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Im Sommer 1992 wurde in Halle an der Saale eine Liste an 30 Adressaten in
Parteien, Ministerien und Medien verschickt, die detaillierte Angaben zu 4.500
Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS enthielt. Die Absender blieben anonym.
Sofort kursierten Kopien der Liste in der ganzen Stadt. Die Bürgerbewegung
Neues Forum ließ in ihrem Büro jeden, der es wollte, Einsicht nehmen und
wurde dafür mit mehreren Gerichts-prozessen konfrontiert.
Darf man das? – Diese Frage beschäftigte in den folgenden Jahren die Gerichte
bis zum Bundesverfassungsgericht. Was wiegt schwerer, der Schutz der
Persönlichkeit eines IM oder das öffentliche Interesse zu erfahren, wer die
Zuträger waren?
Der Berliner Rechtsanwalt Prof. Dr. Peter Raue
vertrat das Neue Forum vor den höchsten richterlichen Instanzen.
Er gibt in diesem Buch eine Übersicht über die widersprüchlichen Argumentationslinien deutscher Gerichte und kommentiert den Spruch der Verfassungsrichter aus Karlsruhe:
„So haben wir gewonnen – im Gefäß eines verlorenen Prozesses!“
Der Journalist Steffen Reichert,
Redakteur bei der „Mitteldeutschen Zeitung“, hat das Geschehen vor Ort erlebt.
Er schildert, wie sich die Enthüllungen in Halle auswirkten und welche Diskussionen sie auch im Kollegenkreis der ehemaligen SED-Parteizeitung entfachten.
Dokumentation einer Auseinandersetzung
mit Beiträgen von Peter Raue und Steffen Reichert
hrsg. vom Verein Zeit-Geschichte(n) Halle
DARF MAN DAS? : Die Veröffentlichung von Stasi-Listen in Halle an der Saale im
Sommer 1992 und die Folgen. Dokumentation einer Auseinandersetzung
mit Beiträgen von Peter Raue u. Steffen Reichert u. e. Vorwort von Edda Ahrberg
Hrsg. vom Verein Zeit-Geschichte(n).
Halle (Saale), 2004
Mit Unterstützung der Landesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt
Zu beziehen über:
Zeit-Geschichte(n) e. V. – Verein für erlebte Geschichte
Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle (Saale)
Tel.: (0345) 20360 -40, Fax: -41
www.zeit-geschichten.de
Redaktion: Heidi Bohley
Gestaltung: Steffi Kaiser
Druck: Druckerei Teichmann, Halle
Fotonachweis
S. 16: Günter Bauer
S. 18: Klaus Ulrich
S. 21: P. P.Lorenz
ISBN 3-9808120-3-0
Schutzgebühr: 2,50 EUR
Inhalt
Edda Ahrberg
Vorwort
Seite
7
Steffen Reichert
„Alle wissen jetzt, dass es alle wissen“
10
Peter Raue
Das Neue Forum und die hallesche „IM-Liste“
– auch eine Prozessgeschichte
54
Anonym (2004)
Stellungnahme zur Veröffentlichung der
so genannten Stasi-Listen im Sommer 1992
72
Anhang
Anonym (1992)
Vorbemerkungen zur Liste der IM-Registrierungen
der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen
Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986 - 1989
74
Bundesverfassungsgericht – Pressestelle –
Pressemitteilung Nr. 33/2000 vom 17. März 2000
77
dazu Beschluss vom 23.Februar 2000 – Az. 1 BvR 1582/94 –
80
zu den Autoren
91
Edda Ahrberg
Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt
Vorwort
Der 40. Jahrestag wurde von der DDR gerade noch so erreicht, wenn auch sehr
angeschlagen, zerbröckelt und unter Aufbietung der allerletzten Kräfte.
Den 41. gab es nicht mehr. Die „Mauer“ war gefallen, obwohl Erich Honecker ihr
noch 100 Jahre prophezeit hatte. Am 9. November 1989, anläßlich der Grenzöffnung, gab das Bundesinnenministerium bekannt, dass 1989 allein bis dahin
225.233 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen waren. Fast
3 Millionen kehrten der DDR insgesamt den Rücken. Die erzwungene Grenzöffnung zeigte das große Bedürfnis der DDR-Bürger nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Begleitet wurde diese Völkerwanderung im Herbst 1989 durch Demonstrationen Hundertausender, auf denen Plakate mit folgenden Aufschriften keine Seltenheit waren: „Wir brauchen keine Staasi mehr!“, „Stasi in den Tagebau!“ und
„Meine Akte gehört mir!“. Von Anfang an war die Sicherung der Aktenbestände
des Ministeriums für Staatssicherheit zur Überprüfung von Abgeordneten, aber
auch zur Rehabilitierung und Aufklärung ihrer persönlichen Vergangenheit das
gemeinsame Ziel der ehemaligen DDR-Bürger. Gegen alle Widerstände wurde
es buchstäblich in letzter Minute vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages durchgesetzt.
Über den Aufwand, den die Erschließung und Verwaltung des Schriftgutes erfordern, wird auch heute immer wieder noch erbittert gestritten. Das StasiUnterlagen-Gesetz ist jedoch das Ergebnis eines langen und konstruktiven
Diskussionsprozesses. Er begann 1989 mit der Belagerung von Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen des MfS, als dort im November/Dezember die
Schornsteine rauchten. Er wurde fortgesetzt mit einer Regelung der Volkskammer der DDR zur Aktenöffnung.
Das Gesetz, welches seit dem 20. Dezember 1991 den Umgang mit den
Unterlagen regelt, trat zwei Jahre nach der Beendigung der Tätigkeit des MfS in
Kraft. Andere osteuropäische Länder, wie z.B. Polen, Ungarn und Tschechien
sind diesen Weg zunächst nicht gegangen. Durch die negativen Erfahrungen
sind sie inzwischen eines Besseren belehrt worden und haben eigene Gesetze
erlassen. In den Begründungen wurde ausdrücklich auf die guten Erfahrungen
7
aus Deutschland hingewiesen. Diese guten Erfahrungen bestehen in folgendem:
- Jeder Betroffene hat das Recht (nicht die Pflicht!) nach Maßgabe des
Gesetzes zu erfahren, was das MfS über ihn gesammelt hat.
- Jeder Betroffene hat das Recht zu erfahren, wer über ihn berichtet hat. Das
beinhaltet häufig auch die Erfahrung, dass insgeheim die Falschen verdächtigt wurden. Erleichterung ist die Folge.
- Rehabilitierungen politischer Urteile und verwaltungsmäßigen sowie beruflichen Unrechts sind möglich.
- Die Aufklärung des eigenen Schicksals, die Kenntnis ungeplanter Lebensknicke und Eingriffe in persönliche Entscheidungen durch das MfS entlasten
häufig von Selbstvorwürfen und quälenden Zweifeln. Missverständnisse können ausgeräumt werden.
- Nicht zuletzt bedeuten die Unterlagen, durch den inneren Überwachungsapparat des MfS bedingt, eine Möglichkeit, Teilen der DDR-Geschichte ungeschminkt ins Auge sehen zu können. Das tut häufig weh. Aber nur auf diese
Weise ist eine Aufarbeitung des Geschehenen möglich, die nicht geprägt ist
durch das Ignorieren der eigenen Beteiligung, Verdrängung der unbequemen
Erinnerungen und die Tradierung von Legenden und propagierten Scheinwirklichkeiten der SED, die ihre Folgen bis zum heutigen Tag haben.
Allein im Jahr 1992 stellten ca. 80.000 Menschen aus Sachsen-Anhalt einen
Antrag auf Einsicht in die Unterlagen des MfS. Die Wartezeit betrug in der Regel
fünf Jahre. Ähnlich war es mit den Überprüfungsanträgen des Öffentlichen
Dienstes. Das bedeutete, dass sehr viele Menschen lange auf Antworten und
Aufklärung warteten, andere dagegen unter dem täglichen Druck standen, jeden
Moment zu ihrer Zusammenarbeit mit dem MfS befragt werden zu können.
Zu den Hinterlassenschaften des MfS gehören nämlich neben fast 90.000
hauptamtlichen Mitarbeitern auch seine Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), d.h. diejenigen Menschen, die sich bereiterklärt haben, mit dem MfS zusammenzuarbeiten und Informationen zu liefern. In der DDR gab es zuletzt noch ungefähr
175.000 IM, davon in den ehemaligen Bezirken Magdeburg und Halle ca.
25.000. Diese Schätzung bezieht jedoch einige Gruppen nicht ein. Es waren
mehr. Aber auch in der Bundesrepublik haben sich während der gesamten Zeit
(1945-1989) immer wieder Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen
und aus den verschiedensten Gründen zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS
verpflichtet. In zahlreichen Gesprächen hat sich in den letzten 15 Jahren herausgestellt, dass es den Inoffiziellen Mitarbeitern schwer fällt, ihren eigenen konkreten Beitrag zur Arbeit des MfS zu erkennen und zu akzeptieren. Sie hatten
damals keinen Einfluss auf die Verwendung ihrer Informationen. Auch positive
8
Informationen konnten nachteilige Wirkungen für die Betroffenen nach sich ziehen: Wenn z.B. jemand über einen Nachbarn berichtete, dass dieser regelmäßig
um sechs Uhr das Haus verließ, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, war es
wahrscheinlich, dass die MfS-Mitarbeiter um acht Uhr nicht bei einer konspirativen Hausdurchsuchung durch ihn gestört wurden. Heute müssen sich die Inoffiziellen Mitarbeiter damit auseinandersetzen, dass sie ein Rädchen im Getriebe
waren. Erst eine intensive Konfrontation mit den Aufzeichnungen des
Führungsoffiziers füllt häufig ihre Gedächtnislücken. Darüber hinaus darf aber
nicht vergessen werden, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter die Maßnahmepläne verfassten, welche dann mit Hilfe Inoffizieller Mitarbeiter und staatlicher
Stellen wie z.B. des Rates des Kreises, Abt. Inneres und Volksbildung sowie der
Betriebsdirektoren durchgesetzt wurden. Das MfS blieb hier im Hintergrund. Es
konnte wie auf die Inoffiziellen Mitarbeiter auch nicht auf die offiziellen Stellen
verzichten. Deshalb ist dieses Zusammenwirken keine Privatsache des Einzelnen. Die Öffentlichkeit und der Einzelne haben das Recht auf Information, denn
Geschichte ist immer konkret und wird von Menschen gemacht. Das ist der
Grundansatz des Stasi-Unterlagengesetzes.
Das öffentliche Auslegen der Liste in Halle hat jeglichem Missbrauch entgegengewirkt. Es hat die Diskussion in einem sensiblen Bereich befördert. Die sich
anschließende Geschichte hat gezeigt, dass keine Hexenjagd stattgefunden
hat.
Die Menschen, denen in der DDR oder von der DDR Unrecht geschah, erwarten zunächst, dass sich jemand zu dem Unrecht bekennt und sich entschuldigt.
Sie könnten ihn dann nach den Gründen für das geschehene Unrecht fragen.
Leider geschieht das aus eigenem Antrieb fast nie. Die, die zum Unrecht beitrugen, sollten begreifen, dass Unrecht geschehen ist und sie daran beteiligt waren.
Das geht in beiden Fällen nicht ohne schmerzhaftes Erinnern, nicht ohne
Trauerarbeit. Der Weg ist lang und steinig, aber in Gesprächen könnte wenigstens ein gegenseitiges Verstehen der Beweggründe und damit ein Akzeptieren
des Geschehenen erreicht werden. Eine Wiedergutmachung der Leiden ist nicht
möglich. Auch sie gehören zum Erbe des MfS und des gesamten Machtapparates der DDR hinzu. Leider wurde in Halle die inhaltliche Diskussion zu den auf
der Liste erfassten Personen nur in Ansätzen geführt. Nicht der „schlechten
Nachricht“, sondern dem Überbringer der „schlechten Nachricht“ wurde nachgegangen. Das ist ein Zeichen mangelnder Zivilcourage und ein Ausdruck von
Konfliktscheu. Die offene Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft des
MfS, auch in Bezug auf die eigene Person, kann jedoch befreien.
9
Steffen Reichert
„Alle wissen jetzt, dass es alle wissen“
1
Es gibt Tage im Leben eines Journalisten, die beginnen so schlecht, dass man
morgens am liebsten wieder nach Hause gehen möchte. Ein solcher Tag ist
Montag, der 13. Juli 1992.
Die Redaktion der „Mitteldeutschen Zeitung“ ist gerade dabei, sich aus dem
Taumel wochenendlicher Schläfrigkeit ins Tagesgeschäft einer Sommerferienwoche zu begeben, da ist es mit der Ruhe auch schon vorbei. Die Lettern, die
an diesem Morgen von den Seiten des Boulevardblatts „Bild Halle“ prangen,
sind so groß, dass sie unschwer übersehen werden können. Von einem Datenskandal ist da zu lesen. Von Menschen, die für die Staatssicherheit gearbeitet
haben sollen, und von Listen mit Tausenden Namen. Das Problem an der Geschichte ist vor allem das: „Bild“ ist nicht nur einer der Wettbewerber in der Stadt,
sondern der Chefredakteur der MZ hat die Angelegenheit bereits zu seiner
Chefsache erklärt. Und das mit der schlimmsten Frage, die man einem Journalisten stellen kann: Warum haben wir die Geschichte nicht?
Die Antwort an jenem Tag zu geben ist einfach und schwierig zugleich.
Schließlich ist dieser braune Packpapierumschlag mit dem auf grünem Papier
kopierten Vorwort zeitgleich am Wochenende auch in der Redaktion der MZ eingegangen. Da dort aber samstags die Poststelle nicht besetzt ist, blieben alle
Briefe inklusive der brisanten Sendung bis zum Montag liegen, bevor sie an die
einzelnen Ressorts weitergleitet wurden. Auch wenn von jenem Tage an die Post
auch am Wochenende im Haus verteilt wird: Die größte Zeitung der Region ist
nur auf Platz zwei verwiesen worden: wegen mangelnder Schnelligkeit.
Ureigenste Aufgabe von Journalisten ist es, öffentlich relevanten Themen nachzugehen, Fragen zu beantworten und die Antworten für den Leser aufzubereiten. Aber wie tut man das bei einer Liste, die anonym ins Haus gekommen und
deren Inhalt publizistischer Sprengstoff ist? 112 per Stempel paginierte Blätter,
die – unterteilt in mehr als 4.500 Zeilen – den Vorwurf des Verrats erheben.
4.500 Namen von Menschen, die in Halle und im Saalkreis inoffiziell für das MfS
gearbeitet haben sollen. Mit Namen und Decknamen, Geburtsdaten und
Registriernummern, mit Kurzdarstellungen des geheimdienstlichen Wirkens.
Namen, die einen anspringen, weil sie jeder kennt: Kommunalpolitiker und
Künstler, Nachbarn und Gastronomen, Wissenschaftler, Sportler und Studenten.
Was tun mit einer Liste, die nach Angaben der Verfasser auch an alle anderen
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Zeitungen, den Oberbürgermeister, an die Landtags- und Stadtratsfraktionen, an
alle Minister und an die Gauck-Behörde gegangen ist? Wie umgehen mit einer
Namenskolonne, deren Angaben so detailliert sind, dass ausgeschlossen
scheint, sie könnte frei erfunden sein? Eine Liste, von der der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, noch am selben Tag auf Anfrage
verkünden wird, dass das „Produkt einer sehr ausführlichen Arbeit“ nicht aus seinem Hause stamme. Doch wie überhaupt all die Fakten überprüfen, wenn die
unerkannt bleibenden Verfasser höchstselbst in ihrem Vorfeld einräumen, „nicht
vollständig fehlerfrei zu sein“?
Aus dem Vorwort zur Liste: „Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt, in welchem Maße die Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die
Staatsmafia der SED rekrutiert wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des Repressionsapparates der Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern,
Spitzeln, Erpressten und Genötigten in sämtlichen Ebenen des staatlichen
Systems eingegriffen hat. Gewollte und ungewollte Verdächtigungen verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften das Klima.“
Nach einer kontroversen und langen Diskussion entscheidet die Redaktion der
MZ an jenem Montag, das Thema in jeder Hinsicht umfassend zu begleiten.
Zwei Reporter werden freigestellt, um sich der Stasi-Listen anzunehmen und
dabei vor allem jene sechs W-Fragen zu klären, die man als erstes im
Journalistikstudium lernt: Wer, was, wann, wie, wo, warum?
Was bleibt, sind zunächst also Fragen ohne Antworten. So dominiert in der
ersten Berichterstattung jener Tage vor allem die Ratlosigkeit. Denn die Bewertung des Umgangs mit denen, die den Verrat betrieben hatten, ist so unterschiedlich wie das auch zwölf Jahre später noch der Fall ist. Der damalige SPDFraktionschef und spätere Regierungschef Reinhard Höppner bemängelt insbesondere die Anonymität der Aufarbeitungsliste. „Wer das bewegen will“, sagt er,
„der muss auch mit seinem Namen dazu stehen: Die Liste wird Verdächtigungen
wachsen lassen.“ Und Höppner kritisiert zugleich, dass die Aufstellung unvollständig sei. So würden die nachweislich als IM geführten Landtagsabgeordneten Gerd Brunner und Manfred Thon fehlen.
Finanzminister Wolfgang Böhmer (CDU), heute selbst Ministerpräsident von
Sachsen-Anhalt, wendet sich vollständig gegen die Liste. „Eine anonyme Liste
dieser Art würde ich jedoch sofort in den Papierkorb werfen“, sagt er.1
1 Klemm, Hendrik; Reichert, Steffen: Staatssicherheit / IM-Namenskartei: Anonyme Absender sorgen für Aufregung.
Aufstellung ging Ministerien und Fraktionen zu – Gauck: Material nicht aus unserer Behörde. In: Mitteldeutsche
Zeitung, 14.07.1992, S. 3.
12
Der bündnisgrüne Fraktionschef Hans-Jochen Tschiche argumentiert wiederum
inhaltlich. Er nennt diesen Versuch der Vergangenheitsaufarbeitung „untauglich“
und vermutet ehemalige Offiziere des MfS als Verfasser. Sein Parteifreund
Wolfgang Kupke, später in die CDU übergetreten, macht dagegen ein „wirksames Mittel zur Vergangenheitsbewältigung“ aus.2
Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit. Aber wo?
2
Eine Liste sorgt für Furore. Über Nacht hat Halle, hat Sachsen-Anhalt ein Thema,
das die Menschen wie kein zweites bewegt. Zu frisch ist noch die Erinnerung an
jene Tage, da das Volk die Machthaber von SED und MfS praktisch davongejagt
hat. Machtvoll jeden Montagabend. Aus Hunderten werden Tausende. Am Ende
sind es Hunderttausende, die überall zwischen Rügen und Görlitz auf die Straße
gehen, um die Freiheit der Presse, der Meinung und des Reisens einzufordern.
Keine zwei Jahre ist es her, dass aus dem machtvollen Ruf „Wir sind das Volk“
der Ruf geworden ist „Wir sind ein Volk“. Exakt 15 Monate liegt es zurück, dass
aus Deutschland Ost und Deutschland West wieder ein geeintes Deutschland
geworden ist. Ein Deutschland, das für Unabhängigkeit im Denken, für die
Freiheit von Forschung und Lehre, aber auch für den Rechtsstaat steht. Und
ganze sechs Monate ist es her, dass eine Bundesbehörde mit ihrer Arbeit
beginnt, um auf der Grundlage eines weltweit einzigartigen Gesetzes jedem
Betroffenen den Zugang zu seiner Stasi-Akte zu ermöglichen. Tausende haben
allein in Halle einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Wie lange es dauern wird,
bis jedes Opfer Einblick nehmen kann, weiß niemand. Und dann gibt es da nun
eine Liste, die an jene gegangen ist, die entscheiden und öffentliche Meinung
machen. Ist das rechtens?
Bernd Stavenhagen in „Hallesches Tageblatt“: „Für Umfragen zu brandaktuellen Themen relativ ungewöhnlich: Über 90 Prozent der gestern Nachmittag von unserer Zeitung spontan um ihre Meinung gebetenen Hallenser
hatten die Presseveröffentlichungen über die anonym versandten Listen
sorgfältig gelesen, die 5.000 ihrer Mitbürger unter Stasi-Verdacht gestellt haben. Ungewöhnlich auch die nahezu übereinstimmenden Ansichten. Holger
Nikolaizig, Maurer: Diese Leute haben genug Schaden angerichtet. Es ist
richtig, ihre Namen bekanntzugeben, denn sie hatten auch kein Mitleid wenn
2 Listen / Verwirrung: Stasi-Auflöser: Wir fanden nur 2.700 Namen in der Kartei. Justizminister Remmers sieht
Verdacht von Geheimnisverrat - Halles Staatsanwaltschaft ermittelt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 15.07.1992, S. 1.
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sie durch ihre Denunziation Karrieren vernichteten. Aber anonyme Schreiben
sind hier fehl am Platze Sie bergen die Gefahr falscher Verdächtigungen. Die
Gauck-Behörde sollte daher nun endlich alle Karten auf den Tisch legen.“ 3
Am Dienstag, dem 14. Juli, tritt auch der Justizminister vor die Presse. Er sehe,
erklärt der Unionspolitiker Walter Remmers in Magdeburg, den Anfangsverdacht, dass ein Behördenmitarbeiter Geheimnisverrat begangen haben könnte.
Denn dass die Daten aus der Gauck-Behörde, die das heftig dementiert, stammen, scheint naheliegend. Woher auch sonst? Die Staatsanwaltschaft Halle
nimmt Ermittlungen auf, betrachtet die Suche nach den anonymen Verfassern
aber „erwartungsgemäß [als] sehr schwierig“. Ihr Chef, der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Schmiedl-Neuburg, sieht Hinweise auf üble Nachrede. Die gerade erst gegründete Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg hofft gar auf ein
Bekennerschreiben.4
Zur selben Zeit, die erste Überraschung ist nun ausgestanden, kursieren auch
die ersten Namen angeblich Belasteter. Diskus-Vizeweltmeisterin Ilke Wyludda
vom SV Halle und Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski sind aufgeführt, bestreiten aber beide eine Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit. „Mit dem MfS habe ich nichts zu tun gehabt. Bestimmte Gepflogenheiten
hat es gegeben, bestimmte Dinge wurden genannt“, argumentiert Cierpinski.
„Ich dementiere aber, unter dem Decknamen Willi für das MfS gearbeitet zu
haben.“ Er habe damit gerechnet, als Hochleistungssportler einmal damit konfrontiert zu werden.5
Bericht der Abt. XX/3 vom 11.11.1976 über eine durchgeführte Werbung: „Am 10.11.1976 wurde in der Zeit von 16.00 – 17.00 Uhr das Werbungsgespräch mit dem IMS-Kandidaten Cierpinski, Waldemar durchgeführt. Der Kandidat wurde hierzu in die IMK ‚Ernst’ eingeführt. Eine Dekonspiration bzw. zu beachtende Probleme traten dabei nicht auf ... Der Kandidat erkannte die Notwendigkeit, unser Organ bei der Erfüllung seiner
Aufgaben zu unterstützen und erklärte sich bereit, inoffiziell mit dem MfS
zusammenzuarbeiten. Auf Grund des Verlaufes des Gespräches wurde verzichtet, dem Kandidaten eine neue Schweigeverpflichtung abzuverlangen,
3 Stavenhagen, Bernd: Die Stasi-Spitzel haben auch kein Mitleid gehabt. Umfrage unserer Zeitung gestern unter
Hallensern: Anonyme Zusendung von IM-Listen ist aber auch nicht das Gelbe vom Ei. In: Hallesches Tageblatt,
15.07.1992.
4 Listen / Verwirrung: Stasi-Auflöser: Wir fanden nur 2.700 Namen in der Kartei. Justizminister Remmers sieht
Verdacht von Geheimnisverrat - Halles Staatsanwaltschaft ermittelt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 15.07.1992, S. 1.
5 Wyludda und Cierpinski dementieren Stasi-Kontakte. In: Hallesches Tageblatt, 16.07.1992.
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da der Kandidat wie im bestätigten Vorschlag zur Kontaktaufnahme
erwähnt, bereits 1973 schriftlich verpflichtet wurde. Zur Gewährleistung der
Konspiration wählte er sich den Decknamen ‚Willi’. Der Kandidat wurde mit
den Regeln der konspirativen Arbeit vertraut gemacht, insbesondere dem
Betreten und Verlassen von IMK und Verhaltensweisen bei der Realisierung
bestimmter Aufträge. Es wurde ein Verbindungsplan erarbeitet.“ 6
Dieser 16. Juli ist auch in anderer Hinsicht ein wichtiger Tag. Seit drei Tagen sind
die Listen nun Thema, seit drei Tagen dreht sich die Diskussion um eine Frage:
Wer ist darauf eigentlich erfasst? Das Neue Forum Halle, ein Motor des
Umbruchs während der friedlichen Revolution 1989, hat darüber eine halbe
Nacht beratschlagt. Der Konflikt ist offenkundig. Niemand weiß, woher die Listen
stammen. Aber die Angaben sind zu präzise, als dass sie erfunden sein könnten. Wie damit umgehen. Am Ende dieser langen Diskussion fällt die Entscheidung. Das Neue Forum will die Listen in seinen Büros im Reformhaus auslegen.
„Wir wollen das Wissensmonopol brechen“, begründet Heidi Bohley die
Entscheidung. „Auf diesem Wege sollen Erpressungsversuche vermieden werden.“ 7
Allein die Ankündigung spaltet die Öffentlichkeit. Die Gauck-Behörde winkt erst
einmal ab. „Eine Veröffentlichung der Liste verstößt nicht gegen das StasiUnterlagen-Gesetz, weil es sich nicht um Original-Akten handelt sondern um
eine Zusammenstellung“, erklärt Gaucks Sprecher David Gill. Das Neue Forum
muss sich aber auf Verleumdungsklagen von Betroffenen gefasst machen, die
nicht bei der Stasi waren, aber auf der Liste stehen.“ Auch die Staatsanwaltschaft Halle kündigt an, bei eingehenden Strafanträgen Ermittlungen aufzunehmen.8
Die Behörde des Landesdatenschutzbeauftragten macht eine klare „Datenschutzwidrigkeit“ aus und verweist auf die fehlenden gesetzlichen Grundlagen.
Das Neue Forum will dennoch weitermachen. Man sei sich der „Tragweite
bewusst“, wird Heidi Bohley sagen.9
Jan Brügelmann in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Die Ankündigung des
Neuen Forums Halle, jene dubiosen Liste mit den Namen von über 4.500
6 Bericht vom 11.11.1976 über eine durchgeführte Werbung. BStU, ASt Hle, VIII 2705/84, Teil I, Bl. 31 f.
[IMK: hier für konspirative Wohnung]
7 van der Kraats, Marion: Neues Forum veröffentlicht die Stasi-Liste. In: Express, 16.07.1992.
8 Ebd.
9 Reichert, Steffen: Stasi / Inoffizielle Mitarbeiter: Neues Forum will die Liste öffentlich auslegen.
Landesdatenschützer melden „erhebliche Bedenken“ an. In: Mitteldeutsche Zeitung, 16.07.1992, S. 1.
15
16. Juli 1992, vor dem Büro des Neuen Forum
16
angeblichen Stasi-Spitzeln öffentlich zugänglich zu machen, ist nicht nur
juristisch betrachtet ein Gang auf dünnem Eis ... Einer kann sich hingegen
ins Fäustchen lachen. Der Absender der Liste, der wohl aus gutem Grund
seinen Namen nicht nennen will, wird das erreichen, was er bezweckte: Ein
Klima, in dem Hass und Missgunst gedeihen, wird weiter angeheizt.“ 10
3
Da stehen sie nun. Irgendwann am frühen Morgen sind sie gekommen. Haben
sich angestellt und eingereiht in die Schlange, die sich nun aus der dritten Etage das gesamte „Reformhaus“ herunterwindet. Treppenstufe für Treppenstufe
durch das Gebäude in der Großen Klausstraße, das wie kein anderes in Halle
für den Aufbruch im Herbst 1989 steht. Hier haben die Grüne Liga, Amnesty
International und nicht zuletzt das Neue Forum ihre Büros.
Es ist keine Schlange von denen, die sich in Supermärkten bilden, „solange der
Vorrat reicht“. Die Hunderte von Menschen, die an diesem 16. Juli ins „Reformhaus“ gekommen sind, wirken angespannt und konzentriert, einige auch aggressiv. „Die Fotografen sollen endlich abhauen“, murren einige. Denn zwischen den
Menschen und mitten im Büro drängeln sich Journalisten, Fotografen und Kamerateams. Alle sind gekommen, um die Listen zu lesen. Es gibt fünf kopierte
Sätze.
Hier in den Forum-Büros, in denen auch die Bundestagsabgeordnete Ingrid
Köppe, die Vertreterin des Neuen Forum in der Bundestagsfraktion „Bündnis
90/Die Grünen“, ihr Wahlkreisbüro unterhält, ist Hochbetrieb. Heidi Bohley und
Frank Eigenfeld sind unter Dauerstress, hetzen zwischen Kopierer und Regalwand umher, suchen Abkürzungsverzeichnisse und Nachschlagewerke über
das MfS. „Was bedeutet eigentlich FIM?“, will ein Besucher wissen. „FührungsIM“, wird Frank Eigenfeld antworten. „Einer, dem andere IM unterstanden.“
Aus dem Brief eines IM an das Neue Forum: „Ich erlaube mir, den halleschen Repräsentanten des von mir bislang sehr geschätzten, tatkräftig unterstützten und auch stets gewählten Neuen Forum dieses Schreiben zu
übersenden mit der Bitte um Kenntnisnahme. Zunächst hat es mich bestürzt, dass sich auch mein Name in der ominösen Stasi-Liste fand wie mir
mit erster Häme sehr schnell mitgeteilt worden ist ... Ich will auch Ihnen
sagen, dass ich Mitte der 70er Jahre unterschrieben hatte, nachdem man
mich verhaftet und entwürdigend behandelt hatte. Ich erspare mir dazu die
Einzelheiten ... Zu keiner Zeit habe ich für das MfS gearbeitet, mit dieser
10 Brügelmann, Jan: Auf dünnem Eis. In: Mitteldeutsche Zeitung, 16.07.1992, S. 2.
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staatlich-kriminellen Institution hatte ich nichts gemein. Ich habe niemals
unter dem Aspekt des Informationsgewinns für das MfS Freunde oder sonstige Bürger bespitzelt. Ich war allein auf mich gestellt und habe versucht,
das MfS mit seinen eigenen Waffen zu schlagen – zugegebenermaßen auf
bescheidenem Niveau.“ 11
Vielleicht ein Dutzend Hallenser sitzen in dem großen Beratungszimmer. Vor sich
die Listen, die sie Zeile für Zeile durchgehen. Eine von ihnen ist eine 27-jährige
Studentin. Zwei Stunden hat sie gewartet, um endlich Einblick nehmen zu können. Zwei Stunden, die so lang sind wie eine Ewigkeit. „Das kann doch nicht
16. Juli 1992, die Listen liegen aus
wahr sein“, sagt sie plötzlich, wird blass und stellt sich ans Fenster. „Ich brauche
Zeit“, murmelt sie auf die Frage, ob etwas passiert ist. Gerade hat sie einen
engen Freund entdeckt. Und nun? Nun geht sie ans Fenster, schaut hinunter auf
die Straße, auf der sich die Straßenbahnwagen gelenkig neben dem Café
„König“ um die Kurve quälen. „Wir müssen reden“, ist sie sich sicher. Reden
über das, was sie gelesen hat. Reden über das Erlebte, reden über die eigene
Geschichte. Und Fragen stellen will sie.12
Aus dem Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 21.07.1992 im Rechtsstreit einer auf der Liste genannten Person gegen den Verein Neues Forum
wegen des Erlasses einer einstweiligen Verfügung, wonach der Name bei
11 Schreiben an das Neue Forum Halle vom 17.07.1992.
12 Reichert, Steffen: IM-Listen / Einsicht: „Bin erleichtert und erschüttert zugleich“. Neues Forum legt Stasi-Kartei
öffentlich aus – Hitzige Szenen in riesiger Warteschlange. In: Mitteldeutsche Zeitung, 17.07.1992.
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Androhung von 500.000 DM Ordnungsgeld für Zuwiderhandlungen geschwärzt
werden musste: „Die Antragstellerin betreibt als Selbständige zusammen mit
ihrem Ehemann das Café ... in Halle. Die Antragstellerin ist zu keinem Zeitpunkt offizielle oder inoffizielle Mitarbeiterin des Staatssicherheitsdienstes
gewesen ... Den einzigen Kontakt, den die Antragstellerin zu Mitarbeitern des
MfS hatte, bestand darin, dass diese häufig Gäste in ihrem Café waren.
Früher befand sich das Stasi-Gebäude direkt am Robert-Franz-Ring, dort,
wo heute die AOK ansässig ist. Daher waren die Stasi-Mitarbeiter häufig
Gäste ihres Cafés. Da das Café früher stets voll besetzt war, wurden des
öfteren Tische auch von Stasi-Mitarbeitern vorbestellt. Hier könnten konspirative Treffen stattgefunden haben, die es erklärlich machen, dass die
Geschäftsräume in der Liste als ‚konspirative Wohnung’ angegeben sind.
Für die Antragstellerin ist dies die einzig denkbare Erklärung, wieso ihr
Name auf die Liste der IMs gelangt ist."
4
Selbst von weit entfernten Orten reisen an diesem Morgen Betroffene an.
Gerhard Müller beispielsweise ist gekommen. Er lebt im Ruhrgebiet. Der einstige Gröbziger kam wegen politischer Vorwürfe ins MfS-Gefängnis am Kirchtor.
Der „Rote Ochse“, wie der 100 Jahre alte Gefängnisbau im Volksmund genannt
wird, war seine letzte Station auf dem Weg in die Bundesrepublik. In CastropRauxel hat sich Müller eine Existenz als Unternehmer aufgebaut. Nun will er es
genau wissen, glaubt er doch, dass die Leute, die ihn seinerzeit der Brandstiftung und BND-Mitarbeit beschuldigten, dass der Pflichtverteidiger und der
Gefängniswärter und schließlich der Abteilungsleiter Inneres beim Rat des
Kreises, der ihm 1991 einen Entschuldigungsbrief schrieb, für die Staatssicherheit arbeiteten. Gerhard Müller will Gewissheit. Und der Ingenieur Werner Misch,
der später als Stadtrat in Halle für die Union Politik machen wird, spricht von einer
Operation, nach der der Patient genesen wird. „Ich gehöre zu denen, die vor der
Wende anonym bedroht wurden. Die Absender sind sicher auch in meinem
Bekanntenkreis zu finden.“ 13
Aus der Richtlinie 1/76 des MfS über Operative Vorgänge als eine
Möglichkeit der Zersetzung:
- die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens
und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer,
überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht
13 Stavenhagen, Bernhard: Einsicht in Stasi-Listen als heilsame Operation. In: Hallesches Tageblatt, 17.07.1992.
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widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben;
systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen;
zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit
bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an
der persönlichen Perspektive;
Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb
von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen;
Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von
Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder;
Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit
ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlichnegativen Handlungen;
örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen
Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe, Gruppierung oder
Organisation auf der Grundlage geltender gesetzlicher Bestimmungen,
z.B. durch Arbeitsplatzbindungen, Zuweisung örtlich entfernt liegender
Arbeitsplätze usw.“ 14
Szenen wie diese kann man oft beobachten an jenem Vormittag im Reformhaus.
Das Klima bewegt sich zwischen Entsetzen und Erleichterung. Zwei Vertreter
des Magistrats kommen ins Büro und fragen, ob sie ebenfalls ein Exemplar
erhalten können. Die Mitarbeiter des Personalrats wollen sie haben, da der
Oberbürgermeister ihnen „sein Exemplar“ nicht ausgehändigt hat. „Warum soll
Bürger X weniger qualifiziert sein, eine solche IM-Liste zu lesen, als beispielsweise ein Ministerium?“, fragt Sabine Leloup, die Geschäftsführerin vom Neuen
Forum. Frank Eigenfeld, vor 1989 vom MfS selbst massiv überwacht, bringt es
auf den Punkt. Lachend verkündet er, die Arme weit ausgebreitet: „Die Stasi hat
wieder einmal Chaos verbreitet.“
Aus einem Brief an das Neue Forum: „Frau Bohley! Haben Sie eigentlich
ein Schamgefühl? Ich glaube nicht, denn sonst müssten Sie sich in Grund
und Boden schämen, alte Menschen, die sich nicht mehr des Rufmordes,
denen sie durch die Veröffentlichung der IM-Listen ausgesetzt sind, erwehren können, an den Pranger zu stellen. Menschen die wahrscheinlich in
ihrem Leben mehr gearbeitet haben als sie es jemals tun werden und die in
keine Weise als IM tätig waren. Selbst Tote werden mit diesen Veröffentlichungen über das Grab hinaus beleidigt.“ 15
14 BStU, ASt Hle, Abt. XX 1595, Bl. 55 f.
15 Schreiben an das Neue Forum Halle vom 26.07.1992.
20
Weil die Menschen selbst aus den umliegenden Kreisstädten nach Halle reisen,
beginnt das Neue Forum schließlich damit, Termine für die Durchsicht der Liste
zu vergeben. Bereits am zweiten Tag haben die Bürgerrechtler 695 Interessenten vorgemerkt, mit denen Termine bis zum 5. August vereinbart worden sind.16
Im Reformhaus sind sich jedenfalls alle einig, dass das Veröffentlichen der Liste
der einzig richtige Weg ist. Aber das Leben besteht nicht nur aus denen, die im
Reformhaus sitzen. Manchmal klingelt das Telefon, und die anonymen Anrufer
schnarren in die Leitung Worte wie „Verräter“ oder „Dreckschweine“.17
17. Juli 1992, die ersten Namen müssen geschwärzt werden
5
Wer in diesen Tagen aufmerksam durch Halle geht, der trifft häufig auf Journalisten. Es gibt zwei Gruppen. Die einen stammen aus Halle und beschäftigen
sich vor allem mit der Frage: Wer, wie, warum? Die anderen reisen aus allen
Teilen Deutschlands an und möchten Antwort auf die Fragen: Was, wann wo?
Einen vergleichbaren Vorgang hat es zwei Jahre nach der friedlichen Revolution
noch nirgends gegeben: Eine Stadt kennt ihre Spitzel. Das ist allemal Stoff für
eine Reportage.
16 Interesse bleibt ungebrochen: Hallenser drängen sich weiter um die Stasi-Listen. In: Hallesches Tageblatt:18.07.1992.
17 Den Namen des Freundes zur IM-Tarnung benutzt. Auch gestern riss der Strom der Bürger zur Einsichtnahme in
die Stasi-Listen im Reformhaus nicht ab. In: Hallesches Tageblatt, 18.07.1992.
21
Wolfgang Gast in der taz: „Es ist unbestritten, sagte Oberbürgermeister
Klaus Rauen in der Stadtverordnetenversammlung am 15. Juli, ‚dass wir
uns der Thematik, die auch mit dieser Liste als ein Teil unserer Geschichte
aufbricht, stellen müssen’. Konkret hieße das, dass zuallererst die betroffenen Persönlichkeiten Gelegenheit haben müssen, eine persönliche
Stellungnahme zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen abzugeben. So sieht
es auch Polizeipräsident Günter Hermann. Rund ein Dutzend seiner Polizisten stehen auf der Liste. Während im Postdienst ‚zwei Hände voll IM’
gefunden wurden, ging es bei der AOK mit zwei Treffern vergleichsweise
glimpflich ab.“ 18
Die halleschen Redakteure suchen dagegen nach den Urhebern der Liste. Am
18. Juli macht Klaus Wand, Mitglied des Sprecherrates von Neues Forum, nicht
nur vage, sondern sehr konkrete Andeutungen. Man habe „ein Fanal setzen“
wollen, „das die Aufarbeitung endlich in Gang setzt“. Zweifel an der Echtheit der
Daten hat er nicht. „Dafür steckt zuviel Arbeit in der Sache“, seien doch die
Listen „in monatelanger Kleinarbeit aus mehr als 5.000 IM-Einzelakten zusammengestellt“ worden. Und von wem? „Es gibt die Gauck-Behörde, und es gibt
die Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Die eine Seite findet nicht immer gut, was
die andere tut – und dann tut sie, was sie meint, tun zu müssen.“
Also doch keine Bürgerkomitees oder alte Seilschaften? „Unter Herrn Gauck“,
weiß Klaus Wand, „arbeiten viele Menschen, die sich den Bürgerbewegungen
verpflichtet fühlen.“ So eindeutig, wie Klaus Wands Aussagen sind, so eindeutig
ist auch das Dementi. Gaucks Sprecher David Gill nennt es am gleichen Tag
„schlichtweg unmöglich, 5.000 IM-Decknamen illegal herauszusuchen, mit anderen Klarnamen-Dateien zu vergleichen“. In den Archiven des MfS, muss man
wissen, sind aus Gründen der inneren Konspiration alle Daten in separaten
Karteien gespeichert. Niemand soll gleichzeitig alles wissen können. Also kann
die Liste nicht aus der Behörde stammen? Die Gauck-Behörde jedenfalls prüft,
„ob es ein Loch“ in der Behörde gegeben habe.19 Auch die hallesche
Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde weist Wands Aussagen als „reinen
Unfug“ zurück.20
18 Gast, Wolfgang: Nach Feuer und Schwert hat keiner gerufen. Seit in Halle die Namen von viereinhalbtausend
Stasi-Spitzeln veröffentlicht wurden, ist in der Stadt an der Saale nichts mehr wie vorher / Konsequenzen wird es aber
erst nach einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde geben. In: die tageszeitung, 27.07.1992.
19 Könau, Steffen: Staatssicherheit / IM-Kartei: Stammen Stasi-Listen doch aus der Gauck-Behörde? In:
Mitteldeutsche Zeitung, 17.07.1992, S. 2.
20 Sturm auf Stasi-Listen in Halle hält weiter an: In: Mitteldeutsche Zeitung, 18.07.1992.
22
23
Die Redaktionen, die ihre Reporter zum Teil von weither nach Halle schicken,
haben Interesse an anderen Fragen. Johannes Leithäuser von der FAZ spricht
mit Katrin Eigenfeld vom Neuen Forum. Sie, die „ihren Top-IM“ in der Liste nicht
gefunden hat, begründet die Aktion des Neuen Forum damit, dass die Liste kursiere und man „dieses Herrschaftswissen“ habe brechen wollen.21
„Dolle Aktion“ titelt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Und auch die Hamburger Redakteure sprechen mit Katrin Eigenfeld, die das anonyme Versenden
für eine „dolle Aktion“ und die Auslegung der Liste durch das Neue Forum für
„eine Partisanenarbeit“ hält. Viele Hallenser kommen zu Wort, und wenn die
Liste etwas bewegen könnte, dann das: Man könnte miteinander reden. Aber
Halles Oberbürgermeister Klaus Rauen ist da illusionslos. „Das unmittelbare
Gespräch mit den Beschuldigten meidet jeder wie die Pest.“ 22
Eines fällt bei dem als mutig geltenden Magazin von der Alster freilich auf: In
dem faksimilierten Ausriss von der Liste sind die bürgerlichen Namen der betroffenen Personen allesamt geschwärzt.
6
Vielleicht war es nur eine Ahnung, aber wenn, dann eine zutreffende. Vielleicht
hatten die Nachrichtenredakteure vom „Spiegel“ aber auch noch rechtzeitig
einen Tipp erhalten. Am selben Freitag, an dem gewöhnlich spät abends Redaktionsschluss für das nächste Heft ist, erlässt das Kreisgericht Halle eine erste
Einstweilige Verfügung. Rechtsanwalt Hans-Jürgen Müggenborg, der einen
Mandanten aus dem Öffentlichen Dienst vertritt, begründet sein Vorgehen damit,
dass sein Mandant bereits zweimal durch die Gauck-Behörde überprüft worden
sei. Der 43-jährige Medizindozent von der Martin-Luther-Universität habe sich
der Ärztekammer und der Personalkommission stellen müssen.23 Nun fürchte er
berufliche Nachteile, und deshalb wendet sich Müggenborg auch gleich noch an
die Staatsanwaltschaft.
Er stellt Strafantrag wegen übler Nachrede.24
Zwei Tage und zwei Zeitungsbeiträge später hat der Jurist bereits sechs Mandanten unter Vertrag.
21 Leithäuser, Johannes: Neues Forum legt in Halle Liste mit Stasi-Spitzeln aus. Remmers: Zusammenstellung der
Namen professionelle Arbeit. In: FAZ, 18.07.1992.
22 Dolle Aktion. In: Der Spiegel, Nr. 30/1992, 20.07.1992, S. 76 f.
23 van der Kraats, Marion: Verfügung gegen Stasi-Liste. In: Express, 18.07.1992.
24 Reichert, Steffen: IM-Listen / Konsequenzen: Erster Name musste geschwärzt werden. In: Mitteldeutsche Zeitung,
18.07.1992, S. 1.
24
Halle diskutiert freilich weiter. Eine Woche ist es nun her, dass der Umgang mit
dem schweren Erbe eine Stadt in Atem hält. Eine Woche, die Menschen zu
Gesprächen veranlasst, die ohne einen Katalysator wohl unmöglich gewesen
wären. Aber die Zahl derer, die die Liste wirklich kennen, ist gering. Zu klein sind
die Büros des Neuen Forum, zu wenig dessen Mitarbeiter.
In diese Lücke springt „Bild“. Intensiv haben die leitenden Redakteure des AxelSpringer-Verlages darüber diskutiert, ob sie das Risiko eingehen können, die
Listen einfach zu veröffentlichen. Dass es ein Risiko ist, wissen sie. Kein publizistisches, eher ein juristisches. Und deshalb bleibt die Nachricht vom Coup der
Boulevardredaktion bis zum Morgen geheim. Erst die Käufer, die am Kiosk oder
Automaten eine „Bild“ in ihren Händen halten, trauen ihren Augen nicht. „Bild“
nennt die Namen, beginnt mit dem Abdruck der Listen. Um Fehler beim Übertragen zu vermeiden, werden die Listen einfach faksimiliert. Zeile für Zeile.
„Bild Halle“ in einer Erklärung:
„1. Die Namen sind ohnehin schon veröffentlicht: Indem sie zunächst anonym
an einen Kreis von 30 Privilegierten verschickt wurden und vom Neuen Forum zur Ansicht ausgelegt wurden.
2. Die Warteschlangen beim Neuen Forum betragen mittlerweile fast zwei
Wochen. Solange gehen die Spekulationen weiter, das Bangen, das Zittern.
Wir wollen endlich zur Gewissheit verhelfen: wer war IM, wer nicht?
3. Wir haben mit vielen Betroffenen gesprochen. Fast alle sagten: Ja, druckt
das! Das ist wie eine Befreiung für mich! Jetzt ist es endlich raus!
4. Klima-Vergiftung ist, wenn etwas verschwiegen wird – weil so Spekulationen und Verdächtigungen nie aufhören. Klima-Vergiftung ist nicht, offen
zu diskutieren, Namen zu nennen, Klarheit zu schaffen. Nur so können wir
unsere unselige Vergangenheit hinter uns bringen und einen echten Neuanfang machen.
5. Wir von BILD glauben, dass die Hallenser verantwortungsvoll mit dieser
Liste umgehen. Dass sie wissen: Nicht jeder, der als IM auf dieser Liste auftaucht, hat sich der Stasi mit Leib und Seele verkauft. Unvorstellbar waren
die Methoden, mit denen manchen die Unterschrift und die Verpflichtungserklärung abgepresst wurde. Was sie dann wirklich verraten haben, ob das
überhaupt nötig war – das kann jeder IM nur selbst mit seinem Gewissen
ausmachen.“ 25
25 Die Stasi-Listen in BILD: In: Bild Halle, 20.07.1992, S. 4 ff.
25
In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Publizierung der Listen ein Riesen-Erfolg. Ab
morgens um fünf drängen sich die Menschen an die Kioske und Automaten, um
ein Exemplar des Groschenblattes zu erhalten. Wer zu spät kommt, den bestraft
die Auflage. Denn obwohl die enorm erhöht worden ist: Bereits am frühen Morgen ist „Bild“ vergriffen. Preise von bis zu zehn Mark werden geboten. In den
Bussen, in den Bahnen, an Kneipen- und Büroschreibtischen gibt es nur ein
Thema: Der war auch dabei?
Stephan Finsterbusch in „Junge Welt“: „Tag für Tag werden in der
Bildzeitung die Listen von Mitarbeitern der Staatssicherheit veröffentlicht.
Ich bin bei der Art und Weise und vor allem bei dem Medium, über das die
ganze Aktion gefahren wird, sehr skeptisch. Auflagendruck und Themensicherung für mindestens drei Monate sind wohl die vorrangigen Beweggründe einer solchen Veröffentlichung ... Auf alle Fälle sind in der öffentlichen
Meinung vermeintlich Hauptschuldige für kleine und mittlere Feigheiten,
menschliche Enttäuschungen und verpfuschte Karrieren gefunden. Schön,
dass es so etwas in den Altländern nicht gab, gibt und geben wird.“ 26
Spätestens jetzt muss dem Neuen Forum wie auch der Boulevardredaktion klar
sein, dass juristische Schritte drohen. Und tatsächlich. Immer wieder gehen im
Reformhaus Einstweilige Verfügungen ein, die die Nennung bestimmter Namen
untersagen. Die Konsequenz: Die Angaben zu diesen Personen müssen auf der
Liste geschwärzt werden. Doch Tausende und Abertausende andere Hallenser
können sie inzwischen in der Zeitung lesen. Und so bleibt auch „Bild“ nicht verschont. Bereits am zweiten Tag der Veröffentlichung ist auch hier eine Zeile fein
säuberlich geschwärzt worden. Die des 43-jährigen Medizindozenten von der
Universität. Viel Arbeit für das Kreisgericht.
Petra Bornhöft in der „Berliner Zeitung“: „Nachdem eine Zeitung in der
vergangenen Woche das 112seitige Papier komplett druckte, steht Halle
ziemlich Kopf. Früher herrschte Hochbetrieb im Café ‚König’. An ‚Warteschlangen bis auf die Straße’ entsinnt sich der Pächter und schaut traurig
auf drei Gäste im dunklen Raum. Draußen wirbt seit der Wende ein
neues Brauereischild. Drinnen blieben die Preise ‚vernünftig’. Und die flirrende Mittagshitze an der Saale ist nicht neu, kann den Schwund nicht
erklären. Nein, es ist ‚diese geschäftsschädigende Liste’, die dem Mann
Wut in die Augen treibt und die Obst-Törtchen hinter der Theke altern lässt.
Das Papier enthält auch den Namen der Ehefrau des Pächters. Die meisten
26 Finsterbusch, Stephan: Widerhaken. Ein Tunnel aus Hass. In: Junge Welt, 08.08.1992.
26
der 310.000 Hallenser im lesefähigen Alter studieren in diesen Tagen jene
Liste.“ 27
Am Abend des 22. Juli kommt es zu einem ungewöhnlichen Treffen. Heidi
Bohley und der Chef der Staatsanwaltschaft, Dieter Schmiedl-Neuburg, treffen
sich beim MDR. In dem eilig angesetzten Streitgespräch sollen die beiden Für
und Wider des Umgangs mit den Listen diskutieren. Die Argumente sind eigentlich bekannt, und doch ist es gut, sie noch einmal zu hören. Heidi Bohley wird
argumentieren, dass das Neue Forum auf die Zusendung der Listen lediglich
reagiert habe, dass man das Entstehen eines Schwarzmarktes verhindern wollte und dass immer wieder Menschen kämen, die Rat suchten oder einfach nur
reden wollten. Selbstverständlich respektiere man die acht eingegangenen
einstweiligen Verfügungen, aber „nur auf Zuruf schwärzen wir nicht.“
Schmiedl-Neuburg, ein weit über Halle hinaus anerkannter Volljurist, argumentiert, dass die Listen vollständig veröffentlicht worden seien verhindere eine notwendige Differenzierung, dass man die Geschichte jedes Einzelnen im
Zusammenhang mit der Staatssicherheit kennen müsse. Er erzählt von eingehenden Anzeigen wegen „Hexenjagd“, von Kindern, die nicht mehr miteinander
spielen dürften, dass man solche Probleme mit rechtsstaatlichen Mitteln lösen
müsse, um Nachbarschaftsstreit zu vermeiden. Er könne sich vorstellen, „dass
zwischen den Empfängern der Liste auch ein Konsens mit den Zeitungen möglich gewesen wäre: Wir veröffentlichen diese Listen nicht.“ Es sei schließlich
keine persönliche Betroffenheit, sondern reine Neugier, wenn man wissen wolle,
ob der Nachbar bei der Stasi war. Heidi Bohley protestiert: „Jetzt spricht der
Westdeutsche aus Ihnen“, der nicht wissen könne, wie sehr in einer Diktatur
gerade dies ein persönliches Problem sei. 28
7
Das Trauma einer Stadt, dass sich in die Frage fassen lässt „Der war auch
dabei?“, bricht sich langsam Bahn. Die Listen, die Namen, die Fakten sind nun
öffentlich. Und die ersten Leserbriefe erreichen die Redaktionen. Menschen
beginnen von ihrer Geschichte zu erzählen, rechtfertigen sich, wollen erklären.
Der in Halle ansässige Stempelmacher Helmut Pfautsch gehört zu ihnen. Er
erklärt, nachdem er zuvor öffentlich der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem
MfS beschuldigt wurde, in einem Leserbrief: „Solange es Stempel gibt, durch
27 Bornhöft, Petra: Die Wirtin vom Café König versteht nicht, warum sie am Pranger steht. In: Berliner Zeitung,
27.07.1992, S. 3.
28 Sendemitschnitt der MDR-Aufzeichnung vom 22.07.1992.
27
deren Abdruck ein Papier zur Urkunde oder sonstigem Dokument wird, wird es
auch Versuche von Fälschungen geben. In einer solchen Strafverfolgung verlangen Polizei und andere Dienststellen Gutachten und andere Auskünfte vom
Fachmann,29 ob der Stempel im eigenen Betrieb hergestellt oder mit welcher
Technik er evtl. angefertigt wurde ... Mir wurden bei Straftaten und Fälschungen
Abdrucke von der Volkspolizei und auch von Mitarbeitern der Staatssicherheit
vorgelegt. Ich konnte jedoch immer feststellen, dass diese Stempel nie in unserem Betrieb, sondern unter Verwendung handelsüblicher und in vielen
Kaufhäusern erhältlichen Typendruckereien hergestellt wurden.“ 30
Der Stempelmacher im Jahr 2000 gegenüber einer Journalistin: „Ich
bitte Sie deshalb dringend ohne meine Zustimmung nicht weiterhin über
mich zu recherchieren und evtl. Nachbarn oder andere Personen zu befragen. Durch diese Art Arbeit bin ich durch die damaligen ‚Herren der Macht’
in äußerst schlechten Ruf gebracht worden.“ 31
Leserbrief für Leserbrief erreicht die „Mitteldeutsche Zeitung“. Schicksal für
Schicksal mit einer Fülle an Details. „Aber wie geht man mit dem Wissen um den
Anderen um?“, fragt das Blatt. „Wie gehen wir als Zeitung damit um? Eine
Frage, die täglich ansteht, auch für uns Redakteure. Manche Leser erwarten,
dass wir ihre Redlichkeit nachweisen, andere, dass wir Unrecht benennen, erkennbar machen. Wer aber darf sich anmaßen zu urteilen, vorzuverurteilen?“
Die Redaktion der MZ trifft sich an einem langen Abend viele Stunden in einem
kleinen Gartenlokal auf dem Fuchsberg und diskutiert mit dem Thema ein Stück
eigener Geschichte. Es geht um die Namen auf der Liste, die das eigene Haus
betreffen. Es geht um die Rolle der SED-Zeitung, vor allem aber um das journalistische Selbstverständnis zwei Jahre nach der friedlichen Revolution.
Die Redaktion trifft schließlich die einzig richtige Entscheidung. Jeder Leserbrief
zum Thema wird veröffentlicht, die Geschichte von zahlreichen Genannten wird
erzählt.
Und es gibt viele Leserbriefe, die bei der MZ eingehen. Zu denen, die einen
29 Zur Suche der Staatssicherheit nach den Verfassern anonymer Flugblätter oder Handzettel vgl. Grashoff, Udo:
Erhöhter Vorkommnisanfall. Aktionen nach der Biermann-Ausbürgerung im Bezirk Halle. Eine Dokumentation herausgegeben vom Zeitgeschichte(n) e.V. Verein für erlebte Geschichte: Halle 2001. Vgl. auch: Stöcklein, Gerd: Der
Operative Vorgang „Treffpunkt“ der Bezirksverwaltung Halle des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.
„Hetzblätter“ und Hexenjagd von 1978 bis 1980: Publikation der LStU Sachsen-Anhalt: Magdeburg 2004.
30 Pfautsch, Helmut: Wegen Gutachten auf die Liste gesetzt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 05.08.1992, S. 24.
31 Schreiben an Maja Drechsler vom 04.07.2000 im Rahmen der Recherchen zu: Beichtstuhl „Bild“. Eine
Anprangerung von Stasi-Mitarbeitern in Halle und ihre Folgen. Diplomarbeit im Fach Kommunikationswissenschaft an
der Ludwig-Maximilians-Universität München.
28
schicken, zählen Matthias Waschitschka und Thea Ilse. Beide sind Mitglieder
des Personalrates Geisteswissenschaften der Universität. „Die in der Liste enthaltenen Registrierungen sind in allen von uns überprüfbaren Fällen korrekt.
Dass die Mehrheit der IM zur Zusammenarbeit mit dem MfS nur auf Grund von
Erpressung bereit war, hat sich in den Anhörungen der Personalkommission nicht
bestätigt. Das primäre Ziel war die Anerkennung der Regeln der Konspiration
und die Bereitschaft zur Mitarbeit“, schreiben sie und berichten von ihrer Arbeit
an der Universität. Dabei habe sich herausgestellt, dass nicht jeder Deckname
von den Betroffenen selbst gewählt worden, dass nicht jeder Deckname auch
bekannt war. Für Hinweise auf möglicherweise belastete Universitätsangehörige
haben die beiden nun mit ihrer Personalkommission weitergehende Auskünfte
der Gauck-Behörde beantragt.32
Auch in den beiden anderen Personalkommissionen der Universität, der für
Medizin und der für Naturwissenschaften, wächst der Stapel liegengebliebener
Fälle immer weiter an. Den Fakten in den Listen steht eine personell hoffnungslos überforderte Gauck-Behörde gegenüber. Während die Personalkommissionen bis Ende 1992 bzw. Anfang 1993 das überwiegende Gros der Verfahren
abarbeiten können, bleiben nun jene Fälle unbearbeitet offen, die Hinweise auf
eine belastende Verstrickung zum MfS aufzeigten. „In diesen Fällen handelt es
sich um Personen (s. Anlage), bei denen auf Grund der Selbstauskunft, im Ergebnis der Anhörung vor der PK, nach mündlicher Auskunft der Außenstelle
Halle der Gauck-Behörde und gegebenenfalls eines Eintrags in der ‚Bild’-Liste
eine Tätigkeit als IMS des MfS angezeigt und in den meisten Fällen von den
Betroffenen in der Anhörung bestätigt worden ist“, teilt der Vorsitzende der Personalkommission Naturwissenschaften/Landwirtschaft dem Wissenschaftsminister in Magdeburg mit. Die Befürchtung, die Reinhold Wollgiehn als Chef dieser Personalkommission äußert, besteht in der existierenden Gefahr, dass als
unbelastet geltende Mitarbeiter mangels Bedarf gekündigt werden, MfS-verstrickte Mitarbeiter jedoch – da sich die Überprüfung durch die Gauck-Behörde
extrem langwierig gestaltete – weiterbeschäftigt werden könnten. Immerhin liegen zu diesem Zeitpunkt bei den drei halleschen Personalkommissionen 65
Verfahren mit Hinweisen auf eine Tätigkeit als IMS auf Halde, sind ausgesetzt,
weil notwendige Angaben fehlen.33
32 Waschitschka, Matthias; Ilse, Thea: Pauschalverurteilungen nicht zulassen. In: Mitteldeutsche Zeitung, 05.08.1992, S. 24.
33 Schreiben des Vorsitzenden der Personalkommission Naturwissenschaften/Landwirtschaft an
Wissenschaftsminister Rolf Frick vom 02.02.1993. MK LSA, Archiv Referat 16, Ordner Personalkommission
Naturwissenschaften/Landwirtschaft, Nachlass.
29
All das bewirken 112 Seiten. Und noch viel mehr. Die Menschen reden, sie erzählen sich ihre Geschichten. Andere wehren sich gegen die Einteilung in IM
und Nicht-IM. Ärzte und Ausländer, Rechtsanwälte und Verkäuferinnen – alle
müssen Antwort stehen. Zugleich mahnen sie an, differenziert mit den Biografien
umzugehen, die Chance zum Gespräch zu begreifen.
Christoph Schulz in „Hallesches Tageblatt“: „IM haben Vertrauen von
Mitmenschen vielfach missbraucht. Sie haben großes Leid verursacht. Das
bleibt. Vielleicht hätte ich in der Wendezeit auch aus vollem Herzen der
Veröffentlichung der Listen zugestimmt. Jetzt ist es jedoch wichtig, jeden
Menschen, der als IM geführt ist, ganz genau zu betrachten: Wie ist er da
hinein gekommen? Was hat ihn dazu bewogen? Fühlte er sich erpresst?
Was wollte er dadurch erreichen?“ 34
Claus Dümde in „Neues Deutschland“: „’Outen’ nun etwa einstige MfSMitarbeiter, die jetzt ‚Mitarbeiter einer öffentlichen Dienststelle’ sind, ihre
früheren ‚Leute’? (Und schwärzen andere an, die bestreiten, jemals IM
gewesen zu sein.) Noch dazu gratis, per Post an ausgewählte Empfänger.
Oder handeln hier ‚exzellente Kenner der Materie’ von heute auch in
Ostelbien offiziell tätigen Geheimdiensten?“ 35
8
Eine Stadt sucht nach Erklärungen. Auch wenn die Namen nun bekannt sind, die
Geschichten sind es nicht. Was da geschehen ist, kam so unvermittelt, dass
Halle Zeit braucht, um mit sich ins Reine zu kommen. Aber Zeit gibt es nicht. Zu
schnelllebig sind jene Tage.
Hinter den Kulissen verhandelt die Redaktion der MZ schon seit Tagen mit der
Stasi-Unterlagen-Behörde. Man sucht gemeinsam einen Termin, an dem der
Bundesbeauftragte nach Halle kommen könnte. Natürlich gibt es Fragen.
Fragen an ihn, Fragen an seine Behörde. Wie lange wird es dauern, bis die auf
den Listen genannten Personen eine verlässliche Auskunft erhalten? Wie lange
müssen jene auf ihre Akten warten, die vor 1989 durch das MfS überwacht wurden?
34 Schulz, Christoph: Listen-Offenlegung sehr fragwürdig. In: Hallesches Tageblatt, 05.08.1992.
35 Dümde, Claus: IM-Listen beim Neuen Forum und in „Bild“, IM-Akten auch bei der CDU und „das dumme Gerede
einer Bonner Stallwache“: Wer setzt heute „Stasi-Methodik mit anderen Mitteln“ fort – und wozu? In: Neues
Deutschland, 04.08.1992.
30
Der 5. August, als Joachim Gauck nach Halle kommt, ist ein Mittwoch. Der einstige Pfarrer aus Rostock hat einen engen Terminkalender. Er will die Außenstelle
seiner Behörde besuchen, sich in einem Telefonforum den Fragen der MZ-Leser
stellen, eine Pressekonferenz geben und abends in einer öffentlichen
Veranstaltung sprechen. Auch er spricht von „gemischten Gefühlen“, mit denen
er der Veröffentlichung gegenübersteht. Aber zugleich räumt er ein, dass die Liste
wohl stimmen müsse. Alle Angaben zu 30 Fällen, die überprüft wurden, stimmen. 300 Anträge auf Akteneinsicht von mutmaßlichen IM sind bislang eingegangen. „Entschlossenheit und Differenzierung“ dürften sich bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht ausschließen. Und Gauck sagt auch, dass er eine
Hexenjagd nicht erkennen könne, dass Mord und Totschlag nicht stattgefunden
hätten.
Telefonforum der MZ mit Joachim Gauck: „Kathrin R. (25), Angestellte:
Mein Name stand auch auf der Stasi-Liste. Doch ich war nie IM, hatte nur
familiär Kontakte. Was kann ich denn nun dagegen machen? Ich habe nie
über andere Leute Daten gesammelt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, setzen
Sie sich bitte mit unserer Außenstelle am Gimritzer Damm in Verbindung.
Dort sind Mitarbeiter, die speziell dazu da sind, Anträge auf beschleunigte
Akteneinsicht zu bearbeiten. Versuchen Sie bitte, sich genau zu erinnern,
welcher Art Ihre Kontakte wirklich waren.“ 36
Aus Angst und Schock sind längst Gespräche geworden. Dieser August 1992 ist
geprägt von den vielen Briefen, die das einstige SED-Blatt, längst zu einer unabhängigen Zeitung geworden, veröffentlicht. Es wird seinen vielen Lesern
schließlich sagen: „Auch diese Zeitung hat ihre eigene Vergangenheit, mit der
sie sich auseinandersetzt. Neben Artikeln eigener Autoren und Gastautoren versuchen wir, ein Stück Wahrheit ans Licht zu holen ... Es ist gut, dass sich viele
unsere Leser aufgerufen fühlen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.37
Wenn zum Beispiel das örtliche Kabarett „Kiebitzensteiner“ wedelnd mit dem
Boulevard-Blatt auf die Bühne kommt, können manche wissend lachen. Die
Hallenser verstehen den Hinweis auf die „Bild“. Das reicht schon aus, um das
hoch sensibilisierte Publikum zu unterhalten. Wer diesen Gag nicht versteht, der
ist auch nicht aus Halle.38
36 Ehrlich sein und aufeinander zugehen. Telefonforum mit Joachim Gauck: In: Mitteldeutsche Zeitung, 07.08.1992, S. 4.
37 Jepsen-Föge, Dieter: In eigener Sache: Umgang mit der Vergangenheit. In: Mitteldeutsche Zeitung, 08.08.1992.
38 Hinze, Albrecht: Täglich in der Zeitung: Die Stasi-Zuträger aus Halle. In: Süddeutsche Zeitung, 08./09.08.1992, S. 12.
31
Aus dem „Spartakist“: „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Stasi-Listen
war bewusst gewählt. Schon der Stahlstreik im Ruhrgebiet Anfang des
Jahres hat die Solidarität der ostdeutschen Kollegen wachgerufen. Doch es
war der machtvolle ÖTV-Streik im Mai, der die gemeinsame Solidarität der
Arbeiter hervorrief, allen voran die Straßenbahner im Osten Berlins, die
einer besonders scharfen Stasi-Hexenjagd ausgesetzt sind ... Was die PDS
betrifft, tritt sie als bewährter Helfershelfer der Hexenjagd auf. Sie fordert
‚verfassungsmäßige’ individuelle Prüfung (!) des anonymen Drecks. Sie will
eine ‚gerechte’ Hexenjagd, wie bei der von der PDS selbst angeordneten
Überprüfung ihres Bundestagsabgeordneten, die zum Selbstmord Gerhard
Rieges führte.“ 39
Die Gespräche, einmal in Gang gekommen, gehen weiter. Wieder ist es die MZ,
die ein öffentliches Podium bietet. Am Konferenztisch der Redaktion haben ganz
verschiedene Hallenser Platz genommen. Günter Thieme ist dabei, der Direktor
des ehemaligen Zentralinstituts für Schweißtechnik. Einer von denen, der über sich
sagt, nicht geglaubt zu haben, dass er mit auf der Liste stehen könnte. Der
Journalist Karl Wilhelm Fricke ist gekommen, ein exzellenter Kenner der MfSStrukturen, 1955 selbst vom MfS aus dem Westen in die DDR entführt und vier
Jahre lang inhaftiert. Christiane Berg sitzt als Chefin der Gauck-Behörde in Halle
ebenso mit am Tisch wie der Bürgerrechtler Matthias Waschitschka und Werner
Gäbler, der als Direktor der Musikschule Merseburg vom MfS als IM geführt
wurde. Es ist ein langes, ein offenes und ehrliches Gespräch, das da stattfindet.
Ein schonungsloses gegenüber eigenen Biografien. Nur zwei Stühle bleiben an
jenem Tag leer. Jener, der reserviert ist für den 1. Sekretär einer SED-Kreisleitung, und jener für einen hauptamtlichen Offizier des MfS.
Bürgerrechtler Matthias Waschitschka in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Ich
habe vier hochrangige Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit
persönlich kennenlernen dürfen. Wir haben in der Zeit des Bürgerkomitees
jeden Tag zusammengesessen. Wir haben gefrühstückt, haben gelacht,
haben Witze gemacht. Es war eigenartig, ich wusste, das sind die Leute,
aber es ist nie zu einer Tiefe des Gespräches gekommen. Ich tue mich mit
dem Thema ganz schwer, mit der Erklärung, warum passiert da nichts. Sie
sind nie über ihr Weltbild hinausgekommen. Vielleicht ist etwas möglich,
39 Halle. Verteidigt die 4.500 gegen die Anti-Stasi-Hetze! Schluss mit der SPD-geführten antikommunistischen Hexenjagd!
In: Spartakist, Organ der Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands. Der PDS-Bundestagsabgeordnete Gerhard Riege aus
Jena hatte sich im Februar 1992, nachdem zuvor öffentlich Vorwürfe einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS
gegen ihn erhoben worden waren das Leben genommen. Vgl. auch: „Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben“.
Der PDS-Abgeordnete Gerhard Riege erhängte sich nach der Auseinandersetzung um seine Stasi-Vergangenheit. In: die
tageszeitung, 17.02.1992, S. 4.
32
wenn der einzelne Inoffizielle Mitarbeiter versucht, mit seinem direkten
Bearbeiter, seinem Führungsoffizier Kontakt aufzunehmen.“ 40
9
Während die einen längst dabei sind, sich ihre Geschichten zu erzählen, sind die
anderen bereits zum Kreisgericht Halle gegangen. Es ist inzwischen Mitte August, und aus der politischen Diskussion ist eine juristische geworden. 18 Einstweilige Verfügungen gegen die Nennung auf der Liste sind erwirkt. 18mal ist an
Eides statt versichert worden, niemals für das MfS gearbeitet zu haben. Ein
Journalist aus Leipzig ist darunter, eine medizinisch-technische Assistentin aus
Dessau und ein Arzt aus Halle. Die Besitzerin eines Cafés, ein jahrelang in der
DDR lebender Ägypter, ein Rechtsanwalt, ein Zeuge Jehovas, ein Lehrer.
Auch ein Biochemiker gehört zu jenen, die vor Gericht gezogen sind: Harald
Voß, bis Ende 1989 am Biotechnikum der Martin-Luther-Universität beschäftigt, ist
1984 ins Blickfeld des MfS geraten, das nach Verabschiedung der politischen
Grundsatzbeschlüsse von SED-Politbüro und DDR-Ministerrat zum Bau des
Biotechnikums gezielt mit der Suche nach möglichen IM aus dem Kaderreservoir beginnt.41 „Dr. Dreßler“, so der Deckname, kommt intensiv bei der
Beschaffung von Informationen über Kollegen und Mitarbeiter, aber auch bei
Reisen ins westliche Ausland zum Einsatz.
Der Mann, der ab 1986 schließlich als Reisekader-IM „Dr. Klaus Dreßler“ inoffiziell für das MfS arbeitet, ist noch kurz vor dem Untergang der DDR bei der
Ausreise aus der DDR an der Grenzübergangsstelle Oebisfelde festgenommen
worden, weil er nicht angegebene wissenschaftliche Publikationen, Qualifikationsunterlagen, antiquarische Bücher und eine Briefmarkensammlung bei sich führt.42
Bei den folgenden Ermittlungen des MfS stellt sich heraus, dass an der
Kernforschungsanlage Jülich, zu der Voß regelmäßig reist, bereits seit 1986 etliche Personalunterlagen – darunter ein Lebenslauf – über ihn vorhanden sind,
was ebenfalls gegen die DDR-Bestimmungen verstößt.43
40 Stasi-Listen / Gesprächsforum: „Viele der IM’s haben einfach alles verdrängt“. In: Mitteldeutsche Zeitung,
12.08.1992.
41 Anforderungsbild für einen IMS zur operativen Absicherung des Sicherungsbereiches Biotechnikum der MLU Halle
vom 25.07.1984. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 1, Bl. 28 f.
42 Protokoll des Grenzzollamtes Oebisfelde vom 20.09.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 7 f.
43 Aktenvermerk zu Prof. ... vom 27.09.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl.56.
Wertung/Stellungnahme zur Verletzung der Konspiration/Geheimhaltung durch die Abteilung vom 27.09.1989. BStU,
33
Mitteldeutsche Zeitung, 12.8.1992
34
Das Problem an dem Vorgang besteht für die Verantwortlichen im SED- und im
MfS-Apparat vor allem in der Person – denn der Mann befindet sich in einer herausgehobenen Stellung. Der Wissenschaftler ist nicht nur im Rahmen des
1986 geschlossenen Kulturabkommens zwischen der DDR und der
Bundesrepublik als Teilkoordinator eines Projekts tätig. Er ist zugleich der
Schwiegersohn eines Generalmajors, dem Leiter des Wehrbezirkskommandos
Halle – insoweit eine Spitzenquelle des MfS. Der Geheimdienst vermutet, dass
sich der Wissenschaftler auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung im Sommer
1989 selbst in die Bundesrepublik absetzen will, in der er über eine Reihe von
wissenschaftlichen Kontakten verfügt. Zugleich stoßen die Ermittler auf sein
Notizbuch, in dem sich unter Angaben des Decknamens „Dreßler“ Verweise auf
Berichte an das MfS finden. Die Ermittler der Staatssicherheit werfen dem
Wissenschaftler nunmehr vor, dass die Angaben geeignet seien, „den
Reisekader-IM im Operationsgebiet zu gefährden.“ 44 Erwartungsgemäß bricht
innerhalb der MfS-Bezirksverwaltung eine erhebliche Hektik aus, da eine
Verurteilung von „Dreßler“ wegen des Verdachts der Republikflucht aufgrund
seiner Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik einen erheblichen
politischen Wirbel verursachen würde. Das MfS befürchtet, dass „ein hoher politischer und wirtschaftlicher Schaden für die DDR“ eintreten könnte.45
Durch die Untersuchungsabteilung IX des MfS vernommen, weist Voß jeden
Verdacht einer versuchten Flucht aus der DDR von sich. Das MfS selbst kann
ihm das Vorhaben nicht nachweisen. So wird vorgeschlagen, „1. an der MLU
eine Überprüfung vorzunehmen, ob nachweispflichtige, wissenschaftliche
Unterlagen, zu denen ... Zugang hatte, fehlen; 2. die bei der Abteilung IX befindlichen wissenschaftlichen Unterlagen durch einen Fachmann auf deren Wert
sowie evtl. Ausfuhrgenehmigungspflichtigkeit einschätzen zu lassen.“ Die Bücher
werden mit einem Wert von 15.000 Mark und 8.000 Mark angegeben, die
Briefmarken mit einem Wert von 20.000 Mark.46
Da sich inzwischen auch die bundesdeutsche Seite über das Nichterscheinen
des Wissenschaftlers beschwert und dies als „Torpedierung“ der deutschdeutschen Zusammenarbeit bewertet,47 entscheidet am 10. Oktober 1989 der
Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Halle persönlich, dass der Beschuldigte „zur
44 BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 53 f.
45 Auskunftsbericht zur Person vom 20.09.1989 durch die Abteilung XX. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4,
Bl. 2 ff.
46 Vgl. Aktennotiz vom 22.12.1989 über ein Gespräch zwischen dem Zollfahndungsdienst Leipzig, dem Direktor des
Biotechnikums und dem 1. Prorektor der MLU. UA Halle, Rep. 7/1424.
47 Fernschreiben vom 06.10.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 66.
35
Begrenzung des politischen und ökonomischen Schadens“ NSW-Reisekader
bleiben solle, aber vor jeder erneuten Westreise durch das MfS speziell zu überprüfen und dass für das Zollvergehen eine Geldstrafe zu verhängen sei. 48
Welchen Einfluss das MfS auf die Justiz nehmen konnte, wird in einer Entscheidung von Anfang November 1989 deutlich. Der Referatsleiter XX/8, Karlheinz
Paprotny, schlägt nach Absprache mit der Zollverwaltung vor, gegen Harald Voß
ein Ermittlungsverfahren mit anschließendem Strafbefehl einzuleiten, die als
Kulturgut deklarierten Bücher und Briefmarken einzuziehen und ihn zusätzlich
mit einer Geldstrafe in Höhe von 15.000 bis 30.000 Mark zu belegen. Außerdem
soll die Universität als Arbeitsstelle verständigt werden.49
Ob es dazu letztlich kommt, ist unklar. Aus der überlieferten und am 1. Dezember 1989 geschlossenen IM-Akte ergibt sich, dass der Mann samt Familie nach
der Maueröffnung in die Bundesrepublik ausreiste.50
Knapp drei Jahr später, als sich sein Name in der Stasi-Liste findet, erwirkt der
Biochemiker eine Einstweilige Verfügung gegen das Neue Forum vor dem
Kreisgericht Halle.
Aus dem Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung: „Mit der
Veröffentlichung würde eine freiwillige und aktive Zusammenarbeit mit dem
MfS unterstellt. Das war nicht der Fall! Ich habe ganz im Gegenteil jede
Informationsabgabe zum Nachteil Dritter verweigert und schwere Auseinandersetzungen mit der Stasi gehabt ... Auch die Vorbereitung unserer Flucht
über die Csr (sic!) 1988 war der Stasi wohl nicht entgangen: Am 20.09.89
wurde ich von der Stasi verhaftet und 36 Stunden verhört. Meine Frau
wurde am 21.9.89 ebenfalls in U-Haft genommen. Mir wurde Republikflucht,
nachrichtendienstliche Tätigkeit für die BRD, Spionage, Devisen- und Zollvergehen vorgeworfen. Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und
mir eine Strafe von 7 bis 12 Jahren angedroht. Wir wurden rund um die Uhr
überwacht und durften die Stadt nach der Freilassung aus der U-Haft nicht
verlassen. Ich erhielt Arbeitsverbot und musste wöchentlich in die U-Haft
zum Verhör. Meine Freilassung aus der U-Haft hatten westdeutsche Kollegen über die RA Näumann, Vogel und Starkulla erwirkt.“ 51
48 Aktenvermerk zur persönlichen Berichterstattung über das Treffergebnis zum IMS „Dr. Klaus Dreßler“ gegenüber
Gen. Generalmajor Schmidt vom 10.10.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 65.
49 Aktenvermerk vom 04.11.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 81.
50 Abschlussbericht zu IM-Vorgang vom 01.12.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 91 f.
51 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Kreisgericht Halle vom 23.07.1992.
36
Aus der handschriftlichen Verpflichtungserklärung von Voß vom
26.03.1986: „Ich, Dr. Voß, Harald, verpflichte mich freiwillig und auf der
Basis meiner politischen Überzeugung, das Ministerium für Staatssicherheit
in seiner verantwortungsvollen Aufgabe aktiv zu unterstützen. Die Unterstützung werde ich in Form einer inoffiziellen Zusammenarbeit realisieren ...
Dr. Klaus Dreßler Dr. Harald Voß“ 52
In dem Rechtsstreit 3 O 261/91 erlässt das Kreisgericht Halle im Eilverfahren
eine Einstweilige Verfügung gegen das Neue Forum und die Bild-Zeitung Halle. Es
beschließt zugleich, dass der Antragsteller bis zum 18. August 1992 eine ordentliche Klage in der Hauptsache erheben muss, andernfalls wird der Beschluss
wieder aufgehoben.
Mit Schreiben vom 05. Juli 1993 zieht Harald Voß beim Landgericht Halle seinen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung wieder zurück.
10
Nicht alle Verfahren enden so. 18 Klagen sind inzwischen bei Gericht anhängig.
Das finanzielle Risiko ist für das Neue Forum so hoch, dass der hallesche
Ortsverband am 17. August 1992 beschließt, die Listen nicht länger öffentlich
auszulegen. Unter Androhung von Ordnungsgeldern von bis zu 200.000 Mark ist
es den Bürgerrechtlern untersagt worden, die inkriminierten Namen weiter im
Zusammenhang mit einer MfS-Tätigkeit zu nennen.53 Das Neue Forum richtet
ein Spendenkonto ein und fordert die Kontrahenten öffentlich auf, Klage zu erheben, um die Vorwürfe vor Gericht zu klären.
Heidi Bohley in „Hallesches Tageblatt“: „Wir sind im Sinne der Wahrheit
für den ordnungsgemäßen Gerichtsweg. Unser Rechtsanwalt wird darum in
allen 18 Fällen verlangen, dass die Betroffenen Klage beim Kreisgericht
Halle erheben. Dort wird dann in einem Prozess die Frage zu klären sein,
ob die Betroffenen sich zu Recht auf den Listen befanden und schließlich,
ob das Neue Forum das Recht hatte, diese Listen offenzulegen. In den Prozessen werden die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, über ihre etwaigen
Verbindungen zum MfS zu berichten. Die Gauck-Behröde wird als Sachverständiger eingeschaltet. Das Neue Forum ist bereit, die Prozesse bis in die
letzte Instanz zu führen.“ 54
52 Verpflichtungserklärung vom 26.03.1986. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 1, Bl. 17
53 ADN: Hallenser Stasi-Listen werden geschlossen. In: Berliner Zeitung, 19.08.1992.
54 Rosendahl, Ingolf: Neues Forum legt „IM-Listen“ nicht länger aus. Rollt Prozesswelle? / Tageblatt sprach mit H.
Bohley. In: Hallesches Tageblatt, 19.08.1992.
37
Zehn Personen ziehen daraufhin ihre Anträge auf Einstweilige Verfügungen zur
Schwärzung ihres Namens auf der Liste – zu denen es wie üblich im Eilverfahren keine Anhörung durch das Gericht gegeben hat – zurück. Eine Person verstirbt.
Parallel zu der juristischen Auseinandersetzung mit dem Neuen Forum hat die
Stadtverwaltung mit den auf der Liste genannten und bei ihr beschäftigten Personen Gespräche geführt – von der Reinigungskraft bis zum städtischen Theaterintendanten. 88 IM-Registrierungen im Zuständigkeitsbereich des Magistrats finden sich in der Aufzählung. In den bis Ende August insgesamt 77 geführten
Gesprächen haben 56 Mitarbeiter eingeräumt, für das MfS gearbeitet zu haben.
Ihnen sind einvernehmliche Auflösungsverträge angeboten worden. 46 machen
davon Gebrauch, zehn wird fristlos gekündigt. „Die öffentliche Verwaltung muss
ein Partner der Bürger sein“, begründet Oberbürgermeister Klaus Rauen das
Vorgehen der Stadt. „Dazu gehört, dass wir uns von solchen Menschen trennen,
denen dieses Vertrauen aufgrund ihrer Vorgeschichte nicht entgegengebracht
werden kann.“ 55
11
Mitte August. Es ist längst wieder ruhig in der Stadt. Die Suche nach den Urhebern der Liste ist im Sande verlaufen, ein Bekennerschreiben ist nicht eingegangen. Rund 30 Strafanzeigen wegen des Verdachts der „üblen Nachrede“
sind bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Mehr ist nicht passiert.
Acht Wochen nach Auftauchen der anonymen Liste haben die Menschen in
Halle mit den Fakten leben gelernt. Kein Chaos, keine Gewalt, keine Toten. „Die
Angst war unbegründet“, bilanziert „Der Tagesspiegel“ aus Berlin Anfang
September 1992. „Die Menschen drängten sich zwar, um Einsicht zu nehmen,
aber die Reaktionen blieben eher unterkühlt.“ 56
Mitte September wird durch „Bild Halle“ eine Liste mit den Namen der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter bekannt. „Entlarvt“, titelt das Blatt. „Alle 3.000 StasiMitarbeiter vom Gimritzer Damm.“ 57 Auch hier ist nach einer ersten Durchsicht
schnell klar: Die Daten sind echt. Grundlage für die Auflistung der hauptamtlchen
Mitarbeiter bildet das MfS-interne Finanzprojekt Fipro.
55 Görtz, Armin: IM sanft vor die Tür gesetzt. In: Hallesches Tageblatt, 01.09.1992.
56 Reckmann, Jörg: Schwierige Suche nach den unschuldigen und den richtigen Tätern. In Halle sorgte eine Liste mit
den Namen von fast 5.000 Stasi-Spitzeln nur kurz für Unruhe. In: Tagesspiegel, 06.09.1992.
57 Bild Halle, 14.09.1992.
38
Einer der ganz wenigen Hauptamtlichen, die in jenen Tagen reden, ist Peter
Romanowski, der letzte Chef der halleschen MfS-Bezirksverwaltung bzw. des
Bezirksamtes. Er hat eine Vorzeigekarriere im MfS hingelegt: Der Hallenser
absolviert zwischen 1963 und 1967 ein Studium der Chemie und Polytechnik an
der Martin-Luther-Universität und schließt es aufgrund seiner ausgezeichneten
Leistungen drei Monate früher als ursprünglich vorgesehen ab. Unmittelbar
danach wird er als hauptamtlicher FDJ-Sekretär am Bereich Medizin eingesetzt.
Von dort aus wechselt er als Sekretär für Agitation und Propaganda in die FDJKreisleitung der Universität und führt zwischen 1969 und 1972 unter dem
Decknamen „Ajax“ selbst als Führungs-IM ein Netz an GeheimdienstInformanten. Nachdem das MfS schnell auf ihn aufmerksam geworden ist, will
es ihn einstellen. Romanowski soll eigentlich schon 1968 hauptamtlich in den
Dienst übernommen werden. Die SED-Bezirksleitung lehnt dies jedoch mit der
Begründung ab, „dass das Sekretariat der Auffassung sei, dass kein Kader der
FDJ z.Zt. freigestellt werden kann.“ 58 Auch der Apparat hat Personalmangel.
Auch 1970 ist eine Übernahme zunächst unmöglich, weil Romanowski zu diesem Zeitpunkt als Sekretär der FDJ-Kreisleitung auch noch Kandidat des FDJZentralrats ist. „Durch sein Ausscheiden als Kandidat des Zentralrates der FDJ
auf dem IX. Parlament und des Ablaufes der Wahlperiode als Sekretär der FDJKreisleitung der MLU Halle besteht die Möglichkeit der Einstellung in das MfS“,
bilanziert 1972 der Abteilungsleiter XX der BVfS Halle, Joachim Gröger.
Romanowski wird nicht nur sofort als Leutnant eingestellt. „Desweiteren schlagen wir vor, seine inoffizielle Zusammenarbeit von September 1969 bis einschließlich zu seiner Einstellung anzurechnen.“ 59 Auch beim MfS wird nach
Dienstjahren gezahlt.
Von nun an macht Peter Romanowski kontinuierlich Karriere, die ihn 1990 bis an
die Spitze des Bezirksamtes führt. In dieser Funktion sitzt er 1990 nach eigenem
Bekunden „an allen Runden Tischen, die es damals hier gab“.60
Peter Romanowski in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Alle undifferenziert zu
verdammen ist genauso blödsinnig, wie alle pauschal reinwaschen zu wollen. Natürlich gab es Leute darunter, die waren sogar ihren Führungsoffizieren
widerlich. Wirklich miese Kerle, die sich eingeschleimt haben. Aber andere
58 Aktenvermerk vom 11.12.1968. BStU, ASt Hle, PA-Nr. 748, Bl. 218.
59 Vorschlag zur Einstellung vom 19.01.1972. BStU, ASt Hle, PA-Nr. 748, Bl. 54 ff.
60 Bergmann, Ralf. G.: Die Ohnmacht des Allmächtigen. In: Dust, Stadtmagazin Halle, Heft 12/1994, S. 12 f.
39
wieder haben mitgemacht, weil sie dachten, wenn an diesem Staat noch jemand was ändern kann, dann der Staat im Staate, also die Staatssicherheit.
Nur das war nicht möglich. Auch die Staatssicherheit hatte ihre Grenzen.“ 61
Zu Diskussionen in der Öffentlichkeit kommt es noch einmal am Jahresende, als
einer der auf der Liste Genannten, inzwischen Inhaber einer Weinhandlung und
vor 1989 intensiver Informant der Staatssicherheit, den IM-Jahrgangssekt kreiert und dafür eigene Etiketten drucken lässt. Das finden viele dann doch
geschmacklos und empörend.
Aus einem Interview des Weinhändlers für eine Diplomarbeit: „Auf der
Sektflasche - das waren ja zwei - da stand drauf der Spruch: Die Wölfe sind
benannt, so schallt es im Halleschen Land. Also das war die Euphorie mit
Rotkäppchen. So war es ja. In dem Zusammenhang, als ich das gemacht
habe, Weihnachten `92, das war Anfang Dezember, das „Hallesche Tageblatt“, die hatten sehr ausführlich darüber berichtet, eine ganze Seite mit
einer reißerischen Überschrift, „Rotkäppchen-Sekt mit Stasi-Etiketten“.
Und das ist dann im „Naumburger Tageblatt“ noch mal erschienen und
Rotkäppchen, die wussten gar nichts davon. Die haben sofort eine Krisensitzung gehabt, weil ich habe nur gesagt: „Ich mache einen Jahressekt mit
Etiketten selbstklebend“. Weil das war denen zu kompliziert ... Zunächst
haben sie das als große Krise gesehen, dass ‚Rotkäppchen’ mit der Stasi in
Verbindung gebracht wird ... Da gab es dann allerdings beim ‚Halleschen
Tagblatt’ doch einige böse Anrufe, wie man eben so was, überhaupt das
Ereignis noch feiern kann ... Der halbtrockene Sekt war halt rot, rotes Etikett, da war ein leichtbekleidetes Rotkäppchen da, das so aus ihrem Mantel
lauter IM-Nummern zauberte. Und auf dem Trocknen war ein grünes Etikett
mit dem Wolf und einer Mütze wie die Großmutter. Der Wolf als Großmutter
verkleidet und da stand als Text „Die Wölfe sind benannt, so schallt es im
Halleschen Land.“ Da war eine alte Frau, die in den Laden gekommen ist,
was heißt alt, eine Ältere über 50, die hat gesagt: ‚Das ist eine Schweinerei,
ein halbnacktes Rotkäppchen!’ Das war das Einzigste.“ 62
61 Könau, Steffen: „Die IM waren nur die letzten Glieder einer langen Kette“. Peter Romanowski, Ex-Oberstleutnant
und Abteilungsleiter des MfS, will sich der Diskussion um die Vergangenheit stellen. In: Mitteldeutsche Zeitung,
04.09.1992, S. 3.
62 Beichtstuhl „Bild“. Eine Anprangerung von Stasi-Mitarbeitern in Halle und ihre Folgen: A.a.O.: S. 213.
40
12
Der 3. November 1992 ist ein Dienstag, auf den viele mit Spannung gewartet
haben. Die Argumente sind lange und oft getauscht worden, nun soll in einem
Saal des Landgerichts Halle der Frage nachgegangen werden, ob eine der
Personen auf der Liste zu Recht oder zu Unrecht als IM bezeichnet worden ist.
Es ist der Verhandlungstermin zu einer Wochen vorher ergangenen Einstweiligen Verfügung.
Der Prozesstermin geht überraschend schnell zu Ende. Wolfgang Kaleck, der
vom Neuen Forum beauftragte Anwalt aus Berlin, ist ebenso wenig erschienen
wie der Kläger und sein Anwalt. In letzter Minute, nicht einmal die Vertreter des
Neuen Forum hatten rechtzeitig davon erfahren, hat der Kläger seinen Antrag
zurückgezogen. Der Vorsitzende Richter ordnet nun das Ruhen des Verfahrens
an, bis eine der beiden Seiten die Wiederaufnahme anstrengt.63 Der Tag wird zu
einer Enttäuschung für alle, die gehofft hatten, dass es zu einer Entscheidung
kommt.
Aus einer Pressemitteilung von Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck: „Das
Neue Forum hatte im Juli der Bevölkerung in Halle die Möglichkeit gegeben,
in die von Unbekannten erstellten Listen der bei der Bezirksverwaltung
Halle des MfS registrierten Listen einzusehen. Dies geschah nicht, um eine
Hexenjagd zu eröffnen, die ja wie die Ereignisse zeigten auch nicht statt
fand, sondern um eine Auseinandersetzung zu dem Thema zu beginnen
und die halböffentliche missbräuchliche Verwendung der Listen, die schon
in Halle kursierten, zu verhindern.“
Aber nicht jeder Fall endet so wie dieser oder der einer Frau aus Dessau, die
eine Woche später ihre Klage gegen das Neue Forum kommentarlos zurückzieht.64 Im Wissen um die juristischen Tücken haben sich die Forum-Leute
inzwischen offizielle Auskünfte aus der Stasi-Unterlagen-Behörde besorgt. Sie
sind sicher, dass die Unterlagen – Aussagen der Führungsoffiziere, Vernichtungsprotokolle und Quittungen über geleistete Zahlungen des MfS an die Kläger –
spätestens vor dem Oberlandesgericht inhaltlich gewürdigt werden und den
Meineid der Kläger belegen. Der Bürgerrechtler Matthias Waschitschka glaubt
gar, dass in Einzelfällen Führungsoffiziere vorgeladen werden, um die Abläufe
von einst zu rekonstruieren.65
63 Reichert, Steffen: Neues Forum / Stasi-Listen: Prozess geplatzt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 04.11.1992.
64 Stasi-Listen: Klage wurde zurückgezogen. In: Hallesches Tageblatt, 10.11.1992.
65 Görtz, Armin: Oberlandesgericht soll klären: War Frau H. aus Halle bei der Stasi? In: Hallesches Tageblatt, 25.11.1992.
41
Die nächste Runde wird im Frühjahr des folgenden Jahres eingeleitet. Frank
Eigenfeld vom Neuen Forum hat von der Gauck-Behörde 13 als „streng vertraulich“ deklarierte Auskünfte zur möglichen IM-Tätigkeit der Kläger erhalten.
Die sollen nun – inzwischen ist es Mai 1993 – in einem vor dem Landgericht
Halle laufenden Verfahren eingeführt werden. Immerhin hatten die Anwälte der
Kläger bislang erklärt, die Beweislast für die Vorwürfe liege beim Neuen Forum.
Da diese den Nachweis aber nicht antreten könnten, müsse die Partei verlieren.
Frank Eigenfeld, Sprecher des Neuen Forum, hat bei der Gauck-Behörde damit
argumentiert, dass er die Auskünfte zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte
benötige, da er sonst vor Gericht verliere.66
Angesichts der neuesten Entwicklung vertagt sich auch die zuständige 5. Zivilkammer des Landgerichts und verkündet nicht, wie ursprünglich geplant, eine
Entscheidung. Sie bewertet den Inhalt als „so erheblich“, dass sie zuvor noch
eine mündliche Verhandlung Anfang Mai anordnet. Angesichts der aktuellen
Entwicklung zieht ein weiterer Kläger, ein Oberingenieur aus Halle, zwei Tage
später seine Klage zurück.67 Das Neue Forum freut sich über die Nachricht wie
nach einem Sieg. Und es ist ja ein Sieg. Ein kleiner zumindest.
Am 30. März 1993 entscheidet die 4. Zivilkammer des Landgerichts in einem
parallel laufenden Verfahren anders. Die Kammer entscheidet zugunsten der
Kläger, das Neue Forum verliert. Die vorliegenden Auskünfte der Gauck-Behörde werden inhaltlich nicht berücksichtigt. „Damit wird im Nachhinein StasiTätigkeit sanktioniert“, kommentiert Bürgerrechtler Frank Eigenfeld. Und nicht
nur das: Er kündigt an, in jedem Falle prüfen zu wollen, ob man Strafanzeige
wegen falscher Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung erstatte. Immerhin
liegen nunmehr belastende Auskünfte der Gauck-Behörde vor.68
Frank Eigenfeld in „Hallesches Tageblatt“: „Juristische Verfahren halten
wir für nicht ausreichend, das Thema Stasi-Vergangenheit zu klären.
Wenn aber jemand leugnet und uns verklagt, sind wir gezwungen, den
gerichtlichen Weg – auch bis zur letzten Instanz – zu gehen.
Wenn jemand behauptet, ich würde lügen, muss ich dagegen Stellung nehmen. Und aus den Zivilprozessen ergab sich, dass das Neue Forum beweisen muss, dass die Personen IM waren. Ich sah mich in meinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Denn bliebe es bei dem ersten Gerichtsbeschluss, der
66 Reichert, Steffen: Stasi-Listen / Prozesse: Neues Forum Halle geht in die Offensive. In: Mitteldeutsche Zeitung,
2503,1993.
67 Lehmann, Hagen: Prozess um Stasi-Listen: Beweise zwangen Ex-Spitzel in die Knie. In: Bild Halle, 29.03.1992.
68 Montag, Andreas; Reichert, Steffen: Stasi-Listen / Prozesse: In zwei Fällen für Kläger entscheiden. In:
Mitteldeutsche Zeitung, 31.03.1993.
42
uns untersagte die Namen zu nennen (weil die Betroffenen dadurch in der
Öffentlichkeit diskreditiert würden, d.A.), bedeutete das in der Konsequenz,
dass zukünftig niemand mehr behaupten dürfe, jemand sei für die Stasi
tätig gewesen - auch wenn es erwiesen ist.“ 69
Mitte Juni 1993 sieht die Bilanz aus Sicht des Neuen Forum ziemlich ernüchternd aus. Zehn der inzwischen 19 bei Gericht anhängigen Verfahren sind durch
die Kläger zurückgezogen worden. Vier sind noch offen. In fünf Fällen ist gegen
die Bürgerrechtler entschieden worden. Ausschlaggebend für den Sieg der
Kläger sind in erster Linie formale Gründe, das Gericht bewertet lediglich den
Informationsanspruch der Öffentlichkeit, nicht aber die Gutachten der GauckBehörde. Und das, obwohl zum Teil handschriftliche Verpflichtungserklärungen
und Auflistungen genutzter konspirativer Wohnungen vorliegen. Die Bürgerrechtler kündigen an, dass man in mehreren Fällen Strafanzeigen wegen Meineids erstatten wolle.70
13
Gabriele H. ist Unternehmerin. Seit 1975 betreibt sie mit ihrem Mann als Pächter eine kleine Gaststätte. Hier, wo der Kunde noch König ist, brummt das Geschäft. Kaffee und Kuchen, Torte und Tee werden gewünscht. Eine intime Atmosphäre lädt zum offenen Plausch oder aber zum diskreten Gespräch ein.
Gabriele H. ist eine von gut 4.500 Personen, die sich im Juli 1992 auf der Liste,
registriert als IM der MfS-Bezirksverwaltung Halle, gefunden hat. Anonyme Anrufer, sagt sie später, hätten sie informiert. Gabriele H. geht zu einem Anwalt.
Die Einstweilige Verfügung, die ihr Anwalt Hans-Jürgen Müggenborg beantragt,
fordert von den Bürgerrechtlern die Schwärzung des Namens bei angedrohten
500.000 DM Ordnungsgeld und die Übernahme der Verfahrenskosten. Die
Unternehmerin argumentiert, dass die MfS-Offiziere der nahegelegenen
Kreisdienststelle des öfteren bei ihr Tische vorbestellt hätten. Einen direkten
Kontakt? Niemals. „Es gab seitens des MfS keine direkten Anwerbungsversuche. Direkte Kontakte zum Staatssicherheitsdienst hatte ich nicht“, schreibt sie
in ihrer Eidesstattlichen Versicherung. Nur die Vorbestellungen seien ein möglicher Grund dafür, dass das Café nun auf der IM-Liste als Konspirative Wohnung
des MfS aufgeführt worden sei.
69 Kuhn, Christoph: Stasi-Listen ohne Ende? Gespräch mit Dr. Frank Eigenfeld, Neues Forum. In: Hallesches
Tageblatt, 30.04.1993.
70 Neues Forum legte Berufung ein. In: Hallesches Tageblatt, 10.06.1993.
43
Noch am selben Tag, am 21. Juli 1992, erlässt das Kreisgericht Halle eine
Einstweilige Verfügung, wonach alle Angaben im Zusammenhang mit der Gaststättenbesitzerin zu schwärzen sind, andernfalls 500.000 DM Ordnungsgeld
oder sechs Monate Haft drohen. Der Streitwert des Zivilverfahrens wird auf
50.000 DM festgelegt.71
Nachdem das Kreisgericht Ende August 1992 von der Gaststättenbesitzerin fordert, binnen drei Wochen in der Hauptsache Klage zu erheben,72 wird diese eingereicht. Am 8. September 1992 geht beim inzwischen gegründeten Landgericht eine Klage ein. In ihr werden die selben Forderungen wie im Antrag auf
Erlass einer Einstweiligen Verfügung erhoben.
Aus der Klageschrift: „Die Verbreitung der falschen Behauptung, die
Klägerin sei IM gewesen, stellt eine üble Nachrede im Sinne von § 186
StGB dar. Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Liste
mit ‚IM-Registrierungen’ überschrieben war, dass also lediglich behauptet
worden sei, die Klägerin sei als IM registriert gewesen, nicht aber, dass sie
tatsächlicher IM gewesen ist. In diesem Sinne wurde die besagte Liste von
niemandem aufgefasst. Der Vorspann der Liste wurde von dem weit überwiegenden Teil der Leser überhaupt nicht zur Kenntnis genommen ... Auch
der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, hat die
Liste in diesem Sinne verstanden. Ansonsten hätte er wohl kaum die Aussage treffen können, dass ‚keiner der 30 bisher Überprüften zu Unrecht
auf der Liste steht’.“
Das Verfahren läuft beim Landgericht Halle. Als Termin zur Verkündung einer
Entscheidung ist der 26. März 1993 anberaumt worden. Wenige Tage vorher
wendet sich der Prozessbeauftragte für das Neue Forum, der Berliner Anwalt
Wolfgang Kaleck, mit scharfen Worten an das Gericht und übersendet unter
„Protest gegen die Beweislast zum Beweis der Tatsache, dass die Klägerin entgegen ihrem bisherigen Vortrag als IM für das MfS tätig war, einen Einzelbericht, den die Gauck-Behörde, Außenstelle Halle am 22. März 1993 einem
Empfangsbevollmächtigten des Neuen Forums Halle, Dr. Eigenfeld, auf dessen
Antrag streng vertraulich ausgehändigt hat.“ Eine Rücksprache mit der Leiterin
der Außenstelle habe ergeben, dass der Bericht bei Gericht ins Verfahren eingeführt werden darf.73
71 Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 21.07.1992.
72 Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 27.08.1992.
73 Schreiben Anwalt Wolfgang Kaleck an das Landgericht Halle vom 23.03.1993.
44
Drei Tage später gibt die 4. Zivilkammer des Landgerichts der Klage statt und
verurteilt das Neue Forum zur Unterlassung der Namensnennung und zur Übernahme der Kosten. Der Streitwert ist auf 10.000 DM abgesenkt worden.
Aus der Urteilsbegründung: „Einerseits ist der Kläger durch die Art der
Information und den Inhalt schwer beeinträchtigt, andererseits ist nicht
ersichtlich, dass gerade sein Wirken für bedeutende Teile der Öffentlichkeit
von Interesse ist. Er ist keine ‚Persönlichkeit der Zeitgeschichte’, bei der in
Bezug auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht engere Grenzen
gezogen werden müssten. Für den Kläger gelten insoweit normale Maßstäbe,
das heißt, er hat grundsätzlich einen Anspruch auf Unterlassung der Weitergabe ihn in seiner Persönlichkeitssphäre beeinträchtigender Informationen
... Das Gewicht der Beeinträchtigung hebt dabei den Umstand auf, dass die
Tätigkeit, auf die sich die Behauptung der Beklagten bezieht, grundsätzlich
der Individualsphäre der Klägerin zuzuordnen ist. Andererseits ist kein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit ersichtlich, über die Eigenschaft gerade der Klägerin als registrierter ‚IM’ informiert zu werden.“ 74
Angesichts der juristischen Niederlage entscheidet sich das Neue Forum, vor
dem Oberlandesgericht in Naumburg in Berufung zu gehen. Am 21. Mai 1993 geht
der Schriftsatz des Anwalts auf den Weg nach Naumburg. Der Termin zur mündlichen Verhandlung ist Donnerstag, der 28. Oktober 1993. Es sind die selben
Argumente, diesmal noch weit ausführlicher dargestellt, die dem OLG gegenüber vorgebracht werden.
Der 4. Zivilsenat des OLG verkündet seine Entscheidung am 25. November
1993 zugunsten der Gaststättenbesitzerin und weist die Berufung zurück. Die
Kosten hat das Neue Forum zu tragen.
Aus der Urteilsbegründung: „Trotz der großen Auflage der fraglichen Ausgabe der Bild-Zeitung Halle von 195.000 Exemplaren ist durch die Veröffentlichung des Namens der Klägerin deren IM-Registrierung offensichtlich nicht
allgemeinkundig. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass bei einer erneuten Auslegung der Liste durch die Beklagten Personen von der IM-Registrierung der Klägerin erfahren, denen diese bisher nicht bekannt war. Damit ist
das berechtige Interesse der Klägerin auf Entfernung ihres Namens aus der
Liste gegeben ... Die Struktur des Stasi-Apparates und die Ausmaße seines
Informantensystems sind als solche seit der Wende in der DDR – gerade
auch durch die Aktivitäten des Beklagten – in weitem Maße aufgedeckt worden und in der Öffentlichkeit heute in großem Umfang bekannt. Es mag in
74 Urteil des Landgerichts Halle vom 26.03.1993.
45
der Umbruchphase 1989/1990, möglicherweise auch noch im Jahre 1991,
gerechtfertigt gewesen sein, zur Entlarvung der umfassenden Durchdringung
des gesellschaftlichen Lebens der DDR durch das Spitzelsystem der
Staatssicherheit eine Vielzahl von Personen ohne nähere Angaben zu ihrer
spezifischen Tätigkeit für das MfS öffentlich mit Personenkennzahl, Decknamen, Tätigkeitsort und allgemeiner Einsatzrichtung als IM zu bezeichnen.
Im Juli 1992 bestand und heute besteht angesichts der Konsolidierung der
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den fünf neuen Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System für eine
derartige unspezifizierte öffentliche Benennung früherer IM dagegen kein
Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mehr, so dass die durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht geschützten Belange früherer IM und
deren Interesse, nicht durch erneute öffentliche Benennung der Gefahr
ungerechtfertigter beruflicher und gesellschaftlicher Benachteiligungen ausgesetzt zu werden, überwiegen könnte.“ 75
14
Einen Überraschungssieg erzielt das Neue Forum wenige Monate später in
Naumburg. Nachdem es sich in vier Verfahren vor dem 4. Zivilsenat nicht erfolgreich behaupten konnte, urteilt der 7. Zivilsenat in einem fünften Verfahren nun
gänzlich anders. Im Streit mit einem Mediziner von der Martin-LutherUniversität, der auf der Liste zu finden ist, entscheiden die Richter, dass zwischen dem informationellen Selbstbestimmungsrecht und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit durchaus abgewogen werden müsse. Die Öffentlichkeit, so die Richter, habe durchaus ein Recht auf Informationen über Tatbestände, die die Allgemeinheit berühren.76
Aus dem Urteil: „Die öffentliche Verbreitung von Listen mit Namen,
Vornamen, Personenkennziffer, Einsatzort und Decknamen der Personen,
die als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS der ehem. DDR registriert waren,
stellt für sich allein noch keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes der so erfassten Personen dar, wenn die Tatsache ihrer Registrierung zutrifft und auch nicht wahrheitswidrig behauptet wird, dass diese Personen tatsächlich für den damaligen Staatssicherheitsdienst tätig geworden
sind. Deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt innerhalb dieser Grenzen zurück hinter das Interesse der Allgemeinheit an sachlicher
75 Urteil des OLG vom 25.11.l993.
76 Kern, Rolf; Montag, Andreas: Stasi-Listen / Prozesse: Neues Forum gewann im fünften Streich. In: Mitteldeutsche
Zeitung, 16.03.1994.
46
Aufklärung über Funktionsweise, Strukturen sowie freiwillige und unfreiwillige Träger des überwundenen politischen Zwangssystems.“ 77
Etwa zeitgleich erscheint ein Beitrag in einem halleschen Stadtmagazin, der die
Folgen der Nennung als IM für lokale Prominente untersucht. Da ist der Galerist,
der den ganzen Trubel unbeschadet überstanden hat. Die Gauck-Behörde habe
ihm damals den Rat gegeben, sich mit seiner Geschichte der Öffentlichkeit zu
stellen. Da ist der Stempelmacher, der weiter ein florierendes Geschäft betreibt.
Der Weinhändler freut sich im Rückblick über seine Marketing-Idee, den IMJahrgangssekt zu kreieren. 1.000 Flaschen hat er seinerzeit abgesetzt. „Soviel
Flaschen hätte ich 1992 unter normalen Umständen nie verkauft.“ Und der
Rechtsanwalt, der damals die meisten Kläger gegen das Neue Forum vertreten
hat, sagt, dass das alles niemanden mehr interessiert. Und dass der wichtigste
Aspekt jetzt der der Prozesskosten sei. Jeder hat seine eigene Wahrheit.
Jens Weichner im Stadtmagazin „Dust“: Lethargie und Langeweile, laute
Aufschreie und Lamentieren. Stasi und kein Ende, ständig wilde Diskussionen. Das alles war einmal. Genau zwei Jahre ist es her, dass die anonymen
IM-Listen irgendwo zwischen Trotha und Beesen, Büschdorf und der Neustadt verschickt worden sind. Eine Stadt hat gelernt, sich an die Alltäglichkeit von ‚Dr. Müller’, ‚Rose’ und ‚Einstein’ zu gewöhnen.“ 78
15
Zwei Urteile, die unterschiedlicher nicht ausfallen könnten. Der eine Spruch gibt
dem Neuen Forum Recht, der andere untersagt das Auslegen der Liste. Das
verlangt nach einer Entscheidung durch den Bundesgerichtshof – und so ziehen
in beiden Fällen jeweils die Verlierer vor die nächste Instanz. Alle anderen Fälle
sind zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Durch Rücknahme der Klage,
durch Vergleich, durch Tod oder dadurch, dass die Entscheidungen rechtskräftig geworden sind.
Jetzt geht es nur noch um Präzedenzfallentscheidungen. Öffentlichkeit oder
nicht?
In beiden Fällen entscheidet der Bundesgerichtshof in Karlsruhe gegen das
Neue Forum. Im Fall der Gaststättenbesitzerin verkündet der VI. Zivilsenat des
BGH seine Entscheidung am 12. Juli 1994.
77 OLG Naumburg, Urteil vom 15.03.1994, - 7 U 61/93 (LG Halle). Zitiert nach: Neue Justiz, Heft 8/94, S. 370 f.
78 Weichner, Jens: Last but not list oder: Zwei Jahre danach. In: Dust, Heft 7/94, S. 12 f.
47
Aus der Urteilsbegründung: „Dem Engagement des Beklagten, einen
Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und zur Bewältigung der
Probleme aus der früheren Stasi-Mitarbeit weiter Bevölkerungskreise zu
leisten, kann ebenfalls kein so starkes Gewicht beigemessen werden, dass
die Klägerin die in der Veröffentlichung ihres Namens liegende Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit hinnehmen müsste. Zur Aufarbeitung dieser Probleme war die Namensliste nach ihrem Inhalt kaum geeignet.
Sicherlich konnte sie vor Augen führen, wie viele Menschen aus unterschiedlichsten Schichten eines örtlich begrenzten Bereiches für das MfS
gearbeitet haben. Die pauschalisierende, nach Umfang und Grad der Tätigkeit der genannten Personen nicht unterscheidende Nennung ihrer Namen
diente hier jedoch nicht der Verdeutlichung eines sachlichen Anliegens
durch Personalisierung des angeprangten Geschehens (vgl. dazu Senatsurteil vom 12. Oktober 1993 - VI ZR 23/93 – VersR 1994, 57, 58); sie konnte zur Aufdeckung der Strukturen des Stasi-Apparates nichts Wesentliches
beitragen. Die Namensnennung konnte eigentlich nur bewirken, für einen
begrenzten Bezirk um Halle die dort lebenden Menschen in durch ihre Mitarbeit für das MfS belastete und nicht belastete zu scheiden.“ 79
Das Neue Forum ist empört. Die knappe Mehrheitsentscheidung, die der BGH
getroffen hat, entsetzt die Bürgerrechtler. „In einer so tief politischen Angelegenheit“ sagt Heidi Bohley, „kann man doch gar nicht gegen uns entscheiden.“ Und
sie verweist noch einmal auf das Gutachten der Gauck-Behörde, wonach die
Café-Besitzerin ein Zimmer ihrer Gaststätte zur Verfügung gestellt, zwei Postkarten als Erkennungszeichen der Führungsoffiziere, Belobigungen, Auszeichnungen und Geschenke erhalten habe. „Unglaublich, dass den Bespitzelten von
einst das Recht nicht zugestanden wird, die Namen der Täter zu nennen“, so die
Bürgerrechtlerin.80
Aus der Presseerklärung des Neuen Forum: „Das Urteil ist ein Skandal,
weil mit so einer Grundsatzentscheidung allen Ostdeutschen, die ihre DDRJahre als anständige, aufrechte Menschen über die Runden brachten, ein
Maulkorb angelegt wird. Wer in der DDR bespitzelt wurde, hatte weder
damals noch heute die Möglichkeit, diese Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte einzuklagen. Er oder sie haben aber das legitime Recht zu erfahren,
wer die Spitzel waren.“ 81
79 Urteil des BGH vom 12.07.1994.
80 Reichert, Steffen: Stasi-Listen: Neues Forum nach Urteil fassungslos. In: Mitteldeutsche Zeitung, 14.07.1994.
81 Presseerklärung des Neuen Forum Halle vom 13.07.1994.
48
Obwohl die Prozesskosten zu diesem Zeitpunkt eine für das Neue Forum
schmerzhafte Höhe erreicht haben, kündigt es an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.82 Man sehe sein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit verletzt. Liedermacher Wolf Biermann kündigt ein Benefizkonzert
für die Hallenser an.
Sechs Jahre später, im März 2000, kommt das Bundesverfassungsgericht zu
dem Schluss, dass die vorherigen Instanzen wichtige Argumente, die für eine
Auslegung der Listen sprechen, nicht ausreichend berücksichtigt habe. Eine
Entscheidung lehnt es aber ab. Rechtsanwalt Peter Raue, der das Neue Forum
in Karlsruhe vertreten hat, ist zornig. „Es hätte genauso so viel (wenig) Arbeit
gemacht, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben, an der Begründung hätte
sich kein Deut geändert. So haben wir gewonnen – im Gefäß eines verlorenen
Prozesses“, schreibt er den Hallensern.83
Das Neue Forum hat gewonnen und verloren. Eine letzte Meldung zum Thema
durchrauscht den Blätterwald. „Karlsruhe rüffelt Bundesgerichtshof. ‚Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet’“ wird in Halle getitelt,84 „Stasi-Liste zu Recht
veröffentlicht“, in Berlin.85
Die für das Neue Forum entstandenen Kosten belaufen sich zu diesem Zeitpunkt auf knapp 100.000 DM. Das Neue Forum zehrt seine Wahlkampfkostenerstattung auf.
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
Gerichtskosten
Rechtsanwaltskosten
Gericht- und Anwaltskosten
Gerichts- und Anwaltskosten
Prozesskosten
Anwaltskosten
Anwaltskosten
Verfassungsbeschwerde
Gesamt
532,20 DM
6.470,03 DM
25.127,16 DM
39.337,09 DM
15.073,98 DM
706,62 DM
5.800 DM
93.047,08 DM
82 Im Streit um die Veröffentlichung einer Liste angeblicher Spitzel. BGH gibt Stasi-Mitarbeiterin recht. In:
Süddeutsche Zeitung, 14.07.1994.
83 Schreiben Peter Raue an die Landesgeschäftsführung des Neuen Forum vom 17.03.2000.
84 Karlsruhe rüffelt Bundesgerichtshof. „Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet“. In: Mitteldeutsche Zeitung, 18.03.2000.
85 Stasi-Liste zu Recht veröffentlicht. In: Berliner Zeitung, 18.03.2000.
49
16
Spurensuche, zehn Jahre danach. Hat sich die Stadt Halle durch die Liste verändert? Sind die Menschen auf der Liste noch da? Und ob. Der Weinhändler
betreibt erfolgreich seine Weinhandlung. Die Gastronomin führt ihr Café. Der
Olympiasieger hat inzwischen ein riesiges Kaufhaus eröffnet. Der Wirtschaftswissenschaftler führt den größten örtlichen Fußballverein als Präsident. Der
renommierte Germanist wird eingeladen, um Vorträge zu halten. Des Geschäft
des Stempelmachers zählt als erstes Haus am Platz in seiner Branche. Die
Chefin der Händel-Festspiele feiert internationale Erfolge. Und der Sportfunktionär von einst ist heute Hauptgeschäftsführer des größten Sportklubs der Stadt.
Die Gesellschaft hat auf ganz unterschiedliche Art und Weise jeden dieser
Menschen integriert. Hat diskutiert, hat hinterfragt, damals wie heute. Manchmal
kann man noch einen Leserbrief finden.
„Der Druck ist weg“, sagt Heidi Bohley. „Alle wissen jetzt, dass es alle wissen.“ 86
Und was ist mit jenen, die von der Liste wussten, sie erstellten? Was ist mit den
Konsequenzen? Die Urteile sind gesprochen, Karlsruhe hat entschieden. Oder
vielmehr nicht. Das Ermittlungsverfahren gegen die Urheber der Liste ist lange
eingestellt worden. Ein Meineidsverfahren hat es vor Gericht nie gegeben,
genauso wenig wie eins wegen übler Nachrede.
Und die Urheber? Es ist eine schwierige Suche. In einer Stadt wie Halle kennt
jeder jeden und doch niemanden. Ein Dutzend Jahre danach gibt es noch immer
kein offizielles Bekenntnis. Gibt es noch immer niemanden, der sagt: Ich war’s.
Was es nach vielen Mühen gibt, ist lediglich ein Schreiben, in dem die Motive
von einst noch einmal dargelegt werden. Freilich anonym [siehe Seite 72].
Wer sich heute noch immer für die Aufarbeitung des Themas Staatssicherheit
interessiert, der hat die Liste üblicherweise in seinem Regal stehen. Sie gilt bei
Historikern aufgrund der detaillierten Angaben als unverzichtbares, weil verlässliches Nachschlagewerk für einen wichtigen Teil der in Halle tätigen Inoffiziellen
Mitarbeiter.
86 Könau, Steffen: Der Tag, an dem es alle wussten. In: Mitteldeutsche Zeitung, 12.07.2002, S. 3.
50
Stasi-Listenprozesse gegen das Neue Forum Halle 1992 - 2000
51
Tätigkeit
Journalist
MTA
Ärztin
Arzt
Cafébetreiberin
Physiker
Rechtsanwalt
Oberingenieur
Arzt
Angestellter
Angestellter
Angestellter
Musiklehrer
Biochemiker
Unternehmer
Rechtsanwalt
Geschäftsführer
Kläger
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
Hettstedt
Quedlinburg
Halle
Alznau
Halle
Halle
Großkorbetha
Halle
Dessau
Halle
Halle
Halle
Halle
Halle
Merseburg
Dessau
Leipzig
Wohnort
Verstorben
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
Rücknahme
Rücknahme
Pro Kläger
Pro Kläger
Rücknahme
Pro Kläger
Pro Kläger
Pro NF
Landgericht
Vergleich
Pro Kläger
Pro Kläger
Pro Kläger
Pro Kläger
OLG
Pro Kläger
Pro Kläger
BGH
Pro NF
BVerfG
Hallesches Tageblatt, 30.4.1993
Prof. Dr. Peter Raue
Das Neue Forum und die hallesche „IM-Liste“ – auch eine Prozessgeschichte
Mit dem friedlichen Ende der DDR, spätestens mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 begann unvermeidlich die
Aufarbeitung der Geschichte der DDR. Für diese Tätigkeit stehen ganz unterschiedliche Institutionen, wohl in erster Linie die sogenannte Gauckbehörde, die
die Grundlage für ihr Tätigwerden im „Gesetz über die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen
Republik“ – Stasi-Unterlagengesetz – hat, aber auch verschiedene, ohne derartige gesetzliche Grundlagen arbeitende Bürgerbewegungen, an deren Spitze
das Neue Forum stand, das sich an vielen Fronten für Aufklärung, Offenheit und
rechtsstaatliche Verfahren im Zusammenhang mit in der DDR begangenem
Unrecht einsetzte. An der dritten Säule der Aufklärung – neben „Gauck“ und
Bürgerbewegung – wird noch lange gebaut werden: das ist die Literatur, die zum
Leben (und zum Leiden) in der DDR entstanden ist (jüngst Julia Francks faszinierendes Buch „Lagerfeuer“ und Christoph Heins fulminanter Roman
„Landnahme“).
Als das Neue Forum, seinem eigentlichen Auftrag folgend, 1992 eine von
Unbekannt erstellte Liste von „IM“ (Inoffizielle Mitarbeiter) in Halle in seinen
Geschäftsräumen, für jedermann zugänglich, ausgelegt hat, wurde diese Aktion
von einem juristischen Nachspiel begleitet, das beispiellos und zugleich beispielhaft für den Umgang der deutschen Justiz mit der DDR-Vergangenheit ist.
Sieht man von einigen strafrechtlichen Entscheidungen ab, die stets über individuelle Schicksale, über Schuld und Sühne entscheiden mussten, steht die
Rechtsprechung zu der Auslegung der „Halle-Liste“ für die Schwierigkeit, die
Vergangenheit durch Aufklärung bewältigen zu wollen, geradezu exemplarisch
in der deutschen Rechtsgeschichte. Es ist erstaunlich, wie wenig juristische und
allgemein-publizistische Resonanz die Entscheidungen gefunden haben,
Entscheidungen, die Gerichte aller Instanzen – Landgericht, Oberlandesgericht,
Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht – beschäftigt haben. Es bleibt
eine nachgerade groteske Volte dieser Rechtsprechung, dass das
Bundesverfassungsgericht erkannt hat: die Auslegung dieser Liste war rechtmäßig und dennoch hat es dem Neuen Forum sein Recht verweigert.
Bevor die Vorgänge in Vergessenheit geraten, die Akten mit dem Vermerk „kann
54
vernichtet werden“ versehen und dem Reißwolf anheim gegeben werden, lohnt
es wohl, den Scheinwerfer auf diese Prozessgeschichte zu werfen und festzuhalten, was die deutschen Gerichte zum Aufklärungsrecht der Bürger über einen
sehr präzisen, höchstdramatischen DDR-Sachverhalt zu sagen wussten.
I
Die Ausgangslage
Die Entscheidungen, die wir hier reflektieren und über die wir referieren wollen,
zeichnen sich aus durch einen klaren und – das ist selten in der Judikatur! –
letztlich unbestrittenen Sachverhalt.
1. Der Sachverhalt
Anfang Juli 1992 kursierte eine Liste, die überschrieben war mit „IMRegistrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle
und Halle-Neustadt des MfS 1986-1989“. Der Urheber dieser Liste war und blieb
unbekannt. In dieser Liste wurden rund 4.500 Namen Inoffizieller Mitarbeiter (IM)
des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR einschließlich Personenkennziffern, Einsatzorten und -richtungen sowie Decknamen veröffentlicht.
Diese Liste war von „Unbekannt“ Anfang Juli 1992 an alle Landesministerien in
Sachsen-Anhalt, Landtagsfraktionen, Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung in Halle und weitere öffentliche Stellen versandt und schließlich in BILD veröffentlicht worden. Die Urheber dieser Liste haben ihr eine Vorbemerkung vorangestellt, in der es unter anderem heißt:
„Einschränkungen
Eine derart umfangreiche Liste wird nicht vollständig fehlerfrei sein.
Für den Fall, dass sich jemand irrtümlich oder fehlerhaft in dieser
Liste aufgeführt sieht, empfiehlt es sich, eine Überprüfung durch
die Gauck-Behörde zu beantragen.
Dazu als Erläuterung:
Personen können als IM geführt sein, obwohl sie schon lange keinen
Kontakt mehr zum MfS hatten.
Personen können als IM geführt sein, obwohl sie den Kontakt mit
dem MfS selbständig abgebrochen haben oder der Kontakt von
Seiten des MfS abgebrochen wurde.
In wenigen Ausnahmefällen wurden Personen zu IM registriert, ohne
dass es zur aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen ist.
55
Unbedingt zu beachten!
Jeder, der diese Liste benutzt, muss sich dieser Einschränkungen
bewusst sein. In der Öffentlichkeit darf diese Liste nicht ohne die vollständige Vorbemerkung verwendet werden.“
Das Neue Forum – eine aus der Bürgerbewegung der DDR hervorgegangene
Vereinigung – hat die Liste am 23. Juni 1992 erhalten. Nachdem zunächst die
Bild-Zeitung aus der Liste veröffentlicht hatte, ihr andere Zeitungen folgten und
die Liste in Halle zur Preisen zwischen DM 300 und DM 500 zum Verkauf angeboten wurde, hat sich das Neue Forum entschlossen, diesem Spuk dadurch ein
Ende zu bereiten, dass die Namensliste ab 16. Juli 1992 in seinen Büroräumen
in Halle öffentlich zur Einsichtnahme für jedermann ausgelegt wurde. Es war das
erklärte Ziel des Neuen Forum, Vermutungen und Gerüchte darüber zu beenden, wer in der Liste verzeichnet war, Erpressungen vorzubeugen und dem
ominösen Schwarzhandel mit dieser Liste ein Ende zu bereiten. Insgesamt
haben etwa 700 Personen die Liste in den Büroräumen des Neuen Forum eingesehen, die Auslegung war am 8. August 1992 beendet.
2. Die Ausgangslage der Rechtsstreitigkeiten
Sechs Personen, die auf dieser Liste verzeichnet waren, haben zunächst (erfolgreich) im Wege der einstweiligen Verfügung eine weitere öffentliche Auslegung
der Liste durch verschiedene Kammern des Landgerichts Halle (hinfort: LG
Halle) untersagen lassen. Aus hier nicht zu schildernden Rechtsgründen haben
die Betroffenen dann die sogenannte Hauptsachenklage erhoben, in der das
Gericht in einem ordentlichen (das heißt nicht nur vorläufigen) Verfahren feststellen sollte, ob die Auslegung der Liste rechtmäßig gewesen ist. Ernstlich hat
keiner der Kläger bestritten, als IM registriert gewesen zu sein – einige der
Kläger haben allerdings behauptet, für die Staatsicherheit als IM nicht tätig
geworden zu sein (obwohl sie mit ihrem Einverständnis als IM registriert waren!).
Keine Kammer des Landgerichts Halle ist der Frage, ob die insgesamt sechs
Kläger IM waren oder gar: ob sie als IM und inwiefern sie aktiv für den
Staatssicherheitsdienst gearbeitet haben, nachgegangen. Vielmehr haben alle
Kammern als wahr unterstellt, dass die klagenden Personen als IM registriert
gewesen sind. Es verdankt sich dem Geschäftsverteilungsplan des LG Halle,
dass drei verschiedene Kammern die Frage der Zulässigkeit der Auslegung der
Liste durch das Neue Forum entscheiden mussten (und verneint haben).
56
II
Die Entscheidungen
Landgericht
Alle Kläger waren in der ersten Instanz (vor den Kammern des LG Halle) erfolgreich. Warum? Nachfolgend sollen die Entscheidungen der mit diesem Fall
befassten Gerichte verkürzt aber nachvollziehbar referiert werden:
Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde
vom Bundesverfassungsgericht in jahrzehntelanger Rechtsprechung entwickeltes und gefestigtes Rechtsinstitut: jeder Mensch hat das Recht, selbst zu bestimmen, welche persönlichen Daten von ihm in die Öffentlichkeit gelangen. Der
Zugriff auf die Privatsphäre bzw. auf die Individualsphäre eines jeden Menschen
bedarf, soll er denn zulässig sein, einer Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund
mussten die Gerichte die Frage entscheiden, ob dieser Eingriff in das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Eine solche
Rechtfertigung bietet sich geradezu an, betrachtet man das Grundrecht der
Meinungs- und Informationsfreiheit, wie sie Art. 5 Abs. 1 GG als zentrale Norm
einer demokratischen Verfassung und eines demokratischen Rechtsstaates normiert. Mit anderen Worten: die Gerichte hatten die Frage zu beantworten, welches Recht stärker ist: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder
das (dem Neuen Forum unbestritten zustehende) Recht auf Information. Dabei
sei betont, um den rechtlich komplizieren Sachverhalt zu verstehen: alle Gerichte
gehen davon aus, dass die Behauptung, die jeweiligen Kläger der verschiedenen Verfahren seien als IM registriert gewesen, der Wahrheit entspricht. Für die
Verbreitung unwahrer Tatsachen gibt es grundsätzlich keine Rechtfertigung, nur
die Verbreitung wahrer Tatsachen ist zulässig – auch bei Eingriff in das sogenannte informationelle Selbstbestimmungsrecht – sofern Verfassungshüter diesen Eingriff rechtfertigen. Es galt also in allen Entscheidungen, den Konflikt zu
lösen zwischen dem Recht der Betroffenen auf Geheimhaltung ihrer persönlichen Daten (IM-Registrierung) und dem Recht (unter anderem) des Neuen
Forum auf Information der Öffentlichkeit über einen politisch brisanten
Sachverhalt.
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen gemeinsamen Blick auf die Entscheidungen der 3., 4. und 5. Zivilkammern des Landgerichts Halle zu werfen.
57
Die Entscheidung der 5. Kammer
Dabei können wir die Entscheidung der 5. Kammer des Landgerichts Halle unter
der Abteilung „Kuriosa“ ablegen. Allein bleibt diese Kammer mit ihrer Ansicht, die
Veröffentlichung der Liste verstoße gegen das Stasi-Unterlagengesetz (StUG),
dessen § 32 regele, unter welchen Voraussetzungen die Gauckbehörde (!) personenbezogene Informationen über Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes
veröffentlichen kann. Das Gericht hat in geradezu grotesker Weise verkannt,
dass das sogenannte StUG kein Gesetz ist, das abschließend regelt, wer die
Vergangenheit der DDR aufarbeiten darf, vielmehr nur die Kompetenz der
Gauckbehörde festlegt. Unbestritten hat die Gauckbehörde mit der Veröffentlichung dieser Liste nicht das Geringste zu tun. Dieses Urteil können wir bei unserer aufarbeitenden Betrachtung daher getrost vergessen.
Die Entscheidung der 4. Kammer
In drei verschiedenen Verfahren hat sich die 4. Kammer am gründlichsten mit
dem Problemfeld auseinandergesetzt und es ist bemerkenswert, dass die zu
einem unterschiedlichen Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen der Kammer
keineswegs im Wortlaut gleich sind (was sich dem Umstand verdankt, dass die
Verhandlungen unterschiedliche Berichterstatter hatten). Insgesamt lassen sich
die Entscheidungen der 4. Kammer wohl wie folgt zusammenfassen und referieren:
Obwohl die ausgelegte Liste mit den 4.500 Namen nur das eine behauptet hat:
dass die in der Liste Aufgeführten als IM in dem dort angegebenen Zeitraum registriert waren, unterstellt die 4. Kammer des Landgerichtes, dass damit gleichzeitig eine aktive Tätigkeit der dort aufgeführten Personen für die Staatssicherheit insinuiert wird.
„Der Betrachter musste dies [das Auslegen der Liste] dahingehend
verstehen, dass die registrierten Personen im Regelfall bis 1989
Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit hatten und beobachtend für dieses tätig waren“.
Mit dieser durch keinerlei Tatsachen belegten (Fehl)Interpretation der Liste,
kommt die 4. Kammer des Landgerichtes zu der Erkenntnis:
„Die Behauptung, für das MfS tätig (!) gewesen zu sein, kommt nach
gängiger Betrachtung der Zuweisung erheblicher individueller Mitschuld an der Unterwanderung der Gesellschaft der ehemaligen
58
DDR gleich. Sie ist geeignet, das berufliche sowie private Umfeld
sowie die weitere persönliche Entwicklung der Klägerin schwer (!) zu
beeinträchtigen“.
Zur Verfestigung der erstinstanzlichen Interpretation – die ausgelegte Liste insinuiere ein Tätigwerden für den MfS – wird mit kühnem Sprung formuliert:
„Es wird durch die Behauptung (!!) des ‚Tätigwerdens’ letztlich auch
nichts darüber mitgeteilt, aus welchen Gründen [...] die Registrierung
erfolgte“.
Das Konfliktfeld hat die 4. Kammer in allen Entscheidungen richtig erkannt,
wenn es zum Beispiel formuliert:
„Maßgeblich ist [...] die Auslegung [...] der widerstreitenden Grundrechte. Diese sind hier auf Seiten des Klägers das allgemeine Persönlichkeitsrecht, speziell auch das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung, aus Art. 1 Abs. 1 GG, auf Seiten der Beklagten
(Neues Forum) das Grundsrecht auf freie Meinungsäußerung
gemäß Art. 5 Abs. 1 GG.“
Dass dieser Interessenkonflikt zugunsten der auf der Liste auftauchenden
Personen zu entscheiden ist, glaubt das Landgericht allein damit begründen zu
müssen, dass mit der Veröffentlichung
„die Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts über Gebühr
beeinträchtigt“
werden.
Dabei wirft das Landgericht dem Neuen Forum vor, den Klägern „keinerlei
Möglichkeit“ gegeben zu haben, eine korrigierende oder relativierende
Stellungnahme abzugeben.
Kein Wort verliert das Gericht darüber, wie man 4.500 Leuten eine solche
Gelegenheit einräumen will. Kein Wort darüber, warum die Beeinträchtigung der
Kläger schwerer wiegt als das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit.
In einer anderen Entscheidung jener 4. Kammer rechtfertigt das Landgericht
Halle sein Veröffentlichungsverbot wie folgt:
59
„Diese Informationen betreffen einen persönlichen Lebenssachverhalt des Klägers, dessen Offenbarung mit weitreichenden Folgen für
das Bild des Klägers in der Öffentlichkeit und seine private und berufliche Lebensgestaltung verbunden ist. Der Kläger ist auch seit
Veröffentlichung der Liste arbeitslos geblieben und die Max-PlanckGesellschaft hat von seiner Einstellung mit der Begründung abgesehen, sie könne keinen Mitarbeiter beschäftigen, dem der Makel einer
Stasi-Tätigkeit anhafte“.
Auch dies bleibt bemerkenswert: mit keinem Wort registriert das Landgericht,
dass die vom Neuen Forum ausgelegte Liste in den Zeitungen veröffentlicht und
auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf angeboten worden war. Die Frage, ob es die
Veröffentlichung nicht schon rechtfertigt, damit Gerüchten ein Ende, Erpressungen
Einhalt und dem Schwarzmarkt das Aus geboten wird, kommt in keiner
Entscheidung auch nur in den Bereich der Überlegungen.
Die Entscheidung der 3. Kammer
Mit identischem Tenor verurteilt auch die 3. Kammer das Neue Forum, die
Veröffentlichung zu unterlassen. Auch hier erkennt die Kammer:
„Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild
sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein
zugeordnet werden kann. Der Einzelne muss Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Desgleichen kann das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung durch verfassungsmäßige Rechte
anderer begrenzt sein“.
Eine solche Rechtfertigung für die Veröffentlichung erkennt das Gericht deshalb
nicht an, weil bei den 4.500 aufgelisteten Personen nicht zwischen dem Grad
ihrer IM-Tätigkeit unterschieden wurde. Sprachlich wie inhaltlich verunglückt formuliert das Gericht:
„Gerade durch die unterschiedslose Veröffentlichung nahm hierauf
aber keine Rücksicht; vielmehr wurden alle dort aufgeführten
Personen über einen Kamm geschoren“.
60
Noch erstaunlicher fährt das Gericht fort:
„Das Anliegen des Beklagten (Neues Forum), die DDR-Vergangenheit
mit den spezifischen MfS-Implikationen aufarbeiten zu wollen bzw.
diese Aufarbeitung zu fördern, kann es zwar im Einzelfall rechtfertigen, eine belastete Person bloß zu stellen. Der Beklagte hat aber
nicht dargetan, inwieweit für seine Zielsetzung die Veröffentlichung
der auf den Kläger bezogenen Daten von besonderem Interesse ist“.
Das ist schon eine erstaunliche „petitio principii“: zwar darf zur Vergangenheitsbewältigung eine Stasi-Verstrickung veröffentlicht werden, aber das Neue Forum
habe es verabsäumt darzutun,
„inwieweit ... die Veröffentlichung der auf den Kläger bezogenen
Daten von besonderem Interesse“
für dieses Aufklärungsbemühen ist.
Oberlandesgericht
Das Neue Forum hat – gerade weil es um ein grundsätzliches Problem geht,
nämlich um die Antwort auf die Frage, wie eine Bürgerbewegung mit dem DDRUnrecht umgehen darf – sämtliche Entscheidungen mit der Berufung angegriffen, die vor dem Oberlandesgericht in Naumburg (hinfort: OLG) verhandelt
wurde. Auch hier verdankt es sich dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts,
dass sich mit dem Rechtsstreit zwei verschiedene Senate – der 4. und der 7.
Senat – befassen mussten. Es ist ein erstaunlicher und erfreulicher Beweis richterlicher Unabhängigkeit, dass am selben Gericht zwei Senate die identische
Rechtsfrage unterschiedlich entschieden haben: während der 4. Senat die
Berufung zurückgewiesen mit anderen Worten: die Entscheidung des
Landgerichts Halle bestätigt hat, wonach die Veröffentlichung der Liste durch
das Neue Forum unzulässig ist, hat der 7. Senat die Veröffentlichung in einer
bemerkenswerten Entscheidung für zulässig erachtet.
Die Entscheidung des 4. Senates
Der Senat bringt das Problem des Rechtsstreits schnell auf den Punkt:
„Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beinhaltet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden,
ob und innerhalb welcher Grenzen seine Daten an die Öffentlichkeit
61
gebracht werden. Dieses Recht ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Denn da der Einzelne seine Persönlichkeit nur in der Gemeinschaft entfalten kann, steht ihm keine absolute uneingeschränkte Herrschaft über seine Daten zu. Er muss sich daher grundsätzlich
auch mit Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abfinden, insbesondere etwa auch dann, wenn derjenige, der bestimmte Daten des Betroffenen weitergibt, sich dabei seinerseits auf grundrechtliche Gewährleistungen, etwa das Recht auf
Meinungsfreiheit, stützen kann.“
Goldene, wenn auch sprachlich holprige Worte, die erwarten lassen, dass die
Registrierten sich das Auslegen der Liste gefallen lassen müssen. Weit gefehlt!
Nachdem das Gericht zu Recht unterstellt, dass die Behauptung, die betroffenen
Kläger seien als IM registriert gewesen, der Wahrheit entspricht, folgt ein überraschendes Dogma:
„Ein das Recht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung
überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung, dass
die Klägerin als IM [...] registriert und mit hoher Wahrscheinlichkeit in
irgend einer Form auch tatsächlich als IM aktiv geworden ist, liegt
nicht vor.“
Warum das OLG das Informationsinteresse der Öffentlichkeit verneint, bleibt das
Geheimnis des „erkennenden“ Senats. Dabei erkennt das OLG (was das LG
Halle verkannt hat):
dass die Informationen, die sich aus der Liste ergeben, nicht zur
„Intim- und Privatsphäre, sondern zu der auch ihre (der Klägerin)
beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen umfassenden Individualsphäre gehört, für die sie umfangreichere Einschränkungen ihres
Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinzunehmen hat, als
in den beiden erstgenannten Bereichen.“
Und nun kommt die Überraschung:
„Dennoch lässt sich ein überwiegendes Informationsinteresse der
Öffentlichkeit nicht feststellen.“
Der Senat lässt dahinstehen, ob im Einzelfall die Daten veröffentlicht werden
62
dürfen, denn es stelle sich nur die Frage,
„ob ein überwiegendes öffentliches Interesse an der isolierten Information besteht, die Klägerin sei [...] in den Akten der Stasi als IM
registriert und wahrscheinlich als solche tätig gewesen“.
Was nun folgt und zur Rechtfertigung des Veröffentlichungsverbotes herangezogen wird, ist eine erstaunliche historische Erkenntnis: was gestern zulässig
war, wird heute unzulässig, sinniert der zuständige Senat, wenn er ausführt:
„Es mag in der Umbruchphase 1989/1990, möglicherweise auch
noch im Jahre 1991, gerechtfertigt gewesen sein, zur Entlarvung der
umfassenden Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens der DDR
durch das Spitzelsystem der Staatssicherheit eine Vielzahl von
Personen ohne nähere Angaben zu ihrer spezifischen Tätigkeit für
das MfS öffentlich mit Personenkennzahl, Decknamen, Tätigkeitsort
und allgemeiner Einsatzrichtung als IM zu bezeichnen. Im Juli 1992
bestand und heute besteht angesichts der Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den fünf neuen Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System
für eine derartige unspezifizierte öffentliche Benennung früherer IM
dagegen kein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mehr, so dass
die durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht geschützten
Belange früherer IM und deren Interesse, nicht durch erneute öffentliche Benennung der Gefahr ungerechtfertigter beruflicher und
gesellschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt zu werden, überwiegen könnte.“
Dieser endlose Satz – unklare Sätze sind oft Ausdruck unklarer Gedanken! –
besagt nichts anderes, als: ein Jahr früher hätte die Liste ausgelegt werden dürfen, jetzt ist Schluss mit dem Aufarbeitungswahn des Neuen Forum.
Es ist zwar das Verdienst des Senates, wenigstens das Argument des Neuen
Forum zur Kenntnis genommen zu haben, dass das Auslegen der Liste angesichts der geschilderten Umstände (Veröffentlichung in Zeitungen, Handel auf
dem Schwarzmarkt) Erpressungen vorbeugen wollte. Aber: auch das ist nicht
hilfreich, sagt das Oberlandesgericht, denn
„es ist nicht zulässig, denkbaren Erpressungen, die durch Androhung
der Veröffentlichung nachteiliger Informationen begangen werden
63
könnten, dadurch vorzubeugen, dass diese Informationen der
Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.“
Warum nicht, fragt der Leser und erfährt keine Antwort.
Die Entscheidung des 7. Senates
Mit erfrischender Klarheit und Kürze kommt der 7. Senat des Oberlandesgerichts zum gegenteiligen Ergebnis: er weist die Klage des als IM geführten
Klägers ab.1 Dieser 7. Senat judiziert:
„Der Klage muss aber der Erfolg versagt bleiben, weil dem Kläger
überhaupt kein Unterlassungsanspruch zusteht.“
Nur dieser Senat hat – anders als der Parallelsenat, anders als die Kammern
des Landgerichts Halle – erkannt, dass die ausgelegte Liste nur eine einzige
Behauptung aufstellt: dass die in der Liste Aufgeführten als IM registriert waren:
„Mithin eine Tatsache, die wahr ist.“
So kurz, knapp und in klarem Deutsch formuliert es dieser Senat und fährt fort:
„Die [...] Behauptung, der Kläger sei tatsächlich IM gewesen, hat der
Beklagte (Neues Forum) [...] bislang nicht in der Öffentlichkeit aufgestellt. Jedenfalls lässt sie sich der ausgelegten Liste [...] nicht entnehmen. Es mag sein, dass einzelne Bürger diese Information so
auffassten, der Kläger werde wohl IM gewesen sein. Dabei handele
es sich dann aber um eine Schlussfolgerung des jeweils Einzelnen
aus dem ihm von dem Beklagten zur Kenntnis gebrachten Material.
Der Beklagte selbst, dies ist entscheidend, hat diese Behauptung
oder Schlussfolgerung nicht aufgestellt und verbreitet.“
Auch der 7. Senat erkennt die Verpflichtung zur Abwägung zwischen informationellem Selbstbestimmungsrecht einerseits (also dem Recht des Klägers) und
dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (auf das sich
das Neue Forum berufen hat).
1 Nur der Klarheit wegen sei hier der Hinweis erlaubt, dass der Verfasser dieses Artikels für das Neue Forum dieses
Verfahren geführt hat.
64
„Es kann nicht angenommen werden, die Veröffentlichung der objektiv zutreffenden Behauptung, eine mit ihren persönlichen Daten bezeichnete Person sei in der DDR als inoffizieller Mitarbeiter des dortigen Staatssicherheitsdienstes registriert gewesen, greife bereits in
rechtswidriger Weise in das [...] Persönlichkeitsrecht ein.“
Ausführlich setzt sich dieser Senat mit der Frage auseinander, dass das Recht
auf Informationsfreiheit – also das Recht, wahre Tatsachen verbreiten zu dürfen
– ein Recht ist, das nicht nur bei der Presse, sondern auch all denen, die sich
mit politischer Willensbildung auseinandersetzen, Wirksamkeit entfaltet und die
Veröffentlichung rechtfertigt.
Wiederum in ungewöhnlich schönem und unverschnörkeltem Deutsch führt der
7. Senat aus:
„Gerade der Gesichtspunkt eines verbesserten Wissensstandes
über Einzelheiten des staatlichen Überwachungs- und Spitzelsystems kann einen verbesserten Umgang mit den in der Liste der
Beklagten enthaltenen Informationen zur Folge haben.“
Bundesgerichtshof
Sieg und Niederlage beim OLG haben dazu geführt, dass der Bundesgerichtshof (hinfort: BGH), Deutschlands höchstes Instanzengericht, sich mit den
Entscheidungen des Oberlandesgerichts befassen musste, nachdem alle
Senate die Revision zugelassen haben.
Der 6. Zivilsenat des BGH hat sich dem 4. Senat des Oberlandesgerichts angeschlossen, mit anderen Worten: die Veröffentlichung des Neuen Forum für
unzulässig erachtet. Es lohnt sich, den sogenannten „Amtlichen Leitsatz“ – also
die Summary der Erkenntnis des BGH – insgesamt zu zitieren, der da lautet:
„Eine Bürgerbewegung im Gebiet der ehemaligen DDR war 1992
nicht befugt, in einer öffentlich ausgelegten Liste mit den Namen,
Vornamen, Decknamen, Personenkennziffern sowie Einsatzorten
und -richtungen von ca. 4.500 angeblichen Inoffiziellen Mitarbeitern
(IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die keine näheren
Angaben über Art und Umfang der jeweiligen IM-Tätigkeit enthält, den
Namen einer Person zu veröffentlichen, die weder im IM-Gefüge des
MfS eine exponierte Stellung inne hatte noch heute im öffentlichen
65
Leben eine herausgehobene Funktion bekleidet. Die in der Namensnennung liegende Prangerwirkung muss der Betroffene nicht hinnehmen.
Zunächst teilt der BGH die Ansicht des 7. Senates des OLG Naumburg nicht, die
ausgelegte Liste sei auf die Aussage zu reduzieren, dass die dort aufgeführten
Personen „nur bei dem MfS als IM registriert“ waren, vielmehr sieht der BGH in
der Veröffentlichung die Behauptung, dass die Personen, die dort aufgeführt
sind, „mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in irgendeiner Weise tatsächlich als IM
tätig gewesen seien“.
Vor diesem Hintergrund hält der BGH die Veröffentlichung auch dann für
unzulässig,
„wenn der Kläger [...] tatsächlich als IM tätig gewesen ist, der
Beklagte also insoweit eine wahre Tatsache verbreitet hat“.
Der BGH hält die Veröffentlichung für unzulässig,
„denn der mit personenbezogenen Daten unterlegte Hinweis auf die
IM-Tätigkeit war geeignet, Ansehen und Wertschätzung des Klägers
in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und ihn gewissermaßen an den Pranger zu stellen“.
[...]
„Zwar kann der Beklagte für seinen Beitrag zur Auseinandersetzung
in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage die Meinungsfreiheit in
Anspruch nehmen, die Art. 5 Abs. 1 GG prinzipiell mit gleichem Rang
gewährleistet. Dabei kam jedoch gegenüber der schwerwiegenden
Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers dem Recht des
Beklagten auf Veröffentlichung der Namensliste nur ein geringeres
Gewicht zu.“
Bedauerlicherweise nimmt der BGH zu der Frage überhaupt nicht Stellung, ob
die Veröffentlichung nicht schon deshalb rechtmäßig war, weil die Liste in
Auszügen in der Presse veröffentlicht und auf dem Schwarzmarkt käuflich zu
erwerben war – gegen diese Veröffentlichung ist rechtlich niemand vorgegangen. Dass gerade das Auslegen der Liste das Interesse an der Einsicht bald hat
erlahmen lassen, weil jeder sich nun vollständig informieren konnte, ist ein
Gesichtspunkt, der jedenfalls in die Entscheidung des BGH hätte einfließen können und, wie ich meine, müssen.
66
III
Der Pyrrhus-Sieg des Neuen Forum vor dem
Bundesverfassungsgericht
Das Neue Forum hat – da es sich mit der Entscheidung nicht abfinden konnte
und wollte – das Bundesverfassungsgericht angerufen und um Überprüfung der
Entscheidung gebeten. Die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts ist ein
faszinierendes Beispiel dafür, dass jemand erfährt: er hatte Recht, aber er kann
dieses Recht leider nicht bekommen.
Das Bundesverfassungsgericht setzt sich in seinem 14seitigen Beschluss mit
dem Rechtsstreit auseinander und kommt erst zu der erfreulichen Erkenntnis,
dass der Bundesgerichtshof (und die Vordergerichte)
„wichtige Abwägungsbelange nicht hinreichend berücksichtigt“
hätten, dass aber – so die Überraschung auf Seite 14 des Beschlusses – der
„Beschwerdeführer [...] von den Entscheidungen [...] nicht existentiell
betroffen“
sei, weil er
„an der Auslegung der Liste künftig kein Interesse mehr“
habe und deshalb
„durch die angegriffenen Entscheidungen nicht mehr schwer
benachteiligt“
sei mit der Folge, dass die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen wurde.
Die Kostenlast – so das Bundesverfassungsgericht – trifft das Neue Forum nicht
existentiell (angesichts der erheblichen Prozesskosten und den bescheidenen
Mitteln, die dem Neuen Forum zur Verfügung standen, eine kaum mehr nachvollziehbare, jedenfalls grottenfalsche Erkenntnis). So heißt der letzte Satz der
Entscheidung:
„Eine Aufhebung und Zurückverweisung ist demnach nicht ange
zeigt“ (obwohl der BGH falsch entschieden hat!).
67
Was ist dieser Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde des Neuen Forum
auf dreizehn Seiten vorangegangen? Zunächst stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass entscheidend für die
„[...] Zulässigkeit einer Äußerung im Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht wesentlich davon ab[hängt],
ob es sich um ein Werturteil oder eine Tatsachenbehauptung handelt. Bei Tatsachenbehauptungen fällt ihr Wahrheitsgehalt ins Gewicht. [..]. Wahre Aussagen [müssen] in der Regel hingenommen
werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind.“
Einschränkungen dieses Rechts auf wahre Berichterstattung können sich, so
das Bundesverfassungsgericht, erst dann ergeben, wenn
„die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentfaltung schwerwiegend sind und die Schutzbedürfnisse das Interesse an der
Äußerung überwiegen.“
Nach dieser grundsätzlichen – die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
reflektierenden aber selbst vom BGH gründlich verkannten – Überlegung
erkennt das Bundesverfassungsgericht:
„Gemessen daran sind die angegriffenen Entscheidungen [der
Vorgerichte: LG, OLG, BGH] verfassungsrechtlich nicht unbedenk
lich.“
Konsequent erkennt das Bundesverfassungsgericht, dass das Neue Forum die
Liste durchaus hätte veröffentlichen dürfen, die Klagen dagegen hätten erfolglos
bleiben müssen. So führt das Gericht aus:
„Dem Veröffentlichungsinteresse des Beschwerdeführers haben die
Gerichte unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen.“
Die Gerichte haben – so das Bundesverfassungsgericht –
„dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer (Neues Forum) zu
einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat,
nicht ausreichend Rechnung getragen. [...] Die Frage, wie die Inoffi-
68
ziellen Mitarbeiter in das MfS eingebunden und welche Rolle ihnen
dabei von der Staatssicherheit zugedacht war, wurde noch 1996 als
weitgehend unerforscht bezeichnet. [...] An ihrer Beantwortung existierte aber jedenfalls im Juli 1992 ein nachhaltiges öffentliches
Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte. [...]
Schon daraus ergibt sich das Aufklärungsinteresse. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber zu vermitteln, welchen
Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können,
wenn die Sicherungen eines freiheitlichen Rechtsstaates außer Kraft
gesetzt sind.
Die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Liste habe zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit praktisch nichts beitragen können,
hält verfassungsrechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand. Der
Bundesgerichtshof hat insoweit die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: die Liste vermittelt aufgrund ihrer Länge einen nachhaltigen
Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der DDR
durch das MfS, verliert sich im Wege der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennung, aber nicht in der Abstraktheit bloßer
Zahlen. [...] Die Liste war damit aus Sicht des Beschwerdeführers ein
geeignetes Mittel, die Realität des breitgefächerten Informantensystems – so wie er es sah – vor Augen zu führen.“
Dieser erfreulichen, von allen drei Instanzen (Ausnahme: OLG Naumburg, 4.
Senat) verkannten Rechtfertigung für die Veröffentlichung, wie sie das
Bundesverfassungsgericht formuliert, folgt eine Auseinandersetzung mit der
Frage, ob dem Informationsrecht des Neuen Forums das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die jeweiligen Kläger weichen muss (wie die
Vorinstanzen angenommen haben).
Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht:
„... die tatsächlichen Umstände des Falles [rechtfertigen] die
Feststellung des Bundesgerichtshofs zur Schwere der Beeinträchtigung der Klägerin nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die
Klägerin durch die Auslegung der Liste ‚an der Basis ihrer Persönlichkeit’ getroffen wurde. [...] Es ist auch nicht erkennbar, dass die
69
Auslegung der Liste geeignet war, der Klägerin einen erheblichen
Persönlichkeitsschaden zuzufügen. [...] Auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die Auslegung der Liste lässt sich
nicht
ohne weiteres ausgehen. [...] Es ist schließlich auch nicht
ersichtlich, dass die Unterstellung einer inoffiziellen Mitarbeit beim MfS in gleicher Weise zu einem Entzug sozialer Anerkennung oder einer ‚Abstempelung’ führt wie etwa die Behauptung, eine Person habe die
eigenen Kinder sexuell missbraucht. [...] Unter diesen Umständen
kann man jedenfalls nicht ohne nähere Feststellungen davon ausgehen, dass allein der Umstand, dass eine Person als Inoffizieller
Mitarbeiter bezeichnet wird, zur sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung führt.“
Mit diesem Zitat bin ich am Ende der 13. Seite des Beschlusses angelangt und
wer bis dahin die Entscheidungsgründe gelesen hat, kann nur zu einer einzigen
Erkenntnis kommen: das Bundesverfassungsgericht hält alle der den jeweiligen
Klagen stattgebenden Entscheidungen für falsch, das Handeln des Neuen
Forum durch Auslegung der Liste für rechtmäßig und durch das Grundrecht der
Meinungs- und Informationsfreiheit gedeckt.
Dennoch bleibt dem Neuen Forum der Erfolg der Verfassungsbeschwerde versagt, weil das Bundesverfassungsgericht dem Rechtsstreit keine grundsätzliche
Bedeutung beimisst und der Ansicht ist, dass der Aktualitätsbezug zwischenzeitlich fehlt. Dieses Verfahren kann sich wohl auf die Ermächtigung des
Gesetzgebers berufen, wonach das Bundesverfassungsgericht ein praktisch
unbegrenztes Ermessen hat, eine Entscheidung nicht anzunehmen. Dass sie
beim Neuen Forum Bitternis hinterlässt, nach siebenjährigem Prozessieren – die
Entscheidungen des Landgerichts Halle stammen aus dem Jahre 1993, die
Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichtes aus März 2000 – wird niemand
verkennen. Recht haben und Recht bekommen ist Zweierlei, – selten hat diese
bittere Erkenntnis so viel beklemmende Realität erfahren wie in dem
Rechtsstreit um die Auslegung der „Stasi-Liste“ in Halle.
Das Ereignis – IM-Liste, Schwarzmarkthandel, Auslegen der Liste durch das
Neue Forum – liegt 12 Jahre zurück. Ein Dokument des Mutes, den das Neue
Forum hatte, und einer Rechtsprechung, die zunächst nur Steine, beim
Bundesverfassungsgericht Steine statt Brot, gegeben hat, bleibt der Rechtsstreit
über die „IM-Liste“ aus Halle allemal.
70
Faksimile einer Listen-Seite von 1992
71
Halle 2004
Stellungnahme zur Veröffentlichung der so genannten Stasi-Listen
Anliegen:
1990 verschärften sich die Diskussionen um einen Schlußstrich bei der StasiAufarbeitung. Als äußerst besorgniserregend war die Vernichtung der Akten und
Datenträger der Hauptverwaltung Aufklärung in Berlin mit Zustimmung des
Runden Tisches anzusehen. Für den Fall, daß sich diese Naivität weiter durchsetzen sollte, galt es, so viel wie möglich vom Existierenden zu retten.
Begleitumstände:
Die Veröffentlichung der Liste aller Hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS einschließlich ihrer Gehaltsstufen in der Berliner Zeitung „Die Andere“ 1990 machte
zweierlei klar:
Erstens kam es nach dieser Veröffentlichung nicht zur Hysterie oder zu Fällen
von Lynchjustiz. Das bedeutete: Die mündig gewordenen Bürger konnten verantwortungsvoll mit solchen prekären Informationen umgehen.
Zweitens: Die Diskussion in den Medien drehte sich sehr bald nach der
Veröffentlichung der Liste der Hauptamtlichen Mitarbeiter nur noch um Fragen
der Urheberschaft, um Prozesse und Klagen gegen „Die Andere“, statt um die
strukturelle und inhaltliche Aufarbeitung. Das einzige Mittel, dies zu vermeiden,
war die anonyme Verschickung der halleschen Listen an 30 ausdrücklich
benannte Adressaten (Ministerien, Parteien, Medien).
Grund für die Entscheidung zur Veröffentlichung:
Auslöser für die Verschickung der Listen war die ins Stocken geratene Überprüfungspraxis zuständiger Stellen in städtischen Verwaltungen, Kirchen und
Universität, die seit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ausdrücklich dazu aufgefordert waren. Dies, so war zu befürchten, stand in direktem
Zusammenhang mit der anhaltenden Schlußstrichdebatte (von prominenter
Seite mit einem „Freudenfeuer“ zu beenden).
Zweck:
Zweck der Veröffentlichung war nicht die Denunziation, sondern, wie im Vorwort
ausdrücklich angemahnt, die im Stasi-Unterlagen-Gesetz vorgesehene
72
Möglichkeit, bei begründetem Verdacht Eilanträge an die Behörde des
Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu stellen. Im Vorwort zu den
Listen heißt es dazu: „Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt, in welchem Ausmaß die Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die Staatsmafia der
SED rekrutiert wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des
Repressionsapparates der Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern, Spitzeln,
Erpreßten und Genötigten in sämtliche Ebenen des staatlichen Systems eingegriffen hat. Gewollte und ungewollte Verdächtigungen gegenüber Bürgern unseres Landes verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften
das Klima. Solange die inoffizielle Struktur des MfS geheimgehalten wird, bleibt
sie wiederholbar. Nur die Veröffentlichung der Namen ehemaliger IM schützt
diese vor erneutem Mißbrauch durch ihre ehemaligen Führungsoffiziere und
schafft Klarheit, damit dieses Konfliktthema nicht noch über Jahrzehnte die
Gesellschaft vergiftet. Sie ist die einzige Chance, mit diesem Thema in absehbarer Zeit zu einem gewissen Ende kommen zu können. Sie ist eine praktische
Notwendigkeit, um alle Bürger von dem Alptraum der Vergangenheit zu befreien
– frei zu machen für die Aufgaben und Probleme der Gegenwart. Den wirklichen
Opfern des DDR-Staatsterrorismus wird das Stasi-Unterlagengesetz erlauben,
die inoffiziellen Berichte über sich zu lesen. Ohne Kenntnis der in ihren Akten
verzeichneten IM und GMS würde eine neue Welle von Verdächtigungen ausgelöst, die schlimmere Folgen hätte als die klare Feststellung der tatsächlichen
Quellen. Die Auflistung will dazu beitragen, daß diejenigen Recht und
Gerechtigkeit erfahren, die bis heute in Unkenntnis gehalten und damit menschlich gedemütigt wurden.
Es war im Vorwort klar ausgedrückt, daß ein Eintrag in der Liste nicht automatisch eine IM-Tätigkeit belegte, sondern daß dies nur eine Begründung für eine
Einzelfallprüfung beim Bundesbeauftragten sein konnte, so daß die
Personalkommissionen und andere zuständige Stellen die dringend erforderlichen Auskünfte erhalten konnten. Das geschah dann auch verantwortlich.
Ergebnis:
Im Ergebnis solcher Eilanträge konnten städtische Verwaltungen, Personal- und
Ehrenkommissionen in vielen Fällen die ins Stocken geratenen Überprüfungen
auf der Grundlage der geltenden Gesetze erfolgreich abschließen. Das beweist
die ausreichende Authentizität der Listen. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts belegt zur Genüge das überwiegende öffentliche Interesse an
ihrer Veröffentlichung.
73
Halle 1992
IM-Registrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der
Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986 - 1989
Vorbemerkungen
1. Inhalt
Diese Liste enthält die Namen von jenen Personen, die als inoffizielle Mitarbeiter
(IM) und Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (GMS) der ehemaligen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Halle und der Kreisdienststellen Halle und
Halle-Neustadt des MfS verzeichnet waren. Unberücksichtigt blieben bisher alle
weiteren Kreisdienststellen im ehemaligen Bezirk Halle und alle IM, die von
anderen Abteilungen des MfS in der ehemaligen DDR geführt wurden.
Sie wird zur Verfügung gestellt im Gedenken an die Mahnung unseres ersten
Bundespräsidenten Theodor Heuss nach dem Zusammenbruch 1947: „Die
Frage, wie wir zu einem neuen deutschen Geschichtsbild kommen, ist die
schwerste Aufgabe, die vor uns steht. Ein neues Geschichtsbild entsteht nicht,
indem man das alte in die Reinigungsanstalt bringt. ... Ein neues Geschichtsbild
entsteht dadurch, daß wir den Sinn für die Wahrhaftigkeit zurückgewinnen.“
2. Absicht
Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt. in welchem Ausmaß die
Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die Staatsmafia der SED rekrutiert
wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des Repressionsapparates der
Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern, Spitzeln, Erpreßten und Genötigten in sämtlichen Ebenen des staatlichen Systems eingegriffen hat.
Gewollte und ungewollte Verdächtigungen gegenüber Bürgern unseres Landes
verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften das Klima.
Solange die inoffizielle Struktur des MfS geheimgehalten wird, bleibt sie wiederholbar. Nur die Veröffentlichung der Namen ehemaliger IM schützt diese vor
erneutem Mißbrauch durch ihre ehemaligen Führungsoffiziere und schafft
Klarheit, damit dieses Konfliktthema nicht noch über Jahrzehnte die Gesellschaft
vergiftet. Sie ist die einzige Chance, mit diesem Thema in absehbarer Zeit zu
74
einem gewissen Ende kommen zu können. Sie ist eine praktische Notwendigkeit, um alle Bürger von dem Alptraum der Vergangenheit zu befreien – frei zu
machen für die Aufgaben und Probleme der Gegenwart.
Den wirklichen Opfern des DDR-Staatsterrorismus wird das Stasi-UnterlagenGesetz erlauben, die inoffiziellen Berichte über sich zu lesen. Ohne Kenntnis der
in ihren Akten verzeichneten IM und GMS würde eine neue Welle von Verdächtigungen ausgelöst, die schlimmere Folgen hätte als die klare Feststellung der
tatsächlichen Quellen. Die Auflistung will dazu beitragen, daß diejenigen Recht
und Gerechtigkeit erfahren, die bis heute in Unkenntnis gehalten und damit
menschlich gedemütigt wurden.
3. Einschränkungen
Eine derart umfangreiche Liste wird nicht vollständig fehlerfrei sein. Für den Fall,
daß sich jemand irrtümlich oder fehlerhaft in dieser Liste aufgeführt sieht, empfiehlt es sich, eine Überprüfung durch die Gauck-Behörde zu beantragen.
Dazu als Erläuterung:
- Personen können als IM geführt sein, obwohl sie schon lange keinen
Kontakt mehr zum MfS hatten.
- Personen können als IM geführt sein, obwohl sie den Kontakt mit dem MfS
selbständig abgebrochen haben oder der Kontakt von Seiten des MfS abgebrochen wurde.
- in wenigen Ausnahmefällen wurden Personen zu IM registriert, ohne daß es
zur aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen ist.
Unbedingt zu beachten!
Jeder, der diese Liste benutzt, muß sich dieser Einschränkungen bewußt sein.
In der Öffentlichkeit darf diese Liste nicht ohne die vollständige Vorbemerkung
verwendet werden.
75
Verteiler:
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Werner Münch
Ministerien des Landes Sachsen-Anhalt:
- Minister für Wirtschaft; Technologie und Verkehr
- Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Minister für Umwelt und Naturschutz
- Minister für Finanzen
- Minister für Bildung und Kultur
- Minister für Wissenschaft und Forschung
- Minister für Arbeit und Soziales
- Minister des Innern
- Minister der Justiz
- Minister für Europaangelegenheiten
Landtagsfraktionen des Landes Sachsen-Anhalt
- Landtagsfraktion der CDU
- Landtagsfraktion der FDP
- Landtagsfraktion der SPD
- Landtagsfraktion der DSU
- Landtagsfraktion Bündnis 90/Grüne
- Landtagsfraktion der PDS
Regierungspräsident Klein
Oberbürgermeister der Stadt Halle Dr. Rauen
Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung Halle
- Stadtfraktion der CDU
- Stadtfraktion der FDP
- Stadtfraktion der SPD
- Stadtfraktion Bündnis 90/Grüne
- Stadtfraktion der PDS
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der
ehem. DDR Jochen Gauck
- Außenarchiv Halle des Bundesbeauftragten
Hallesches Tageblatt
Mitteldeutsche Zeitung
Express Halle
Bild Halle
76
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle –
Pressemitteilung Nr. 33/2000 vom 17. März 2000
Dazu Beschluss vom 23. Februar 2000 - Az. 1 BvR 1582/94 Zur Veröffentlichung einer Liste von "IM" des MfS
In dem Verfassungsbeschwerde(Vb)-Verfahren ging es um das gegen den Verein
"Neues Forum" gerichtlich ausgesprochene Verbot, eine Liste mit Namen von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS auszulegen. Die 1. Kammer des Ersten Senats des
BVerfG hat die Vb des Vereins gegen das rechtskräftige Verbot nicht zur Entscheidung
angenommen. Zwar haben die Gerichte das Recht des Beschwerdeführers (Bf) auf
Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) nicht hinreichend berücksichtigt; eine grobe
Verkennung von Grundrechten nur dies hätte das BVerfG zu korrigieren lässt sich
jedoch nicht feststellen. Außerdem ist der Bf von den angegriffenen Entscheidungen
auch nicht existenziell betroffen.
I.
1992 kursierte in Halle eine anonyme Liste mit insgesamt 4.500 Namen angeblicher
IM des MfS. Die Liste enthielt den Hinweis, dass sie nicht fehlerfrei sein und im Ausnahmefall Namen von Personen enthalten könne, die nie mit dem MfS zusammengearbeitet hätten. Nach verschiedenen Veröffentlichungen in den Medien entschloss sich
der Bf, die Liste in seinen Büroräumen auszulegen. Damit sollte die umfassende
Durchdringung aller Lebensbereiche der DDR durch das MfS dokumentiert und die
politische Diskussion gefördert werden. Insgesamt etwa 700 Personen informierten
sich über die Liste.
Eine in dieser Liste aufgeführte Person verlangte vom Bf die Schwärzung ihres
Namens. Sie sei nie als IM tätig gewesen. Die Klage gegen den Bf hatte in allen
Instanzen Erfolg. In letzter Instanz stellte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom
12. Juli 1994 (Az. VI ZR 1/94; veröffentlicht in JZ 1995, S. 253) u.a. fest: Selbst wenn
die Klägerin als IM tätig gewesen sei, habe der Bf mit der Veröffentlichung ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) im Kernbereich verletzt. Das
Persönlichkeitsrecht der Klägerin überwiege das Recht des Bf auf Meinungsfreiheit
(Art. 5 Abs. 1 GG).
Gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhob der Bf Vb und rügte im Wesentlichen
eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 GG.
77
II.
Die 1. Kammer des Ersten Senats hat zwar die Vb im Ergebnis nicht zur Entscheidung
angenommen. Sie hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Gerichte dem
Veröffentlichungsinteresse des Bf unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position
zu wenig Bedeutung beigemessen haben.
Zur Begründung heißt es u.a.:
1. Bei der Abwägung zwischen dem Grundrecht des Bf auf Meinungsfreiheit und dem
Persönlichkeitsrecht der Klägerin haben die Gerichte wichtige grundrechtliche
Belange, die für den Bf sprechen, nicht ausreichend berücksichtigt.
Der Bf wollte mit der Auslegung der Liste zum Verständnis der Tätigkeit des MfS beitragen und an der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilnehmen. Dieses
Anliegen ist von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Der Zeitabstand zwischen „IM-Tätigkeit“
und Auslegen der Liste schränkt diesen Schutz grundsätzlich nicht ein. Dies gilt zumal
dann, wenn Gegenstand der Äußerung die „Aufarbeitung“ historischer Vorgänge ist. Es
ist nicht die Aufgabe des Staates, einen Schlussstrich unter eine Diskussion zu ziehen
oder eine Debatte für beendet zu erklären.
Vor allem aber haben die Gerichte dem Umstand, dass sich der Bf zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das MfS fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung
der gesamten Bevölkerung und diente insbesondere dazu, politisch Andersdenkende
oder Ausreisewillige zu überwachen, abzuschrecken oder auszuschalten. Die Frage,wie
die IM in das MfS eingebunden waren, fand auch noch 1992 ein nachhaltiges öffentliches Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte.
Denn die systematische und umfassende Ausforschung der eigenen Bevölkerung mit
nachrichtendienstlichen Mitteln war ein besonders abstoßendes Herrschaftsinstrument
des Einparteiensystems. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur
und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber zu vermitteln, welchen
Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen
eines freiheitlichen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind.
Zudem hat der BGH die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: Die Liste vermittelt auf Grund ihrer Länge
einen nachhaltigen Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der
DDR durch das MfS, verliert sich wegen der konkreten Angaben, insbesondere der
Namensnennungen, aber nicht in der Abstraktheit bloßer Zahlen.
78
Auf der anderen Seite wurde im Vergleich die Schwere der Beeinträchtigung der
Klägerin überbewertet. Die Veröffentlichung der Liste entfaltete keine besondere
Breitenwirkung. Lediglich eine vergleichsweise geringe Zahl von Personen nahm von
der Liste Kenntnis.
Die Kammer führt aus, dass auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die
Auslegung der Liste nicht ohne weiteres auszugehen ist.
2. Trotz der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite ist eine Annahme der Vb
nicht angezeigt. Die Gerichte haben die grundrechtliche Spannungslage des Falls im
Ansatz zutreffend gesehen und eine Abwägung vorgenommen. Eine grobe Verkennung
der Grundrechte lässt sich nicht feststellen.
Der Bf ist von den Entscheidungen auch nicht existenziell betroffen. Ihm ist die Auslegung der Liste für die Zukunft untersagt worden. Der Bf hat bereits früher zum Ausdruck gebracht, an der Auslegung der Liste künftig kein Interesse mehr zu haben.
Beschluss vom 23. Februar 2000, Az. 1 BvR 1582/94 Karlsruhe, den 17. März 2000
79
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1582/94 In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Vereins " N e u e s F o r u m ",
vertreten durch Dr. E. und Dr. W.
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Oppenhoff & Rädler, Rankestrasse 21, Berlin gegen
a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Juli 1994 - VI ZR 1/94 -,
b) das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 25. November 1993 - 4 U 105/93 -,
c) das Urteil des Landgerichts Halle vom 26. März 1993 - 4 O 439/92 -,
d) den Beschluss des Kreisgerichts für Halle und den Saalkreis vom 21. Juli
1992 - 24 C 724/92 hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 23. Februar 2000 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslegung einer Liste mit Namen von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) durch
das "Neue Forum".
I.
1. Im Juli 1992 kursierte in Halle eine anonym verbreitete Liste über "IMRegistrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle und
Halle-Neustadt des MfS 1986 bis 1989". Die Liste enthielt etwa 4.500 Namen angebli-
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cher inoffizieller Mitarbeiter des MfS sowie deren Personenkennziffern, Einsatzorte,
Decknamen, Betriebe und Einsatzrichtungen.
Der Liste waren Vorbemerkungen vorangestellt, in denen es unter anderem hieß, dass
eine derart umfangreiche Liste nicht fehlerfrei sein könne und Personen aufgeführt sein
könnten, die unter Umständen schon lange keinen Kontakt zum MfS mehr gehabt hätten; in Ausnahmefällen könnten sogar Personen registriert sein, obwohl es zu keiner
aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen sei.
Die Hallenser Medien berichteten ausgiebig über die Liste und veröffentlichten zunächst einzelne Namen aus ihr. Sie wurde zum Gegenstand öffentlicher Erörterung und
schließlich zu Preisen von 300 bis 500 DM zum Verkauf angeboten. Daraufhin entschloss sich der Beschwerdeführer, dem die Liste zugeleitet worden war, diese in seinen Büroräumen zur öffentlichen Einsichtnahme auszulegen. Mit der Offenlegung sollte die umfassende Durchdringung aller Lebensbereiche der DDR durch das MfS dokumentiert und die politische Diskussion darüber gefördert werden. Außerdem sollte die
Veröffentlichung Erpressungsversuchen vorbeugen und Spekulationen über den Inhalt
der Liste beenden. Der Beschwerdeführer machte die Liste Interessenten jeweils einzeln unter Hinweis auf die Vorbemerkungen zugänglich. Nachdem die Bild-Zeitung
damit begonnen hatte, die Namensliste seitenweise abzudrucken, ließ das Interesse an
einer Einsichtnahme bei dem Beschwerdeführer nach. Insgesamt informierten sich bei
ihm etwa 700 Personen.
2. Im Ausgangsverfahren nahm die Klägerin, die auf der Liste verzeichnet war, den
Beschwerdeführer darauf in Anspruch es zu unterlassen, die IM-Liste weiterhin mit
ihrem Namen und ihren Daten zu veröffentlichen, und verlangte, die auf sie bezogenen
Informationen durch Schwärzung unkenntlich zu machen.
Sie machte geltend, mit der Liste habe der Beschwerdeführer auch die Behauptung
verbreitet, sie sei tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiterin tätig gewesen. Das sei
unwahr. Die Veröffentlichung verletze sie daher in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg.
a) Das Oberlandesgericht führte in dem angegriffenen Urteil im Wesentlichen aus (veröffentlicht in NJ 1994, S. 177): Der Aussagegehalt der Liste sei dahingehend zu verstehen, dass die darin aufgeführten Personen als inoffizielle Mitarbeiter des MfS registriert gewesen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt in irgendeiner Form tatsächlich auch als inoffizielle Mitarbeiter tätig geworden seien. Eine solche
Aussage über die Klägerin greife in rechtswidriger Weise in deren grundrechtlich
gewährleistetes und als sonstiges Recht im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB geschütztes allgemeines Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle
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Selbstbestimmung ein, und zwar auch dann, wenn die Behauptung der Wahrheit entspreche.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleiste dem Einzelnen,
grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen seine Daten in
die Öffentlichkeit gebracht würden. Dieses Recht finde jedoch in der Meinungsfreiheit
eine Schranke. Die erforderliche Abwägung, ob dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder der Meinungsfreiheit der Vorrang zukomme, sei auch dann nicht entbehrlich, wenn - was zugunsten des Beschwerdeführers unterstellt werden könne - die
über die Klägerin verbreitete Behauptung der Wahrheit entspreche. Das ergebe sich aus
der Wertung des (freilich nicht unmittelbar anwendbaren) § 32 Abs. 3 Nr. 2 StasiUnterlagen-Gesetz (StUG), wonach die Verbreitung auch wahrer personenbezogener
Informationen über Mitarbeiter des MfS nur zugelassen sei, wenn hierdurch überwiegende schutzwürdige Interessen der genannten Personen unbeeinträchtigt blieben.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung der Information über
die Klägerin liege hier nicht vor. Die Klägerin habe in der DDR keine herausgehobene
Position bekleidet. Auch heute trete sie im öffentlichen Leben nicht in Erscheinung.
Im Gefüge des MfS habe sie keine besondere Funktion innegehabt. Das vom
Beschwerdeführer in Anspruch genommene Interesse, die Strukturen des MfS und die
Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens der DDR durch das MfS offen zu legen,
rechtfertige die Veröffentlichung ebenfalls nicht. Entscheidend sei der Zeitpunkt der
Auslegung. Die Struktur des Stasi-Apparats und die Ausmaße seines Informantensystems seien mittlerweile weitgehend aufgedeckt und der Öffentlichkeit bekannt.
Das möge in der Umbruchphase 1989/1990 noch anders gewesen sein. Angesichts der
Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den neuen
Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System habe im Juli
1992 für eine unspezifizierte öffentliche Benennung früherer inoffizieller Mitarbeiter
kein Informationsbedarf mehr bestanden. Das bedeute nicht, dass eine an den
Maßstäben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes orientierte Aufarbeitung des Stasi-Systems
in Frage gestellt werde. Schließlich könne auch das Motiv des Beschwerdeführers,
Erpressungsversuchen vorzubeugen, den Eingriff nicht rechtfertigen, da die
Veröffentlichung der kompromittierenden Information hierzu nicht geeignet sei.
b) Die Revision des Beschwerdeführers hat der Bundesgerichtshof im Wesentlichen
aus folgenden Erwägungen zurückgewiesen (veröffentlicht in JZ 1995, S. 253):
Es sei nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht in der Veröffentlichung der
Namensliste im Ergebnis eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gese-
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hen habe, und zwar auch dann, wenn die Klägerin tatsächlich als inoffizielle
Mitarbeiterin des MfS tätig geworden sei, der Beschwerdeführer also eine wahre
Tatsache verbreitet habe. Dabei habe der Beschwerdeführer nicht nur in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung eingegriffen, sondern die Klägerin mit der
Auslegung der Liste auch an der Basis ihrer Persönlichkeit getroffen.
Der Hinweis auf die Tätigkeit als inoffizielle Mitarbeiterin sei geeignet, Ansehen und
Wertschätzung der Klägerin in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und sie
gewissermaßen an den Pranger zu stellen. Gerade weil der Beschwerdeführer bei der
pauschalierenden Offenlegung nicht nach Art der Tätigkeit differenziert habe, seien
alle registrierten Personen unterschiedslos in die Kategorie von Denunzianten eingeordnet worden. Durch diese "Abstempelung" sei die Klägerin in schwerwiegender
Weise in ihrem Anspruch auf soziale Geltung belastet und in dem Kernbereich ihrer
Persönlichkeit betroffen. Diese Wirkung sei dadurch verstärkt worden, dass ihr Name
in einer Liste von 4.500 weiteren angeblichen Mitarbeitern des MfS aufgeführt worden
sei. Überdies seien alle Personen aus einem räumlich eng begrenzten Gebiet gekommen, so dass sie für die Leser aus dem Bereich der Anonymität in denjenigen einer
persönlichen Bekanntheit gerückt werden konnten.
Der Beschwerdeführer könne für seinen Beitrag zur Auseinandersetzung in einer die
Öffentlichkeit berührenden Frage zwar grundsätzlich die Meinungsfreiheit in Anspruch
nehmen. Hier seien aber die Persönlichkeitsbelange der Klägerin vorrangig. Wie das
Oberlandesgericht zu Recht ausgeführt habe, komme dem Motiv, Erpressungen vorzubeugen, kein Gewicht zu. Auch das Engagement des Beschwerdeführers, einen Beitrag
zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu leisten, rechtfertige die Auslegung der
Liste nicht. Zur Aufarbeitung dieser Probleme sei die Liste nach ihrem Inhalt kaum
geeignet gewesen. Sie habe zwar vor Augen führen können, wie viele Menschen aus
unterschiedlichen Schichten eines örtlich begrenzten Bereichs für das MfS gearbeitet
hätten. Die pauschalierende Namensnennung habe hier jedoch nicht der Verdeutlichung
eines sachlichen Anliegens durch Personalisierung des angeprangerten Geschehens
gedient. Die Namensnennung habe eigentlich nur bewirken können, für einen begrenzten Bezirk um Halle die dort lebenden Menschen in durch ihre Mitarbeit für das MfS
Belastete und nicht Belastete zu scheiden. Dabei möge dahinstehen, ob es kurz nach
der Wende ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit auch an der unspezifizierten
Namhaftmachung früherer inoffizieller Mitarbeiter gegeben habe.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine
Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG. Er trägt hierzu im Kern vor:
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Die Gerichte hätten die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt. Der
Bundesgerichtshof habe das für ihn schlechthin bestimmende Motiv der Auslegung der
Liste, die Auseinandersetzung um das Erbe des MfS und dessen historische und politische Rolle zu führen, nicht hinreichend berücksichtigt. Er habe zeigen wollen, wie das
MfS alle Lebensbereiche der DDR bis in ihre letzten Verästelungen mit inoffiziellen
Mitarbeitern durchdrungen habe. Es sei ihm nicht um die Anprangerung eines einzelnen inoffiziellen Mitarbeiters gegangen.
Er habe mit der Offenlegung der Liste am öffentlichen Meinungskampf um die
Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilgenommen. Daran habe er als Verein, der aus
der Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hervorgegangen sei, ein spezielles
Interesse. Die Realität der Stasi-Unterdrückung könne nur dann begreiflich gemacht
werden, wenn das Phänomen "Stasi" aus der Abstraktion der amtlichen Dokumentation
und Statistik herausgeführt und für die einzelnen betroffenen Menschen konkret und
fasslich dargestellt werde.
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin sei demgegenüber von
geringerem Gewicht. Eingegriffen werde nicht in die Privat- oder Intim-, sondern
allenfalls in die Individualsphäre. Eine wahre Tatsachenbehauptung bedeute regelmäßig keine Verletzung der Individualsphäre. Es liege keine Schmähung der Klägerin
vor. Der Bundesgerichtshof bleibe demgegenüber jede Begründung schuldig für seine
Feststellung, in der Veröffentlichung der Liste liege ein Angriff auf die "Basis der
Persönlichkeit der Klägerin". Eine Prangerwirkung wäre nur dann anzunehmen, wenn
speziell über die Klägerin und ihre Stasi-Vergangenheit berichtet würde. Unzutreffend
sei daher die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Klägerin sei unterschiedslos in
die Kategorie von Denunzianten eingeordnet worden, weil in der Liste nicht nach Art
der jeweiligen IM-Tätigkeit differenziert worden sei.
II.
Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor.
Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die von ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen lassen sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht beantworten (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>).
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die angegriffenen Entscheidungen beruhen weder auf einer groben Verkennung des
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durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang
mit grundrechtlich geschützten Positionen noch führen sie zu einer existentiellen
Betroffenheit des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>; stRspr).
1. Die angegriffenen Entscheidungen sind am Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5
Abs. 1 GG) zu messen. Die Auslegung der Liste durch den Beschwerdeführer fällt
unabhängig von ihrer Einordnung als Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung in
den Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW
1999, S. 3326 <3327>).
Die Meinungsfreiheit findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den
Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze
der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehören auch die zivilrechtlichen Vorschriften und das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG
gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf die die Fachgerichte die
Unterlassungsverurteilung gestützt haben.
Auslegung und Anwendung der Vorschriften des einfachen Rechts sind Sache der
Zivilgerichte, die dabei jedoch das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu berücksichtigen
haben, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene
zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>). Das verlangt in aller Regel eine
Abwägung der jeweils betroffenen Rechtsgüter.
Dabei haben die Gerichte beide Positionen hinreichend zu berücksichtigen und in ein
Verhältnis zu bringen, das ihnen angemessen Rechnung trägt. Ein Grundrechtsverstoß,
den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hätte, liegt insbesondere dann vor,
wenn das Zivilgericht den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt
oder unzutreffend eingeschätzt hat und die Entscheidung auf der Verkennung des
Grundrechtseinflusses beruht (vgl. BVerfGE 97, 391 <401>).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hängt die
Zulässigkeit einer Äußerung im Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem
Persönlichkeitsrecht wesentlich davon ab, ob es sich um ein Werturteil oder eine
Tatsachenbehauptung handelt (vgl. BVerfGE 94, 1 <8>).
Bei Tatsachenbehauptungen fällt ihr Wahrheitsgehalt ins Gewicht. An der
Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung herabsetzender Tatsachenbehauptungen, die
unwahr sind, besteht unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Interesse (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>).
Dagegen müssen wahre Aussagen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie
nachteilig für den Betroffenen sind (vgl. BVerfGE 99, 185 <196>; stRspr).
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Das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings nicht ausnahmslos. Bereits im Lebach-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Persönlichkeitsbelangen, insbesondere dem Resozialisierungsanliegen des damaligen Beschwerdeführers, gegenüber der Rundfunkfreiheit den Vorrang eingeräumt, obwohl eine
wahre Berichterstattung zur Debatte stand (vgl. BVerfGE 35, 202). In der neueren
Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass wahre Berichte das
Persönlichkeitsrecht des Betroffenen insbesondere dann verletzen können, wenn die
Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentfaltung schwerwiegend sind und die
Schutzbedürfnisse das Interesse an der Äußerung überwiegen (vgl. BVerfGE 97, 391
<403 f.>). Das kann etwa dann der Fall sein, wenn die wahre Berichterstattung wegen
ihres Gegenstandes zu einer Stigmatisierung des Betroffenen und damit zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung führen kann. Der Schutz, den
das allgemeine Persönlichkeitsrecht insoweit vermittelt, greift auch dann, wenn die
Aussage wahr ist und deshalb zum Anknüpfungspunkt sozialer Ausgrenzung und
Isolierung wird (vgl. BVerfGE 97, 391 <404 f.>). Schließlich können auch bei wahren
Aussagen ausnahmsweise Persönlichkeitsbelange überwiegen, wenn die Aussagen die
Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre betreffen und sich nicht durch ein berechtigtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen (vgl. BVerfGE 99, 185
<196 f.>).
2. Gemessen daran sind die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht
unbedenklich.
a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Deutung der umstrittenen Liste durch die
Fachgerichte. Die Gerichte haben ihr die Aussage entnommen, dass die dort aufgeführten Personen nicht nur als inoffizielle Mitarbeiter registriert gewesen, sondern auch als
solche tätig geworden seien. Das haben sie unter Hinweis auf den Kontext der Äußerung, insbesondere die Vorbemerkungen, schlüssig begründet und damit die
Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG an die Deutung von Äußerungen stellt
(vgl. BVerfGE 93, 266 <295 f.>), beachtet. Ebenso wenig begegnet die Einstufung der
Äußerung als Tatsachenbehauptung verfassungsrechtlichen Bedenken.
b) Unproblematisch ist es im Ansatz auch, dass die Gerichte auf der
Normanwendungsebene eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem
Persönlichkeitsrecht vorgenommen haben. Das war sogar von Verfassungs wegen
zwingend erforderlich, weil die über die Klägerin aufgestellte Behauptung, auch wenn
sie wahr war, deren durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte
Persönlichkeitsbelange berührte. Die Unterstellung, eine Person habe als inoffizielle
Mitarbeiterin des MfS gewirkt, diskreditiert die Person in ihrer Redlichkeit und persön-
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lichen Integrität und setzt sie der Gefahr aus, von ihrer Umwelt argwöhnisch betrachtet
zu werden. Die kompromittierte Person wird mit dem Unrecht, das vom MfS ausgegangen ist, gleichsam identifiziert (vgl. BGH, NJW 1998, S. 3047 <3048>).
c) Dagegen steht es mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in Einklang, dass die Gerichte
die Auslegung der Liste als rechtswidrig eingestuft haben, obwohl sie davon ausgegangen sind, bei der Mitteilung über die Klägerin handele es sich um eine wahre
Tatsachenbehauptung. Die Gerichte haben insoweit den grundrechtlichen Einfluss in
verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise unzutreffend eingeschätzt.
(1) Dem Veröffentlichungsinteresse des Beschwerdeführers haben die Gerichte unter
Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen.
Der Beschwerdeführer wollte - wie sich insbesondere der Vorbemerkung entnehmen
lässt - mit der Auslegung der Liste zum Verständnis der Tätigkeit des MfS beitragen
und an der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilnehmen. Dieses
Anliegen stand unter dem Schutz des Grundrechts. Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet
jedermann das Recht, frei zu entscheiden, zu welchen Gegenständen er sich öffentlich
äußert. Der Zeitabstand zwischen einer Äußerung und ihrem Gegenstand, auf den das
Oberlandesgericht maßgeblich abgestellt hat, schränkt diese Freiheit grundsätzlich
nicht ein. Dies gilt zumal dann, wenn Gegenstand der Äußerung die "Aufarbeitung"
historischer Vorgänge ist. Es ist nicht die Aufgabe staatlicher Gerichte, einen Schlussstrich unter eine Diskussion zu ziehen oder eine Debatte für beendet zu erklären.
Allerdings haben die Gerichte im vorliegenden Fall ausdrücklich klargestellt, dass sie
nicht generell eine persönliche, historische oder publizistische Aufarbeitung des StasiSystems in Frage stellen wollten, sondern allein eine bestimmte Art der
"Aufarbeitung". Der Schutz des Grundrechts bezieht sich aber nicht nur auf den Inhalt,
sondern auch auf die Form einer Äußerung (vgl. BVerfGE 93, 266 <289>; stRspr). Das
haben die Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt.
Vor allem haben sie dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer zu einer die
Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat, nicht ausreichend Rechnung
getragen. Das MfS ragte aus den staatlichen Einrichtungen und Institutionen in der
DDR in besonderer Weise heraus. Es war ein zentraler Bestandteil des totalitären
Machtapparats der DDR. Es fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und
Unterdrückung der gesamten Bevölkerung und diente insbesondere dazu, politisch
Andersdenkende oder Ausreisewillige zu überwachen, abzuschrecken oder auszuschalten (vgl.BVerfGE 94, 351 <368>). Die Frage, wie die inoffiziellen Mitarbeiter in das
MfS eingebunden und welche Rolle ihnen dabei von der Staatssicherheit zugedacht
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war, wurde noch 1996 als weitgehend unerforscht bezeichnet (vgl. Müller-Enbergs
<Hrsg.>, Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, 2. Aufl., 1996,
S. 8). An ihrer Beantwortung existierte aber jedenfalls im Juli 1992 ein nachhaltiges
öffentliches Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte. Denn die systematische und umfassende Ausforschung der eigenen Bevölkerung mit nachrichtendienstlichen Mitteln war ein besonders abstoßendes Herrschaftsinstrument des
Einparteiensystems (vgl. BVerfGE 96, 189 <198>). Schon daraus ergibt sich das
Aufklärungsinteresse. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur
und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber vermitteln, welchen
Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen
eines freiheitlichen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind.
Die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Liste habe zur Aufarbeitung der StasiVergangenheit praktisch nichts beitragen können, hält verfassungsrechtlicher Prüfung
ebenfalls nicht stand. Der Bundesgerichtshof hat insoweit die Suggestivkraft, die mit
der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: Die
Liste vermittelt aufgrund ihrer Länge einen nachhaltigen Eindruck von der massiven
Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS, verliert sich wegen der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennungen, aber nicht in der Abstraktheit
bloßer Zahlen. Die fehlende Spezifizierung der Tätigkeit der in der Liste Aufgeführten,
die für den Bundesgerichtshof gerade Anlass war, die Auslegung der Liste im Hinblick
auf die Klägerin als rechtswidrig anzusehen, verdeutlichte, dass der potentielle Zugriff
des MfS auf Informationen weit reichte und vielfältig war. Die Liste war damit aus
Sicht des Beschwerdeführers ein geeignetes Mittel, die Realität des breit gefächerten
Informantensystems – so, wie er es sah – vor Augen zu führen.
(2) Auf der anderen Seite rechtfertigen die tatsächlichen Umstände des Falles die
Feststellung des Bundesgerichtshofs zur Schwere der Beeinträchtigung der Klägerin
nicht.
Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin durch die Auslegung der Liste "an der
Basis ihrer Persönlichkeit" getroffen wurde. Eine Berichterstattung über die Intim-,
Privat- oder Vertraulichkeitssphäre, die auch im Fall ihrer Wahrheit regelmäßig rechtswidrig ist (vgl. BVerfGE 99, 185 <196 f.>), lag nicht vor. Es ist auch nicht erkennbar,
dass die Auslegung der Liste geeignet war, der Klägerin einen erheblichen
Persönlichkeitsschaden zuzufügen. Anders als bei der Fernsehberichterstattung im
Lebach-Fall entfaltete die Veröffentlichung der Liste keine besondere Breitenwirkung.
Der Beschwerdeführer hat sie nicht über die Medien zugänglich gemacht, sondern nur
in seinen Räumen ausgelegt.
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Lediglich eine vergleichsweise geringe Zahl von Personen nahm von der Liste
Kenntnis. Überdies erhielten nur solche Personen die kompromittierende Information
über die Klägerin, die von sich aus aktiv wurden und an der Liste ein entsprechendes
Interesse hatten, das sie prinzipiell auch durch eine Einsichtnahme in Akten des MfS
bei der Gauck-Behörde hätten befriedigen können. Es bedarf hier keiner Entscheidung
darüber, ob die Veröffentlichung einer entsprechenden Liste in den Medien zu einem
schweren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde.
Auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die Auslegung der Liste lässt
sich nicht ohne weiteres ausgehen. Die Klägerin war nicht individuell herausgehoben,
sondern als eine von 4.500 inoffiziellen Mitarbeitern im Bezirk Halle ausgewiesen
worden. Insgesamt waren in der DDR mindestens 600.000 Personen als inoffizielle
Mitarbeiter des MfS registriert; zuletzt waren es 174.000 (vgl. Müller-Enbergs, a.a.O.,
S. 7). Die Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter des MfS war ein Massenphänomen. Da
dies durch die publizistische Aufarbeitung jedenfalls im Ansatz schon 1992 bekannt
war, führte die Behauptung, eine bestimmte Person sei inoffizieller Mitarbeiter gewesen, für sich genommen nicht zu einer nachhaltig ausgrenzenden Isolierung Es ist
schließlich auch nicht ersichtlich, dass die Unterstellung einer inoffiziellen Mitarbeit
beim MfS in gleicher Weise zu einem Entzug sozialer Anerkennung oder einer
"Abstempelung" führt wie etwa die Behauptung, eine Person habe die eigenen Kinder
sexuell missbraucht (vgl. dazu BVerfGE 97, 391 <404>). Die Tätigkeit als inoffizieller
Mitarbeiter des MfS ist für sich genommen strafrechtlich irrelevant. Vor allem aber
wird die Rolle der inoffiziellen Mitarbeiter mittlerweile durchaus differenziert bewertet. Es ist im Zuge der Forschung nach 1989/1990 bekannt geworden, dass die inoffiziellen Mitarbeiter im Unterdrückungs- und Repressionssystem des MfS über keine eigene Macht verfügten, sondern weitgehend von ihren Führungsoffizieren abhängig waren
(vgl. Müller-Enbergs, a.a.O.). Unter diesen Umständen kann man jedenfalls nicht ohne
nähere Feststellungen davon ausgehen, dass allein der Umstand, dass eine Person als
inoffizieller Mitarbeiter bezeichnet wird, zu sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung
führt.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhten auch auf der Verkennung des grundrechtlichen Einflusses. Das Abwägungsergebnis war nicht durch § 32 Abs. 3 Nr. 2
StUG, auf dessen ratio legis die Gerichte unter anderem abgestellt haben, präjudiziert.
Dies gilt schon deshalb, weil die Vorschrift ihrerseits wieder im Licht der grundrechtlichen Positionen auszulegen ist und sich hierzu in Fällen, in denen sie Anwendung findet, dank ihrer offenen Formulierung auch eignet.
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4. Trotz der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite ist eine Annahme der
Verfassungsbeschwerde nicht angezeigt. Sowohl das Oberlandesgericht als auch der
Bundesgerichtshof haben die grundrechtliche Spannungslage des Falls im Ansatz
zutreffend gesehen und eine an den maßgeblichen Grundrechten orientierte Abwägung
vorgenommen. Sie haben allerdings wichtige Abwägungsbelange nicht hinreichend
berücksichtigt. Eine grobe Verkennung der Grundrechte oder gar ein leichtfertiger
Umgang mit Grundrechten im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich jedoch nicht feststellen.
Der Beschwerdeführer ist von den Entscheidungen auch nicht existentiell betroffen.
Ihm ist die Auslegung der Liste für die Zukunft untersagt worden.
Bereits im Ausgangsverfahren hat er zum Ausdruck gebracht, an der Auslegung der
Liste künftig kein Interesse mehr zu haben. Insofern ist er durch die angegriffenen
Entscheidungen nicht mehr schwer benachteiligt. Die Kostenlast trifft ihn nicht existentiell. Eine Aufhebung und Zurückverweisung ist demnach nicht angezeigt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier Steiner Hoffmann-Riem
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Die Autoren
Prof. Dr. Peter Raue
Geboren 1941 in München, dort auch Abitur. Nach dem Abitur Studium der
Rechtswissenschaften in Berlin, 1965 Erstes, 1970 Zweites Staatsexamen.
1967 Promotion zum Dr. jur. mit dem Thema „Jugendgefährdende Schriften – ein Beitrag
zur Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG“ (bei Duncker & Humbott),
1971 Rechtsanwalt, seit 1981 auch Notar in Berlin.
Gründer der Berliner Sozietät Raue-Braeuer-Kuhla,
Berliner Senior-Partner der Sozietät Hogan & Hartson Raue.
Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin (Urheberrecht).
Mehrere Veröffentlichungen zum Sponsoring und auf dem Gebiet des Medien-, Urheberund Presserechts. Zuletzt bei S. Fischer Verlag „Persönlichkeitsrechte – Die Verteidigung
der persönlichen Ehre“.
Peter Raue ist Mitbegründer des Vereins Freunde der Nationalgalerie und seit dessen
Gründung (1977) Vorsitzender dieses Vereins.
Steffen Reichert
Geboren 1968 in Halle, dort auch Abitur. 1987 bis 1990 NVA, ab Mai 1990
Politikredakteur der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) in Halle, parallel von 1990 bis 1996
Studium der Journalistik an der Universität Leipzig mit Abschluss als Dipl.-Journalist, ab
1991 Reporter der MZ. 1994 Stipendium des German Marshall Fund, Studium an der
Duke University, North Carolina. 2002 Wechsel als Landespolitischer Korrespondent der
MZ nach Magdeburg. Bis 2002 Lehrauftrag an der Universität Leipzig (Journalistische
Recherche).
Zahlreiche Veröffentlichungen in der Tages- und Fachpresse zum deutsch-deutschen
Transformationsprozess, zur inneren Sicherheit, zum Extremismus sowie insbesondere
zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit. Zuletzt bei LIT Münster:
„Transformationsprozesse: Der Umbau der LVZ“.
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