Nach dem Sturm
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Nach dem Sturm
LEBEN Im Internet erworbener Ruhm kommt so schnell, dass er einem irgendwann über den Kopf wächst – so wie der Schülerin Naina K. (re. S.), deren kritischer Tweet über Bildung von halb Deutschland diskutiert wurde Martin Kesici D as Netz ist mittlerweile eiEine Hooligan-Demo in Köln am 26.10.2014 kommentierte der Sänger und Moderator ne Parallelwelt. Jede Woauf Facebook so: „Endlich gehen die Deutschen gegen che wird eine andere Sau die Salafisten auf die Straße. Wurde auch Zeit.“ Dafür durchs Dorf getrieben. Und letzhagelte es online Rassismus-Vorwürfe. Sein Arbeitgeber, der Berliner Radiosender tes Jahr war ich dran. Ich habe Star FM, trennte sich von dem 42-Jährigen. mich nie berühmt gefühlt, war bekannt dafür zu schreiben, ohne groß drüber nachzudenken. Heute bin ich Naina K. vorsichtiger, was soziale Netzwerke an„Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete geht. Weil ich gemerkt habe: Wenn so eine oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse Lawine erst mal ins Rollen gerät, bist du schreiben. In 4 Sprachen“ – mit diesem Tweet stieß die damals 17-jährige Schülerin aus Köln im Januar eine machtlos. Ich dachte, mit einer EntschulBildungsdebatte an. Nicht jeder gönnte ihr den Fame. digung erledigt sich das Ganze. Von wegen. Es hat einfach nicht aufgehört. ein Tweet war total spontan. Es war Samstag, Als das Thema dann im Frühstücksund ich habe darüber nachgedacht, was ich fernsehen, bei N24 und bei n-tv lief, benach der Schule machen soll – und mir ist kam ich einen richtigen Schock. Das fühlt aufgefallen, dass ich null Ahnung von lebensnahen sich an, als hätte sich die Welt gegen dich Themen habe. Ich habe damals immer geschrieben, verschworen. Im persönlichen Kontakt was mir so durch den Kopf gegangen ist – nie haben mich die Leute allerdings eher behätte ich gedacht, dass das so groß wird. Am nächsten ruhigt und gesagt: „Ach, mach dir keinen Tag hatten ProSieben und ein paar bekannte Kopf!“ Erst als mein Geschäftsführer bei Youtuber den Tweet geteilt. Ich dachte nur, Star FM mit mir sprechen wollte, wusste oh Gott, was kommt jetzt? Die Reaktionen im Netz waren aber positiv, so viel Zustimmung von Schülern, ich: Shit, das ist echt was Ernstes. Lehrern und Eltern zu bekommen war cool. Ich Im Nachhinein muss ich sagen: Die dachte, hey, super, wie viele mich unterstützen! Am Reaktion der Leute war übertrieben, Montag in der Schule sah es anders aus: aber die des Radiosenders war nachvollEinige haben hinter meinem Rücken über mich ziehbar. Die haben sich eben Sorgen gegelästert. Nervig waren die Kamerateams vor der macht, dass Werbepartner abspringen Schule. Wenn ich Interviews gegeben habe, standen könnten – und mich damit auch irgendmeine Mitschüler daneben. Wenn ich keine gegeben wie aus der Schusslinie genommen. hätte, hätte es geheißen: Jetzt hebt sie ab. Ich bin davon überzeugt, dass mein In der ersten Woche kamen im Minutentakt AnfraFacebook-Post mit Absicht missverstangen von TV-Sendern, Zeitungen, Radiostationen. den wurde und dass die, die das angeMorgens hatte ich Schule, in den Pausen habe ich zettelt haben, von vornherein was Mails beantwortet, nachmittags Termine wahrgegegen mich hatten. Es ist einfach absurd, nommen. Irgendwann hat mich das total überfordert, mich als Nazi zu bezeichnen – Leute, und ich habe beschlossen: Der Auftritt bei „TV Total“ ich bin halber Türke! Aber in dem wird mein letzter Termin. Dass ich da eingeladen war Moment fragt man sich natürlich und dass ich plötzlich 20 000 Twitter-Follower hatte, schon: Warum denken die jetzt so was fand nicht jeder cool. Während des Abis habe ich desüber mich? Das hat mich verunsichert. wegen erst mal eine Twitter-Pause eingelegt. MittHeute bin ich aber drüber hinweg. Es hatlerweile bin ich wieder aktiv. Aber so ein Theater braute auch was Gutes, jetzt habe ich wieder che ich echt nicht noch mal. Meinungen oder Witze mehr Zeit für meine eigene Musik. formuliere ich immer so, dass sich niemand angegrifWas mir aber echt unangenehm ist: fen fühlen kann. Ich finde es gut, dass jetzt alles wieWenn man mich googelt, stößt man gleich auf Nazi-Vorwürfe. Das hat schon einen der normal ist. Ob das langweilig ist? Ach, nach so eibitteren Beigeschmack. ner Geschichte weiß man Langeweile echt zu schätzen. Nach dem Sturm Manchmal genügt ein einziger Tweet – und im Netz ist die Hölle los. Für Shitstorms oder virale Beiträge gilt gleichermaßen: Es geht vorbei. Bloß für die Betroffenen ist danach nichts mehr wie vorher. Fünf Menschen überden digitalen Ausnahmezustand und das Leben danach PROTOKOLLE: BIRGIT QUERENGÄSSER FOTOS: GETTYIMAGES (1) M 209 LEBEN V ielleicht wird das Positive in unserer Gesellschaft idealisiert. Vielleicht gibt es zu wenig Gelegenheiten, auch das Negative einmal rauszulassen. Vielleicht haben die Leute deswegen so große Lust, im Internet verbale Gewalt anzuwenden. Ich hatte die Anzeige nur an Krimi-Blogger geschickt, die einiges gewohnt sind. Und deshalb hatte ich mir die Reaktionen so vorgestellt: Man bekommt einen kurzen Schreck, dann liest man die Auflösung und ist wieder beruhigt. Aber eine Bloggerin beschrieb ihren Eindruck dramatischer: Wie der Postbote kam, ihr den Brief überreichte, anbot, noch bei ihr zu bleiben. Wie sie mit zitternden Knien den Umschlag öffnete. Sie hatte die Anzeige abfotografiert, aber die Auflösung unkenntlich gemacht, und ihren Eintrag auf Facebook geteilt, wo sich die Kommentatoren gegenseitig mit Abscheu-Bekundungen überboten. Da wurde zu Bücherverbrennungen aufgerufen und dazu, 210 At:S ELY ag s ssantes ein intere „Das ist . Ich habe für e, Thema den , politisch chie se h ic m ents che und religiö k zu sportli t auf Faceboo h ic n er Themen entieren . Bei d ich komm Leuten , die on Anzahl v weile erreiche, em mittler mer irgendw n da im tritt ma auf den Fuß .“ Marilyn Hagerty Die Kolumnistin der US-Lokalzeitung „Grand Forks Herald“ schrieb 2012 eine Kritik über ein neu eröffnetes „Olive Garden“-Restaurant. Die Italo-Kette hat in den USA überall Filialen. Erst wurde Marilyn im Netz für ihr unironisches Lob eines Ketten-Restaurants ausgelacht und beschimpft. Dann wendete sich das Blatt – und die 89-Jährige wurde ein kleiner Star. D ie erste Nachricht kam aus Denver. „Ihre Kolumne ist erbärmlich“, stand da. Es kamen immer mehr Nachrichten, die meisten lasen sich etwa so: „,Olive Garden‘ ist ,Olive Garden‘. Wer ist so blöd, über eine Restaurantkette eine Kritik zu schreiben?“ Ich habe mich in 40 Jahren als Journalistin daran gewöhnt, kritisiert zu werden. Aber es war ungewöhnlich viel. Mein Artikel hätte sich viral verbreitet, hieß es. Ich fragte meinen Sohn: Was heißt „viral“? Bin ich krank? Er erklärte, dass eine Million Leute meinen Artikel gelesen hätten. Anfangs waren die Nachrichten noch gemein und herablassend, doch nach und nach wurden sie immer freundlicher. Am Ende waren sie voller Komplimente. Ich wurde zu sieben überregionalen Talkshows eingeladen und in die Redaktion der „Washington Post“. Der Koch FOTOS: GRAND FORKS HERALD (1) Markus Ridder Der Krimi-Autor, 44, verschickte 2014 zu Promo-Zwecken für sein neues Buch „Die Rückkehr des Sandmanns“ eine gefälschte Todesanzeige an Blogger, die den Tod eines Charakters in seinem Buch vortäuschte. Der Gag ging nach hinten los: Einige gaben offiziell bekannt, den Autor zu boykottieren, im Netz tobte ein Shitstorm und sogar der Werberat schaltete sich ein. mich einzusperren. Blogs und andere Plattformen griffen das Thema auf. Es war wie bei einer Hydra, wo man einen Kopf abschlägt und dann wieder zwei nachwachsen. Ich habe mich gefühlt, als würde ich an einen mittelalterlichen Pranger gestellt und alle rufen „Hängt ihn!“. Das ganze Netz zeigte mit dem Finger auf mich. Vor allem in der ersten Woche schlief ich schlecht und war schreckhaft. Die Gedanken kreisten nur um den Shitstorm. Im realen Leben wurde die Geschichte eher mit einem Schmunzeln kommentiert. Ich bin dann selbst aktiv geworden und habe geschrieben, dass es alle Infos auf meiner Facebook-Seite gibt – dort konnte ich meine Version der Geschichte erzählen. Natürlich gelang es mir nicht, alle zu überzeugen. Aber für mich selbst war es wichtig zu reagieren. Ich glaube, man darf sich nicht vergraben. Wichtig ist auch, sich mit Freunden auszutauschen. Damit man merkt, dass nicht die ganze Welt gegen einen ist. Mittlerweile ist mein Leben wieder normal. Zugegeben: Ich habe mir das Ganze selbst eingebrockt. Doch die Reaktionen waren übertrieben. Und auch, wenn die Aufmerksamkeit eine ganz gute Promo für das Buch war – ich würde so was nicht noch einmal durchmachen wollen. Anthony Bourdain hat mit meiner Zeitung zusammen das Buch „Grand Forks – A History of American Dining in 128 Reviews“ aus meinen Kritiken veröffentlicht. Es war Wahnsinn. Aber ich habe mich auch ein bisschen schuldig gefühlt. Als Journalistin habe ich gelernt, dass ich die Geschichte erzähle, nicht, dass ich selbst die Geschichte bin. Mein Verleger war allerdings dankbar. So wurden mehr Zeitungen verkauft. Das Ganze ist jetzt drei Jahre her, und ich schreibe immer noch fünf Kolumnen in der Woche von zu Hause aus. Mit dem Unterschied, dass ich in unserer Gegend jetzt ein kleines bisschen prominent bin. Manchmal lohnt es sich, über den digitalen Tellerrand zu schauen: Ein Shitstorm kann nämlich auch Karrierekick sein. So wie für die Journalistin Marilyn Hagerty, deren unorthodoxe Restaurantkritik im Netz zerrissen wurde G Shoshana Roberts „10 Hours of Walking in NYC as a Woman“ – dieses VideoExperiment ging im Herbst 2014 viral. Die damals 24-Jährige lief darin quer durch New York und wurde dabei von 108 Männern angequatscht. Über 40 Mio. Mal wurde das Video angeklickt. esucht: Schauspielerin für Video über sexuelle Belästigung auf offener Straße“ – oder so ähnlich hieß der Link zur Craigslist-Anzeige, den eine Facebook-Freundin geteilt hatte. Als ich mich bewarb, hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich einließ. Ich bin Schauspielerin und brauchte vor allem Material für mein Bewerbungsvideo. Ich lief also einen Tag lang Das Internet ist eine öffentliche Straße – wer auf ihr wandelt, gibt sich preis und wird nicht von allen geliebt. Bester Beweis: Shoshana Roberts, die an einem Film über sexuelle Belästigung mitwirkte und dafür beschimpft wurde durch New York und wurde dabei gefilmt, wie ich von Männern angesprochen wurde. Um zehn Uhr morgens wurde das Video von der Initiative „Hollaback!“, die sich gegen sexuelle Belästigung einsetzt, online gestellt. Ich war schon aufgeregt, als es 100 Leute angeschaut hatten, ich dachte, wow, vielleicht schaffen wir ja 1000! Ich verfolgte allein zu Hause an meinem Laptop, wie es mehr und mehr wurden. Um nicht durchzudrehen, ging ich ins „Hollaback!“Büro – dort gab ich ein Interview nach dem anderen. Die Mehrheit der Reaktionen war positiv. Aber ich habe erst nur die fiesen wahrgenommen. Es gab antisemitische Kommentare, Vergewaltigungsdrohungen, jemand wollte mich mit einer Tüte Hundescheiße schlagen. Ein anderer schrieb: „Vielleicht sollte ich in ein Flugzeug steigen und dir die Kehle aufschneiden.“ Ich hatte extreme Angst. Bis heute werde ich nervös, wenn Leute das Video erwähnen und Fremde dabei sind. Ich bin selbst Opfer sexuellen Missbrauchs. Die ganze Sache hat die Erinnerungen wieder ins Bewusstsein gebracht. Das hat sehr wehgetan. Aber ich habe es überstanden. Ganz fair ist es trotzdem nicht abgelaufen, finde ich: Die „Hollaback!“-Leute haben mit dem Video eine Menge Spenden gesammelt. Ich habe bloß 200 Dollar und Morddrohungen bekommen. Anmerkung: Kurz vor Redaktionsschluss wurde bekannt, dass Shoshana die Macher des Videos auf mindestens 500 000 Dollar verklagt, weil sie das Material ohne ihre schriftliche Zustimmung verwendet haben. COLLAGEN: EUGENIA LOLI/EUGENIALOLI.COM LEBEN