Februar 2012 - Neue Zürcher Zeitung

Transcription

Februar 2012 - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 2 | 26. Februar 2012
Karl May Bestsellerautor und Hochstapler | Annette Pehnt Chronik der
Nähe | Jennifer Egan Der grössere Teil der Welt | Siddhartha Mukherjee
Krebs - Der König aller Krankheiten | Tony Judt Das Chalet der Erinnerung |
John Mearsheimer Lüge | Weitere Rezensionen zu Michael Ondaatje, Mitt
Romney, Robert Harris, Dambisa Moyo u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt
Mit der
Silberbüchse
unter der
Bettdecke
Schwarzblau schimmerndes Haar bis weit über die Schultern, Leggins
und ein Jagdrock aus Elchleder, reichverzierte Mokassins: Das war
Winnetou, der stolze, tapfere, schöne Krieger. Zusammen mit seinem
Blutsbruder Old Shatterhand bildete der Apachenhäuptling ein
unzertrennliches Gespann: der edle Wilde und der deutsche IchErzähler – vereint gegen die Feinde der Prärie und das Übel der Welt.
Howgh! Fast ein Jahrhundert lang hat Karl May (1842–1912) das Bild des
Wilden Westens und des Orients geprägt. Über 200 Millionen beträgt
die Auflage seiner Abenteuerromane und Reiseerzählungen. In den
Niederlanden, in Tschechien, Mexiko oder Vietnam sind seine Werke
bis heute populär. Dass sie einst als jugendgefährdend galten, entlockt
uns nur noch ein Lächeln. Wahr ist aber auch, dass viele von uns diese
Bücher unter der Bettdecke verschlangen. Nicht wenige wurden zu
süchtigen Lesern, bei andern legten sie den Keim zur Neugier und zum
Interesse am Fremden. Genau wie es Urs Bitterli in seinen launigen
Erinnerungen beschreibt (Seite 12).
Seit es «Bücher am Sonntag» gibt – seit Oktober 2007 –, finden Sie auf
Seite 15 Charles Lewinskys Zitatenlese. Auch diesmal brillant und
punktgenau. Nun ist die Sammlung seiner bisherigen 48 Kolumnen im
Verlag NZZ Libro erschienen. Ein Objekt für Sammler, aber auch eine
vergnügliche Lektüre für Neuleserinnen und -leser! Urs Rauber
KarlMay
(Seite12).
Illustrationvon
AndréCarrilho
Belletristik
KurzkritikenSachbuch
4
6
7
AnnettePehnt:ChronikderNähe
15 FelixMüller:DieKunstderKelten
Von Gerhard Mack
Lou-SaloméHeer:«DaswahreGeschlecht»
19 JohnJ.Mearsheimer:Lüge!
RobertHarris:Angst
HansPeterJost,ChristinaKleineidam:
AlbaniainTransition1991
MichaelOndaatje:Katzentisch
Von Martin Walder
Von Angelika Overath
Von Pia Horlacher
Von Gerhard Mack
Gelbbewegt.DieSchweizerischePost
ab1960
Von Gabriela Weiss
Von Alois Riklin
Von Urs Rauber
20 ChristianHesse:AchtungDenkfalle!
MarcusDuSautoy:Einemathematische
MysteryTourdurchunserLeben
AlexBellos:AleximWunderlandderZahlen
ElisabethGusdekPetersen:DasistunserLand
Von Kathrin Meier-Rust
AugustFaselius:SprichwörterdesAltenRom
Von Geneviève Lüscher
Von André Behr
21 TonyJudt:DasChaletderErinnerung
8 JenniferEgan:DergrössereTeilderWelt
Von Ina Boesch
Von Simone von Büren
Von Martin Zingg
22 SariNusseibeh:EinStaatfürPalästina?
Von Stefana Sabin
Von Kathrin Meier-Rust
23 ErikWegerhoff:DasKolosseum
9 FranzTumler:Volterra
10 SherwoodAnderson:Winesburg,Ohio
11 GüntherAnders:DieKirschenschlacht.
DialogemitHannahArendt
UrsRauber:Eufemia
Von Charlotte Jacquemart
Von Klara Obermüller
MarkusMosimann,MarcLettau:
DasHolzhausderZukunft
Von Gabriela Weiss
Von Geneviève Lüscher
KurzkritikenBelletristik
24 ErnstvonWaldenfels:NikolaiRoerich
11 HansBender:AufmeineArt
25 DirkLaabs:DerdeutscheGoldrausch
Von Fritz Trümpi
TimButcher:AufderFährtedesTeufels
Von Sabina Meier
Von Manfred Papst
TIM KNOX / EYEVINE / DUKAS
MoriŌgai:DieWildgans
Von Elfriede Ostermaier
JürgLaederach:HarmfulsHölle
Von Beni Bischof
GiacomoCasanova:MeineFluchtausden
BleikammernvonVenedig
Von Manfred Papst
Pulitzer-PreisträgerinJenniferEgan(Seite8).
Essay
12 KarlMay,Schriftsteller
Historiker Urs Bitterli erinnert sich an die
Lektüre seiner Jugendromane
Kolumne
15 CharlesLewinsky
Das Zitat von Salman Rushdie
Sachbuch
16 SiddharthaMukherjee:DerKönigaller
Krankheiten
Von Sieglinde Geisel
18 HenryA.Kissinger,FareedZakaria,Niall
Ferguson,DavidDaokuiLi:WirdChinadas
21.Jahrhundertbeherrschen?
Von Thomas Isler
Von Christoph Plate
26 DambisaMoyo:DerUntergangdesWestens
Von Urs Rauber
DasamerikanischeBuch
MichaelKranish,ScottHelman:TheReal
Romney
Von Andreas Mink
Agenda
27 KarstenMüller:EmilNolde:Puppen,Masken
undIdole
Von Manfred Papst
BestsellerFebruar2012
Belletristik und Sachbuch
AgendaMärz2012
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan ZweifelProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Felix Eberlein (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
VerlagNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Wie Michael Ondaatje sich seine Schiffsreise als 11-Jähriger von
Ceylon nach London erfindet
Schicksalstage
auf hoher See
Michael Ondaatje: Katzentisch. Roman.
Aus dem Englischen von Melanie Walz.
Hanser, München 2012. 301 S., Fr. 27.90.
Von Martin Walder
Den Holzfäller aus dem weiten kanadischen Norden würde man ihm abnehmen. Er ist eher gedrungen, zurückhaltend, hat schräge graue Augen und einen
wilden silbrigen Haarschopf mit Bart.
Doch Michael Ondaatje ist holländischtamilisch-singhalesischer Abstammung
«mit etwas englisch», kam jung von
Ceylon nach London und lebt seit Mitte
der sechziger Jahre in Toronto. Mit Margaret Atwood und Alice Munro zählt der
68-Jährige zu den bei uns bekanntesten
kanadischen Autoren. Und wie um Himmels willen soll man seinen Namen nun
aussprechen? «Ondaadschi», sagt er,
darauf angesprochen, kurz und bündig;
die Frage ist er gewohnt.
Ondaadschi? «Ja, und das kam so:
Meine Vorfahren stammen aus Indien.
Um 1600 übernahmen die Holländer
Ceylon. Die Tochter des Gouverneurs
wurde krank, ein indischer Doktor heilte sie, bekam dafür auf der Insel Land –
und eine holländische Frau. Als diese
starb, heiratete er eine Ceylonesin, hatte
mit ihr neun Kinder, blieb auf der Insel,
und die Familie präsentierte sich als
schöner mixed salad von Nationalitäten.» Der hollandisierte Name sei «eine
Parodie auf die Herrschaftssprache»,
kommentiert der Autor in seinem Bericht «Es liegt in der Familie» von 1982,
in dem er seinen Wurzeln in zwei Reisen nach Sri Lanka mit Lust nachforschte. Das musste er tun, «vorher hätte ich
nicht über die kanadische Gegenwart
schreiben können».
International berühmt geworden ist
Michael Ondaatje durch die Verfilmung
seines Romans «Der englische Patient»
(1992), und eigentlich ist das ungerecht.
Sein Schreiben hätte den Film gar nicht
nötig. Es ist selber schon üppiges Kino.
Ist literarisches Lichtspiel von einer visuellen Präzision und metaphorischen
Kraft, die süchtig machen. Seine Beleuchtung ist im Innern jenes fast ma4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
nisch beschworene chiaroscuro des Malers Caravaggio, der als Name einer
Figur durch sein Werk geistert. Und sein
Thema: nicht nur, aber immer wieder
das über Ozeane und Kontinente geworfene und mäandernde Leben, die Migration und die Spuren und Narben, die sie
hinterlässt. In «Der englische Patient»
ist es der Krieg, der die Menschen versprengt und zu einer Familie von Fremdlingen und geheimen Liebenden zusammenwürfelt. Im Roman «In der Haut
eines Löwen» (1987) wird das aufstrebende Toronto zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Schmelztiegel für Einwanderer aus aller Herren Ländern.
Kartografie der Seele
Und so hätten wir ihn denn in der multikulturellen Schublade patent versorgt?
Das mag er nicht besonders: «Als Autor
gehe ich von Individuen aus, von Figuren und wie wahrhaftig sie sind, nicht
von Repräsentanten von etwas.» Gleichwohl ist Sri Lanka Ausgangspunkt für
seine Reisen ins Fremde und Fluchtpunkt der Erinnerung zugleich geblieben. In «Anils Geist» (2000) ersparte
uns Ondaatje auch nicht das schrecklich
genaue, forensische Hinschauen auf die
Exzesse des schlimmsten aller Kriege,
des Bürgerkriegs.
Im neuen Roman «Katzentisch» nun
wird 1954 für drei halbwüchsige Jungen,
Michael, Cassius und Ramadhin, eine
Schiffsfahrt von Colombo durch den
Golf von Aden, das Rote Meer und den
Suezkanal nach London zum ganz konkreten «rite de passage», wenn Körper
und Seele sich häuten. Das Kartografieren der Seele ist ja stets der Impuls von
Ondaatjes Literatur, im Wissen, dass die
Seele sich festen Triangulationspunkten, verlässlichen Höhenkurven und lückenloser Erfassung entzieht, sich eher
musikalisch in ausfransenden Geschichten offenbart. Akkurat, aber flüchtig und
gerade in dieser Widersprüchlichkeit
unwiderstehlich – Ondaatjes Lust am
Detail ist sich nie selbst genug, sondern
tendiert zur poetischen Metapher.
«Oronsay» heisst der Dampfer, auf
dem die Buben 21 Tage verbringen.
Ihnen wird an der Schwelle zum Teen-
ageralter der Katzentisch zugeteilt, und
da lernen sie ihre erste Lektion: «Was
interessant und wichtig ist, ereignet sich
in der Regel im Verborgenen, an machtfernen Orten», nicht dort, wo der Kapitän speist, «wo altvertraute Phrasen
Kontinuität garantieren». Es ist das, was
schon der englische Patient der Krankenschwester Hana aus den «Historien»
Herodots zitiert hat: Sie «haben von Anfang an das Ergänzende zum Hauptgegenstand aufgespürt».
Ergänzendes in diesem Sinne serviert
uns der Erzähler namens Michael zuhauf: tief im Schiffsbauch die Pflanzengärten des Mr. Daniels, den von einem
tollwütigen Hund gebissenen Millionär
Hector de Silva, die klugen Bemerkungen von Miss Lasqueti, die zu ihrer Altjüngferlichkeit nicht recht passen wollen, das nächtliche Promenieren eines
Gefangenen in Ketten an Deck . . . Die
Buben erkunden alles, beobachten unter
der Plane eines Rettungsboots hervor,
schlüpfen von einem Deck zum andern.
BERT HARDY / GETTY IMAGES
Vieles scheint zusammenhangslos, doch
alles wird ihnen bedeutsam – es hätte
der Verknüpfung einiger der losen
Fäden zu einem kleinen Krimi-Thrill
gegen Ende des Romans gar nicht bedurft. Das geheime, geheimnisvolle Zentrum des Romans ist ohnehin Emily, Michaels ältere Cousine an Bord, die ihm
die Unschuld vom Kinderauge wischt.
Ondaatje evoziert das den Knaben überwältigende, bittersüsse Erlebnis dessen,
was der Elfjährige in Emilys Kabine
sieht, in wenigen Sätzen von wunderbarer Diskretion. Und erhascht so den einmaligen Moment, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig verrückt spielen und der schützende
Kokon der Jugend für immer zerspringt.
Dunkles Erinnern
Linear in diesem Buch ist allein der Kurs
der «Oronsay» durch die Meere. Nur erwarten Leser von Ondaatje ja auch keinen handfesten Plot: «Am Anfang vieler
Bücher verspricht der Autor Ordnung»,
hiess es schon in «Der englische Patient»: «Aber Romane fingen mit Zögern
oder Chaos an. Leser wussten nie recht,
woran sie waren. Eine Tür, ein Schloss,
ein Wehr öffnete sich, und sie stürzten
hindurch». Zögern und (scheinbares)
Chaos, das sich erst in einem langen
Verdichtungs- und dem Film verwandten Montageprozess ordnet, sind Ondaatje poetologisches Programm. Und
nirgendwo mag es adäquater sein als in
diesem Psychogramm einer Adoleszenz.
Die Wehre des Erinnerns öffnen sich
nicht nur für den Erzähler, sondern auch
uns Lesenden, und die Wasser treiben
uns nicht zielstrebig flussabwärts, sondern auch abseits in die dunklen Gewässer zunächst unaufgelöster Ahnungen
und Geschehnisse. Sie kreisen noch im
Vergangenen und spülen uns schon vorwärts in die Rückschau aus der Zukunft,
in der Konturen erhalten hat, was damals noch vage war. Denn wir, das Publikum, sollten uns jedenfalls nie für klüger halten als die Figuren, zitiert On-
daatje im Roman den Filmemacher Luc
Dardenne.
Er selber habe kaum eine Erinnerung
an seine Schiffsreise im Jahre 1954 zur
Mutter nach England, sagt der Autor.
Nun hat er sie – auf Anstoss seiner Kinder – im Schreiben fiktiv ausgehorcht.
Wie viel Ondaatje im Erzähler namens
Michael steckt, ist dabei nicht von Belang. Sein Erzählen ist ein wiederholtes,
kreisendes Abtasten wie auf einem Radarschirm, und wir verstehen diese
seine «schreckliche Angst beim Schreiben: Wird es eine Ordnung geben? Man
hat Elemente wie Sandkörner, da eins,
dort eins, oder wie Zellen, die sich vermehren und sich in der Art eines Wandgemäldes zusammenfügen». Ziemlich
aufreibend und erschöpfend, verrät er
im Gespräch. Zum Gewinn für uns Lesende, wenn wir denn seinen Ratschlag
in «Der englische Patient» beherzigen:
«Lesen Sie langsam . . . Ihr Auge ist zu
schnell und nordamerikanisch!» Zweimal lassen wir uns das nicht sagen. l
Ein Schiff wird
kommen: Michael
Ondaatjes neuer
Roman handelt von
einer Schiffsreise, die
drei Jugendliche 1954
als Initiationsritus
erleben.
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman In «Chronik der Nähe» lotet Annette Pehnt die Schrecken der Kontaktdroge Mutterliebe aus
Familiäre Gehirn- und
Seelenwäsche
Mutter sie schon los, damit sie Erfahrungen mit Jungen sammelt. Die Mutter will
nicht als verklemmt gelten. «Habe ich
dir nicht alle Freiheit gelassen», wird sie
später sagen. Aber das stimmt nicht.
Freiheit für Annie wäre gewesen, wenn
die Mutter aufmerksamer hätte sein
können. Wenn sie die Geduld gehabt
hätte, zu beobachten, was das Mädchen
möchte, und wenn sie es ausgehalten
hätte, zu akzeptieren, dass Annie andere
Vorstellungen von Freiheit hat als sie
selbst. So wird Annie nicht nur zum
Rauchen angehalten, sondern auch zum
Geschlechtsverkehr. Und Annie ist ein
braves Kind.
Annette Pehnt: Chronik der Nähe. Roman.
Piper, München 2012. 217 Seiten, Fr. 25.90.
Von Angelika Overath
Die Mutter liegt auf der Intensivstation;
die Tochter besucht sie an sieben aufeinanderfolgenden Tagen, von Dienstag bis
Montag. Sie plant ein letztmögliches
Schöpfungswerk: die Mutter muss noch
einmal erzählen. Es gibt da etwas, das zu
klären ist. Immer wieder aufs Neue versucht die Tochter die Mutter zum Sprechen zu bringen. Doch die Mutter
schweigt. «Sprechen Sie ruhig mit Ihrer
Mutter», sagt die Krankenschwester, die
die Geräte kontrolliert, «einfach reden,
die hört das sicher.» Wo die Mutter die
Kommunikation verweigert, muss die
Tochter die Klärung selbst leisten:
«Wenn du nichts sagst, mache ich es für
dich.» Eine unerhörte Anrufung der
Mutter Annie beginnt.
Schon frühere Besuchszeiten bei
Annie waren «Versuchszeiten» gewesen, geduldiges, ja flehentliches Fragen,
das eine Aufklärung in Gang setzen
wollte. Es scheint, als brauche das sprechende Ich, um noch als erwachsene
Frau zu einer Identität zu finden, eine
Einsicht in das Leben der Mutter als
Tochter. Zu nah und zu unentwirrbar
sind ihrer beider Dasein ineinander verwoben.
Intime Bestandesaufnahme
Während die Tage auf der Intensivstation nun chronologisch voranschreiten,
öffnen sich Rückblenden gegen die Zeit.
Verhandelt werden – in zwei voneinander abgesetzten Sprechhaltungen: Anrufung des Du und auktoriales Erzählen –
zwei Mutter-Tochter-Beziehungen, die
bald so fatale Ähnlichkeiten zeigen, dass
der Leser sich unvermittelt in den Generationen täuscht.
Das geschieht umso leichter, als allein
die Mittelfigur, Annie, einen Namen erhält. Beide sie flankierende Frauen, die
Grossmutter (Annies Mutter) wie ihre
Tochter, haben keinen Namen. Und als
Annies Tochter jetzt in der Intensivstation steht, ist sie bereits selbst Mutter
zweier Töchter. Einmal wird sie, zwischen den duftenden Kinderbettchen
und dem Aufbruch mit Annie zu einem
gemeinsamen «honeymoon» in ein Luxushotel nach Rügen, ausrufen: «So viel
Liebe im Spiel, dass es kaum auszuhalten ist.»
Dass die Liebe ein schrecklicher
Feind sein kann, gilt nicht nur zwischen
Mann und Frau. Im Buch «Chronik der
Nähe» lotet die Autorin Annette Pehnt
die unabsehbaren Schrecken der Kontaktdroge Mutterliebe aus. Mütter und
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
FELBERT + EICKENBERG / STOCK 4B
Auf der Intensivstation
Liebe kann feindlich
sein: Annette Pehnt
über zu viel MutterTochter-Nähe.
Töchter lieben sich über alles und bringen sich dabei doch fast um.
Annie ist während des Krieges gross
geworden. Sie kennt die nackte Angst,
wenn sie, allein in den nassen Luftschutzkeller eingeschlossen, schlafen
muss (sie soll schon in Sicherheit sein,
falls es losgeht), und die tagelange Einsamkeit, wenn sie auf die Mutter wartet,
die nach Nahrung unterwegs ist. Die
Mutter hamstert und tauscht, und vielleicht prostituiert sie sich für das Kind
wegen ein paar Steckrüben. An der Seite
dieser Löwin verblasst Annie, bevor sie
erblühen kann. Die zu starke Mutter hat
immer schon besetzt, was eigentlich Annies Terrain hätte werden sollen. Annie
hat noch keine Periode, da schickt die
Mit bewundernswerter Sensibilität skizziert Annette Pehnt seelische Verletzungen, die die Bezeichnung Missbrauch
verdienen, auch wenn sie nicht justitiabel sind. Wo beginnen die Übergriffe?
Wie werden sie schleichend vom Kind
als normal akzeptiert? Und schliesslich
ersehnt.
Und gespenstisch zeigt das Buch von
Annette Pehnt, dass sich die Liebesgewalt in die nächste Generation hinein
fortsetzt. Über dem hilflos schreienden
Baby wird auch Annie eine zu starke
Mutter, die die Tochter bald mit Liebesentzug («Strafschweigen») und subtil
verführender Erpressung an der Leine
führt: Ich liebe dich – also bist du – also
mache mich glücklich – weil nur du das
kannst. Und wie einst Annie als Tochter
funktionierte, reagiert nun ihr eigenes
Kind. Das Tochter-Ich wird die wutstarrende Annie durch liebenden Körpereinsatz erlösen: «Mit einer Umarmung
könnte ich dich befreien, mit zwei Umarmungen dich zu mir drehen, mit der
dritten einen Glanz in deine Augen drücken, mit der vierten meine Wut vergessen, mit der fünften dich wieder lieben,
mit der sechsten das sagen, was ich
sagen muss, damit alles weitergeht: Ich
hab dich doch lieb, mit der siebten dich
am Hals küssen …»
Und so dreht er sich weiter, dieser
Liebesreigen von Gehirn- und Seelenwäsche. Keine Nähe wird nah genug
sein, weil sie keine Erlösung bringt. Befreiung könnte in der emotionalen und
körperlichen Distanz liegen, die diese
massageseligen, inzestuösen Frauenfiguren nicht leisten können, es sei denn,
es hilft ihnen der Tod. Das Buch endet
mit einem bitter-schönen Bild (das nicht
verraten wird). Es führt leise von der
Mutter Annie zur Mutter Gottes und zitiert das alte Versprechen von Schoss,
Schutz und ewiger Geborgenheit. Wer
diese intime Bestandsaufnahme gelesen
hat, weiss, dass auch dieses Bild eine
Drohung ist. ●
Thriller Wie ein Physiker und Hedgefonds-Manager mit einem Super-Algorithmus die Börse zu
beherrschen glaubt – und von ihr überwältigt wird
Zauberlehrling verliert seinen Besen
er das thematische Engagement für gesellschaftliche Debatten, unabhängig
von ihrem Verkaufspotenzial, teilt.
Die Irrationalität des modernen Finanzkapitalismus, die sich mit der Rationalität zukunftsweisender Physik- und
Mathematikforschungen paart, ist ja
nicht gerade der Stoff, aus dem die
Angstlust-Träume des Thrillerpublikums sind. Höchstens die Masters-ofthe-Universe-Phantasien der Spieler im
grössten Kasino der Weltgeschichte. So
einer ist auch Dr. Hoffmann, obschon
kein klassischer Wall-Street-Hai mit Gecko-Allüren: Dem Cern-Physiker und
Hedgefonds-Manager liegt weniger an
den Milliarden, die er scheffelt, als an
der Technologie, die er dafür erschafft.
Er ist ein Erfinder, der eigentlich um des
Erfindens willen tüftelt, nicht für einen
bestimmten Zweck. Sein Milliardenvermögen ist eher ein Nebenprodukt. Doch
als sein Super-Algorithmus, der die Vola-
Robert Harris: Angst. Aus dem
Englischen von Wolfgang Müller. Heyne,
München 2011. 384 Seiten, Fr. 30.90.
Von Pia Horlacher
Albanien Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
HANS PETER JOST / CHRISTINA KLEINEIDAM
Spätestens seit Polanskis Verfilmung
von «Ghost» kennt man Robert Harris
auch weit über Grossbritannien hinaus.
Mit dem fiktiven Ghostwriter seines
echten Ex-Freundes Tony Blair hatte der
britische Bestsellerautor dem einstigen
Strahlemann der Labour-Politik einen
trüben Spiegel vorgehalten. Dass der
ehemalige Journalist nicht nur politischen Scharfblick besitzt, sondern historisch und literarisch bestens geschult
ist, bewiesen seine früheren Romane –
und auch auf die hatte sich das Kino sofort gestürzt: «Fatherland», sein erstes
Buch und gleich ein internationaler Erfolg, stellt die Frage, was aus der Welt
geworden wäre, hätten die Nazis ihren
Eroberungszug gewonnen; «Enigma»
beschrieb die Spionageabwehr der Briten im Zweiten Weltkrieg mit einem frühen Computermodell; und die «römischen» Romane «Pompeji», «Imperium» und «Lustrum» erweckten Cicero
und seine Zeitgenossen zu einem ganz
neuen Leben im historischen Politthriller (ein Filmprojekt mit Polanski wurde
damals zugunsten von «The Ghostwriter» auf Eis gelegt).
Kein Wunder, ist auch die Verfilmung
des neuen Thrillers von Harris bereits
gesetzt: voraussichtlich mit «Bourne»Regisseur Paul Greengrass. Denn
«Angst», Originaltitel «The Fear Index»,
macht seinen Titel zum Programm, und
seinem Programm alle Ehre: Von der
nervenaufreibenden Einführung seiner
Hauptfigur, dem genialen Wissenschafter und Börsenmathematiker Dr. Alexander Hoffmann, der eines Nachts in seiner Hochsicherheitsvilla am Genfersee
überfallen wird, bis zu seinem schaurigen Science-Fiction-Untergang, der
noch am selben Tag die Finanzwelt mit
sich reissen wird, hält uns Harris in
atemloser Spannung. Dass er dabei alle
Register der Thrillerzeugung zieht, ohne
uns mit den Plattheiten der üblichen Effekthascherei zu verärgern, ist das eine.
Dass er aber auch eine kleine Philosophiegeschichte der Angst und eine grosse Einführung in den modernen Börsenkapitalismus schreibt, Darwin die Reverenz erweist und schöne Hommagen an
die unterschiedlichsten Zauberlehrlinge
und ihre Schöpfer aus Literatur und
Film verteilt (Mary Shelleys Frankenstein, Kubricks «Space Odyssee»-Computer HAL, Crichtons «Jurassic Park»Dinosaurier und mehr) ist das andere.
Ein Zusatzgewinn, den uns wenige Bestseller-Autoren in dieser Bildungsfülle
und literarischen Eleganz bieten. Eines
seiner Vorbilder ist John le Carré, was
man seinem Stil anmerkt. Ein anderes
könnte Michael Crichton sein, mit dem
tilität der Börsen, den sogenannten Fear
Index, beherrschen soll, sich selbständig
macht, haben wir einen weiteren Zauberlehrling, der den Besen nicht halten,
die Atomspaltung nicht rückgängig, das
Genom nicht ungelesen machen kann.
Bis Hoffmann endlich von jener Angst
eingeholt wird, die seiner Hybris hätte
Schranken setzen können, ist es zu spät.
Was wäre, wenn …? Wie in «Fatherland» ist das auch hier die Schlüsselfrage. Und wenn die neuen Herren des
Universums äusserlich den alten NaziHerrenmenschen nicht gleichen mögen,
so lässt Harris doch keinen Zweifel an
ihrer geistigen Verwandtschaft: «Die Finanzmärkte sind Stiefel, die uns ins Gesicht treten», sagte er in einem Interview. Seit er die Branche für den Roman
recherchiert habe, sei ihm klar, dass man
vor ihr mehr Angst haben müsse als vor
den Gefahren chemischer und biologischer Kriegsführung. ●
Wo fahren diese Menschen hin, welche Hoffnungen
nehmen sie mit? Der zerbeulte Camion ist irgendwo
in den albanischen Bergen unterwegs. Die Strassen
sind aufgeweicht, oft reihen sich auf ihren Seitenstreifen verrostete Autos aneinander. Das Land ist im
Übergang. Vor 20 Jahren wurde das kommunistische
Regime Enver Hoxhas gestürzt, seither haben die
Menschen Träume von Freiheit und Wohlstand gehabt
und wieder verloren. Der Zürcher Fotograf Hans Peter
Jost hat beides fotografiert. Wir sehen eine verarmte
Bauernfamilie auf dem einen und eine Frau, die Coca
Cola verkauft, auf einem anderen Bild. Es gibt die
nackte Buntheit der Roma und die Schweizer Heli-
Einsätze mit Hilfspaketen, die umgenutzten und halb
zerstörten Kirchen und die Kadetten der Militärschule
in Tirana, die für die Söhne armer Familien die einzige
Aufstiegschance bot. Die alte Zeit überlieferte ihre
patriarchalen Strukturen, die neue Freiheit brachte
Betonwüsten, bunte Fassaden und Satellitenschüsseln. Auf den Bildern von Hans Peter Jost und in den
Texten von Christina Kleineidam treffen Gegenwart
und Vergangenheit ungebremst aufeinander. Intensiv,
anziehend und erschreckend zugleich. Gerhard Mack
Hans Peter Jost, Christina Kleineidam: Albania in
Transition 1991. Benteli, Sulgen 2011. 280 Seiten,
180 Abbildungen, Fr. 42.−.
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Jennifer Egan porträtiert eine Generation
Vom Klang der
vergehenden Zeit
Jennifer Egan: Der grössere Teil der Welt.
Roman. Aus dem Englischen von Heide
Zeltmann. Schöffling, Frankfurt a. M.
2012. 392 Seiten, Fr. 32.90.
Von Simone von Büren
Bennie Salazar ist Mitte vierzig und
frustriert. Seine Ehe ist gescheitert, sein
sexueller Drang ist ihm abhanden gekommen, und die Bands, die er entdeckt
hat, werden von den Produzenten zugunsten billiger Digitalkonserven fallengelassen. Wo sind die grossen Visionen
geblieben, die er im Jahr 1979 als Punkrocker hatte? Bennie, die zentrale Figur
in Jennifer Egans neuem, 2011 mit dem
Pulitzer-Preis ausgezeichnetem Roman,
ist aber nicht der Einzige, dessen «Züge
von einem seltsamen Erwachsensein
verwässert» worden sind. Auch seine
Assistentin Sasha hat das Leben gezeichnet, und sein Jugendfreund Scotty
fragt, was zwischen A und B passiert ist,
wobei «A ist, als wir beide in der Band
und hinter demselben Mädchen her
waren. B ist jetzt.»
Die New Yorker Autorin Jennifer
Egan thematisiert in «Der grössere Teil
der Welt» das Vergehen der Zeit, das
fortlaufend stattfindet, uns aber nur in
bestimmten Momenten bewusst wird.
Sie tut dies, indem sie Einzelschicksale
mit gesellschaftlichen Veränderungen
von der Hippie-Ära zur Facebook-Generation und mit Entwicklungen in der
Musikindustrie vom Punkrock zur Digitalmusik verwebt.
Die Handlung setzt Anfang der 70er
Jahre in San Francisco ein und lässt sich
ungefähr wie folgt zusammenfassen:
Bennie, ein Teenager mit einer kokainschnupfenden Punkband, unterliegt in
der Liebe seinem Freund Scotty, macht
aber Karriere als Musikproduzent in
New York. Seine Assistentin Sasha ist
eine Kleptomanin, die nach einer pubertären Krise in New York studiert, wo sie
den Vater ihrer Kinder trifft und mit
einem Mann schläft, der Jahre darauf am
Ground Zero das Comeback-Konzert
des vereinsamten Scotty organisiert.
Der angelt im East River, wo ein Freund
Sashas ertrinkt. Bennies Frau organisiert die «Selbstmord-Tour» eines
krebskranken Rocksängers, während ihr
Bruder sich an einer Schauspielerin
vergreift, die später zur Rehabilitierung
eines völkermordenden Generals beiträgt.
Brillante Zeitsprünge
Die für ihre Experimentierfreudigkeit
bekannte Autorin präsentiert uns diese
Geschichten nicht linear, sondern beginnt kurz nach 9/11, bewegt sich zurück
in die 70er Jahre, springt in die 90er
Jahre und von dort in die global erwärmte Welt nach 2020. Durch diese Zeitsprünge konfrontiert Egan die draufgängerischen Jugendlichen mit ihren
erwachsenen Entsprechungen: Die kalifornischen Punks werden desillusionierte Eltern in republikanischen Vororten, ihre Kinder leben im Schatten von
Solarzellenfeldern und kommunizieren
via Smartpads.
Jennifer Egan verweilt in einem bestimmten Moment im Leben einer Figur,
um dann brillant in wenigen Sätzen zu
skizzieren, was mit ihr in den nächsten
Jahrzehnten geschehen wird. So erfährt
man im Kapitel über Sashas TeenagerKrise, dass sie in Kalifornien leben wird,
nachdem sie «das College besucht und
sich in New York niedergelassen hatte,
nachdem sie über Facebook den Kontakt
zu ihrem Freund aus College-Tagen aufgenommen und spät geheiratet und zwei
HANSRUEDI GEHRING
TERMITEN AN BORD
Aus dem Logbuch eines schiffsArztes
KRIMINAlROMAN
Als die Welt von
Jennifer Egans
Hippie-Protagonisten
noch in Ordnung war.
Patti Smith bei einem
Auftritt am 11. Mai
1978 in Los Angeles.
Kinder bekommen hatte, von denen eins
leicht autistisch war».
Indem Jennifer Egan jedes der 13 Kapitel aus einer anderen Perspektive erzählt, bewirkt die 49-jährige Autorin im
Leser ein Gefühl der Desorientierung.
Man kann sich in der Landschaft und
Stimmung des Romans nie bequem einrichten, sondern muss stets neu klären,
in welcher Stadt und welchem Jahrzehnt
man sich befindet und durch wessen
Augen man gerade auf die Welt guckt.
Man beginnt, Verbindungen zwischen
den Kapiteln herzustellen, vorhergehende Episoden wieder zu lesen und immer
neue subtile, witzige Bezüge zu entdecken. So wird etwa das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit der in den jungen Bennie verliebten 16-jährigen Rhea
durch die Tatsache bestätigt, dass dieser
sich später an sie als «Rita» erinnert.
Die Desorientierung seitens des Lesers widerspiegelt die Entfremdung, die
Bernhard Falk beginnt im Hafen von Bombay eine eindrückliche Reise
nach Sinn und Ziel seines Lebens. Er gerät in die Wirren rätselhafter
Todesfälle, in denen er gleichzeitig ermittelt und zum Verdächtigen
wird. Dabei ist die Liebesbeziehung zur Assistentin eines skurrilen Termitenforschers zunächst alles andere als hilfreich.
Hansruedi Gehring erzählt in seinem neuen Buch eine Kriminalgeschichte mit unerwarteten Wendungen vor dem Hintergrund feiner,
menschlicher und sympathischer Unzulänglichkeiten.
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Hansruedi Gehring
Termiten an Bord
ISBN 978-3-905910-06-3
240 Seiten. CHF 38
Wolfbach Verlag Zürich
w
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
„Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen. Einfach nur als
Kriminalfall mit einem überraschenden Finale oder als Initiationsgeschichte eines Indienfahrers, der nach allen Ashrams und Gurus den
Meister in sich selber findet.“
Erhard Taverna / Schweizerische Ärztezeitung
Lyrische Prosa Südtiroler Schriftsteller
wird neu entdeckt
Reise zu den
alten
Etruskern
2012 –
Jahr der
Entscheidung
Franz Tumler: Volterra. Wie entsteht
Prosa. Mit einem Nachwort von Johann
Holzner. Haymon, Innsbruck 2011.
87 Seiten, Fr. 14.90.
MICHAEL OCHS ARCHIVE / GETTY IMAGES
Von Martin Zingg
Jennifer Egans Figuren angesichts der
vergehenden Zeit empfinden, wenn sie
plötzlich feststellen, dass die Sprache,
Technologien und Bands, mit denen sie
aufgewachsen sind, nicht mehr «in»
sind und dass sie mit den neuen Formen
nicht zurechtkommen: Die Ältergewordenen kämpfen mit den kryptischen
Kürzeln in den Textnachrichten jüngerer Kollegen und regen sich auf über die
digitalisierten «Musikhülsen, leblos und
kalt wie die Vierecke aus Büroneon» in
der Dämmerung.
Powerpoint-Folien
Im imposantem Resonanzraum des melancholischen Romans bedarf es mit der
Zeit nur weniger Sätze, um ganze Lebensläufe zu skizzieren. Das beweist
Jennifer Egan auf ganz faszinierende
Weise im zweitletzten Kapitel ihres Buches, das ausschliesslich aus Powerpoint-Folien besteht. In ihrem ungewöhnlichen Tagebuch erzählt Sashas
Tochter Alison hier in Stichworten, dass
die Tournee des Rockstars nicht mit
dessen Tod endete; dass Sashas Mann
Arzt wurde, weil er ihren Freund nicht
vor dem Ertrinken retten konnte; und
dass ihr autistischer Bruder besessen ist
von den Pausen in Rocksongs, in denen
man – in analogen Aufnahmen – die Musiker atmen hört.
Pausen sind zentral in Jennifer Egans
dichtem, vielförmigem Text. Denn sowohl die Sprünge zwischen den Kapiteln als auch die Leerräume zwischen
den Powerpoint-Folien funktionieren
als Pausen und erinnern an diese anderen Pausen im Leben, die Momente des
Innehaltens und Zurückblickens, in denen man dieses Summen hört: «… immer
dieses Summen, das vielleicht gar kein
Echo war, sondern der Klang der vergehenden Zeit.» ●
«Volterra», so heisst dieser bezaubernde Text von Franz Tumler: 1962 ist er
zum ersten Mal erschienen, ein Bijou
der Nachkriegsliteratur, und selbst nach
fünfzig Jahren wirkt diese lyrische Prosa
noch immer erstaunlich frisch. Ein Paar
ist gemeinsam unterwegs in Volterra,
dem Ort mit etruskischer Vergangenheit. Zusammen erkunden sie die lebendige Stadt, und nicht weit davon entfernt
liegt Ansedonia, eine untergegangene
Stadt, eine archäologische Fundstätte.
«Der Unterschied ist nicht gross», heisst
es wiederholt.
Gegenwart und Vergangenheit liegen
nahe beieinander, und dennoch rücken
beide leicht in die Ferne, wenn es darum
geht, sie sprachlich zu «fassen». Der ungemein dichte Text behauptet dies nicht,
sondern führt es vor und wagt eine behutsame Einkreisung. Er tastet sich
voran, voller Zweifel und Skrupel, ob
dem Wahrgenommenen denn zu trauen
sei – und damit den Worten, die das
Wahrgenommene erst freilegen und beglaubigen sollen. Die Nachprüfung einer
Erinnerung erweist sich als riskant.
Das Prosastück wird eskortiert von
einem Werkstattbericht, «Wie entsteht
Prosa», worin Tumler seine Arbeit an
diesem Text beschreibt. Der Kommentar bildet mit seinem Gegenstand ein
Ganzes, und dieses führt vor, wie komplex der Vorgang des Schreibens ist.
Wie weit er bisweilen getrennt ist von
den Absichten des Autors. Dessen Vorstellungen «werden in Wörter und Sätze
gebracht; anders können sie nicht sichtbar werden; jetzt geschieht es – und sie
zeigen sich nun als das, was diese Wörter enthalten». Die Mitgift der Sprache
ist nicht zu umgehen.
Der im Südtirol geborene Schriftsteller Franz Tumler (1912 bis 1998) ist in
den letzten Jahren etwas in Vergessenheit geraten. Das ist zu bedauern, lässt
sich aber auch korrigieren: Der Haymon
Verlag in Innsbruck macht derzeit die
wichtigsten Werke von Tumler wieder
zugänglich, beispielsweise die Erzählung «Nachprüfung eines Abschieds».
Und zum Vorschein kommt ein aussergewöhnlicher Erzähler, der nach frühen
politischen und literarischen Irrungen
einen eigenen, sehr gewinnenden Ton
gefunden hat. ●
CHF 26.90,
gebunden,
192 Seiten
978-3-280-05447-5
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<wm>10CFWMMQ6DMBAEX3TW7jp32LkyokMpIno3iJr_VwE6imlGo1mW9IKbz_xd518SeLkxEE1J99IROTUv7FNCDIF6k3REpz96A3tU1HE1Bp16kMZq7kPUoK7D6VjVyrHtfzt_8PSAAAAA</wm>
«Nouriel Roubini, Marc
Faber, Robert Shiller:
Die Weltwirtschaft
kennt viele Männer, die
berühmt waren, weil sie
große Krisen präzise
voraussagten.
Eigentlich gehörte
Walter Wittmann auch
in diese Reihe.»
Die Zeit
www.ofv.ch
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Erzählungen Alltagsporträts einer amerikanischen Kleinstadt – in zwei Übersetzungen
Ort der zerbrochenen Träume
Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio.
Aus dem Amerikanischen von Eike
Schönfeld. Manesse, Zürich 2012.
304 Seiten, Fr. 31.50.
Sherwood Anderson: Winesburg, Ohio.
Aus dem Amerikanischen und mit einem
Essay von Mirko Bonné. Schöffling &
Co., Frankfurt a. M. 2012. 328 S., Fr. 32.90.
Anfang des 20. Jahrhunderts kamen
viele amerikanische Schriftsteller nach
Paris, um sich das europäische, das französische Lebensgefühl anzueignen und
an den ästhetischen Auseinandersetzungen jener Zeit teilzuhaben. Viele von
ihnen wurden zu Expatriierten wie Gertrude Stein, deren Haus in der Rue de
Fleurus am Jardin du Luxembourg sozialer Treffpunkt und dichterische
Werkstatt der Amerikaner war. Auch
Sherwood Anderson suchte die Stein
auf, als er 1921 nach Paris kam. Anders
als viele ihrer Besucher – Hemingway,
Fitzgerald, Kay Boyle, William Carlos
Williams – war Anderson kein junger
aufstrebender Schriftsteller, sondern ein
etablierter Autor mittleren Alters. Es
war ein Reverenzbesuch: Steins künstlich-schlichte Syntax war für die Ausformung seines eigenen Stils entscheidend.
Stein ihrerseits fand, dass Anderson
eine besondere Begabung für den Satzbau hatte – er könne «einen einfachen
und gefühlsgetränkten Satz» schreiben.
Aus solchen Sätzen, in denen die syntaktische Schlichtheit Gefühlsstürme
verbirgt, bestehen die einundzwanzig
Geschichten in Andersons «Winesburg,
Ohio». Es sind «interlinking stories»:
Geschichten, die in sich abgeschlossen und dennoch miteinander so verschränkt sind, dass sie erst zusammengenommen ihre Spannung entfalten und
ein Ganzes ergeben. Das Ganze von
«Winesburg, Ohio» ist ein Psychogramm des Kleinstadtlebens, das zur
Chiffre Amerikas wurde.
Scheiternde Lebensentwürfe
Schon kurz nach Erscheinen 1919 wurde
«Winesburg, Ohio» traditionsbildend.
Denn darin machte Anderson den banalen Alltag einer Provinzstadt zum literarischen Motiv und die Kleinstädter zu
dramatischen Figuren. In narrativer
Verknappung werden ganze Lebensentwürfe und ihr Scheitern dargestellt:
Ärzte, Bäcker, Lehrer, Pfarrer, Bauern,
Hausfrauen. Sie haben alle eine verwundete Seele, weil sie ihre Sehnsüchte
weder aufgeben noch erfüllen können.
Sie finden alle den für sie richtigen Sitz
im Leben nicht – sie finden ihre Wahrheit nicht und werden deshalb, wie es
im Vorspann heisst, zu «grotesken Gestalten». Nur einem, dem Kleinstadtreporter George Willard, gelingt es, sich
dem Grotesken zu entziehen, indem er
Winesburg verlässt, um in der Grosstadt
sein Glück – seine Wahrheit – zu suchen.
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
FELIX KOCH / CINCINATTI MUSEUM / GETTY
Von Stefana Sabin
George Willard ist die Hauptfigur.
Sein erotisches und intellektuelles Erwachen, das Entstehen seiner schriftstellerischen Neigung, der Tod seiner
Mutter, schliesslich sein Aufbruch in die
Welt geben eine kohärente Handlung ab.
George hört allen zu, wenn sie von ihren
Enttäuschungen berichten. Es ist George, der sich wie in einer Rückblende an
die «grotesken Gestalten» seiner Jugend
erinnert und von ihnen erzählt.
Oder ist es der «Geist der Erzählung»,
der von den Winesburgern und ihren
gebrochenen Lebensträumen erzählt?
Anderson spielt mit den Gattungen –
mit dem Entwicklungsroman und der
Heimatgeschichte – ebenso wie mit narrativen Strategien – mit dem fragmentarischen Erzählen und der Metafiktion.
Dabei sind die Geschichten einem Realismus verpflichtet, der keine Welt abbildet, sondern eine Welt schafft.
Die komplexe Stimmungslage, die
durch die einfache Sprache entsteht,
macht Andersons Prosa zu einem Abenteuer der Übertragung. Dieses haben
zwei Übersetzer gerade überstanden:
Eike Schönfeld, der 2004 mit dem Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis ausgezeichnet wurde, tendiert in
seiner im Manesse-Verlag erschienenen
Übersetzung zu einer einfachen Sprache, die der metaphorischen Schlichtheit des Originals nahekommt. Mirko
Bonné, dem 2010 der Marie-Louise-Ka-
Leben und Arbeit in
der amerikanischen
Provinz 1920: Junge
Arbeiter stellen
Lautsprecher-Teile
in der Crosley
Manufacturing
Company in Ohio her.
schnitz-Preis zugesprochen wurde,
pflegt in seiner bei Schöffling veröffentlichten Version eher poetisierende Ausdrücke und verleiht dem Text eine verbrämte Melancholie.
Blick hinter die Idylle
«Als George Willard wieder die Main
Street erreichte, war es nach zehn Uhr,
und es hatte zu regnen begonnen. Dreimal ging er die ganze Main Street auf
und ab», übersetzt Schönfeld. Und
Bonné: «Als George Willard auf die
Main Street zurückkam, war es nach
zehn, und es hatte angefangen zu regnen. Dreimal ging er die Main Street der
Länge nach auf und ab.» Beide Übersetzungen sind dem Original treu und treffen doch die konzentrierte Einfachheit
und die suggestive Spannung des Amerikanischen nicht ganz. Schönfeld nennt
seine Übersetzung «Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben
Ohios», Bonnés Untertitel unterscheidet sich nur durch die Wahl der Präposition: «Eine Reihe Erzählungen vom
Kleinstadtleben in Ohio.»
Aber der Untertitel ist eine gezielte
Täuschung: Anderson stellt keineswegs
die Beschaulichkeit des Provinziellen
dar, sondern führt die kleinen grossen
Tragödien hinter der Idylle vor. So
wurde sein Winesburg, Ohio, als Ort der
zerbrochenen Träume auf der literarischen Landkarte eingezeichnet. ●
Dialoge Hannah Arendts erster Ehemann
Günther Anders erinnert sich
Fröhlich war sie
und frech
Kurzkritiken Belletristik
Hans Bender: Auf meine Art. Gedichte in
vier Zeilen. Edition Akzente, Hanser,
München 2012. 112 Seiten, Fr. 18.90.
Mori Ōgai: Die Wildgans. Roman. Aus dem
Japanischen von Fritz Vogelsang. Manesse,
Zürich 2012. 240 Seiten, Fr. 25.90.
Ein halbes Jahrhundert lang hat Hans
Bender die europäische Kulturszene
mitgeprägt. 1954 gründete er – zusammen mit Walter Höllerer – die Zeitschrift «Akzente», die rasch zu einem
der wichtigsten geistigen Foren im
Nachkriegsdeutschland wurde. Daneben brachte er vielbeachtete Prosa- und
Lyrikanthologien heraus. Hans Bender
schrieb aber auch selbst unermüdlich,
vor allem Kurzgeschichten, die seinerzeit viel gelesen wurden. Mittlerweile
ist er ein Mann von 92 Jahren. Im Alter
hat er sich vermehrt der Lyrik zugewandt und pflegt nun den lakonischen,
lapidaren Vierzeiler. Benders oft gereimte Kurzgedichte gehen vom Alltäglichen aus und kehren zu ihm zurück.
Sie sind mitunter schlicht, mitunter
selbstironisch, und zollen der Vergänglichkeit auf ganz uneitle Weise Tribut.
Notate ohne Prunk und Allüre, die an
die Schönheit dürren Holzes erinnern.
Manfred Papst
Der japanische Militärarzt, Schriftsteller und Übersetzer Mori Ōgai (1862–
1922) war ein vielseitiger Intellektueller
und ein weitgereister Mann. Fünf Jahre
lang hatte er in verschiedenen deutschen Städten studiert, unter anderem
bei Robert Koch. Sein «Deutsches Tagebuch» vermittelt ein lebendiges Bild
jener Zeit. Auch einige weitere seiner
Werke wurden ins Deutsche übersetzt,
so der kleine Roman «Die Wildgans»,
der als das Meisterwerk des umtriebigen Autors gilt. Er erzählt in elegantem,
elaboriertem Stil von den Liebesnöten
einer jungen Frau, die sich aus finanzieller Not zur Nebenfrau eines Wucherers
machen lässt, insgeheim aber einen attraktiven Medizinstudenten begehrt.
1962 erschien der zwischen 1911 und 1913
entstandene Roman erstmals im InselVerlag, nun liegt Fritz Vogelsangs Übersetzung in überarbeiteter und mit Anmerkungen versehener Fassung vor.
Elfriede Ostermaier
Jürg Laederach: Harmfuls Hölle.
Erzählungen. Suhrkamp, Berlin 2011,
190 Seiten, Fr. 28.50.
Giacomo Casanova: Meine Flucht aus den
Bleikammern von Venedig. C. H. Beck,
München 2012. 176 Seiten, Fr. 24.50.
In den 2000er-Jahren war es eher still
um Jürg Laederach, den eigenwilligen
Basler Erzähler, Übersetzer, Musiker
und Jazzexperten. 2009 erschienen zum
Glück die «Depeschen nach Mailland»,
ein heiteres Buch, das den Autor im Austausch mit seinem Kollegen Michel
Mettler zeigte. Nun kehrt der 1945 geborene Künstler zu jener Fabulierkunst zurück, die ihn – etwa mit «69 Arten den
Blues zu spielen» (1984) – berühmt gemacht hat. Sprachartistik und Lust an
der Anarchie verbinden sich in den 13
durch einen Herrn Harmful zusammengehaltenen Erzählungen. Sie gleichen in
ihrer Lust am assoziativen Phantasieren
den Improvisationen eines Jazzmusikers, und lassen sich nicht zusammenfassen. Aber sie halten Satz für Satz
Überraschungen bereit. Bei diesem entfesselten Schreiben kann nicht alles gelingen – doch das Geglückte überwiegt.
Beni Bischof
Giacomo Casanovas Memoiren (1725–
1798) berichten vor allem von den erotischen Eskapaden des venezianischen
Autors und Abenteurers. Noch vor diesem vielbändigen Werk schrieb er ein
kleineres Buch, das sich so spannend
liest wie ein Kriminalroman. Es handelt
von der Flucht des gut Dreissigjährigen
aus den berüchtigten Bleikammern des
Dogenpalastes. Dort sass er, nachdem er
1755 wegen «Schmähung der Religion»
verhaftet worden war, 15 Monate lang
ein. Was in seinen Erinnerungen, die er
aus der Distanz von über 30 Jahren zu
Papier brachte, Erfindung und was
Wahrheit ist, lässt sich kaum mehr eruieren. Schliesslich war Casanova ein begnadeter Fabulierer. Sein Erzählen fesselt durch Anschaulichkeit, Dramatik,
Mutterwitz. Noch zu seinen Lebzeiten
erschienen sie auch auf Deutsch. Hier
liegt eine gepflegte Neuübersetzung vor.
Manfred Papst
Günther Anders: Die Kirschenschlacht.
Dialoge mit Hannah Arendt. C. H. Beck,
München 2012. 140 Seiten, Fr. 23.50.
GETTY IMAGES
Von Kathrin Meier-Rust
Die kurze erste Ehe mit Günther Anders
ist im breit erforschten Leben Hannah
Arendts ein farbloser Fleck geblieben.
Drei kurze Erinnerungstexte von Anders verleihen diesem Fleck nun Farbe
– ob es die richtige ist, muss offen bleiben. Denn während der Philosoph, Erzähler und Zeitkritiker Anders sich auf
Notizen aus dem Jahre 1929 beruft, hat
er die Texte in der jetzt publizierten
Form erst Jahrzehnte später verfasst,
unter dem Eindruck von Arendts Tod
1975 nämlich, und sie zudem in den
80er-Jahren nochmals überarbeitet.
Skepsis ist also angebracht bei diesen
«Dialogen mit Hannah Arendt», die
zudem Gespräche von 1929 in direkter
Rede wiedergeben. Und doch – das Bild
dieser lebens- und denkhungrigen jungen Arendt wirkt verführerisch echt.
«Gleichzeitig profund, frech, fröhlich,
herrschsüchtig, schwermütig, tanzlustig» sei sie gewesen, schreibt Anders. So
könnte sie zumindest gewesen sein.
Arendt war damals 23 Jahre alt, hatte
gerade ihre gelehrte Dissertation über
Augustinus beendet und sich, tief verwundet, aus der Liebesbeziehung mit
Heidegger losgerissen. Anders, der damals noch Günther Stern hiess, war vier
Jahre älter und hatte ebenfalls bei Heidegger studiert. Die beiden trafen sich
in Berlin. Auf dem Balkon ihrer ersten
winzigen Wohnung, beim Entsteinen
von schwarzen Kirschen, hingen sie
ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: dem
«Symphilosophieren» oder zusammen
philosophieren, wie sie es nannten.
Dabei ist es vor allem der Mann, der
philosophiert, eher: gespreizte Vorlesungen hält, über das «vor-kopernikanische» Denken der Philosophen, die den
Menschen noch immer ins Zentrum des
Universums stellen. Die Frau hört zu,
fragt, fasst klug zusammen. Was ihn –
naturgemäss – entzückt, ebenso wie die
«Zornesfalte zwischen ihren Brauen»
oder ihr «dankbarer Blick»! Das alles
widerspricht unserem Bild der
grossen eigenwilligen Philosophin,
doch dem realen damaligen Geschlechterverhältnis
könnte
es
durchaus entsprechen. Eine Beziehungsskizze des AndersSpezialisten Christian
Dries ergänzt Anders
Texte aufs Schönste,
indem sie die weiteren
Lebens- und Denkwege
der beiden Protagonisten sorgfältig nachzeichnet. ●
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Am 30. März jährt sich der 100. Todestag des deutschen Bestsellerautors
und Hochstaplers Karl May (1842–1912). Seine Indianer-Romane waren
früher ungemein beliebt, galten aber als jugendgefährdend. Der
Historiker Urs Bitterli erinnert sich an seine eigene heimliche Lektüre
Geliebt, gelesen,
verboten – Karl May
In meiner Jugend gab es die erlaubten und die
verbotenen Bücher. Die erlaubten Bücher holte
ich in der Schulbibliothek oder bekam sie geschenkt. Zu ihnen gehörten, meist in «für die
reifere Jugend» bearbeiteten Ausgaben, Defoes
«Robinson Crusoe», Stevensons «Schatzinsel»,
Coopers «Lederstrumpf», aber auch SJW-Hefte
mit so verheissungsvollen Titeln wie «Mit Volldampf durch fünf Erdteile». Wichtig war für
mich, dass die Bücher in entlegenen Weltgegenden spielten und dass sie spannend waren.
Bei den verbotenen Büchern unterschied
man verschiedene Stufen der Gefährdung,
denen der junge Leser ausgesetzt war. Streng
verboten waren die Groschenhefte von Rolf
Torring, die von den Abenteuern berichteten,
die ihr Held in der weiten Welt mit zähnefletschenden Negern und heimtückisch grinsenden Chinesen zu bestehen hatte. Die Lektüre
solcher unterschwellig rassistischer Literatur,
die man nicht zu Unrecht, aber vielleicht mit
übertriebener Ängstlichkeit als Schund bezeichnete, konnte zu einer Zeit, da Körperstrafen noch als taugliche Erziehungsmittel galten,
unangenehme Folgen haben.
Verboten waren bei uns auch die Bücher von
Karl May. Nie vergesse ich den Ausdruck stummer Sorge auf dem Gesicht meiner Mutter, als
sie mich bei der Lektüre von einem der berühmten grünen Bände mit farbigem Titelbild
überraschte, die in Radebeul bei Dresden erschienen waren. Mein Vater schwieg nicht,
sondern handelte. Er telefonierte dem Herrn
Karl May
Zu Karl May gibt es eine Reihe von Biografien.
Neu erschienen sind Helmut Schmiedt: Karl May
oder die Macht der Phantasie (C. H. Beck, 366
Seiten, Fr. 32.90) und Rüdiger Schaper: Karl
May. Untertan, Hochstapler, Übermensch
(Siedler, 238 Seiten, Fr. 28.50). Bekannt, aber
nicht mehr lieferbar ist Hans Wollschläger: Karl
May. Grundriss eines gebrochenen Lebens
(1965). Im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft
erscheinen laufend Forschungsbeiträge zu Leben
und Werk; Mitarbeiter sind viele Germanisten,
Theologen, Juristen und Mediziner.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
Dr. Dürst, unserem Deutschlehrer an der Bezirksschule. Auch der Dr. Dürst handelte. Er
überprüfte von Zeit zu Zeit den Inhalt unserer
Schulmappen und konfiszierte Bücher mit so
geheimnisvollen Titeln wie «Im Reiche des silbernen Löwen», «Der Schut» oder «Der Schatz
im Silbersee». Ich glaube nicht, dass unser
Deutschlehrer das Verdammungsurteil meiner
Eltern teilte, denn eine Strafe unterblieb.
Die Erwachsenen erschrecken
Die Karl-May-Lektüre beeindruckte uns mächtig. Des Autors bekannteste Inkarnationen, der
Orientreisende Kara Ben Nemsi und der Amerikareisende Old Shatterhand, wurden zu Vorbildern. In der Freizeit übten wir uns im Spurenlesen und erschreckten die Erwachsenen,
indem wir sie anschlichen und mit buchstäblichem Huronengebrüll aus dem Gebüsch hervorbrachen. Auch auf unsere Bildung blieb Karl
May nicht ohne Einfluss. Man übte die Gewandtheit des Mundwerks, indem man den vollen Namen von Kara Ben Nemsis muslimischem
Diener Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul
Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah möglichst rasch auszusprechen suchte.
In stilistischer Hinsicht konnte man von Karl
May ebenfalls einiges lernen. Beim Schreiben
von Aufsätzen entging man der Qual des ersten
Satzes, indem man sich von den Landschaftsbeschreibungen inspirieren liess, mit denen Karl
May seine Bücher gern beginnen lässt. Das las
sich dann ungefähr so: «Am Fusse des Juragebirges, da, wo sich die Aare durch weite Auenwälder ihren Weg bahnt, auf ihrem Laufe Reuss
und Limmat aufnimmt und sich in scharfer Biegung dem Rhein zuwendet, bestiegen mein
Freund Heinz und ich eines schönen Herbsttages das Velo …» Der Dr. Dürst wird bei der Lektüre nicht übel gestaunt haben.
Warum galt die Karl May-Lektüre damals allgemein als jugendgefährdend? Gewiss nicht,
weil man sein Werk wirklich kannte; denn man
hätte selbst bei genauer Lektüre wenig Anstössiges, wohl aber viel moralisch Erbauliches finden können. Aber man wusste, dass Karl May
mehrmals im Zuchthaus war, und das war im
Urteil der streng disziplinierten Schweizer
Nachkriegsgesellschaft ein nicht zu tilgender
Makel. Konnte man die Jugend, so fragten sich
unsere Erzieher, dem Einfluss eines «Zuchthäuslers» aussetzen?
Wer die Lebensgeschichte Karl Mays nachlesen will, hat heute die Wahl zwischen den
beiden Biografien von Helmut Schmiedt und
Rüdiger Schaper, die zum 100. Todestag des
erfolgreichsten deutschen Bestsellerautors erschienen sind. Beide Bücher stellen das Leben
Mays in den Vordergrund und lassen die Werkinterpretation zurücktreten. Schmiedt bietet
eine hervorragende Einführung. Er recher-
«Beim Schreiben von
Aufsätzen entging man der
Qual des ersten Satzes,
indem man sich von den
Landschaftsbeschreibungen
Karl Mays inspirieren liess.»
chiert sorgfältig, nutzt die umfangreiche Fachliteratur mit Umsicht, urteilt nüchtern und ohne
den Anspruch, eine revolutionäre Neudeutung
vorzulegen. Anders Schaper. Dieser nähert sich
einfühlend seinem Helden, sein Urteil ist oft
intuitiv, seine Sprache zuweilen salopp. Durch
gewagte Analogien und forcierte Gegenwartsbezüge versucht er, dem Leser die Neuentdeckung eines verkannten Genies zu ermöglichen.
Kleinkrimineller und Hilfslehrer
Beide Autoren verweilen eingehend bei Karl
Mays Kindheit und Jugend, von der viel Erfreuliches freilich nicht zu berichten ist. Im Jahre
1842 in einem kleinen Dorf am Rande des Erzgebirges als Sohn eines Webers geboren, hatte
Karl May früh grosse Ziele und geringe Aussichten, diese zu erreichen. Er besuchte das
Lehrerseminar, war Hilfslehrer an einer Armenschule, musste jedoch die berufliche Laufbahn wegen kleiner Diebstähle und Gaunereien
aufgeben. Mehrmals kam er hinter Gitter;
Schmiedt spricht von «einer kriminellen Karriere mittleren Ausmasses».
In den Jahren 1874 bis 1880 entwickelte sich
Karl May zum Schriftsteller. Er trat in die
DDP
Zahlreiche Karl May-Romane wurden erfolgreich verfilmt. Im Bild Old Shatterhand (links, Lex Barker) mit Winnetou (Pierre Brice) in «Winnetou I» von Harald Reinl, 1963.
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
nen akademischen Werdegang beharrlich zu
behindern, und solchen, die ihn zaghaft zu fördern suchten, wäre es unvorsichtig gewesen,
den Verdacht aufkommen zu lassen, mein wissenschaftliches Interesse speise sich aus so unlauterer Quelle. Nachher, als Professor unter
Professoren, stellte ich dann freilich fest, dass
viele meiner deutschen Kollegen begeisterte
Karl-May-Leser gewesen waren. Und es konnte
durchaus vorkommen, dass diese Kollegen in
gelöster Stimmung und bei einem Glase Wein
sich an Hadschi Halef Omar erinnerten und
dessen vollen Namen herzusagen wussten. Triviale Neigungen, zu denen sich Professoren bekennen, gewinnen bekanntlich gern den Anschein des Originellen.
Mit dem Hochstapler Karl May befassen sich
beide Biografen eingehend. Schmiedt spricht
von «narzisstischer Identitätsstörung», und
Schaper vergleicht Karl May mit Wilhelm II.
und dessen Hang zur Selbstinszenierung.
Hochstaplerfiguren, wirkliche wie der Hauptmann von Köpenick und fiktive wie Felix Krull,
finden sich im Zeitalter Wilhelms II. in der Tat
auffallend häufig, und es ist verlockend, zwischen den Lügengespinsten Karl Mays und der
fatalen Neigung zum Bluff, welcher die wilhelminische Aussenpolitik charakterisierte, einen
Zusammenhang zu sehen.
ATELIER ADOLF NUNWARZ / BPK
Vergangenheit holt Karl May ein
Wie sich Karl May am liebsten sah: als Kara Ben Nemsi in einem Phantasiekostüm. Aufnahme von 1896.
Dienste eines Dresdner Kolportageverlegers,
verfasste Dorfgeschichten, Humoresken und
erste Abenteuererzählungen. Seine Reiseberichte fanden nach 1890 reissenden Absatz,
auch darum, weil der Autor in eigener Person
unter den Decknamen Kara Ben Nemsi und Old
Shatterhand in ihnen auftrat. Um Authentizität
vorzutäuschen, konsultierte Karl May Lexika
sowie Wörterbücher und las Fachliteratur über
die Länder, in denen seine Romane spielten. Ja
er ging noch einen Schritt weiter: Karl May, der
nie studiert und seine engere Heimat nie verlassen hatte, erschlich sich, über hundert Jahre vor
Karl-Theodor von und zu Guttenberg, einen
Doktortitel, inszenierte sich als Weltreisender
von überragenden Begabungen und verbreitete
in Zeitungen und in der privaten Korrespondenz die Mär langer und abenteuerlicher Aufenthalte in exotischen Weltgegenden. Was er in
seiner Jugend in Ansätzen schon gewesen war,
wurde er nun ganz: ein Hochstapler.
Verlockungen der Ferne
Zur Zeit meines Studiums an der Universität
Zürich war ich der Karl-May-Lektüre längst
entwachsen. Aber ich blieb der Verlockung
durch die Ferne treu: Meine Autoren waren nun
André Malraux, Joseph Conrad oder Graham
Greene. Ganz verschwunden war Karl May aus
meinem Leben nicht. Es war das grosse Verdienst unseres Professors Marcel Beck – böse
Zungen meinen, es sei sein einziges gewesen –,
mit seinen Studenten strapaziöse Studienreisen
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
in den Orient zu unternehmen, und während
wir mit der keuchenden Bagdad-Bahn Istanbul
zustrebten, fuhr Karl May mit. Es war auf dieser
Reise, als wir in einem abgelegenen christlichen Kloster im Gästebuch den Eintrag eines
wagemutigen deutschen Reisenden vom Anfang des letzten Jahrhunderts lasen: «Nach starkem Ritte hier abgestiegen». Wer unterschrieb,
habe ich vergessen, aber ich bin sicher: Kara
Ben Nemsi war es nicht.
«Viele meiner deutschen
Professoren-Kollegen waren
begeisterte Karl-May-Leser
gewesen, wie sie in gelöster
Stimmung und bei einem
Glas Wein oft einräumten.»
Später, als Privatdozent an der Universität,
war eines meiner Forschungsgebiete der überseeische Kulturkontakt, wie er sich in alten Reiseberichten darstellt. Es wäre verwegen zu
behaupten, der Einfluss Karl Mays sei hier
wirksam geworden; denn von Kulturkontakt
verstand der Schriftsteller nichts und von alten
Reiseberichten nur wenig. Als Privatdozent hütete ich mich im Übrigen, Karl Mays Namen zu
erwähnen. Umstellt von Professoren, die mei-
Im Jahre 1895 erwarb Karl May in Radebeul bei
Dresden ein herrschaftliches Haus, die «Villa
Shatterhand». Er hatte nun den erstrebten
Wohlstand erreicht und hätte mit seiner zweiten Frau glücklich sein können. Aber nun begann sich die Kritik an seinen Reiseromanen zu
häufen, und seine Vorstrafen wurden publik.
Die falsche Identität, die Karl May sich gezimmert hatte, fiel in sich zusammen, und daran
änderten einige touristische Reisen in den Orient und nach Nordamerika nichts. Die Bücher,
die er nun schrieb, die Romane «Ardistan und
Dschinnistan», «Winnetou IV» und die Autobiografie «Mein Leben und Streben» sind zwar
interessante Dokumente überspannter ethischer und pazifistischer Gesinnung, vermochten aber uns junge Leser nicht mehr zu fesseln.
Karl May starb im März 1912 in Radebeul, kurz
nachdem er in Wien vor zahlreichem Publikum
einen Vortrag zum Thema «Empor ins Reich
der Edelmenschen» gehalten hatte. Adolf Hitler soll diesem Vortrag beigewohnt haben.
Von Karl May sind in deutscher Sprache
rund 100 Millionen Bücher verkauft worden,
und es liegen Übersetzungen in etwa vierzig
Sprachen vor. Wie ein Autor, der seiner eigenen
Epoche so sehr verhaftet ist, diese überzeitliche
Wirkung haben konnte, wissen auch seine Biografen nicht ganz zu erklären. Vielleicht müsste
man Dramaturg und Psychologe in einer Person
sein, um in genauer Werkanalyse darüber Aufschluss zu gewinnen, wie dieser Schriftsteller
Spannung zu erzeugen wusste und wie er aus
seinen Helden Wesen zu machen verstand,
denen wir uns irgendwie verwandt fühlen.
In der Schweiz ist der Stern Karl Mays verblasst, die Buchhandlungen halten seine Bücher
nicht mehr am Lager. Vor einigen Jahren aber
fand ich in der Bibliothek eines kleinen Hotels
im Münstertal, eingereiht zwischen Blumenund Vogelbüchern, den Band «Durch das Land
der Skipetaren». Es handelte sich um die schöne alte, in Fraktur gesetzte Radebeuler Ausgabe. Ich begann mit Genuss zu lesen, wobei ungewiss blieb, ob dieser dem Text oder der Erinnerung an meine Jugendlektüre entsprang. Ein
Jahr später, als ich im selben Hotel abstieg und
weiterlesen wollte, war das Buch verschwunden. Karl-May-Liebhaber gibt es also noch. l
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere
Geschichte der Universität Zürich.
Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Seine
Zitatenlese für
«Bücher am Sonntag»
ist soeben als Buch
«Falscher Mao, echter
Goethe» bei NZZ
Libro erschienen.
Es gibt keinen
Schriftsteller ohne
fremde Einflüsse. Sie sind
wichtig, weil sie einem
helfen, sich zu definieren
– mit ihnen und gegen sie.
Je mehr man schreibt,
desto mehr fallen die
Einflüsse ab. Wie wenn
man ein Gerüst baut, um
eine Rakete zu starten:
Wenn die Rakete abhebt,
fällt das Gerüst ab.
Salman Rushdie
– Autor an Bodenstation: Roman fertig
zum Start. Alle Systeme bereit. Textcomputer eingeschaltet. Korrekturprogramm auf neue Rechtschreibung
umgestellt. Synonymlexikon auf
Standby.
– Bodenstation an Autor: Ideengenerator?
– Läuft stabil auf zwölf Ideen pro
Minute.
– Notfallset?
– Whiskyflasche aufgefüllt.
– Irgendwelche letzten Worte, bevor
Sie starten?
– Ein kleiner Schritt für mich, ein
grosser Schritt für die Literatur.
– Wie bitte?
– Das werde ich nach der erfolgreichen
Landung sagen. In Stockholm, nicht?
– Solothurn.
– Na ja, immerhin ein Anfang.
– Wir beginnen mit dem Countdown.
Zehn, neun, acht . . .
– Titelseite auf Bildschirm aufgerufen.
– . . . sieben, sechs, fünf . . .
– Seitennummerierung programmiert.
– . . . vier, drei, zwei . . .
– Countdown sofort anhalten. Mayday!
Mayday!
– Bodenstation an Autor: Was ist das
Problem?
– Autor an Bodenstation: Der Thomas
Mann klemmt. Ich kann mich von der
Vorlage nicht lösen.
– Haben Sie versucht, mit dem Hemingway Gegensteuer zu geben?
– Ja, nur löst sich jetzt auch der
Hemingway nicht mehr. Ich muss
dauernd an Stierkämpfe denken.
– Ist Ihr Kreativbooster auf voller
Power?
– Meine Finger zucken schon von
selber nach den Tasten.
– Also alles normal.
– Aber das Einflussgerüst fällt einfach
nicht ab.
– Sieht nach einer echten Imitationskrise aus. Wir müssen zu extremen
Massnahmen greifen. Drücken Sie
kurz den Bestsellerknopf. Aber
wirklich nur kurz!
– Harry Potter schwenkte seinen
Zauberstab und . . .
– Zu lang gedrückt. Bodenstation an
Autor: Mission abbrechen.
– Ich wiederhole:
Mission abbrechen.
– Schade. Und es sollte
doch ein so schöner
Roman werden.
Kurzkritiken Sachbuch
Felix Müller: Die Kunst der Kelten.
C. H. Beck, München 2012. 128 Seiten,
77 Abbildungen, Fr. 13.50.
Lou-Salomé Heer: «Das wahre
Geschlecht». Geschlechterdiskurs im
SPIEGEL. Chronos, 2012. 173 Seiten, Fr. 32.−.
Die Griechen und Römer verachteten
sie als Barbaren, wir bewundern ihre
verschlungenen Ornamente. Die Kunst
der Kelten ist so geheimnisvoll wie
schön und seit Jahren en vogue. 2009
wurde sie im Historischen Museum in
Bern gefeiert. Nun legt der verantwortliche Kurator Felix Müller eine Gesamtdarstellung vor. Im handlichen Taschenbuch mit vielen Abbildungen und Karten führt er in die vielschichtige Materie
ein. Er geleitet die Leser nach Irland,
zeigt uns Grabhügel und Herrschaftsinsignien, er lenkt den Blick auf die Einflüsse der Griechen und zeigt, wie kulturelle Impulse sich über Jahrhunderte
gemischt haben. Immer wieder zeichnet
er mit sicheren Strichen den weiteren
gesellschaftlichen Hintergrund, auf dem
die Überreste zu verstehen sind, welche
Archäologen ans Licht gebracht haben.
Eine Epoche wird greifbar.
Gerhard Mack
Anhand von 35 «Spiegel»-Titelgeschichten zwischen 1962 und 2010 untersucht
Lou-Salomé Heer den Geschlechterdiskurs dieses Magazins: Covergeschichten
zu den Themen Mann und Frau, Ehe,
Treue, Sexualität, Emanzipation. Ausgangspunkt war ihre «Empörung und
Wut» über «biologistische Erklärungen» in den Massenmedien, wie die
Neuzeit-Historikerin in der Überarbeitung ihrer Lizentiatsarbeit schreibt.
Dabei stellt sie fest, dass bei den Popularisierungsversuchen des «Spiegel» seit
den 1990er-Jahren soziobiologische Interpretationen zugenommen hätten,
was man jedoch nicht zwingend als antifeministischen Backlash verstehen
müsse. Der interessierte Leser muss
sich allerdings durch den einschlägigen
Sozio-Psycho-Gender-Jargon kämpfen,
bis er mit diesen durchaus differenzierten Erkenntnissen belohnt wird.
Urs Rauber
Elisabeth Gusdek Petersen (Hrsg.): Das
ist unser Land. Texte von Berufslernenden.
Hep, Bern 2011. 224 Seiten, Fr. 29.−.
August Faselius: Sprichwörter des Alten
Rom. Reprint/Primus, Darmstadt 2012.
276 Seiten, Fr. 16.30.
Von den rund 230 000 Berufslernenden
in der Schweiz hört man nicht viel.
Umso überraschender die Texte, die 16
Schülerinnen und Schüler der Berufsschule für Detailhandel in Zürich hier
vorlegen. Verfasst wurden sie auf Anregung ihrer Lehrerin Elisabeth Gusdek
Petersen im Fach Gesellschaft: Es sollte
jeweils ein Sachthema aus dem Unterricht wie etwa Steuern, Parteien oder
Konsumverhalten mit der eigenen Herkunft und Erfahrung verknüpft werden.
Albona denkt anhand des Dauerstreits
ihrer kosovarischen Eltern über Konflikte nach, Lisa erklärt die Parteienlandschaft der Schweiz, indem sie in Gedanken die Partei ITS = «Immer im Trend
sein» gründet, und Nazlije erklärt ihrer
Cousine in Kosovo die Bedeutung ihres
Schweizerpasses. Um mit den Worten
zu enden: «Du siehst, ich fahre keinen
Porsche, bin nicht steinreich, kann aber
mit meinem Pass durch Europa reisen.»
Kathrin Meier-Rust
«Tempora mutantur» – die Zeiten ändern sich, heisst ein bekanntes lateinisches Sprichwort. Doch von wem
stammt es? Ein Blick in August Faselius’
Buch klärt auf: Es stammt aus der Neuzeit! Die meisten anderen Zitate der
Sammlung sind aber tatsächlich alt, so
wie auch dieser Reprint anmutet. Das
Original wurde nämlich 1859 in Leipzig
gedruckt. Es enthält 1400 der bekanntesten Sentenzen in alphabetischer Reihenfolge. Faselius liefert das authentische
Zitat, übersetzt es und nennt – wenn gekannt – die Herkunft. Er gibt auch einen
knappen Kommentar ab, ergänzt durch
ein sinngemässes Sprichwort auf
Deutsch, wie es in der Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich war. Insofern ist
sein Werk bereits wieder eine eigene
historische Quelle. Ein Büchlein zum
Nachschlagen und Schmökern für Lateiner wie Nichtlateiner, denen das Lesen
von Frakturschrift keine Mühe bereitet.
Geneviève Lüscher
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Medizin Der amerikanische Arzt Siddhartha Mukherjee entmystifiziert
in seinem neuen Buch den Krebs und die Forschung dazu
Jede Krankheit
erzählt
eine Geschichte
Siddhartha Mukherjee: Der König aller
Krankheiten. Krebs – eine Biografie.
Vorwort Fitz Pleitgen. Dumont,
Köln 2012. 760 Seiten, Fr. 34.50.
Von Sieglinde Geisel
Als junger Arzt habe er sich im Klinikalltag vom Krebs ebenso vereinnahmt
gefühlt wie seine Patienten, erzählt Siddhartha Mukherjee. Um sich Distanz zu
verschaffen, habe er begonnen, einen
«Bericht aus dem Schützengraben der
Krebstherapie» zu schreiben. «Doch
bald bekam ich das unabweisliche Gefühl, dass ich nicht über etwas schreibe,
sondern über jemanden.» Auf einmal sei
es darum gegangen, «in den Geist der
Krankheit einzudringen, ihre Persön-
Siddhartha Mukherjee
lichkeit zu verstehen, ihr Verhalten zu
entmystifizieren».
Entstanden ist nun eine «Biografie»
des Krebs, so der Untertitel, doch dies
trifft die Sache nicht ganz. Denn im Mittelpunkt des umfassend recherchierten
Buchs steht nicht die Entwicklung der
Krankheit, sondern unseres Verständnisses von ihr – es geht um die Beziehung zwischen Medizin und Krebs.
«Medizin beginnt mit dem Erzählen von
Geschichten», so Mukherjee, und in der
Tat versteht er es, medizinisches Fachwissen in Geschichten zu verpacken. Er
lässt Forscher, Patienten und Ärzte auftreten (auch sich selbst), nimmt uns mit
ins Labor und auf Kongresse, ohne dabei
die Komplexität der Materie zu leugnen.
Jedes Kapitel beginnt mit einem literarischen oder philosophischen Zitat, das
Gedanken antippt, die ein paar Seiten
später ausgeführt werden.
DEBORAH FEINGOLD / AP
Krebs gab es schon immer
Siddhartha Mukherjee, 42, ist Assistenzprofessor für Medizin an der Columbia
University in New York, wo er sich mit der
wissenschaftlichen Entwicklung der
Krebsmedizin auseinandersetzt. 2011 hat
der in New Delhi geborene Forscher und
Publizist für sein Buch «Der König aller
Krankheiten» den renommierten
Pulitzer-Preis erhalten. Das «Time
Magazine» nominierte den Arzt unter die
100 einflussreichsten Persönlichkeiten.
Mukherjee veröffentlicht regelmässig
Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen,
ist verheiratet und lebt in New York.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
Im Bemühen um Narration verwendet
Mukherjee Verfahrensweisen, die man
aus dem «New Journalism» kennt, und
er tut es so systematisch, dass man bisweilen die routinierte Hand eines
Ghostwriter zu spüren vermeint. Bei
jeder Gelegenheit versetzt er uns in die
Rolle von Augenzeugen: «An einem Dezembermorgen im Jahr 1947 wartete Sidney Farber in einem feuchten, vier mal
sechs Meter grossen Labor in Boston
ungeduldig auf ein Päckchen aus New
York …». Ob man solche Dramatisierungen mag, ist Geschmackssache, der fachlichen Substanz tut es jedenfalls keinen
Abbruch.
Anders als oft behauptet, ist der
Krebs keine moderne Krankheit. Das älteste Zeugnis findet sich bereits in
einem ägyptischen Papyrus von 2500 v.
Chr., dort erscheint er als «geschwollene Masse in der Brust», für die es keine
Behandlung gebe. Herodot berichtet
von der persischen Prinzessin Atossa,
die sich von einem griechischen Sklaven
die Brust entfernen lässt, und von Hippokrates hat die Krankheit ihren Namen:
Ein Geschwür, das Gewebe in der Brust
wie mit dünnen Beinen umklammerte,
liess ihn an den Krebs – kankeri – denken. Die Vier-Säfte-Lehre der Antike sah
die Ursache für den Krebs in der schwarzen Galle, noch bis ins Mittelalter wurde
die Krankheit mit abenteuerlichen Tinkturen und Salben behandelt.
Das moderne Verständnis der Biologie des Krebses beginnt im 19. Jahrhundert mit Rudolf Virchows Erforschung
der Zellteilung. Die durch die Anästhesie möglich gewordene Chirurgie wurde
einen Aufruf für Krebsforschung abzu­
drucken, denn die «Times» könne
«weder das Wort Brust noch das Wort
Krebs veröffentlichen». Durch politi­
schen Druck entschloss sich Nixon 1971,
den «Krieg gegen den Krebs» mit staat­
lichen Institutionen voranzutreiben.
Doch nicht nur die Finanzierung war ein
Problem. Die fehlende Kommunikation
zwischen Forschung und klinischer
Therapie verzögerte die Anwendung
wissenschaftlicher Erkenntnisse ebenso
wie Rivalitäten: Bis in die Sechzigerjah­
re hätten Chirurgen die Chemothera­
peuten als Konkurrenten gesehen.
ANDREJS LIEINS / SCIENCE PHOTO LIBRARY
Emanzipierte Patientinnen
nun zur wichtigsten Behandlung – die
immer radikaleren Operationen vor
allem beim Brustkrebs verstümmelten
die Patientinnen in heute unvorstellba­
rem Mass. Die Erkenntnis, dass der
Krebs mit seiner Fähigkeit, Metastasen
in fernen Körperregionen zu streuen,
keine organische, sondern eine systemi­
sche Krankheit des ganzen Organismus
darstellt, setzte sich erst allmählich
durch. 1947 wurde die erste Chemothe­
rapie erprobt, an leukämiekranken Kin­
dern. Sie erreichte keine Heilung, nur
eine Remission – die Schilderungen sol­
cher verzweifelten und oft aussichtslo­
sen Kämpfe an der vordersten Front der
Forschung gehören zu den bewegends­
ten Passagen des Buchs.
Siddhartha Mukherjee entmystifi­
ziert in seinem Buch jedoch nicht nur
den Krebs, sondern mehr noch die me­
dizinische Forschung: «Eine Krankheit
(…) muss zum Politikum werden, ehe
sie wissenschaftlich bearbeitet werden
kann.» In den frühen Fünfzigerjahren
gelang es der Aktivistin Mary Lasker zu­
sammen mit dem Kinderpathologen
Sidney Farber in den USA eine Lobby zu
schaffen, und zwar in einer Zeit, in der
die «New York Times» sich weigerte,
Siddhartha Mukherjee
schildert in seinem
Buch die bewegende
Geschichte der
Krebsbekämpfung.
Im Bild: Killerzellen
des Immunsystems
(orange) eliminieren
Krebszellen (pink).
Beim Brustkrebs führte der Feminismus
auch zu einer Emanzipation der Patien­
tinnen, die begannen, Druck auf die Me­
dizin auszuüben. Sie forderten experi­
mentelle Behandlungen und wurden zu
einem durchaus zwiespältigen Macht­
faktor. Als «dunkelste Stunde der Krebs­
medizin» bezeichnet Mukherjee die Ära
der hochdosierten, offiziell nicht zuge­
lassenen Chemotherapie, der sich in den
Neunzigerjahren 40 000 Frauen unter­
zogen: Die Studien aus Südafrika, auf die
sich die Hoffnungen auf Heilung grün­
deten, stellte sich als Fälschung heraus.
Bei Krebs gibt es keine einfachen
Wahrheiten, das ist vielleicht die wich­
tigste Botschaft dieses Buchs. In Europa
und den USA erkrankt statistisch jeder
und jede Dritte irgendwann an Krebs –
und doch ist Krebs keine Zivilisations­
krankheit: «Wir betrachten den Krebs
oft als moderne Krankheit, weil seine
Metaphern so modern sind.» Überpro­
duktion, Wachstum und Kontrollverlust
sind die Laster der Moderne – nun keh­
ren sie als wuchernde Zellen wieder.
Die Zivilisation führe nicht zum Krebs,
so Mukherjee, sie habe ihn nur aufge­
deckt. Dass Krebs, nach Herzkrankhei­
ten, die zweithäufigste Todesursache
ist, liegt nur daran, dass wir nicht mehr
an Tuberkulose, Typhus oder anderen
Infektionskrankheiten sterben. Krebs ist
auch eine Alterserscheinung und damit
keine Zivilisationskrankheit, sondern
ein Wohlstandsphänomen.
Nachdem jahrzehntelang trotz inten­
sivster Forschung kein Rückgang der
Sterblichkeit durch Krebs zu verzeich­
nen war, hat sie von 1990 bis 2005 um
15 Prozent abgenommen. Dies hat ver­
schiedene Gründe: Die Abkehr vom Rau­
chen, Früherkennung durch Vorsorge,
hochspezifische Chemotherapien und
die Weiterentwicklung von Operations­
techniken wirken dabei zusammen. Nach
heutigem Verständnis ist Krebs eine ge­
netische Krankheit, denn auch Umwelt­
einflüsse wie Zigarettenrauch erzeugen
Krebs, indem sie Mutationen im Gen­
material von Zellen auslösen. «Krebs ist
in unserem Genom eingebaut», so die
Schlussfolgerung von Mukherjee. Der
Krebs sind wir selbst: Er breitet sich aus,
indem er die normalen Prozesse des
Lebens pervertiert. Die ausser Kontrolle
geratene Krebszelle imitiert die Fähig­
keit der gesunden Stammzelle, sich un­
entwegt zu erneuern: Sie tötet durch ihre
Unsterblichkeit. l
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Imperien Pointierte Debatte unter US-Prominenten zur Rolle Chinas im 21. Jahrhundert
Intellektuelles Quartett im Wettstreit
Henry A. Kissinger, Fareed Zakaria, Niall
Ferguson, David Daokui Li: Wird China das
21. Jahrhundert beherrschen? Eine
Debatte. Pantheon, München 2012.
112 Seiten, Fr. 14.90.
Von Thomas Isler
Ist China die neue Weltmacht? Es ist
nicht das erste Buch, das dieser Frage
nachgeht. Aber es ist eines der unterhaltsameren – und gewiss das sportlichste. Es ist das Transskript der «Munk
Debate», die am 17. Juni 2011 in Toronto
vor 2700 Zuschauern geführt wurde.
Tausende waren via Internet live dabei.
Der Stifter der Debatte, der kanadische
Minenbesitzer Peter Munk, glaubt, dass
Menschen am meisten lernen, wenn sie
die Gelegenheit haben, hochkarätigen
Experten beim Streiten zuzuhören. Er
gründete 2008 einen zweimal jährlich
stattfindenden Anlass nach den Regeln
der Debattierwettbewerbe, wie sie im
angelsächsischen Raum als Form des
Schulsports betrieben werden. In Toronto treten zwei Zweierteams – moderiert und nach klaren Spielregeln – gegeneinander an. Vor und nach der Debatte stimmt das Publikum über die
These des Abends ab. Wer am meisten
Zuhörer überzeugen kann, gewinnt.
Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen? Auf der Seite der Befürworter streiten an diesem Abend Niall Ferguson, Historiker von Weltrang, sowie
David Daokui Li, Ökonomieprofessor in
Peking und Berater der chinesischen
Zentralbank. Auf der Gegenseite kämp-
ARCHIV SCHWEIZERISCHE POST
Die Post Gelber Riese bewegt die Schweiz
Ein Brief kostete 20 Rappen, ein Paket 40 Rappen;
Frauen waren nur Gehilfinnen; 4000 Poststellen
zählte das Land, mindestens eine in jedem Dorf;
lebende Tiere wurden mit einem Etikett versehen und
versendet; Barauszahlungen von Löhnen waren die
Regel, Schlangen vor den Postschaltern zu Monatsende auch; die «Neue Zürcher Zeitung» erschien
dreimal täglich – das war in den 1960er-Jahren.
50 Jahre später liest man diese Geschichten im Buch
«Gelb bewegt», zusammengetragen von Projektleiter
Walter Knobel. Er ist der letzte Postkreisdirektor und
ging Ende 2011 in Pension. Unter anderen berichten
viele Zeitzeugen, wie sich die PTT zur heutigen
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
Schweizerischen Post wandelte. Heute kostet ein
A-Post-Brief 1 Franken, ein Paket 7 Franken, knapp
die Hälfte der Angestellten sind Frauen, aber nur
noch 2300 Poststellen zählt das Land. Zahlungen
erfolgen immer öfters über E-Finance. Die NZZ
erscheint einmal täglich, und die schnellen News auf
www.NZZ.ch. Nur das Postauto fährt seit 90 Jahren
wie eh und je über die Furka (Bild). Und noch immer
warnt das Dreiklanghorn den Gegenverkehr auf den
kurvenreichen Bergstrassen. Gabriela Weiss
Gelb bewegt. Die Schweizerische Post ab 1960.
Hrsg. Schweizerische Post. Stämpfli, Bern 2011.
269 Seiten, Fr. 48.−.
fen Fareed Zakaria, Chefredaktor des
«Time Magazine», sowie Henry Kissinger, ehemaliger Sicherheitsberater und
Aussenminister der USA, der in den
siebziger Jahren die amerikanische Öffnungspolitik gegenüber China einzufädeln geholfen hat.
Ferguson eröffnet die Debatte. Natürlich werde China das 21. Jahrhundert beherrschen, so wie es als weltweit grösste
Volkswirtschaft schon fast alle Jahrhunderte beherrscht habe. Ausnahmen
seien nur das 19. und das 20. Jahrhundert
gewesen. Er zitiert dazu maliziös Belege
seiner Kontrahenten Zakaria und Kissinger. Für Ferguson hat China bereits
heute mehr als nur emsige Fabrikarbeiter zu bieten: Es meldet je länger je mehr
eigene Patente an. Den wichtigsten
Grund chinesischer Vorherrschaft sieht
Ferguson aber im Niedergang des Westens, mitverursacht durch die Finanzkrise. «Das 21. Jahrhundert wird auch deshalb von China beherrscht werden»,
sagt er, «weil sich ein übergewichtiges,
hochverschuldetes und hypersexuelles
Amerika und ein dysfunktionales Europa im Niedergang befinden.»
Zakaria pariert. Etwa mit dem Beispiel Japans, von dem noch vor kurzem
viele angenommen haben, es werde bald
die Welt dominieren. Zakaria weist auf
die abnehmende Bevölkerung Chinas
hin und sagt, noch nie in der Menschheitsgeschichte habe es eine führende
Weltmacht mit schrumpfender Bevölkerung gegeben. Dass China eine Wirtschaftsmacht sei und bleiben werde, bestreite niemand. Das sei aber längst
noch nicht dasselbe wie eine Weltmacht,
was etwa Saudiarabien beweise. Das
grösste Problem Chinas werde künftig
ohnehin die Einbindung seiner wachsenden Mittelschicht sein. In Taiwan
oder Südkorea sei es an einem ähnlichen
Punkt zu blutigen Unruhen gekommen,
weil die Bevölkerung Mitbestimmung
verlangt habe.
All diese Fragen werden laut Zakaria
China derart beanspruchen, dass dem
Land für Dominanz gegen aussen jede
Energie fehlen wird.
Die Debatte wogt hin und her, es
herrscht – vor allem zwischen Ferguson
und Zakaria – kein Mangel an Spott und
Stichelei. Li und Kissinger sekundieren
nach Kräften. Als Li sagt, Europa solle
zuerst den Haushalt in Ordnung bringen, jubelt Ferguson: «So klingt die
Stimme der chinesischen Macht!» Man
sollte sich besser daran gewöhnen. In
einer westlichen Welt mit abgespeckten
Verteidigungsbudgets könnten auch die
USA nicht mehr einfach sagen: «Bis
hierher und nicht weiter.»
Dann folgt die Schlussabstimmung:
Vor der Debatte unterstützten 39 Prozent die These von der künftigen Vormacht Chinas, 40 Prozent bestritten sie,
21 Prozent waren unentschlossen. Nach
der Debatte waren nur noch 38 Prozent
für die These, 62 Prozent stimmten dagegen. Gewonnen hat das Team Zakaria/Kissinger. ●
Staatsführung Der amerikanische Politikwissenschafter John J. Mearsheimer hat einen Essay über
Unwahrheiten in der internationalen Politik geschrieben – brisant, aber zwiespältig
Dürfen Regierungen lügen?
John J. Mearsheimer: Lüge! Vom Wert
der Unwahrheit. Campus, Frankfurt
a. M. 2011. 146 Seiten, Fr. 21.90.
Respekt heischt das schmale Bändchen
für die spannende Einlösung des erklärten Hauptziels: die Bereitstellung eines
analytischen Rahmens, um das Problem
aussenpolitischer Lügen hinsichtlich
Arten, Motiven, Adressaten, Umständen, Chancen und potenziellen Kosten
in den Griff zu bekommen. Der Autor
füllt mit dieser kleinen «Theorie der
Lüge in der internationalen Politik» eine
Forschungslücke. Aufgrund des eigens
zusammengestellten Inventars von rund
drei Dutzend Fällen aus den letzten hundertfünfzig Jahren unterscheidet Mearsheimer fünf Hauptarten internationaler
Lügen:
Erstens die zwischenstaatlichen Lügen;
als Beispiel nennt er Bismarcks Frisierung der Emser Depesche 1870.
Zweitens die Angstmache: etwa die
vier faustdicken Lügen der Bush-Administration zur Begründung des IrakKrieges 2003.
Drittens die strategische Vertuschung.
Dafür steht als Beispiel das Geheimabkommen über US-Atomwaffen in japanischen Häfen von 1969.
Als vierte Art nennt Mearsheimer die
nationalistischen Lügen und erwähnt
die angebliche Flucht, aber tatsächliche
Vertreibung von 700 000 Palästinensern
aus Israel 1948.
Und schliesslich fünftens die Völkerrechtslügen: beispielhaft die humanitäre
Katastrophe der Wirtschaftssanktionen
gegen den Irak 1990–2003 mit der Folge
einer halben Million ziviler Opfer.
Überraschend ist in der Bilanz die
Feststellung, dass Lügen gegenüber anderen Staaten eher selten seien, dass
dafür aber eine umso grössere Neigung
bestehe, das eigene Volk hinters Licht zu
führen. Das gelte besonders für Demokratien mit ehrgeizigen aussenpolitischen Zielen und der Tendenz zu selbstgewählten Kriegen in fernen Regionen.
Die Mehrzahl der Beispiele betreffen die
Aussenpolitik der USA.
Präsidiale Rechtfertigungen
Ob die «noble Lüge» John F. Kennedys
zur Lösung der Kuba-Krise 1962 tatsächlich eine Lüge war, kann bezweifelt werden. Denn das Angebot, die Jupiter-Raketen aus der Türkei im Gegenzug zur
Entfernung der sowjetischen Raketen
auf Kuba abzuziehen, war keine Konzession, weil die Schliessung des türkischen
Stützpunktes schon zuvor entschieden
worden war. Kennedy hat in der Medienkonferenz nicht die ganze Wahrheit
gesagt, wozu er nicht verpflichtet war.
Der Fall gehört eher in die Kategorie le-
RUE DES ARCHIVES / KEYSTONE
Von Alois Riklin
gitimen Verschweigens. Der Sachverhalt
ist in einer von Mearsheimer nicht beachteten Harvarder Fallsammlung dokumentiert, zusammen mit zwei anderen, allerdings zweifelsfreien Beispielen, die in seinem Inventar fehlen: Die
Verstrickung der Nixon-Administration
in die chilenische Allende-Affäre 1970
und die Meineide der Hauptakteure der
Iran-Contra-Affäre 1984–86 vor einem
parlamentarischen Untersuchungsausschuss während der Reagan-Ära.
So schonungslos der scharfe Beobachter internationale Lügen analysiert
und offenlegt, so fragwürdig sind seine
freigebigen Rechtfertigungen. Mearsheimer glaubt zu wissen, dass «Regierungen aller Art» aussenpolitische
Lügen als nützliche Mittel der Staatskunst betrachteten und manchmal sogar
als «moralische Pflicht» empfänden.
Aber nicht nur die Regierungen und
Politiker dächten so, vielmehr hielten
«die meisten Menschen» das Lügen für
einen festen Bestandteil der internationalen Politik. Sie verstünden sehr wohl,
dass sich Regierungen zum Nutzen des
eigenen Landes so verhalten würden. Im
Gegensatz zur Innenpolitik und den
meisten anderen Lebensbereichen würden Lügen in der Aussenpolitik allgemein als «akzeptabel», «selbstverständlich», unter Umständen als «klug»,
«notwendig», ja sogar als «tugendhaft»
angesehen. Mearsheimer wird nicht
müde, diese seine Botschaft mantramäs-
Zwischen «nobler
Lüge» und legitimem
Schweigen:
John F. Kennedy
unterzeichnet
die Erklärung zur
Blockade Kubas am
29. Oktober 1962.
sig zu wiederholen. Handkehrum mutiert die angebliche Überzeugung anderer zu seiner eigenen. Es gebe «gute»,
«zwingende», «sehr vernünftige» oder
gar «sinnvolle» strategische Gründe,
das eigene Volk zu belügen, die Verbündeten zu täuschen und das Völkerrecht
zu brechen.
Für den Frieden verheerend
Massstab zur Legitimierung aussenpolitischer Lügen ist nach Auffassung
Mearsheimers das nationale Interesse.
«Wo es um die Aussenpolitik geht, entschuldigt der Erfolg die Lüge, oder der
Erfolg macht sie zumindest erträglich.»
Unentschuldbar sind Lügen, die dem nationalen Interesse schaden. Schädlich
war im Urteil Mearsheimer die lügnerische Angstmache zur Ausweitung des
Vietnam-Krieges (1964) und zur Auslösung des Irak-Krieges (2003), weil beide
Kriege in ein «Desaster» führten. Trotz
dieser Desaster mutmasst Mearsheimer,
es werde kaum lange dauern, bis die USA
einen neuen «Kreuzzug» begännen.
Mearsheimer gilt als Begründer des
sogenannten «offensiven Neorealismus». Meines Erachtens ist diese nationalegoistische
Staatsräson-Ideologie
einer «moralfreien» utilitaristischen Erfolgsethik jedoch für Frieden und Gerechtigkeit auf Erden verheerend. ●
Alois Riklin ist emeritierter Professor
für Politikwissenschaft der Universität
St. Gallen.
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Zahlenlehre Von Denkfallen, Irrtümern und einer Reise durch das Reich der Mathematik
Die Krux mit der
Wahrscheinlichkeit
Christian Hesse: Achtung Denkfalle! Die
erstaunlichsten Alltagsirrtümer und wie
man sie durchschaut. C. H. Beck,
München 2011. 224 Seiten, Fr. 25.90.
Marcus Du Sautoy: Eine mathematische
Mystery Tour durch unser Leben. C. H.
Beck, München 2011. 318 Seiten, Fr. 28.50.
Alex Bellos: Alex im Wunderland der
Zahlen. Berlin Verlag, Berlin 2011.
480 Seiten, Fr. 34.50.
Von André Behr
DENIS DOYLE / GETTY IMAGES
Mathematisches Denken durchzieht die
Kulturgeschichte der Menschheit seit
den Anfängen. Es begann mit dem Studium von Zahlen, geometrischen Figuren
und Körpern und ist heute als Werkzeug
in allen naturwissenschaftlichen Disziplinen unabdingbar. Auch im Alltag benutzen wir dieses Werkzeug jeden Tag,
manchmal allerdings äusserst fehlerhaft. Insbesondere scheint uns Menschen jeglicher Sinn für Statistik und
Wahrscheinlichkeiten abzugehen.
Bestimmt dieser Makel nur unser
Verhalten beim Lotto oder Roulette, ist
er zu verkraften, versucht man uns jedoch politisch gefärbte Statistiken unterzujubeln, oder erhalten wir gar eine
Krebsdiagnose, wird es ernsthafter. Spätestens dann kann Christian Hesses
Buch «Achtung Denkfalle» helfen, das
uns in die «Stochastik» genannte Kunst
des Vermutens einführt. Mit luziden Argumenten leuchtet der Autor die «kognitive Kampfzone» der Mittelwerte, des
folgerichtigen Schliessens und des Entscheidens, der kuriosen Zufälle oder
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
stehen die «Millennium-Probleme», für
deren Lösung das Clay Mathematics
Institute in Cambridge, Massachusetts,
im Jahr 2000 je eine Million Dollar auslobte. Da der Russe Grigorij Perelman
inzwischen eines davon enträtselt hat,
blieben Sautoy noch fünf, was angesichts des Reichtums an vermittelten
mathematischen Ideen kaum auffällt.
Das Millennium-Problem, dessen Lösungsversuche zum Teil mit Wahrscheinlichkeitstheorie zu tun haben,
stammt aus dem 19. Jahrhundert. Zu bewältigen sind die sogenannten NavierStokes-Gleichungen. Sie beschreiben
Turbulenzen in Flüssigkeiten und
Gasen, aber niemand weiss, ob sie überhaupt lösbar sind. Du Sautoy gibt sie am
Ende des Kapitels auf zwei Zeilen wieder, zuvor erzählt er jedoch sehr lebendig und verständlich, wie Mathematiker
immer wieder Methoden erfunden
haben, um mit verlässlichen Voraussagen zu glänzen. In der Astronomie etwa
zur Berechnung von Kalendern oder zur
Frage, ob die Erdbahn um die Sonne stabil ist, in der Biologie zur Modellierung
von Populationsentwicklungen und im
Sport zur Berechnung der Flugbahn
eines Fussballs, was immer aktuell wird,
wenn ein Cristiano Ronaldo zu einem
seiner gefürchteten Freistösse anläuft.
Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus –
mit viel Esprit und über zehn Kapitel in
«Feierabendlänge», denn Hesse schreibt
gerne und gut, vor allem abends nach
getaner Arbeit an der Uni Stuttgart.
So diskutiert er beispielsweise den
Test auf Prostatakrebs (PSA). Man
weiss, dass ein Prozent aller 60-jährigen
Männer, die sich Vorsorgeuntersuchungen unterziehen, an diesem Krebs leiden. Der PSA-Test wiederum hat eine
Trefferwahrscheinlichkeit von 80 Prozent. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein positiv Getesteter krank
ist? Entgegen unserer Intuition verschlechtert ein positives PSA-Resultat
die Wahrscheinlichkeit, Prostatakrebs
zu haben, nur geringfügig. Sie beträgt
lediglich 3,9 Prozent, was leider selbst
manchen medizinischen Fachleuten
nicht bewusst ist.
Verflixter Testfehler
Hesse vermittelt dieses erstaunliche Resultat sehr plausibel. Da es 20-mal wahrscheinlicher ist, dass der Test einen Fehler begeht als dass der Getestete Prostatakrebs hat, weist ein positives Ergebnis
auch mit viel grösserer Wahrscheinlichkeit auf einen Testfehler hin, als auf
Krebs. Genau berechnen kann man die
Prognose, wenn man gelernt hat, zwischen bedingten und unbedingten
Wahrscheinlichkeiten zu unterscheiden.
Das Thema Stochastik taucht auch in
Marcus du Sautoy’s mathematischer
«Mystery Tour» auf. Wie Hesse trägt
der 46-jährige Oxforder Professor seinen Stoff in Form von Geschichten vor,
die man einzeln lesen kann. Im Fokus
Wohin der Fussball
fliegt, lässt sich nicht
exakt voraussagen.
Cristiano Ronaldo von
Real Madrid bei einem
seiner gefürchteten
Freistösse, hier gegen
Olympique Lyon am
10. März 2010.
Mit den Zahlen um die Welt
Weder das Verhalten eines fliegenden
Fussballs noch das von Luftströmungen
an Tragflächen eines Flugzeugs lassen
sich heute genau voraussagen. Das ist
ein ernsthaftes Problem, denn in den bei
vielen Phänomenen wichtigen NavierStokes-Gleichungen steckt Chaos, wodurch ein kleiner Fehler in approximativen Lösungen gewaltige Auswirkungen
auf das Ergebnis haben kann. Insofern,
schliesst du Sautoy seinen Exkurs, enthalten diese Gleichungen den Schlüssel
zur Voraussage der Zukunft.
Reisen im wörtlichen Sinn hat der
englische Journalist Alex Bellos für sein
Buch «Alex im Wunderland der Zahlen»
unternommen, die ihn zu verschiedenen
Protagonisten der Mathematik unterschiedlichster Couleur auf der ganzen
Welt führten. In Japan besuchte er etwa
einen Wettbewerb, wo Kinder mit ihrem
Können auf dem japanischen Rechenbrett Soroban brillierten, in Deutschland die Weltmeisterschaft im Kopfrechnen, in London den Urheber der
Sudoku-Manie. In Indien ging Bellos
den Spuren der indischen Mathematik
nach, in New York interviewte er ein
Brüderpaar, das mehrere Rekorde zur
Berechnung der Zahl Pi hält. Zwischendurch tischt er etwas viel «Wunder» auf,
aber auch diese Reportagen haben das
Potenzial, Begeisterung für das Werkzeug Mathematik zu wecken. ●
Autobiografie Der britische Historiker Tony Judt hat ein
heiteres Buch über sein langsames Sterben geschrieben
Tony Judt: Das Chalet der Erinnerung.
Hanser, München 2012. 224 Seiten,
Fr. 26.90.
Von Ina Boesch
Die Nächte waren am schlimmsten.
Tagsüber konnte er jemanden bitten,
einen Arm oder ein Bein in eine andere
Position zu bringen, doch nachts lag er
«reglos wie eine moderne Mumie».
Der britische Historiker Tony Judt litt
an der tödlichen Krankheit ALS, einer
neuromuskulären Störung, bei der alle
Muskeln allmählich ihren Dienst versagen. Er spürte, charakteristisch für die
Krankheit, keine Schmerzen und blieb
wahrnehmungsfähig. Während der zwei
Jahre, in denen er zuerst einen, zwei Finger nicht mehr bewegen konnte, dann
ein Bein und schliesslich alle Glieder,
fand er zunehmend Trost in den eigenen
Gedanken. Und als er eine Technik fand,
um seine Erinnerungen zu ordnen, wurden auch die Nächte lichter.
Zu seinem Gedächtnisort, in dem er
nachts seine Gedanken deponieren, neu
anordnen oder zurechtrücken konnte,
machte er ein Chalet in der Schweiz. Als
er 2008 die Diagnose erhielt, kam ihm
ein Hotel in Chesières im Waadtland in
den Sinn, in dem er als Zehnjähriger
einen Urlaub verbracht hatte und das
bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterliess. Dieses Hotel im Chaletstil
wurde zu seinem Speicher der Erinnerungen. Jede Nacht kehrte er nach Chesières zurück, um dort seine Erinnerun-
gen räumlich so zu organisieren, dass er
sie am nächsten Tag diktieren konnte.
Eine Veröffentlichung war anfangs
nicht geplant, glücklicherweise konnte
ihn ein Freund, der Historiker Timothy
Garton Ash, dazu überreden. Herausgekommen ist ein heiteres und tröstliches
Buch mit autobiografischen Vignetten.
Ein persönliches Buch über die europäische Nachkriegszeit. Diese Epoche hat
den 1948 Geborenen schon als Historiker beschäftigt: Mit seinem Buch «Die
Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart» ist Judt einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden – schon dort
hat er die Bedeutung des Raums betont.
In seiner Autobiografie «Das Chalet
der Erinnerungen» geht er von konkreten Erfahrungen aus, die er in kleine Essays verwandelt: über die Städte London, Paris und New York; über das Zugund Busfahren und die Langsamkeit;
über Israel und den Zionismus; über die
Linke und die 68er; über das Bildungssystem in den USA; über Intellektuelle
und Aussenseiter. So nimmt er einen
beispielsweise in die Küche seiner osteuropäisch-jüdischen Grossmutter mit,
kontrastiert deren Kochkunst mit der
damaligen «Ödnis der traditionellen
englischen Küche» und erklärt, warum
indisches Essen einen Teil der britischen Identität ausmacht.
Prägnant seine Schilderung, wie das
rassistische, selbstgefällige Verhalten israelischer Offiziere aus ihm, dem Juden
und Zionisten, einen Antizionisten
machte, und glasklar die Analyse, warum
die Juden die «unnachsichtigsten Kriti-
LÉON GIMPEL / SOCIÉTE FRANÇAISE DE PHOTOGRAPHIE / ULLSTEIN
Letzte Gedanken
Chesières-sur-Ollon
(VD): der gedankliche
Ort, an dem Tony Judt
seine Erinnerungen
festmacht.
ker» ihrer selbst sein müssen. Witzig die
Episoden aus seiner Studentenzeit in
Cambridge, gescheit seine daraus folgernde Kritik am britischen Bildungssystem. Berührend sein offenherziges
Bekenntnis, dass er aufgrund einer kränkenden Erfahrung als Historiker beschloss, Tschechisch zu lernen, und einleuchtend die Folgerung, dass er wegen
dieser Hinwendung zu Osteuropa ein
anderes Bild von Westeuropa gewann.
Ab und an schwingt in den Erinnerungen eine gewisse Nostalgie mit,
manchmal zeigt er auch den Moralfinger, und es ist unerklärlich, warum er,
ein Liebhaber und Kenner unseres Landes, der Schweiz die Kuckucksuhr und
Lederhosen andichtet. Doch diese Einwände können der Qualität seines poetischen Vermächtnisses nichts anhaben.
Tony Judt starb am 6. August 2010 in
New York. ●
Porträt Aus dem exotischen Leben einer Weltrekordhalterin im Dauerbügeln
Powerlady und Selbstdarstellerin
Urs Rauber: Eufemia. Indianisches
Kraftwerk am Uetliberg. Xanthippe,
Zürich 2012 (ET: 1. März). 130 S., Fr. 34.–.
Von Charlotte Jacquemart
Lachen, Bewunderung, Zweifel: Alle
diese Gefühle löst die Lektüre dieses
Büchleins aus. Der Titel «Eufemia – indianisches Kraftwerk am Uetliberg» erschliesst sich einem nicht sofort. Was
soll ein indianisches Kraftwerk sein?
Der Autor und «NZZ am Sonntag»-Redaktor Urs Rauber legt ein gelungenes
Porträt über eine Frau vor, die von Costa
Rica in die Schweiz kam und in Zürich
am Fusse des Uetliberg einem Vulkan
gleich einiges in Bewegung setzte und
immer noch setzt.
Als Leserin kann man sich der Faszination, welche Eufemia ausstrahlt, nicht
entziehen. Und trotzdem schätzt man
sich glücklich, dass der Autor auch die
Frage nach der Selbstinszenierung stellt.
«Mutter Teresa oder Powerlady mit
Hang zur Selbstdarstellung?» Wohl von
beidem etwas. Dem Spass an der Lektüre tut dies keinen Abbruch.
Eufemia Stadler, 1956 geboren, kommt
1982 der Liebe wegen in die Schweiz.
Vieles, was sie tut, tun andere auch: Auswandern, Marathon laufen, Unternehmen gründen, ein grosses Herz für Mitmenschen entwickeln. Anderes tut nur
Eufemia: Sie hält den Guinness-Weltrekord im Dauerbügeln, hat eine Niere gespendet und steckt die zwei MillionenFranken-Erbschaft ihres Ehemannes in
eine therapeutische Hausgemeinschaft.
Der Bügel-Weltrekord, für den Eufemia 555 Hemden an einem Stück faltenfrei in zweieinhalb Tagen und Nächten,
ohne Unterbruch, glättet, illustriert am
besten, wofür die Frau steht und wieso
der Autor sie als «Kraftwerk» bezeichnet: Die Costaricanerin ist zäh, ausdauernd, willensstark, mitunter stur. Sie
lässt sich kaum je von einer Idee abbringen. Bügeln erlernt sie erst 1997 – zwei
Jahre bevor sie den ersten Weltrekord
aufstellt. Die kleine Frau braucht kaum
Schlaf, und Rückschläge sind für sie nur
ein Grund, weiterzumachen.
Da der quirlige Wirbelwind viele Aktivitäten parallel ausübt, ist ein gewisses
Chaos im Alltag fast nicht zu umgehen.
Wenigen geht dies auf die Nerven, viele
bewundern sie dafür – Eufemias Familie
fügt sich. Die Mutter tut viel Gutes. Dass
sie auch darüber spricht und gern im
Rampenlicht steht, nehmen sie auf sich,
wenn auch mit unterschiedlicher Begeisterung. Ihre Tochter Ixchel: «Ich
finde gut, dass sie sich engagiert. Dass
nun aber auch ein Buch über sie erscheinen soll, macht mich ehrlich gesagt
etwas skeptisch (. . .) Muss man denn alle
privaten Sachen über sie wissen?» Eufemia freue sich halt, zur «Cervelat-Prominenz» zu gehören, findet dagegen ihr
Ehemann.
Für die Leser lohnt sich das vorübergehende Eintauchen in den oft schräg
anmutenden Lebenslauf allemal. ●
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Nahostkonflikt Der Jerusalemer Philosoph Sari Nusseibeh sucht nach dem Ausweg aus der Sackgasse
Plädoyer für einen
binationalen jüdischen Staat
Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in
Nahost. Antje Kunstmann, München
2012. 256 Seiten, Fr. 25.90.
Von Klara Obermüller
Allein schon das Fragezeichen im Titel
ist eine Provokation. Und wenn dies von
einem Mann kommt, der die Al-QudsUniversität präsidiert und einmal Stadthalter der PLO in Jerusalem gewesen ist,
dann hat es besonderes Gewicht. Sari
Nusseibeh weiss das und wirft dieses
Gewicht in die Waagschale, wenn er den
Versuch unternimmt, den völlig festgefahrenen Friedensprozess im Nahen
Osten in neue Bahnen zu lenken.
Nichts geht mehr zwischen Israeli
und Palästinensern. Und wenn nichts
mehr geht, gilt es, so Nusseibeh, ein Gedankenexperiment zu wagen und das
Undenkbare zu denken. Die Fragen, die
er sich und seinen Landsleuten stellt,
lauten: Wozu ein eigener Staat? Um welchen Preis? Und macht er angesichts der
von Israel geschaffenen Tatsachen überhaupt noch Sinn? Abschliessende Antworten hat auch Nusseibeh nicht. Aber
er zeigt Optionen auf, analysiert sie und
begründet, was für und was gegen sie
spricht, um schliesslich einen Vorschlag
auf den Tisch zu legen, der so kühn ist,
dass er ihn selbst als «anstössig» bezeichnet. Der Vorschlag geht so: Israel
annektiert die besetzten Gebiete endgültig, die Palästinenser akzeptieren,
dass der Staat Israel jüdisch bleibt, und
erhalten im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, nicht aber die politischen Rechte. «Damit», so Nusseibeh, «wäre der
Staat jüdisch, das Land hingegen binational, und es würde für das Wohl aller
Araber in diesem Land gesorgt.»
Es spricht tiefe Resignation aus diesen Worten. Auch Nusseibeh hatte einmal auf einen eigenen Staat gehofft und
alles getan, um dieses Ziel zu erreichen.
Aber er hat auch die Gewalt erlebt, die
dem Friedensprozess immer wieder im
Wege stand. Und er hat zusehen müssen, wie Politiker ans Ruder kamen, die
alles, nur nicht das Wohl der eigenen
Bevölkerung im Sinne hatten. Es ist deshalb schierer Pragmatismus, wenn er
jetzt zum Schluss kommt, dass eine
Zwei-Staaten-Lösung, wie die Oslo-Verträge sie in Aussicht gestellt hatten, un-
Der Nahostkonflikt ist
weiterhin ungelöst,
das Nebeneinander
von Palästinensern
und Israeli schwierig.
JIM HOLLANDER / EPA
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina?
realisierbar geworden ist. Dass er mit
seinem Vorschlag eines föderalen Regierungssystems in einem binationalen
Land sowohl gegenüber den Palästinensern wie gegenüber den Israeli einen
schweren Tabubruch begeht und beiden
Seiten grosse Kompromissbereitschaft
abverlangt, ist ihm klar, dass seine Idee
weitgehend utopisch ist, ebenfalls. Angesichts der israelischen Siedlungspolitik und der enormen Gewaltbereitschaft
auf beiden Seiten sieht er jedoch keinen
anderen Weg, seinen Landsleuten dereinst ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen.
Um dies zu verdeutlichen, stellt er
seinem «Plädoyer für eine Zivilgesellschaft im Nahen Osten» einen kurzen
Abriss der Geschichte vom Ende des
Ersten Weltkriegs bis heute voran und
verleiht damit seinem Lösungsvorschlag
jene historische Tiefenschärfe, ohne die
er nicht zu verstehen ist. Dass er in seine
Überlegungen stets auch ethische, politologische und staatsphilosophische Erörterungen einfliessen lässt, ehrt ihn.
Wissenschaftsjargon und Theorielastigkeit nehmen seinem Plädoyer jedoch
viel von seiner Schlagkraft. Nusseibeh
ist ein Aufklärer und ein Humanist, der,
statt auf Gewalt, auf Empathie und die
Überzeugungskraft von Ideen setzt. Ein
politischer Charismatiker wie sein Vorbild Mahatma Gandhi ist er leider nicht.
Daher steht zu befürchten, dass sein
Plädoyer ohne konkrete Wirkung bleibt
und sein Kompromissvorschlag weder
bei der einen noch bei der anderen Seite
auf Zustimmung stösst. ●
Bauen Punkto Energiesparen liegt das Holzhaus vor hochtechnologischen Minergie-Bauten
Wohnliche Wärme
Markus Mosimann, Marc Lettau: Das
Holzhaus der Zukunft. Ökologisch bauen
mit menschlichem Mass. Rotpunkt,
Zürich 2012. 319 Seiten, Fr. 36.-.
Von Gabriela Weiss
Ein Haus bauen? Nie. Und dann passiert
es doch – die Skeptiker bauen. Die einen
haben ein schmales Budget, die anderen
sind gerade beim konventionellen Hausbau auf die Nase gefallen, wieder andere
suchten eigentlich den zentrumsnahen
Altbau. Sie alle bauten aber ein Holzhaus, mal abgelegen weit im Grünen,
mal auf kleinem Raum in städtischem
Gebiet. Es ist ihr persönliches Traumhaus geworden. Schnickschnack fehlt.
Muss ein zweites Badezimmer wirklich
sein? Reichen nicht auch 100 Quadratmeter? Was brauchen wir wirklich zum
Leben? Es sind Fragen, welche sich nicht
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
anhand eines Katalogs für Bodenplatten
beantworten lassen.
«Das Holzhaus der Zukunft»: In seiner ausgeklügelten Variante heizt ein
Holzofen in der Mitte des Hauses alle
Räume, keine Radiatoren, keine Lüftung. Und trotzdem – oder gerade deswegen – sprechen die Bewohnerinnen
und Bewohner von wohnlicher Wärme.
In ihrem Buch bringen die beiden Autoren Markus Mosimann, Holzhaus-Bauer
aus Bern, und Marc Lettau, Journalist
beim «Bund», auf den Punkt, worauf es
vor allem ankommt: auf Gemütlichkeit,
ein angenehmes Wohnklima, gute Nachbarschaft.
Zum selbstverständlichen Rest gehört der niedrige Energieverbrauch. Das
ideale Holzhaus kann punkto Energieverbrauch mit Minergie-Bauten locker
mithalten. Bei der verbauten grauen
Energie lassen Holzhäuser in der Regel
konventionelle Bauten weit hinter sich.
Was heute verbaut wird, so stellen die
beiden Autoren fest, habe mit sorgsamem Umgang von Ressourcen wenig
zu tun. Ein Niedrigenergie-Haus verbraucht zwar im Betrieb kaum Energie.
Jene Energie aber, welche in die Herstellung der Baumaterialien gesteckt wurde,
könne die Betriebsenergie über den Lebenszyklus eines Hauses um ein Vielfaches übersteigen. Dem werde heute viel
zu wenig Beachtung geschenkt, schreiben sie. Ihre Lösung: möglichst wenig
Technik, möglichst viele natürliche
nachhaltige Materialien aus der Region.
«Das Holzhaus der Zukunft» ist nicht
nur ein Wegweiser für Bauwillige und
Holzliebhaber; es verweist auch auf
einen alternativen Weg in eine nachhaltige Energiezukunft, ohne auf Wohnkomfort zu verzichten. Die im Buch beschriebenen Skeptiker – «Ich baue nie»
– sind auf ihrem Weg zum Eigenheim zu
Überzeugungstätern geworden. ●
CLAUDIO CASSARO / SCHAPOWALOW
Architekturgeschichte Das berühmteste Bauwerk Roms, das Kolosseum, hörte mit dem Ende der
Antike nicht auf zu existieren; es diente als Wohnhaus, Bühne und Sakralort
Neues Leben blüht aus der Ruine
Erik Wegerhoff: Das Kolosseum.
Bewundert, bewohnt, ramponiert.
Wagenbach, Berlin 2012. 240 S., Fr. 35.50.
Von Geneviève Lüscher
Wer heute Rom besucht, kommt am Kolosseum nicht vorbei. Auch wenn die
Antike nicht besonders interessiert, der
mächtige Rundbau am Ende der Via dei
Fori Imperiali ist ganz einfach nicht zu
übersehen. Zur Touristenkulisse verkommen, garniert mit Gladiatoren in
Theaterkostümen, die als Fotosujets ihr
Geld verdienen, könnte einem das stolze
Monument fast leid tun. Erstmals in seinem Leben spielt es eine Statistenrolle,
isoliert, vom Puls der Stadt abgeschnitten, mehr tot als lebendig. Das muss
nicht so bleiben. Betrachtet man seine
bewegte Vergangenheit, so scheint es
fast sicher, dass auch das Kolosseum
früher oder später wieder ein Eigenleben entwickeln wird.
Der Vergangenheit hat sich der Architekturhistoriker Erik Wegerhoff gewidmet; an der ETH Zürich hat er eine Dissertation zum nachantiken Kolosseum
geschrieben. Die Stadtrömer gingen
nach der Antike wenig zimperlich mit
altem Gemäuer um. Die Bauwerke wurden geplündert, umgebaut, umfunktioniert oder sich selbst überlassen. Vieles
zerfiel, aber dem Koloss halfen die
schiere Masse der verbauten Steine und
seine Mächtigkeit zu überleben. Seine
ursprüngliche Funktion als Theaterort,
wo Mensch und Tier in grausamen Spielen zum Gaudi der Zuschauer dahingemetzelt wurden, war aber im Zeitalter
des aufkommenden Christentums nicht
mehr gefragt.
Aus den folgenden zahlreichen Umnutzungen erwiesen sich laut Wegerhoff
drei als besonders erfolgreich: Erstens
die ab dem 6. Jahrhundert erfolgte Umwandlung der Gewölbe des Amphitheaters in Wohnungen, Läden und Werkstätten. Gleichzeitig installierte eine der
bedeutendsten römischen Adelsfamilien, die Frangipane, hier einen befestigten, palastartigen Wohnsitz. Das Kolosseum befand sich an einer für die Kirche
strategisch eminent wichtigen Stelle,
nämlich in der Mitte zwischen Lateran
und Vatikan. Wollte der Papst von der
einen Kirche zur anderen, musste er am
Rundbau vorbei. Was lag für die Kirche
näher, als sich langsam, aber stetig in
dessen Besitz zu bringen. Im 15. Jahrhundert war es so weit: Die Reste des Kolosseums gehörten der Kurie.
Vor Ostern kommt der Papst
Im 16. Jahrhundert nutzte die Kirche
ihre Deutungshoheit und verwandelte
das Kolosseum zuerst in eine Landschaft
der Evangelien, in der vor eindrücklicher Kulisse Passionsspiele veranstaltet
wurden; später erinnerte man sich wieder der in Vergessenheit geratenen Märtyrer, die in der Arena ihr Leben lassen
mussten, und plante eine mächtige
Märtyrerkirche, die aber nie realisiert
wurde. Ausgeführt wurde lediglich ein
Kreuzweg im Innern, der die Metamorphose der Ruine in einen christlichen
Kultort besiegelte. Davon zeugt noch
heute der alljährliche Auftritt des Papstes vor dem Kolosseum an Karfreitag.
Eine dritte bedeutende Anverwandlung ereignete sich im Verlauf des 18.
Jahrhunderts mit den Bildungsreisenden der «Grand Tour». Das Kolosseum
galt ihnen als malerischer Höhepunkt.
Sie erkannten in den überwachsenen
Mauern neu eine arkadische Landschaft
und glaubten sich – besonders bei nächtlichen Besuchen im Mondschein – in
eine Idealantike zurückversetzt. Gleichzeitig fühlten sie aber auch die Vergänglichkeit allen menschlichen Strebens –
Erhabenheit und Tod, Mythos und Menschenwerk waren hier auf eindrückliche
Weise vereint. Die Reisenden bewunderten nicht nur das Gemäuer. Die mikroklimatischen Bedingungen boten über
250 Pflanzen Raum, so dass diese selbst
zur touristischen Attraktion wurden.
Eine bunte Flora umhüllte die Mauersteine und verhalf dem Monument je
nach Jahreszeit zu einem neuen Kleid.
Der Kreuzweg hingegen verlor an Bedeutung. Papst Pius VII. veranlasste
deshalb Anfang des 19. Jahrhunderts
erste Aufräumarbeiten. Napoleon setzte
sie fort; ihm ging es allerdings um die
Befreiung des antiken Monuments vom
Christentum. Auch erste Ausgrabungen
fanden statt, sie raubten dem Bauwerk
– zum Entsetzen der Reisenden – jede
malerische Anmutung, jede poetische
Qualität. Das Ende der weltlichen Herrschaft des Papstes und die neuen nationalstaatlichen Ideen gingen einher mit
einem
archäologisch-wissenschaftlichen Denken, welches das Bauwerk von
Grund auf «reinigte». Man glaubte, mit
dem Nationalstaat die nachantike Geschichte überwunden zu haben. Der Bau
wurde bis auf seinen Kern von Schutt,
Erde, Vegetation und sämtlichen mittelalterlichen Einbauten befreit, auch die
Kreuzwegstationen fielen.
Tote Touristenattraktion
Heute steht das Kolosseum so da, wie es
nie war – ein purifiziertes, isoliertes
Pseudoartefakt, von dem sorgfältig jedes
Leben ferngehalten wird. Von den durch
Wegerhoff beschriebenen Aneignungen
ist kaum noch etwas sichtbar. Dem Massentourismus tut das keinen Abbruch.
Der Individualtourist kann sich mit Wegerhoffs Buch die bewegte Geschichte
hinter der kahlen Fassade jetzt wenigstens vorstellen.
Der schmucke Reiseführer der andern Art ist die gelungene Umwandlung
einer wissenschaftlichen Studie in ein
Buch für die breitere Leserschaft. Würden doch vermehrt Dissertationen diesen Weg gehen! Die Spezialisten kommen nicht zu kurz. Ein umfangreicher
Anmerkungsapparat, eine Literaturliste
und gleich mehrere Register ermöglichen eine Vertiefung des Themas. Einziger Wermutstropfen sind die bisweilen
etwas dunklen Illustrationen. ●
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Biografie Erstmals wird das turbulente Leben des russischen Malers und Sektenführers
Nikolai Roerich (1874–1947) beleuchtet
Auch die Sowjets führte er an
der Nase herum
Ernst von Waldenfels: Nikolai Roerich.
Maler, Magier, Abenteurer. Osburg,
Berlin 2011. 560 Seiten, Fr. 36.90.
Von Sabina Meier
Zu den Grammophonklängen von Wagners «Parzival» brach die Expedition im
April 1927 von der Mongolei nach dem
geheimnisvollen Tibet auf, dem damals
unzugänglichsten Land der Welt. Leiter
der Expedition war der russische Maler
Nikolai Roerich, der sich zum Guru
einer mystischen Lehre ernannt hatte.
Nichts weniger als die Begegnung mit
den weisen Mahatmas, die die Welt im
Geheimen regierten, und die Gründung
eines eigenen Reiches waren ihm prophezeit worden. Doch es kam anders.
Die Tibeter stoppten die seltsame Karawane und zwangen sie zur Ausreise. Sie
misstrauten der «roten» Expedition aus
der Sowjetunion.
Dem Meister der Maskierung Nikolai
Roerich widmet sich erstmals auf
Deutsch eine ausführliche Biografie, die
den penetranten Künstler nicht gerade
mit Samthandschuhen anfasst. Der in
der Mongolei lebende Journalist Ernst
von Waldenfels stützt sich auf Archivmaterial und neue russische Publikationen und sein Interesse gilt klar dem politischen Hintergrund aller Unternehmungen Roerichs. Das tut der allzu mystisch verdunkelten Persönlichkeit gut.
Nur sind der geschwätzige Stil und die
vielen Abschweifungen oft ähnlich verwirrend wie der rätselhafte Nikolai Roerich selbst.
Künstler, Guru,
Scharlatan: Nikolai
Roerich (rechts)
um 1922/23, mit
seinen Gönnern, dem
Ehepaar Louis und
Nettie Horch, die er
später betrogen hat.
Nikolai Roerich (1874–1947), Sohn aus
einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie
in Sankt Petersburg, stilisierte sich
schon als junger Mann zum Propheten
des Schönen und lehnte alles Abstrakte
ab. Seine frühen erfolgreichen Ölbilder
waren inspiriert von der Märchen- und
Mythenwelt des alten Russland, sie zeigten Waräger und Wikinger, Einsiedler,
Klöster und heidnische Götter. Der arbeitsame Künstler machte sich auch als
Bühnenbildner einen Namen, sogar das
berühmte Ballett «Le sacré du printemps» von Strawinski geht auf Roerichs Idee zurück.
Dank seinem Talent, sich bei Förderern und Mäzenen einzuschmeicheln,
brachte er es bis zum Staatssekretär, was
am Zarenhof dem Rang eines Generals
gleichkam. Parallel zu der steilen Karriere geriet Nikolai Roerich in den Bann
des Okkultismus. Seine Bilder zeigten
die typische theosophische Vermischung mehrerer Religionen, zum Bei24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
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Prophet des Schönen
spiel malte er eine Gottesmutter mit tibetischen Gesichtszügen in einer Kirche
in Smolensk.
Doch dann zwangen Revolution und
Bürgerkrieg die Familie nach New York
in die Emigration. Dort drohte Roerich
der soziale Abstieg, hätte nicht sein
Charisma ihm eine Schar glühender Anhänger verschafft. Diese trafen sich zu
spiritistischen Séancen, in denen sie automatisch zeichneten und schrieben
und Tische durch die Luft flogen. Den
Kern der Gemeinschaft bildeten die nebulösen Botschaften des spirituellen
Führers Mahatma Morya, die von Roerichs Frau Helena übermittelt wurden.
Für Aussenstehende war es offensichtlich, dass die dunklen Prophezeiungen
Moryas in archaischem Russisch als die
Stimme Helenas zu erkennen waren.
Einer der Jünger des Gurus war
der schwerreiche Börsenmakler Louis
Horch. Er finanzierte Roerichs Museum
und Kunstschule in New York, für die er
1929 sogar einen Wolkenkratzer baute,
und die jahrelangen Reisen in Indien,
der Mongolei und China. Allerdings
liess er sich die Schulden peinlich genau
quittieren und als es später zum Bruch
zwischen Guru und Banker kam, wurde
Roerich in Amerika mehrfach verurteilt.
Aber da war er schon auf seinen Landsitz im idyllischen Kullutal in Nordindien entwischt, wo er 1947 von Heimweh geplagt verstarb.
Dem Grössenwahn verfallen
Roerich war ein Meister der Netzwerke
und Imagepflege für seine grössenwahnsinnigen Projekte. Für seine Expeditionen in den 1920er Jahren führte er
die um Zentralasien rivalisierenden
Grossmächte an der Nase herum. Bei
den Briten gab er sich als Amerikaner
aus, bei den Sowjets als buddhistischer
Kommunist. Als ihm die Briten den Weg
in das geschlossene Tibet versperrten,
wollte er Tibet auf einer alten Pilgerroute von Norden her erreichen. Aber
dazu musste man sich mit den Sowjets
gut stellen. Also mobilisierte er in Moskau gewisse okkulte Kreise in der Geheimpolizei, die seine Ideen protegierten. Um den Sowjets Sympathien vorzuheucheln, schrieb er sogar sein Testament um und vermachte ihnen seinen
Nachlass. Was er selbstverständlich
später wieder rückgängig machte. Solche Vermischungen von politischen und
privaten Absichten waren für Nikolai
Roerich charakteristisch.
Eine weitere geniale PR-Idee war der
sogenannte Roerich-Pakt, eine internationale Konvention zum Schutze von
Kulturgütern im Kriegsfall. Kulturhistorische Denkmäler sollten mit einem
vom Künstler entworfenen Zeichen analog dem Roten Kreuz geschützt werden.
Die Kampagne fand nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs grossen
Widerhall. Sie trug dazu bei, dass Anfang der 30er Jahre in allen europäischen
Ländern und in vielen Staaten Lateinamerikas Roerich-Gesellschaften gegründet wurden. Roerichs weltweite
Anhängerschaft, meist aus höheren
Schichten, machten ihn zu einem bestens vernetzten Mann. Als etwa die britischen Behörden ihn aufgrund seines
Doppelspiels mit den Sowjets nicht
mehr nach Indien lassen wollten, entfachte er weltweit einen Sturm der Empörung. Wegen der schlechten Presse
knickte das Empire schliesslich ein und
duldete Roerich fortan in Indien.
Dies alles nur als Scharlatanerie abzutun, wird dem Phänomen Roerich wohl
auch nicht gerecht. Schliesslich haben
nur wenige Künstler gleich zwei Einzelmuseen, das zweite ist in den 1990er Jahren in Moskau eröffnet worden. Vielleicht kann man Roerichs Existenz am
ehesten als Kunstwerk sehen. Er setzte
seine private Kunstwelt vehement öffentlich durch – die Kosten hatten andere zu tragen. ●
Zeitgeschichte Dubiose Geschäfte der deutschen Treuhandanstalt im Zuge der deutschen
Wiedervereinigung
Rabiate Liquidierung der DDR
Dirk Laabs: Der deutsche Goldrausch. Die
wahre Geschichte der Treuhand.
Pantheon, München 2012. 384 Seiten,
Fr. 24.50.
«Abwickeln» lautete das Zauberwort –
der Verkauf und die Liquidierung der
DDR-Betriebe lief an der Schwelle zur
deutschen
Wiedervereinigung
auf
Hochtouren. Im Ergebnis ist das bekannt: Die DDR wurde im Zuge der
Wiedervereinigung von westdeutschen
und -europäischen Firmen quasi zum
Nulltarif aufgekauft. Detaileinsichten in
die Verhandlungs- und Verkaufsumstände sowie Hintergründiges zu den Drahtziehern in den jeweiligen Geschäftsnetzwerken fehlen bis heute jedoch
weitgehend.
Umso verdienstvoller ist darum Dirk
Laabs detaillierte Untersuchung zu diesen Abwicklungsvorgängen, die einem
Wirtschaftskrimi gleichkommt. Laabs
interviewte dazu um die 100 Zeitzeugen
und vertiefte sich in die zeitgenössische
Berichterstattung, während ihm der Zugriff auf amtliche Dokumente verwehrt
wurde. Sein Buch schliesst denn auch
mit einem Appell um Aktenfreigabe an
das Bundesfinanzministerium: Es sei an
der Zeit, mit Fakten zu belegen, dass tatsächlich alles mit rechten Dingen zugegangen sei, wie dies die Treuhandanstalt
und die damalige Bundesregierung stets
versichert hätten. Derweil kommt Laabs
zum entgegengesetzten Schluss: Mit
rechten Dingen ging es ganz und gar
nicht zu.
Die vom DDR-Ministerrat eingesetzte Treuhandanstalt sollte eigentlich das
Volkseigentum der DDR verwalten und
in Kapitalgesellschaften umwandeln.
FRIEDER BLICKLE / LAIF
Von Fritz Trümpi
Hier wurde die DDR
«abgewickelt»:
Die deutsche
Treuhandanstalt in
Berlin, August 1991.
Damit nahm die Regierung eine Forderung der Bürgerrechtsbewegung auf, allerdings in verdrehter Weise: Während
diese das entstaatlichte Volkseigentum
mittels Anteilsscheinen unter der Bevölkerung verteilen wollte, operierte die
Anstalt dahingehend, dass sie ehedem
volkseigene DDR-Firmen zu Schleuderpreisen an Westunternehmen verhökerte. Der Erlös sollte in die Konkursmasse
des ostdeutschen Staates fliessen. Stadtdessen landeten jedoch Gelder in Millionenhöhe in den Taschen gewiefter
Treuhand-Mitarbeiter und ihrer Komplizen – am Ende überwogen bei der
Treuhand nicht die Gewinne, sondern
die Schulden. Das weitgehende Fehlen
von Kontrollen war dafür ebenso mitverantwortlich wie ein von immenser
Hektik geprägtes Chaos in der Treuhandanstalt selbst.
«Ihr handelt mit so etwas Ähnlichem
wie Frischgemüse», zitiert Dirk Laabs
den Generalbevollmächtigten der Treuhand, Norman van Scherpenberg, in
einer Ansprache an deren Mitarbeiter.
Wenn man die Unternehmen einige Monate liegen lasse und auf bessere Angebote warte, könne es sein, dass man am
Ende weniger Geld bekomme, weil der
Wert des Unternehmens in der Zwischenzeit rapide gesunken sei. Wer
schneller verkaufte, kassierte darum saftige Prämien. Dies setzte eine immense
wirtschaftskriminelle Energie frei, die
Dirk Laabs akribisch aufspürt.
Anhand zahlreicher Beispiele legt
Dirks Laabs dar, in welchem Ausmass
sich diese wo und von wem ausgehend
verbreitete. Mit dem Aufdecken der
Treuhand-Veruntreuer lässt er es aber
nicht bewenden. Er nimmt auch die
westdeutsche Regierung und ihre Behörden nochmals genau unter die Lupe
– ihnen war auch finanzpolitisch jedes
Mittel recht, die Einheit möglichst rasch
und um jeden Preis zu vollziehen.
Neben Helmut Kohl und seinem Umfeld lässt Laabs weitere bis heute wohlbekannte Namen in durchwegs unrühmliche Erscheinung treten: Horst Köhler
etwa meinte als Staatssekretär zu bevorstehenden Firmenschliessungen zynisch, es müsse «auch mal gestorben
werden können».
Und auch Thilo Sarrazin zog am gleichen Strick: Als Referent des Finanzministeriums arbeitete er schonungslos
darauf hin, den Ostdeutschen die Bedingungen für die Einheit zu diktieren. Wie
sich diese sodann aus ökonomischer
Sicht vollzog, und wie sich glücksritterliche Trittbrettfahrer der Wiedervereinigung im Windschatten westdeutscher
Spitzenpolitiker auf Kosten der DDRBevölkerung eine goldene Nase verdienten, davon handelt im Kern dieses überaus lesenswerte Buch. ●
Reisebericht Auf den Spuren von Graham Greene durch Sierra Leone und Liberia
Wandern in Westafrika
Tim Butcher: Auf der Fährte des Teufels.
Zu Fuss durch Sierra Leone und Liberia.
Malik, München 2011. 383 Seiten,
Fr. 32.90.
Von Christoph Plate
Tim Butcher ist wieder gewandert. Und
er hat ein Buch darüber geschrieben.
Diesmal ging es von Freetown durch die
Wälder Sierra Leones, Guineas und Liberias bis nach Monrovia. Interessant
war ihm diese Reise, weil sie durch Gebiete führte, in denen bis vor kurzem
Bürgerkriege herrschten. Und weil 74
Jahre zuvor der britische Schriftsteller
Graham Greene mit seiner Cousine Barbara die gleiche Strecke gegangen war.
Butcher verehrt Graham Greene, der
Freetown ein literarisches Denkmal mit
dem Roman «Das Herz aller Dinge» gesetzt hat.
Und auch Tim Butcher ist nicht irgendwer: Zwanzig Jahre lang war er
Journalist, zuletzt als Afrika-Korrespondent des «Daily Telegraph». Dann unternahm er zu Fuss und auf Kähnen eine
Durchquerung der Demokratischen Republik Kongo. Vor 60 Jahren waren solche Fahrten kein Problem, heute sind sie
praktisch unmöglich, weil es kaum noch
Strassen gibt. Über diese wagemutige
Reise durch das kongolesische Herz der
Finsternis schrieb Butcher ein kluges
und mitreissendes Buch, das unter dem
reisserischen Titel «Blood River» ein
Bestseller wurde. Sehr geschickt ver-
knüpft er in dem 2007 herausgekommenen Reisebericht eigene Grenzerfahrungen mit der Geschichte des Landes. Er
wirkt dabei immer grundehrlich, wenn
er über sich selbst, seine kleinen Freunde und grossen Ängste schreibt.
Tim Butchers neues, von Klaus Pemsel vorzüglich übersetztes Buch muss
sich unweigerlich an dem alten messen
lassen. Und es reicht nicht daran heran.
War der Bericht über den Kongo noch
voller Mysterien, der den Leser mitnahm auf eine Exkursion durch ein
Land, dessen Provinzen in Vergessenheit geraten, ist das neue Werk zwar ein
ausgezeichnet
geschriebenes
Geschichtsbuch über Sierra Leone und Liberia. Aber die Reise durch unwirtliches
Gebiet ist nur das Vehikel dafür. ●
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Globalisierung Die Londoner Ökonomin Dambisa Moyo skizziert die Zukunft des Westens
Schwellenländer auf dem Vormarsch
Dambisa Moyo: Der Untergang des
Westens. Haben wir eine Chance in der
neuen Wirtschaftsordnung? Piper,
München 2012. 304 Seiten, Fr. 32.90.
Von Urs Rauber
Dambisa Moyo, 1970 geboren in Sambia,
wurde 2009 vom «Time Magazine» zu
einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gekürt. Im gleichen
Jahr wurde die in Oxford und Harvard
promovierte Makroökonomin vom Weltwirtschaftsforum Davos zu den «Young
Global Leaders» gezählt. Bekannt wurde
sie mit dem Bestseller «Dead Aid»
(2009), mit dem ausgerechnet sie als
Afrikanerin ein Ende der Entwicklungshilfe forderte.
Im neusten Buch nimmt sich die telegen und eloquent auftretende Publizistin, die heute in London lebt, den Umbruch der Weltwirtschaftsordnung vor.
Ähnlich wie Niall Ferguson diagnosti-
ziert sie nach einer 500-jährigen Dominanz des Westens ein Nachlassen der
wirtschaftlichen Potenz der USA und
noch stärker Europas, die auf eine
Schwächung der drei Faktoren Kapital,
Arbeitskraft und Technologie zurückzuführen sei. Diesen Niedergang, der
durch die Finanz- und Verschuldungskrise von 2008 verschärft worden sei,
beschreibt Moyo anhand zahlreicher
Beispiele: etwas ausufernd und nicht
frei von Wiederholungen. Das nicht
immer ganz konsistent aufgebaute Buch
ist für Nicht-Ökonomen eher anspruchsvoll zu lesen.
Gleichzeitig vollziehe sich seit knapp
fünfzig Jahren «Der Aufstieg der Anderen», wie es der Journalist Fareed Zakaria im gleichnamigen Buch nennt, auf
das sich die Autorin ebenfalls stützt. Die
Anderen: das sind in erster Linie China
sowie Indien, Brasilien und Russland –
die BRIC-Staaten. Diese Schwellenländer praktizieren eine Art staatlich gelenkten Kapitalismus, mit dem politisch
gewünschte Massnahmen viel effizienter umgesetzt werden können, weil verzögernde demokratische Einflussmöglichkeiten fehlen.
Im Schlusskapitel skizziert Moyo vier
Szenarien, mit denen der Westen der für
ihn gefährlichen Entwicklung begegnen
könne: 1. Der Westen gibt bis 2050 seine
wirtschaftliche Führungsrolle ab und
wird von den genannten vier Schwellenländern abgelöst. 2. Die USA behalten
auf Jahrzehnte hinaus weiter ihre Vormachtstellung. 3. Die USA (und in geringerem Ausmass Europa) fahren ihre
Schulden zurück, machen den Arbeitsmarkt produktiver und investieren in
Technologien. 4. Die USA erklären ihren
Bankrott als Voraussetzung für einen
wirtschaftlichen Neustart. Damit würde
auch China seine riesigen Kredite in den
USA verlieren und in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gebremst. Auch
wenn die Autorin zum Schluss etwas
vage bleibt, scheint für sie das dritte
Szenario das einzig wünschbare. ●
Die PowerPoint-Präsentation war
gnadenlos: Laut Erhebungen nehmen
Wähler Mitt Romney als glatt und unaufrichtig wahr, als kalten Geschäftsmann und prinzipienlosen «FlipFlopper», der seinen Kern hinter einer
Maske opportunistischer Phrasen verbirgt. Verantwortlich für diese Analyse
waren nicht etwa Wahlstrategen von
Newt Gingrich, der Romney derzeit mit
allen Mitteln um die Nominierung der
Republikaner für die US-Präsidentschaft bringen will. Nein – die Präsentation stammt vom politischen Berater
Alex Castellanos und entstand Anfang
2007 im Auftrag Romneys, der sich damals auf seine erste Präsidentschaftskandidatur vorbereitet hat. Das ist in
The Real Romney (HarperCollins, 400
Seiten) von Michael Kranish und Scott
Helman nachzulesen, der ersten seriösen Biografie des 1946 geborenen Geschäftsmannes und Politikers.
Die Autoren sind Reporter beim
«Boston Globe» und greifen in ihrer
sorgfältig recherchierten und ausgewogenen Darstellung auf die Arbeit ihrer
Redaktion zurück, die Romneys Karriere seit den 1980er Jahren begleitet hat.
Im Januar erschienen, wird das Buch in
den amerikanischen Medien ausgiebig
als zuverlässige Quelle zitiert.
Alex Castellanos geniesst im konservativen Lager einen exzellenten Ruf als
Analytiker. Laut Kranish und Helman
hat er Romneys politische Angreifbarkeit treffend mit «drei M» beschrieben:
«Millionär, Mormone, Massachusetts».
Dass sein Vermögen, sein Glaube und
seine Amtszeit als Gouverneur der
demokratischen Hochburg Romneys
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Februar 2012
BRIAN SNYDER / REUTERS
Das amerikanische Buch Suche nach Mitt Romneys Kern
Mitt Romney im
Wahlkampf, Januar
2012.
Unten die Autoren
Michael Kranish (o.)
und Scott Helman.
Gegnern auch in diesem Wahlkampf
Munition liefern, bestätigt die Analyse
von Castellanos. Für Kranish und Helman demonstriert die Episode aber
auch imponierende Stärken Romneys:
Ebenso intelligent wie diszipliniert, geht
er Problemen systematisch auf den
Grund und ist fähig, aus Fehlschlägen zu
lernen. Dies hat Romney nach einem
Studium an der Jus- und Wirtschaftsfakultät der Harvard University zu einer
steilen Karriere bei der ConsultingFirma Bain und deren Investment-Ableger Bain Capital in Boston verholfen.
Seine Lernbereitschaft wird im laufenden Wahlkampf bestätigt. Hat er sich
2007/08 in Widersprüche über Positionswechsel in ethischen Fragen wie
Abtreibung und Schwulenehe verstrickt, so konzentriert sich Romney
heute erfolgreich auf seine wirtschaftliche Kompetenz. Das Buch zeigt aber
auch, dass der Sohn des Auto-Managers
und Politikers George Romney die Last
der «drei M» nicht wirklich abschütteln kann. Mitt Romney stammt aus
einer elitären Mormonen-Familie. Er
hat seiner Kirche als Missionar in
Frankreich und danach als Bischof in
Boston gedient. Da die christlichfundamentalistische Basis der Republikaner die Heiligen der letzten Tage als
sinistren Kult betrachtet, muss Romney
seine Religion aus taktischen Gründen
aus der politischen Debatte heraushalten. Dies kann ihm jedoch leicht als
Heimlichtuerei ausgelegt werden.
Seine Flexibilität als Gouverneur von
Massachusetts und sein Erfolg bei Bain
lassen die Autoren feststellen, dass
Romney flexibel praktische Ziele
verfolgt und ideologische Positionen
wechselt, wenn ihm dies als sachdienlich erscheint. Kranish und Helman erklären dies glaubwürdig mit Romneys
Verehrung für seinen Vater. Der ältere
Romney war als Gouverneur der demokratischen Hochburg Michigan eine
führende Figur des um 1960 noch starken moderaten Flügels der Republikaner. Er ist 1968 bei seiner Bewerbung
um die Präsidentschaft an unvorsichtigen Äusserungen über den VietnamKrieg gescheitert. Laut den Reportern
will Mitt Romney die Niederlage seines
Vaters wettmachen, hat daraus jedoch
die Lektion gezogen, seine Gefühle
hinter einer kühlen Fassade zu verbergen. Doch nun könnte gerade diese
Maske Romney erneut die Präsidentschaft kosten. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Emil Nolde Puppenzauber in leuchtenden Farben
Agenda März 2012
Basel
Dienstag, 6. März, 20 Uhr
Marc Krebs: Lovebugs – Coffee and
Cigarettes. Buchvernissage in der
«Garage», Binningerstrasse 14.
Thalia, Tel. 061 264 26 55.
Mittwoch, 14. März, 19 Uhr
Christian Müller, Daniel Straub: Die Befreiung der Schweiz. Buchpräsentation.
Raum für Kunst und Literatur, Totengässlein 5. Info: www.kunst-literatur.ch.
Mittwoch, 21. März, 19 Uhr
ANDREAS RASMUSSON
Sigrid Combüchen: Was
übrig bleibt. Ein Damenroman. Lesung, Fr. 17.–.
Literaturhaus,
Barfüssergasse 3,
Tel. o61 261 29 50.
Bern
Dienstag, 6. März, 19 Uhr
NOLDE STIFTUNG SEEBÜLL
Susan Boos: Fukushima lässt grüssen.
Buchpräsentation. Frauenraum,
Reitschule, Neubrückstrasse 8.
Dienstag, 13. März, 20 Uhr
Zahlreiche dieser Bilder sind derzeit (bis 28. Mai
2012) in einer Ausstellung in Hamburg zu sehen. Ein
reich illustrierter Katalog begleitet die Schau. Unser
Bild zeigt das Ölgemälde «Puppen, Blumen und
Papagei» aus dem Jahr 1912. Manfred Papst
Karsten Müller (Hrsg.): Emil Nolde: Puppen, Masken
und Idole. Ernst-Barlach Haus/Corso, Hamburg 2012.
192 Seiten, farbig illustriert, Fr. 36.90.
Zürich
Bestseller Februar 2012
Montag, 5. März, 20 Uhr
Belletristik
Sachbuch
1 Dtv. 588 Seiten, Fr. 17.90.
2 Diogenes. 309 Seiten, Fr. 27.90.
3 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 19.90.
4 Nagel & Kimche. 394 Seiten, Fr. 27.90.
5
C. H. Beck. 402 Seiten, Fr. 25.90.
6 Deuticke. 205 Seiten, Fr. 25.90.
7 Blanvalet. 510 Seiten, Fr. 22.90.
8 Heyne. 1055 Seiten, Fr. 29.90.
9 Kiepenheuer & Witsch. 181 Seiten, Fr. 27.50.
10 Ullstein. 381 Seiten, Fr. 31.50.
1 Hanser. 246 Seiten, Fr. 21.90.
2 Riva. 176 Seiten, Fr. 15.90.
3 Bertelsmann. 701 Seiten, Fr. 35.50.
4 Riva. 200 Seiten, Fr. 14.90.
5
Hanser. 447 Seiten, Fr. 34.90.
6
Orell Füssli. 208 Seiten, Fr. 29.90.
7 Piper. 400 Seiten, Fr. 35.90.
8 Faro. 172 Seiten, Fr. 34.90.
9
Fischer. 188 Seiten, Fr. 27.50.
10 Droemer/Knaur. 250 Seiten, Fr. 30.50.
Jussi Adler-Olsen: Das Alphabethaus.
Paulo Coelho: Aleph.
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Milena Moser: Montagsmenschen.
Catalin D. Florescu: Jacob beschliesst zu
lieben.
Daniel Glattauer: Ewig Dein.
Sandra Brown: Sündige Gier.
Stephen King: Der Anschlag.
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte.
Michael Theurillat: Rütlischwur.
Mittwoch, 14. März, 20 Uhr
Peter Bieri: Wie wollen wir leben?
Lesung, Fr. 15.-. Stauffacher Buchhandlungen (s. oben).
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Barney Stinson: Das Playbook.
Walter Isaacson: Steve Jobs.
Barney Stinson: Der Bro Code.
Patrick-Leigh-Fermor-Abend mit
Gabriele von Arnim. Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62,
Tel. 044 254 50 00.
Dienstag, 13. März, 20 Uhr
Steven Uhly: Adams Fuge. Lesung,
Fr. 18.- inkl. Apéro. Literaturhaus (s. o.).
Samstag, 17. März, 13.30 Uhr
Buchvernissage: Sepia. Kurzgeschichten
aus der Schweiz, und Lesung von Jürg
Seiberth: Kollers Handschuh. Kulturhaus Helferei, Kirchgasse 13. Vorverkauf:
[email protected].
Dienstag, 20. März, 20.30 Uhr
Esther Girsberger: Eveline WidmerSchlumpf.
Arne Dahl: Gier. Lesung
mit Apéro, Fr. 15.-. Orell
Füssli am Bellevue,
Theaterstrasse 8,
Tel. o848 849 848.
Remo H. Largo: Jugendjahre.
Donnerstag, 22. März, 20 Uhr
Tomas Sedlacek: Die Ökonomie von Gut und
Böse.
Martin Ott: Kühe verstehen.
Gerald Hüther: Was wir sind und was wir sein
könnten.
Petra Bock: Mindfuck.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 14. 2. 2012. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
SARA AMALD
Der norddeutsche Maler Emil Nolde (1867–1956) ist
vor allem berühmt für seine Bilder von blühenden
Gärten in leuchtenden Farben. Weniger bekannt ist,
dass er auch ein begeisterter Sammler war. Er trug
Schnitzereien aus Afrika zusammen, Terrakotten
aus China, auch Nippes, Tiere und Heilige, Kunst und
Kitsch. Es blieb indes nicht beim Sammeln. Zwischen
1911 und 1929 malte und zeichnete er die Fundstücke.
Katharina Zimmermann: Der Amisbühl.
Buchvernissage mit Schubert-Liedern.
Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37, Tel. 031 313 63 63.
Frank Goosen: Sommerfest. Lesung,
Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal,
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Bücher am Sonntag Nr. 3
erscheint am 25. 3. 2012
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
26. Februar 2012 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
«Gottfried Schatz ist ein begnadeter Erzähler.»
St. Galler Tagblatt
Zaubergarten Biologie
Wie biologische Entdeckungen unser
Menschenbild prägen
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MzQ1NAAAuTVj-A8AAAA=</wm>
<wm>10CFWMMQrDMBAEX3Rid-U7n6IyuDMuQno1xnX-X0VOl2IZGIbd9-4Fvz234729OoHFjUHn9M2L1ugpFSxrhxgC9ZhoNbO2v97AFhV13I1BUw-GKa1iJH1Q98N0SmX5nNcXTVM3cYAAAAA=</wm>
Spannende Geschichten um biologische
Phänomene und deren Bedeutung für unsere
Kultur. Mit einem Vorwort von Rolf Zinkernagel.
ISBN 978-3-03823-753-2
Fr. 32.– (UVP)
Feuersucher
Die Jagd nach den Rätseln der Lebensenergie.
Jenseits der Gene
Essays über unser Wesen, unsere Welt und unsere Träume.
Schatz verwebt die Geschichte seines wechselvollen
Lebens mit der Schilderung einer Jahrhundertentdeckung.
Ein fesselndes Buch.
Wer bin ich? Woher kommen wir? Was bestimmt unser
Fühlen und Denken? Schatz erzählt uns die Geschichte
des Lebens und unseres Körpers.
ISBN 978-3-03823-677-1
Fr. 34.– (UVP)
ISBN 978-3-03823-780-8
Fr. 32.– (UVP)
www.nzz-libro.ch