Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia

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Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia
Nr. 6 | 26. Juni 2011
Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia Avallone Ein
Sommer aus Stahl | Alice Munro Zu viel Glück | Kinder- und Jugendbücher
Ferienlektüre | Gregor Sander Winterfisch | Luise Rinser Über ihre dunklen
Seiten | Paul Collier Der hungrige Planet | Weitere Rezensionen zu J. R. von
Salis, Henry Kissinger und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt
Die jungen
Frauen
und das Meer
Ernest Hemingway war Kriegsreporter, Abenteurer, Grosswildjäger
und vor allem ein fabelhafter Erzähler. Für seine Novelle «Der alte
Mann und das Meer» erhielt er den Pulitzer- und 1954 den Nobelpreis.
Millionen von Leserinnen und Lesern waren hingerissen vom Drama
des Fischers Santiago, der drei Tage im Golf von Mexiko allein mit
einem gigantischen Marlin, einem Speerfisch, kämpfte. Der Stoff wurde
wie viele andere Werke Hemingways verfilmt. Der rabauzige Autor,
dessen Todestag sich zum 50. Mal jährt, liebte auch den Stierkampf und
das Boxen. Dass er heute als Macho abgetan wird, findet der Schweizer
Schriftsteller Peter Stamm billig. Stamm, der sich von Hemingways
schnörkellos knapper Prosa beeinflussen liess, hält den Pionier der
Shortstories für einen sensiblen Intellektuellen, ja einen «Riesen»,
dessen Zeit noch lange nicht abgelaufen sei (Seite 14).
Ebenfalls am Meer, am heruntergekommenen Strand von Piombino,
spielt das Romandebüt der 27-jährigen italienischen Autorin Silvia
Avallone. Die beiden Heldinnen von «Ein Sommer aus Stahl» sind noch
keine 14, sind sich aber ihrer schönen Körper bewusst, die die Blicke
der Männer auf sich ziehen. Ein begeisterndes Buch: die Überraschung
dieses Frühjahrs, wie meine Kollegin Regula Freuler schreibt (Seite 10).
Wir wünschen Ihnen gute Lektüre und einen schönen Sommer. Auf
Wiederlesen am 28. August. Urs Rauber
Ernest
Hemingway
(Seite14).
Illustrationvon
AndréCarrilho
Belletristik
4 AliceMunro:ZuvielGlück
6 GregorSander:Winterfisch
Von Sandra Leis
7 MattBeynonRees:DerAttentätervon
Brooklyn
Von Stefana Sabin
8 AimeeBender:DiebesondereTraurigkeitvon
Zitronenkuchen
13MartinSchäuble:BlackBoxDschihad
Von Gunhild Kübler
Von Simone von Büren
ThomasHoepker:DDRAnsichten
Von Gerhard Mack
9 KathrinSchmidt:Finito.Schwammdrüber
Von Martin Zingg
10 SilviaAvallone:EinSommerausStahl
Von Regula Freuler
11 SayedKashua:ZweitePersonSingular
Von Susanne Schanda
KurzkritikenBelletristik
Sachbuch
Von Sabine Sütterlin
18 PaulCollier:DerhungrigePlanet
Von Hans ten Doornkaat
20 PaulGinsborg:Italienretten
BirgitSchönau:CircusItalia
Von Christine Knödler
IngoundSilkeArndt:1,2,3–ganzviele!
RobertGriesbeck,NilsFliegner:
Trickchemie
Jürgen
Brater:
Warum
habenwir
Sandinden
Augen?
14 PeterStammüberErnestHemingway
«Hemingway war genial sorgfältig»
Von Manfred Papst
KonstantinRichter:Kafkawarjungund
brauchtedasGeld
Von Manfred Papst
Kolumne
Von Janika Gelinek
AlImfeld:AfrikaalsWeltreligion
Von David Signer
21 JoséSánchezdeMurillo:LuiseRinser
Von Urs Rauber
22BettinaStangneth:EichmannvorJerusalem
Von
Verena
Hoenig
Von Regula Freuler
SunilMann:Lichterfest
Von Katja Gentinetta
KarinFeuerstein,KarinSchneider:Dahielt
dieWeltdenAteman
Interview
Von Regula Freuler
HansRuh:Ordnungvonunten
Von David Strohm
Von Christine Knödler
Von Manfred Papst
JonathanLethem:ChronicCity
TobiasElsässer:Fürniemand
Von Sabine
Sütterlin
11 GilbertKeithChesterton:DerMann,derzu
vielwusste
TaniaKjeldset:Juli
Von Andrea Lüthi
Von Sieglinde Geisel
23 GregorSpuhler:Gerettet–Zerbrochen
NIELS FLIEGNER
Nr. 6 | 26. Juni 2011
Ernest Hemingway Neu gelesen von Peter Stamm | Silvia Avallone Ein
Sommer aus Stahl | Alice Munro Zu viel Glück | Kinder- und Jugendbücher
Ferienlektüre | Gregor Sander Winterfisch | Luise Rinser Über ihre dunklen
Seiten | Paul Collier Der hungrige Planet | Weitere Rezensionen zu J. R. von
Salis, Henry Kissinger und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Von Urs Bitterli
GianfrancoMalfarina:DieKircheSan
FrancescoinAssisi
Von Geneviève Lüscher
24 HerbertCerutti:WieHansRudolfHerren
20MillionenMenschenrettete
Von Markus M. Haefliger
BerndBrunner:WiedasMeernachHause
kam
Von Thomas Köster
25 JeanRudolfvonSalis:AusgewählteBriefe
1930−1993
Von Klara Obermüller
26 SebastianoTusa:VersunkeneAntike
Von Geneviève Lüscher
17 CharlesLewinsky
12 FranziskaBiermann:DermagnetischeBob
KurzkritikenSachbuch
Agenda
17ElisabethKaestli:Aisha,Mussa,Zawadi…
27 HelgeSobik:MythosSaintTropez
MartinSinzig:LouisChevrolet
JuliaOnken:Rabentöchter
Kinder-undJugendbuch
Von Verena Hoenig
FranzHohler,KathrinSchärer:Eswareinmal
einIgel
Von Regula Freuler
PerOlovEnquist:Grossvaterunddie
Schmuggler
Von Andrea Lüthi
Das Zitat von Karl Heinrich Waggerl
Von Urs Rauber
Von Geneviève Lüscher
Von Kathrin Meier-Rust
DasamerikanischeBuch
HenryKissinger:OnChina
Von Andreas Mink
Von Kathrin Meier-Rust
BestsellerJuni2011
Belletristik und Sachbuch
AgendaJuli2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Erzählungen Alice Munro wird im Juli 80 Jahre alt. In ihrem
jüngsten Buch beweist sich die kanadische Schriftstellerin erneut
als Grossmeisterin der kurzen Prosa
Literatur zehrt
immer
vom Leben
Alice Munro: Zu viel Glück. Aus dem
Kanadischen von Heidi Zerning. Fischer,
Frankfurt a. M. 2011. 368 Seiten, Fr. 30.50.
Von Gunhild Kübler
In Alice Munros jüngstem Erzählband
«Zu viel Glück» geht eine Frau an einem
Buchladen vorbei und erblickt auf einem
Plakat das Gesicht eines Mädchens, das
ihr bekannt vorkommt. Ob das eine
ihrer ehemaligen Schülerinnen ist? Die
junge Autorin posiert in schwarzer Aufmachung, mit tiefem Ausschnitt und
vorwurfsvoller Miene. Die Lehrerin
kauft das Buch und entdeckt beim Lesen
zu Hause, dass sie darin als angeschwärmte Musiklehrerin eine Hauptrolle spielt. Keine sympathische. Sie
ahnt, was nun kommt, und giesst sich
zur Beruhigung schon mal Cognac in
ihren Tee. Die Autorin, glaubt sie, wird
«ihre schmutzige Phantasie den Menschen und der Situation aufpfropfen, die
sie aus dem wahren Leben genommen
Alice Munro
Alice Munro ist am 10. Juli 1931 in Wingham, Ontario, geboren. Ein Studium an
der University of Western Ontario
musste sie aus Geldmangel abbrechen.
Sie heiratete 1951 und zog drei Kinder
gross. Seit 1968 hat sie 13 Erzählungsbände und einen Roman publiziert. Vielfach ausgezeichnet (2009 für ihr
Lebenswerk mit dem Booker Prize für
Internationale Literatur) und alljährlich
als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis gehandelt, lebt sie heute mit ihrem
zweiten Mann in Clinton, Ontario.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
hat – zu faul, um zu erfinden, aber nicht
zu faul, um zu verleumden.»
Literatur zehrt vom Leben. Auch
Alice Munro, diese singuläre Grossmeisterin des Erzählens, die am 10. Juli
ihren 80. Geburtstag feiert, hat immer
von eigenen Erinnerungen gezehrt.
Unter den Protagonisten ihrer mittlerweile dreizehn Erzählungsbände erkennt man ihren Vater, den glücklosen
Gelegenheitsfarmer und Züchter von
Silberfüchsen, und ihre Mutter, die an
Parkinson erkrankte, als die kleine Alice
zehn war. Man erkennt die armseligen,
bigotten Verhältnisse in der kanadischen Provinz, aus denen sie erst in ein
kurzes Studium und dann in eine frühe
Ehe floh. Man erkennt die Ehe-Situation,
aus der sie sich losmachte, und man
glaubt die Autorin selber zu sehen als
Hausfrau und Mutter auf der Suche
nach einem Zimmer für sich allein.
Liebe einer Schülerin
«Faul» beim Erfinden ist Alice Munro
allerdings nie gewesen. Erzählen ist bei
ihr eine Methode, über das menschliche
Zusammenleben nachzudenken, seine
undurchsichtigen, irritierenden Momente herauszulösen und von mehreren
Seiten her zu erkunden bis dahin, wo sie
unauslotbar werden. In einem Interview
hat sie das einmal so beschrieben: «Erinnerung ist die Art und Weise, wie wir
uns selber unsere Geschichten erzählen
und wie wir anderen Leuten eine etwas
andere Version unserer Geschichten erzählen. Wir kämen nicht aus in unserem
Leben ohne eine starke, ständig fortlaufende Erzählung. Und unter all den bearbeiteten, inspirierten, uns schützenden oder unterhaltenden Geschichten
liegt vermutlich irgendein riesiges, bauchiges, geheimnisvolles Ding namens
‹Die Wahrheit›, nach dem wir mit unse-
ren Fiktionen stochern und von dem wir
einzelne Stücke erwischen. Was könnte
als lebenslange Beschäftigung interessanter sein?»
Wie das im einzelnen aussieht, zeigt
der Fortgang der eingangs erwähnten
Erzählung. Die ehemalige Schülerin hat
in ihrem Buch ihre grosse Liebe zur Musiklehrerin zum Thema gemacht. Und
das bittere Ende dieser Liebe. Denn dem
Kind wird bald einmal klar, dass es nur
deswegen für die Lehrerin interessant
ist, weil es ihr Informationen über ihren
Ex-Mann bringen kann, der sie nach
langjähriger Ehe verlassen hat und seit
kurzem mit der Mutter des Kindes zusammenlebt. Das Kind fühlt sich in seiner Schwärmerei betrogen und missbraucht. Nie wieder wird es sich so hinters Licht führen lassen.
Aber dann kommt alles anders. Mit
der Zeit verändern sich die Gefühle des
Mädchens. Als junge Frau hört sie auf,
sich über ihre Kinderliebe zu grämen,
Heiterkeit für die zehn Geschichten die­
ses Bandes allerdings nicht. Denn es gibt
hier überraschend viele Eruptionen von
Gewalt, die allerdings nur in ihren Fol­
gen geschildert werden.
Zahlreich sind auch die Rückblenden
in vergangene Zeiten: Die Titelgeschich­
te – ein Porträt der russischen Mathe­
matikerin Sofia Kowalewskaja – lenkt
bis ins 19. Jahrhundert zurück. Andere
Stories beschreiben die kanadische Pro­
vinz in den Kindheitsjahren der Autorin.
Dabei sind die Figuren stabil in ihrer
Zeit verankert, aber ihre Konflikte wir­
ken aktuell. Diese Kinder werden in
ihren Freundschaften und Abneigungen
und in ihrer gnadenlosen Konventiona­
lität genauso ernst genommen wie Er­
wachsene. Idyllen gibt es keine. Manche
Figuren werden das Kind, das sie einst
waren, ihr Leben lang nicht mehr los.
Noch auf dem Totenbett kämpfen sie
mit Schuldgefühlen aus jener Zeit. Dass
die am längsten zurückliegende Lebens­
phase im Alter plötzlich neu austreibt
und bearbeitet werden will, auch diese
manchmal quälerische Erfahrung ist in
dieses reiche Altersbuch eingegangen.
PETER SIBBALD / REDUX / LAIF
Attraktives Altersbuch
denkt jetzt mehr an die Phasen kindli­
cher Glückseligkeit, an die gemeinsam
mit der Lehrerin gespielte Musik, und
mit einem Mal heisst es: «Sie war froh
darüber.» Worauf ein echt Munro’scher
Satz folgt: «Es schien fast, als müsse es
eine wahllose und natürlich ungerechte
Sparsamkeit in der Haushaltsführung
der Welt geben, wenn das grosse Glück
eines Menschen – wie vergänglich und
zerbrechlich auch immer – aus dem
grossen Unglück eines anderen kom­
men konnte.»
Zahlreiche Rückblenden
Sätze wie diese laden Leser zum Selbst­
gespräch über das eigene Leben ein.
Für unser Leseglück ist damit bereits ge­
sorgt. Aber Munro setzt noch eins drauf:
Sie lässt die Lehrerin zur Lesung ihrer
Schülerin gehen. Die hat sich inzwi­
schen komplett neu gestylt mit Goldtö­
nen im Haar, einer Jacke aus rosa Sei­
denbrokat und Goldschmuck an Hals
und Ohren. Jetzt wirkt sie kühl und doch
freundlich. Doch zeigt sie keine Spur
von Wiederkennen, als die Lehrerin sie
beim Signieren des Buchs auf die Ver­
gangenheit anspricht. Weiss diese junge
Frau überhaupt noch, was sie geschrie­
ben hat? Es sieht aus, als sei das etwas,
aus dem sie sich «hinausgeschlängelt
und das sie im Gras liegengelassen hat».
So sind sie, die Autoren, werfen
schreibend ihre Haut ab, um die von an­
deren umso ungenierter zu Markte zu
tragen. Auf ihrem Heimweg ringt die
Lehrerin noch eine ganze Weile um Fas­
sung. Aber jetzt hat sie Lust, mitzumi­
schen bei diesem trickreichen Geben
und Nehmen – «daraus lässt sich viel­
leicht sogar eine Anekdote machen, die
sie selber eines Tags erzählen kann. Es
würde sie nicht wundern.»
«Fiction» heisst diese Erzählung, die
zu so heiteren Einsichten kommt beim
Nachdenken über das Verhältnis von
Leben und Literatur. Typisch ist solche
Die kanadische
Autorin Alice Munro,
1994 zu Hause in
ihrem Garten in
Clinton, Ontario. Ihre
Erzählungen laden
zum Selbstgespräch
über das eigene Leben
ein.
Ein Wort noch zur deutschen Überset­
zung. Die besorgt seit Jahren Heidi Zer­
ning – präzis, findig und mit der gebote­
nen knappen, aber doch lockeren Ele­
ganz. Diesmal hat ihr ein syntaktisch
tückisches Zitat aus einem Gedicht des
englischen Schriftstellers Walter de la
Mare ein Schnippchen geschlagen.
«There is no sorrow / Time heals never
/ No loss, betrayal / Beyond repair» –
heisst wohl eher «Es gibt keinen Kum­
mer / Den Zeit nicht heilt» als, wie
Heidi Zerning schreibt, «Kummer gibt
es nicht / Zeit heilt nie.»
Der Missgriff wäre unerheblich,
würde er nicht die Stimmung in der Er­
zählung «Gesicht» stören, in der ein
alter, von einem blauroten Muttermal
auf seiner Wange entstellter Mann sich
an seine Kinderfreundin erinnert. Die
hat eines Tages – im Bedürfnis, sich mit
ihrem Freund zu identifizieren – die ei­
gene Wange mit knallroter Farbe ange­
malt und ihn damit so schockiert, dass
man sie für immer aus seinem Umkreis
verbannte. Nun erträumt er im Alter
eine letzte Begegnung mit ihr. Alt­
werden kann hungrig machen nach Ver­
söhnung.
Darf man Bilanz ziehen? Auf keinen
Fall. Wie ihr jüngstes Buch zeigt, ist von
Alice Munro noch etwas zu erwarten.
Allenfalls kann man jetzt schon feststel­
len, wie sehr sich ihr komplexes Alters­
werk von den endlos die Einbusse von
Attraktivität beklagenden Altersbü­
chern von Philip Roth oder Martin Wal­
ser unterscheidet. Der schöne Spruch,
den Virginia Woolf vor vielen Jahren auf
George Eliot münzte, soll darum hier in
einen Geburtstagstoast verwandelt wer­
den: Lorbeer und Rosen für die grosse
kanadische Schriftstellerin! l
Die Publizistin Gunhild Kübler war lange
Mitglied des «Literaturclubs». Zuletzt
erschien von ihr «Leidenschaften.
99 Autorinnen der Weltliteratur».
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Erzählungen In «Winterfisch», seinem dritten Buch, versammelt der deutsche Autor Gregor Sander
Geschichten aus dem Ostseeraum. Karg und von grosser Strahlkraft
Vom Schweigen der Männer
Gregor Sander: Winterfisch. Wallstein,
Göttingen 2011. 192 Seiten, Fr. 27.90.
Zwei Freunde kennen einander seit dem
Medizinstudium, das für beide die falsche Wahl gewesen ist. Sie brechen es
ab, der eine studiert Malerei, der andere
macht eine Ausbildung zum Fotografen.
Das Leben nimmt seinen Lauf, die beiden driften ein wenig auseinander, bis
sie zu ihrem 40. Geburtstag einen Segeltörn geschenkt bekommen. Von Gdingen nach St. Petersburg. «Das Ganze ist
nicht meine Welt. Ich glaube, Jakob gefällt es besser. Wir lesen oder spielen
Karten in unserer Freizeit, und eigentlich wartet man die ganze Zeit wieder
auf die nächste Wache», heisst es in
«Weisse Nächte», einer Erzählung des
43-jährigen Deutschen Gregor Sander.
Obwohl oder gerade weil ihm die
Tage ziemlich eintönig vorkommen,
bleibt dem Ich-Erzähler genügend Zeit,
über Vergangenes nachzudenken. Beispielsweise vergegenwärtigt er sich Jakobs Besäufnisse, den Entzug und die
beiden Rückfälle. Und er schlägt den
Bogen zu sich selbst, weil auch er
manchmal eins über den Durst trinkt.
Dann, wenn ihn Leere und Einsamkeit
befallen und eine «Scheissangst» in ihm
hochkriecht, während Frau und Töchter
friedlich schlummern. Angst wovor?
«Davor, dass alles kippt. Alles.»
Mehrfach ausgezeichnet
Es sind solche Geschichten, die den
Band «Winterfisch» zu einer Trouvaille
machen. Es ist diese beredte Schweigsamkeit von Sanders männlichen Protagonisten, und es ist diese ungeschminkte Ehrlichkeit, nach welcher der Autor
forscht, ohne seine Figuren je der Lächerlichkeit preiszugeben. Er begegnet
ihnen mit grossem Respekt und findet
für sie eine Sprache so karg und rau wie
der Ostseeraum, in dem sie leben.
Gregor Sander kam 1968 in Schwerin
zur Welt, machte eine Ausbildung zum
Schlosser und Krankenpfleger, studierte
eine Weile Medizin, dann Germanistik
und Geschichte und besuchte schliesslich die Journalistenschule in Berlin, wo
er als Autor lebt. 2002 debütierte er mit
dem Geschichtenband «Ich aber bin
hier geboren», für den er den Förderpreis zum Friedrich-Hölderin-Preis der
Stadt Bad Homburg erhielt. Er versammelte Momentaufnahmen deutscher Befindlichkeiten nach der Wende, beschrieb leise und unaufgeregt die Kapitulation vor dem Leben genauso wie das
Aufbegehren gegen die Tristesse.
2007 veröffentlichte Sander mit «Abwesend» seinen ersten und gleich für
den Deutschen Buchpreis nominierten
Kurzroman. Darin erzählte er mittels
Andeutungen, Verknappungen und Zeit6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
FRANK HEUER / LAIF
Von Sandra Leis
Männer auf einem
Segeltörn und andere
Einzelkämpfer:
Gregor Sanders
Protagonisten werfen
existenzielle Fragen
auf.
sprüngen von den Rissen einer ostdeutschen Eigenheimidylle aus der Sicht
eines Sohnes, der ins Elternhaus zurückkehrt, um den kranken Vater zu beaufsichtigen, während die Mutter eine
Reise unternimmt. 2009 schliesslich las
Sander am Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt die
Geschichte «Winterfisch», in der drei
Männer beinahe stumm um eine vergangene Liebe trauern, und wurde dafür mit
dem 3sat-Preis ausgezeichnet.
Nicht nur in der Titelgeschichte, auch
in den acht weiteren Erzählungen des
Buches «Winterfisch» tragen die Protagonisten ihr Herz nicht auf der Zunge.
Sie sind in sich gekehrt und zurückhaltend, im Beruf oft Einzelkämpfer wie
der Arzt in «Haus Seeblick», der drei
Monate im Jahr auf Mallorca malocht,
dann nochmals drei Monate in Berlin,
um sich die übrige Zeit von seinen Strapazen zu erholen. Dabei wird ihm bewusst, dass Leben auch Lieben heisst,
und er macht sich auf zu einem Überraschungsbesuch. Er fährt ins Ostseebad
Grünborn und nächtigt in einem Hotel,
dessen Besitzerin er auf Mallorca behandelt hat.
Gelungene weibliche Sicht
Oder André aus der Geschichte «Im
Dunkeln», der durch Osteuropa reist,
weil seine Firma in mehreren Hotels
Heizungsanlagen gebaut hat und eine
kostenlose Wartung nach einem Jahr
spendiert. Er hat eigentlich nichts zu
tun, «ausser an ein paar Ventilen zu drehen und zu sagen, dass alles in Ordnung
sei». Eines Abends versumpft er in Litauen und muss sich von einem Betrunkenen vorwerfen lassen, dass die beiden
Piloten auf dem 10-Lit-Schein von den
Deutschen abgeschossen worden seien.
Als sich herausstellt, dass dem wohl
doch nicht so gewesen ist, überkommt
André eine Freude, ohne dass er genau
wüsste, warum.
Gregor Sanders Hauptfiguren sind
fast ausnahmslos Männer, doch in einer
der neun vorliegenden Erzählungen
wagt er die weibliche Perspektive und
reüssiert. In «Der Stand der Dinge» berichtet er von Johanna, einer Köchin auf
der Stör. Sie fährt von Berlin nach
Rügen, von dort bringt ein Helikopter
sie weiter auf die Insel Hiddensee. In
einer Ferienwohnung bereitet sie einen
Ochsenschwanz zu und erfährt erst allmählich, was ihre Auftraggeber niederdrückt: Der Sohn der Familie ist vor
über zwei Jahrzehnten beim Versuch,
aus der DDR zu fliehen, von Grenzsoldaten erschossen worden. Die Mahlzeit
ist ein Ritual, mit dem die Familie an
jedem Geburtstag des toten Sohnes gedenkt.
Ein anderer Druck, der auf Johanna
lastet, kommt aus der eigenen Familie.
Zu Hause sitzt ihr Mann, ein arbeitsloser und entsprechend sauertöpfischer
Schauspieler, mit der gemeinsamen
fünfjährigen Tochter. Während Johanna
kocht, schreibt er per SMS: «Wir müssen reden (…). Es gibt ein Problem.» Sie
ahnt, was das heissen könnte, und hofft
trotzdem inständig, dass sie im kommenden Mai wie jedes Jahr mit Mann
und Kind nach Hiddensee reisen wird.
Die Hoffnung stirbt zuletzt – auch in
Gregor Sanders Geschichten, die existenzielle Fragen aufwerfen und dank
ihrer konkreten Verankerung im Alltag
zutiefst menschlich sind. ●
Kriminalroman In seinem vierten Fall muss Omar Jussuf die Unschuld seines Sohnes beweisen
Der erste palästinensische Detektiv
Matt Beynon Rees: Der Attentäter von
Brooklyn. Omar Jussufs vierter Fall. Aus
dem Englischen von Klaus Modick. C. H.
Beck, München 2011. 288 Seiten, Fr. 28.90.
Von Stefana Sabin
Omar Jussuf ist ein «Lehrer, der die bedauernswerten Kinder aus dem Flüchtlingslager Dehaischa in Geschichte unterrichtet.» Er ist kein strahlender Held,
sondern ein alternder Mann, in schlechter körperlicher Verfassung und in subdepressiver Dauerstimmung – ein Antiheld. Er ist der erste palästinensische
Detektiv der Kriminalliteratur.
Nun hat Omar Jussuf seinen vierten
Fall zu lösen. Er muss die Unschuld seines eigenen Sohnes beweisen, der unter
Mordverdacht verhaftet wird. Nachdem
er seine Talente in Bethlehem, Gaza und
Nablus vorgeführt hat, muss er jetzt
in einer besonderen palästinensischen
Stadt ermitteln, nämlich in Bay Ridge, in
jenem Viertel von Brooklyn, wo sich
so viele Palästinenser niedergelassen
haben, dass es «Little Palestine» heisst.
Das ist eine zugleich vertraute und
fremde Umgebung: der Geruch des ara-
bischen Kaffees und die Begrüssungsrituale zwischen den palästinensischen
Emigranten erinnern Jussuf an zu Hause,
aber die meteorologische Kälte und
die zwischenmenschlichen Umgangsformen tragen zu seinem ständigen Unbehagen bei. Wie zu Hause in Bethlehem kommt sich Jussuf einsam und
fremd vor, wie zu Hause ist er entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. So
scheut er keine Anstrengung, die Morde,
die die palästinensische Gemeinde erschüttern, aufzuklären und seinen Sohn
aus dem Gefängnis wieder freizubekommen. Dabei legt er bei seinen Ermittlungen kriminelle Verstrickungen zwischen
verschiedenen arabischen Gruppierungen bloss, deckt die Verlogenheit palästinensischer Politfunktionäre auf und
sichert sich den Respekt des palästinensisch-amerikanischen Polizisten, mit
dessen Hilfe er schliesslich einen gross
angelegten terroristischen Anschlag
verhindert.
Eine bewährte Mischung aus kriminalistischer Handlung, sozialpolitischer
Beschreibung und Lokalkolorit prägt
den Roman. Es ist der vierte des englischsprachigen Autors Matt Benyon
Rees. Als ehemaliger Journalist, der jah-
relang für die amerikanische Wochenzeitschrift «Time» die kriegerischen
Zustände im Nahen Osten beschrieben
hat, verbindet Matt Benyon Rees die
Dringlichkeit des Berichterstatters mit
der Gelassenheit des Krimischriftstellers. Rees pflegt eine einfache Sprache
und versucht, die idiomatischen Rituale
des gesprochenen Arabisch nachzuahmen. Er baut Spannung auf, hält den erzählerischen Rhythmus durch und endet
mit einer unerwarteten Auflösung.
Obwohl Rees New York zum Ort des
Geschehens macht, konzentriert er sich
wie schon in den vorigen Omar-JussufRomanen auf die innerpalästinensischen Verhältnisse. Er führt die Korruptheit der Politfunktionäre, die das
Volk als Verhandlungsmasse betrachtet,
vor und zeigt das Bestreben anständiger
Leute wie Omar Jussuf, die ideologische
Manipulation durch Kulturarbeit zu
konterkarieren. Dabei schöpft Rees aus
seinem Hintergrundwissen über die
Machtkämpfe und die Zerrissenheit innerhalb der palästinensischen Behörden, und unter der Oberfläche der Krimihandlung zeichnet er ein Sozialgemälde Palästinas, das aufschlussreicher
ist als viele Reportagen. ●
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Nur der Kampf
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Überleben zählt …
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Mit Die Arena legt Stephen King ein faszinierendes neues Monumentalwerk vor.
Urplötzlich sind die Einwohner der neuenglischen Kleinstadt Chester’s Mill durch ein
undurchdringliches Kraftfeld komplett von
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26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Entwicklungsroman Die Amerikanerin Aimee Bender schreibt über ein hochbegabtes Kind
Eine Neunjährige schmeckt in Keksen
die geballte Wut des Bäckers
Aimee Bender: Die besondere Traurigkeit
von Zitronenkuchen. Aus dem
Amerikanischen von Christiane
Buchner und Martina Tichy. BerlinVerlag, Berlin 2011. 320 Seiten, Fr. 31.90.
Von Simone von Büren
Für die neunjährige Rose ist Zitronenkuchen nicht einfach Zitronenkuchen:
Sie schmeckt hinter der Zitrone und der
Schokoladenglasur «eine Abwesenheit», die sie instinktiv mit ihrer Mutter
verbindet: «Der köstliche Geschmack
der Zutaten schien nur die Deckschicht
von etwas Grösserem, Dunklerem zu
sein.» Die junge Ich-Erzählerin in Aimee
Benders zweitem Roman «Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen»
schmeckt bald in allem, was sie isst, die
verdrängten Gefühle der Menschen, die
die Zutaten oder Gerichte zubereitet
haben, so als ob sie unfreiwillig in deren
Tagebuch lesen würde. Ein Keks enthält
die geballte Wut des Bäckers, ein Sandwich schreit in voller Lautstärke, die
Milch ist «lustlos, erschöpft». Die Gefühle, die der Essenshellseherin mit
jedem Bissen entgegenschlagen, sind so
intensiv, dass sie vorerst nur mit industriell hergestelltem Fastfood überlebt.
Die Leute in ihrem Umfeld sind zu
sehr mit sich selbst beschäftigt, um das
Problem wahrzunehmen. Die fragile,
zerstreute Mutter kann sich auf nichts
einlassen. Der Vater ist ein Workaholic,
der für alles Listen macht, und der verschwiegene Bruder Joseph ignoriert
Rose sowieso konsequent. Nur Josephs
DDR Ansichten aus einem unbekannten Land
Sehr begeistert scheint das Kind nicht zu sein.
Paraden sind nicht lustig, wenn man in der ersten
Reihe stehen und Fähnchen schwenken muss, nur
weil die Partei es verordnet hat und die Eltern keinen
Ärger wollen. Eine Delegation aus Nordvietnam ist
auf Staatsbesuch in der DDR, da soll das Volk zeigen,
wie sehr es die Brüder aus der grossen sozialistischen
Weltgemeinschaft schätzt. Thomas Hoepker hat die
Menschen auf der Karl-Marx-Allee beobachtet. Er zog
1974 mit seiner damaligen Frau Eva Windmöller in
den Ostteil Berlins. Sie wurde als erste «Stern»Journalistin in der DDR akkreditiert. Gemeinsam
berichtete das Paar ein paar Jahre lang über den
unbekannten Alltag der Menschen auf der anderen
Seite des Eisernen Vorhangs. Wir schauen in die
Wohnungen damals bekannter Schriftsteller und
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
Künstler. Wir sehen Schaufenster, die ihren Mangel
mit surrealen Inszenierungen verbrämen. Die vielen
politischen Parolen können nicht verhindern, dass
einem Honecker-Bild auf einer Müllhalde die Augen
ausgestochen wurden. Und immer wieder scheint
auch gesamtdeutsche Befindlichkeit auf: Der Kuchen
mit Buttercrème-Füllung erzählt von der Magie
kalorienhaltiger Nahrung nach den Hungerjahren von
Weltkrieg und Nachkriegszeit. Er hätte auch auf
westdeutschen Wohnzimmertischen liegen können.
Wer sich in Hoepkers Bilder vertieft, versteht die
Menschen besser, die in der DDR gelebt haben.
Gerhard Mack
Thomas Hoepker: DDR Ansichten. Hatje Cantz,
Ostfildern 2011. 254 Seiten, 201 Abbildungen,
Fr. 47.90.
einziger Freund George nimmt sich
ihrer merkwürdigen Begabung an.
Aimee Bender, die die Gebrüder
Grimm und Hans Christian Andersen
als prägende Einflüsse auf ihr Schreiben
nennt, ist bekannt für die magischen
und surrealen Elemente in ihren Texten.
In ihren Erzählungen – auf Deutsch liegt
ihr Band «Das Mädchen, das Feuer fing»
vor – durchlebt zum Beispiel ein Mann
die Evolution rückwärts und wird am
Ende als Einzeller im Meer ausgesetzt,
ein Junge wird mit schlüsselförmigen
Fingern geboren, und ein grosser Mann
kauft einen kleinen Mann als Haustier.
Die 42jährige Autorin verankert die
magischen Elemente in ihren Texten
meist in entschieden realistischen Alltagswelten – wie hier in einer ruhigen
Wohngegend in Los Angeles. Und oft
veräussern die ungewöhnlichen Fähigkeiten und Körper ihrer Figuren deren
psychische Zustände. Roses Gabe wird
zur Metapher für ihre Hypersensibilität,
die Bender zu Beginn des Romans humorvoll und feinfühlig erforscht.
Denn Rose nimmt in ihrem Leben viel
mehr Information auf, als sie zu verarbeiten vermag – vor allem als sie über
«eine Ladung von Verliebtheit und
Schuldbewusstsein» im Roastbeef von
der Affäre ihrer Mutter erfährt und im
Sandwich ihres Bruders dessen wahre
Verfassung erahnt: «etwas von Leere,
von Klumpigkeit, von In-sich-Zusammenfallen».
Da hätte es viel zu vertiefen gegeben.
Doch Rose entwickelt sich in den rund
dreizehn Jahren ihres Lebens, die das
vierteilige Buch umfasst, nur begrenzt.
Bender lässt sie zwar in der Tradition
des Coming-of-Age-Romans mit ihrer
Gabe immer besser umgehen. Aber als
ob sie zu wenig Vertrauen hätte in diese
Protagonistin und ihr Dilemma, macht
sie ein Familienmitglied ums andere
ebenfalls zum Sonderbegabten: Roses
Grossvater kann Gefühle anderer Menschen riechen, eine noch unerforschte
Gabe ihres Vaters äussert sich in dessen
Abneigung gegenüber Krankenhäusern,
während Joseph der Welt auf mysteriöse
Weise abhanden zu kommen beginnt.
Bender, die in Los Angeles Creative
Writing unterrichtet, scheint nicht entscheiden zu können, wo ihr Fokus liegt.
Möglichkeiten hätte es – neben einer
Vertiefung von Roses Entwicklung –
viele gegeben: Allen voran die Beziehung zwischen Rose und Joseph, der ihr
erst in seinem Verschwinden nahe
kommt. Oder die Frage nach dem Punkt,
an dem Sensibilität von einer besonderen Gabe zu einer unerträglichen Belastung wird und man mit Objekten besser
zurechtkommt als mit Menschen. Aber
im Unterschied zu ihrer Protagonistin
stösst Bender nicht auf das «Grössere,
Dunklere» unter Zitronengeschmack
und Schokoladenglasur vor. ●
Erzählungen Die deutsche Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt überrascht mit einem breiten
Repertoire an Themen und sprachlicher Virtuosität
Jetzt geht’s erst recht los
Kathrin Schmidt: Finito. Schwamm drüber.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
238 Seiten, Fr. 27.50.
«Finito. Schwamm drüber» steht auf
dem Buchdeckel, doch nach diesem gebieterischen Ausruf geht es erst richtig
los. 31 Geschichten versammelt der
Band, das ist nicht wenig. Aber Kathrin
Schmidt kennt man als opulente Erzählerin mit einem grossen Repertoire. Bereits der Roman «Die Gunnar-Lennefsen-Expedition», mit dem sie 1998 als
Prosaautorin debütierte, war ein wuchtiges und sprachlüsternes Epos, in dem
sie viele erzählerische Register zog.
Richtig bekannt geworden ist die Autorin indes ausgerechnet mit einem autobiographisch geprägten Roman, der
den Verlust und die «Rückeroberung»
der Sprache zum Gegenstand hat: Nach
einer Hirnblutung ist der Schriftstellerin Helene Wesendahl die Sprache (und
mehr) abhanden gekommen, und von
der allmählichen Rückkehr zur Normalität erzählt der Roman «Du stirbst
nicht». Im Jahre 2009 erhielt Kathrin
Schmidt dafür den Deutschen Buchpreis. Kurz danach überraschte sie, die
als Lyrikerin angefangen hat, mit dem
Gedichtband «Blinde Bienen», der von
der Kritik in hohen Tönen gepriesen
wurde.
Stress, Liebe, Leben
So verwundert bei den 31 Geschichten
von «Finito» nicht, wie breit Schmidts
Repertoire an Themen und Erzählmöglichkeiten ausfällt. Bereits die erste Geschichte, «Learnin’ the Blues», führt in
die Welt einer Frau, die sich ständig am
Rande ihrer physischen Möglichkeiten
zu bewegen scheint. Nach einem anstrengenden Tag – der Geburtstagskuchen für den Ehemann ist bereit, die
Kinder sind im Bett, ebenso die pflegebedürftige Mutter – geht sie nochmals
aus dem Haus, heimlich. Sie will tanzen.
Bereits in der Strassenbahn begegnet
sie einem jungen Mann, der das gleiche
Buch in Händen hält wie sie, also gehen
sie gemeinsam tanzen. Es folgt kurze
Liebe im Hauseingang. Der Ehemann
geht anderntags früh mitsamt Kuchen
ins Büro, und als am Morgen die Mutter
nicht auftaucht, stellt sich heraus: Sie ist
in eben dieser Nacht gestorben. Herzversagen.
Eine unglaubliche Ereignisdichte innerhalb von wenigen Stunden, und alles
ist durcheinander geraten. Die Ich-Erzählerin ist nun umständehalber gebremst in ihrem Tatendrang, die Kinder
auch: Dort, wo die Verstorbene gewöhnlich sass, sitzt niemand mehr, dennoch
scheint sie immer noch anwesend. Und
zugleich ist abzusehen, dass bald alles
ERIC MARTIN / LE FIGARO / LAIF
Von Martin Zingg
Während die Tochter
tanzen geht, stirbt
die pflegebedürftige
Mutter. Kathrin
Schmidts Erzählungen
sind ereignisdicht.
wieder weitergehen wird, der Stress, die
Liebe, das Leben.
In den Geschichten lässt sich einige
Male verfolgen, wie jemand mit grosser
Energie aufbricht, irgendetwas erreichen will und zugleich vor dem eigenen
Vorsatz zurückschreckt. Auch der Mann
in «Heisser Brei» weiss lange nicht so
recht, was er eigentlich will. Bloss, dass
nun mal was passieren sollte. Er wird
bald vierzig, er könnte doch einige Menschen einladen in die Pizzeria gegenüber. Diese markiert seinen Horizont,
und vor allem beschäftigt ihn die junge
Bedienung, die dort arbeitet, die er sehr
genau beobachtet, der er sich jedoch
nicht zu nähern wagt.
Lust an Sprachspielen
Als in seinem Treppenhaus plötzlich
eine Katze auftaucht, wird der Mann
vorübergehend in seine Vergangenheit
zurückgeworfen. Er taucht in Erinnerungen ab, in diffuse Bilder, die er nicht
einordnen kann, die aber mehr Leben
signalisieren, als er in der Gegenwart zu
kennen scheint. Und jetzt erst, so sieht
es aus, nachdem er wie die Katze um
den heissen Brei gestrichen ist, kann er
sich der jungen Frau nähern. Sie hat auf
ihn gewartet, stellt sich heraus, es war
bloss unklar, wann er sie zu sich nach
Hause nehmen würde. Das nötige Gepäck hält sie längst bereit. Zugleich
scheinen beide ein wenig überrumpelt
von dem, was sie tun. Vornehmen kann
man sich das alles nicht.
Die Geschichte hat ihr Pendant in
«Ein Tag, ein Knopf …», worin eine Frau
endlich den Schritt wagt aus ihrem grauen Alltag und in einem Café der Kellnerin ziemlich energisch und mit einer
überzeugenden Ausrede an die Wäsche
geht. Der Kellnerin ist das durchaus
recht, die beiden Frauen ziehen gemeinsam von dannen, beglückt. Für das
Glück, heisst das, muss etwas riskiert
werden, und am ehesten das, was man
von sich selber nie gedacht hätte.
Vom Glücksverlangen ist in diesen
Geschichten viel die Rede. Die Verhältnisse sind mitunter düster, auf anstrengende Weise begrenzt und eingrenzend.
Mühsame Kinder oder dann ebenso
mühsame Kinderlosigkeit, quälende Arbeit oder quälende Arbeitslosigkeit. In
«Der Kirschgott», einer sehr komplexen
und berührenden Geschichte, geht es
um einen Lehrer, den die «ungeordneten Zeitläufe» in der DDR einst in den
Selbstmord getrieben haben; erst zwanzig Jahre danach wagen es die Menschen, darüber zu sprechen. Die Nachwehen der DDR – das Verschwinden des
Landes und das Schweigen über die Vergangenheit – sind in einigen Erzählungen zu spüren. Sie stiften jedes Mal Beklemmung.
Und mittendrin, von den Einschränkungen kaum zu bändigen, keimt
ein grosses Liebesverlangen. Kathrin
Schmidt verbindet dieses mit einer
sichtbaren Lust an Sprachspielen. Das
ist bisweilen riskant und öfter erheiternd, etwa wenn eine Frau ihren Mann
buchstäblich «bestrickt» und mit Hilfe
einer Strickmaschine in eine Ganzkörperwollsache einpackt, damit sie ihn
mit beidseitigem Lustgewinn wieder
auspacken kann. Die süss-saure Mischung der Geschichten wimmelt von
Überraschungen. «Finito» ist man damit
lange nicht, keine Rede von «Schwamm
drüber». ●
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Debütroman Von der Pubertät bis zur Reife – die Geschichte einer Mädchenfreundschaft
Das «erste Mal» erleben
Silvia Avallone: Ein Sommer aus Stahl.
Aus dem Italienischen von Michael
Killisch-Horn. Klett-Cotta, Stuttgart 2011.
414 Seiten, Fr. 30.50.
13 Jahre: erste Küsse, heisse Tränen, totale Verwirrung. Im Kopf noch ein Kind,
der Körper von Tag zu Tag erwachsener,
und das viel zu rasch. Romane über
diese Lebensphase an der Schwelle zum
Erwachsensein füllen ganze Literaturgeschichten. Zu diesem Genre gehört
auch «Ein Sommer aus Stahl». Und doch
hebt sich das Buch in so vieler Hinsicht
ab, dass man es an dieser Stelle zum
überraschendsten und bewegendsten
Buch des Frühjahrs erklärt.
«Ein Sommer aus Stahl» erzählt die
Geschichte einer Freundschaft, die so
intensiv und innig wohl nur zwischen
Mädchen in diesem Alter sein kann. Es
ist die Geschichte von Anna und
Francesca. Die Freundinnen wohnen in
Piombino, das von seiner niedergehenden metallurgischen Industrie lebt. Es
ist auch die Geschichte zweier früh gealterter Mütter und ihrer gewalttätigen
beziehungsweise kriminellen Väter.
Ihre Strasse ist die Via Stalingrado, in
der die Häuser sich wie «Grabnischen»
aneinanderreihen.
Am Strand, an den sich niemals Touristen verirren, mischen sich Rost und
Abfall mit dem Sand, tonnenweise Algen
liegen herum. Elba am Horizont ist das
«unmögliche Paradies», einzig bestimmt für Mailänder und Deutsche.
Der Hochofen-Turm des Stahlwerks
Lucchini ist das omnipräsente Wahrzeichen. Dort arbeiten sich die Männer aus
den Mietskasernen ein Leben lang den
Rücken krumm, die älteren trösten sich
mit Nacktbildern, mit denen sie die
Wände zupflastern, die jüngeren dröhnen sich mit Kokain zu.
Spriessende Brüstchen
Die deutsche Übersetzung des Originaltitels «Acciaio», Stahl, ist insofern nicht
ganz präzise, als die Geschichte zwei
Sommer einschliesst, von 2001 bis 2002.
Die in dieser Zeitspanne eingestürzten
Zwillingstürme in New York sind ein
metaphorischer Hallraum, eine transatlantische Spiegelung von Anna und
Francesca, die sich so nahe stehen wie
Zwillingsschwestern und deren Jugend
zerstört wird. Denn so geht das in der
Unterschicht Piombinos: Mit 13 führt
man seine spriessenden Brüstchen und
die knackigen Pobäckchen spazieren,
um bei den jungen Männern Hormonschübe zu verursachen. Kaum ein Jahr
später, und schon wird aus Spiel folgenschwerer Ernst. «Die Welt kommt mit
vierzehn», steht da lakonisch. «Liebe in
der dunklen Kabine. Ohne weiter nachzudenken, ohne Präservativ, und wer
schwanger und geheiratet wurde, hatte
gewonnen. ‹Bald ist es so weit›, flüstern
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
MASSIMO VITALI / GALLERY STOCK
Von Regula Freuler
Am Strand der Stadt
Piombino, in der zwei
Mädchen zu früh
erwachsen werden,
mischen sich Rost und
Abfall mit dem Sand.
Francesca und Anna sich zu.» Zu Hause
üben sie die kurz bevorstehende Zukunft. Im offenen Badezimmerfenster
legen sie vor den Augen der Nachbarn
gegenüber einen Teenie-Striptanz hin.
Alles würde seinen gewohnten Gang
nehmen, Francesca und Anna würden
ihr «erstes Mal» erleben, und im nächsten Sommer wäre auch schon der nächste Jahrgang dran. Doch Francesca birgt
ein Geheimnis, das hier nicht verraten
sein soll. Es führt zum Bruch zwischen
den Freundinnen. Hierin spielt sich bereits eine Vorform jenes unvermeidbaren weiblichen Dilemmas ab, in welchem ihre Mütter resigniert haben. Die
eine ist aktive Gewerkschafterin, die andere ein duckmäuserisches Landei. Und
beide sind frustriert über ihre Ehe, doch
keine kann sich entschliessen, ihren
Mann zu verlassen. Was sind schon die
Alternativen? Wie entkommen wir dem
ewigen Kreislauf?
Autorin als Chronistin
Silvia Avallone, die 1984 im piemontesischen Biella geboren wurde und in Bologna Philosophie studiert hat, gelang mit
ihrem Debüt letztes Jahr eine Sensation:
über 300 000 verkaufte Exemplare in
ihrer Heimat und damit ein Bestseller,
der jetzt in viele Sprachen übersetzt
wird. Avallones erstes Buch war ein Gedichtband, und auch in «Ein Sommer
aus Stahl» spürt man die Dichterin: «Die
Worte lieben sich nicht, sie verändern
dich nicht. Die Worte richten die Dinge
nicht.» Und einen Sommer später, als
Anna mit ihrem «Verlobten» am Strand
Karten spielt, lässt sie diese sinnieren:
«Mitten im Leben stehen und es nicht
wissen. [...] Das ist nichts, das du verlierst. Es ist etwas, das dich verliert.»
Dass Avallone trotzdem die Kitschfalle souverän umgeht, liegt an ihrer Erzählhaltung: Sie versteht sich als Chronistin, zeichnet den Text ganz am Ende
mit Name, Ort und Datum, «Silvia Avallone, Bologna, den 22. September 2009».
An anderer Stelle: «Die Chronistenpflicht gebietet es auch zu erwähnen ...».
Von diesem Beobachterposten aus erklärt sich der radikal analytische Blick
auf die Figuren. So liefert Avallone bei
der Charakterzeichnung keine Interpretationen, sondern beschreibt einfach
nüchtern. Das irritiert anfangs, ist jedoch absolut schlüssig: In diesem Leben
sind die Wege vorgezeichnet. Einen
Funken Hoffnung lässt die Autorin uns
dennoch. Und damit gelingt ihr, was bei
einem Debüt selten gelingt: «Ein Sommer aus Stahl» erschüttert und begeistert bis zur letzten Zeile. ●
Roman Wie ein arabischer Sozialarbeiter
versucht, Jude zu werden
Identität ist wie
ein Organ
Kurzkritiken Belletristik
Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der
zu viel wusste. Deutsch von Renate OrthGuttmann. Manesse, 2011. 350 S., Fr. 30.90.
Jonathan Lethem: Chronic City. Roman.
Deutsch von M. Zöllner, J. Ch. Maass.
Tropen, Stuttgart 2011. 491 Seiten, Fr. 37.90.
Der Brite Gilbert Keith Chesterton
(1874Ω1936) war nicht nur der Schöpfer
des scheinbar gemütlichen, dabei hellwachen Ermittlers Pater Brown. In seinem verzweigten Werk finden sich
auch acht Krimigeschichten um Detektiv Horne Fisher, die 1922 erstmals in
Buchform erschienen. Ihr Titel, «Der
Mann, der zu viel wusste», hat nichts
mit Hitchcocks gleichnamigem Film zu
tun. Fisher ist ein analytischer Kopf, der
seine Verbindungen zur Upperclass zu
nutzen weiss. Zusammen mit dem Journalisten Harold March löst er spektakuläre Fälle – sei es auf dem Jagdausflug
des Finanzministers, beim Maskenball
oder in einer orientalischen Oase. Dabei
stellt er die Staatsraison über seinen Gerechtigkeitssinn: Das Empire darf nicht
gefährdet werden. Einmal mehr zeigt
sich Gilbert Keith Chesterton als glänzender Stilist. Vorzügliches Nachwort
von Elmar Schenkel.
Manfred Papst
Jonathan Lethem (geb. 1964) gehört mit
Jonathan Franzen (geb. 1959) und David
Foster Wallace (1962–2008) zu jener
mittleren Generation von amerikanischen Autoren, die sich ihr Renommee
durch intelligente, ja intellektuelle und
doch unterhaltsame Romane erschrieben haben. Diese Eigenschaften prägen
sowohl «Motherless Brooklyn», mit
dem Lethem 1999 der Durchbruch gelang, wie sein neues Buch «Chronic
City». Schauplatz des Geschehens ist
die Upper East Side von Manhatten, wo
der ehemalige Kinderfilmstar Chase Insteadman und der gescheiterte Kulturkritiker Perkus Tooth aufeinandertreffen. Eine seltsame Männerfreundschaft
entsteht. Wie von Jonathan Lethem gewohnt, gibt es auch in «Chronic City»
wieder popkulturelle Ausflüge, und es
wird reichlich surreal. Eine amüsante
Sommerlektüre für etwas anspruchsvollere Leser.
Regula Freuler
Sunil Mann: Lichterfest.
Kriminalroman. Grafit, Dortmund 2011.
315 Seiten, Fr. 15.90.
Konstantin Richter: Kafka war jung und
brauchte das Geld. Kein & Aber,
Zürich 2011. 176 Seiten, Fr. 21.90.
Vijay Kumar ist eine Art Philipp Marlowe mit Migrationshintergrund. Am
liebsten flösst er sich indischen Whiskey ein. Frauen-Beziehungen, die über
Bettaktivitäten hinausgehen, meidet er.
Der Freundeskreis des Privatdetektivs
besteht aus einem Journalisten und
einer Transe, sein Wirkungskreis ist Zürichs Kreis Cheib. Kumars zweiter Fall
führt ihn aber auch in mehrbessere Gegenden: In kurzer Abfolge trifft er auf
einen brutal verprügelten Teenager,
einen Medienmogul und einen kurz vor
den Wahlen aufgespiessten Rechtspopulisten. Die drei scheinen auf mysteriöse Weise verbunden. Der 39-jährige
Sunil Mann, im Berner Oberland als
Sohn indischer Einwanderer aufgewachsen, erzählt mit coolem Witz und in flottem Tempo. Für sein Début «Fangschuss» erhielt er den Zürcher Krimipreis 2010. Liebe Jury: Bitte «Lichterfest» auf die Shortlist 2011 setzen.
Regula Freuler
Auf den ersten Blick nimmt sich diese
«rasante Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte» aus wie ein weiterer flapsig
geschriebener Crash-Kurs für Leute, die
an Literatur, Kunst und Musik eigentlich
nicht interessiert sind und dennoch am
Partygespräch teilnehmen wollen. Auf
den zweiten Blick ist das Buch des 1971
in Berlin geborenen Journalisten Konstantin Richter, der 2007 den Roman
«Bettermann» vorlegte, aber mehr als
ein Schmunzel-Kurs in Halbbildung:
Richter flicht seine Erläuterungen zu
Renaissance und Klassik, Moderne und
Postmoderne geschickt in einen heiteren Roman ein, der nach dem Prinzip
von Italo Calvinos «Wenn ein Reisender
in einer Winternacht» funktioniert und
dem Leser also seine eigene Geschichte
erzählt: hier diejenige eines Finanzmenschen, der aus amourösen Gründen zum
bedeutenden Verleger avanciert. Federleicht und pfiffig.
Manfred Papst
Sayed Kashua: Zweite Person Singular.
Aus dem Hebräischen von Mirjam
Pressler. Berlin-Verlag, Berlin 2011.
395 Seiten, Fr. 33.50.
DAWIN MECKEL / OSTKREUZ
Von Susanne Schanda
Sayed Kashua bringt den arabischen
Blick in die hebräische Literatur. Als israelischer Araber gehört er äusserlich
dazu. Die Checkpoints liegen in seiner
Seele. Das Ringen um Identität ist das
dominierende Thema des 1975 in einem
palästinensischen Dorf bei Jerusalem
geborenen Sayed Kashua – seit seinem
ersten Roman «Tanzende Araber» im
Jahr 2002. Inzwischen schreibt er regelmässig für die liberale Zeitung Ha’aretz
und ist Autor der erfolgreichen israelischen Sitcom «Avoda Aravit» (Arabische Arbeit).
In seinem jüngsten Roman «Zweite
Person Singular» erzählt er in parallelen
Handlungssträngen von zwei Männern,
die ihre Vergangenheit im palästinensischen Dorf hinter sich gelassen haben.
Doch bei sich angekommen sind sie
noch lange nicht. «Ich erinnere mich,
wie ich beim ersten Mal zitterte, als ich
mich als Jude ausgab», denkt der junge
Sozialarbeiter Amir, und immer wieder:
«Ich will so sein wie sie.»
Als Amir zum Pfleger des gleichaltrigen gelähmten Jonathan wird, phantasiert er sich immer stärker in eine zweite jüdische Identität hinein. Er benutzt
die Kamera, dann einzelne Kleidungsstücke und schliesslich die Identitätskarte Jonathans. Dabei fühlt er sich als
Dieb und Betrüger. Ausgerechnet die
Mutter des sterbenden Jonathan versteht seinen Konflikt: «Das ist wie eine
Organspende. Die Identität ist wie ein
Organ, und dieses Organ ist bei dir beschädigt. Gib zu, ein Araber zu sein, ist
nicht das höchste menschliche Ziel.»
Fast gelingt es Amir, nach Jonathans
Tod dessen Identität anzunehmen. Doch
holt ihn am Ende die Realität in der Person eines arabischen Rechtsanwalts ein,
der glaubt, dass der junge Sozialarbeiter
der heimliche Geliebte seiner Frau sei.
Fast schicksalhaft laufen hier zwei Geschichten zusammen, die auf den ersten
Blick nichts miteinander zu tun haben.
Während die Figur des Rechtsanwalts
– der im Roman namenlos bleibt – mit
seiner obsessiven Eifersucht etwas holzschnittartig erscheint, geht die Zerrissenheit von Amir unter die Haut. Die
Qualität dieses Romans besteht
darin, dass er den ausgeleierten
Politjargon des arabisch-israelischen Konflikts vermeidet und sich ideologiefrei auf die seelischen Nöte
von arabischen Israelis einlässt. Das trifft. ●
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Kinder- und Jugendbuch
Kurzkritiken
Franziska Biermann: Der magnetische
Bob. Nilpferd in Residenz, St. Pölten 2011.
64 Seiten, Fr. 23.90 (ab 7 Jahren).
Chat Drei Jugendliche planen den Suizid
Franz Hohler, Kathrin Schärer: Es war
einmal ein Igel. Kinderverse. Hanser,
München 2011. 59 S., Fr. 19.90 (ab 5 Jahren).
Weiterleben
oder nicht?
Tobias Elsässer: Für niemand.
Sauerländer, Mannheim 2011. 165 Seiten,
Fr. 21.90 (ab 14 Jahren).
Bob jault, sabbert, schläft und pieselt
den ganzen Tag. Kein Wunder, dass
Etnas anfängliche Freude über den
neuen Bruder schnell verpufft. Mit dem
Knirps ist nichts anzufangen. Als er bald
schon durchs Haus jappelt und Etnas
Spielsachen kaputt beisst, steht sie kurz
vor dem Explodieren. Doch da ändert
sich die Lage: Etna findet heraus, dass
Büroklammern, Spielzeugautos und andere Gegenstände aus Metall an Bob
klebenbleiben. Er ist magnetisch geworden! Jetzt geht sie sogar freiwillig mit
ihrem Bruder nach draussen, wo der
einem Bankräuber in die Quere kommt.
Bob wird als Held gefeiert und das Magnetismusrätsel wird gelüftet. Mit Witz
erzählt die Autorin von der Geschwisterliebe mit Startschwierigkeiten, und
ihre Hundefiguren machen das Buch attraktiv für Leseanfänger.
Verena Hoenig
Wie bei so manchen Kinderbüchern
geht es einem auch bei Franz Hohlers
neuem Bändchen: Während die Kleinen
ernst lauschen mögen, lacht man als Erwachsener über die Begegnungen zwischen Wurm und Turm, Alp-Kalb und
Wurst-mit-Senf in Genf, Wal und Schal.
Zwei bis fünf Strophen kurz sind die
Verse. Manche sind einfach herzig unschuldig, andere wiederum melancholisch. Wieder andere dadaistisch-kurios,
so dass man sich, kaum hat man sie gelesen, fragt: Wie war das noch? «Es war
einmal ein Bonner / Der liebte Blitz und
Donner / Und wenn’s am Himmel krachte / Dann tanzte er und lachte / Und war
nicht mehr zu halten. / Ein Blitz hat ihn
gespalten. / Er ist nach Haus gehoppelt
/ Und seither tanzt er doppelt.» Kathrin
Schärers Farbstiftzeichnungen sind in
jedem Fall augenzwinkernd.
Regula Freuler
Per Olov Enquist: Grossvater und die
Schmuggler. Hanser, München 2011.
160 Seiten, Fr. 19.90 (ab 10 Jahren).
Tania Kjeldset: Juli. Aus dem
Norwegischen. Oetinger, Hamburg 2011.
217 Seiten, Fr. 24.90 (ab 12 Jahren).
Ein verdächtiges Zelt, weisses Pulver
und ein anonymer Anruf! Nach «Grossvater und die Wölfe» erlebt der tüddelige Grossvater – wie Enquist sich selber
darstellt – mit seinen Enkelkindern erneut gefährliche Abenteuer. Der Roman
enthält skurril-witzige Szenen, spart
aber auch ernste Fragen nicht aus; etwa
wenn es um das Einschläfern von Tieren
geht. Überhaupt spielen Tiere eine
wichtige Rolle: Hund Pelle wird zum Lebensretter, während Wolf und Bär jeweils im richtigen Moment am richtigen
Ort sind. Nicht zuletzt aber sind die Kinder selbständige Persönlichkeiten, die
den belehrenden Grossvater gern mal in
die Schranken verweisen. Obwohl sie
selbst vor Kalaschnikows nicht zurückschrecken, bleiben sie Kinder und werden nicht zu Superhelden stilisiert.
Andrea Lüthi
Die 15jährige Elin verbringt den Sommer
bei ihrer Grossmutter auf einer norwegischen Insel. Wie immer trifft sie ihre
Freundin Sara, die sie wegen ihres tollen
Aussehens beneidet, die jetzt aber erstmals auch nervt. In diesem Sommer erlebt Elin ihre erste Liebe; mit Kato, der
die Ferien in einem alten Wohnwagen
verbringt. Doch manchmal ist Kato distanziert. Er versucht seine Mutter zu
verbergen, die oft betrunken ist. Abwechselnd wird aus Sicht von Kato und
Elin berichtet, dabei fliessen viele Pubertätsthemen ein. Aber obwohl «Juli»
leichte Sommerlektüre ist, driftet der
Roman nicht ins Belanglose ab. Das liegt
vor allem an Katos glaubwürdigem
Wandel: Er lernt, seine eigenen Pläne
nicht länger wegen seiner Mutter aufzugeben.
Andrea Lüthi
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
Von Christine Knödler
Es gibt in der aktuellen Jugendliteratur
einen Trend des gegenseitigen SichÜberbietens. Ob aus Effekthascherei,
Sensationslust, zur Auflagensteigerung
oder doch um aufzuklären, das sei dahingestellt. Inhaltlich wie formal geht es
jedenfalls immer extremer zur Sache,
nur wenige Themen scheinen einer gewissen Sorgfaltspflicht zu unterliegen.
Selbstmord, eine der häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen, gehört noch
dazu. Das zeigt der neue Roman von Tobias Elsässer. Der Autor, der sich bereits
mit seinen Vorgängertiteln an strittige
Themen gewagt hat und 2010 für «Abspringen» mit dem Kranichsteiner Literaturstipendium ausgezeichnet worden
ist, hat über Suizid geschrieben: «Für
niemand» mutet und traut uns etwas zu.
Drei Jugendliche planen ihren Selbstmord. Im Netz verständigen sie sich
über das Wann, Wie und Wo, und verhandeln ein Warum. Computerfreak
Yoshua liest im Chat mit, er könnte – so
der erste Satz – Held werden, weil er
Leben retten könnte. Kann das wer?
Zwölf Kapitel fordern mit Fragen wie
Wer wird Millionär?, Wen liebst du?,
Wofür hasst du dich?, Wonach suchst
du? eine Debatte über das, was vermeintlich zählt. In knappen Passagen
wie Shortcuts bringen die Figuren
aus stets wechselnder Perspektive Träume, Enttäuschung, Kränkung, Gewalt,
Schuld, Gleichgültigkeit, Angst ins bitterernste Spiel. Sie stellen Lebensentwürfe zur Disposition, suchen Freiheit,
stossen an Grenzen. Und auch wenn
manche Erfahrungen Stereotype gesellschaftlicher Realität sind, überzeugt die
Radikalität, mit der die Protagonisten
Konsequenzen ziehen. Zwei werden
sich umbringen, zwei entscheiden sich
fürs Weiterleben. Weil sie sich und einander gefunden haben?
Das ist eine der vielen Fragen, die
offen bleiben. Des weiteren lässt sich
fragen, warum als Scheitern gilt, was als
Herausforderung zu verstehen wäre,
oder wie menschenverachtend Leistungsgesellschaft sein muss, dass der
Freitod, der so frei nicht ist, Alternative
wird. Dass er sich jeder Wertung enthält, ist einer der Verdienste des Autors.
Antworten auf Suizid, so eine der raren
Antworten dieses mutigen und wichtigen Romans, gibt es nicht. Weiterdenken muss und kann jeder selbst. ●
Kurzkritiken
Terrorismus Lebensläufe von zwei
Dschihad-Kämpfern
Gotteskrieger
Karin Feuerstein, Karin Schneider: Da
hielt die Welt den Atem an. Ravensburger,
Ravensburg 2011. 192 S., Fr. 24.90 (ab 12 J.).
Ingo und Silke Arndt: 1, 2, 3 – ganz viele!
Warum Tiere sich versammeln. Knesebeck,
München 2011. 78 S., Fr. 25.90 (ab 6 Jahren).
Zwar steht bei Bin Laden kein Todesdatum, und Obama ist hier nur der, der das
Gefängnis auf Guantánamo noch nicht
geschlossen hat. Aber das reich illustrierte Lesebuch über dreizehn politische Ereignisse seit 1945 bietet ideale
Einführungen für Jugendliche. Die Autorinnen verdichten und arbeiten Spezifisches heraus. Wer etwa verstehen will,
was die Eltern bosnischer Schulkollegen
in die Schweiz trieb, findet ein Kapitel
über den «Jugoslawienkrieg»: als Einstieg eine Momentaufnahme aus Sarajevo 1994, Angaben zu Tito, Karadzic und
Milosevic, Fakten zu den ethnischen
Säuberungen und ein Porträt der Frauenärztin Monika Hauser, die sich für
Vergewaltigungsopfer einsetzte. Zehn
gut dosierte Seiten, die mit dem Vertrag
von Dayton schliessen, aber auch ungeklärte Fragen benennen.
Hans ten Doornkaat
Wolken aus Bergfinken verdunkeln den
Himmel, Heerscharen von Krabben färben Klippen rot: Die opulenten Fotos
von Ingo Arndt sind die Hauptattraktion
dieses Bandes. Von faszinierend bis bizarr entwickeln sie eine eigene Ästhetik
und sensibilisieren für ein Phänomen,
das so bislang noch nicht dargestellt
worden ist. Daraus ergeben sich spannende Fragen, die Silke Arndt kindgerecht beantwortet und mit rekordverdächtigen Zahlen spickt: Wie viele Kilometer legen die Monarchfalter zu ihrem
Winterquartier zurück (bis zu 4000!),
aus wie vielen Kaptölpeln Eltern ihr
Junges an der Stimme erkennen (aus
25 000). Die Fakten imponieren genauso
wie die übrigen Informationen zu Brutpflege, Futterbeschaffung und anderen
Verhaltensweisen. Da bleibt nur, von
den Schwärmen zu schwärmen!
Christine Knödler
Robert Griesbeck, Nils Fliegner: Trickchemie. Schräge Experimente. Boje, Köln
2011. 118 Seiten, Fr. 15.90 (ab 10 Jahren).
Jürgen Brater: Warum haben wir Sand in
den Augen? Beltz & Gelberg, Weinheim
2011. 256 Seiten, Fr. 27.90 (ab 12 Jahren).
Wenn man einen aufgeschnittenen
Apfel liegen lässt, wird er braun und
verrottet langsam. Wälzt man ihn dagegen in Backpulver, trocknet er zwar, hält
aber ewig. Backpulver besteht aus Natron, das den Apfel sozusagen mumifiziert. Das ist Chemie. Drei Schweinejungen haben dieses Fach neu in der Schule und können nichts damit anfangen.
Da gibt ihnen Tante Rosa Nachhilfe
in der Küche! Statt mit Schwefel
und Salpeter experimentieren sie
mit Salz, Eiern und Essig. Wie beim
Kochen und Backen gehe es in der
Chemie nämlich darum, «Sachen
zusammenzurühren, damit am Ende
andere wieder rauskommen». Die
drei Schweinejungen staunen, als
Tante Rosa zeigt, wie man aus Milch
einen Gummiball herstellt.
Verena Hoenig
Leonie wacht auf, weil die Sonne ins
Zimmer scheint. 24 Stunden später wird
ihr Zwillingsbruder Daniel von einer
Erektion aus dem Schlaf geholt. Dazwischen: Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, Sport, Abendessen, TV, Zubettgehen. Das klingt nicht gerade mitreissend
– und zieht einen doch in Bann, denn die
äussere Handlung dient dem Autor nur
als Vorwand, um selbst die abwegigsten
Regungen des menschlichen Körpers
zu erklären. Als Mediziner beantwortet
Jürgen Brater Fragen, die sich insgeheim
wohl viele stellen, aus Scham und mangels Expertise jedoch selten weiter verfolgen: Warum knattern Fürze? Ist Küssen gesund? Warum finden wir ausgespuckten Speichel eklig? Wissenschaftlich auf neuestem Stand und ohne Tabu.
Dieses Körperbuch fällt aus der Reihe.
Sabine Sütterlin
Martin Schäuble: Black Box Dschihad.
Daniel und Sa’ed auf ihrem Weg ins
Paradies. Hanser, München 2011.
224 Seiten, Fr. 22.90 (ab 12 Jahren).
Was lässt hoffnungsvolle junge Menschen zu fanatischen «Gotteskriegern»
werden? Wenn es nach der Lektüre dieses Buches eine Antwort darauf gibt,
dann die: Kein Fall ist wie der andere.
Der Politologe Martin Schäuble schildert die Lebensläufe zweier DschihadKämpfer, die bis auf das Geburtsjahr
1985 kaum etwas gemeinsam haben. Der
Deutsche Daniel ist wohlbehütet aufgewachsen. Er hatte ein eigenes Zimmer
und einen Raum voller Spielsachen.
2007 nahm ihn die deutsche Polizei fest,
als er Autobomben baute. Sa’ed aus Nablus im Westjordanland hingegen teilte
sich den Schlafraum mit seinen Eltern
und acht Geschwistern, und brach die
Schule ab, um Geld zu verdienen. Als
Siebzehnjähriger jagte er sich in Ostjerusalem mit einem Sprengstoffgürtel
in die Luft und riss dabei sieben weitere
Menschen in den Tod.
Schäuble hat sowohl im Saarland als
auch in den Palästinensergebieten sorgfältig recherchiert. Er hat mit Eltern,
Verwandten und anderen Wegbegleitern gesprochen, soweit sie dazu bereit
waren, hat Videos, Fotos und andere
Quellen ausgewertet, um den Tathergang zu erhellen: Daniel suchte seit der
Scheidung seiner Eltern, die er als Elfjähriger miterlebte, in wechselnden Systemen Orientierung, von Hip-Hop-Kultur bis Islam. Sa’ed hingegen spielte
schon als kleiner Junge mit Holzgewehren «Israeli gegen Palästinenser»; ein
Freund von ihm wurde, nachdem ihn israelische Soldaten unter mysteriösen
Umständen erschossen hatten, zum
«heldenhaften Märtyrer». Gemeinsam
ist Daniel und Sa’ed, dass sie jeweils von
einem wortgewandten Verführer als
Gotteskrieger angeworben wurden.
Das Buch wirft mehr Fragen auf,
als es beantwortet. Warum
wählen meist Männer diesen
radikalen Weg? Welche
Werte vermittelt die
Wohlstandsgesellschaft
jungen Menschen? Der
Autor verbietet sich
platte Urteile. So
sachlich der Ton, so
spannend liest sich
seine
aufklärerische
Reportage. Gelegentliche stilistische Ausrutscher und Druckfehler hätten noch korrigiert werden können. ●
NIELS FLIEGNER
Von Sabine Sütterlin
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Am 2. Juli jährt sich Ernest Hemingways Tod zum 50. Mal. Lange galt der
Nobelpreisträger als exemplarischer Autor des 20. Jahrhunderts. Derzeit
wird er als Macho jedoch eher kritisch betrachtet. Der Schweizer Autor
Peter Stamm liebt ihn trotzdem. Interview: Manfred Papst
«Hemingway war
genial sorgfältig»
Bücher am Sonntag: Herr Stamm, wann sind Sie
dem Werk Hemingways erstmals begegnet?
Peter Stamm: Ich bin als sehr junger Mensch
vor bald dreissig Jahren zum leidenschaftlichen
Hemingway-Leser geworden. Es fing damit an,
dass unser Englischlehrer in der Berufsschule
mit uns die Kurzgeschichte «Indian Camp» las.
Damals, mit 17 Jahren, verschlang ich von den
Autoren, die ich neu entdeckte, alles, was ich
finden konnte. Von Hemingway aus kam ich auf
die ganze literarische Szene im Paris der zwanziger Jahre. Auf Joyce, Pound, Fitzgerald, den
Zirkel um die Buchhandlung «Shakespeare &
Company» von Sylvia Beach. Um Gertrude
Stein habe ich allerdings einen Bogen gemacht.
Versuchten Sie sich damals auch schon selbst als
Schriftsteller? Und haben Sie Hemingway dabei
nachgeeifert?
In der Tat: Ich schrieb meine ersten Geschichten als Schüler. Und zweifellos hat Hemingway
mich dabei beeinflusst. Jedenfalls behaupte ich
das selber immer. Es erstaunt mich ein bisschen, dass Rezensenten diese Verbindung kaum
je bemerken oder erwähnen. Vielleicht kennen
die Hemingway einfach nicht mehr. Wenn sie
von Einflüssen auf mich sprechen, nennen sie
eher Carver. Der ist aber meiner Meinung nach
selbst ein Hemingway-Schüler. Ihn habe ich übrigens erst viel später gelesen.
Welche Werke haben Sie besonders fasziniert?
GABY GERSTER
Peter Stamm
Peter Stamm hat in seiner Jugend alles von
Hemingway gelesen. Er lebt als Schriftsteller in
Winterthur. Zuletzt erschienen von ihm bei
S. Fischer der Roman «Sieben Jahre» (2009)
und der Erzählungsband «Seerücken» (2011).
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
Mir ging es immer um die Short Stories. In diesem Genre ist Hemingway ein Meister. Eine
meiner frühen Erzählungen nimmt direkt
Bezug auf ihn. Sogar der Held heisst Nick! Der
Text erschien unter dem Titel «Feuer» vor über
zwanzig Jahren im «Beobachter». Es war auch
so eine Geschichte um Kinder im Wald. Statt in
Chicago spielte sie halt im Thurgau.
Was fiel Ihnen an Hemingway als Erstes auf?
Die ungeheure Lebendigkeit. Wenn man ihn
liest, vergisst man augenblicklich, dass man nur
dasitzt mit einem Buch in der Hand. Man bewegt sich in einer anderen Welt. Auch wo Hemingway scheinbar bloss kleine Szenen beschreibt, einen Ausflug, das Entfachen eines
Feuers, eine zufällige Begegnung zwischen
Fremden, wirkt er unglaublich intensiv.
Sie haben Ihre frühen Leseerfahrungen erwähnt.
Wie sieht es heute aus?
Ich muss Hemingway nicht mehr lesen, aber er
ist immer noch da. Punktuell komme ich auf ihn
zurück. Ich habe manche seiner Texte in
Schreibseminarien verwendet und dabei gemerkt, wie gut sie gebaut sind. Sie sind keineswegs einfach in den Tag hinein erzählt! Hemingway ist ein Genie der Intuition, aber auch
genial sorgfältig.
Weshalb gilt er heute weitherum als passé?
Das hat wesentlich mit ausserliterarischen Kriterien zu tun. Er gilt als Macho, als Frauenheld,
als Raufbold und Kampftrinker. Dass er sich für
Stierkämpfe und Boxen begeisterte, dass er auf
Hochseefischfang und Grosswildjagd ging,
macht ihn heute verdächtig. Aber diese Einwände darf man nicht allzu ernst nehmen.
Eine gewagte Position! Können Sie präzisieren?
Zum einen treffen die Vorwürfe nicht den ganzen Menschen. Hemingway war auch ein sensibler Intellektueller. Einer, der viel las, in Museen ging, sorgsam recherchierte. Zum andern
war sein Auftritt als grosser starker Mann auch
eine Inszenierung. Man muss hinter die Maske
sehen. Und man muss differenzieren zwischen
dem Autor und seinen Figuren.
Wie meinen Sie das?
Hemingways Helden sind ja gerade keine Machos. Sie sind oft impotent, feige, ratlos,
schwächlich. Manche Facetten ihres Verhaltens
kann man dabei aus der Herkunft ihres Schöpfers erklären. Hemingways Mutter verhätschelte ihren Sohn und zog ihm Mädchenkleider an,
sein Vater brachte sich um. Ein weites Feld für
Psychologen, das mich aber nicht interessiert.
War Hemingway ein Selbstdarsteller?
Es ist schwer zu sagen, was bei ihm Inszenierung war und was echt. Auch an der Pose muss
ihm etwas gelegen haben. Er hat ein bestimmtes
Bild von sich in die Welt gesetzt. Er hat sich
geschildert als einen ungeheuer lebenshungrigen Mann, der liebt und sich prügelt, jagt und
fischt, der sich nie schont und im Zweiten Welt-
«Wenn man Hemingway
liest, vergisst man, dass man
nur dasitzt mit einem Buch
in der Hand. Man bewegt
sich in einer anderen Welt.»
krieg in Paris das «Ritz» von den Deutschen
zurückerobert. Er konnte ein Prahlhans sein.
Doch wenn man seine Erzählungen liest, entdeckt man auch einen anderen Hemingway:
einen sensiblen, verletzlichen Menschen.
Was kann ein skeptischer, lakonischer Autor wie
Sie heute von Hemingway lernen?
Vor allem eines: Genauigkeit. Im literarischen
Schreiben ist freilich nicht alles vermittelbar.
Es gibt keine Ausbildung zum Genie. Aber
manches lässt sich doch von Hemingway lernen: der schnelle, exakte Blick. Der untrügliche
Umgang mit Nebenfiguren und Details. Die raschen Dialoge, die so natürlich wirken, obwohl
sie im höchsten Masse künstlich sind. Die Ökonomie der Sprache. Die Einfachheit. In seinem
Werk war Hemingway kein Blender.
Wie steht es um seine Erfindungskraft?
Hemingways Kreativität ist seine Neugier. Er
findet Geschichten an Orten, wo sie sonst niemand entdeckt. Jemand fährt Ski und trinkt ein
Bier. Eine Frau im Hotel sehnt sich nach einer
Katze. Zwei Kellner unterhalten sich. Das genügt ihm. Hemingways Geschichten leben von
ganz kleinen Begebenheiten. Die besten von
ihnen sind bis heute unerreicht.
ROBERT CAPA / INTERNATIONAL CENTER OF PHOTOGRAPHY / MAGNUM
Auf der Jagd im Sun Valley, Idaho, 1940: Ernest Hemingway hält einen Hasen hoch, den er gerade erlegt hat.
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Interview
natürlich auch, dass sein Erfolg nachliess. Er
wollte und konnte nicht mehr.
JOHN BRYSON / SYGMA / CORBIS
Denken Sie, dass seine grosse Zeit vorüber ist?
Nein. Die Rezeption von Riesen wie ihm bewegt sich seit jeher in Wellen. Denken Sie an
Tschechow. Der war ja wohl doch eines von Hemingways Vorbildern. Auch wenn es keine konkreten Hinweise darauf gibt, dass er ihn gelesen
hat. Vielleicht hat er auch die Spuren verwischt.
Seine Belesenheit ist nicht zu unterschätzen.
Vergnügte Tage: Ernest Hemingway mit seiner vierten Frau, Mary Welsh, im Jahr 1959.
Hemingways Romane scheinen Sie weniger zu
mögen.
Sie sind in der Tat viel schwächer als die Erzählungen. Aber auch in ihnen gibt es immer wieder wunderbare Passagen. Das Problem ist,
dass die Konstruktion oft nicht trägt. Hemingway beugte sich wohl wie so viele andere dem
Gesetz, dass man Romane schreiben muss, um
ernst genommen zu werden. Dabei war er in
seinen Kurzgeschichten viel besser als in «Wem
die Stunde schlägt» oder «In einem anderen
Land». «Der alte Mann und das Meer» ist eher
eine Novelle als ein Roman. Die Geschichte
wurde als Buch und Film ein Welterfolg – aber
sie ist von einem Pathos geprägt, das Hemingways früheren Werken eher fremd ist.
Hemingway wurde in jüngerer Zeit vor allem von
weiblicher Seite als Macho kritisiert, der sich für
alles begeisterte, das grausam und unnötig war.
Man soll Autoren grundsätzlich nicht moralisch beurteilen. Klar, es ist schön, wenn ein
Genie auch ein netter Mensch ist. Aber letztlich
hat das mit den Büchern nichts zu tun. Man
macht es sich auch zu einfach, wenn man Hemingway als frauenfeindlich abstempelt. Er hat
sich sehr differenziert über das Verhältnis der
Geschlechter geäussert. Wer ihn aufmerksam
liest, stellt fest, dass bei ihm die Frauen oft souveräner agieren als die Männer.
Zum Mythos Hemingway gehört auch sein
Selbstmord vor nunmehr fünfzig Jahren. Hat er
Sie beschäftigt, vielleicht gar fasziniert?
Nicht im geringsten. Ich habe nie mit dem
Selbstmord geschäkert. Für mich ist Hemingways Suizid auch kein klassischer, programmatischer, als Botschaft an die Welt gedachter Bilanz-Selbstmord wie der von Cesare Pavese.
Hemingway war schwer krank. Er hatte keine
Energie mehr. Er war abgelebt. Und er merkte
Ernest Hemingway
Ernest Hemingway wurde am 21. 7. 1899 in Oak
Park, Illinois, geboren und starb am 2. 7. 1961 in
Ketchum, Idaho. Er war Reporter, Kriegberichterstatter, Erzähler, Abenteurer und Grosswildjäger. Von 1921 an lebte er einige Jahre als
Korrespondent des «Toronto Star» in Paris. Der
literarische Durchbruch gelang ihm mit «Fiesta»
(1927). Von 1939 bis 1960 lebte er in Havanna.
Er war viermal verheiratet und hatte fünf Kinder.
1954 erhielt er für «Der alte Mann und das
Meer» den Nobelpreis. Auf Deutsch sind seine
Werke bei Rowohlt lieferbar; dort erscheint am
2. 7. eine erweiterte Neuübersetzung von «Paris,
ein Fest fürs Leben» (320 S., Fr. 30.50).
HANSRUEDI GEHRING
TERMITEN AN BORD
Aus dem Logbuch eines schiffsArztes
KRIMINAlROMAN
Was übernehmen Sie von Hemingway?
Die Aufmerksamkeit, die Gespanntheit. Er ist
viel gereist. Die Realität war sein Thema. Und
auch sein Credo. Er hat vermutlich keinen Ort
beschrieben, an dem er nicht einmal war. Wenn
man die Wirklichkeit in der Sprache entstehen
lassen will, dann muss man sie auch kennen.
Hemingway arbeitet auch dort genau, wo es
keiner merkt. Das ist für mich entscheidend.
Und wo ist sein Platz in der modernen Literatur?
Für die Kurzgeschichte war Hemingway wirklich ein Pionier. Lassen wir Avantgardisten wie
Kleist einmal beiseite. Es gab ja auch dieses gemütliche Erzählen des 19. Jahrhunderts. Nichts
dagegen! Aber mit diesem Stil hat Hemingway
radikal gebrochen. Er hat den Mut, Geschichten
scheinbar zufällig beginnen und enden zu lassen. Gleichwohl sind sie höchst strukturiert.
Sein Stil liegt in einer Einfachheit, die dennoch
eine Kunstsprache ist. Er arbeitet virtuos mit
Wiederholungen. Weil er scheinbar so einfach
schreibt, ist er auch so schwer zu übersetzen.
Welchen Zugang empfehlen Sie Neulingen heute?
Die Erzählungen. Und da kann man buchstäblich jede nehmen. Man kann sie immer wieder
lesen. So wie man ein Musikstück oftmals hört.
Welche praktischen Maximen haben Sie von Hemingway übernommen?
Einige. Zum Beispiel die Beschränkung auf
rund 600 Wörter pro Tag. Sodann das Streichen
des jeweils ersten und letzten Satzes in einem
Text. Man muss das nicht wirklich tun, aber
man sollte erste und letzte Sätze genau prüfen.
Und vor allem die frische Luft. Hemingways
Bücher spielen fast immer draussen.
Wie wirkt Hemingway in der Gegenwart fort?
Er hat eine ganze Generation von Autorinnen
und Autoren geprägt, in Amerika wie in Europa.
Aber Verwandtschaft heisst nicht Nachahmung. Wenn ich von mir sprechen soll: Dürrenmatt war enorm wichtig für mich, aber ich
schreibe gar nicht wie er. Da wirkt Hemingway
vermutlich stärker in mir nach, vielleicht auch
in Bereichen, die mir gar nicht bewusst sind. l
Bernhard Falk beginnt im Hafen von Bombay eine eindrückliche Reise
nach Sinn und Ziel seines Lebens. Er gerät in die Wirren rätselhafter
Todesfälle, in denen er gleichzeitig ermittelt und zum Verdächtigen
wird. Dabei ist die Liebesbeziehung zur Assistentin eines skurrilen Termitenforschers zunächst alles andere als hilfreich.
Hansruedi Gehring erzählt in seinem neuen Buch eine Kriminalgeschichte mit unerwarteten Wendungen vor dem Hintergrund feiner,
menschlicher und sympathischer Unzulänglichkeiten.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MbA0tgAAaBLoDw8AAAA=</wm>
<wm>10CFWMuw7DMAwDv0gGZb2iagyyBRmC7F6Kzv3_qU63DAR5wIH7Xtbwz7od13YWA2rEipSlLK318OLsLcwLjuhgfjGLaITrwydwukDG7RCcEGMOYdIYiWXC_TBLptG-788PW8SJgYAAAAA=</wm>
Hansruedi Gehring
Termiten an Bord
ISBN 978-3-905910-06-3
240 Seiten. CHF 38
Wolfbach Verlag Zürich
w
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
„Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen. Einfach nur als
Kriminalfall mit einem überraschenden Finale oder als Initiationsgeschichte eines Indienfahrers, der nach allen Ashrams und Gurus den
Meister in sich selber findet.“
Erhard Taverna / Schweizerische Ärztezeitung
Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Charles Lewinsky ist
Schriftsteller und
arbeitet in den
verschiedensten
Sparten. Sein neuer
Roman «Gerron»
erscheint Ende
August bei
Nagel & Kimche.
Den Wert eines
Menschen erkennt
man zuverlässig
daran, was er
mit seiner Freizeit anfängt.
Kurzkritiken Sachbuch
Elisabeth Kaestli: Aisha, Mussa, Zawadi...
Lebensgeschichten aus Tansania. Limmat,
Zürich 2011. 206 Seiten, Fr. 34.50.
Martin Sinzig: Louis Chevrolet. Der Mann,
der dem Chevy seinen Namen gab. Huber,
Frauenfeld 2011. 192 Seiten, Fr. 39.90.
Die Bieler Journalistin Elisabeth Kaestli,
die früher für Zeitungen und das Radio
arbeitete, lebte von 2006 bis 2010 in Dodoma, der Hauptstadt von Tansania. Ihr
Mann hatte im Rahmen eines Deza-Projekts eine Stelle in der Entwicklungshilfe gefunden. Das Büchlein porträtiert
13 Einheimische: von der 38jährigen
Universitätsassistentin Zawadi, die an
Dämonen glaubt, über die eingewanderte Chinesin Alan, die ein Restaurant
führt, bis zum 77jährigen Ladenbesitzer
Fatehally, der in der Bar seiner Tochter
aushilft. Die Menschen erzählen von
ihrer Herkunft, vom Alltag, von der
Kunst, auch unter widrigen Umständen
ein fröhliches Leben zu führen. Ein reich
bebildertes farbiges Buch voller Zuversicht, mit viel lachenden (und ein paar
ernsten) Menschen. Die Frage, warum
das ostafrikanische Land trotz jahrzehntelanger westlicher Hilfe kaum vom
Fleck kommt, wird leider nicht gestellt.
Urs Rauber
Der Chevrolet ist der Inbegriff des AmiSchlittens, ein Symbol für Freiheit und
Wohlstand. Wenig bekannt ist, dass dieses die amerikanische Lebensart verkörpernde Automobil von einem Schweizer
entwickelt worden ist: vom Jurassier
Louis Chevrolet. Der Journalist Martin
Sinzig hat eine reich bebilderte Biografie über den Erfinder geschrieben, der in
Bonfol im Kanton Jura heimatberechtigt
war. 1900 emigrierte dieser nach Amerika, wo er als Wagenkonstrukteur und
tollkühner Rennfahrer Furore machte.
Vor genau 100 Jahren legte er den Grundstein für die «Chevrolet Motor Car
Company», die er aber schon bald wieder – zusammen mit seinem Namen –
verkaufte. Louis liebte das Risiko, den
Rausch der Geschwindigkeit und schöne
Frauen. Sinzig hat mit seinem Buch nicht
nur eine spannende Biografie, sondern
auch ein Stück Automobil- und Auswanderergeschichte vorgelegt.
Geneviève Lüscher
Julia Onken: Rabentöchter. Warum ich
meine Mutter trotzdem liebe. C. H. Beck,
München 2011. 180 Seiten, Fr. 20.50.
Hans Ruh: Ordnung von unten.
Die Demokratie neu erfinden. Versus,
Zürich 2011. 208 Seiten, Fr. 34.Ω.
«So wie sie nie!» Die meisten Töchter
wollen nur eines nicht: werden wie ihre
Mutter. Weshalb ist das so? Julia Onken,
die Psychologin kraftvoller Weiblichkeit, war selbst eine solche Tochter. Bei
der eigenen Mutter beginnt sie denn
auch ihre Erkundungen dieser Abgrenzung, hinter der sich ein Teufelskreis
von Schuldgefühlen und verdrängten
Emotionen verbirgt. Und stösst auf eine
Lebensgeschichte der Kränkungen und
der Scham, wie sie in vorhergehenden
Generationen gang und gäbe war. Nur
über die Biografie der Mutter, über
das Verständnis für mütterliche Demütigungserfahrungen, können Töchter zu
einer befreiten Beziehung zur Mutter
finden und damit zu sich selbst. Onken
neigt zu Verallgemeinerung, ihre feministische Opfersicht mag etwas gar einseitig anmuten. Doch ihr Buch regt ungemein an zum Nachdenken über Mütter und Töchter, eigene und fremde.
Kathrin Meier-Rust
Die Weltwirtschaft eilt von Krise zu
Krise. Der Sozialethiker Hans Ruh hat
sich auf die Suche nach den Ursachen
für diese «Krisenlatenz» gemacht. Für
ihn steht der Verlust an Werteorientierung im Vordergrund. Der Theologe
skizziert eine neue «Ordnung von
unten», die anstelle der heute dominanten «anarchischen Grundstruktur der
Weltwirtschaft» treten könnte. Dafür
aber müssten die Handlungsschwerpunkte zurück in die Hände einer demokratisch verfassten Zivilgesellschaft gelegt werden. Ruh zeigt mit einer Reihe
von ausformulierten Ideen auf, wie sich
das wirtschaftliche Verhalten der Akteure wieder an eine übergeordnete
Werteordnung ankoppeln liesse. Die
konkreten Handlungsanleitungen legen
offen, wie jeder Einzelne von uns die Zukunft gestalten und damit die Grundlagen einer lebenswerten und überlebensfähigen Gesellschaft legen könnte.
David Strohm
Karl Heinrich Waggerl
Ich kann nur hoffen, dass sich Karl
Heinrich Waggerl irrt. Denn wenn ich
mal viel Freizeit habe, wunderbar unverplante Stunden, wie sie jetzt der
Sommerurlaub wieder verspricht, dann
lese ich mit viel Vergnügen schlechte
Bücher. Obwohl sie oft in einem Stil geschrieben sind, der jeden sprachbewussten Deutschlehrer in Tränen ausbrechen lässt.
Ja, ich gestehe es: Wenn meine Agenda so richtig schön sommerlich leer ist,
dann besorge ich mir schon mal ein
paar von den Werken, die von anspruchsvollen Lesern der «Bücher am
Sonntag» mit Verachtung gestraft werden. Geschrieben von Autoren, deren
Namen ein anständiger Literaturkritiker noch nicht einmal buchstabieren
kann. Romane, von denen sich die anderen Bände in meinem Regal mit
Schaudern wenden würden.
Bloss: Ich will sie ja gar nicht ins
Regal stellen. Ich lese sie einmal, und
damit hat es sich. Dann werden sie verschenkt oder – oh, welche Todsünde
für jeden Bibliothekar! – einfach weggeschmissen. Es sind, um es so direkt
zu formulieren, leserische One-NightStands.
Wobei das Wort «Night» ganz wörtlich zu verstehen ist. Manchmal sind
sie nämlich so spannend, dass ich die
Nachttischlampe auch morgens um
zwei oder drei noch nicht ausknipsen
kann.
Weil ich unbedingt wissen muss, ob
der wagemutige Detektiv es schafft, lebendig aus der Falle zu entrinnen, in
die ihn der dämonische Bösewicht gelockt hat. Auch wenn mir als geübtem
Leser natürlich völlig klar ist, dass ihm
diese Flucht gelingen wird. Erstens geht
das Buch noch hundert Seiten weiter,
und zweitens sterben die Helden solcher Romane überhaupt nicht. Wie
sollte der Autor sonst eine Fortsetzung
liefern können?
Ja, ich gebe es zu und schäme mich
nicht einmal dafür: In freien Stunden
lese ich gern einmal Schund. Obwohl
meine Frau den Kopf schüttelt, wenn
sie die bunten Umschläge der Taschenbücher sieht. «Wie kannst du so etwas
lesen?», fragt sie dann wohl.
Weil auch ein Feinschmecker manchmal von der Lust auf fetttriefendes,
ungesundes Junk Food gepackt wird.
Das heisst nicht, dass man deshalb auf
die liebevoll zubereiteten Meistermenus verzichtet. Im Gegenteil: Sie
schmecken dann umso besser.
Aber, wie Fritz Kortner es einmal so
schön formulierte:
Man wird sich ja
auch mal unter
seinem Niveau
amüsieren dürfen.
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Rohstoffe Der britische Ökonom Paul Collier zeigt, wie die natürlichen
Ressourcen zur Wohlstandsmehrung genutzt werden könnten – ohne
die Umwelt zu schädigen
Nachhaltig
fördern
Paul Collier: Der hungrige Planet. Wie wir
Wohlstand mehren, ohne die Erde
auszuplündern. Siedler, München 2011.
270 Seiten, Fr. 35.90.
Von Katja Gentinetta
Ideologische Grenzen zu überwinden,
um die Welt von Armut zu befreien –
nichts weniger als das ist der Antrieb
von Paul Collier. Der britische Ökonom,
der gleich zu Beginn sein ganzes Forscherteam vorstellt und im Verlauf der
Kapitel immer wieder auf einzelne von
ihnen zurückkommt, legt ein umfangreiches Werk vor, das den Raubbau an natürlichen Ressourcen nicht nur anprangert, sondern auch äusserst plausible
Lösungswege aufzeigt.
In Colliers Buch steht die Natur im
Zentrum – ihre Ethik und unsere Missverständnisse, ihr Nutzen als Ressource
und als Fabrik –, allerdings nicht aus
biologischer Perspektive, sondern aus
wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und
politischer Warte. Abgehandelt werden
der Abbau und die Nutzung von Öl und
Kupfer, aber auch Lebensmittelpreise
und der CO2-Ausstoss. Angetrieben
wird das Buch von der Frage, wie es passieren konnte, dass der Rohstoffboom
der Jahre von 2005 bis 2008 jene Länder,
die davon profitiert haben, nicht reicher
gemacht hat – und der Überzeugung,
dass die Ausbeutung der natürlichen
Ressourcen dennoch die grösste Chance
für die ärmsten Länder ist.
Plausibel sind die Lösungsvorschläge
deshalb, weil sich Collier weder von
einer Ideologie noch von einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin leiten
lässt. Ganz im Gegenteil: Das Buch geht
mit allen hart ins Gericht: mit den
«frömmelnden Romantikern» unter den
Umweltschützern, die am liebsten zur
«prätechnologischen, präkommerziellen und präindustriellen» bäuerlichen
Lebensweise zurückkehrten, ebenso wie
mit den marktgläubigen «Ignoranten»,
den skrupellosen «Komplizen bei der
Plünderung unserer natürlichen Ressourcen»; mit den korrupten Politikern
in den Entwicklungs- und Schwellenlän18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
dern ebenso wie mit den populistischen
Eliten der Industrieländer.
Collier ist überzeugt, dass nur eine
Allianz von Umweltschützern und Ökonomen das Problem der Armut lösen
kann. Und geht damit gleich zur Sache:
Der Gegensatz zwischen Wirtschaftswachstum und Erhaltung der Natur ist
falsch gewählt. Vielmehr geht es um die
Frage, wie die Natur am besten genutzt
werden kann, um den Wohlstand der
Menschen nicht nur zu erhalten, sondern auch zu mehren. So ist denn auch
der grosse Teil des Buchs dem Phänomen der «Plünderung» gewidmet –
einem grausam klingenden Wort, aber
letztlich einfachen ökonomischen Prinzip: der Tatsache nämlich, dass Eigentumsrechte übertreten werden. Plünderung untergräbt die produktive Nutzung
von Rohstoffen.
Chinesen in Afrika
Akribisch zeichnet Collier nach, wie natürliche Rohstoffe, seien sie erneuerbar
oder nicht, gefördert und genutzt oder
eben auch einfach verbraucht werden
können. An zahlreichen Beispielen aus
den letzten Jahrzehnten legt er dar, was
es braucht, damit Rohstoffe so gefördert
werden, dass sie dem Land zugute kommen – und welche Fehler dabei begangen werden können, wenn das politische
System nicht stimmt: Man denke etwa
an das abgeholzte Haiti und die benachbarte Dominikanische Republik,
die noch heute von den Wäldern zehren
kann.
Collier zeigt auch, dass weder staatliche Förderfirmen noch rein private Unternehmen allein ein Garant für nachhaltige Förderung sind und dass Rohstoffsuche und Förderprozesse auseinanderdividiert werden müssen. Die Besteuerung sollte sich nicht nach den
Preisschwankungen richten, und die Erlöse sollten richtig investiert werden. In
diesem Kontext stellt Collier selbst die
Chinesen in Afrika, die Förderrechte
gegen Infrastrukturbauten erworben
haben, nicht einfach an den Pranger –
sondern stellt lapidar fest, dass sich andere Länder daran ein Beispiel hätten
nehmen können, womit Auktionen hät-
ten durchgeführt werden können, mit
noch besseren Resultaten für alle.
Das Buch ist durchsetzt mit der äusserst plastischen Darstellung ökonomischer Gesetzmässigkeiten, die der Argumentation dienen, gleichzeitig aber den
angenehmen Nebeneffekt haben, Begriffe, die einem immer wieder begegnen,
besser zu verstehen. Ob er vom Trittbrettfahren, von Externalitäten oder
dem zentralen Prinzip der Konkurrenz
schreibt: immer ist Collier angenehm
pädagogisch und selbstkritisch zugleich
– indem er verständlich erläutert, aber
immer auch die Grenzen seines Fachs
aufzeigt und die angesprochenen Fragen
in den Kontext politologischer und
neuster naturwissenschaftlicher Erkenntnisse stellt.
Collier und sein Team sind sich bewusst, dass Erkenntnisse das eine sind,
deren Umsetzung das andere. Und sie
MAURILIO CHELI / AP
sind realistisch genug um zu wissen,
dass eine solche Herkulesarbeit weder
einfach an die betroffenen Nationalstaa­
ten delegiert noch auf internationale
Kooperation vertraut werden kann. Das
grosse Potenzial sieht Collier in der in­
ternationalen Vernetzung und zuneh­
menden Macht der Bürgerinnen und
Bürger – einer globalen Zivilgesellschaft
also, die sich die neuen Mittel der Kom­
munikationstechnologie zunutze macht.
Ein Anwendungsbeispiel ist die Char­
ta für natürliche Ressourcen: ein Pro­
jekt, das innerhalb des Internationalen
Währungsfonds (IWF) gescheitert war.
Erst als er und sein Team in unabhän­
giger Position sich darum bemühten,
waren die relevanten Akteure bereit,
sich einzubringen und miteinander um
den bestmöglichen Weg zu verhandeln.
In einer solchen Charta – als Beispiel –
sieht Collier den eigentlichen Hebel der
Zukunft: Bürger müssen ihre Regierun­
gen kontrollieren können, und das wie­
derum setzt voraus, dass sie angemes­
sen informiert sind – und sich informie­
ren wollen.
Die Natur gehört niemandem
Ein Fokus des Buchs liegt auf der «Ethik
der Natur», die sich daraus ergibt, dass
diese keine natürlichen Eigentümer hat,
weder geografisch noch generationell,
und dass daher spezifische Entscheide
zu treffen und Handlungen zu koordi­
nieren sind. Dennoch bleibt die Ethik in
diesem Band wenig greifbar. Und selbst
Collier räumt ein, dass eine Ethik ohne
Wissen fatal sein kann. Wo immer die
Ethik ein Schlüssel für eine bessere Zu­
kunft sein soll, besteht die Gefahr, dass
es bei Appellen bleibt. Die ökonomi­
schen Argumente, die Collier auf den
Eigentumsbegriff zurückführt und an
Ausbeutung der Natur
in Brasilien: Sojaernte
2009 in Campo Novo
do Parecis, Mato
Grosso.
zahlreichen Beispielen illustriert, in
denen politische Entscheide ebenso wie
das Handeln engagierter Bürger eine
entscheidende Rolle spielen, sind derart
überzeugend, dass es des Begriffs der
Ethik, die sich wie ein Guss über das
Buch legt, eigentlich gar nicht bedürfte.
Vielleicht aber – und das dürften Autor
wie Verlag wissen – erhöht es die Bereit­
schaft, das Buch zu lesen.
«Der hungrige Planet» erzählt, wie
der Rohstoffreichtum richtig genutzt
werden könnte. Das Buch, das letztlich
eine mögliche Zukunft erzählt, ist wert­
voll für alle, die verstehen wollen,
warum es einige Länder und Regionen
geschafft haben, die Armut zu reduzie­
ren, und andere nicht. l
Katja Gentinetta ist Lehrbeauftragte der
Hochschule St. Gallen und
Gesprächsleiterin «Sternstunde
Philosophie» am Schweizer Fernsehen.
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Italien Ein Land mutiert zur Unterhaltungsdemokratie
Paul Ginsborg: Italien retten. Wagenbach,
Berlin 2011. 142 Seiten, Fr. 17.50.
Birgit Schönau: Circus Italia. Aus dem
Innern der Unterhaltungsdemokratie.
Berlin Verlag, Berlin 2011. 224 Seiten,
Fr. 28.90.
Von Janika Gelinek
Gegenwärtige Diskussionen über Italien
kranken häufig daran, dass Berlusconi
wie vom Himmel gefallen zu sein
scheint: ein grosser Zampano, der mit
Bauernschläue und Geschäftssinn, genussvollem Dolce vita und dem ganovenhaften Laissez-faire die Italiener wie
verhext hat. Dass das Phänomen Berlusconi allein aber nicht die tiefe Krise erklärt, in dem sich die Demokratie des
einstigen Bel Paese befindet, zeigen
zwei Bücher, die das breite Spektrum
andeuten, in dem mittlerweile über Italien verhandelt wird.
Der in Florenz lehrende Historiker
Paul Ginsborg nimmt das 150-Jahr-Jubiläum des 1861 gegründeten Nationalstaats Italien zum Anlass, Rückschau zu
halten. In seinem Essay «Italien retten»
zieht er Parallelen zur politisch bewegten Zeit zwischen 1815 und 1870 und der
Gegenwart. Er erinnert an den einst
wie heute empfundenen Niedergang des
Landes, das damals noch kein Staat war,
aber auch an die italienischen Tugenden
der Sanftmütigkeit, Fähigkeit zur Selbstverwaltung und Offenheit gegenüber
Europa, die den Individualinteressen
der jetzigen Regierung zum Opfer gefallen zu sein scheinen.
Bewusst polemisch stellt er die Frage,
ob es sich angesichts des gegenwärtigen
politischen und moralischen Verfalls
überhaupt lohne, Italien zu retten. Damit
bezieht er sich implizit auf die heftige
inneritalienische Debatte, in der die
Lega Nord immer lauter die Berechtigung des Nationalstaates in Zweifel
zieht. Auch Ginsborgs Versuch, «die
Stimmen des Risorgimento – als wären
sie uns gegenwärtig – mit den unseren
zu mischen» ist anspruchsvoll, weil die
mannigfaltigen Zitate von Carlo Cattaneo bis Vincenzo Gioberti eine umfassende Kenntnis der historischen Protagonisten und ihrer Zeit voraussetzen.
Sein Panorama umfasst auf nur 127 Seiten Reflexionen über den Unterschied
von Nationalismus und Patriotismus,
den Zusammenhang von «dolcezza»
und Christentum, den Einfluss der Romantik auf das Risorgimento; am hellsichtigsten und schärfsten wird er, wenn
er auf Basis dieser Überlegungen konkret die Grundübel der italienischen Gegenwart analysiert: die viel zu starke
Kirche in einem schwachen Staat, der
sich, als einziger in Europa, nie säkularisiert hat; der Klientelismus, die Wiederkehr der Diktatur als Regierungsform
und die Ideenarmut der Linken.
An diesen demokratischen Schwachstellen setzt auch Birgit Schönau an,
langjährige Korrespondentin der «Zeit»,
die das einstige Sehnsuchtsland Arkadien konsequent als Berlusconien bezeichnet. In ihrem Buch «Circus Italia»
beschreibt sie, wie aus dem geliebten
Urlaubsziel der Prototyp der «Unterhaltungsdemokratie» geworden ist, die sich
durchaus auch in anderen europäischen
Staaten durchsetzen könnte.
In zwölf Reportagen vom rassistischen Bürgermeister in Verona bis zum
ANDREW MEDICHINI / AP
Wie aus dem Bel Paese
Berlusconien wurde
Silvio Berlusconi,
wie üblich umringt
von Frauen, an einer
Pressekonferenz in
Rom, 13. Juni 2011.
gigantischen Brückenprojekt in Messina
erzählt Schönau von den Akteuren und
Schauplätzen, die keinen Eingang in die
Berichterstattung über Berlusconis Eskapaden erhalten. Und doch finden sich
hier, wie im brillanten Kapitel über den
Fernsehsender RAI und die Millionensendung «Porta a Porta», Erklärungen
dafür, wie «Kirche und Parlament in
der italienischen Postdemokratie durch
einen Fernsehsalon ersetzt werden
konnten», in dem täglich die Liturgie
«ich quatsche, also bin ich» zelebriert
wird. Wer Schönaus Reportagen in der
«Zeit» verfolgt hat, wird wenig Neues
finden, doch zeigt sie, wie eine Politik
funktioniert, die den Unterhaltungswert
über die öffentliche Sache stellt und
deren einzige Ideologie die Durchsetzung von Eigeninteressen ist. ●
Religion Der Schweizer Theologe, Forscher und Publizist Al Imfeld wagt eine Gesamtschau
Gemeinschaft ist in Afrika wichtiger als Gott
Al Imfeld: Afrika als Weltreligion.
Zwischen Vereinnahmung und
Idealisierung. Stämpfli, Bern 2011.
188 Seiten, Fr. 39.Ω.
Von David Signer
Al Imfeld ist eine schillernde Figur: Aufgewachsen als Bauernbub, in Immensee
zum Priester geweiht, Student der Soziologie und Tropenagronomie in den
USA, Missionar in Zimbabwe, Entwicklungsexperte, Journalist und Autor von
rund fünfzig Büchern, vor allem über
Afrika. Nun hat der 76-Jährige ein Buch
publiziert, das als Quintessenz seines
Forscherlebens gelten kann.
Wenige Autoren versuchen, die vielfältigen Glaubensformen in Afrika als
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
Ganzes ins Auge zu nehmen. Imfeld
wagt es, ja er schliesst auch noch die
Mischreligionen wie Candomblé in Brasilien, Santeria in Kuba, Voodoo in Haiti,
die «schwarzen» Pfingstkirchen in den
USA und den «afrikanisierten» Islam
mit ein. Gerade im Hybriden und im
Verbinden erkennt er das Typische der
afrikanischen Religion, die solcherart,
mehr als Christentum und Islam, wirklich zur Weltreligion wurde und wird.
Imfelds Buch ist wohltuend unakademisch, es lebt von seinen Erfahrungen
und den immer wieder überraschenden
Bezügen, die er zu Literatur, Kunst oder
auch Landwirtschaft herstellt.
Vieles, was für uns das Wesen der Religion ausmacht, fehlt in Afrika oder ist
zweitrangig: Gottes- und Jenseitsglaube,
heilige Bücher, Priester, Theologie, Ge-
bet, Gotteshaus, absolute Wahrheit. Oft
wurde den «heidnischen» Afrikanern
deshalb Religion per se abgesprochen.
Imfeld hingegen versteht es, das Spirituelle sichtbar zu machen: In der Musik,
den Masken, der Trance, den Auffassungen über das Soziale, im traditionellen
Verhältnis zu Natur und Fruchtbarkeit.
Der afrikanische Glauben ist keine
Metaphysik, ist nicht abgelöst vom alltäglichen Leben. «Es geht nicht um
Gottheiten», sagt Imfeld, «sondern um
Gemeinschaften.» Dabei blendet er die
negativen Seiten dieses Kollektivismus
nicht aus: Konformismus, Enge, Neid.
Aber letztlich ist es die Suche nach Vitalität, Intensität und Werden, so typisch
für afrikanische Religiosität, die es Imfeld angetan hat, und die ihn selbst als
Wahlafrikaner ausweist. ●
Biografie Der in Deutschland lehrende Philosoph José Sánchez de Murillo zeigt,
wie die Schriftstellerin Luise Rinser ihre Erinnerungen romanhaft zurechtgebogen hat
Kartengrüsse vom Führer
Der Biograf weist nach, wie Rinsers
Verhaftung im Oktober 1944 aufgrund
einer Denunziation wegen Wehrkraftzersetzung und abträglicher Äusserungen über den Führer erfolgt war. Doch
sei sie nach wenigen Monaten freigelassen worden. «Dass Adolf Hitler Luise
Rinser persönlich kannte und schätzte,
steht ausser Zweifel.» Der Führer hatte
ihr jedenfalls Kartengrüsse zum Geburtstag geschickt. Dass Rinser in ihrer
Autobiografie «die Legende von der
zierlichen und zugleich starken Frau, die
sich dem Drang der Männerwelt nach
Macht, Krieg und Herrschaft mutig entgegenstellt», erzähle, sei eine Fälschung.
José Sánchez de Murillo: Luise Rinser.
Ein Leben in Widersprüchen. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2011. 464 Seiten, Fr. 30.20.
Von Urs Rauber
Luise Rinser (1911−2002) zählt zu den
bedeutendsten Schriftstellerinnen der
deutschen Nachkriegsliteratur. Ihre Erzählungen und Romane wie «Die gläsernen Ringe», «Mirjam» oder «Abaelards
Liebe» wurden in 20 Sprachen übersetzt
und erreichten Millionenauflagen. Rinser galt als Integrationsfigur und moralische Instanz, war engagierte Friedensund Frauenbewegte und 1984 Kandidatin der Grünen für die Bundespräsidentenwahl. Zweifel am Bild der mutigen
Frau, die wegen ihrer Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie 1944 verhaftet worden war, hatte sie empört von
sich gewiesen – zuletzt in ihrer Autobiografie «Den Wolf umarmen» (1981).
In Wirklichkeit war Luise Rinser, wie
José Sánchez de Murillo in der soeben
erschienenen Biografie schreibt, «opportunistisch der Faszination des ‹braunen› Ungeists erlegen.» Der 1943 geborene Professor für Philosophie an den
Universitäten Augsburg und Granada
hatte die Autorin 1995 kennengelernt
und blieb ihr bis zu ihrem Tod im März
2002 freundschaftlich verbunden. «Über
ihre Vergangenheit im Dritten Reich
schwieg sie sich aber aus.»
Mit grossem Einfühlungsvermögen
und reichen Details schildert Murillo
die Geschichte des aufgeweckten Mädchens aus katholischem Haus, seiner
stürmischen Gefühlsverwirrungen und
der jungen Lehrerin, die zur «engagierten Nazi-Pädagogin» wurde. Dabei
stützt er sich neben Rinsers Werk auf
unbeachtete Frühschriften, Zeitungsartikel, Briefe, die ihm Rinsers Sohn Christoph zur Verfügung gestellt hatte, und
auf Gespräche mit ihrer Jugendfreundin.
Einfühlsam und respektvoll
Erlag dem Charme
von Diktatoren: Luise
Rinser, hier 1980 im
trauten Gespräch mit
Nordkoreas Diktator
Kim Il-sung (rechts).
Das Geheimnis von Luise Rinsers Erfolg
liegt in ihrer Zerrissenheit. Ehebruch,
Geburt eines unehelichen Sohnes, Konflikt zwischen Liebe zu Kindern und sexueller Abhängigkeit vom Liebhaber –
all diese Themen aus dem Roman «Mitte
des Lebens» (1950) entsprangen ihrem
eigenen Leben. Die Katholikin hatte
während ihrer drei Ehen zahlreiche Affären, verliebte sich in prominente Persönlichkeiten wie Ernst Jünger, Herman
Hesse, Carl Orff. Sie hungerte nach Anerkennung; die Kraft der Sehnsucht war
Antrieb ihres Lebens. Viele Leserinnen
und Leser sind fasziniert von der Echtheit der geschilderten Gefühle.
Besonders angezogen fühlte sich die
Rastlose vom Benediktinerabt Johannes
M. Hoeck, den sie in ihren Büchern
«M.A.» (Mein Abt) nennt – er reizte sie
als Mann und als literarisches Material.
Eine feurige Liebe ohne Sexualität ver-
band sie auch mit dem Jesuiten Karl
Rahner. Mit ihm und Hoeck pflegte sie
ein «klerikales Liebesdreieck». Während des 2. Vatikanischen Konzils waren
alle drei in Rom: Rahner als theologischer Berater, Hoeck als Abtprimas der
süddeutschen Benediktiner und Rinser
als Reporterin für Zeitungen. Sie genoss
das erotische Verlangen der beiden Kirchenmänner, die voneinander wussten
und unter der Eifersucht ebenso litten
wie unter der erzwungenen Askese.
Rahner und Rinser schrieben sich im
Laufe ihrer Freundschaft über 2000
Briefe, Karten und Telegramme. Rahners Briefe sind noch unter Verschluss.
Politische Zweifel weckte Jahre später schliesslich Luise Rinsers Reise nach
Nordkorea, wo sie 1980 von Kim Il-sung
empfangen wurde. Mit ihrem warmherzigen Porträt über den Diktator und seinen «Sozialismus mit menschlichem
Antlitz» bewies sie ein weiteres Mal,
wie leicht sie sich von politischen Führern und deren Ideologien zum Opfer
machen liess.
Als Murillo die 84-Jährige bat, an seinem Buch über «Das Weibliche» mitzuarbeiten, befreundeten sich die beiden.
Sie telefonierten sich täglich, er besuchte sie regelmässig bis zu ihrem Tod in
München. Dieses letzte Kapitel ist besonders anrührend, weil es zeigt, wie
sich Rinser allmählich von der Welt zurückzog, über die dunklen Punkte ihres
Lebens weiter schwieg und sich aufs
Sterben vorbereitete. Die einfühlsame,
respektvolle Biografie wird dem widersprüchlichen Wesen von Luise Rinser in
eindrücklicher Weise gerecht. ●
Luise Rinser war laut Murillo eine «Hitler-Verehrerin», ihre Distanzierung vom
Nazi-Staat erfolgte erst kurz vor Kriegsende. So hat sie etwa ihren jüdischen
Schulleiter bei der Obrigkeit denunziert, der danach entlassen wurde und
gebrochenen Herzens starb. Rinsers
Erstlingswerk «Die gläsernen Ringe»,
mit dem sie 1941 den literarischen
Durchbruch erzielte, könne durchaus
auch als «Blut-und-Boden-Literatur»
gelesen werden.
Dennoch bleibt Murillo in seiner über
400 Seiten langen Abhandlung stets fair,
differenziert und abwägend. Seine Biografie enthält sich jeder Polemik; spürbar bleibt im Gegenteil sein Respekt vor
dieser Schriftstellerin, die auch Weltliteratur geschrieben habe. Die Frage sei
nur, ob sie nicht Vergangenes vom gegenwärtigen Standpunkt aus umdeute.
ARCHIV S. FISCHER VERLAG
Verehrung für Hitler
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Nationalsozialismus Warum wurde Adolf Eichmann erst 15 Jahre nach dem Krieg verhaftet? Aufgrund
neuer Quellen ergänzt Bettina Stangneth Lücken in Eichmanns Biografie
«Mich reut gar nichts,
ich krieche nicht zu Kreuze!»
der 6 Millionen» widerlegen und den
Nationalsozialismus von der Judenvernichtung reinwaschen zu können. Eichmann, über dessen Identität alle Bescheid wussten, spielte eine zwiespältige Rolle: Mit seinen Kenntnissen war er
konkurrenzlos, doch machte er mit dem
Stolz auf seine «Arbeit» den anderen
einen Strich durch die Rechnung. In die
Rolle des vermeintlich harmlosen Bürokraten schlüpfte Eichmann erst in Jerusalem – dort bezeichnete er die SassenProtokolle als «Wirtshausgespräche»
unter Alkoholeinfluss.
Bettina Stangneth: Eichmann vor
Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines
Massenmörders. Arche, Zürich 2011.
655 Seiten, Fr. 53.90.
Von Sieglinde Geisel
Sassen-Protokolle von 1957
In ihren Recherchen hat die Autorin
sich die beträchtliche Mühe gemacht,
die auf drei Archive verteilten «Argentinien-Papiere» gründlich zu sichten und
auszuwerten, ebenso die über 1000 Seiten umfassenden Sassen-Protokolle und
die erhaltenen Tonbänder. In Argentinien, wo Eichmann 1950 unter dem Decknamen Ricardo Klement untergetaucht
war, litt er unter der erzwungenen Anonymität, und entsprechend gross war
sein Bedürfnis, über sich und seine
Taten Auskunft zu erteilen. Er tat es in
einem hochfahrenden Deutsch, voll von
Klischees und verunglückten Metaphern, dessen Duktus bereits verrät,
dass hier kein kleines Rädchen spricht,
sondern ein Herrenmensch und leidenschaftlicher Antisemit, der unbeirrbar
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
Deutschland lässt ihn laufen
AP
Die Person Adolf Eichmanns ist bis
heute mit Hannah Arendts Wendung
von der «Banalität des Bösen» verknüpft. In Jerusalem stilisierte er sich
als Angeklagter zur Ikone des klassischen Schreibtischtäters, «ein kleines
Rädchen im Vernichtungsgetriebe Adolf
Hitlers», der die Ermordung von Millionen organisierte, ohne dafür verantwortlich zu sein. Wenn das System
schuld ist, hat der Einzelne sich nichts
vorzuwerfen – ein Erklärungsmuster,
das im Nachkriegsdeutschland, wo sich
die NS-Eliten ungehindert neu etablieren konnten, höchst willkommen war.
Dieses Bild ist seit einigen Jahren als
Mythos entlarvt: Eichmann hat nicht
nur Befehle umgesetzt, sondern die Judenvernichtung mit grösstem Einsatz
und Erfindergeist vorangetrieben. Mit
ihrer akribischen Quellenstudie führt
die Philosophin Bettina Stangneth eine
Forschungsarbeit weiter, die mit Irmtrud Wojaks Essay «Eichmanns Memoiren» (2001) und der Eichmann-Biografie
von David Cesarani (2004) begonnen
hat. Mit dem Titel «Eichmann vor Jerusalem» spielt Stangneth dabei auf Hannah Arendts berühmten Prozessbericht
an, dessen Kernthese sie widerlegt. Die
Auseinandersetzung mit Arendt erfolgt
allerdings nur am Rand, denn die Kernfrage geht in eine andere Richtung: Wie
konnte ein NS-Verbrecher vom Range
eines Eichmann nach Kriegsende fünfzehn Jahre unbehelligt bleiben?
an seiner Ideologie festhält. «Mich reut
gar nichts! Ich krieche in keinster Weise
zu Kreuze!», sagt Eichmann in einer Art
Schlussrede bei den Sassen-Gesprächen.
Vorzuwerfen habe er sich einzig, dass
nicht alle 10,3 Millionen Juden getötet
worden seien: «Unsere Aufgabe für
unser Blut und unser Volk (…) hätten
wir erfüllt, hätten wir den schlauesten
Geist der heute lebenden menschlichen
Geister vernichtet.»
Anschaulich beschreibt Stangneth
das Milieu, in dem solche Worte fielen,
denn bei den Gesprächen, die der niederländische SS-Mann und Journalist
Willem Sassen ab 1957 in Argentinien
aufzeichnete und protokollierte, handelt
es sich nicht um Interviews, sondern um
Diskussionen in einem grösseren Kreis
geflüchteter Nazis.
Man las und analysierte alles, was
über die Endlösung geschrieben wurde
– in der grotesken Hoffnung, «die Lüge
Stolz auf seine
«Arbeit»: Adolf
Eichmann auf dem
Zenit seiner Macht
(undatierte Foto, ca.
1942/43).
Wichtiger noch als die Rekonstruktion
von Eichmanns Argentinien-Zeit sind
die Einzelheiten, die Bettina Stangneth
über die Umstände von Eichmanns verzögerter Verhaftung darlegt. Bereits 1952
wussten die deutschen Behörden, dass
Eichmann alias Ricardo Klement in Argentinien lebte und mit dem NS-Verleger Eberhard Fritsche verkehrte; seine
Frau und seine Kinder waren gar unter
dem Namen Eichmann in der deutschen
Botschaft in Buenos Aires gemeldet.
Ein Haftbefehl erging erst 1956, ohne
allerdings dass eine Verhaftung tatsächlich angestrebt wurde: Die InterpolFahndung, um die der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gebeten
hatte, wurde vom Bundeskriminalamt
abgelehnt. Bauer hatte allen Grund, sich
mit seinen Informationen über Eichmanns Aufenthaltsort nicht an die deutschen Behörden zu wenden, sondern an
Israel. Während der Mossad die Entführung vorbereitete, streute Bauer zur Ablenkung das Gerücht, Eichmann befinde
sich im Nahen Osten. Die Vorgänge in
Deutschland sind noch lange nicht aufgeklärt: Die Eichmann-Akten des BND
und des Verfassungsschutzes sind zu
einem grossen Teil bis heute noch unter
Verschluss.
Bettina Stangneths Recherchen sind
geprägt von einer scharfsinnigen Skepsis und einer beispielhaften Quellenkritik – doch gerade weil ihr Buch das Zeug
zu einem Grundlagenwerk hat, ist es bedauerlich, dass der Text offenbar kaum
lektoriert wurde. Abgesehen von einigen stilistischen Schwächen stört der
moralische Ton – dass Eichmanns Verlogenheit «unfassbar», dass seine Reden
«elend» und «Nazi-Getöse» überhaupt
«widerwärtig» ist, muss uns niemand
sagen. Bisweilen verliert man im Wust
der (oft entlegenen) Quellen den Überblick über die verwickelten Geschehnisse. Doch diese Schwächen betreffen nur
die Wirkung des Texts, nicht seine beeindruckende Substanz. ●
Psychiatrie Der Historiker Gregor Spuhler beschreibt das unglückliche Leben eines jüdischen
Flüchtlings in der Schweiz
Einfühlsame Stimme für das Opfer
Gregor Spuhler: Gerettet – Zerbrochen.
Das Leben des jüdischen Flüchtlings
Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung,
Psychiatrie und Wiedergutmachung.
Chronos, Zürich 2011. 200 Seiten, Fr. 34.–.
Von Urs Bitterli
Es ist keine schöne Geschichte, die uns
der Historiker Gregor Spuhler erzählt.
Sie handelt von Rolf Merzbacher, einem
jungen Mann deutsch-jüdischer Abstammung, dem es gelang, den Zweiten
Weltkrieg in der Schweiz zu überleben.
Die Eltern, ein angesehener Landarzt
und seine Frau, wurden im Oktober 1940
ins Auffanglager Gurs im äussersten
Südwesten Frankreichs deportiert und
dann quer durch Europa ins Konzentrationslager Lublin-Majdanek geschafft,
wo sie 1943 umgebracht wurden. Rolf
Merzbacher verstarb 1983 im Alter von
sechzig Jahren in der Psychiatrischen
Klinik Waldhaus in Masans bei Chur.
Was Spuhler vorlegt, ist keine Biografie im üblichen Sinne. Zwar ermöglichen
die Selbstzeugnisse und die Aussagen
von Zeitgenossen ein einigermassen
plastisches Bild der Kindheit und Jugend; im Jahre 1944 aber tritt Rolf Merzbacher in die psychiatrische Klinik
Münsterlingen ein, und er erscheint in
der Folge nicht mehr als Subjekt, sondern als ein «Fall», mit dem sich der
Vormund, die Ärzte, die Beamten und
Institutionen zu befassen haben.
Nachdem die Eltern 1937 für seine
Übersiedlung in die Schweiz gesorgt
hatten, besuchte Rolf die Schule in
Kreuzlingen und schloss mit guten
Noten ab. Dann arbeitete er in der Landwirtschaft und zeitweise auch in einem
Tessiner Flüchtlingslager, erwies sich
aber für harte körperliche Arbeit als ungeeignet. Psychische Probleme machten
sich bemerkbar und erforderten die Einweisung in die Klinik Münsterlingen.
Man diagnostizierte einen «schizophrenen Persönlichkeitszerfall» und hoffte
vergeblich, durch Elektroschocks Besserung herbeizuführen. Spuhler befasst
sich mit den Krankenakten des Patienten, und es gelingt ihm eine medizingeschichtlich interessante Darstellung
des Krankheitsverlaufs und der Beurteilung der Krankheit durch die Ärzte.
Den Schlussteil seiner Arbeit widmet
der Autor den komplizierten Fragen der
deutschen Wiedergutmachungszahlungen nach Kriegsende, sowohl was die
Rückerstattung der Vermögenswerte
der Familie, als auch, was die Kosten der
medizinischen Betreuung Merzbachers
anbetraf. Dabei stellte sich im Besonderen die Frage, ob dessen Leiden auf eine
erbliche Belastung oder aber auf das
Trauma der Verfolgung und der Trennung von den Eltern zurückzuführen
war. Die entsprechenden Abklärungen
waren umständlich und konnten erst
gegen Ende der sechziger Jahre abgeschlossen werden – zu diesem Zeitpunkt
hatten sich ungezählte Mitläufer des
Hitler-Regimes in der Nachkriegsgesellschaft längst komfortabel eingerichtet.
Gregor Spuhler hat die verstreuten
Quellen zum traurigen Leben Rolf Merzbachers sorgfältig gesammelt. Er interpretiert mit nüchterner Zurückhaltung,
hütet sich vor vorschnellem Urteil ebenso wie vor empathischer Überzeichnung. Zusammenfassend ergibt sich,
dass man dem Flüchtling in der Schweiz
im Allgemeinen freundlich und hilfsbereit begegnete, ohne ihm wirklich helfen
zu können. Dass der Kanton Thurgau
Merzbacher sechs Jahre nach Kriegsen-
de, als die Fakten der Judenverfolgung
im Wesentlichen bekannt waren, in den
Kanton Graubünden abschob, trübt dieses Bild.
Rolf Merzbacher war kein Akteur der
Geschichte, sondern ihr Opfer. Er gehört
zu einer riesigen Schar von Leidensgenossen, die verstummt sind und deren
Lebensspur sich verloren hat. Solchen
Opfern seine Stimme zu leihen, kann
auch eine wichtige Aufgabe für den Historiker sein. Spuhler hat diese Aufgabe
auf überzeugende Art gemeistert. ●
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Assisi Er sprach mit den Fischen und Vögeln
Der Heilige Franz von Assisi gilt heute als Patron des
Umweltschutzes – sprach er doch mit den Tieren und
achtete die Natur. So erzählt es jedenfalls die
Legende. Franz starb 1226. Zwei Jahre später wurde
in Assisi mit dem Bau seiner Grabeskirche begonnen.
Sie besteht aus einer Unter- und einer Oberkirche,
die beide reich mit Fresken ausgemalt wurden.
Bekannt sind vor allem die Franziskus-Bilder von
Giotto (im Bild die Vogelpredigt des Franzikusmeisters
in der Unterkirche). Auch andere Maler haben sich
hier ein Denkmal gesetzt. In Assisi steht ein Gesamt-
kunstwerk, und so wird es von Gianfranco Malafarina
auch vorgestellt. Nicht nur die Fresken, auch die
Ausstattung der Kirchen ist Thema. Es sind aber doch
die Wandbilder, die bezaubern. Die hervorragenden
Fotografien wurden noch vor der Zerstörung durch
das grosse Erdbeben 1997 aufgenommen, zeigen also
eine bereits vergangene Welt. Geneviève Lüscher
Gianfranco Malafarina (Hrsg.), Fotografien von Elio
und Stefano Ciol und Ghigo Roli: Die Kirche San
Francesco in Assisi. Hirmer, München 2011. 324
Seiten, über 300 Farbfotografien, Fr. 61.60.
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Biografie Der Lebensweg des Schweizer
Ingenieurs Hans Rudolf Herren vom
Insektenforscher zum Weltagrarpolitiker
Herbert Cerutti: Wie Hans Rudolf Herren
20 Millionen Menschen rettete. Die
ökologische Erfolgsstory eines
Schweizers. Orell Füssli, Zürich 2011.
150 Seiten, Fr. 39.–.
Von Markus M. Haefliger
Wenn es um biologische Schädlingsbekämpfung geht, gibt die Natur Stoff für
Detektivgeschichten. So stellt der Zürcher Wissenschaftsjournalist Herbert
Cerutti, ein ehemaliger NZZ-Wissenschaftsredaktor, die Saga der afrikanischen Maniokschädlingsbekämpfung
ins Zentrum seiner lesenswerten Biografie über den Insektenforscher Hans
Rudolf Herren. In knappen Exkursen
greift er über den Lebenslauf Herrens,
der im Wallis aufgewachsen war und an
der ETH studiert hatte, aus. So erfährt
der Leser die Geschichte der «grünen
Revolution» der 1960er-Jahre, in der es
Agrarforschern gelang, für viele Nutzpflanzen Hochleistungssorten zu züchten. Ähnliche Abschweifungen führen
ein in das labile Gleichgewicht von
Schädlingen und Nützlingen und die
Kulturgeschichte von Nutzpflanzen
oder die Problematik des Pestizids DDT.
Als Leser wünschte man sich gerne
mehr solcher Exkurse, beispielsweise
über den Zusammenhang der Zunahme
von Schädlingen mit der Entwicklung
der Luftfahrt oder den mangelhaften
phytohygienischen Kontrollen afrikani-
CHRISTIAN GOUPI / PRISMA
Vom Überlisten
der Natur
Maniok-Markt in
Benin, Westafrika,
einem der
Arbeitsgebiete des
Agrarforschers Hans
Rudolf Herren.
scher Staaten. Oder darüber, wie archaische Besitzverhältnisse den agrarischen
Fortschritt in Schwarzafrika hemmen.
Mit der chronologisch angelegten
Biografie bleiben dem Verfasser allerdings wenig Freiräume, weil sein Thema,
Herrens Werdegang, immer komplexere
Tätigkeiten umfasste. Nach dem Weggang vom International Institute of Tropical Agriculture (IITA) in Cotonou
(Benin) widmet sich Herren dem Neuaufbau des International Centre of Insect Physiology and Ecology in Nairobi,
das der Natur angepasste Verfahren der
Schädlings- und Malariabekämpfung
und der Honig- und Seidengewinnung
entwickelt. Nach der Auszeichnung mit
dem Welternährungspreis 1995 gründet
er die Stiftung Biovision; später geht er
ans Millenium Institut in Arlington und
ist einer der Initiatoren des 2008 veröffentlichten Weltagrarberichts. Aus dem
Insektenforscher ist ein Entwicklungshelfer und Weltagrarpolitiker geworden.
Wenn Ceruttis Buch mit der Dauer an
Spannung nachlässt, dann auch darum,
weil er sich fast nur auf Herrens eigene
Ausführungen stützt. Man mag der Biografie den etwas pathetischen Titel (und
den sprachlich unkorrekten Untertitel)
verzeihen, weniger jedoch, dass sie zeit-
weise einer langen Gesprächszusammenfassung oder gar einer Gefälligkeitspublikation gleicht. Das ist schade,
denn es legt den Verdacht nahe, dass der
Autor befangen sein könnte. Das äussert
sich nicht nur in einigen biederen Passagen, in denen der Autor den Porträtierten mit dessen Vornamen nennt, sondern auch in ärgerlichen Einseitigkeiten.
Herren ist beispielsweise ein Gegner
der Gentechnologie. Gerade an seiner
ehemaligen Wirkungsstätte, dem IITA
im nigerianischen Ibadan, wurde letztes
Jahr jedoch ein gentechnisches Verfahren gegen eine sich verheerend ausbreitende Bakterienwelke bei afrikanischen
Kochbananen gefunden. Forscher des
IITA sind überzeugt, dass Gentechnologie zwar kein Allheilmittel für die Ernährungsprobleme Afrikas darstellt,
dass auf ihre Vorzüge aber nicht grundsätzlich verzichtet werden sollte.
Die Mängel schmälern Ceruttis Verdienst, Hans Rudolf Herren einem breiteren Publikum bekannt zu machen, nur
geringfügig. Gemessen an seinem Einfluss auf brennende Ernährungsfragen,
ist Herren zweifellos einer der bedeutendsten Schweizer Zeitgenossen.
Warum das so ist, das weiss der Leser
nach der Lektüre. ●
Unterwasserkunde Der Zoologe Bernd Brunner erzählt die Kulturgeschichte des Aquariums
Ozean «en miniature»
Bernd Brunner: Wie das Meer nach Hause
kam. Die Erfindung des Aquariums.
Wagenbach, Berlin 2011. 144 Seiten,
Fr. 17.50.
Von Thomas Köster
Wer Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals
in die Welt öffentlicher Meerwasseraquarien tauchte, dem schwirrte schon
bald nicht selten der Kopf. Diese Erfahrung musste der Zoologe Gustav Jäger
machen, der 1860 in Wien als einer der
ersten auf dem europäischen Festland
ein maritimes Panoptikum exotischer
Fische errichtete. Verwirrt sei mancher
Neuling von einem Gefäss zum nächsten gewandert, beschreibt Jäger seine
Beobachtungen, mit denen Bernd Brunner sein Buch zur Erfindung des Aquari24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
ums eröffnet: «Es sind mir Fälle vorgekommen, wo gebildete Leute nach längerem planlosen Laufen an der Kasse
ärgerlich fragten: Ja, was sieht man den
eigentlich da drin?»
Was man im Aquarium damals sah –
oder aus nationalistischer Warte etwa in
Deutschland (heimische Süsswasserfische) im Gegensatz zu England (Salzwasserfische) sehen sollte –, ist Brunners Thema immer wieder. Darüber hinaus beleuchtet sein Buch, wie die Idee
am heimischen Ozean im Kleinen langsam wuchs. Überaus vergnüglich und
anekdotenreich beschreibt der Autor
die Geburt des Aquariums aus dem
Geist höfischer Wunderkammern und
bürgerlicher Neugier. Er schildert den
Siegeszug exotischer Fische in den gebildeten Kreisen Europas und die Suche
der Aquariumspioniere nach geeigneten
Behältnissen und mikrosubmarinen Lebensräumen. Und er wirft einen Blick
auf die Ozeanarien der Gegenwart, die
das Vergnügen am Blick ins Meer noch
einmal potenzieren.
«Mit der Zeit wird die Tiefe des Meeres, durchsichtig auf unserem Tische,
uns noch manche seltsame Naturgeschichte erzählen», zitiert Brunner aus
einem Beitrag der «Gartenlaube» zum
«Ocean auf dem Tische» von 1854. Sein
Buch hingegen macht uns Lesern die
bisweilen nicht minder merkwürdige
Kulturgeschichte des Aquariums transparent. So, wie der Betrachter damals
staunend vor der exotischen Fischwelt
hinter der Glaswand stand, so ist man
heute bei der Lektüre ein ums andere
mal verblüfft, was Brunner an Wissenswertem aus den Untiefen historischer
Aquaristik fischte. ●
Briefe Die Korrespondenz von Jean Rudolf von Salis zeigt seine Rolle als moralische Instanz
Kommentator, Debattierer,
Raisonneur
Jean Rudolf von Salis: Ausgewählte Briefe
1930–1993. Hrsg. Urs Bitterli und
Irene Riesen. NZZ Libro, Zürich 2011.
392 Seiten, Fr. 54.–.
Von Klara Obermüller
Der Historiker Jean Rudolf von Salis war
zeit seines Lebens ein passionierter
Briefschreiber. Das hatte mit seiner
Welt- und Menschenzugewandtheit zu
tun, mit seinem Interesse an den Zeitläufen und ein bisschen vielleicht auch
mit seiner Eitelkeit. Von Salis wusste,
dass er etwas zu sagen hatte – auch über
den Tag hinaus. Entsprechend sorgfältig
ging er mit seiner Korrespondenz um.
Nie blieb ein Adressat lange ohne Antwort. Und wenn, dann gab es für diesen
Umstand ebenso eine Entschuldigung
wie für die Tatsache, dass ein Brief statt
von Hand mit der unpersönlichen Maschine geschrieben war.
«Eine Korrespondenz ist doch eine
Zwiesprache», schrieb von Salis im Jahr
1987 an seinen Historikerkollegen Edgar
Bonjour. Dem Autor war diese Art der
Zwiesprache wichtig. Er liebte den Dialog. Er liebte die Debatte, die er anstiess,
in die er eingriff, wenn es ihm nötig erschien. Aus Tausenden von Briefen
konnten der von Salis-Biograf Urs Bitterli und seine Frau Irene Riesen deshalb auswählen, als sie sich an die Edition des hier vorliegenden Bandes machten. 171 Schreiben aus mehr als sechs
Jahrzehnten haben sie ausgewählt, und
sie haben klug gewählt. Auf einen ersten
Brief des knapp Dreissigjährigen an die
Mutter folgen Schreiben an Kollegen
und Freunde, an Vertreter der Politik
und Repräsentanten des öffentlichen
Lebens: Texte, in denen J. R. von Salis
noch einmal als Wissenschaftler, als politischer Kommentator wie auch als
geistreicher und bisweilen angriffiger
Gesprächspartner lebendig wird.
in denen ihnen Unmenschlichkeit, totalitäre Methoden oder mangelnde Distanz gegenüber Altnazis vorgeworfen
wurde. Doch die beiden Herausgeber
haben sich, wohl aus editorischen wie
juristischen Gründen, dagegen entschieden, neben Briefen auch Briefe an von
Salis in den Band aufzunehmen.
Umso deutlicher und facettenreicher
tritt uns in ihrer Auswahl die Persönlichkeit des Autors selbst entgegen. Er
ist derjenige, der die Fragen stellt und
die Auseinandersetzung sucht. Er tut
es geschliffen und höflich, vor allem
dann, wenn es Kritik anzubringen oder
Meinungsverschiedenheiten auszutragen galt. Breiten Raum nimmt dabei die
Selbstreflexion ein. Die Frage nach der
eigenen Berufung und der ihm zukommenden Rolle innerhalb der Gesellschaft haben von Salis bis ins Alter hinein beschäftigt. Er war kein Mann der
Tat, wie er selber sagt, er war auch kein
Künstler, wie er bedauernd feststellt. Er
verstand sich vielmehr als «Raisonneur», wie es in einem Brief an den
Freund Peter Mieg heisst: als unsichtbaren Zeugen und stillen Beobachter, der
aus angeborener Scheu und innerer Unabhängigkeit nach allen Seiten hin Distanz hielt und gegenüber ideologischen
Versuchungen stets immun blieb.
Einige sehr persönliche Briefe, wie
etwa diejenigen an Nanny WunderlyVolkart, an Friedrich Dürrenmatt oder
Adolf Muschg zeigen, dass von Salis die
Aussenseiterposition gesucht, gleichzei-
tig aber auch darunter gelitten hat. Er
hätte sich gerne mit einem Roman in der
Art des «Zauberberg» oder des «Gattopardo» literarische Anerkennung verschafft und wäre nicht abgeneigt gewesen, aktiv in die Politik einzusteigen.
Doch er hielt sich zurück, weil er seine
Grenzen kannte und das Gefühl einer
Fremdheit in dieser Zeit und dieser Gesellschaft nie ganz überwinden konnte.
Er kannte seine Grenzen
Jean Rudolf von Salis
(Mitte) unterhält
sich anlässlich eines
Empfangs des PenClubs in Zürich mit
Thomas Mann und
dessen Frau Katia
(5. Juni 1950).
Urs Bitterli und Irene Riesen haben sich
bei der Auswahl der Briefe nicht gescheut, auch diese dunkleren Seiten in
J. R. von Salis’ Wesen offen zu legen. Sie
zeigen nicht nur den renommierten
Wissenschaftler und viel gelesenen
Autor, sondern auch den Dozenten an
der ETH, der sich von der Zürcher Gesellschaft nie ganz akzeptiert, von seinen Universitätskollegen nie ganz für
voll genommen und von den Meinungsmachern der NZZ immer wieder zu Unrecht angefeindet fühlte. Vor allem aber
lassen sie den Zeitgenossen zu Wort
kommen, der bis zuletzt den Dialog mit
Jüngeren und Andersdenkenden suchte
und sich nie scheute, seine Meinung
auch dort kundzutun, wo sie nicht opportun war. Sie zeigen J. R. von Salis als
das, was er zweifellos war: ein Intellektueller, der dank seiner Unbestechlichkeit, seinem Pragmatismus und seinem
Einfühlungsvermögen über Jahre hinweg als moralische Instanz unseres Landes wahrgenommen worden war. ●
Das 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen ist in dieser Korrespondenz
präsent, und man darf bei der Lektüre
noch einmal bewundernd feststellen,
wie luzide der Autor die einschneidenden Ereignisse seiner Zeit – das Aufkommen des Nationalsozialismus, die
Bedrohung durch Hitler-Deutschland,
die totalitären Tendenzen während des
kalten Krieges sowie, spät noch, das Verhältnis der Schweiz zu Europa – wahrgenommen und eingeschätzt hatte.
Schade nur, dass uns der Band die
Antworten der Adressaten vorenthält.
Zu gerne hätte man erfahren, wie ein
Bundesrat Furgler, ein Hans A. Huber
vom Schweizerischen Aufklärungsdienst oder Werner Weber, der Feuilletonchef der NZZ, auf Briefe reagierten,
PHOTOPRESS / KEYSTONE
Unsichtbarer Beobachter
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Archäologie Altertümer finden sich nicht nur im Boden, auch das Meer ist voll davon
Poseidons Schätze rund um Sizilien
Sebastiano Tusa: Versunkene Antike.
Faszination Unterwasserarchäologie.
Zabern, Mainz 2011. 298 Seiten,
reich bebildert, Fr. 109.–.
Von Geneviève Lüscher
Innerhalb der Altertumswissenschaften
ist die Unterwasserarchäologie eine
junge Sparte, setzt sie doch technische
Entwicklungen voraus, die den längeren
Aufenthalt unter Wasser überhaupt erst
ermöglichen. Tatsächlich schrieb aber
schon Herodot vor rund 2500 Jahren von
Tauchern, die Schätze aus dem Wasser
bargen. Seither wurden immer wieder
Altertümer aus den Fluten des Meeres
gehoben.
Erste Untersuchungen mit wissenschaftlichen Ansprüchen erfolgten Anfang des 20. Jahrhunderts, und seither
hat sich die Unterwasserarchäologie zu
einem universitären Fach gemausert.
Gleichzeitig hat die Suche unter Wasser
begonnen, zur reinen Schatzgräberei
auszuarten. Mit Hilfe ausgeklügelter
Techniken werden die Wracks geplündert, ohne auf den Kontext der Funde zu
achten. Die kostbaren Stücke landen
dann statt auf dem Schreibtisch des Archäologen unter dem Hammer internationaler Kunstauktionen.
Heute wird bei korrekt durchgeführten Untersuchungen unter Wasser
gleich vorgegangen wie an Land: Alles
wird vermessen, dokumentiert und fotografiert. Die Arbeitsweise präsentiert
Sebastiano Tusa kurz in einem Kapitel
am Schluss des Buches.
Im Gegensatz zum allgemein gehaltenen Titel befasst sich der Buchinhalt
fast nur mit den Gewässerfunden rund
um Sizilien – es ist eine Art Liebeserklärung des Unterwasserarchäologen und
Dozenten an sein Untersuchungsgebiet.
Sizilien war im Altertum und Mittelalter eine Schnittstelle vieler Kulturen
und besass zahlreiche Häfen. Wichtige
Schifffahrtsrouten führten an seinen
Küsten entlang, unzählige Seeschlachten fanden hier statt. Ihnen ist je ein
kleines Kapitel gewidmet. Mehr Raum
erhält das Thema Handel, diente doch
die Seefahrt in der Antike in erster Linie
dem Transport von Gütern. Der griechische und römische Fernhandel ist durch
die Funde von gesunkenen Schiffen
samt Ladung recht gut bekannt. In erster
Linie sind es Amphoren, diese robusten,
fast unvergänglichen Transportbehälter
für Wein, Olivenöl und Fischsauce, die
Zeugnis ablegen von den antiken Handelsrouten.
Dem Liebhaber Siziliens öffnet der
grossformatige Bildband neue Aspekte
und Blickwinkel auf seine Insel – das
Thema Unterwasserarchäologie findet
er aber nicht erschöpfend behandelt. ●
Das amerikanische Buch Henry Kissinger beschreibt Chinas langen Marsch
In seinem aktuellen Buch kehrt Kissinger auf Terrain zurück, das er in seinen
mehrbändigen Lebenserinnerungen
und seiner immer noch lesenswerten
Studie «Diplomacy» von 1994 eingehend bearbeitet hat. Der Leser gewinnt
jedoch neue Einsichten etwa über den
Koreakrieg und kommt in den Genuss
einer scharfsinnigen, auf eigene Erfahrungen gestützten Analyse der chinesischen Diplomatie unter Mao und
seinen Nachfolgern von Deng Xiaoping
bis Hu Jintao. Kissinger wirkt überzeugend, wenn er die Spitzen der Volksrepublik in eine Reihe mit imperialen
Mandarinen stellt, die das «BarbarenManagement» und die kluge, kühle und
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Juni 2011
AP
duldigen, begabten und homogenen
Volkes, das seinen Führern anscheinend noch die brutalsten Missgriffe
nachsieht. Die «realistische» Doktrin
des alten Diplomaten trägt hier Züge
von Wunschdenken: Die von Kissinger
gepriesene «Stabilität» in China und
den internationalen Beziehungen kann
letztlich doch nur aus einer Partizipation der Bevölkerung an der Macht erwachsen, die den Chinesen einen freien
Ausdruck ihrer Bedürfnisse erlaubt.
Dies wird auch von amerikanischen
Rezensenten kritisch notiert, die das
Buch jedoch durchweg als wichtigen
Beitrag zu der Debatte über das
Verhältnis beider Nationen empfehlen.
auf lange Sicht angelegte Verfolgung
chinesischer Nationalinteressen zu
einer hohen Kunst entwickelt haben.
Namen wie der des seit einigen Wochen
verschwundenen Künstlers Ai Weiwei
fehlen jedoch in «On China» ebenso,
wie eine Darstellung oppositioneller
Forderungen.
Henry Kissinger
1973 in Peking beim
Handschlag mit
Mao Zedong, den
er bewunderte. Als
Autor heute (unten).
AP
Mit On China (Penguin Press, 586 Seiten) legt Henry Kissinger eine Mischung
aus historischer Studie, Autobiografie
und politischem Ratgeber über die
Rückkehr dieser ältesten Kulturnation
zur Weltgeltung nach Jahrzehnten
selbstgewählter Isolation vor. Dazu hat
er persönlich massgeblich beigetragen.
Als Sicherheitsberater von Präsident
Richard Nixon ist Kissinger vor vierzig
Jahren zu seiner historischen Geheimmission in das Reich des «Grossen Vorsitzenden» Mao Zedong aufgebrochen
und hat damit den Weg für den amerikanisch-chinesischen Ausgleich im
Kalten Krieg geebnet. Der von den
Nazis als Kind aus Deutschland vertriebene Kissinger konnte nach seinem
Wechsel in die Privatwirtschaft auf
diese historische Leistung aufbauen.
Der nunmehr 88-Jährige wurde zu
einem bis heute für amerikanische
Präsidenten und Geschäftsleute unverzichtbaren Vermittler zu den kommunistischen Machthabern und der
chinesischen Wirtschaft.
Dafür macht Kissinger aus seiner Bewunderung speziell für Mao kein Hehl,
den er als Philosophen kolossalen Zuschnitts beschreibt. Die gesellschaftspolitischen Experimente Maos in den
1950er und 1960er Jahren, die bis zu 40
Millionen Menschenleben gekostet
haben, betrachtet Kissinger als quasi
unvermeidliche Kosten der Konsolidierung Chinas unter den Kommunisten
und nicht als Ergebnis grössenwahnsinnigen Mutwillens. Kissinger spricht
wiederholt von der «Essenz» dieses ge-
Kissingers Darstellung der Debatte unter den chinesischen Eliten über die
zukünftige Weltstellung ihrer Nation
ist in der Tat aufschlussreich. Daran
knüpft er seine eigenen Empfehlungen
an Washington: Während eine kleine,
aber lautstarke «triumphalistische
Denkschule» in China die Ablösung
der USA durch die «weise und weitsichtige Führung» Pekings fordert,
setzt Kissinger auf die Schaffung einer
«pazifischen Gemeinschaft». Nach
dem Muster der nordatlantischen soll
diese «Community» zugleich der amerikanisch-chinesischen Partnerschaft
einen Rahmen geben, sowie die anderen Nationen Asiens einbinden.
Der Wert dieser Vision wird jedoch
durch Tatsachen in Frage gestellt, die
«On China» erstaunlicherweise ausblendet: Das Buch erwähnt die tiefe
Verschuldung der USA bei China nur in
einem halben Satz, der noch dazu in
Klammern steht. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Saint Tropez Von den Fischern zu den Celebrities
Agenda Juli 2011
Samstag, 2. Juli, 11 Uhr
Andrej Kurkow: Die
letzte Liebe des Präsidenten. Lesung, Musikwoche Braunwald im
Hotel Bellevue,
Tel. o55 640 40 94.
JÜRG VOLLMER / MAIAK.INFO
Braunwald
Leukerbad
Freitag, 8., bis Sonntag, 10. Juli
16. Internationales Literaturfestival mit
Melinda Abonji, Michail Schischkin,
Peter Stamm, Martin Walker, Rolf
Hermann und vielen anderen. Infos,
Programm und Tickets:
www.literaturfestival.ch.
Scuol
Donnerstag, 21. Juli, 20 Uhr
des Fischerdorfes an der Côte d’ Azur zur sommerlichen Spielwiese der Illustrierten-Schickeria. Eine
strahlend junge BB , Charles Aznavour als Familienvater, Liz Taylor in Dreiviertelhose. Hier heiratet Mike
Jagger seine Bianca, hier fallen die ersten BikiniOberteile. Heute ist Saint Tropez ein Laufsteg der
Superreichen vor Massenpublikum: 5700 Einwohner,
eine Million Parktickets und 5 Millionen Besucher pro
Jahr. Kathrin Meier-Rust
Helge Sobik: Mythos Saint Tropez. Feymedia,
Düsseldorf 2011. 188 Seiten, Fr. 53.90.
St. Moritz
Belletristik
Sachbuch
Werdenberg
1 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 27.40.
2 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 27.40.
3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 24.30.
4
Blanvalet. 448 S., Fr. 20.20.
5 Hanser. 320 Seiten, Fr. 22.45.
6 Heyne. 448 Seiten, Fr. 25.45.
7 S. Fischer. 352 Seiten, Fr. 25.70.
8 Droemer/Knaur. 656 Seiten, Fr. 20.40.
9 Wunderlich. 448 Seiten, Fr. 27.70.
10 Diogenes. 352 Seiten, Fr. 32.45.
1
2 Faro. 224 Seiten, Fr. 29.90.
3 Malik. 304 Seiten, Fr. 30.50.
4 Schwarzkopf & Schwarzkopf. 272 S., Fr. 30.50.
5 Goldmann TB. 240 Seiten, Fr. 15.50.
6 A 1. 288 Seiten, Fr. 34.90.
7 Riva. 200 Seiten, Fr. 15.90.
8 Orell Füssli. 192 Seiten, Fr. 34.90.
9 Zytglogge. 272 Seiten, Fr. 36.Ω.
10 Langenscheidt. 128 Seiten, Fr. 16.90.
Auf den frühen Schwarz-Weiss-Fotos ist die Armut
noch gut sichtbar. Dann kamen Brigitte Bardot,
Gunther Sachs und Pablo Picasso – im Bild Picasso
vor seinem Stammlokal «La Ponche» – und verliehen
der Armut den Charme des Pittoresken. Nachdem
Louis de Funès hier seinen ersten Gendarmenfilm
drehte, strömte alles und damit auch der Reichtum
nach Saint Tropez. Die Bilder werden nun bunt, bis
die knalligen Fotoshop-Farben dem Dorf seinen
Charme endgültig austreiben. «Mythos Saint
Tropez» dokumentiert den von Stars gesäumten Weg
Bestseller Juni 2011
Donna Leon: Auf Treu und Glauben.
Paulo Coelho: Schutzengel.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Susan E. Phillips: Der schönste Fehler
meines Lebens.
Alex Capus: Léon und Louise.
Nicholas Sparks: Wie ein Licht in der Nacht.
Carlos Ruiz Zafón: Marina.
Karen Rose: Todesstoss.
Simon Beckett: Verwesung.
Martin Walker: Schwarze Diamanten.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung.
25. Auflage. Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.
Nik Hartmann: Über Stock und Stein 3.
Juliane Koepcke: Als ich vom Himmel fiel.
Carlo Perdersoli: Bud Spencer.
Roman M. Koidl: Scheisskerle.
Corinne Hofmann: Afrika, meine Passion.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Martin Betschart: Ich weiss, wie du tickst.
Mani Matter: Sudelhefte. Rumpelbuch.
Nina Puri: Langenscheidt Katze – Deutsch.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 14. 6.2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 13. Juli, 20.30 Uhr
Thomas C. Breuer: Gubrist mon amour.
Lesung. Hotel Laudinella,
Via Tegiatscha 17, Tel. 081 836 00 00.
Valchava
Donnerstag, 14. Juli, ca. 20 Uhr
Donna Leon: Tiere und
Töne, auf Spurensuche in
Händels Opern.
Lesung in Englisch.
Museum Chasa Jaura,
Tel. 081 858 53 17.
Freitag, 8. Juli, 20 Uhr
Jens Dittmar: Basils Welt – eine Zumutung. Lesung, Fr. 12.–. Schloss Werdenberg, Schlossberg, Tel. 081 599 19 35.
Zürich
Freitag, 1. Juli, 20 Uhr
Tinu Heiniger: Sommerabend-Lesung.
Mühle Hirslanden, Forchstrasse 244.
Vorverkauf:
[email protected].
Mittwoch, 6. Juli, 20 Uhr
Martin Walker: Schwarze Diamanten.
Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Festsaal,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Samstag, 9. Juli, 16 Uhr
Madlaina Brogt Salah Eldin: Liebe zwischen Halbmond und Kreuz. Lesung.
Arabikalam, Cramerstrasse 7,
Tel. 041 43 322 07 93.
Bücher am Sonntag Nr. 7
erscheint am 28. 8. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
26. Juni 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
CHRISTIAN BEUTLER
AP
Hommage an Jon Demarmels. Romanische Lesung mit Musik und Diskussion
in Deutsch, Fr. 25.–. Center da Cultura
Nairs. Infos: www.nairs.ch.
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