'
dein glück aber du versiebst es locker und lässig easy come and easy go fick
dich und deine ganze beschissene show du liebst mich nicht
Text: Sabrina Setlur.
Komposition: 3 P
Album: Die neue S-Klasse [CD]. 3 P (Sony) 1997.
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Kettcar
Wäre er echt
Stell dir nur mal vor er wäre echt
Wie er kam als sie sagte
Irgendwas mit Schluss und keinen Zweck mehr
Und zwei Wochen später der dreckige Rest
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Refrain:
Was für Nervenstränge sollen das denn sein? Und wer wischt das Blut weg?
Wäre er echt
Wer schützt die Notaufnahmen? Und wer hält die ganzen Hände?
Wäre er echt
Stell dir nur mal vor er wäre echt
Als der Anruf kam:
"Entschuldigung sind sie ...?"
"Ja das bin ich"
"Wir müssen ihnen mitteilen ..."
Und das Leben, das du kanntest, das Leben war vorbei
Refrain
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Es wäre nicht zum aushalten, wäre er echt
Würd sagen: alle Glück gehabt
Es wäre nicht zum aushalten, wäre er echt
Das ist ein allerletzter Trost
Text & Komposition: Kettcar.
Album: Du und wieviel von deinen Freunden [CD]. GHvC (Indigo) 2002.
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Bernd Begemann (* 1963)
Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
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All meine Lieblingssätze
fangen an mit
"Wenn Du noch hier wärst"
doch ich will nichts mehr hören
von meiner Trauer
dass du nie mehr zurückkehrst
Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
es wird noch ein sehr schöner Tag werden
Oh ich wünschte
ich könnte mir glauben
Eines Tages werde ich
vergessen
dass du mich vergessen hast
was soll ich bis dahin tun
ich betrüge mich selbst
und schon glaube ich fast
Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
Es wird noch ein sehr schöner Tag werden
Oh ich wünschte
ich könnte mir glauben
All dieses Warten
all dieses Hoffen
all dieses Wünschen
und all dieses Wissen
all dieses Glauben
all dieses Beten
und all dieses Vermissen
bringt dich nicht zurück zu mir
bringt dich nicht zurück zu mir
es bringt dich nicht zurück zu mir
Text & Komposition: Bernd Begemann.
Album: Unsere Liebe ist ein Aufstand [CD]. GHvC (Indigo) 2004.
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