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Im Sommer 1992 wurde in Halle an der Saale eine Liste an 30 Adressaten in Parteien, Ministerien und Medien verschickt, die detaillierte Angaben zu 4.500 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS enthielt. Die Absender blieben anonym. Sofort kursierten Kopien der Liste in der ganzen Stadt. Die Bürgerbewegung Neues Forum ließ in ihrem Büro jeden, der es wollte, Einsicht nehmen und wurde dafür mit mehreren Gerichts-prozessen konfrontiert. Darf man das? – Diese Frage beschäftigte in den folgenden Jahren die Gerichte bis zum Bundesverfassungsgericht. Was wiegt schwerer, der Schutz der Persönlichkeit eines IM oder das öffentliche Interesse zu erfahren, wer die Zuträger waren? Der Berliner Rechtsanwalt Prof. Dr. Peter Raue vertrat das Neue Forum vor den höchsten richterlichen Instanzen. Er gibt in diesem Buch eine Übersicht über die widersprüchlichen Argumentationslinien deutscher Gerichte und kommentiert den Spruch der Verfassungsrichter aus Karlsruhe: „So haben wir gewonnen – im Gefäß eines verlorenen Prozesses!“ Der Journalist Steffen Reichert, Redakteur bei der „Mitteldeutschen Zeitung“, hat das Geschehen vor Ort erlebt. Er schildert, wie sich die Enthüllungen in Halle auswirkten und welche Diskussionen sie auch im Kollegenkreis der ehemaligen SED-Parteizeitung entfachten. Dokumentation einer Auseinandersetzung mit Beiträgen von Peter Raue und Steffen Reichert hrsg. vom Verein Zeit-Geschichte(n) Halle DARF MAN DAS? : Die Veröffentlichung von Stasi-Listen in Halle an der Saale im Sommer 1992 und die Folgen. Dokumentation einer Auseinandersetzung mit Beiträgen von Peter Raue u. Steffen Reichert u. e. Vorwort von Edda Ahrberg Hrsg. vom Verein Zeit-Geschichte(n). Halle (Saale), 2004 Mit Unterstützung der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt Zu beziehen über: Zeit-Geschichte(n) e. V. – Verein für erlebte Geschichte Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle (Saale) Tel.: (0345) 20360 -40, Fax: -41 www.zeit-geschichten.de Redaktion: Heidi Bohley Gestaltung: Steffi Kaiser Druck: Druckerei Teichmann, Halle Fotonachweis S. 16: Günter Bauer S. 18: Klaus Ulrich S. 21: P. P.Lorenz ISBN 3-9808120-3-0 Schutzgebühr: 2,50 EUR Inhalt Edda Ahrberg Vorwort Seite 7 Steffen Reichert „Alle wissen jetzt, dass es alle wissen“ 10 Peter Raue Das Neue Forum und die hallesche „IM-Liste“ – auch eine Prozessgeschichte 54 Anonym (2004) Stellungnahme zur Veröffentlichung der so genannten Stasi-Listen im Sommer 1992 72 Anhang Anonym (1992) Vorbemerkungen zur Liste der IM-Registrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986 - 1989 74 Bundesverfassungsgericht – Pressestelle – Pressemitteilung Nr. 33/2000 vom 17. März 2000 77 dazu Beschluss vom 23.Februar 2000 – Az. 1 BvR 1582/94 – 80 zu den Autoren 91 Edda Ahrberg Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt Vorwort Der 40. Jahrestag wurde von der DDR gerade noch so erreicht, wenn auch sehr angeschlagen, zerbröckelt und unter Aufbietung der allerletzten Kräfte. Den 41. gab es nicht mehr. Die „Mauer“ war gefallen, obwohl Erich Honecker ihr noch 100 Jahre prophezeit hatte. Am 9. November 1989, anläßlich der Grenzöffnung, gab das Bundesinnenministerium bekannt, dass 1989 allein bis dahin 225.233 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen waren. Fast 3 Millionen kehrten der DDR insgesamt den Rücken. Die erzwungene Grenzöffnung zeigte das große Bedürfnis der DDR-Bürger nach Freiheit und Selbstbestimmung. Begleitet wurde diese Völkerwanderung im Herbst 1989 durch Demonstrationen Hundertausender, auf denen Plakate mit folgenden Aufschriften keine Seltenheit waren: „Wir brauchen keine Staasi mehr!“, „Stasi in den Tagebau!“ und „Meine Akte gehört mir!“. Von Anfang an war die Sicherung der Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit zur Überprüfung von Abgeordneten, aber auch zur Rehabilitierung und Aufklärung ihrer persönlichen Vergangenheit das gemeinsame Ziel der ehemaligen DDR-Bürger. Gegen alle Widerstände wurde es buchstäblich in letzter Minute vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages durchgesetzt. Über den Aufwand, den die Erschließung und Verwaltung des Schriftgutes erfordern, wird auch heute immer wieder noch erbittert gestritten. Das StasiUnterlagen-Gesetz ist jedoch das Ergebnis eines langen und konstruktiven Diskussionsprozesses. Er begann 1989 mit der Belagerung von Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen des MfS, als dort im November/Dezember die Schornsteine rauchten. Er wurde fortgesetzt mit einer Regelung der Volkskammer der DDR zur Aktenöffnung. Das Gesetz, welches seit dem 20. Dezember 1991 den Umgang mit den Unterlagen regelt, trat zwei Jahre nach der Beendigung der Tätigkeit des MfS in Kraft. Andere osteuropäische Länder, wie z.B. Polen, Ungarn und Tschechien sind diesen Weg zunächst nicht gegangen. Durch die negativen Erfahrungen sind sie inzwischen eines Besseren belehrt worden und haben eigene Gesetze erlassen. In den Begründungen wurde ausdrücklich auf die guten Erfahrungen 7 aus Deutschland hingewiesen. Diese guten Erfahrungen bestehen in folgendem: - Jeder Betroffene hat das Recht (nicht die Pflicht!) nach Maßgabe des Gesetzes zu erfahren, was das MfS über ihn gesammelt hat. - Jeder Betroffene hat das Recht zu erfahren, wer über ihn berichtet hat. Das beinhaltet häufig auch die Erfahrung, dass insgeheim die Falschen verdächtigt wurden. Erleichterung ist die Folge. - Rehabilitierungen politischer Urteile und verwaltungsmäßigen sowie beruflichen Unrechts sind möglich. - Die Aufklärung des eigenen Schicksals, die Kenntnis ungeplanter Lebensknicke und Eingriffe in persönliche Entscheidungen durch das MfS entlasten häufig von Selbstvorwürfen und quälenden Zweifeln. Missverständnisse können ausgeräumt werden. - Nicht zuletzt bedeuten die Unterlagen, durch den inneren Überwachungsapparat des MfS bedingt, eine Möglichkeit, Teilen der DDR-Geschichte ungeschminkt ins Auge sehen zu können. Das tut häufig weh. Aber nur auf diese Weise ist eine Aufarbeitung des Geschehenen möglich, die nicht geprägt ist durch das Ignorieren der eigenen Beteiligung, Verdrängung der unbequemen Erinnerungen und die Tradierung von Legenden und propagierten Scheinwirklichkeiten der SED, die ihre Folgen bis zum heutigen Tag haben. Allein im Jahr 1992 stellten ca. 80.000 Menschen aus Sachsen-Anhalt einen Antrag auf Einsicht in die Unterlagen des MfS. Die Wartezeit betrug in der Regel fünf Jahre. Ähnlich war es mit den Überprüfungsanträgen des Öffentlichen Dienstes. Das bedeutete, dass sehr viele Menschen lange auf Antworten und Aufklärung warteten, andere dagegen unter dem täglichen Druck standen, jeden Moment zu ihrer Zusammenarbeit mit dem MfS befragt werden zu können. Zu den Hinterlassenschaften des MfS gehören nämlich neben fast 90.000 hauptamtlichen Mitarbeitern auch seine Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), d.h. diejenigen Menschen, die sich bereiterklärt haben, mit dem MfS zusammenzuarbeiten und Informationen zu liefern. In der DDR gab es zuletzt noch ungefähr 175.000 IM, davon in den ehemaligen Bezirken Magdeburg und Halle ca. 25.000. Diese Schätzung bezieht jedoch einige Gruppen nicht ein. Es waren mehr. Aber auch in der Bundesrepublik haben sich während der gesamten Zeit (1945-1989) immer wieder Menschen aus den unterschiedlichsten Bereichen und aus den verschiedensten Gründen zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. In zahlreichen Gesprächen hat sich in den letzten 15 Jahren herausgestellt, dass es den Inoffiziellen Mitarbeitern schwer fällt, ihren eigenen konkreten Beitrag zur Arbeit des MfS zu erkennen und zu akzeptieren. Sie hatten damals keinen Einfluss auf die Verwendung ihrer Informationen. Auch positive 8 Informationen konnten nachteilige Wirkungen für die Betroffenen nach sich ziehen: Wenn z.B. jemand über einen Nachbarn berichtete, dass dieser regelmäßig um sechs Uhr das Haus verließ, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, war es wahrscheinlich, dass die MfS-Mitarbeiter um acht Uhr nicht bei einer konspirativen Hausdurchsuchung durch ihn gestört wurden. Heute müssen sich die Inoffiziellen Mitarbeiter damit auseinandersetzen, dass sie ein Rädchen im Getriebe waren. Erst eine intensive Konfrontation mit den Aufzeichnungen des Führungsoffiziers füllt häufig ihre Gedächtnislücken. Darüber hinaus darf aber nicht vergessen werden, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter die Maßnahmepläne verfassten, welche dann mit Hilfe Inoffizieller Mitarbeiter und staatlicher Stellen wie z.B. des Rates des Kreises, Abt. Inneres und Volksbildung sowie der Betriebsdirektoren durchgesetzt wurden. Das MfS blieb hier im Hintergrund. Es konnte wie auf die Inoffiziellen Mitarbeiter auch nicht auf die offiziellen Stellen verzichten. Deshalb ist dieses Zusammenwirken keine Privatsache des Einzelnen. Die Öffentlichkeit und der Einzelne haben das Recht auf Information, denn Geschichte ist immer konkret und wird von Menschen gemacht. Das ist der Grundansatz des Stasi-Unterlagengesetzes. Das öffentliche Auslegen der Liste in Halle hat jeglichem Missbrauch entgegengewirkt. Es hat die Diskussion in einem sensiblen Bereich befördert. Die sich anschließende Geschichte hat gezeigt, dass keine Hexenjagd stattgefunden hat. Die Menschen, denen in der DDR oder von der DDR Unrecht geschah, erwarten zunächst, dass sich jemand zu dem Unrecht bekennt und sich entschuldigt. Sie könnten ihn dann nach den Gründen für das geschehene Unrecht fragen. Leider geschieht das aus eigenem Antrieb fast nie. Die, die zum Unrecht beitrugen, sollten begreifen, dass Unrecht geschehen ist und sie daran beteiligt waren. Das geht in beiden Fällen nicht ohne schmerzhaftes Erinnern, nicht ohne Trauerarbeit. Der Weg ist lang und steinig, aber in Gesprächen könnte wenigstens ein gegenseitiges Verstehen der Beweggründe und damit ein Akzeptieren des Geschehenen erreicht werden. Eine Wiedergutmachung der Leiden ist nicht möglich. Auch sie gehören zum Erbe des MfS und des gesamten Machtapparates der DDR hinzu. Leider wurde in Halle die inhaltliche Diskussion zu den auf der Liste erfassten Personen nur in Ansätzen geführt. Nicht der „schlechten Nachricht“, sondern dem Überbringer der „schlechten Nachricht“ wurde nachgegangen. Das ist ein Zeichen mangelnder Zivilcourage und ein Ausdruck von Konfliktscheu. Die offene Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft des MfS, auch in Bezug auf die eigene Person, kann jedoch befreien. 9 Steffen Reichert „Alle wissen jetzt, dass es alle wissen“ 1 Es gibt Tage im Leben eines Journalisten, die beginnen so schlecht, dass man morgens am liebsten wieder nach Hause gehen möchte. Ein solcher Tag ist Montag, der 13. Juli 1992. Die Redaktion der „Mitteldeutschen Zeitung“ ist gerade dabei, sich aus dem Taumel wochenendlicher Schläfrigkeit ins Tagesgeschäft einer Sommerferienwoche zu begeben, da ist es mit der Ruhe auch schon vorbei. Die Lettern, die an diesem Morgen von den Seiten des Boulevardblatts „Bild Halle“ prangen, sind so groß, dass sie unschwer übersehen werden können. Von einem Datenskandal ist da zu lesen. Von Menschen, die für die Staatssicherheit gearbeitet haben sollen, und von Listen mit Tausenden Namen. Das Problem an der Geschichte ist vor allem das: „Bild“ ist nicht nur einer der Wettbewerber in der Stadt, sondern der Chefredakteur der MZ hat die Angelegenheit bereits zu seiner Chefsache erklärt. Und das mit der schlimmsten Frage, die man einem Journalisten stellen kann: Warum haben wir die Geschichte nicht? Die Antwort an jenem Tag zu geben ist einfach und schwierig zugleich. Schließlich ist dieser braune Packpapierumschlag mit dem auf grünem Papier kopierten Vorwort zeitgleich am Wochenende auch in der Redaktion der MZ eingegangen. Da dort aber samstags die Poststelle nicht besetzt ist, blieben alle Briefe inklusive der brisanten Sendung bis zum Montag liegen, bevor sie an die einzelnen Ressorts weitergleitet wurden. Auch wenn von jenem Tage an die Post auch am Wochenende im Haus verteilt wird: Die größte Zeitung der Region ist nur auf Platz zwei verwiesen worden: wegen mangelnder Schnelligkeit. Ureigenste Aufgabe von Journalisten ist es, öffentlich relevanten Themen nachzugehen, Fragen zu beantworten und die Antworten für den Leser aufzubereiten. Aber wie tut man das bei einer Liste, die anonym ins Haus gekommen und deren Inhalt publizistischer Sprengstoff ist? 112 per Stempel paginierte Blätter, die – unterteilt in mehr als 4.500 Zeilen – den Vorwurf des Verrats erheben. 4.500 Namen von Menschen, die in Halle und im Saalkreis inoffiziell für das MfS gearbeitet haben sollen. Mit Namen und Decknamen, Geburtsdaten und Registriernummern, mit Kurzdarstellungen des geheimdienstlichen Wirkens. Namen, die einen anspringen, weil sie jeder kennt: Kommunalpolitiker und Künstler, Nachbarn und Gastronomen, Wissenschaftler, Sportler und Studenten. Was tun mit einer Liste, die nach Angaben der Verfasser auch an alle anderen 10 Zeitungen, den Oberbürgermeister, an die Landtags- und Stadtratsfraktionen, an alle Minister und an die Gauck-Behörde gegangen ist? Wie umgehen mit einer Namenskolonne, deren Angaben so detailliert sind, dass ausgeschlossen scheint, sie könnte frei erfunden sein? Eine Liste, von der der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, noch am selben Tag auf Anfrage verkünden wird, dass das „Produkt einer sehr ausführlichen Arbeit“ nicht aus seinem Hause stamme. Doch wie überhaupt all die Fakten überprüfen, wenn die unerkannt bleibenden Verfasser höchstselbst in ihrem Vorfeld einräumen, „nicht vollständig fehlerfrei zu sein“? Aus dem Vorwort zur Liste: „Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt, in welchem Maße die Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die Staatsmafia der SED rekrutiert wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des Repressionsapparates der Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern, Spitzeln, Erpressten und Genötigten in sämtlichen Ebenen des staatlichen Systems eingegriffen hat. Gewollte und ungewollte Verdächtigungen verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften das Klima.“ Nach einer kontroversen und langen Diskussion entscheidet die Redaktion der MZ an jenem Montag, das Thema in jeder Hinsicht umfassend zu begleiten. Zwei Reporter werden freigestellt, um sich der Stasi-Listen anzunehmen und dabei vor allem jene sechs W-Fragen zu klären, die man als erstes im Journalistikstudium lernt: Wer, was, wann, wie, wo, warum? Was bleibt, sind zunächst also Fragen ohne Antworten. So dominiert in der ersten Berichterstattung jener Tage vor allem die Ratlosigkeit. Denn die Bewertung des Umgangs mit denen, die den Verrat betrieben hatten, ist so unterschiedlich wie das auch zwölf Jahre später noch der Fall ist. Der damalige SPDFraktionschef und spätere Regierungschef Reinhard Höppner bemängelt insbesondere die Anonymität der Aufarbeitungsliste. „Wer das bewegen will“, sagt er, „der muss auch mit seinem Namen dazu stehen: Die Liste wird Verdächtigungen wachsen lassen.“ Und Höppner kritisiert zugleich, dass die Aufstellung unvollständig sei. So würden die nachweislich als IM geführten Landtagsabgeordneten Gerd Brunner und Manfred Thon fehlen. Finanzminister Wolfgang Böhmer (CDU), heute selbst Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, wendet sich vollständig gegen die Liste. „Eine anonyme Liste dieser Art würde ich jedoch sofort in den Papierkorb werfen“, sagt er.1 1 Klemm, Hendrik; Reichert, Steffen: Staatssicherheit / IM-Namenskartei: Anonyme Absender sorgen für Aufregung. Aufstellung ging Ministerien und Fraktionen zu – Gauck: Material nicht aus unserer Behörde. In: Mitteldeutsche Zeitung, 14.07.1992, S. 3. 12 Der bündnisgrüne Fraktionschef Hans-Jochen Tschiche argumentiert wiederum inhaltlich. Er nennt diesen Versuch der Vergangenheitsaufarbeitung „untauglich“ und vermutet ehemalige Offiziere des MfS als Verfasser. Sein Parteifreund Wolfgang Kupke, später in die CDU übergetreten, macht dagegen ein „wirksames Mittel zur Vergangenheitsbewältigung“ aus.2 Irgendwo dazwischen liegt die Wahrheit. Aber wo? 2 Eine Liste sorgt für Furore. Über Nacht hat Halle, hat Sachsen-Anhalt ein Thema, das die Menschen wie kein zweites bewegt. Zu frisch ist noch die Erinnerung an jene Tage, da das Volk die Machthaber von SED und MfS praktisch davongejagt hat. Machtvoll jeden Montagabend. Aus Hunderten werden Tausende. Am Ende sind es Hunderttausende, die überall zwischen Rügen und Görlitz auf die Straße gehen, um die Freiheit der Presse, der Meinung und des Reisens einzufordern. Keine zwei Jahre ist es her, dass aus dem machtvollen Ruf „Wir sind das Volk“ der Ruf geworden ist „Wir sind ein Volk“. Exakt 15 Monate liegt es zurück, dass aus Deutschland Ost und Deutschland West wieder ein geeintes Deutschland geworden ist. Ein Deutschland, das für Unabhängigkeit im Denken, für die Freiheit von Forschung und Lehre, aber auch für den Rechtsstaat steht. Und ganze sechs Monate ist es her, dass eine Bundesbehörde mit ihrer Arbeit beginnt, um auf der Grundlage eines weltweit einzigartigen Gesetzes jedem Betroffenen den Zugang zu seiner Stasi-Akte zu ermöglichen. Tausende haben allein in Halle einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Wie lange es dauern wird, bis jedes Opfer Einblick nehmen kann, weiß niemand. Und dann gibt es da nun eine Liste, die an jene gegangen ist, die entscheiden und öffentliche Meinung machen. Ist das rechtens? Bernd Stavenhagen in „Hallesches Tageblatt“: „Für Umfragen zu brandaktuellen Themen relativ ungewöhnlich: Über 90 Prozent der gestern Nachmittag von unserer Zeitung spontan um ihre Meinung gebetenen Hallenser hatten die Presseveröffentlichungen über die anonym versandten Listen sorgfältig gelesen, die 5.000 ihrer Mitbürger unter Stasi-Verdacht gestellt haben. Ungewöhnlich auch die nahezu übereinstimmenden Ansichten. Holger Nikolaizig, Maurer: Diese Leute haben genug Schaden angerichtet. Es ist richtig, ihre Namen bekanntzugeben, denn sie hatten auch kein Mitleid wenn 2 Listen / Verwirrung: Stasi-Auflöser: Wir fanden nur 2.700 Namen in der Kartei. Justizminister Remmers sieht Verdacht von Geheimnisverrat - Halles Staatsanwaltschaft ermittelt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 15.07.1992, S. 1. 13 sie durch ihre Denunziation Karrieren vernichteten. Aber anonyme Schreiben sind hier fehl am Platze Sie bergen die Gefahr falscher Verdächtigungen. Die Gauck-Behörde sollte daher nun endlich alle Karten auf den Tisch legen.“ 3 Am Dienstag, dem 14. Juli, tritt auch der Justizminister vor die Presse. Er sehe, erklärt der Unionspolitiker Walter Remmers in Magdeburg, den Anfangsverdacht, dass ein Behördenmitarbeiter Geheimnisverrat begangen haben könnte. Denn dass die Daten aus der Gauck-Behörde, die das heftig dementiert, stammen, scheint naheliegend. Woher auch sonst? Die Staatsanwaltschaft Halle nimmt Ermittlungen auf, betrachtet die Suche nach den anonymen Verfassern aber „erwartungsgemäß [als] sehr schwierig“. Ihr Chef, der Leitende Oberstaatsanwalt Dieter Schmiedl-Neuburg, sieht Hinweise auf üble Nachrede. Die gerade erst gegründete Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg hofft gar auf ein Bekennerschreiben.4 Zur selben Zeit, die erste Überraschung ist nun ausgestanden, kursieren auch die ersten Namen angeblich Belasteter. Diskus-Vizeweltmeisterin Ilke Wyludda vom SV Halle und Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski sind aufgeführt, bestreiten aber beide eine Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit. „Mit dem MfS habe ich nichts zu tun gehabt. Bestimmte Gepflogenheiten hat es gegeben, bestimmte Dinge wurden genannt“, argumentiert Cierpinski. „Ich dementiere aber, unter dem Decknamen Willi für das MfS gearbeitet zu haben.“ Er habe damit gerechnet, als Hochleistungssportler einmal damit konfrontiert zu werden.5 Bericht der Abt. XX/3 vom 11.11.1976 über eine durchgeführte Werbung: „Am 10.11.1976 wurde in der Zeit von 16.00 – 17.00 Uhr das Werbungsgespräch mit dem IMS-Kandidaten Cierpinski, Waldemar durchgeführt. Der Kandidat wurde hierzu in die IMK ‚Ernst’ eingeführt. Eine Dekonspiration bzw. zu beachtende Probleme traten dabei nicht auf ... Der Kandidat erkannte die Notwendigkeit, unser Organ bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen und erklärte sich bereit, inoffiziell mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Auf Grund des Verlaufes des Gespräches wurde verzichtet, dem Kandidaten eine neue Schweigeverpflichtung abzuverlangen, 3 Stavenhagen, Bernd: Die Stasi-Spitzel haben auch kein Mitleid gehabt. Umfrage unserer Zeitung gestern unter Hallensern: Anonyme Zusendung von IM-Listen ist aber auch nicht das Gelbe vom Ei. In: Hallesches Tageblatt, 15.07.1992. 4 Listen / Verwirrung: Stasi-Auflöser: Wir fanden nur 2.700 Namen in der Kartei. Justizminister Remmers sieht Verdacht von Geheimnisverrat - Halles Staatsanwaltschaft ermittelt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 15.07.1992, S. 1. 5 Wyludda und Cierpinski dementieren Stasi-Kontakte. In: Hallesches Tageblatt, 16.07.1992. 14 da der Kandidat wie im bestätigten Vorschlag zur Kontaktaufnahme erwähnt, bereits 1973 schriftlich verpflichtet wurde. Zur Gewährleistung der Konspiration wählte er sich den Decknamen ‚Willi’. Der Kandidat wurde mit den Regeln der konspirativen Arbeit vertraut gemacht, insbesondere dem Betreten und Verlassen von IMK und Verhaltensweisen bei der Realisierung bestimmter Aufträge. Es wurde ein Verbindungsplan erarbeitet.“ 6 Dieser 16. Juli ist auch in anderer Hinsicht ein wichtiger Tag. Seit drei Tagen sind die Listen nun Thema, seit drei Tagen dreht sich die Diskussion um eine Frage: Wer ist darauf eigentlich erfasst? Das Neue Forum Halle, ein Motor des Umbruchs während der friedlichen Revolution 1989, hat darüber eine halbe Nacht beratschlagt. Der Konflikt ist offenkundig. Niemand weiß, woher die Listen stammen. Aber die Angaben sind zu präzise, als dass sie erfunden sein könnten. Wie damit umgehen. Am Ende dieser langen Diskussion fällt die Entscheidung. Das Neue Forum will die Listen in seinen Büros im Reformhaus auslegen. „Wir wollen das Wissensmonopol brechen“, begründet Heidi Bohley die Entscheidung. „Auf diesem Wege sollen Erpressungsversuche vermieden werden.“ 7 Allein die Ankündigung spaltet die Öffentlichkeit. Die Gauck-Behörde winkt erst einmal ab. „Eine Veröffentlichung der Liste verstößt nicht gegen das StasiUnterlagen-Gesetz, weil es sich nicht um Original-Akten handelt sondern um eine Zusammenstellung“, erklärt Gaucks Sprecher David Gill. Das Neue Forum muss sich aber auf Verleumdungsklagen von Betroffenen gefasst machen, die nicht bei der Stasi waren, aber auf der Liste stehen.“ Auch die Staatsanwaltschaft Halle kündigt an, bei eingehenden Strafanträgen Ermittlungen aufzunehmen.8 Die Behörde des Landesdatenschutzbeauftragten macht eine klare „Datenschutzwidrigkeit“ aus und verweist auf die fehlenden gesetzlichen Grundlagen. Das Neue Forum will dennoch weitermachen. Man sei sich der „Tragweite bewusst“, wird Heidi Bohley sagen.9 Jan Brügelmann in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Die Ankündigung des Neuen Forums Halle, jene dubiosen Liste mit den Namen von über 4.500 6 Bericht vom 11.11.1976 über eine durchgeführte Werbung. BStU, ASt Hle, VIII 2705/84, Teil I, Bl. 31 f. [IMK: hier für konspirative Wohnung] 7 van der Kraats, Marion: Neues Forum veröffentlicht die Stasi-Liste. In: Express, 16.07.1992. 8 Ebd. 9 Reichert, Steffen: Stasi / Inoffizielle Mitarbeiter: Neues Forum will die Liste öffentlich auslegen. Landesdatenschützer melden „erhebliche Bedenken“ an. In: Mitteldeutsche Zeitung, 16.07.1992, S. 1. 15 16. Juli 1992, vor dem Büro des Neuen Forum 16 angeblichen Stasi-Spitzeln öffentlich zugänglich zu machen, ist nicht nur juristisch betrachtet ein Gang auf dünnem Eis ... Einer kann sich hingegen ins Fäustchen lachen. Der Absender der Liste, der wohl aus gutem Grund seinen Namen nicht nennen will, wird das erreichen, was er bezweckte: Ein Klima, in dem Hass und Missgunst gedeihen, wird weiter angeheizt.“ 10 3 Da stehen sie nun. Irgendwann am frühen Morgen sind sie gekommen. Haben sich angestellt und eingereiht in die Schlange, die sich nun aus der dritten Etage das gesamte „Reformhaus“ herunterwindet. Treppenstufe für Treppenstufe durch das Gebäude in der Großen Klausstraße, das wie kein anderes in Halle für den Aufbruch im Herbst 1989 steht. Hier haben die Grüne Liga, Amnesty International und nicht zuletzt das Neue Forum ihre Büros. Es ist keine Schlange von denen, die sich in Supermärkten bilden, „solange der Vorrat reicht“. Die Hunderte von Menschen, die an diesem 16. Juli ins „Reformhaus“ gekommen sind, wirken angespannt und konzentriert, einige auch aggressiv. „Die Fotografen sollen endlich abhauen“, murren einige. Denn zwischen den Menschen und mitten im Büro drängeln sich Journalisten, Fotografen und Kamerateams. Alle sind gekommen, um die Listen zu lesen. Es gibt fünf kopierte Sätze. Hier in den Forum-Büros, in denen auch die Bundestagsabgeordnete Ingrid Köppe, die Vertreterin des Neuen Forum in der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“, ihr Wahlkreisbüro unterhält, ist Hochbetrieb. Heidi Bohley und Frank Eigenfeld sind unter Dauerstress, hetzen zwischen Kopierer und Regalwand umher, suchen Abkürzungsverzeichnisse und Nachschlagewerke über das MfS. „Was bedeutet eigentlich FIM?“, will ein Besucher wissen. „FührungsIM“, wird Frank Eigenfeld antworten. „Einer, dem andere IM unterstanden.“ Aus dem Brief eines IM an das Neue Forum: „Ich erlaube mir, den halleschen Repräsentanten des von mir bislang sehr geschätzten, tatkräftig unterstützten und auch stets gewählten Neuen Forum dieses Schreiben zu übersenden mit der Bitte um Kenntnisnahme. Zunächst hat es mich bestürzt, dass sich auch mein Name in der ominösen Stasi-Liste fand wie mir mit erster Häme sehr schnell mitgeteilt worden ist ... Ich will auch Ihnen sagen, dass ich Mitte der 70er Jahre unterschrieben hatte, nachdem man mich verhaftet und entwürdigend behandelt hatte. Ich erspare mir dazu die Einzelheiten ... Zu keiner Zeit habe ich für das MfS gearbeitet, mit dieser 10 Brügelmann, Jan: Auf dünnem Eis. In: Mitteldeutsche Zeitung, 16.07.1992, S. 2. 17 staatlich-kriminellen Institution hatte ich nichts gemein. Ich habe niemals unter dem Aspekt des Informationsgewinns für das MfS Freunde oder sonstige Bürger bespitzelt. Ich war allein auf mich gestellt und habe versucht, das MfS mit seinen eigenen Waffen zu schlagen – zugegebenermaßen auf bescheidenem Niveau.“ 11 Vielleicht ein Dutzend Hallenser sitzen in dem großen Beratungszimmer. Vor sich die Listen, die sie Zeile für Zeile durchgehen. Eine von ihnen ist eine 27-jährige Studentin. Zwei Stunden hat sie gewartet, um endlich Einblick nehmen zu können. Zwei Stunden, die so lang sind wie eine Ewigkeit. „Das kann doch nicht 16. Juli 1992, die Listen liegen aus wahr sein“, sagt sie plötzlich, wird blass und stellt sich ans Fenster. „Ich brauche Zeit“, murmelt sie auf die Frage, ob etwas passiert ist. Gerade hat sie einen engen Freund entdeckt. Und nun? Nun geht sie ans Fenster, schaut hinunter auf die Straße, auf der sich die Straßenbahnwagen gelenkig neben dem Café „König“ um die Kurve quälen. „Wir müssen reden“, ist sie sich sicher. Reden über das, was sie gelesen hat. Reden über das Erlebte, reden über die eigene Geschichte. Und Fragen stellen will sie.12 Aus dem Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 21.07.1992 im Rechtsstreit einer auf der Liste genannten Person gegen den Verein Neues Forum wegen des Erlasses einer einstweiligen Verfügung, wonach der Name bei 11 Schreiben an das Neue Forum Halle vom 17.07.1992. 12 Reichert, Steffen: IM-Listen / Einsicht: „Bin erleichtert und erschüttert zugleich“. Neues Forum legt Stasi-Kartei öffentlich aus – Hitzige Szenen in riesiger Warteschlange. In: Mitteldeutsche Zeitung, 17.07.1992. 18 Androhung von 500.000 DM Ordnungsgeld für Zuwiderhandlungen geschwärzt werden musste: „Die Antragstellerin betreibt als Selbständige zusammen mit ihrem Ehemann das Café ... in Halle. Die Antragstellerin ist zu keinem Zeitpunkt offizielle oder inoffizielle Mitarbeiterin des Staatssicherheitsdienstes gewesen ... Den einzigen Kontakt, den die Antragstellerin zu Mitarbeitern des MfS hatte, bestand darin, dass diese häufig Gäste in ihrem Café waren. Früher befand sich das Stasi-Gebäude direkt am Robert-Franz-Ring, dort, wo heute die AOK ansässig ist. Daher waren die Stasi-Mitarbeiter häufig Gäste ihres Cafés. Da das Café früher stets voll besetzt war, wurden des öfteren Tische auch von Stasi-Mitarbeitern vorbestellt. Hier könnten konspirative Treffen stattgefunden haben, die es erklärlich machen, dass die Geschäftsräume in der Liste als ‚konspirative Wohnung’ angegeben sind. Für die Antragstellerin ist dies die einzig denkbare Erklärung, wieso ihr Name auf die Liste der IMs gelangt ist." 4 Selbst von weit entfernten Orten reisen an diesem Morgen Betroffene an. Gerhard Müller beispielsweise ist gekommen. Er lebt im Ruhrgebiet. Der einstige Gröbziger kam wegen politischer Vorwürfe ins MfS-Gefängnis am Kirchtor. Der „Rote Ochse“, wie der 100 Jahre alte Gefängnisbau im Volksmund genannt wird, war seine letzte Station auf dem Weg in die Bundesrepublik. In CastropRauxel hat sich Müller eine Existenz als Unternehmer aufgebaut. Nun will er es genau wissen, glaubt er doch, dass die Leute, die ihn seinerzeit der Brandstiftung und BND-Mitarbeit beschuldigten, dass der Pflichtverteidiger und der Gefängniswärter und schließlich der Abteilungsleiter Inneres beim Rat des Kreises, der ihm 1991 einen Entschuldigungsbrief schrieb, für die Staatssicherheit arbeiteten. Gerhard Müller will Gewissheit. Und der Ingenieur Werner Misch, der später als Stadtrat in Halle für die Union Politik machen wird, spricht von einer Operation, nach der der Patient genesen wird. „Ich gehöre zu denen, die vor der Wende anonym bedroht wurden. Die Absender sind sicher auch in meinem Bekanntenkreis zu finden.“ 13 Aus der Richtlinie 1/76 des MfS über Operative Vorgänge als eine Möglichkeit der Zersetzung: - die „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht 13 Stavenhagen, Bernhard: Einsicht in Stasi-Listen als heilsame Operation. In: Hallesches Tageblatt, 17.07.1992. 19 - - - - widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen im Zusammenhang mit bestimmten Idealen, Vorbildern usw. und die Erzeugung von Zweifeln an der persönlichen Perspektive; Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen; Erzeugen bzw. Ausnutzen und Verstärken von Rivalitäten innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder; Beschäftigung von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen mit ihren internen Problemen mit dem Ziel der Einschränkung ihrer feindlichnegativen Handlungen; örtliches und zeitliches Unterbinden bzw. Einschränken der gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gruppe, Gruppierung oder Organisation auf der Grundlage geltender gesetzlicher Bestimmungen, z.B. durch Arbeitsplatzbindungen, Zuweisung örtlich entfernt liegender Arbeitsplätze usw.“ 14 Szenen wie diese kann man oft beobachten an jenem Vormittag im Reformhaus. Das Klima bewegt sich zwischen Entsetzen und Erleichterung. Zwei Vertreter des Magistrats kommen ins Büro und fragen, ob sie ebenfalls ein Exemplar erhalten können. Die Mitarbeiter des Personalrats wollen sie haben, da der Oberbürgermeister ihnen „sein Exemplar“ nicht ausgehändigt hat. „Warum soll Bürger X weniger qualifiziert sein, eine solche IM-Liste zu lesen, als beispielsweise ein Ministerium?“, fragt Sabine Leloup, die Geschäftsführerin vom Neuen Forum. Frank Eigenfeld, vor 1989 vom MfS selbst massiv überwacht, bringt es auf den Punkt. Lachend verkündet er, die Arme weit ausgebreitet: „Die Stasi hat wieder einmal Chaos verbreitet.“ Aus einem Brief an das Neue Forum: „Frau Bohley! Haben Sie eigentlich ein Schamgefühl? Ich glaube nicht, denn sonst müssten Sie sich in Grund und Boden schämen, alte Menschen, die sich nicht mehr des Rufmordes, denen sie durch die Veröffentlichung der IM-Listen ausgesetzt sind, erwehren können, an den Pranger zu stellen. Menschen die wahrscheinlich in ihrem Leben mehr gearbeitet haben als sie es jemals tun werden und die in keine Weise als IM tätig waren. Selbst Tote werden mit diesen Veröffentlichungen über das Grab hinaus beleidigt.“ 15 14 BStU, ASt Hle, Abt. XX 1595, Bl. 55 f. 15 Schreiben an das Neue Forum Halle vom 26.07.1992. 20 Weil die Menschen selbst aus den umliegenden Kreisstädten nach Halle reisen, beginnt das Neue Forum schließlich damit, Termine für die Durchsicht der Liste zu vergeben. Bereits am zweiten Tag haben die Bürgerrechtler 695 Interessenten vorgemerkt, mit denen Termine bis zum 5. August vereinbart worden sind.16 Im Reformhaus sind sich jedenfalls alle einig, dass das Veröffentlichen der Liste der einzig richtige Weg ist. Aber das Leben besteht nicht nur aus denen, die im Reformhaus sitzen. Manchmal klingelt das Telefon, und die anonymen Anrufer schnarren in die Leitung Worte wie „Verräter“ oder „Dreckschweine“.17 17. Juli 1992, die ersten Namen müssen geschwärzt werden 5 Wer in diesen Tagen aufmerksam durch Halle geht, der trifft häufig auf Journalisten. Es gibt zwei Gruppen. Die einen stammen aus Halle und beschäftigen sich vor allem mit der Frage: Wer, wie, warum? Die anderen reisen aus allen Teilen Deutschlands an und möchten Antwort auf die Fragen: Was, wann wo? Einen vergleichbaren Vorgang hat es zwei Jahre nach der friedlichen Revolution noch nirgends gegeben: Eine Stadt kennt ihre Spitzel. Das ist allemal Stoff für eine Reportage. 16 Interesse bleibt ungebrochen: Hallenser drängen sich weiter um die Stasi-Listen. In: Hallesches Tageblatt:18.07.1992. 17 Den Namen des Freundes zur IM-Tarnung benutzt. Auch gestern riss der Strom der Bürger zur Einsichtnahme in die Stasi-Listen im Reformhaus nicht ab. In: Hallesches Tageblatt, 18.07.1992. 21 Wolfgang Gast in der taz: „Es ist unbestritten, sagte Oberbürgermeister Klaus Rauen in der Stadtverordnetenversammlung am 15. Juli, ‚dass wir uns der Thematik, die auch mit dieser Liste als ein Teil unserer Geschichte aufbricht, stellen müssen’. Konkret hieße das, dass zuallererst die betroffenen Persönlichkeiten Gelegenheit haben müssen, eine persönliche Stellungnahme zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen abzugeben. So sieht es auch Polizeipräsident Günter Hermann. Rund ein Dutzend seiner Polizisten stehen auf der Liste. Während im Postdienst ‚zwei Hände voll IM’ gefunden wurden, ging es bei der AOK mit zwei Treffern vergleichsweise glimpflich ab.“ 18 Die halleschen Redakteure suchen dagegen nach den Urhebern der Liste. Am 18. Juli macht Klaus Wand, Mitglied des Sprecherrates von Neues Forum, nicht nur vage, sondern sehr konkrete Andeutungen. Man habe „ein Fanal setzen“ wollen, „das die Aufarbeitung endlich in Gang setzt“. Zweifel an der Echtheit der Daten hat er nicht. „Dafür steckt zuviel Arbeit in der Sache“, seien doch die Listen „in monatelanger Kleinarbeit aus mehr als 5.000 IM-Einzelakten zusammengestellt“ worden. Und von wem? „Es gibt die Gauck-Behörde, und es gibt die Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Die eine Seite findet nicht immer gut, was die andere tut – und dann tut sie, was sie meint, tun zu müssen.“ Also doch keine Bürgerkomitees oder alte Seilschaften? „Unter Herrn Gauck“, weiß Klaus Wand, „arbeiten viele Menschen, die sich den Bürgerbewegungen verpflichtet fühlen.“ So eindeutig, wie Klaus Wands Aussagen sind, so eindeutig ist auch das Dementi. Gaucks Sprecher David Gill nennt es am gleichen Tag „schlichtweg unmöglich, 5.000 IM-Decknamen illegal herauszusuchen, mit anderen Klarnamen-Dateien zu vergleichen“. In den Archiven des MfS, muss man wissen, sind aus Gründen der inneren Konspiration alle Daten in separaten Karteien gespeichert. Niemand soll gleichzeitig alles wissen können. Also kann die Liste nicht aus der Behörde stammen? Die Gauck-Behörde jedenfalls prüft, „ob es ein Loch“ in der Behörde gegeben habe.19 Auch die hallesche Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde weist Wands Aussagen als „reinen Unfug“ zurück.20 18 Gast, Wolfgang: Nach Feuer und Schwert hat keiner gerufen. Seit in Halle die Namen von viereinhalbtausend Stasi-Spitzeln veröffentlicht wurden, ist in der Stadt an der Saale nichts mehr wie vorher / Konsequenzen wird es aber erst nach einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde geben. In: die tageszeitung, 27.07.1992. 19 Könau, Steffen: Staatssicherheit / IM-Kartei: Stammen Stasi-Listen doch aus der Gauck-Behörde? In: Mitteldeutsche Zeitung, 17.07.1992, S. 2. 20 Sturm auf Stasi-Listen in Halle hält weiter an: In: Mitteldeutsche Zeitung, 18.07.1992. 22 23 Die Redaktionen, die ihre Reporter zum Teil von weither nach Halle schicken, haben Interesse an anderen Fragen. Johannes Leithäuser von der FAZ spricht mit Katrin Eigenfeld vom Neuen Forum. Sie, die „ihren Top-IM“ in der Liste nicht gefunden hat, begründet die Aktion des Neuen Forum damit, dass die Liste kursiere und man „dieses Herrschaftswissen“ habe brechen wollen.21 „Dolle Aktion“ titelt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Und auch die Hamburger Redakteure sprechen mit Katrin Eigenfeld, die das anonyme Versenden für eine „dolle Aktion“ und die Auslegung der Liste durch das Neue Forum für „eine Partisanenarbeit“ hält. Viele Hallenser kommen zu Wort, und wenn die Liste etwas bewegen könnte, dann das: Man könnte miteinander reden. Aber Halles Oberbürgermeister Klaus Rauen ist da illusionslos. „Das unmittelbare Gespräch mit den Beschuldigten meidet jeder wie die Pest.“ 22 Eines fällt bei dem als mutig geltenden Magazin von der Alster freilich auf: In dem faksimilierten Ausriss von der Liste sind die bürgerlichen Namen der betroffenen Personen allesamt geschwärzt. 6 Vielleicht war es nur eine Ahnung, aber wenn, dann eine zutreffende. Vielleicht hatten die Nachrichtenredakteure vom „Spiegel“ aber auch noch rechtzeitig einen Tipp erhalten. Am selben Freitag, an dem gewöhnlich spät abends Redaktionsschluss für das nächste Heft ist, erlässt das Kreisgericht Halle eine erste Einstweilige Verfügung. Rechtsanwalt Hans-Jürgen Müggenborg, der einen Mandanten aus dem Öffentlichen Dienst vertritt, begründet sein Vorgehen damit, dass sein Mandant bereits zweimal durch die Gauck-Behörde überprüft worden sei. Der 43-jährige Medizindozent von der Martin-Luther-Universität habe sich der Ärztekammer und der Personalkommission stellen müssen.23 Nun fürchte er berufliche Nachteile, und deshalb wendet sich Müggenborg auch gleich noch an die Staatsanwaltschaft. Er stellt Strafantrag wegen übler Nachrede.24 Zwei Tage und zwei Zeitungsbeiträge später hat der Jurist bereits sechs Mandanten unter Vertrag. 21 Leithäuser, Johannes: Neues Forum legt in Halle Liste mit Stasi-Spitzeln aus. Remmers: Zusammenstellung der Namen professionelle Arbeit. In: FAZ, 18.07.1992. 22 Dolle Aktion. In: Der Spiegel, Nr. 30/1992, 20.07.1992, S. 76 f. 23 van der Kraats, Marion: Verfügung gegen Stasi-Liste. In: Express, 18.07.1992. 24 Reichert, Steffen: IM-Listen / Konsequenzen: Erster Name musste geschwärzt werden. In: Mitteldeutsche Zeitung, 18.07.1992, S. 1. 24 Halle diskutiert freilich weiter. Eine Woche ist es nun her, dass der Umgang mit dem schweren Erbe eine Stadt in Atem hält. Eine Woche, die Menschen zu Gesprächen veranlasst, die ohne einen Katalysator wohl unmöglich gewesen wären. Aber die Zahl derer, die die Liste wirklich kennen, ist gering. Zu klein sind die Büros des Neuen Forum, zu wenig dessen Mitarbeiter. In diese Lücke springt „Bild“. Intensiv haben die leitenden Redakteure des AxelSpringer-Verlages darüber diskutiert, ob sie das Risiko eingehen können, die Listen einfach zu veröffentlichen. Dass es ein Risiko ist, wissen sie. Kein publizistisches, eher ein juristisches. Und deshalb bleibt die Nachricht vom Coup der Boulevardredaktion bis zum Morgen geheim. Erst die Käufer, die am Kiosk oder Automaten eine „Bild“ in ihren Händen halten, trauen ihren Augen nicht. „Bild“ nennt die Namen, beginnt mit dem Abdruck der Listen. Um Fehler beim Übertragen zu vermeiden, werden die Listen einfach faksimiliert. Zeile für Zeile. „Bild Halle“ in einer Erklärung: „1. Die Namen sind ohnehin schon veröffentlicht: Indem sie zunächst anonym an einen Kreis von 30 Privilegierten verschickt wurden und vom Neuen Forum zur Ansicht ausgelegt wurden. 2. Die Warteschlangen beim Neuen Forum betragen mittlerweile fast zwei Wochen. Solange gehen die Spekulationen weiter, das Bangen, das Zittern. Wir wollen endlich zur Gewissheit verhelfen: wer war IM, wer nicht? 3. Wir haben mit vielen Betroffenen gesprochen. Fast alle sagten: Ja, druckt das! Das ist wie eine Befreiung für mich! Jetzt ist es endlich raus! 4. Klima-Vergiftung ist, wenn etwas verschwiegen wird – weil so Spekulationen und Verdächtigungen nie aufhören. Klima-Vergiftung ist nicht, offen zu diskutieren, Namen zu nennen, Klarheit zu schaffen. Nur so können wir unsere unselige Vergangenheit hinter uns bringen und einen echten Neuanfang machen. 5. Wir von BILD glauben, dass die Hallenser verantwortungsvoll mit dieser Liste umgehen. Dass sie wissen: Nicht jeder, der als IM auf dieser Liste auftaucht, hat sich der Stasi mit Leib und Seele verkauft. Unvorstellbar waren die Methoden, mit denen manchen die Unterschrift und die Verpflichtungserklärung abgepresst wurde. Was sie dann wirklich verraten haben, ob das überhaupt nötig war – das kann jeder IM nur selbst mit seinem Gewissen ausmachen.“ 25 25 Die Stasi-Listen in BILD: In: Bild Halle, 20.07.1992, S. 4 ff. 25 In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Publizierung der Listen ein Riesen-Erfolg. Ab morgens um fünf drängen sich die Menschen an die Kioske und Automaten, um ein Exemplar des Groschenblattes zu erhalten. Wer zu spät kommt, den bestraft die Auflage. Denn obwohl die enorm erhöht worden ist: Bereits am frühen Morgen ist „Bild“ vergriffen. Preise von bis zu zehn Mark werden geboten. In den Bussen, in den Bahnen, an Kneipen- und Büroschreibtischen gibt es nur ein Thema: Der war auch dabei? Stephan Finsterbusch in „Junge Welt“: „Tag für Tag werden in der Bildzeitung die Listen von Mitarbeitern der Staatssicherheit veröffentlicht. Ich bin bei der Art und Weise und vor allem bei dem Medium, über das die ganze Aktion gefahren wird, sehr skeptisch. Auflagendruck und Themensicherung für mindestens drei Monate sind wohl die vorrangigen Beweggründe einer solchen Veröffentlichung ... Auf alle Fälle sind in der öffentlichen Meinung vermeintlich Hauptschuldige für kleine und mittlere Feigheiten, menschliche Enttäuschungen und verpfuschte Karrieren gefunden. Schön, dass es so etwas in den Altländern nicht gab, gibt und geben wird.“ 26 Spätestens jetzt muss dem Neuen Forum wie auch der Boulevardredaktion klar sein, dass juristische Schritte drohen. Und tatsächlich. Immer wieder gehen im Reformhaus Einstweilige Verfügungen ein, die die Nennung bestimmter Namen untersagen. Die Konsequenz: Die Angaben zu diesen Personen müssen auf der Liste geschwärzt werden. Doch Tausende und Abertausende andere Hallenser können sie inzwischen in der Zeitung lesen. Und so bleibt auch „Bild“ nicht verschont. Bereits am zweiten Tag der Veröffentlichung ist auch hier eine Zeile fein säuberlich geschwärzt worden. Die des 43-jährigen Medizindozenten von der Universität. Viel Arbeit für das Kreisgericht. Petra Bornhöft in der „Berliner Zeitung“: „Nachdem eine Zeitung in der vergangenen Woche das 112seitige Papier komplett druckte, steht Halle ziemlich Kopf. Früher herrschte Hochbetrieb im Café ‚König’. An ‚Warteschlangen bis auf die Straße’ entsinnt sich der Pächter und schaut traurig auf drei Gäste im dunklen Raum. Draußen wirbt seit der Wende ein neues Brauereischild. Drinnen blieben die Preise ‚vernünftig’. Und die flirrende Mittagshitze an der Saale ist nicht neu, kann den Schwund nicht erklären. Nein, es ist ‚diese geschäftsschädigende Liste’, die dem Mann Wut in die Augen treibt und die Obst-Törtchen hinter der Theke altern lässt. Das Papier enthält auch den Namen der Ehefrau des Pächters. Die meisten 26 Finsterbusch, Stephan: Widerhaken. Ein Tunnel aus Hass. In: Junge Welt, 08.08.1992. 26 der 310.000 Hallenser im lesefähigen Alter studieren in diesen Tagen jene Liste.“ 27 Am Abend des 22. Juli kommt es zu einem ungewöhnlichen Treffen. Heidi Bohley und der Chef der Staatsanwaltschaft, Dieter Schmiedl-Neuburg, treffen sich beim MDR. In dem eilig angesetzten Streitgespräch sollen die beiden Für und Wider des Umgangs mit den Listen diskutieren. Die Argumente sind eigentlich bekannt, und doch ist es gut, sie noch einmal zu hören. Heidi Bohley wird argumentieren, dass das Neue Forum auf die Zusendung der Listen lediglich reagiert habe, dass man das Entstehen eines Schwarzmarktes verhindern wollte und dass immer wieder Menschen kämen, die Rat suchten oder einfach nur reden wollten. Selbstverständlich respektiere man die acht eingegangenen einstweiligen Verfügungen, aber „nur auf Zuruf schwärzen wir nicht.“ Schmiedl-Neuburg, ein weit über Halle hinaus anerkannter Volljurist, argumentiert, dass die Listen vollständig veröffentlicht worden seien verhindere eine notwendige Differenzierung, dass man die Geschichte jedes Einzelnen im Zusammenhang mit der Staatssicherheit kennen müsse. Er erzählt von eingehenden Anzeigen wegen „Hexenjagd“, von Kindern, die nicht mehr miteinander spielen dürften, dass man solche Probleme mit rechtsstaatlichen Mitteln lösen müsse, um Nachbarschaftsstreit zu vermeiden. Er könne sich vorstellen, „dass zwischen den Empfängern der Liste auch ein Konsens mit den Zeitungen möglich gewesen wäre: Wir veröffentlichen diese Listen nicht.“ Es sei schließlich keine persönliche Betroffenheit, sondern reine Neugier, wenn man wissen wolle, ob der Nachbar bei der Stasi war. Heidi Bohley protestiert: „Jetzt spricht der Westdeutsche aus Ihnen“, der nicht wissen könne, wie sehr in einer Diktatur gerade dies ein persönliches Problem sei. 28 7 Das Trauma einer Stadt, dass sich in die Frage fassen lässt „Der war auch dabei?“, bricht sich langsam Bahn. Die Listen, die Namen, die Fakten sind nun öffentlich. Und die ersten Leserbriefe erreichen die Redaktionen. Menschen beginnen von ihrer Geschichte zu erzählen, rechtfertigen sich, wollen erklären. Der in Halle ansässige Stempelmacher Helmut Pfautsch gehört zu ihnen. Er erklärt, nachdem er zuvor öffentlich der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS beschuldigt wurde, in einem Leserbrief: „Solange es Stempel gibt, durch 27 Bornhöft, Petra: Die Wirtin vom Café König versteht nicht, warum sie am Pranger steht. In: Berliner Zeitung, 27.07.1992, S. 3. 28 Sendemitschnitt der MDR-Aufzeichnung vom 22.07.1992. 27 deren Abdruck ein Papier zur Urkunde oder sonstigem Dokument wird, wird es auch Versuche von Fälschungen geben. In einer solchen Strafverfolgung verlangen Polizei und andere Dienststellen Gutachten und andere Auskünfte vom Fachmann,29 ob der Stempel im eigenen Betrieb hergestellt oder mit welcher Technik er evtl. angefertigt wurde ... Mir wurden bei Straftaten und Fälschungen Abdrucke von der Volkspolizei und auch von Mitarbeitern der Staatssicherheit vorgelegt. Ich konnte jedoch immer feststellen, dass diese Stempel nie in unserem Betrieb, sondern unter Verwendung handelsüblicher und in vielen Kaufhäusern erhältlichen Typendruckereien hergestellt wurden.“ 30 Der Stempelmacher im Jahr 2000 gegenüber einer Journalistin: „Ich bitte Sie deshalb dringend ohne meine Zustimmung nicht weiterhin über mich zu recherchieren und evtl. Nachbarn oder andere Personen zu befragen. Durch diese Art Arbeit bin ich durch die damaligen ‚Herren der Macht’ in äußerst schlechten Ruf gebracht worden.“ 31 Leserbrief für Leserbrief erreicht die „Mitteldeutsche Zeitung“. Schicksal für Schicksal mit einer Fülle an Details. „Aber wie geht man mit dem Wissen um den Anderen um?“, fragt das Blatt. „Wie gehen wir als Zeitung damit um? Eine Frage, die täglich ansteht, auch für uns Redakteure. Manche Leser erwarten, dass wir ihre Redlichkeit nachweisen, andere, dass wir Unrecht benennen, erkennbar machen. Wer aber darf sich anmaßen zu urteilen, vorzuverurteilen?“ Die Redaktion der MZ trifft sich an einem langen Abend viele Stunden in einem kleinen Gartenlokal auf dem Fuchsberg und diskutiert mit dem Thema ein Stück eigener Geschichte. Es geht um die Namen auf der Liste, die das eigene Haus betreffen. Es geht um die Rolle der SED-Zeitung, vor allem aber um das journalistische Selbstverständnis zwei Jahre nach der friedlichen Revolution. Die Redaktion trifft schließlich die einzig richtige Entscheidung. Jeder Leserbrief zum Thema wird veröffentlicht, die Geschichte von zahlreichen Genannten wird erzählt. Und es gibt viele Leserbriefe, die bei der MZ eingehen. Zu denen, die einen 29 Zur Suche der Staatssicherheit nach den Verfassern anonymer Flugblätter oder Handzettel vgl. Grashoff, Udo: Erhöhter Vorkommnisanfall. Aktionen nach der Biermann-Ausbürgerung im Bezirk Halle. Eine Dokumentation herausgegeben vom Zeitgeschichte(n) e.V. Verein für erlebte Geschichte: Halle 2001. Vgl. auch: Stöcklein, Gerd: Der Operative Vorgang „Treffpunkt“ der Bezirksverwaltung Halle des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. „Hetzblätter“ und Hexenjagd von 1978 bis 1980: Publikation der LStU Sachsen-Anhalt: Magdeburg 2004. 30 Pfautsch, Helmut: Wegen Gutachten auf die Liste gesetzt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 05.08.1992, S. 24. 31 Schreiben an Maja Drechsler vom 04.07.2000 im Rahmen der Recherchen zu: Beichtstuhl „Bild“. Eine Anprangerung von Stasi-Mitarbeitern in Halle und ihre Folgen. Diplomarbeit im Fach Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 28 schicken, zählen Matthias Waschitschka und Thea Ilse. Beide sind Mitglieder des Personalrates Geisteswissenschaften der Universität. „Die in der Liste enthaltenen Registrierungen sind in allen von uns überprüfbaren Fällen korrekt. Dass die Mehrheit der IM zur Zusammenarbeit mit dem MfS nur auf Grund von Erpressung bereit war, hat sich in den Anhörungen der Personalkommission nicht bestätigt. Das primäre Ziel war die Anerkennung der Regeln der Konspiration und die Bereitschaft zur Mitarbeit“, schreiben sie und berichten von ihrer Arbeit an der Universität. Dabei habe sich herausgestellt, dass nicht jeder Deckname von den Betroffenen selbst gewählt worden, dass nicht jeder Deckname auch bekannt war. Für Hinweise auf möglicherweise belastete Universitätsangehörige haben die beiden nun mit ihrer Personalkommission weitergehende Auskünfte der Gauck-Behörde beantragt.32 Auch in den beiden anderen Personalkommissionen der Universität, der für Medizin und der für Naturwissenschaften, wächst der Stapel liegengebliebener Fälle immer weiter an. Den Fakten in den Listen steht eine personell hoffnungslos überforderte Gauck-Behörde gegenüber. Während die Personalkommissionen bis Ende 1992 bzw. Anfang 1993 das überwiegende Gros der Verfahren abarbeiten können, bleiben nun jene Fälle unbearbeitet offen, die Hinweise auf eine belastende Verstrickung zum MfS aufzeigten. „In diesen Fällen handelt es sich um Personen (s. Anlage), bei denen auf Grund der Selbstauskunft, im Ergebnis der Anhörung vor der PK, nach mündlicher Auskunft der Außenstelle Halle der Gauck-Behörde und gegebenenfalls eines Eintrags in der ‚Bild’-Liste eine Tätigkeit als IMS des MfS angezeigt und in den meisten Fällen von den Betroffenen in der Anhörung bestätigt worden ist“, teilt der Vorsitzende der Personalkommission Naturwissenschaften/Landwirtschaft dem Wissenschaftsminister in Magdeburg mit. Die Befürchtung, die Reinhold Wollgiehn als Chef dieser Personalkommission äußert, besteht in der existierenden Gefahr, dass als unbelastet geltende Mitarbeiter mangels Bedarf gekündigt werden, MfS-verstrickte Mitarbeiter jedoch – da sich die Überprüfung durch die Gauck-Behörde extrem langwierig gestaltete – weiterbeschäftigt werden könnten. Immerhin liegen zu diesem Zeitpunkt bei den drei halleschen Personalkommissionen 65 Verfahren mit Hinweisen auf eine Tätigkeit als IMS auf Halde, sind ausgesetzt, weil notwendige Angaben fehlen.33 32 Waschitschka, Matthias; Ilse, Thea: Pauschalverurteilungen nicht zulassen. In: Mitteldeutsche Zeitung, 05.08.1992, S. 24. 33 Schreiben des Vorsitzenden der Personalkommission Naturwissenschaften/Landwirtschaft an Wissenschaftsminister Rolf Frick vom 02.02.1993. MK LSA, Archiv Referat 16, Ordner Personalkommission Naturwissenschaften/Landwirtschaft, Nachlass. 29 All das bewirken 112 Seiten. Und noch viel mehr. Die Menschen reden, sie erzählen sich ihre Geschichten. Andere wehren sich gegen die Einteilung in IM und Nicht-IM. Ärzte und Ausländer, Rechtsanwälte und Verkäuferinnen – alle müssen Antwort stehen. Zugleich mahnen sie an, differenziert mit den Biografien umzugehen, die Chance zum Gespräch zu begreifen. Christoph Schulz in „Hallesches Tageblatt“: „IM haben Vertrauen von Mitmenschen vielfach missbraucht. Sie haben großes Leid verursacht. Das bleibt. Vielleicht hätte ich in der Wendezeit auch aus vollem Herzen der Veröffentlichung der Listen zugestimmt. Jetzt ist es jedoch wichtig, jeden Menschen, der als IM geführt ist, ganz genau zu betrachten: Wie ist er da hinein gekommen? Was hat ihn dazu bewogen? Fühlte er sich erpresst? Was wollte er dadurch erreichen?“ 34 Claus Dümde in „Neues Deutschland“: „’Outen’ nun etwa einstige MfSMitarbeiter, die jetzt ‚Mitarbeiter einer öffentlichen Dienststelle’ sind, ihre früheren ‚Leute’? (Und schwärzen andere an, die bestreiten, jemals IM gewesen zu sein.) Noch dazu gratis, per Post an ausgewählte Empfänger. Oder handeln hier ‚exzellente Kenner der Materie’ von heute auch in Ostelbien offiziell tätigen Geheimdiensten?“ 35 8 Eine Stadt sucht nach Erklärungen. Auch wenn die Namen nun bekannt sind, die Geschichten sind es nicht. Was da geschehen ist, kam so unvermittelt, dass Halle Zeit braucht, um mit sich ins Reine zu kommen. Aber Zeit gibt es nicht. Zu schnelllebig sind jene Tage. Hinter den Kulissen verhandelt die Redaktion der MZ schon seit Tagen mit der Stasi-Unterlagen-Behörde. Man sucht gemeinsam einen Termin, an dem der Bundesbeauftragte nach Halle kommen könnte. Natürlich gibt es Fragen. Fragen an ihn, Fragen an seine Behörde. Wie lange wird es dauern, bis die auf den Listen genannten Personen eine verlässliche Auskunft erhalten? Wie lange müssen jene auf ihre Akten warten, die vor 1989 durch das MfS überwacht wurden? 34 Schulz, Christoph: Listen-Offenlegung sehr fragwürdig. In: Hallesches Tageblatt, 05.08.1992. 35 Dümde, Claus: IM-Listen beim Neuen Forum und in „Bild“, IM-Akten auch bei der CDU und „das dumme Gerede einer Bonner Stallwache“: Wer setzt heute „Stasi-Methodik mit anderen Mitteln“ fort – und wozu? In: Neues Deutschland, 04.08.1992. 30 Der 5. August, als Joachim Gauck nach Halle kommt, ist ein Mittwoch. Der einstige Pfarrer aus Rostock hat einen engen Terminkalender. Er will die Außenstelle seiner Behörde besuchen, sich in einem Telefonforum den Fragen der MZ-Leser stellen, eine Pressekonferenz geben und abends in einer öffentlichen Veranstaltung sprechen. Auch er spricht von „gemischten Gefühlen“, mit denen er der Veröffentlichung gegenübersteht. Aber zugleich räumt er ein, dass die Liste wohl stimmen müsse. Alle Angaben zu 30 Fällen, die überprüft wurden, stimmen. 300 Anträge auf Akteneinsicht von mutmaßlichen IM sind bislang eingegangen. „Entschlossenheit und Differenzierung“ dürften sich bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht ausschließen. Und Gauck sagt auch, dass er eine Hexenjagd nicht erkennen könne, dass Mord und Totschlag nicht stattgefunden hätten. Telefonforum der MZ mit Joachim Gauck: „Kathrin R. (25), Angestellte: Mein Name stand auch auf der Stasi-Liste. Doch ich war nie IM, hatte nur familiär Kontakte. Was kann ich denn nun dagegen machen? Ich habe nie über andere Leute Daten gesammelt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, setzen Sie sich bitte mit unserer Außenstelle am Gimritzer Damm in Verbindung. Dort sind Mitarbeiter, die speziell dazu da sind, Anträge auf beschleunigte Akteneinsicht zu bearbeiten. Versuchen Sie bitte, sich genau zu erinnern, welcher Art Ihre Kontakte wirklich waren.“ 36 Aus Angst und Schock sind längst Gespräche geworden. Dieser August 1992 ist geprägt von den vielen Briefen, die das einstige SED-Blatt, längst zu einer unabhängigen Zeitung geworden, veröffentlicht. Es wird seinen vielen Lesern schließlich sagen: „Auch diese Zeitung hat ihre eigene Vergangenheit, mit der sie sich auseinandersetzt. Neben Artikeln eigener Autoren und Gastautoren versuchen wir, ein Stück Wahrheit ans Licht zu holen ... Es ist gut, dass sich viele unsere Leser aufgerufen fühlen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.37 Wenn zum Beispiel das örtliche Kabarett „Kiebitzensteiner“ wedelnd mit dem Boulevard-Blatt auf die Bühne kommt, können manche wissend lachen. Die Hallenser verstehen den Hinweis auf die „Bild“. Das reicht schon aus, um das hoch sensibilisierte Publikum zu unterhalten. Wer diesen Gag nicht versteht, der ist auch nicht aus Halle.38 36 Ehrlich sein und aufeinander zugehen. Telefonforum mit Joachim Gauck: In: Mitteldeutsche Zeitung, 07.08.1992, S. 4. 37 Jepsen-Föge, Dieter: In eigener Sache: Umgang mit der Vergangenheit. In: Mitteldeutsche Zeitung, 08.08.1992. 38 Hinze, Albrecht: Täglich in der Zeitung: Die Stasi-Zuträger aus Halle. In: Süddeutsche Zeitung, 08./09.08.1992, S. 12. 31 Aus dem „Spartakist“: „Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Stasi-Listen war bewusst gewählt. Schon der Stahlstreik im Ruhrgebiet Anfang des Jahres hat die Solidarität der ostdeutschen Kollegen wachgerufen. Doch es war der machtvolle ÖTV-Streik im Mai, der die gemeinsame Solidarität der Arbeiter hervorrief, allen voran die Straßenbahner im Osten Berlins, die einer besonders scharfen Stasi-Hexenjagd ausgesetzt sind ... Was die PDS betrifft, tritt sie als bewährter Helfershelfer der Hexenjagd auf. Sie fordert ‚verfassungsmäßige’ individuelle Prüfung (!) des anonymen Drecks. Sie will eine ‚gerechte’ Hexenjagd, wie bei der von der PDS selbst angeordneten Überprüfung ihres Bundestagsabgeordneten, die zum Selbstmord Gerhard Rieges führte.“ 39 Die Gespräche, einmal in Gang gekommen, gehen weiter. Wieder ist es die MZ, die ein öffentliches Podium bietet. Am Konferenztisch der Redaktion haben ganz verschiedene Hallenser Platz genommen. Günter Thieme ist dabei, der Direktor des ehemaligen Zentralinstituts für Schweißtechnik. Einer von denen, der über sich sagt, nicht geglaubt zu haben, dass er mit auf der Liste stehen könnte. Der Journalist Karl Wilhelm Fricke ist gekommen, ein exzellenter Kenner der MfSStrukturen, 1955 selbst vom MfS aus dem Westen in die DDR entführt und vier Jahre lang inhaftiert. Christiane Berg sitzt als Chefin der Gauck-Behörde in Halle ebenso mit am Tisch wie der Bürgerrechtler Matthias Waschitschka und Werner Gäbler, der als Direktor der Musikschule Merseburg vom MfS als IM geführt wurde. Es ist ein langes, ein offenes und ehrliches Gespräch, das da stattfindet. Ein schonungsloses gegenüber eigenen Biografien. Nur zwei Stühle bleiben an jenem Tag leer. Jener, der reserviert ist für den 1. Sekretär einer SED-Kreisleitung, und jener für einen hauptamtlichen Offizier des MfS. Bürgerrechtler Matthias Waschitschka in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Ich habe vier hochrangige Mitarbeiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit persönlich kennenlernen dürfen. Wir haben in der Zeit des Bürgerkomitees jeden Tag zusammengesessen. Wir haben gefrühstückt, haben gelacht, haben Witze gemacht. Es war eigenartig, ich wusste, das sind die Leute, aber es ist nie zu einer Tiefe des Gespräches gekommen. Ich tue mich mit dem Thema ganz schwer, mit der Erklärung, warum passiert da nichts. Sie sind nie über ihr Weltbild hinausgekommen. Vielleicht ist etwas möglich, 39 Halle. Verteidigt die 4.500 gegen die Anti-Stasi-Hetze! Schluss mit der SPD-geführten antikommunistischen Hexenjagd! In: Spartakist, Organ der Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands. Der PDS-Bundestagsabgeordnete Gerhard Riege aus Jena hatte sich im Februar 1992, nachdem zuvor öffentlich Vorwürfe einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS gegen ihn erhoben worden waren das Leben genommen. Vgl. auch: „Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben“. Der PDS-Abgeordnete Gerhard Riege erhängte sich nach der Auseinandersetzung um seine Stasi-Vergangenheit. In: die tageszeitung, 17.02.1992, S. 4. 32 wenn der einzelne Inoffizielle Mitarbeiter versucht, mit seinem direkten Bearbeiter, seinem Führungsoffizier Kontakt aufzunehmen.“ 40 9 Während die einen längst dabei sind, sich ihre Geschichten zu erzählen, sind die anderen bereits zum Kreisgericht Halle gegangen. Es ist inzwischen Mitte August, und aus der politischen Diskussion ist eine juristische geworden. 18 Einstweilige Verfügungen gegen die Nennung auf der Liste sind erwirkt. 18mal ist an Eides statt versichert worden, niemals für das MfS gearbeitet zu haben. Ein Journalist aus Leipzig ist darunter, eine medizinisch-technische Assistentin aus Dessau und ein Arzt aus Halle. Die Besitzerin eines Cafés, ein jahrelang in der DDR lebender Ägypter, ein Rechtsanwalt, ein Zeuge Jehovas, ein Lehrer. Auch ein Biochemiker gehört zu jenen, die vor Gericht gezogen sind: Harald Voß, bis Ende 1989 am Biotechnikum der Martin-Luther-Universität beschäftigt, ist 1984 ins Blickfeld des MfS geraten, das nach Verabschiedung der politischen Grundsatzbeschlüsse von SED-Politbüro und DDR-Ministerrat zum Bau des Biotechnikums gezielt mit der Suche nach möglichen IM aus dem Kaderreservoir beginnt.41 „Dr. Dreßler“, so der Deckname, kommt intensiv bei der Beschaffung von Informationen über Kollegen und Mitarbeiter, aber auch bei Reisen ins westliche Ausland zum Einsatz. Der Mann, der ab 1986 schließlich als Reisekader-IM „Dr. Klaus Dreßler“ inoffiziell für das MfS arbeitet, ist noch kurz vor dem Untergang der DDR bei der Ausreise aus der DDR an der Grenzübergangsstelle Oebisfelde festgenommen worden, weil er nicht angegebene wissenschaftliche Publikationen, Qualifikationsunterlagen, antiquarische Bücher und eine Briefmarkensammlung bei sich führt.42 Bei den folgenden Ermittlungen des MfS stellt sich heraus, dass an der Kernforschungsanlage Jülich, zu der Voß regelmäßig reist, bereits seit 1986 etliche Personalunterlagen – darunter ein Lebenslauf – über ihn vorhanden sind, was ebenfalls gegen die DDR-Bestimmungen verstößt.43 40 Stasi-Listen / Gesprächsforum: „Viele der IM’s haben einfach alles verdrängt“. In: Mitteldeutsche Zeitung, 12.08.1992. 41 Anforderungsbild für einen IMS zur operativen Absicherung des Sicherungsbereiches Biotechnikum der MLU Halle vom 25.07.1984. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 1, Bl. 28 f. 42 Protokoll des Grenzzollamtes Oebisfelde vom 20.09.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 7 f. 43 Aktenvermerk zu Prof. ... vom 27.09.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl.56. Wertung/Stellungnahme zur Verletzung der Konspiration/Geheimhaltung durch die Abteilung vom 27.09.1989. BStU, 33 Mitteldeutsche Zeitung, 12.8.1992 34 Das Problem an dem Vorgang besteht für die Verantwortlichen im SED- und im MfS-Apparat vor allem in der Person – denn der Mann befindet sich in einer herausgehobenen Stellung. Der Wissenschaftler ist nicht nur im Rahmen des 1986 geschlossenen Kulturabkommens zwischen der DDR und der Bundesrepublik als Teilkoordinator eines Projekts tätig. Er ist zugleich der Schwiegersohn eines Generalmajors, dem Leiter des Wehrbezirkskommandos Halle – insoweit eine Spitzenquelle des MfS. Der Geheimdienst vermutet, dass sich der Wissenschaftler auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung im Sommer 1989 selbst in die Bundesrepublik absetzen will, in der er über eine Reihe von wissenschaftlichen Kontakten verfügt. Zugleich stoßen die Ermittler auf sein Notizbuch, in dem sich unter Angaben des Decknamens „Dreßler“ Verweise auf Berichte an das MfS finden. Die Ermittler der Staatssicherheit werfen dem Wissenschaftler nunmehr vor, dass die Angaben geeignet seien, „den Reisekader-IM im Operationsgebiet zu gefährden.“ 44 Erwartungsgemäß bricht innerhalb der MfS-Bezirksverwaltung eine erhebliche Hektik aus, da eine Verurteilung von „Dreßler“ wegen des Verdachts der Republikflucht aufgrund seiner Kontakte zur Ständigen Vertretung der Bundesrepublik einen erheblichen politischen Wirbel verursachen würde. Das MfS befürchtet, dass „ein hoher politischer und wirtschaftlicher Schaden für die DDR“ eintreten könnte.45 Durch die Untersuchungsabteilung IX des MfS vernommen, weist Voß jeden Verdacht einer versuchten Flucht aus der DDR von sich. Das MfS selbst kann ihm das Vorhaben nicht nachweisen. So wird vorgeschlagen, „1. an der MLU eine Überprüfung vorzunehmen, ob nachweispflichtige, wissenschaftliche Unterlagen, zu denen ... Zugang hatte, fehlen; 2. die bei der Abteilung IX befindlichen wissenschaftlichen Unterlagen durch einen Fachmann auf deren Wert sowie evtl. Ausfuhrgenehmigungspflichtigkeit einschätzen zu lassen.“ Die Bücher werden mit einem Wert von 15.000 Mark und 8.000 Mark angegeben, die Briefmarken mit einem Wert von 20.000 Mark.46 Da sich inzwischen auch die bundesdeutsche Seite über das Nichterscheinen des Wissenschaftlers beschwert und dies als „Torpedierung“ der deutschdeutschen Zusammenarbeit bewertet,47 entscheidet am 10. Oktober 1989 der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Halle persönlich, dass der Beschuldigte „zur 44 BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 53 f. 45 Auskunftsbericht zur Person vom 20.09.1989 durch die Abteilung XX. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 2 ff. 46 Vgl. Aktennotiz vom 22.12.1989 über ein Gespräch zwischen dem Zollfahndungsdienst Leipzig, dem Direktor des Biotechnikums und dem 1. Prorektor der MLU. UA Halle, Rep. 7/1424. 47 Fernschreiben vom 06.10.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 66. 35 Begrenzung des politischen und ökonomischen Schadens“ NSW-Reisekader bleiben solle, aber vor jeder erneuten Westreise durch das MfS speziell zu überprüfen und dass für das Zollvergehen eine Geldstrafe zu verhängen sei. 48 Welchen Einfluss das MfS auf die Justiz nehmen konnte, wird in einer Entscheidung von Anfang November 1989 deutlich. Der Referatsleiter XX/8, Karlheinz Paprotny, schlägt nach Absprache mit der Zollverwaltung vor, gegen Harald Voß ein Ermittlungsverfahren mit anschließendem Strafbefehl einzuleiten, die als Kulturgut deklarierten Bücher und Briefmarken einzuziehen und ihn zusätzlich mit einer Geldstrafe in Höhe von 15.000 bis 30.000 Mark zu belegen. Außerdem soll die Universität als Arbeitsstelle verständigt werden.49 Ob es dazu letztlich kommt, ist unklar. Aus der überlieferten und am 1. Dezember 1989 geschlossenen IM-Akte ergibt sich, dass der Mann samt Familie nach der Maueröffnung in die Bundesrepublik ausreiste.50 Knapp drei Jahr später, als sich sein Name in der Stasi-Liste findet, erwirkt der Biochemiker eine Einstweilige Verfügung gegen das Neue Forum vor dem Kreisgericht Halle. Aus dem Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung: „Mit der Veröffentlichung würde eine freiwillige und aktive Zusammenarbeit mit dem MfS unterstellt. Das war nicht der Fall! Ich habe ganz im Gegenteil jede Informationsabgabe zum Nachteil Dritter verweigert und schwere Auseinandersetzungen mit der Stasi gehabt ... Auch die Vorbereitung unserer Flucht über die Csr (sic!) 1988 war der Stasi wohl nicht entgangen: Am 20.09.89 wurde ich von der Stasi verhaftet und 36 Stunden verhört. Meine Frau wurde am 21.9.89 ebenfalls in U-Haft genommen. Mir wurde Republikflucht, nachrichtendienstliche Tätigkeit für die BRD, Spionage, Devisen- und Zollvergehen vorgeworfen. Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und mir eine Strafe von 7 bis 12 Jahren angedroht. Wir wurden rund um die Uhr überwacht und durften die Stadt nach der Freilassung aus der U-Haft nicht verlassen. Ich erhielt Arbeitsverbot und musste wöchentlich in die U-Haft zum Verhör. Meine Freilassung aus der U-Haft hatten westdeutsche Kollegen über die RA Näumann, Vogel und Starkulla erwirkt.“ 51 48 Aktenvermerk zur persönlichen Berichterstattung über das Treffergebnis zum IMS „Dr. Klaus Dreßler“ gegenüber Gen. Generalmajor Schmidt vom 10.10.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 65. 49 Aktenvermerk vom 04.11.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 81. 50 Abschlussbericht zu IM-Vorgang vom 01.12.1989. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 4, Bl. 91 f. 51 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim Kreisgericht Halle vom 23.07.1992. 36 Aus der handschriftlichen Verpflichtungserklärung von Voß vom 26.03.1986: „Ich, Dr. Voß, Harald, verpflichte mich freiwillig und auf der Basis meiner politischen Überzeugung, das Ministerium für Staatssicherheit in seiner verantwortungsvollen Aufgabe aktiv zu unterstützen. Die Unterstützung werde ich in Form einer inoffiziellen Zusammenarbeit realisieren ... Dr. Klaus Dreßler Dr. Harald Voß“ 52 In dem Rechtsstreit 3 O 261/91 erlässt das Kreisgericht Halle im Eilverfahren eine Einstweilige Verfügung gegen das Neue Forum und die Bild-Zeitung Halle. Es beschließt zugleich, dass der Antragsteller bis zum 18. August 1992 eine ordentliche Klage in der Hauptsache erheben muss, andernfalls wird der Beschluss wieder aufgehoben. Mit Schreiben vom 05. Juli 1993 zieht Harald Voß beim Landgericht Halle seinen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung wieder zurück. 10 Nicht alle Verfahren enden so. 18 Klagen sind inzwischen bei Gericht anhängig. Das finanzielle Risiko ist für das Neue Forum so hoch, dass der hallesche Ortsverband am 17. August 1992 beschließt, die Listen nicht länger öffentlich auszulegen. Unter Androhung von Ordnungsgeldern von bis zu 200.000 Mark ist es den Bürgerrechtlern untersagt worden, die inkriminierten Namen weiter im Zusammenhang mit einer MfS-Tätigkeit zu nennen.53 Das Neue Forum richtet ein Spendenkonto ein und fordert die Kontrahenten öffentlich auf, Klage zu erheben, um die Vorwürfe vor Gericht zu klären. Heidi Bohley in „Hallesches Tageblatt“: „Wir sind im Sinne der Wahrheit für den ordnungsgemäßen Gerichtsweg. Unser Rechtsanwalt wird darum in allen 18 Fällen verlangen, dass die Betroffenen Klage beim Kreisgericht Halle erheben. Dort wird dann in einem Prozess die Frage zu klären sein, ob die Betroffenen sich zu Recht auf den Listen befanden und schließlich, ob das Neue Forum das Recht hatte, diese Listen offenzulegen. In den Prozessen werden die Betroffenen die Möglichkeit erhalten, über ihre etwaigen Verbindungen zum MfS zu berichten. Die Gauck-Behröde wird als Sachverständiger eingeschaltet. Das Neue Forum ist bereit, die Prozesse bis in die letzte Instanz zu führen.“ 54 52 Verpflichtungserklärung vom 26.03.1986. BStU, ASt Hle, VIII 2203/85, Teil I, Band 1, Bl. 17 53 ADN: Hallenser Stasi-Listen werden geschlossen. In: Berliner Zeitung, 19.08.1992. 54 Rosendahl, Ingolf: Neues Forum legt „IM-Listen“ nicht länger aus. Rollt Prozesswelle? / Tageblatt sprach mit H. Bohley. In: Hallesches Tageblatt, 19.08.1992. 37 Zehn Personen ziehen daraufhin ihre Anträge auf Einstweilige Verfügungen zur Schwärzung ihres Namens auf der Liste – zu denen es wie üblich im Eilverfahren keine Anhörung durch das Gericht gegeben hat – zurück. Eine Person verstirbt. Parallel zu der juristischen Auseinandersetzung mit dem Neuen Forum hat die Stadtverwaltung mit den auf der Liste genannten und bei ihr beschäftigten Personen Gespräche geführt – von der Reinigungskraft bis zum städtischen Theaterintendanten. 88 IM-Registrierungen im Zuständigkeitsbereich des Magistrats finden sich in der Aufzählung. In den bis Ende August insgesamt 77 geführten Gesprächen haben 56 Mitarbeiter eingeräumt, für das MfS gearbeitet zu haben. Ihnen sind einvernehmliche Auflösungsverträge angeboten worden. 46 machen davon Gebrauch, zehn wird fristlos gekündigt. „Die öffentliche Verwaltung muss ein Partner der Bürger sein“, begründet Oberbürgermeister Klaus Rauen das Vorgehen der Stadt. „Dazu gehört, dass wir uns von solchen Menschen trennen, denen dieses Vertrauen aufgrund ihrer Vorgeschichte nicht entgegengebracht werden kann.“ 55 11 Mitte August. Es ist längst wieder ruhig in der Stadt. Die Suche nach den Urhebern der Liste ist im Sande verlaufen, ein Bekennerschreiben ist nicht eingegangen. Rund 30 Strafanzeigen wegen des Verdachts der „üblen Nachrede“ sind bei der Staatsanwaltschaft eingegangen. Mehr ist nicht passiert. Acht Wochen nach Auftauchen der anonymen Liste haben die Menschen in Halle mit den Fakten leben gelernt. Kein Chaos, keine Gewalt, keine Toten. „Die Angst war unbegründet“, bilanziert „Der Tagesspiegel“ aus Berlin Anfang September 1992. „Die Menschen drängten sich zwar, um Einsicht zu nehmen, aber die Reaktionen blieben eher unterkühlt.“ 56 Mitte September wird durch „Bild Halle“ eine Liste mit den Namen der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter bekannt. „Entlarvt“, titelt das Blatt. „Alle 3.000 StasiMitarbeiter vom Gimritzer Damm.“ 57 Auch hier ist nach einer ersten Durchsicht schnell klar: Die Daten sind echt. Grundlage für die Auflistung der hauptamtlchen Mitarbeiter bildet das MfS-interne Finanzprojekt Fipro. 55 Görtz, Armin: IM sanft vor die Tür gesetzt. In: Hallesches Tageblatt, 01.09.1992. 56 Reckmann, Jörg: Schwierige Suche nach den unschuldigen und den richtigen Tätern. In Halle sorgte eine Liste mit den Namen von fast 5.000 Stasi-Spitzeln nur kurz für Unruhe. In: Tagesspiegel, 06.09.1992. 57 Bild Halle, 14.09.1992. 38 Einer der ganz wenigen Hauptamtlichen, die in jenen Tagen reden, ist Peter Romanowski, der letzte Chef der halleschen MfS-Bezirksverwaltung bzw. des Bezirksamtes. Er hat eine Vorzeigekarriere im MfS hingelegt: Der Hallenser absolviert zwischen 1963 und 1967 ein Studium der Chemie und Polytechnik an der Martin-Luther-Universität und schließt es aufgrund seiner ausgezeichneten Leistungen drei Monate früher als ursprünglich vorgesehen ab. Unmittelbar danach wird er als hauptamtlicher FDJ-Sekretär am Bereich Medizin eingesetzt. Von dort aus wechselt er als Sekretär für Agitation und Propaganda in die FDJKreisleitung der Universität und führt zwischen 1969 und 1972 unter dem Decknamen „Ajax“ selbst als Führungs-IM ein Netz an GeheimdienstInformanten. Nachdem das MfS schnell auf ihn aufmerksam geworden ist, will es ihn einstellen. Romanowski soll eigentlich schon 1968 hauptamtlich in den Dienst übernommen werden. Die SED-Bezirksleitung lehnt dies jedoch mit der Begründung ab, „dass das Sekretariat der Auffassung sei, dass kein Kader der FDJ z.Zt. freigestellt werden kann.“ 58 Auch der Apparat hat Personalmangel. Auch 1970 ist eine Übernahme zunächst unmöglich, weil Romanowski zu diesem Zeitpunkt als Sekretär der FDJ-Kreisleitung auch noch Kandidat des FDJZentralrats ist. „Durch sein Ausscheiden als Kandidat des Zentralrates der FDJ auf dem IX. Parlament und des Ablaufes der Wahlperiode als Sekretär der FDJKreisleitung der MLU Halle besteht die Möglichkeit der Einstellung in das MfS“, bilanziert 1972 der Abteilungsleiter XX der BVfS Halle, Joachim Gröger. Romanowski wird nicht nur sofort als Leutnant eingestellt. „Desweiteren schlagen wir vor, seine inoffizielle Zusammenarbeit von September 1969 bis einschließlich zu seiner Einstellung anzurechnen.“ 59 Auch beim MfS wird nach Dienstjahren gezahlt. Von nun an macht Peter Romanowski kontinuierlich Karriere, die ihn 1990 bis an die Spitze des Bezirksamtes führt. In dieser Funktion sitzt er 1990 nach eigenem Bekunden „an allen Runden Tischen, die es damals hier gab“.60 Peter Romanowski in „Mitteldeutsche Zeitung“: „Alle undifferenziert zu verdammen ist genauso blödsinnig, wie alle pauschal reinwaschen zu wollen. Natürlich gab es Leute darunter, die waren sogar ihren Führungsoffizieren widerlich. Wirklich miese Kerle, die sich eingeschleimt haben. Aber andere 58 Aktenvermerk vom 11.12.1968. BStU, ASt Hle, PA-Nr. 748, Bl. 218. 59 Vorschlag zur Einstellung vom 19.01.1972. BStU, ASt Hle, PA-Nr. 748, Bl. 54 ff. 60 Bergmann, Ralf. G.: Die Ohnmacht des Allmächtigen. In: Dust, Stadtmagazin Halle, Heft 12/1994, S. 12 f. 39 wieder haben mitgemacht, weil sie dachten, wenn an diesem Staat noch jemand was ändern kann, dann der Staat im Staate, also die Staatssicherheit. Nur das war nicht möglich. Auch die Staatssicherheit hatte ihre Grenzen.“ 61 Zu Diskussionen in der Öffentlichkeit kommt es noch einmal am Jahresende, als einer der auf der Liste Genannten, inzwischen Inhaber einer Weinhandlung und vor 1989 intensiver Informant der Staatssicherheit, den IM-Jahrgangssekt kreiert und dafür eigene Etiketten drucken lässt. Das finden viele dann doch geschmacklos und empörend. Aus einem Interview des Weinhändlers für eine Diplomarbeit: „Auf der Sektflasche - das waren ja zwei - da stand drauf der Spruch: Die Wölfe sind benannt, so schallt es im Halleschen Land. Also das war die Euphorie mit Rotkäppchen. So war es ja. In dem Zusammenhang, als ich das gemacht habe, Weihnachten `92, das war Anfang Dezember, das „Hallesche Tageblatt“, die hatten sehr ausführlich darüber berichtet, eine ganze Seite mit einer reißerischen Überschrift, „Rotkäppchen-Sekt mit Stasi-Etiketten“. Und das ist dann im „Naumburger Tageblatt“ noch mal erschienen und Rotkäppchen, die wussten gar nichts davon. Die haben sofort eine Krisensitzung gehabt, weil ich habe nur gesagt: „Ich mache einen Jahressekt mit Etiketten selbstklebend“. Weil das war denen zu kompliziert ... Zunächst haben sie das als große Krise gesehen, dass ‚Rotkäppchen’ mit der Stasi in Verbindung gebracht wird ... Da gab es dann allerdings beim ‚Halleschen Tagblatt’ doch einige böse Anrufe, wie man eben so was, überhaupt das Ereignis noch feiern kann ... Der halbtrockene Sekt war halt rot, rotes Etikett, da war ein leichtbekleidetes Rotkäppchen da, das so aus ihrem Mantel lauter IM-Nummern zauberte. Und auf dem Trocknen war ein grünes Etikett mit dem Wolf und einer Mütze wie die Großmutter. Der Wolf als Großmutter verkleidet und da stand als Text „Die Wölfe sind benannt, so schallt es im Halleschen Land.“ Da war eine alte Frau, die in den Laden gekommen ist, was heißt alt, eine Ältere über 50, die hat gesagt: ‚Das ist eine Schweinerei, ein halbnacktes Rotkäppchen!’ Das war das Einzigste.“ 62 61 Könau, Steffen: „Die IM waren nur die letzten Glieder einer langen Kette“. Peter Romanowski, Ex-Oberstleutnant und Abteilungsleiter des MfS, will sich der Diskussion um die Vergangenheit stellen. In: Mitteldeutsche Zeitung, 04.09.1992, S. 3. 62 Beichtstuhl „Bild“. Eine Anprangerung von Stasi-Mitarbeitern in Halle und ihre Folgen: A.a.O.: S. 213. 40 12 Der 3. November 1992 ist ein Dienstag, auf den viele mit Spannung gewartet haben. Die Argumente sind lange und oft getauscht worden, nun soll in einem Saal des Landgerichts Halle der Frage nachgegangen werden, ob eine der Personen auf der Liste zu Recht oder zu Unrecht als IM bezeichnet worden ist. Es ist der Verhandlungstermin zu einer Wochen vorher ergangenen Einstweiligen Verfügung. Der Prozesstermin geht überraschend schnell zu Ende. Wolfgang Kaleck, der vom Neuen Forum beauftragte Anwalt aus Berlin, ist ebenso wenig erschienen wie der Kläger und sein Anwalt. In letzter Minute, nicht einmal die Vertreter des Neuen Forum hatten rechtzeitig davon erfahren, hat der Kläger seinen Antrag zurückgezogen. Der Vorsitzende Richter ordnet nun das Ruhen des Verfahrens an, bis eine der beiden Seiten die Wiederaufnahme anstrengt.63 Der Tag wird zu einer Enttäuschung für alle, die gehofft hatten, dass es zu einer Entscheidung kommt. Aus einer Pressemitteilung von Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck: „Das Neue Forum hatte im Juli der Bevölkerung in Halle die Möglichkeit gegeben, in die von Unbekannten erstellten Listen der bei der Bezirksverwaltung Halle des MfS registrierten Listen einzusehen. Dies geschah nicht, um eine Hexenjagd zu eröffnen, die ja wie die Ereignisse zeigten auch nicht statt fand, sondern um eine Auseinandersetzung zu dem Thema zu beginnen und die halböffentliche missbräuchliche Verwendung der Listen, die schon in Halle kursierten, zu verhindern.“ Aber nicht jeder Fall endet so wie dieser oder der einer Frau aus Dessau, die eine Woche später ihre Klage gegen das Neue Forum kommentarlos zurückzieht.64 Im Wissen um die juristischen Tücken haben sich die Forum-Leute inzwischen offizielle Auskünfte aus der Stasi-Unterlagen-Behörde besorgt. Sie sind sicher, dass die Unterlagen – Aussagen der Führungsoffiziere, Vernichtungsprotokolle und Quittungen über geleistete Zahlungen des MfS an die Kläger – spätestens vor dem Oberlandesgericht inhaltlich gewürdigt werden und den Meineid der Kläger belegen. Der Bürgerrechtler Matthias Waschitschka glaubt gar, dass in Einzelfällen Führungsoffiziere vorgeladen werden, um die Abläufe von einst zu rekonstruieren.65 63 Reichert, Steffen: Neues Forum / Stasi-Listen: Prozess geplatzt. In: Mitteldeutsche Zeitung, 04.11.1992. 64 Stasi-Listen: Klage wurde zurückgezogen. In: Hallesches Tageblatt, 10.11.1992. 65 Görtz, Armin: Oberlandesgericht soll klären: War Frau H. aus Halle bei der Stasi? In: Hallesches Tageblatt, 25.11.1992. 41 Die nächste Runde wird im Frühjahr des folgenden Jahres eingeleitet. Frank Eigenfeld vom Neuen Forum hat von der Gauck-Behörde 13 als „streng vertraulich“ deklarierte Auskünfte zur möglichen IM-Tätigkeit der Kläger erhalten. Die sollen nun – inzwischen ist es Mai 1993 – in einem vor dem Landgericht Halle laufenden Verfahren eingeführt werden. Immerhin hatten die Anwälte der Kläger bislang erklärt, die Beweislast für die Vorwürfe liege beim Neuen Forum. Da diese den Nachweis aber nicht antreten könnten, müsse die Partei verlieren. Frank Eigenfeld, Sprecher des Neuen Forum, hat bei der Gauck-Behörde damit argumentiert, dass er die Auskünfte zum Schutz seiner Persönlichkeitsrechte benötige, da er sonst vor Gericht verliere.66 Angesichts der neuesten Entwicklung vertagt sich auch die zuständige 5. Zivilkammer des Landgerichts und verkündet nicht, wie ursprünglich geplant, eine Entscheidung. Sie bewertet den Inhalt als „so erheblich“, dass sie zuvor noch eine mündliche Verhandlung Anfang Mai anordnet. Angesichts der aktuellen Entwicklung zieht ein weiterer Kläger, ein Oberingenieur aus Halle, zwei Tage später seine Klage zurück.67 Das Neue Forum freut sich über die Nachricht wie nach einem Sieg. Und es ist ja ein Sieg. Ein kleiner zumindest. Am 30. März 1993 entscheidet die 4. Zivilkammer des Landgerichts in einem parallel laufenden Verfahren anders. Die Kammer entscheidet zugunsten der Kläger, das Neue Forum verliert. Die vorliegenden Auskünfte der Gauck-Behörde werden inhaltlich nicht berücksichtigt. „Damit wird im Nachhinein StasiTätigkeit sanktioniert“, kommentiert Bürgerrechtler Frank Eigenfeld. Und nicht nur das: Er kündigt an, in jedem Falle prüfen zu wollen, ob man Strafanzeige wegen falscher Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung erstatte. Immerhin liegen nunmehr belastende Auskünfte der Gauck-Behörde vor.68 Frank Eigenfeld in „Hallesches Tageblatt“: „Juristische Verfahren halten wir für nicht ausreichend, das Thema Stasi-Vergangenheit zu klären. Wenn aber jemand leugnet und uns verklagt, sind wir gezwungen, den gerichtlichen Weg – auch bis zur letzten Instanz – zu gehen. Wenn jemand behauptet, ich würde lügen, muss ich dagegen Stellung nehmen. Und aus den Zivilprozessen ergab sich, dass das Neue Forum beweisen muss, dass die Personen IM waren. Ich sah mich in meinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Denn bliebe es bei dem ersten Gerichtsbeschluss, der 66 Reichert, Steffen: Stasi-Listen / Prozesse: Neues Forum Halle geht in die Offensive. In: Mitteldeutsche Zeitung, 2503,1993. 67 Lehmann, Hagen: Prozess um Stasi-Listen: Beweise zwangen Ex-Spitzel in die Knie. In: Bild Halle, 29.03.1992. 68 Montag, Andreas; Reichert, Steffen: Stasi-Listen / Prozesse: In zwei Fällen für Kläger entscheiden. In: Mitteldeutsche Zeitung, 31.03.1993. 42 uns untersagte die Namen zu nennen (weil die Betroffenen dadurch in der Öffentlichkeit diskreditiert würden, d.A.), bedeutete das in der Konsequenz, dass zukünftig niemand mehr behaupten dürfe, jemand sei für die Stasi tätig gewesen - auch wenn es erwiesen ist.“ 69 Mitte Juni 1993 sieht die Bilanz aus Sicht des Neuen Forum ziemlich ernüchternd aus. Zehn der inzwischen 19 bei Gericht anhängigen Verfahren sind durch die Kläger zurückgezogen worden. Vier sind noch offen. In fünf Fällen ist gegen die Bürgerrechtler entschieden worden. Ausschlaggebend für den Sieg der Kläger sind in erster Linie formale Gründe, das Gericht bewertet lediglich den Informationsanspruch der Öffentlichkeit, nicht aber die Gutachten der GauckBehörde. Und das, obwohl zum Teil handschriftliche Verpflichtungserklärungen und Auflistungen genutzter konspirativer Wohnungen vorliegen. Die Bürgerrechtler kündigen an, dass man in mehreren Fällen Strafanzeigen wegen Meineids erstatten wolle.70 13 Gabriele H. ist Unternehmerin. Seit 1975 betreibt sie mit ihrem Mann als Pächter eine kleine Gaststätte. Hier, wo der Kunde noch König ist, brummt das Geschäft. Kaffee und Kuchen, Torte und Tee werden gewünscht. Eine intime Atmosphäre lädt zum offenen Plausch oder aber zum diskreten Gespräch ein. Gabriele H. ist eine von gut 4.500 Personen, die sich im Juli 1992 auf der Liste, registriert als IM der MfS-Bezirksverwaltung Halle, gefunden hat. Anonyme Anrufer, sagt sie später, hätten sie informiert. Gabriele H. geht zu einem Anwalt. Die Einstweilige Verfügung, die ihr Anwalt Hans-Jürgen Müggenborg beantragt, fordert von den Bürgerrechtlern die Schwärzung des Namens bei angedrohten 500.000 DM Ordnungsgeld und die Übernahme der Verfahrenskosten. Die Unternehmerin argumentiert, dass die MfS-Offiziere der nahegelegenen Kreisdienststelle des öfteren bei ihr Tische vorbestellt hätten. Einen direkten Kontakt? Niemals. „Es gab seitens des MfS keine direkten Anwerbungsversuche. Direkte Kontakte zum Staatssicherheitsdienst hatte ich nicht“, schreibt sie in ihrer Eidesstattlichen Versicherung. Nur die Vorbestellungen seien ein möglicher Grund dafür, dass das Café nun auf der IM-Liste als Konspirative Wohnung des MfS aufgeführt worden sei. 69 Kuhn, Christoph: Stasi-Listen ohne Ende? Gespräch mit Dr. Frank Eigenfeld, Neues Forum. In: Hallesches Tageblatt, 30.04.1993. 70 Neues Forum legte Berufung ein. In: Hallesches Tageblatt, 10.06.1993. 43 Noch am selben Tag, am 21. Juli 1992, erlässt das Kreisgericht Halle eine Einstweilige Verfügung, wonach alle Angaben im Zusammenhang mit der Gaststättenbesitzerin zu schwärzen sind, andernfalls 500.000 DM Ordnungsgeld oder sechs Monate Haft drohen. Der Streitwert des Zivilverfahrens wird auf 50.000 DM festgelegt.71 Nachdem das Kreisgericht Ende August 1992 von der Gaststättenbesitzerin fordert, binnen drei Wochen in der Hauptsache Klage zu erheben,72 wird diese eingereicht. Am 8. September 1992 geht beim inzwischen gegründeten Landgericht eine Klage ein. In ihr werden die selben Forderungen wie im Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Verfügung erhoben. Aus der Klageschrift: „Die Verbreitung der falschen Behauptung, die Klägerin sei IM gewesen, stellt eine üble Nachrede im Sinne von § 186 StGB dar. Der Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Liste mit ‚IM-Registrierungen’ überschrieben war, dass also lediglich behauptet worden sei, die Klägerin sei als IM registriert gewesen, nicht aber, dass sie tatsächlicher IM gewesen ist. In diesem Sinne wurde die besagte Liste von niemandem aufgefasst. Der Vorspann der Liste wurde von dem weit überwiegenden Teil der Leser überhaupt nicht zur Kenntnis genommen ... Auch der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, hat die Liste in diesem Sinne verstanden. Ansonsten hätte er wohl kaum die Aussage treffen können, dass ‚keiner der 30 bisher Überprüften zu Unrecht auf der Liste steht’.“ Das Verfahren läuft beim Landgericht Halle. Als Termin zur Verkündung einer Entscheidung ist der 26. März 1993 anberaumt worden. Wenige Tage vorher wendet sich der Prozessbeauftragte für das Neue Forum, der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck, mit scharfen Worten an das Gericht und übersendet unter „Protest gegen die Beweislast zum Beweis der Tatsache, dass die Klägerin entgegen ihrem bisherigen Vortrag als IM für das MfS tätig war, einen Einzelbericht, den die Gauck-Behörde, Außenstelle Halle am 22. März 1993 einem Empfangsbevollmächtigten des Neuen Forums Halle, Dr. Eigenfeld, auf dessen Antrag streng vertraulich ausgehändigt hat.“ Eine Rücksprache mit der Leiterin der Außenstelle habe ergeben, dass der Bericht bei Gericht ins Verfahren eingeführt werden darf.73 71 Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 21.07.1992. 72 Beschluss des Kreisgerichts Halle vom 27.08.1992. 73 Schreiben Anwalt Wolfgang Kaleck an das Landgericht Halle vom 23.03.1993. 44 Drei Tage später gibt die 4. Zivilkammer des Landgerichts der Klage statt und verurteilt das Neue Forum zur Unterlassung der Namensnennung und zur Übernahme der Kosten. Der Streitwert ist auf 10.000 DM abgesenkt worden. Aus der Urteilsbegründung: „Einerseits ist der Kläger durch die Art der Information und den Inhalt schwer beeinträchtigt, andererseits ist nicht ersichtlich, dass gerade sein Wirken für bedeutende Teile der Öffentlichkeit von Interesse ist. Er ist keine ‚Persönlichkeit der Zeitgeschichte’, bei der in Bezug auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht engere Grenzen gezogen werden müssten. Für den Kläger gelten insoweit normale Maßstäbe, das heißt, er hat grundsätzlich einen Anspruch auf Unterlassung der Weitergabe ihn in seiner Persönlichkeitssphäre beeinträchtigender Informationen ... Das Gewicht der Beeinträchtigung hebt dabei den Umstand auf, dass die Tätigkeit, auf die sich die Behauptung der Beklagten bezieht, grundsätzlich der Individualsphäre der Klägerin zuzuordnen ist. Andererseits ist kein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit ersichtlich, über die Eigenschaft gerade der Klägerin als registrierter ‚IM’ informiert zu werden.“ 74 Angesichts der juristischen Niederlage entscheidet sich das Neue Forum, vor dem Oberlandesgericht in Naumburg in Berufung zu gehen. Am 21. Mai 1993 geht der Schriftsatz des Anwalts auf den Weg nach Naumburg. Der Termin zur mündlichen Verhandlung ist Donnerstag, der 28. Oktober 1993. Es sind die selben Argumente, diesmal noch weit ausführlicher dargestellt, die dem OLG gegenüber vorgebracht werden. Der 4. Zivilsenat des OLG verkündet seine Entscheidung am 25. November 1993 zugunsten der Gaststättenbesitzerin und weist die Berufung zurück. Die Kosten hat das Neue Forum zu tragen. Aus der Urteilsbegründung: „Trotz der großen Auflage der fraglichen Ausgabe der Bild-Zeitung Halle von 195.000 Exemplaren ist durch die Veröffentlichung des Namens der Klägerin deren IM-Registrierung offensichtlich nicht allgemeinkundig. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass bei einer erneuten Auslegung der Liste durch die Beklagten Personen von der IM-Registrierung der Klägerin erfahren, denen diese bisher nicht bekannt war. Damit ist das berechtige Interesse der Klägerin auf Entfernung ihres Namens aus der Liste gegeben ... Die Struktur des Stasi-Apparates und die Ausmaße seines Informantensystems sind als solche seit der Wende in der DDR – gerade auch durch die Aktivitäten des Beklagten – in weitem Maße aufgedeckt worden und in der Öffentlichkeit heute in großem Umfang bekannt. Es mag in 74 Urteil des Landgerichts Halle vom 26.03.1993. 45 der Umbruchphase 1989/1990, möglicherweise auch noch im Jahre 1991, gerechtfertigt gewesen sein, zur Entlarvung der umfassenden Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens der DDR durch das Spitzelsystem der Staatssicherheit eine Vielzahl von Personen ohne nähere Angaben zu ihrer spezifischen Tätigkeit für das MfS öffentlich mit Personenkennzahl, Decknamen, Tätigkeitsort und allgemeiner Einsatzrichtung als IM zu bezeichnen. Im Juli 1992 bestand und heute besteht angesichts der Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den fünf neuen Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System für eine derartige unspezifizierte öffentliche Benennung früherer IM dagegen kein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mehr, so dass die durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht geschützten Belange früherer IM und deren Interesse, nicht durch erneute öffentliche Benennung der Gefahr ungerechtfertigter beruflicher und gesellschaftlicher Benachteiligungen ausgesetzt zu werden, überwiegen könnte.“ 75 14 Einen Überraschungssieg erzielt das Neue Forum wenige Monate später in Naumburg. Nachdem es sich in vier Verfahren vor dem 4. Zivilsenat nicht erfolgreich behaupten konnte, urteilt der 7. Zivilsenat in einem fünften Verfahren nun gänzlich anders. Im Streit mit einem Mediziner von der Martin-LutherUniversität, der auf der Liste zu finden ist, entscheiden die Richter, dass zwischen dem informationellen Selbstbestimmungsrecht und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit durchaus abgewogen werden müsse. Die Öffentlichkeit, so die Richter, habe durchaus ein Recht auf Informationen über Tatbestände, die die Allgemeinheit berühren.76 Aus dem Urteil: „Die öffentliche Verbreitung von Listen mit Namen, Vornamen, Personenkennziffer, Einsatzort und Decknamen der Personen, die als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS der ehem. DDR registriert waren, stellt für sich allein noch keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes der so erfassten Personen dar, wenn die Tatsache ihrer Registrierung zutrifft und auch nicht wahrheitswidrig behauptet wird, dass diese Personen tatsächlich für den damaligen Staatssicherheitsdienst tätig geworden sind. Deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung tritt innerhalb dieser Grenzen zurück hinter das Interesse der Allgemeinheit an sachlicher 75 Urteil des OLG vom 25.11.l993. 76 Kern, Rolf; Montag, Andreas: Stasi-Listen / Prozesse: Neues Forum gewann im fünften Streich. In: Mitteldeutsche Zeitung, 16.03.1994. 46 Aufklärung über Funktionsweise, Strukturen sowie freiwillige und unfreiwillige Träger des überwundenen politischen Zwangssystems.“ 77 Etwa zeitgleich erscheint ein Beitrag in einem halleschen Stadtmagazin, der die Folgen der Nennung als IM für lokale Prominente untersucht. Da ist der Galerist, der den ganzen Trubel unbeschadet überstanden hat. Die Gauck-Behörde habe ihm damals den Rat gegeben, sich mit seiner Geschichte der Öffentlichkeit zu stellen. Da ist der Stempelmacher, der weiter ein florierendes Geschäft betreibt. Der Weinhändler freut sich im Rückblick über seine Marketing-Idee, den IMJahrgangssekt zu kreieren. 1.000 Flaschen hat er seinerzeit abgesetzt. „Soviel Flaschen hätte ich 1992 unter normalen Umständen nie verkauft.“ Und der Rechtsanwalt, der damals die meisten Kläger gegen das Neue Forum vertreten hat, sagt, dass das alles niemanden mehr interessiert. Und dass der wichtigste Aspekt jetzt der der Prozesskosten sei. Jeder hat seine eigene Wahrheit. Jens Weichner im Stadtmagazin „Dust“: Lethargie und Langeweile, laute Aufschreie und Lamentieren. Stasi und kein Ende, ständig wilde Diskussionen. Das alles war einmal. Genau zwei Jahre ist es her, dass die anonymen IM-Listen irgendwo zwischen Trotha und Beesen, Büschdorf und der Neustadt verschickt worden sind. Eine Stadt hat gelernt, sich an die Alltäglichkeit von ‚Dr. Müller’, ‚Rose’ und ‚Einstein’ zu gewöhnen.“ 78 15 Zwei Urteile, die unterschiedlicher nicht ausfallen könnten. Der eine Spruch gibt dem Neuen Forum Recht, der andere untersagt das Auslegen der Liste. Das verlangt nach einer Entscheidung durch den Bundesgerichtshof – und so ziehen in beiden Fällen jeweils die Verlierer vor die nächste Instanz. Alle anderen Fälle sind zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Durch Rücknahme der Klage, durch Vergleich, durch Tod oder dadurch, dass die Entscheidungen rechtskräftig geworden sind. Jetzt geht es nur noch um Präzedenzfallentscheidungen. Öffentlichkeit oder nicht? In beiden Fällen entscheidet der Bundesgerichtshof in Karlsruhe gegen das Neue Forum. Im Fall der Gaststättenbesitzerin verkündet der VI. Zivilsenat des BGH seine Entscheidung am 12. Juli 1994. 77 OLG Naumburg, Urteil vom 15.03.1994, - 7 U 61/93 (LG Halle). Zitiert nach: Neue Justiz, Heft 8/94, S. 370 f. 78 Weichner, Jens: Last but not list oder: Zwei Jahre danach. In: Dust, Heft 7/94, S. 12 f. 47 Aus der Urteilsbegründung: „Dem Engagement des Beklagten, einen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und zur Bewältigung der Probleme aus der früheren Stasi-Mitarbeit weiter Bevölkerungskreise zu leisten, kann ebenfalls kein so starkes Gewicht beigemessen werden, dass die Klägerin die in der Veröffentlichung ihres Namens liegende Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit hinnehmen müsste. Zur Aufarbeitung dieser Probleme war die Namensliste nach ihrem Inhalt kaum geeignet. Sicherlich konnte sie vor Augen führen, wie viele Menschen aus unterschiedlichsten Schichten eines örtlich begrenzten Bereiches für das MfS gearbeitet haben. Die pauschalisierende, nach Umfang und Grad der Tätigkeit der genannten Personen nicht unterscheidende Nennung ihrer Namen diente hier jedoch nicht der Verdeutlichung eines sachlichen Anliegens durch Personalisierung des angeprangten Geschehens (vgl. dazu Senatsurteil vom 12. Oktober 1993 - VI ZR 23/93 – VersR 1994, 57, 58); sie konnte zur Aufdeckung der Strukturen des Stasi-Apparates nichts Wesentliches beitragen. Die Namensnennung konnte eigentlich nur bewirken, für einen begrenzten Bezirk um Halle die dort lebenden Menschen in durch ihre Mitarbeit für das MfS belastete und nicht belastete zu scheiden.“ 79 Das Neue Forum ist empört. Die knappe Mehrheitsentscheidung, die der BGH getroffen hat, entsetzt die Bürgerrechtler. „In einer so tief politischen Angelegenheit“ sagt Heidi Bohley, „kann man doch gar nicht gegen uns entscheiden.“ Und sie verweist noch einmal auf das Gutachten der Gauck-Behörde, wonach die Café-Besitzerin ein Zimmer ihrer Gaststätte zur Verfügung gestellt, zwei Postkarten als Erkennungszeichen der Führungsoffiziere, Belobigungen, Auszeichnungen und Geschenke erhalten habe. „Unglaublich, dass den Bespitzelten von einst das Recht nicht zugestanden wird, die Namen der Täter zu nennen“, so die Bürgerrechtlerin.80 Aus der Presseerklärung des Neuen Forum: „Das Urteil ist ein Skandal, weil mit so einer Grundsatzentscheidung allen Ostdeutschen, die ihre DDRJahre als anständige, aufrechte Menschen über die Runden brachten, ein Maulkorb angelegt wird. Wer in der DDR bespitzelt wurde, hatte weder damals noch heute die Möglichkeit, diese Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte einzuklagen. Er oder sie haben aber das legitime Recht zu erfahren, wer die Spitzel waren.“ 81 79 Urteil des BGH vom 12.07.1994. 80 Reichert, Steffen: Stasi-Listen: Neues Forum nach Urteil fassungslos. In: Mitteldeutsche Zeitung, 14.07.1994. 81 Presseerklärung des Neuen Forum Halle vom 13.07.1994. 48 Obwohl die Prozesskosten zu diesem Zeitpunkt eine für das Neue Forum schmerzhafte Höhe erreicht haben, kündigt es an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.82 Man sehe sein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit verletzt. Liedermacher Wolf Biermann kündigt ein Benefizkonzert für die Hallenser an. Sechs Jahre später, im März 2000, kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass die vorherigen Instanzen wichtige Argumente, die für eine Auslegung der Listen sprechen, nicht ausreichend berücksichtigt habe. Eine Entscheidung lehnt es aber ab. Rechtsanwalt Peter Raue, der das Neue Forum in Karlsruhe vertreten hat, ist zornig. „Es hätte genauso so viel (wenig) Arbeit gemacht, der Verfassungsbeschwerde stattzugeben, an der Begründung hätte sich kein Deut geändert. So haben wir gewonnen – im Gefäß eines verlorenen Prozesses“, schreibt er den Hallensern.83 Das Neue Forum hat gewonnen und verloren. Eine letzte Meldung zum Thema durchrauscht den Blätterwald. „Karlsruhe rüffelt Bundesgerichtshof. ‚Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet’“ wird in Halle getitelt,84 „Stasi-Liste zu Recht veröffentlicht“, in Berlin.85 Die für das Neue Forum entstandenen Kosten belaufen sich zu diesem Zeitpunkt auf knapp 100.000 DM. Das Neue Forum zehrt seine Wahlkampfkostenerstattung auf. 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 Gerichtskosten Rechtsanwaltskosten Gericht- und Anwaltskosten Gerichts- und Anwaltskosten Prozesskosten Anwaltskosten Anwaltskosten Verfassungsbeschwerde Gesamt 532,20 DM 6.470,03 DM 25.127,16 DM 39.337,09 DM 15.073,98 DM 706,62 DM 5.800 DM 93.047,08 DM 82 Im Streit um die Veröffentlichung einer Liste angeblicher Spitzel. BGH gibt Stasi-Mitarbeiterin recht. In: Süddeutsche Zeitung, 14.07.1994. 83 Schreiben Peter Raue an die Landesgeschäftsführung des Neuen Forum vom 17.03.2000. 84 Karlsruhe rüffelt Bundesgerichtshof. „Meinungsfreiheit nicht hinreichend beachtet“. In: Mitteldeutsche Zeitung, 18.03.2000. 85 Stasi-Liste zu Recht veröffentlicht. In: Berliner Zeitung, 18.03.2000. 49 16 Spurensuche, zehn Jahre danach. Hat sich die Stadt Halle durch die Liste verändert? Sind die Menschen auf der Liste noch da? Und ob. Der Weinhändler betreibt erfolgreich seine Weinhandlung. Die Gastronomin führt ihr Café. Der Olympiasieger hat inzwischen ein riesiges Kaufhaus eröffnet. Der Wirtschaftswissenschaftler führt den größten örtlichen Fußballverein als Präsident. Der renommierte Germanist wird eingeladen, um Vorträge zu halten. Des Geschäft des Stempelmachers zählt als erstes Haus am Platz in seiner Branche. Die Chefin der Händel-Festspiele feiert internationale Erfolge. Und der Sportfunktionär von einst ist heute Hauptgeschäftsführer des größten Sportklubs der Stadt. Die Gesellschaft hat auf ganz unterschiedliche Art und Weise jeden dieser Menschen integriert. Hat diskutiert, hat hinterfragt, damals wie heute. Manchmal kann man noch einen Leserbrief finden. „Der Druck ist weg“, sagt Heidi Bohley. „Alle wissen jetzt, dass es alle wissen.“ 86 Und was ist mit jenen, die von der Liste wussten, sie erstellten? Was ist mit den Konsequenzen? Die Urteile sind gesprochen, Karlsruhe hat entschieden. Oder vielmehr nicht. Das Ermittlungsverfahren gegen die Urheber der Liste ist lange eingestellt worden. Ein Meineidsverfahren hat es vor Gericht nie gegeben, genauso wenig wie eins wegen übler Nachrede. Und die Urheber? Es ist eine schwierige Suche. In einer Stadt wie Halle kennt jeder jeden und doch niemanden. Ein Dutzend Jahre danach gibt es noch immer kein offizielles Bekenntnis. Gibt es noch immer niemanden, der sagt: Ich war’s. Was es nach vielen Mühen gibt, ist lediglich ein Schreiben, in dem die Motive von einst noch einmal dargelegt werden. Freilich anonym [siehe Seite 72]. Wer sich heute noch immer für die Aufarbeitung des Themas Staatssicherheit interessiert, der hat die Liste üblicherweise in seinem Regal stehen. Sie gilt bei Historikern aufgrund der detaillierten Angaben als unverzichtbares, weil verlässliches Nachschlagewerk für einen wichtigen Teil der in Halle tätigen Inoffiziellen Mitarbeiter. 86 Könau, Steffen: Der Tag, an dem es alle wussten. In: Mitteldeutsche Zeitung, 12.07.2002, S. 3. 50 Stasi-Listenprozesse gegen das Neue Forum Halle 1992 - 2000 51 Tätigkeit Journalist MTA Ärztin Arzt Cafébetreiberin Physiker Rechtsanwalt Oberingenieur Arzt Angestellter Angestellter Angestellter Musiklehrer Biochemiker Unternehmer Rechtsanwalt Geschäftsführer Kläger 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Hettstedt Quedlinburg Halle Alznau Halle Halle Großkorbetha Halle Dessau Halle Halle Halle Halle Halle Merseburg Dessau Leipzig Wohnort Verstorben Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja Rücknahme Rücknahme Pro Kläger Pro Kläger Rücknahme Pro Kläger Pro Kläger Pro NF Landgericht Vergleich Pro Kläger Pro Kläger Pro Kläger Pro Kläger OLG Pro Kläger Pro Kläger BGH Pro NF BVerfG Hallesches Tageblatt, 30.4.1993 Prof. Dr. Peter Raue Das Neue Forum und die hallesche „IM-Liste“ – auch eine Prozessgeschichte Mit dem friedlichen Ende der DDR, spätestens mit der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 begann unvermeidlich die Aufarbeitung der Geschichte der DDR. Für diese Tätigkeit stehen ganz unterschiedliche Institutionen, wohl in erster Linie die sogenannte Gauckbehörde, die die Grundlage für ihr Tätigwerden im „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ – Stasi-Unterlagengesetz – hat, aber auch verschiedene, ohne derartige gesetzliche Grundlagen arbeitende Bürgerbewegungen, an deren Spitze das Neue Forum stand, das sich an vielen Fronten für Aufklärung, Offenheit und rechtsstaatliche Verfahren im Zusammenhang mit in der DDR begangenem Unrecht einsetzte. An der dritten Säule der Aufklärung – neben „Gauck“ und Bürgerbewegung – wird noch lange gebaut werden: das ist die Literatur, die zum Leben (und zum Leiden) in der DDR entstanden ist (jüngst Julia Francks faszinierendes Buch „Lagerfeuer“ und Christoph Heins fulminanter Roman „Landnahme“). Als das Neue Forum, seinem eigentlichen Auftrag folgend, 1992 eine von Unbekannt erstellte Liste von „IM“ (Inoffizielle Mitarbeiter) in Halle in seinen Geschäftsräumen, für jedermann zugänglich, ausgelegt hat, wurde diese Aktion von einem juristischen Nachspiel begleitet, das beispiellos und zugleich beispielhaft für den Umgang der deutschen Justiz mit der DDR-Vergangenheit ist. Sieht man von einigen strafrechtlichen Entscheidungen ab, die stets über individuelle Schicksale, über Schuld und Sühne entscheiden mussten, steht die Rechtsprechung zu der Auslegung der „Halle-Liste“ für die Schwierigkeit, die Vergangenheit durch Aufklärung bewältigen zu wollen, geradezu exemplarisch in der deutschen Rechtsgeschichte. Es ist erstaunlich, wie wenig juristische und allgemein-publizistische Resonanz die Entscheidungen gefunden haben, Entscheidungen, die Gerichte aller Instanzen – Landgericht, Oberlandesgericht, Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht – beschäftigt haben. Es bleibt eine nachgerade groteske Volte dieser Rechtsprechung, dass das Bundesverfassungsgericht erkannt hat: die Auslegung dieser Liste war rechtmäßig und dennoch hat es dem Neuen Forum sein Recht verweigert. Bevor die Vorgänge in Vergessenheit geraten, die Akten mit dem Vermerk „kann 54 vernichtet werden“ versehen und dem Reißwolf anheim gegeben werden, lohnt es wohl, den Scheinwerfer auf diese Prozessgeschichte zu werfen und festzuhalten, was die deutschen Gerichte zum Aufklärungsrecht der Bürger über einen sehr präzisen, höchstdramatischen DDR-Sachverhalt zu sagen wussten. I Die Ausgangslage Die Entscheidungen, die wir hier reflektieren und über die wir referieren wollen, zeichnen sich aus durch einen klaren und – das ist selten in der Judikatur! – letztlich unbestrittenen Sachverhalt. 1. Der Sachverhalt Anfang Juli 1992 kursierte eine Liste, die überschrieben war mit „IMRegistrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986-1989“. Der Urheber dieser Liste war und blieb unbekannt. In dieser Liste wurden rund 4.500 Namen Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR einschließlich Personenkennziffern, Einsatzorten und -richtungen sowie Decknamen veröffentlicht. Diese Liste war von „Unbekannt“ Anfang Juli 1992 an alle Landesministerien in Sachsen-Anhalt, Landtagsfraktionen, Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung in Halle und weitere öffentliche Stellen versandt und schließlich in BILD veröffentlicht worden. Die Urheber dieser Liste haben ihr eine Vorbemerkung vorangestellt, in der es unter anderem heißt: „Einschränkungen Eine derart umfangreiche Liste wird nicht vollständig fehlerfrei sein. Für den Fall, dass sich jemand irrtümlich oder fehlerhaft in dieser Liste aufgeführt sieht, empfiehlt es sich, eine Überprüfung durch die Gauck-Behörde zu beantragen. Dazu als Erläuterung: Personen können als IM geführt sein, obwohl sie schon lange keinen Kontakt mehr zum MfS hatten. Personen können als IM geführt sein, obwohl sie den Kontakt mit dem MfS selbständig abgebrochen haben oder der Kontakt von Seiten des MfS abgebrochen wurde. In wenigen Ausnahmefällen wurden Personen zu IM registriert, ohne dass es zur aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen ist. 55 Unbedingt zu beachten! Jeder, der diese Liste benutzt, muss sich dieser Einschränkungen bewusst sein. In der Öffentlichkeit darf diese Liste nicht ohne die vollständige Vorbemerkung verwendet werden.“ Das Neue Forum – eine aus der Bürgerbewegung der DDR hervorgegangene Vereinigung – hat die Liste am 23. Juni 1992 erhalten. Nachdem zunächst die Bild-Zeitung aus der Liste veröffentlicht hatte, ihr andere Zeitungen folgten und die Liste in Halle zur Preisen zwischen DM 300 und DM 500 zum Verkauf angeboten wurde, hat sich das Neue Forum entschlossen, diesem Spuk dadurch ein Ende zu bereiten, dass die Namensliste ab 16. Juli 1992 in seinen Büroräumen in Halle öffentlich zur Einsichtnahme für jedermann ausgelegt wurde. Es war das erklärte Ziel des Neuen Forum, Vermutungen und Gerüchte darüber zu beenden, wer in der Liste verzeichnet war, Erpressungen vorzubeugen und dem ominösen Schwarzhandel mit dieser Liste ein Ende zu bereiten. Insgesamt haben etwa 700 Personen die Liste in den Büroräumen des Neuen Forum eingesehen, die Auslegung war am 8. August 1992 beendet. 2. Die Ausgangslage der Rechtsstreitigkeiten Sechs Personen, die auf dieser Liste verzeichnet waren, haben zunächst (erfolgreich) im Wege der einstweiligen Verfügung eine weitere öffentliche Auslegung der Liste durch verschiedene Kammern des Landgerichts Halle (hinfort: LG Halle) untersagen lassen. Aus hier nicht zu schildernden Rechtsgründen haben die Betroffenen dann die sogenannte Hauptsachenklage erhoben, in der das Gericht in einem ordentlichen (das heißt nicht nur vorläufigen) Verfahren feststellen sollte, ob die Auslegung der Liste rechtmäßig gewesen ist. Ernstlich hat keiner der Kläger bestritten, als IM registriert gewesen zu sein – einige der Kläger haben allerdings behauptet, für die Staatsicherheit als IM nicht tätig geworden zu sein (obwohl sie mit ihrem Einverständnis als IM registriert waren!). Keine Kammer des Landgerichts Halle ist der Frage, ob die insgesamt sechs Kläger IM waren oder gar: ob sie als IM und inwiefern sie aktiv für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet haben, nachgegangen. Vielmehr haben alle Kammern als wahr unterstellt, dass die klagenden Personen als IM registriert gewesen sind. Es verdankt sich dem Geschäftsverteilungsplan des LG Halle, dass drei verschiedene Kammern die Frage der Zulässigkeit der Auslegung der Liste durch das Neue Forum entscheiden mussten (und verneint haben). 56 II Die Entscheidungen Landgericht Alle Kläger waren in der ersten Instanz (vor den Kammern des LG Halle) erfolgreich. Warum? Nachfolgend sollen die Entscheidungen der mit diesem Fall befassten Gerichte verkürzt aber nachvollziehbar referiert werden: Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“, ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde vom Bundesverfassungsgericht in jahrzehntelanger Rechtsprechung entwickeltes und gefestigtes Rechtsinstitut: jeder Mensch hat das Recht, selbst zu bestimmen, welche persönlichen Daten von ihm in die Öffentlichkeit gelangen. Der Zugriff auf die Privatsphäre bzw. auf die Individualsphäre eines jeden Menschen bedarf, soll er denn zulässig sein, einer Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund mussten die Gerichte die Frage entscheiden, ob dieser Eingriff in das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Eine solche Rechtfertigung bietet sich geradezu an, betrachtet man das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit, wie sie Art. 5 Abs. 1 GG als zentrale Norm einer demokratischen Verfassung und eines demokratischen Rechtsstaates normiert. Mit anderen Worten: die Gerichte hatten die Frage zu beantworten, welches Recht stärker ist: das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder das (dem Neuen Forum unbestritten zustehende) Recht auf Information. Dabei sei betont, um den rechtlich komplizieren Sachverhalt zu verstehen: alle Gerichte gehen davon aus, dass die Behauptung, die jeweiligen Kläger der verschiedenen Verfahren seien als IM registriert gewesen, der Wahrheit entspricht. Für die Verbreitung unwahrer Tatsachen gibt es grundsätzlich keine Rechtfertigung, nur die Verbreitung wahrer Tatsachen ist zulässig – auch bei Eingriff in das sogenannte informationelle Selbstbestimmungsrecht – sofern Verfassungshüter diesen Eingriff rechtfertigen. Es galt also in allen Entscheidungen, den Konflikt zu lösen zwischen dem Recht der Betroffenen auf Geheimhaltung ihrer persönlichen Daten (IM-Registrierung) und dem Recht (unter anderem) des Neuen Forum auf Information der Öffentlichkeit über einen politisch brisanten Sachverhalt. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen gemeinsamen Blick auf die Entscheidungen der 3., 4. und 5. Zivilkammern des Landgerichts Halle zu werfen. 57 Die Entscheidung der 5. Kammer Dabei können wir die Entscheidung der 5. Kammer des Landgerichts Halle unter der Abteilung „Kuriosa“ ablegen. Allein bleibt diese Kammer mit ihrer Ansicht, die Veröffentlichung der Liste verstoße gegen das Stasi-Unterlagengesetz (StUG), dessen § 32 regele, unter welchen Voraussetzungen die Gauckbehörde (!) personenbezogene Informationen über Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes veröffentlichen kann. Das Gericht hat in geradezu grotesker Weise verkannt, dass das sogenannte StUG kein Gesetz ist, das abschließend regelt, wer die Vergangenheit der DDR aufarbeiten darf, vielmehr nur die Kompetenz der Gauckbehörde festlegt. Unbestritten hat die Gauckbehörde mit der Veröffentlichung dieser Liste nicht das Geringste zu tun. Dieses Urteil können wir bei unserer aufarbeitenden Betrachtung daher getrost vergessen. Die Entscheidung der 4. Kammer In drei verschiedenen Verfahren hat sich die 4. Kammer am gründlichsten mit dem Problemfeld auseinandergesetzt und es ist bemerkenswert, dass die zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen der Kammer keineswegs im Wortlaut gleich sind (was sich dem Umstand verdankt, dass die Verhandlungen unterschiedliche Berichterstatter hatten). Insgesamt lassen sich die Entscheidungen der 4. Kammer wohl wie folgt zusammenfassen und referieren: Obwohl die ausgelegte Liste mit den 4.500 Namen nur das eine behauptet hat: dass die in der Liste Aufgeführten als IM in dem dort angegebenen Zeitraum registriert waren, unterstellt die 4. Kammer des Landgerichtes, dass damit gleichzeitig eine aktive Tätigkeit der dort aufgeführten Personen für die Staatssicherheit insinuiert wird. „Der Betrachter musste dies [das Auslegen der Liste] dahingehend verstehen, dass die registrierten Personen im Regelfall bis 1989 Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit hatten und beobachtend für dieses tätig waren“. Mit dieser durch keinerlei Tatsachen belegten (Fehl)Interpretation der Liste, kommt die 4. Kammer des Landgerichtes zu der Erkenntnis: „Die Behauptung, für das MfS tätig (!) gewesen zu sein, kommt nach gängiger Betrachtung der Zuweisung erheblicher individueller Mitschuld an der Unterwanderung der Gesellschaft der ehemaligen 58 DDR gleich. Sie ist geeignet, das berufliche sowie private Umfeld sowie die weitere persönliche Entwicklung der Klägerin schwer (!) zu beeinträchtigen“. Zur Verfestigung der erstinstanzlichen Interpretation – die ausgelegte Liste insinuiere ein Tätigwerden für den MfS – wird mit kühnem Sprung formuliert: „Es wird durch die Behauptung (!!) des ‚Tätigwerdens’ letztlich auch nichts darüber mitgeteilt, aus welchen Gründen [...] die Registrierung erfolgte“. Das Konfliktfeld hat die 4. Kammer in allen Entscheidungen richtig erkannt, wenn es zum Beispiel formuliert: „Maßgeblich ist [...] die Auslegung [...] der widerstreitenden Grundrechte. Diese sind hier auf Seiten des Klägers das allgemeine Persönlichkeitsrecht, speziell auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, aus Art. 1 Abs. 1 GG, auf Seiten der Beklagten (Neues Forum) das Grundsrecht auf freie Meinungsäußerung gemäß Art. 5 Abs. 1 GG.“ Dass dieser Interessenkonflikt zugunsten der auf der Liste auftauchenden Personen zu entscheiden ist, glaubt das Landgericht allein damit begründen zu müssen, dass mit der Veröffentlichung „die Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts über Gebühr beeinträchtigt“ werden. Dabei wirft das Landgericht dem Neuen Forum vor, den Klägern „keinerlei Möglichkeit“ gegeben zu haben, eine korrigierende oder relativierende Stellungnahme abzugeben. Kein Wort verliert das Gericht darüber, wie man 4.500 Leuten eine solche Gelegenheit einräumen will. Kein Wort darüber, warum die Beeinträchtigung der Kläger schwerer wiegt als das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit. In einer anderen Entscheidung jener 4. Kammer rechtfertigt das Landgericht Halle sein Veröffentlichungsverbot wie folgt: 59 „Diese Informationen betreffen einen persönlichen Lebenssachverhalt des Klägers, dessen Offenbarung mit weitreichenden Folgen für das Bild des Klägers in der Öffentlichkeit und seine private und berufliche Lebensgestaltung verbunden ist. Der Kläger ist auch seit Veröffentlichung der Liste arbeitslos geblieben und die Max-PlanckGesellschaft hat von seiner Einstellung mit der Begründung abgesehen, sie könne keinen Mitarbeiter beschäftigen, dem der Makel einer Stasi-Tätigkeit anhafte“. Auch dies bleibt bemerkenswert: mit keinem Wort registriert das Landgericht, dass die vom Neuen Forum ausgelegte Liste in den Zeitungen veröffentlicht und auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf angeboten worden war. Die Frage, ob es die Veröffentlichung nicht schon rechtfertigt, damit Gerüchten ein Ende, Erpressungen Einhalt und dem Schwarzmarkt das Aus geboten wird, kommt in keiner Entscheidung auch nur in den Bereich der Überlegungen. Die Entscheidung der 3. Kammer Mit identischem Tenor verurteilt auch die 3. Kammer das Neue Forum, die Veröffentlichung zu unterlassen. Auch hier erkennt die Kammer: „Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Der Einzelne muss Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Desgleichen kann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch verfassungsmäßige Rechte anderer begrenzt sein“. Eine solche Rechtfertigung für die Veröffentlichung erkennt das Gericht deshalb nicht an, weil bei den 4.500 aufgelisteten Personen nicht zwischen dem Grad ihrer IM-Tätigkeit unterschieden wurde. Sprachlich wie inhaltlich verunglückt formuliert das Gericht: „Gerade durch die unterschiedslose Veröffentlichung nahm hierauf aber keine Rücksicht; vielmehr wurden alle dort aufgeführten Personen über einen Kamm geschoren“. 60 Noch erstaunlicher fährt das Gericht fort: „Das Anliegen des Beklagten (Neues Forum), die DDR-Vergangenheit mit den spezifischen MfS-Implikationen aufarbeiten zu wollen bzw. diese Aufarbeitung zu fördern, kann es zwar im Einzelfall rechtfertigen, eine belastete Person bloß zu stellen. Der Beklagte hat aber nicht dargetan, inwieweit für seine Zielsetzung die Veröffentlichung der auf den Kläger bezogenen Daten von besonderem Interesse ist“. Das ist schon eine erstaunliche „petitio principii“: zwar darf zur Vergangenheitsbewältigung eine Stasi-Verstrickung veröffentlicht werden, aber das Neue Forum habe es verabsäumt darzutun, „inwieweit ... die Veröffentlichung der auf den Kläger bezogenen Daten von besonderem Interesse“ für dieses Aufklärungsbemühen ist. Oberlandesgericht Das Neue Forum hat – gerade weil es um ein grundsätzliches Problem geht, nämlich um die Antwort auf die Frage, wie eine Bürgerbewegung mit dem DDRUnrecht umgehen darf – sämtliche Entscheidungen mit der Berufung angegriffen, die vor dem Oberlandesgericht in Naumburg (hinfort: OLG) verhandelt wurde. Auch hier verdankt es sich dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts, dass sich mit dem Rechtsstreit zwei verschiedene Senate – der 4. und der 7. Senat – befassen mussten. Es ist ein erstaunlicher und erfreulicher Beweis richterlicher Unabhängigkeit, dass am selben Gericht zwei Senate die identische Rechtsfrage unterschiedlich entschieden haben: während der 4. Senat die Berufung zurückgewiesen mit anderen Worten: die Entscheidung des Landgerichts Halle bestätigt hat, wonach die Veröffentlichung der Liste durch das Neue Forum unzulässig ist, hat der 7. Senat die Veröffentlichung in einer bemerkenswerten Entscheidung für zulässig erachtet. Die Entscheidung des 4. Senates Der Senat bringt das Problem des Rechtsstreits schnell auf den Punkt: „Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beinhaltet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, ob und innerhalb welcher Grenzen seine Daten an die Öffentlichkeit 61 gebracht werden. Dieses Recht ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet. Denn da der Einzelne seine Persönlichkeit nur in der Gemeinschaft entfalten kann, steht ihm keine absolute uneingeschränkte Herrschaft über seine Daten zu. Er muss sich daher grundsätzlich auch mit Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung abfinden, insbesondere etwa auch dann, wenn derjenige, der bestimmte Daten des Betroffenen weitergibt, sich dabei seinerseits auf grundrechtliche Gewährleistungen, etwa das Recht auf Meinungsfreiheit, stützen kann.“ Goldene, wenn auch sprachlich holprige Worte, die erwarten lassen, dass die Registrierten sich das Auslegen der Liste gefallen lassen müssen. Weit gefehlt! Nachdem das Gericht zu Recht unterstellt, dass die Behauptung, die betroffenen Kläger seien als IM registriert gewesen, der Wahrheit entspricht, folgt ein überraschendes Dogma: „Ein das Recht der Klägerin auf informationelle Selbstbestimmung überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung, dass die Klägerin als IM [...] registriert und mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgend einer Form auch tatsächlich als IM aktiv geworden ist, liegt nicht vor.“ Warum das OLG das Informationsinteresse der Öffentlichkeit verneint, bleibt das Geheimnis des „erkennenden“ Senats. Dabei erkennt das OLG (was das LG Halle verkannt hat): dass die Informationen, die sich aus der Liste ergeben, nicht zur „Intim- und Privatsphäre, sondern zu der auch ihre (der Klägerin) beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen umfassenden Individualsphäre gehört, für die sie umfangreichere Einschränkungen ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinzunehmen hat, als in den beiden erstgenannten Bereichen.“ Und nun kommt die Überraschung: „Dennoch lässt sich ein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht feststellen.“ Der Senat lässt dahinstehen, ob im Einzelfall die Daten veröffentlicht werden 62 dürfen, denn es stelle sich nur die Frage, „ob ein überwiegendes öffentliches Interesse an der isolierten Information besteht, die Klägerin sei [...] in den Akten der Stasi als IM registriert und wahrscheinlich als solche tätig gewesen“. Was nun folgt und zur Rechtfertigung des Veröffentlichungsverbotes herangezogen wird, ist eine erstaunliche historische Erkenntnis: was gestern zulässig war, wird heute unzulässig, sinniert der zuständige Senat, wenn er ausführt: „Es mag in der Umbruchphase 1989/1990, möglicherweise auch noch im Jahre 1991, gerechtfertigt gewesen sein, zur Entlarvung der umfassenden Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens der DDR durch das Spitzelsystem der Staatssicherheit eine Vielzahl von Personen ohne nähere Angaben zu ihrer spezifischen Tätigkeit für das MfS öffentlich mit Personenkennzahl, Decknamen, Tätigkeitsort und allgemeiner Einsatzrichtung als IM zu bezeichnen. Im Juli 1992 bestand und heute besteht angesichts der Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den fünf neuen Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System für eine derartige unspezifizierte öffentliche Benennung früherer IM dagegen kein Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit mehr, so dass die durch das informationelle Selbstbestimmungsrecht geschützten Belange früherer IM und deren Interesse, nicht durch erneute öffentliche Benennung der Gefahr ungerechtfertigter beruflicher und gesellschaftlicher Benachteiligung ausgesetzt zu werden, überwiegen könnte.“ Dieser endlose Satz – unklare Sätze sind oft Ausdruck unklarer Gedanken! – besagt nichts anderes, als: ein Jahr früher hätte die Liste ausgelegt werden dürfen, jetzt ist Schluss mit dem Aufarbeitungswahn des Neuen Forum. Es ist zwar das Verdienst des Senates, wenigstens das Argument des Neuen Forum zur Kenntnis genommen zu haben, dass das Auslegen der Liste angesichts der geschilderten Umstände (Veröffentlichung in Zeitungen, Handel auf dem Schwarzmarkt) Erpressungen vorbeugen wollte. Aber: auch das ist nicht hilfreich, sagt das Oberlandesgericht, denn „es ist nicht zulässig, denkbaren Erpressungen, die durch Androhung der Veröffentlichung nachteiliger Informationen begangen werden 63 könnten, dadurch vorzubeugen, dass diese Informationen der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.“ Warum nicht, fragt der Leser und erfährt keine Antwort. Die Entscheidung des 7. Senates Mit erfrischender Klarheit und Kürze kommt der 7. Senat des Oberlandesgerichts zum gegenteiligen Ergebnis: er weist die Klage des als IM geführten Klägers ab.1 Dieser 7. Senat judiziert: „Der Klage muss aber der Erfolg versagt bleiben, weil dem Kläger überhaupt kein Unterlassungsanspruch zusteht.“ Nur dieser Senat hat – anders als der Parallelsenat, anders als die Kammern des Landgerichts Halle – erkannt, dass die ausgelegte Liste nur eine einzige Behauptung aufstellt: dass die in der Liste Aufgeführten als IM registriert waren: „Mithin eine Tatsache, die wahr ist.“ So kurz, knapp und in klarem Deutsch formuliert es dieser Senat und fährt fort: „Die [...] Behauptung, der Kläger sei tatsächlich IM gewesen, hat der Beklagte (Neues Forum) [...] bislang nicht in der Öffentlichkeit aufgestellt. Jedenfalls lässt sie sich der ausgelegten Liste [...] nicht entnehmen. Es mag sein, dass einzelne Bürger diese Information so auffassten, der Kläger werde wohl IM gewesen sein. Dabei handele es sich dann aber um eine Schlussfolgerung des jeweils Einzelnen aus dem ihm von dem Beklagten zur Kenntnis gebrachten Material. Der Beklagte selbst, dies ist entscheidend, hat diese Behauptung oder Schlussfolgerung nicht aufgestellt und verbreitet.“ Auch der 7. Senat erkennt die Verpflichtung zur Abwägung zwischen informationellem Selbstbestimmungsrecht einerseits (also dem Recht des Klägers) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (auf das sich das Neue Forum berufen hat). 1 Nur der Klarheit wegen sei hier der Hinweis erlaubt, dass der Verfasser dieses Artikels für das Neue Forum dieses Verfahren geführt hat. 64 „Es kann nicht angenommen werden, die Veröffentlichung der objektiv zutreffenden Behauptung, eine mit ihren persönlichen Daten bezeichnete Person sei in der DDR als inoffizieller Mitarbeiter des dortigen Staatssicherheitsdienstes registriert gewesen, greife bereits in rechtswidriger Weise in das [...] Persönlichkeitsrecht ein.“ Ausführlich setzt sich dieser Senat mit der Frage auseinander, dass das Recht auf Informationsfreiheit – also das Recht, wahre Tatsachen verbreiten zu dürfen – ein Recht ist, das nicht nur bei der Presse, sondern auch all denen, die sich mit politischer Willensbildung auseinandersetzen, Wirksamkeit entfaltet und die Veröffentlichung rechtfertigt. Wiederum in ungewöhnlich schönem und unverschnörkeltem Deutsch führt der 7. Senat aus: „Gerade der Gesichtspunkt eines verbesserten Wissensstandes über Einzelheiten des staatlichen Überwachungs- und Spitzelsystems kann einen verbesserten Umgang mit den in der Liste der Beklagten enthaltenen Informationen zur Folge haben.“ Bundesgerichtshof Sieg und Niederlage beim OLG haben dazu geführt, dass der Bundesgerichtshof (hinfort: BGH), Deutschlands höchstes Instanzengericht, sich mit den Entscheidungen des Oberlandesgerichts befassen musste, nachdem alle Senate die Revision zugelassen haben. Der 6. Zivilsenat des BGH hat sich dem 4. Senat des Oberlandesgerichts angeschlossen, mit anderen Worten: die Veröffentlichung des Neuen Forum für unzulässig erachtet. Es lohnt sich, den sogenannten „Amtlichen Leitsatz“ – also die Summary der Erkenntnis des BGH – insgesamt zu zitieren, der da lautet: „Eine Bürgerbewegung im Gebiet der ehemaligen DDR war 1992 nicht befugt, in einer öffentlich ausgelegten Liste mit den Namen, Vornamen, Decknamen, Personenkennziffern sowie Einsatzorten und -richtungen von ca. 4.500 angeblichen Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die keine näheren Angaben über Art und Umfang der jeweiligen IM-Tätigkeit enthält, den Namen einer Person zu veröffentlichen, die weder im IM-Gefüge des MfS eine exponierte Stellung inne hatte noch heute im öffentlichen 65 Leben eine herausgehobene Funktion bekleidet. Die in der Namensnennung liegende Prangerwirkung muss der Betroffene nicht hinnehmen. Zunächst teilt der BGH die Ansicht des 7. Senates des OLG Naumburg nicht, die ausgelegte Liste sei auf die Aussage zu reduzieren, dass die dort aufgeführten Personen „nur bei dem MfS als IM registriert“ waren, vielmehr sieht der BGH in der Veröffentlichung die Behauptung, dass die Personen, die dort aufgeführt sind, „mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in irgendeiner Weise tatsächlich als IM tätig gewesen seien“. Vor diesem Hintergrund hält der BGH die Veröffentlichung auch dann für unzulässig, „wenn der Kläger [...] tatsächlich als IM tätig gewesen ist, der Beklagte also insoweit eine wahre Tatsache verbreitet hat“. Der BGH hält die Veröffentlichung für unzulässig, „denn der mit personenbezogenen Daten unterlegte Hinweis auf die IM-Tätigkeit war geeignet, Ansehen und Wertschätzung des Klägers in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und ihn gewissermaßen an den Pranger zu stellen“. [...] „Zwar kann der Beklagte für seinen Beitrag zur Auseinandersetzung in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage die Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen, die Art. 5 Abs. 1 GG prinzipiell mit gleichem Rang gewährleistet. Dabei kam jedoch gegenüber der schwerwiegenden Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klägers dem Recht des Beklagten auf Veröffentlichung der Namensliste nur ein geringeres Gewicht zu.“ Bedauerlicherweise nimmt der BGH zu der Frage überhaupt nicht Stellung, ob die Veröffentlichung nicht schon deshalb rechtmäßig war, weil die Liste in Auszügen in der Presse veröffentlicht und auf dem Schwarzmarkt käuflich zu erwerben war – gegen diese Veröffentlichung ist rechtlich niemand vorgegangen. Dass gerade das Auslegen der Liste das Interesse an der Einsicht bald hat erlahmen lassen, weil jeder sich nun vollständig informieren konnte, ist ein Gesichtspunkt, der jedenfalls in die Entscheidung des BGH hätte einfließen können und, wie ich meine, müssen. 66 III Der Pyrrhus-Sieg des Neuen Forum vor dem Bundesverfassungsgericht Das Neue Forum hat – da es sich mit der Entscheidung nicht abfinden konnte und wollte – das Bundesverfassungsgericht angerufen und um Überprüfung der Entscheidung gebeten. Die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts ist ein faszinierendes Beispiel dafür, dass jemand erfährt: er hatte Recht, aber er kann dieses Recht leider nicht bekommen. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich in seinem 14seitigen Beschluss mit dem Rechtsstreit auseinander und kommt erst zu der erfreulichen Erkenntnis, dass der Bundesgerichtshof (und die Vordergerichte) „wichtige Abwägungsbelange nicht hinreichend berücksichtigt“ hätten, dass aber – so die Überraschung auf Seite 14 des Beschlusses – der „Beschwerdeführer [...] von den Entscheidungen [...] nicht existentiell betroffen“ sei, weil er „an der Auslegung der Liste künftig kein Interesse mehr“ habe und deshalb „durch die angegriffenen Entscheidungen nicht mehr schwer benachteiligt“ sei mit der Folge, dass die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen wurde. Die Kostenlast – so das Bundesverfassungsgericht – trifft das Neue Forum nicht existentiell (angesichts der erheblichen Prozesskosten und den bescheidenen Mitteln, die dem Neuen Forum zur Verfügung standen, eine kaum mehr nachvollziehbare, jedenfalls grottenfalsche Erkenntnis). So heißt der letzte Satz der Entscheidung: „Eine Aufhebung und Zurückverweisung ist demnach nicht ange zeigt“ (obwohl der BGH falsch entschieden hat!). 67 Was ist dieser Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde des Neuen Forum auf dreizehn Seiten vorangegangen? Zunächst stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass entscheidend für die „[...] Zulässigkeit einer Äußerung im Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht wesentlich davon ab[hängt], ob es sich um ein Werturteil oder eine Tatsachenbehauptung handelt. Bei Tatsachenbehauptungen fällt ihr Wahrheitsgehalt ins Gewicht. [..]. Wahre Aussagen [müssen] in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind.“ Einschränkungen dieses Rechts auf wahre Berichterstattung können sich, so das Bundesverfassungsgericht, erst dann ergeben, wenn „die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentfaltung schwerwiegend sind und die Schutzbedürfnisse das Interesse an der Äußerung überwiegen.“ Nach dieser grundsätzlichen – die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes reflektierenden aber selbst vom BGH gründlich verkannten – Überlegung erkennt das Bundesverfassungsgericht: „Gemessen daran sind die angegriffenen Entscheidungen [der Vorgerichte: LG, OLG, BGH] verfassungsrechtlich nicht unbedenk lich.“ Konsequent erkennt das Bundesverfassungsgericht, dass das Neue Forum die Liste durchaus hätte veröffentlichen dürfen, die Klagen dagegen hätten erfolglos bleiben müssen. So führt das Gericht aus: „Dem Veröffentlichungsinteresse des Beschwerdeführers haben die Gerichte unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen.“ Die Gerichte haben – so das Bundesverfassungsgericht – „dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer (Neues Forum) zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat, nicht ausreichend Rechnung getragen. [...] Die Frage, wie die Inoffi- 68 ziellen Mitarbeiter in das MfS eingebunden und welche Rolle ihnen dabei von der Staatssicherheit zugedacht war, wurde noch 1996 als weitgehend unerforscht bezeichnet. [...] An ihrer Beantwortung existierte aber jedenfalls im Juli 1992 ein nachhaltiges öffentliches Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte. [...] Schon daraus ergibt sich das Aufklärungsinteresse. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber zu vermitteln, welchen Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen eines freiheitlichen Rechtsstaates außer Kraft gesetzt sind. Die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Liste habe zur Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit praktisch nichts beitragen können, hält verfassungsrechtlicher Überprüfung ebenfalls nicht stand. Der Bundesgerichtshof hat insoweit die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: die Liste vermittelt aufgrund ihrer Länge einen nachhaltigen Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS, verliert sich im Wege der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennung, aber nicht in der Abstraktheit bloßer Zahlen. [...] Die Liste war damit aus Sicht des Beschwerdeführers ein geeignetes Mittel, die Realität des breitgefächerten Informantensystems – so wie er es sah – vor Augen zu führen.“ Dieser erfreulichen, von allen drei Instanzen (Ausnahme: OLG Naumburg, 4. Senat) verkannten Rechtfertigung für die Veröffentlichung, wie sie das Bundesverfassungsgericht formuliert, folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob dem Informationsrecht des Neuen Forums das Recht auf informationelle Selbstbestimmung durch die jeweiligen Kläger weichen muss (wie die Vorinstanzen angenommen haben). Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht: „... die tatsächlichen Umstände des Falles [rechtfertigen] die Feststellung des Bundesgerichtshofs zur Schwere der Beeinträchtigung der Klägerin nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin durch die Auslegung der Liste ‚an der Basis ihrer Persönlichkeit’ getroffen wurde. [...] Es ist auch nicht erkennbar, dass die 69 Auslegung der Liste geeignet war, der Klägerin einen erheblichen Persönlichkeitsschaden zuzufügen. [...] Auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die Auslegung der Liste lässt sich nicht ohne weiteres ausgehen. [...] Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass die Unterstellung einer inoffiziellen Mitarbeit beim MfS in gleicher Weise zu einem Entzug sozialer Anerkennung oder einer ‚Abstempelung’ führt wie etwa die Behauptung, eine Person habe die eigenen Kinder sexuell missbraucht. [...] Unter diesen Umständen kann man jedenfalls nicht ohne nähere Feststellungen davon ausgehen, dass allein der Umstand, dass eine Person als Inoffizieller Mitarbeiter bezeichnet wird, zur sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung führt.“ Mit diesem Zitat bin ich am Ende der 13. Seite des Beschlusses angelangt und wer bis dahin die Entscheidungsgründe gelesen hat, kann nur zu einer einzigen Erkenntnis kommen: das Bundesverfassungsgericht hält alle der den jeweiligen Klagen stattgebenden Entscheidungen für falsch, das Handeln des Neuen Forum durch Auslegung der Liste für rechtmäßig und durch das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit gedeckt. Dennoch bleibt dem Neuen Forum der Erfolg der Verfassungsbeschwerde versagt, weil das Bundesverfassungsgericht dem Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung beimisst und der Ansicht ist, dass der Aktualitätsbezug zwischenzeitlich fehlt. Dieses Verfahren kann sich wohl auf die Ermächtigung des Gesetzgebers berufen, wonach das Bundesverfassungsgericht ein praktisch unbegrenztes Ermessen hat, eine Entscheidung nicht anzunehmen. Dass sie beim Neuen Forum Bitternis hinterlässt, nach siebenjährigem Prozessieren – die Entscheidungen des Landgerichts Halle stammen aus dem Jahre 1993, die Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichtes aus März 2000 – wird niemand verkennen. Recht haben und Recht bekommen ist Zweierlei, – selten hat diese bittere Erkenntnis so viel beklemmende Realität erfahren wie in dem Rechtsstreit um die Auslegung der „Stasi-Liste“ in Halle. Das Ereignis – IM-Liste, Schwarzmarkthandel, Auslegen der Liste durch das Neue Forum – liegt 12 Jahre zurück. Ein Dokument des Mutes, den das Neue Forum hatte, und einer Rechtsprechung, die zunächst nur Steine, beim Bundesverfassungsgericht Steine statt Brot, gegeben hat, bleibt der Rechtsstreit über die „IM-Liste“ aus Halle allemal. 70 Faksimile einer Listen-Seite von 1992 71 Halle 2004 Stellungnahme zur Veröffentlichung der so genannten Stasi-Listen Anliegen: 1990 verschärften sich die Diskussionen um einen Schlußstrich bei der StasiAufarbeitung. Als äußerst besorgniserregend war die Vernichtung der Akten und Datenträger der Hauptverwaltung Aufklärung in Berlin mit Zustimmung des Runden Tisches anzusehen. Für den Fall, daß sich diese Naivität weiter durchsetzen sollte, galt es, so viel wie möglich vom Existierenden zu retten. Begleitumstände: Die Veröffentlichung der Liste aller Hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS einschließlich ihrer Gehaltsstufen in der Berliner Zeitung „Die Andere“ 1990 machte zweierlei klar: Erstens kam es nach dieser Veröffentlichung nicht zur Hysterie oder zu Fällen von Lynchjustiz. Das bedeutete: Die mündig gewordenen Bürger konnten verantwortungsvoll mit solchen prekären Informationen umgehen. Zweitens: Die Diskussion in den Medien drehte sich sehr bald nach der Veröffentlichung der Liste der Hauptamtlichen Mitarbeiter nur noch um Fragen der Urheberschaft, um Prozesse und Klagen gegen „Die Andere“, statt um die strukturelle und inhaltliche Aufarbeitung. Das einzige Mittel, dies zu vermeiden, war die anonyme Verschickung der halleschen Listen an 30 ausdrücklich benannte Adressaten (Ministerien, Parteien, Medien). Grund für die Entscheidung zur Veröffentlichung: Auslöser für die Verschickung der Listen war die ins Stocken geratene Überprüfungspraxis zuständiger Stellen in städtischen Verwaltungen, Kirchen und Universität, die seit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ausdrücklich dazu aufgefordert waren. Dies, so war zu befürchten, stand in direktem Zusammenhang mit der anhaltenden Schlußstrichdebatte (von prominenter Seite mit einem „Freudenfeuer“ zu beenden). Zweck: Zweck der Veröffentlichung war nicht die Denunziation, sondern, wie im Vorwort ausdrücklich angemahnt, die im Stasi-Unterlagen-Gesetz vorgesehene 72 Möglichkeit, bei begründetem Verdacht Eilanträge an die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu stellen. Im Vorwort zu den Listen heißt es dazu: „Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt, in welchem Ausmaß die Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die Staatsmafia der SED rekrutiert wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des Repressionsapparates der Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern, Spitzeln, Erpreßten und Genötigten in sämtliche Ebenen des staatlichen Systems eingegriffen hat. Gewollte und ungewollte Verdächtigungen gegenüber Bürgern unseres Landes verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften das Klima. Solange die inoffizielle Struktur des MfS geheimgehalten wird, bleibt sie wiederholbar. Nur die Veröffentlichung der Namen ehemaliger IM schützt diese vor erneutem Mißbrauch durch ihre ehemaligen Führungsoffiziere und schafft Klarheit, damit dieses Konfliktthema nicht noch über Jahrzehnte die Gesellschaft vergiftet. Sie ist die einzige Chance, mit diesem Thema in absehbarer Zeit zu einem gewissen Ende kommen zu können. Sie ist eine praktische Notwendigkeit, um alle Bürger von dem Alptraum der Vergangenheit zu befreien – frei zu machen für die Aufgaben und Probleme der Gegenwart. Den wirklichen Opfern des DDR-Staatsterrorismus wird das Stasi-Unterlagengesetz erlauben, die inoffiziellen Berichte über sich zu lesen. Ohne Kenntnis der in ihren Akten verzeichneten IM und GMS würde eine neue Welle von Verdächtigungen ausgelöst, die schlimmere Folgen hätte als die klare Feststellung der tatsächlichen Quellen. Die Auflistung will dazu beitragen, daß diejenigen Recht und Gerechtigkeit erfahren, die bis heute in Unkenntnis gehalten und damit menschlich gedemütigt wurden. Es war im Vorwort klar ausgedrückt, daß ein Eintrag in der Liste nicht automatisch eine IM-Tätigkeit belegte, sondern daß dies nur eine Begründung für eine Einzelfallprüfung beim Bundesbeauftragten sein konnte, so daß die Personalkommissionen und andere zuständige Stellen die dringend erforderlichen Auskünfte erhalten konnten. Das geschah dann auch verantwortlich. Ergebnis: Im Ergebnis solcher Eilanträge konnten städtische Verwaltungen, Personal- und Ehrenkommissionen in vielen Fällen die ins Stocken geratenen Überprüfungen auf der Grundlage der geltenden Gesetze erfolgreich abschließen. Das beweist die ausreichende Authentizität der Listen. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts belegt zur Genüge das überwiegende öffentliche Interesse an ihrer Veröffentlichung. 73 Halle 1992 IM-Registrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986 - 1989 Vorbemerkungen 1. Inhalt Diese Liste enthält die Namen von jenen Personen, die als inoffizielle Mitarbeiter (IM) und Gesellschaftliche Mitarbeiter Sicherheit (GMS) der ehemaligen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Halle und der Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS verzeichnet waren. Unberücksichtigt blieben bisher alle weiteren Kreisdienststellen im ehemaligen Bezirk Halle und alle IM, die von anderen Abteilungen des MfS in der ehemaligen DDR geführt wurden. Sie wird zur Verfügung gestellt im Gedenken an die Mahnung unseres ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss nach dem Zusammenbruch 1947: „Die Frage, wie wir zu einem neuen deutschen Geschichtsbild kommen, ist die schwerste Aufgabe, die vor uns steht. Ein neues Geschichtsbild entsteht nicht, indem man das alte in die Reinigungsanstalt bringt. ... Ein neues Geschichtsbild entsteht dadurch, daß wir den Sinn für die Wahrhaftigkeit zurückgewinnen.“ 2. Absicht Diese Liste ist eine Dokumentation, die aufzeigt. in welchem Ausmaß die Zivilbevölkerung der ehemaligen DDR für die Staatsmafia der SED rekrutiert wurde. Sie ist der Beweis für die Mechanismen des Repressionsapparates der Stasi, der mit Hilfe von Zuträgern, Spitzeln, Erpreßten und Genötigten in sämtlichen Ebenen des staatlichen Systems eingegriffen hat. Gewollte und ungewollte Verdächtigungen gegenüber Bürgern unseres Landes verhindern das Zusammenwachsen von West und Ost und vergiften das Klima. Solange die inoffizielle Struktur des MfS geheimgehalten wird, bleibt sie wiederholbar. Nur die Veröffentlichung der Namen ehemaliger IM schützt diese vor erneutem Mißbrauch durch ihre ehemaligen Führungsoffiziere und schafft Klarheit, damit dieses Konfliktthema nicht noch über Jahrzehnte die Gesellschaft vergiftet. Sie ist die einzige Chance, mit diesem Thema in absehbarer Zeit zu 74 einem gewissen Ende kommen zu können. Sie ist eine praktische Notwendigkeit, um alle Bürger von dem Alptraum der Vergangenheit zu befreien – frei zu machen für die Aufgaben und Probleme der Gegenwart. Den wirklichen Opfern des DDR-Staatsterrorismus wird das Stasi-UnterlagenGesetz erlauben, die inoffiziellen Berichte über sich zu lesen. Ohne Kenntnis der in ihren Akten verzeichneten IM und GMS würde eine neue Welle von Verdächtigungen ausgelöst, die schlimmere Folgen hätte als die klare Feststellung der tatsächlichen Quellen. Die Auflistung will dazu beitragen, daß diejenigen Recht und Gerechtigkeit erfahren, die bis heute in Unkenntnis gehalten und damit menschlich gedemütigt wurden. 3. Einschränkungen Eine derart umfangreiche Liste wird nicht vollständig fehlerfrei sein. Für den Fall, daß sich jemand irrtümlich oder fehlerhaft in dieser Liste aufgeführt sieht, empfiehlt es sich, eine Überprüfung durch die Gauck-Behörde zu beantragen. Dazu als Erläuterung: - Personen können als IM geführt sein, obwohl sie schon lange keinen Kontakt mehr zum MfS hatten. - Personen können als IM geführt sein, obwohl sie den Kontakt mit dem MfS selbständig abgebrochen haben oder der Kontakt von Seiten des MfS abgebrochen wurde. - in wenigen Ausnahmefällen wurden Personen zu IM registriert, ohne daß es zur aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen ist. Unbedingt zu beachten! Jeder, der diese Liste benutzt, muß sich dieser Einschränkungen bewußt sein. In der Öffentlichkeit darf diese Liste nicht ohne die vollständige Vorbemerkung verwendet werden. 75 Verteiler: Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Werner Münch Ministerien des Landes Sachsen-Anhalt: - Minister für Wirtschaft; Technologie und Verkehr - Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - Minister für Umwelt und Naturschutz - Minister für Finanzen - Minister für Bildung und Kultur - Minister für Wissenschaft und Forschung - Minister für Arbeit und Soziales - Minister des Innern - Minister der Justiz - Minister für Europaangelegenheiten Landtagsfraktionen des Landes Sachsen-Anhalt - Landtagsfraktion der CDU - Landtagsfraktion der FDP - Landtagsfraktion der SPD - Landtagsfraktion der DSU - Landtagsfraktion Bündnis 90/Grüne - Landtagsfraktion der PDS Regierungspräsident Klein Oberbürgermeister der Stadt Halle Dr. Rauen Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung Halle - Stadtfraktion der CDU - Stadtfraktion der FDP - Stadtfraktion der SPD - Stadtfraktion Bündnis 90/Grüne - Stadtfraktion der PDS Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR Jochen Gauck - Außenarchiv Halle des Bundesbeauftragten Hallesches Tageblatt Mitteldeutsche Zeitung Express Halle Bild Halle 76 Bundesverfassungsgericht - Pressestelle – Pressemitteilung Nr. 33/2000 vom 17. März 2000 Dazu Beschluss vom 23. Februar 2000 - Az. 1 BvR 1582/94 Zur Veröffentlichung einer Liste von "IM" des MfS In dem Verfassungsbeschwerde(Vb)-Verfahren ging es um das gegen den Verein "Neues Forum" gerichtlich ausgesprochene Verbot, eine Liste mit Namen von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des MfS auszulegen. Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat die Vb des Vereins gegen das rechtskräftige Verbot nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar haben die Gerichte das Recht des Beschwerdeführers (Bf) auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) nicht hinreichend berücksichtigt; eine grobe Verkennung von Grundrechten nur dies hätte das BVerfG zu korrigieren lässt sich jedoch nicht feststellen. Außerdem ist der Bf von den angegriffenen Entscheidungen auch nicht existenziell betroffen. I. 1992 kursierte in Halle eine anonyme Liste mit insgesamt 4.500 Namen angeblicher IM des MfS. Die Liste enthielt den Hinweis, dass sie nicht fehlerfrei sein und im Ausnahmefall Namen von Personen enthalten könne, die nie mit dem MfS zusammengearbeitet hätten. Nach verschiedenen Veröffentlichungen in den Medien entschloss sich der Bf, die Liste in seinen Büroräumen auszulegen. Damit sollte die umfassende Durchdringung aller Lebensbereiche der DDR durch das MfS dokumentiert und die politische Diskussion gefördert werden. Insgesamt etwa 700 Personen informierten sich über die Liste. Eine in dieser Liste aufgeführte Person verlangte vom Bf die Schwärzung ihres Namens. Sie sei nie als IM tätig gewesen. Die Klage gegen den Bf hatte in allen Instanzen Erfolg. In letzter Instanz stellte der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 12. Juli 1994 (Az. VI ZR 1/94; veröffentlicht in JZ 1995, S. 253) u.a. fest: Selbst wenn die Klägerin als IM tätig gewesen sei, habe der Bf mit der Veröffentlichung ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) im Kernbereich verletzt. Das Persönlichkeitsrecht der Klägerin überwiege das Recht des Bf auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhob der Bf Vb und rügte im Wesentlichen eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 GG. 77 II. Die 1. Kammer des Ersten Senats hat zwar die Vb im Ergebnis nicht zur Entscheidung angenommen. Sie hat jedoch darauf hingewiesen, dass die Gerichte dem Veröffentlichungsinteresse des Bf unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen haben. Zur Begründung heißt es u.a.: 1. Bei der Abwägung zwischen dem Grundrecht des Bf auf Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht der Klägerin haben die Gerichte wichtige grundrechtliche Belange, die für den Bf sprechen, nicht ausreichend berücksichtigt. Der Bf wollte mit der Auslegung der Liste zum Verständnis der Tätigkeit des MfS beitragen und an der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilnehmen. Dieses Anliegen ist von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt. Der Zeitabstand zwischen „IM-Tätigkeit“ und Auslegen der Liste schränkt diesen Schutz grundsätzlich nicht ein. Dies gilt zumal dann, wenn Gegenstand der Äußerung die „Aufarbeitung“ historischer Vorgänge ist. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, einen Schlussstrich unter eine Diskussion zu ziehen oder eine Debatte für beendet zu erklären. Vor allem aber haben die Gerichte dem Umstand, dass sich der Bf zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das MfS fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung und diente insbesondere dazu, politisch Andersdenkende oder Ausreisewillige zu überwachen, abzuschrecken oder auszuschalten. Die Frage,wie die IM in das MfS eingebunden waren, fand auch noch 1992 ein nachhaltiges öffentliches Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte. Denn die systematische und umfassende Ausforschung der eigenen Bevölkerung mit nachrichtendienstlichen Mitteln war ein besonders abstoßendes Herrschaftsinstrument des Einparteiensystems. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber zu vermitteln, welchen Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen eines freiheitlichen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind. Zudem hat der BGH die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: Die Liste vermittelt auf Grund ihrer Länge einen nachhaltigen Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS, verliert sich wegen der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennungen, aber nicht in der Abstraktheit bloßer Zahlen. 78 Auf der anderen Seite wurde im Vergleich die Schwere der Beeinträchtigung der Klägerin überbewertet. Die Veröffentlichung der Liste entfaltete keine besondere Breitenwirkung. Lediglich eine vergleichsweise geringe Zahl von Personen nahm von der Liste Kenntnis. Die Kammer führt aus, dass auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die Auslegung der Liste nicht ohne weiteres auszugehen ist. 2. Trotz der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite ist eine Annahme der Vb nicht angezeigt. Die Gerichte haben die grundrechtliche Spannungslage des Falls im Ansatz zutreffend gesehen und eine Abwägung vorgenommen. Eine grobe Verkennung der Grundrechte lässt sich nicht feststellen. Der Bf ist von den Entscheidungen auch nicht existenziell betroffen. Ihm ist die Auslegung der Liste für die Zukunft untersagt worden. Der Bf hat bereits früher zum Ausdruck gebracht, an der Auslegung der Liste künftig kein Interesse mehr zu haben. Beschluss vom 23. Februar 2000, Az. 1 BvR 1582/94 Karlsruhe, den 17. März 2000 79 BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 1 BvR 1582/94 In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Vereins " N e u e s F o r u m ", vertreten durch Dr. E. und Dr. W. - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Oppenhoff & Rädler, Rankestrasse 21, Berlin gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12. Juli 1994 - VI ZR 1/94 -, b) das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 25. November 1993 - 4 U 105/93 -, c) das Urteil des Landgerichts Halle vom 26. März 1993 - 4 O 439/92 -, d) den Beschluss des Kreisgerichts für Halle und den Saalkreis vom 21. Juli 1992 - 24 C 724/92 hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Steiner, Hoffmann-Riem gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 23. Februar 2000 einstimmig beschlossen: Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Gründe: Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslegung einer Liste mit Namen von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) durch das "Neue Forum". I. 1. Im Juli 1992 kursierte in Halle eine anonym verbreitete Liste über "IMRegistrierungen der Bezirksverwaltung Halle und der Kreisdienststellen Halle und Halle-Neustadt des MfS 1986 bis 1989". Die Liste enthielt etwa 4.500 Namen angebli- 80 cher inoffizieller Mitarbeiter des MfS sowie deren Personenkennziffern, Einsatzorte, Decknamen, Betriebe und Einsatzrichtungen. Der Liste waren Vorbemerkungen vorangestellt, in denen es unter anderem hieß, dass eine derart umfangreiche Liste nicht fehlerfrei sein könne und Personen aufgeführt sein könnten, die unter Umständen schon lange keinen Kontakt zum MfS mehr gehabt hätten; in Ausnahmefällen könnten sogar Personen registriert sein, obwohl es zu keiner aktiven Zusammenarbeit mit dem MfS gekommen sei. Die Hallenser Medien berichteten ausgiebig über die Liste und veröffentlichten zunächst einzelne Namen aus ihr. Sie wurde zum Gegenstand öffentlicher Erörterung und schließlich zu Preisen von 300 bis 500 DM zum Verkauf angeboten. Daraufhin entschloss sich der Beschwerdeführer, dem die Liste zugeleitet worden war, diese in seinen Büroräumen zur öffentlichen Einsichtnahme auszulegen. Mit der Offenlegung sollte die umfassende Durchdringung aller Lebensbereiche der DDR durch das MfS dokumentiert und die politische Diskussion darüber gefördert werden. Außerdem sollte die Veröffentlichung Erpressungsversuchen vorbeugen und Spekulationen über den Inhalt der Liste beenden. Der Beschwerdeführer machte die Liste Interessenten jeweils einzeln unter Hinweis auf die Vorbemerkungen zugänglich. Nachdem die Bild-Zeitung damit begonnen hatte, die Namensliste seitenweise abzudrucken, ließ das Interesse an einer Einsichtnahme bei dem Beschwerdeführer nach. Insgesamt informierten sich bei ihm etwa 700 Personen. 2. Im Ausgangsverfahren nahm die Klägerin, die auf der Liste verzeichnet war, den Beschwerdeführer darauf in Anspruch es zu unterlassen, die IM-Liste weiterhin mit ihrem Namen und ihren Daten zu veröffentlichen, und verlangte, die auf sie bezogenen Informationen durch Schwärzung unkenntlich zu machen. Sie machte geltend, mit der Liste habe der Beschwerdeführer auch die Behauptung verbreitet, sie sei tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiterin tätig gewesen. Das sei unwahr. Die Veröffentlichung verletze sie daher in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Klage hatte in allen Instanzen Erfolg. a) Das Oberlandesgericht führte in dem angegriffenen Urteil im Wesentlichen aus (veröffentlicht in NJ 1994, S. 177): Der Aussagegehalt der Liste sei dahingehend zu verstehen, dass die darin aufgeführten Personen als inoffizielle Mitarbeiter des MfS registriert gewesen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt in irgendeiner Form tatsächlich auch als inoffizielle Mitarbeiter tätig geworden seien. Eine solche Aussage über die Klägerin greife in rechtswidriger Weise in deren grundrechtlich gewährleistetes und als sonstiges Recht im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB geschütztes allgemeines Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle 81 Selbstbestimmung ein, und zwar auch dann, wenn die Behauptung der Wahrheit entspreche. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleiste dem Einzelnen, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, innerhalb welcher Grenzen seine Daten in die Öffentlichkeit gebracht würden. Dieses Recht finde jedoch in der Meinungsfreiheit eine Schranke. Die erforderliche Abwägung, ob dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder der Meinungsfreiheit der Vorrang zukomme, sei auch dann nicht entbehrlich, wenn - was zugunsten des Beschwerdeführers unterstellt werden könne - die über die Klägerin verbreitete Behauptung der Wahrheit entspreche. Das ergebe sich aus der Wertung des (freilich nicht unmittelbar anwendbaren) § 32 Abs. 3 Nr. 2 StasiUnterlagen-Gesetz (StUG), wonach die Verbreitung auch wahrer personenbezogener Informationen über Mitarbeiter des MfS nur zugelassen sei, wenn hierdurch überwiegende schutzwürdige Interessen der genannten Personen unbeeinträchtigt blieben. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Bekanntmachung der Information über die Klägerin liege hier nicht vor. Die Klägerin habe in der DDR keine herausgehobene Position bekleidet. Auch heute trete sie im öffentlichen Leben nicht in Erscheinung. Im Gefüge des MfS habe sie keine besondere Funktion innegehabt. Das vom Beschwerdeführer in Anspruch genommene Interesse, die Strukturen des MfS und die Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens der DDR durch das MfS offen zu legen, rechtfertige die Veröffentlichung ebenfalls nicht. Entscheidend sei der Zeitpunkt der Auslegung. Die Struktur des Stasi-Apparats und die Ausmaße seines Informantensystems seien mittlerweile weitgehend aufgedeckt und der Öffentlichkeit bekannt. Das möge in der Umbruchphase 1989/1990 noch anders gewesen sein. Angesichts der Konsolidierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern und des erreichten Kenntnisstandes über das Stasi-System habe im Juli 1992 für eine unspezifizierte öffentliche Benennung früherer inoffizieller Mitarbeiter kein Informationsbedarf mehr bestanden. Das bedeute nicht, dass eine an den Maßstäben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes orientierte Aufarbeitung des Stasi-Systems in Frage gestellt werde. Schließlich könne auch das Motiv des Beschwerdeführers, Erpressungsversuchen vorzubeugen, den Eingriff nicht rechtfertigen, da die Veröffentlichung der kompromittierenden Information hierzu nicht geeignet sei. b) Die Revision des Beschwerdeführers hat der Bundesgerichtshof im Wesentlichen aus folgenden Erwägungen zurückgewiesen (veröffentlicht in JZ 1995, S. 253): Es sei nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht in der Veröffentlichung der Namensliste im Ergebnis eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gese- 82 hen habe, und zwar auch dann, wenn die Klägerin tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS tätig geworden sei, der Beschwerdeführer also eine wahre Tatsache verbreitet habe. Dabei habe der Beschwerdeführer nicht nur in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen, sondern die Klägerin mit der Auslegung der Liste auch an der Basis ihrer Persönlichkeit getroffen. Der Hinweis auf die Tätigkeit als inoffizielle Mitarbeiterin sei geeignet, Ansehen und Wertschätzung der Klägerin in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und sie gewissermaßen an den Pranger zu stellen. Gerade weil der Beschwerdeführer bei der pauschalierenden Offenlegung nicht nach Art der Tätigkeit differenziert habe, seien alle registrierten Personen unterschiedslos in die Kategorie von Denunzianten eingeordnet worden. Durch diese "Abstempelung" sei die Klägerin in schwerwiegender Weise in ihrem Anspruch auf soziale Geltung belastet und in dem Kernbereich ihrer Persönlichkeit betroffen. Diese Wirkung sei dadurch verstärkt worden, dass ihr Name in einer Liste von 4.500 weiteren angeblichen Mitarbeitern des MfS aufgeführt worden sei. Überdies seien alle Personen aus einem räumlich eng begrenzten Gebiet gekommen, so dass sie für die Leser aus dem Bereich der Anonymität in denjenigen einer persönlichen Bekanntheit gerückt werden konnten. Der Beschwerdeführer könne für seinen Beitrag zur Auseinandersetzung in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage zwar grundsätzlich die Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen. Hier seien aber die Persönlichkeitsbelange der Klägerin vorrangig. Wie das Oberlandesgericht zu Recht ausgeführt habe, komme dem Motiv, Erpressungen vorzubeugen, kein Gewicht zu. Auch das Engagement des Beschwerdeführers, einen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu leisten, rechtfertige die Auslegung der Liste nicht. Zur Aufarbeitung dieser Probleme sei die Liste nach ihrem Inhalt kaum geeignet gewesen. Sie habe zwar vor Augen führen können, wie viele Menschen aus unterschiedlichen Schichten eines örtlich begrenzten Bereichs für das MfS gearbeitet hätten. Die pauschalierende Namensnennung habe hier jedoch nicht der Verdeutlichung eines sachlichen Anliegens durch Personalisierung des angeprangerten Geschehens gedient. Die Namensnennung habe eigentlich nur bewirken können, für einen begrenzten Bezirk um Halle die dort lebenden Menschen in durch ihre Mitarbeit für das MfS Belastete und nicht Belastete zu scheiden. Dabei möge dahinstehen, ob es kurz nach der Wende ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit auch an der unspezifizierten Namhaftmachung früherer inoffizieller Mitarbeiter gegeben habe. 3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG. Er trägt hierzu im Kern vor: 83 Die Gerichte hätten die Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit verkannt. Der Bundesgerichtshof habe das für ihn schlechthin bestimmende Motiv der Auslegung der Liste, die Auseinandersetzung um das Erbe des MfS und dessen historische und politische Rolle zu führen, nicht hinreichend berücksichtigt. Er habe zeigen wollen, wie das MfS alle Lebensbereiche der DDR bis in ihre letzten Verästelungen mit inoffiziellen Mitarbeitern durchdrungen habe. Es sei ihm nicht um die Anprangerung eines einzelnen inoffiziellen Mitarbeiters gegangen. Er habe mit der Offenlegung der Liste am öffentlichen Meinungskampf um die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilgenommen. Daran habe er als Verein, der aus der Bürgerbewegung der ehemaligen DDR hervorgegangen sei, ein spezielles Interesse. Die Realität der Stasi-Unterdrückung könne nur dann begreiflich gemacht werden, wenn das Phänomen "Stasi" aus der Abstraktion der amtlichen Dokumentation und Statistik herausgeführt und für die einzelnen betroffenen Menschen konkret und fasslich dargestellt werde. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin sei demgegenüber von geringerem Gewicht. Eingegriffen werde nicht in die Privat- oder Intim-, sondern allenfalls in die Individualsphäre. Eine wahre Tatsachenbehauptung bedeute regelmäßig keine Verletzung der Individualsphäre. Es liege keine Schmähung der Klägerin vor. Der Bundesgerichtshof bleibe demgegenüber jede Begründung schuldig für seine Feststellung, in der Veröffentlichung der Liste liege ein Angriff auf die "Basis der Persönlichkeit der Klägerin". Eine Prangerwirkung wäre nur dann anzunehmen, wenn speziell über die Klägerin und ihre Stasi-Vergangenheit berichtet würde. Unzutreffend sei daher die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Klägerin sei unterschiedslos in die Kategorie von Denunzianten eingeordnet worden, weil in der Liste nicht nach Art der jeweiligen IM-Tätigkeit differenziert worden sei. II. Die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die von ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen lassen sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht beantworten (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen beruhen weder auf einer groben Verkennung des 84 durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen noch führen sie zu einer existentiellen Betroffenheit des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>; stRspr). 1. Die angegriffenen Entscheidungen sind am Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) zu messen. Die Auslegung der Liste durch den Beschwerdeführer fällt unabhängig von ihrer Einordnung als Meinungsäußerung oder Tatsachenbehauptung in den Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1999, S. 3326 <3327>). Die Meinungsfreiheit findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehören auch die zivilrechtlichen Vorschriften und das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf die die Fachgerichte die Unterlassungsverurteilung gestützt haben. Auslegung und Anwendung der Vorschriften des einfachen Rechts sind Sache der Zivilgerichte, die dabei jedoch das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu berücksichtigen haben, damit dessen wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>). Das verlangt in aller Regel eine Abwägung der jeweils betroffenen Rechtsgüter. Dabei haben die Gerichte beide Positionen hinreichend zu berücksichtigen und in ein Verhältnis zu bringen, das ihnen angemessen Rechnung trägt. Ein Grundrechtsverstoß, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hätte, liegt insbesondere dann vor, wenn das Zivilgericht den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt oder unzutreffend eingeschätzt hat und die Entscheidung auf der Verkennung des Grundrechtseinflusses beruht (vgl. BVerfGE 97, 391 <401>). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hängt die Zulässigkeit einer Äußerung im Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht wesentlich davon ab, ob es sich um ein Werturteil oder eine Tatsachenbehauptung handelt (vgl. BVerfGE 94, 1 <8>). Bei Tatsachenbehauptungen fällt ihr Wahrheitsgehalt ins Gewicht. An der Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung herabsetzender Tatsachenbehauptungen, die unwahr sind, besteht unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Interesse (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>). Dagegen müssen wahre Aussagen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind (vgl. BVerfGE 99, 185 <196>; stRspr). 85 Das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings nicht ausnahmslos. Bereits im Lebach-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht den Persönlichkeitsbelangen, insbesondere dem Resozialisierungsanliegen des damaligen Beschwerdeführers, gegenüber der Rundfunkfreiheit den Vorrang eingeräumt, obwohl eine wahre Berichterstattung zur Debatte stand (vgl. BVerfGE 35, 202). In der neueren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass wahre Berichte das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen insbesondere dann verletzen können, wenn die Folgen der Darstellung für die Persönlichkeitsentfaltung schwerwiegend sind und die Schutzbedürfnisse das Interesse an der Äußerung überwiegen (vgl. BVerfGE 97, 391 <403 f.>). Das kann etwa dann der Fall sein, wenn die wahre Berichterstattung wegen ihres Gegenstandes zu einer Stigmatisierung des Betroffenen und damit zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung führen kann. Der Schutz, den das allgemeine Persönlichkeitsrecht insoweit vermittelt, greift auch dann, wenn die Aussage wahr ist und deshalb zum Anknüpfungspunkt sozialer Ausgrenzung und Isolierung wird (vgl. BVerfGE 97, 391 <404 f.>). Schließlich können auch bei wahren Aussagen ausnahmsweise Persönlichkeitsbelange überwiegen, wenn die Aussagen die Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre betreffen und sich nicht durch ein berechtigtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen (vgl. BVerfGE 99, 185 <196 f.>). 2. Gemessen daran sind die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht unbedenklich. a) Nicht zu beanstanden ist allerdings die Deutung der umstrittenen Liste durch die Fachgerichte. Die Gerichte haben ihr die Aussage entnommen, dass die dort aufgeführten Personen nicht nur als inoffizielle Mitarbeiter registriert gewesen, sondern auch als solche tätig geworden seien. Das haben sie unter Hinweis auf den Kontext der Äußerung, insbesondere die Vorbemerkungen, schlüssig begründet und damit die Anforderungen, die Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG an die Deutung von Äußerungen stellt (vgl. BVerfGE 93, 266 <295 f.>), beachtet. Ebenso wenig begegnet die Einstufung der Äußerung als Tatsachenbehauptung verfassungsrechtlichen Bedenken. b) Unproblematisch ist es im Ansatz auch, dass die Gerichte auf der Normanwendungsebene eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht vorgenommen haben. Das war sogar von Verfassungs wegen zwingend erforderlich, weil die über die Klägerin aufgestellte Behauptung, auch wenn sie wahr war, deren durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsbelange berührte. Die Unterstellung, eine Person habe als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS gewirkt, diskreditiert die Person in ihrer Redlichkeit und persön- 86 lichen Integrität und setzt sie der Gefahr aus, von ihrer Umwelt argwöhnisch betrachtet zu werden. Die kompromittierte Person wird mit dem Unrecht, das vom MfS ausgegangen ist, gleichsam identifiziert (vgl. BGH, NJW 1998, S. 3047 <3048>). c) Dagegen steht es mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in Einklang, dass die Gerichte die Auslegung der Liste als rechtswidrig eingestuft haben, obwohl sie davon ausgegangen sind, bei der Mitteilung über die Klägerin handele es sich um eine wahre Tatsachenbehauptung. Die Gerichte haben insoweit den grundrechtlichen Einfluss in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise unzutreffend eingeschätzt. (1) Dem Veröffentlichungsinteresse des Beschwerdeführers haben die Gerichte unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen. Der Beschwerdeführer wollte - wie sich insbesondere der Vorbemerkung entnehmen lässt - mit der Auslegung der Liste zum Verständnis der Tätigkeit des MfS beitragen und an der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilnehmen. Dieses Anliegen stand unter dem Schutz des Grundrechts. Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, frei zu entscheiden, zu welchen Gegenständen er sich öffentlich äußert. Der Zeitabstand zwischen einer Äußerung und ihrem Gegenstand, auf den das Oberlandesgericht maßgeblich abgestellt hat, schränkt diese Freiheit grundsätzlich nicht ein. Dies gilt zumal dann, wenn Gegenstand der Äußerung die "Aufarbeitung" historischer Vorgänge ist. Es ist nicht die Aufgabe staatlicher Gerichte, einen Schlussstrich unter eine Diskussion zu ziehen oder eine Debatte für beendet zu erklären. Allerdings haben die Gerichte im vorliegenden Fall ausdrücklich klargestellt, dass sie nicht generell eine persönliche, historische oder publizistische Aufarbeitung des StasiSystems in Frage stellen wollten, sondern allein eine bestimmte Art der "Aufarbeitung". Der Schutz des Grundrechts bezieht sich aber nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form einer Äußerung (vgl. BVerfGE 93, 266 <289>; stRspr). Das haben die Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt. Vor allem haben sie dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geäußert hat, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das MfS ragte aus den staatlichen Einrichtungen und Institutionen in der DDR in besonderer Weise heraus. Es war ein zentraler Bestandteil des totalitären Machtapparats der DDR. Es fungierte als Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung und diente insbesondere dazu, politisch Andersdenkende oder Ausreisewillige zu überwachen, abzuschrecken oder auszuschalten (vgl.BVerfGE 94, 351 <368>). Die Frage, wie die inoffiziellen Mitarbeiter in das MfS eingebunden und welche Rolle ihnen dabei von der Staatssicherheit zugedacht 87 war, wurde noch 1996 als weitgehend unerforscht bezeichnet (vgl. Müller-Enbergs <Hrsg.>, Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, 2. Aufl., 1996, S. 8). An ihrer Beantwortung existierte aber jedenfalls im Juli 1992 ein nachhaltiges öffentliches Interesse, das im Prinzip auch heute noch bestehen dürfte. Denn die systematische und umfassende Ausforschung der eigenen Bevölkerung mit nachrichtendienstlichen Mitteln war ein besonders abstoßendes Herrschaftsinstrument des Einparteiensystems (vgl. BVerfGE 96, 189 <198>). Schon daraus ergibt sich das Aufklärungsinteresse. Überdies vermag die historische Erfahrung mit einer Diktatur und ihren Repressionsinstrumenten eine Anschauung darüber vermitteln, welchen Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger ausgesetzt sein können, wenn die Sicherungen eines freiheitlichen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt sind. Die Feststellung des Bundesgerichtshofs, die Liste habe zur Aufarbeitung der StasiVergangenheit praktisch nichts beitragen können, hält verfassungsrechtlicher Prüfung ebenfalls nicht stand. Der Bundesgerichtshof hat insoweit die Suggestivkraft, die mit der Veröffentlichung der Liste verbunden war, nicht hinreichend berücksichtigt: Die Liste vermittelt aufgrund ihrer Länge einen nachhaltigen Eindruck von der massiven Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS, verliert sich wegen der konkreten Angaben, insbesondere der Namensnennungen, aber nicht in der Abstraktheit bloßer Zahlen. Die fehlende Spezifizierung der Tätigkeit der in der Liste Aufgeführten, die für den Bundesgerichtshof gerade Anlass war, die Auslegung der Liste im Hinblick auf die Klägerin als rechtswidrig anzusehen, verdeutlichte, dass der potentielle Zugriff des MfS auf Informationen weit reichte und vielfältig war. Die Liste war damit aus Sicht des Beschwerdeführers ein geeignetes Mittel, die Realität des breit gefächerten Informantensystems – so, wie er es sah – vor Augen zu führen. (2) Auf der anderen Seite rechtfertigen die tatsächlichen Umstände des Falles die Feststellung des Bundesgerichtshofs zur Schwere der Beeinträchtigung der Klägerin nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin durch die Auslegung der Liste "an der Basis ihrer Persönlichkeit" getroffen wurde. Eine Berichterstattung über die Intim-, Privat- oder Vertraulichkeitssphäre, die auch im Fall ihrer Wahrheit regelmäßig rechtswidrig ist (vgl. BVerfGE 99, 185 <196 f.>), lag nicht vor. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Auslegung der Liste geeignet war, der Klägerin einen erheblichen Persönlichkeitsschaden zuzufügen. Anders als bei der Fernsehberichterstattung im Lebach-Fall entfaltete die Veröffentlichung der Liste keine besondere Breitenwirkung. Der Beschwerdeführer hat sie nicht über die Medien zugänglich gemacht, sondern nur in seinen Räumen ausgelegt. 88 Lediglich eine vergleichsweise geringe Zahl von Personen nahm von der Liste Kenntnis. Überdies erhielten nur solche Personen die kompromittierende Information über die Klägerin, die von sich aus aktiv wurden und an der Liste ein entsprechendes Interesse hatten, das sie prinzipiell auch durch eine Einsichtnahme in Akten des MfS bei der Gauck-Behörde hätten befriedigen können. Es bedarf hier keiner Entscheidung darüber, ob die Veröffentlichung einer entsprechenden Liste in den Medien zu einem schweren Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Auch von einer ausgrenzenden Stigmatisierung durch die Auslegung der Liste lässt sich nicht ohne weiteres ausgehen. Die Klägerin war nicht individuell herausgehoben, sondern als eine von 4.500 inoffiziellen Mitarbeitern im Bezirk Halle ausgewiesen worden. Insgesamt waren in der DDR mindestens 600.000 Personen als inoffizielle Mitarbeiter des MfS registriert; zuletzt waren es 174.000 (vgl. Müller-Enbergs, a.a.O., S. 7). Die Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter des MfS war ein Massenphänomen. Da dies durch die publizistische Aufarbeitung jedenfalls im Ansatz schon 1992 bekannt war, führte die Behauptung, eine bestimmte Person sei inoffizieller Mitarbeiter gewesen, für sich genommen nicht zu einer nachhaltig ausgrenzenden Isolierung Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass die Unterstellung einer inoffiziellen Mitarbeit beim MfS in gleicher Weise zu einem Entzug sozialer Anerkennung oder einer "Abstempelung" führt wie etwa die Behauptung, eine Person habe die eigenen Kinder sexuell missbraucht (vgl. dazu BVerfGE 97, 391 <404>). Die Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter des MfS ist für sich genommen strafrechtlich irrelevant. Vor allem aber wird die Rolle der inoffiziellen Mitarbeiter mittlerweile durchaus differenziert bewertet. Es ist im Zuge der Forschung nach 1989/1990 bekannt geworden, dass die inoffiziellen Mitarbeiter im Unterdrückungs- und Repressionssystem des MfS über keine eigene Macht verfügten, sondern weitgehend von ihren Führungsoffizieren abhängig waren (vgl. Müller-Enbergs, a.a.O.). Unter diesen Umständen kann man jedenfalls nicht ohne nähere Feststellungen davon ausgehen, dass allein der Umstand, dass eine Person als inoffizieller Mitarbeiter bezeichnet wird, zu sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung führt. 3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhten auch auf der Verkennung des grundrechtlichen Einflusses. Das Abwägungsergebnis war nicht durch § 32 Abs. 3 Nr. 2 StUG, auf dessen ratio legis die Gerichte unter anderem abgestellt haben, präjudiziert. Dies gilt schon deshalb, weil die Vorschrift ihrerseits wieder im Licht der grundrechtlichen Positionen auszulegen ist und sich hierzu in Fällen, in denen sie Anwendung findet, dank ihrer offenen Formulierung auch eignet. 89 4. Trotz der aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defizite ist eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht angezeigt. Sowohl das Oberlandesgericht als auch der Bundesgerichtshof haben die grundrechtliche Spannungslage des Falls im Ansatz zutreffend gesehen und eine an den maßgeblichen Grundrechten orientierte Abwägung vorgenommen. Sie haben allerdings wichtige Abwägungsbelange nicht hinreichend berücksichtigt. Eine grobe Verkennung der Grundrechte oder gar ein leichtfertiger Umgang mit Grundrechten im Sinn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich jedoch nicht feststellen. Der Beschwerdeführer ist von den Entscheidungen auch nicht existentiell betroffen. Ihm ist die Auslegung der Liste für die Zukunft untersagt worden. Bereits im Ausgangsverfahren hat er zum Ausdruck gebracht, an der Auslegung der Liste künftig kein Interesse mehr zu haben. Insofern ist er durch die angegriffenen Entscheidungen nicht mehr schwer benachteiligt. Die Kostenlast trifft ihn nicht existentiell. Eine Aufhebung und Zurückverweisung ist demnach nicht angezeigt. Diese Entscheidung ist unanfechtbar. Papier Steiner Hoffmann-Riem 90 Die Autoren Prof. Dr. Peter Raue Geboren 1941 in München, dort auch Abitur. Nach dem Abitur Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, 1965 Erstes, 1970 Zweites Staatsexamen. 1967 Promotion zum Dr. jur. mit dem Thema „Jugendgefährdende Schriften – ein Beitrag zur Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG“ (bei Duncker & Humbott), 1971 Rechtsanwalt, seit 1981 auch Notar in Berlin. Gründer der Berliner Sozietät Raue-Braeuer-Kuhla, Berliner Senior-Partner der Sozietät Hogan & Hartson Raue. Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin (Urheberrecht). Mehrere Veröffentlichungen zum Sponsoring und auf dem Gebiet des Medien-, Urheberund Presserechts. Zuletzt bei S. Fischer Verlag „Persönlichkeitsrechte – Die Verteidigung der persönlichen Ehre“. Peter Raue ist Mitbegründer des Vereins Freunde der Nationalgalerie und seit dessen Gründung (1977) Vorsitzender dieses Vereins. Steffen Reichert Geboren 1968 in Halle, dort auch Abitur. 1987 bis 1990 NVA, ab Mai 1990 Politikredakteur der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) in Halle, parallel von 1990 bis 1996 Studium der Journalistik an der Universität Leipzig mit Abschluss als Dipl.-Journalist, ab 1991 Reporter der MZ. 1994 Stipendium des German Marshall Fund, Studium an der Duke University, North Carolina. 2002 Wechsel als Landespolitischer Korrespondent der MZ nach Magdeburg. Bis 2002 Lehrauftrag an der Universität Leipzig (Journalistische Recherche). Zahlreiche Veröffentlichungen in der Tages- und Fachpresse zum deutsch-deutschen Transformationsprozess, zur inneren Sicherheit, zum Extremismus sowie insbesondere zur Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit. Zuletzt bei LIT Münster: „Transformationsprozesse: Der Umbau der LVZ“. 91