Die Emanzipation der Migrantin in Melinda Nadj

Transcription

Die Emanzipation der Migrantin in Melinda Nadj
UNIVERSITEIT GENT
ACADEMIEJAAR 2011-2012
Die Emanzipation der Migrantin in Melinda
Nadj Abonjis Tauben Fliegen Auf
Befreiung aus Zeit, Raum und Gesellschaft in der
transkulturellen Migrationserfahrung
Promotor: Dr. Sofie Decock
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de Graad van
Master in de Taal- en Letterkunde
Duits - Engels
door
Aleksandra Hrkic
Dankeswort
Die Vorbereitung und das Schreiben dieser Arbeit waren ohne die Betreuung von Sofie
Decock nicht dieselbe gewesen. Ich danke ihr für die konstruktiven Bemerkungen, die mein
Selbstvertrauen nicht nur während des Arbeitsvorganges gestärkt haben, für ihre Neugier zum
Romangeschehen, die den kritischen Blickwinkel in meiner literarischen Analyse ständig zu
schärfen wusste und für ihre unermüdliche Hilfe bei der Korrektur.
Ich danke dem Fachbereich der deutschen Literatur für die begeisterte und besonders
engagierte Unterstützung in allen Jahren meiner Studie. Dabei denke ich vor allem an an Prof.
Dr. Benjamin Biebuyck, der immer bereit war, meine Fragen mit neuen Fragen zu
beantworten und an den jetzt emeritierten Prof. Dr. Jaak De Vos und seine ansteckende Liebe
für deutsche Literatur. Auch für meine erste Begegnung mit dem Werk der Autorin Melinda
Nadj Abonji während der Studienreise in Köln halte ich den Fachbereich verantwortlich. Für
ihre Ermutigung, um auf Deutsch zu schreiben, ihren Vorschlag, den Roman zu lesen und
sogar zum Thema meiner Arbeit zu machen, danke ich Helena Elshout und ihrem warmen
Lächeln.
Meinem ersten Lehrer Deutsch, Dirk Blomme, verdanke ich die Liebe für deutsche Literatur
und Berlin, die er in mir entzündet hat. Auch Rik Vandecasteele hat sich als ein
einflussreicher Lehrer in meinem Leben aufgezeigt und ich danke ihm für seine Freundschaft.
Für die richtigen Worten in den kritischen Momenten und ihren – mit Kaffee begleiteten – Rat
danke ich meinen FreundInnen und KommilitonInnen.
Meinen Eltern danke ich für die Liebe, Unterstützung und ihr Vertrauen in mich. Die Hilfe bei
den vielen Fragen, die der Roman hervorgerufen hat, und die Antworte, die zur
Vervollständigung der vorliegenden Arbeit geführt hatten, habe ich ihnen zu verdanken. Auch
meiner Schwester, die mich mit ihrer spontanen und ermunternden Seele immer zu erfreuen
wusste, sei aus tiefstem Herzen gedankt.
Die Arbeit widme ich meinen geliebten Großeltern.
Aleksandra Hrkic,
August 2012
Inhoud
1. Einleitung ...........................................................................................................................5
1.1. Rezeptionshintergrund des Romans ..............................................................................5
1.2. Zielsetzung der Arbeit ..................................................................................................6
2. Ein genderspezifischer Blick auf Transkulturalität ............................................................ 10
2.1. Der Migrationsbegriff ................................................................................................ 10
2.1.1. Die Migrationsliteratur und ihre Entwicklung zur interkulturellen Literatur ......... 13
2.1.2. Transkulturalität .................................................................................................. 17
2.2. Einfluss der postkolonialen Theorie: Homi K. Bhabhas Verortung der Kultur ............ 19
2.2.1. Hybridität ............................................................................................................ 20
2.2.2. Saids Orientalism auf dem Balkan: Imagining the Balkans .................................. 22
2.2.2.1. Das koloniale Verhältnis zwischen dem Balkan und dem Westen ................ 24
2.2.2.2. ‚Mental mappings‘: Balkanismen und Okzidentalismen ................................ 25
2.3. ‚Mappings‘ des weiblichen Raumes: Gender und Migration ....................................... 26
3. Zeiterfahrung in der Migration: das Auswanderungsland .................................................. 29
3.1. Tito: Führer eines sozialistischen Jugoslawiens .......................................................... 29
3.2. Vergangenheitsdiskurse im Roman ............................................................................ 30
3.2.1. Die Erfahrung der Geschichte in der Familie Kocsis: die Großeltern ................... 30
3.2.2. Elterliche Autorität in persönlichen Geschichten ................................................. 32
3.2.3. Mütterliche Dominanz in der persönlichen Geschichte untergraben ..................... 34
3.3. Gegenwartsdiskurse ................................................................................................... 37
3.4. Schlussbemerkung zu der Beziehung zwischen Geschichte und Klammerverwendung
......................................................................................................................................... 39
4. Raum in der Migration: die ‚Zwischenwelt‘ der Auswanderung ........................................ 41
4.1. „Kann man von einem Tag auf den anderen, von einer Nacht auf die nächste in ein
neues Leben hineinfahren?“: Die Reise in die Schweiz ..................................................... 41
4.1.1. Grenzerfahrungen................................................................................................ 41
4.1.2. Trauma der Migration ......................................................................................... 44
4.1.2.1. Trauma als Feind der Erinnerungen .............................................................. 45
4.1.2.2. Mamika als Ersatzmutter .............................................................................. 46
4.1.2.3. Mamika als Verkörperung der Heimat .......................................................... 47
4.2. Die Reisen in die Vojvodina ...................................................................................... 51
4.2.1. Wo liegt die Heimat?........................................................................................... 52
4.2.2. Natur/Kultur ........................................................................................................ 55
4.2.2. Positive Hochschätzung der Natur ....................................................................... 56
4.3. Transkulturell Reisen: Gültigkeit der Hybridität ......................................................... 59
4.3.1. „Die Atmosphäre meiner Kindheit“ ..................................................................... 59
4.3.2. Hybride Heimat: ein Patchwork...........................................................................60
5. Integration in der Einwanderungsgesellschaft ................................................................... 62
5.1. Sprache als Herausforderung ...................................................................................... 62
5.2. Vorurteilen und Schwierigkeit der Integration ............................................................ 65
5.2.1. Okzidentalismen in der Vojvodina ......................................................................65
5.2.2. Übernahme des ‚Mondials‘ als Hinweis der elterlichen Assimilation ................... 66
5.2.3. Das Fräulein ........................................................................................................ 67
5.2.3.1. Ildi in der Arbeitsstelle: der integrierte „homo balcanicus“ ........................... 68
5.2.3.2. „Woher kommen Sie eigentlich?“: Ildis Migrantinidentität ........................... 69
5.3. Mimikry und gescheiterte Integration wegen der Fräulein-Maske............................... 71
5.3.1. „wir Serben sind Menschenfresser“ : Hundemaske des Krieges ........................... 73
5.3.2. Das ‚Fräulein‘ Ildi als rettende Zahnärztin ........................................................... 76
5.4. Spiegel als Erkenntnis und Fenster als Schwelle: Abnehmen der Maske ..................... 78
6. Schlussfolgerung: von feminisms bis zu emancipations ..................................................... 81
7. Bibliographie .................................................................................................................... 85
1. Einleitung
1.1. Rezeptionshintergrund des Romans
Der Deutsche Buchpreis 2010 wird in dem sechsten Jahrgang der Zürcherin Melinda Nadj
Abonji für ihren Roman Tauben fliegen auf vergeben. Die Jury begründet ihre Wahl in der
Beobachtung des Perspektivenwechsels eines Mädchens zu dieser einer jungen Frau, während
„das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit
noch lang nicht abgeschlossen hat“1, präsentiert wird. Die Autorin wird 1968 im serbischen
Vojvodina geboren und wandert als fünfjähriges Mädchen in die Schweiz ein. Sie erhält den
Deutschen Buchpreis als erste Schweizerin, gerade aber ihr Migrationshintergrund, den sie
mit der Hälfte der neunzehn anderen nominierten Kandidaten auf der Longlist gemeinsam
hatte, stellte die Globalisierung der deutschen Literaturszene im Vordergrund der öffentlichen
Diskussion. 2 Selber sagt sie dazu: „[M]it dem Etikett Migranten- oder Secondo-Literatur kann
ich überhaupt nichts anfangen, es dient Journalisten lediglich zur Vereinfachung.“ 3 Der
biographische Hintergrund der Autorin war auf jeden Fall nicht die Motivation, ihr mit
diesem oder mit dem einen Monat später erhaltenen Schweizer Buchpreis zu belohnen. 4 Der
Leitfaden, nicht nur für die Jury, sondern für jede LeserIn sollte lauten: „Literatur ist
Sprachkunst.“5
Ebenso wie die Schriftstellerin, sind auch die Figuren in Tauben Fliegen Auf der
ungarischen Minderheit in der Vojvodina angehörig. Miklós und Rózsa, die Eltern der
Protagonistin Ildikó und ihrer Schwester Nomi, wandern aus und können nach verschiedenen
Stellen in der Niedriglohnarbeit ein eigenes Geschäft, eine Wäscherei, gründen. Nach einer
kleinen Cafetaria in der Stadt sind sie in der Lage das größere und besser gelegene ‚Mondial‘
zu übernehmen. So ist der Erfolg in der Arbeit, auch für die Töchter, die in jedem Geschäft
mithelfen, von der Kundschaft bestimmt. Wenn die Töchter in die Schweiz reisen, werden sie
von ihrer Großmutter Mamika, begleitet. Bald sollen sie aber allein mit den Eltern im neuen
Land aufwachsen und können sie nur sporadisch ihre Großmutter im weitgelegenen Dorf in
1
URL: <http://www.deutscher-buchpreis.de/de/352565?meldungs_id=398198>. Letzter Besuch 9/8/2012.
Vgl. Elmar Krekeler: „Melinda Nadj Abonji bedient eine aktuelle Mode”. URL:
<http://www.welt.de/kultur/article10082012/Melinda-Nadj-Abonji-bedient-eine-aktuelle-Mode.html>. Letzter
Besuch 9/8/2012.
3
Corinne Buchser: „Melinda Nadj Abonji gewinnt Schweizer Buchpreis”. URL:
<http://www.swissinfo.ch/ger/kultur/Melinda_Nadj_Abonji_gewinnt_Schweizer_Buchpreis.html?cid=28786272
>. Letzter Besuch 9/8/2012.
4
Vgl. Buchser: „Melinda Nadj Abonji”.
5
Krekeler: „Melinda Nadj Abonji”.
2
5
Serbien besuchen. Ildi, die ihr Studium abgebrochen hat, um bei ihren Eltern zu arbeiten,
erzählt aus ihrer Perspektive die Geschehnisse, die sich in ihrem Leben abspielen und von der
Vergangenheit in der Vojvodina abgewechselt werden. Ildis Schweizer Gegenwartserfahrung
wechselt zwischen der Arbeit im ‚Mondial‘ und den Nächten im Café Wohlgroth, wo sehr
links orientierte Jugendliche zusammenkommen, ab, aber wird ständig von den Berichten
über den ausgebrochenen Krieg im ehemaligen Jugoslawien und den Meinungen der Kunden
aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Die politische Situation reicht bis ins ‚Mondial‘, wo die
Angestellten und Kunden Ildi mit dieser Kriegsgegenwart konfrontieren, während zu Hause
die Eltern nicht nur den Krieg, sondern auch die Familiengeschichte verschweigen. Wenn Ildi
aber in den Toiletten des ‚Mondials‘, wo die Mutter wöchentlich eine Lache Urin reinigt, die
von Fäkalien beschmierte Wand entdeckt, wird sie gezwungen, ihren Migrantenstatus zu
hinterfragen. Ildis Identität als Migrantin wird deswegen in den Mittelpunkt der
Problemstellung gestellt, weil sie im Verlauf der Erzählung von verschiedenen Bereichen, wie
Migration, Generationskonflikt, Vorurteilen, herausgefordert wird.
1.2. Zielsetzung der Arbeit
Weil der Roman kürzlich erschienen ist, soll die Forschung noch aus den Startlöchern
kommen. Die Migrationsthematik erlaubt Einsichten aus der Soziologie, Psychologie,
Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaften, die die Interpretation stützen können.
Diese Arbeit wird auf die Erlebniswelt der Erzählerin Ildi fokussieren, um die unterdrückende
Einwirkung der oben aufgeführten Bereiche zu analysieren. Sie beabsichtigt also, die
Machtstrukturen,
die
mit
Ildis
Migration zusammenhängen,
zu entlarven.
Diese
multidisziplinäre Vorgehensweise wird von der folgenden Untersuchungsfrage gesteuert: In
welcher Weise strebt Ildi ihre Emanzipation an und ist sie erfolgreich in ihrem Versuch?
Emanzipation wird hiernach als eine Bewegung aus der unterdrückenden Bereiche der
Migration behandelt.
Da die Macht unterschiedlicher Art sein kann, ist auch Ildis Emanzipation mehrdeutig.
Die Migrationsbewegung bildet dabei das Strukturprinzip, sodass die Art und Weise, in der
die Emanzipation im Roman erzeugt wird, auf dreierlei Weise analysiert wird. Die
Untersuchung einer möglichen Emanzipation der Migrantin Ildi wird mehreren Fragen
vorangegangen Zunächst steht die zeitliche Ebene der Migration im Mittelpunkt der
Untersuchung, um Vergangenheits- und Gegenwartsdiskurse miteinander zu verknüpfen.
Dabei wird untersucht, wie die Geschichte von den Figuren erfahren wird, insbesondere um
demnach den Generationsunterschied und die Autoritätsfrage näher überprüfen zu können:
6
gibt es ein Machtverhältnis zwischen Eltern und Kindern, und wenn ja, wie funktioniert
dieses? Zusätzlich wird die Frage gestellt, wie eine narratologische Herangehensweise diese
Zeiterfahrung konkreter deuten kann und ob sie eine emanzipatorische Wirkung hat. Anhand
des Raumes, des zweiten konstitutiven Elementes der Migration, kann die Wichtigkeit von
Ein- und Auswanderungsland wie auch der Reise selber dargelegt werden. Dabei wird aus
psychoanalytischer Sicht in Frage gestellt, in welcher Weise die Auswanderung eine zeitliche
Diskrepanz zwischen Ildis Erlebniswelten herstellt und das Erzählverfahren beeinflusst.
Zusätzlich wird erforscht, wie Ildis Heimatbild durch die Migration konstruiert und verändert
wird, um demzufolge die Idee einer Heimat in Frage zu stellen. Zuletzt wird mit Blick auf die
sozialen Verhältnisse im Einwanderungsland die Schweiz als Ort der Integration behandelt.
Dabei wird auf Ildis Arbeitsstelle im ‚Mondial‘ konzentriert, um zu erforschen, wie die
Interaktion mit den Kunden angesichts der Vorurteile über Ildis Herkunft funktioniert und ob
diese eine unterdrückende Auswirkung auf Ildi hat.
Anhand der Analyse von Abonjis Werk beabsichtigt diese aus verschiedenen
Motivationen entstandene Arbeit, einen Beitrag zur Migrationsforschung zu leisten.
Einsichten aus der feministischen und postkolonialen Forschung stellen sich für die
literarische Analyse eines Emanzipationsversuchs der Migrantin als hilfreich heraus. Für eine
Migrantin ist diese Emanzipation aus zweierlei Sicht definierbar. Die Migrantin wird in die
Kategorie Frau eingeteilt, die von dem männlichen Diskurs dominiert wird, sodass sie
demzufolge zu der unterdrückten Minderheitsgruppe gehört. In der feministischen
Literaturtheorie hat man die Strategie des Subtextes herausgearbeitet, in dem sich auch andere
Minoritäten, denen aufgrund Klasse, Ethnizität, Sexualität u.Ä. keine Stimme verliehen
worden ist, in den dominanten Diskurs hineinschreiben können. Die Migrantin bewegt sich
außerdem aufgrund ihres Migrationshintergrundes zwischen und in Kulturräumen, die wegen
der verschiedenen historisch-kulturellen Traditionen der Frau andere Rollen zuschreiben. Die
Begegnung von zwei oder mehreren solche Traditionen in den Ländern, zwischen denen die
Migration stattfindet, verursacht Widersprüche bei MigrantInnen und fordert Kompromisse.
Diese Arbeit wird sich folglich auf die Rolle der Frau in diesem Prozess der Kulturbegegnung
konzentrieren, sodass eine mögliche Emanzipation der Migrantin im engsten, individuellen
Sinne ihres Selbstbildes untersucht werden kann.
Die Frage, wie Bewegung und die damit assoziierten Aspekte der Erinnerung, der
neuen räumlichen Begegnungen in der Reise, der Sesshaftigkeit u.Ä. die MigrantInnen dieses
globalen Zeitalters beeinflussen, ist zentral in der vorliegenden Arbeit. Mehr und mehr wird
die
Welt
zu
einem
kleinen
Dorf,
in
7
dem
nicht
nur
Transportmittel
und
Kommunikationsmöglichkeiten schneller werden und die Menschen besser miteinander
verknüpfen6, und auch politisch und wirtschaftlich entsteht der Wunsch, sich in allerhand
Unionen und Gemeinschaften zu vereinen. Migration ist ein wesentlicher Teil der soziokulturellen Ebene dieser Prozesse, die vorherrschende Auffassungen über Identität, Kultur
und Zugehörigkeit auf die Probe stellen. Der Grund, weshalb Gender in diese Diskussion
miteinbezogen wird, liegt in der Feststellung, dass „the migration process is gendered at every
step“7. Gender stellt den soziokulturellen Aspekt im Unterschied zwischen Männern und
Frauen dar, während Sex das Geschlecht biologisch determiniert. 8 Für eine persönliche
Erfahrung der Migration ist diese Seite der Identität nicht zu vernachlässigen, nicht nur weil
sie ein wesentlicher Teil der Identität bildet, sondern auch wegen der Komponente der Kultur.
Studien über Gender und Migration, und vor allem über Frauen, auf einer individuelleren
Erfahrungsebene sind im Gegensatz zu ihren soziologischen Äquivalenten, die globale
Migrationsbewegungen untersuchen, nicht zahlreich.
Personal narratives are closely related to the questions of identity, and trans-national
identity in particular, that are animating some work on contemporary immigrants […].
In this case, because patterns of movement, membership in the polity, and the
regulation of residency often vary for men and women, gender is likely to be a
fundamental dividing line between the way that immigrants construct and experience
an immigrant or trans-national identity […].9
Nicht nur sei einerseits die Migrationserfahrung anders für Männer als für Frauen, sie sei
andererseits auch mit der transnationalen Identität verbunden. Vor dem Hintergrund, dass in
der Migrationsforschung generell angenommen wird, dass sie ihren Mann in die Migration
folgt (das sgn. „guestworker model“ 10), halte ich es für notwendig, die Rolle der Frau in der
Migration zu nuancieren. Diese passive Haltung enthält nämlich genderspezifische
Stereotypen, die der Frau den Zugang zu einem emanzipierten Lebensfeld erschweren. Denn
Emanzipation wird im Folgenden als eine Befreiung aus Stereotypen und auferlegte
Lebensweisen aufgefasst.
6
Vgl. Caroline B. Brettell: “Theorizing Migration in Anthropology. The Social Construction of Networks,
Identities, Communities and Globalscapes”. In: Migration Theory: Talking Across Disciplines. Hg. v. Caroline
B. Brettell und James F. Hollifield. New York: Routledge 2000, S. 104.
7
Leslie Page Moch: „Gender and Migration Research“. In: International Migration Research. Constructions,
Omissions and the Promises of Interdisciplinarity. Hg. v. Michael Bommes und Ewa Morawska. Aldershot:
Ashgate Publishing 2005, S. 102.
8
Vgl. Handbook of Gender and Women’s Studies. Hg. v. Kathy Davis et al. London: SAGE Publications 2006,
S. 46; Vgl. John Archer und Barbara Lloyd: Sex and Gender. 2. Aufl. Cambridge: Cambridge University Press
2002, S. 17. Wichtig ist dabei zu bemerken, dass in neueren Theorien nur ein sehr kleiner oder kein Unterschied
zwischen den Kategorien Sex/Gender gemacht wird. Judith Butler befragt in Gender Trouble: Feminism and the
Subversion of Identity (1990) den biologischen Anspruch auf Sex und behauptet, dass auch Sex sozial konstruiert
wird. In Wirklichkeit bestehe also keinen Unterschied mehr zwischen Sex und Gender (Davis: Handbook, S. 46).
9
Moch: „Gender“, S. 102.
10
Vgl. Moch: „Gender“, S. 96.
8
Obwohl Migration die definierenden Komponenten des bewegenden Subjektes und
der Bewegung enthält, ist sie in Studien über Migrationsliteratur vor allem anhand der
unentbehrlichen Behandlung der Räume, zwischen denen die Migration stattfindet,
theoretisiert worden. Die Rücksichtnahme auf die Räumlichkeit innerhalb dieses Prozesses
soll auch in einer Besprechung von Tauben Fliegen Auf nicht fehlen, um die Diskussion der
transkulturellen Interaktion einer Migrantin adäquat führen zu können. Um die die Wirkung
der Integration, der Hybridität und der Vorurteile in der Arbeit gut zur Geltung kommen zu
lassen, wird der Text anhand von Konzepten aus der postkolonialen Theorie untersucht. Dabei
wird nicht beabsichtigt, die kulturspezifische Situation der MigrantInnen mit der historisch
verankerten Beziehung zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren zu vergleichen.
In view of the peculiarities of the German colonial experience, recent studies focus
more on discourse production and imaginary configurations than on practice and more
on internal or internalized forms of colonizing/othering/dominating (antiSemitism, xenophobia, racism, Jews and migrants) than on the relationship between
metropolis and colony. 11 [meine Hervorhebung]
Der postkoloniale Blickwinkel ermöglicht es, die Dynamik der Machtverhältnisse in Bezug
auf die ‚Anderen‘ in der Gesellschaft mithilfe eines innerhalb der Migrationsforschung
etablierten Wortschatz zu erforschen. Das folgende Kapitel setzt sich ausführlich mit der
methodologischen Vorgehensweise auseinander. In diesem Rahmen werden ebenfalls die für
diese Arbeit wichtigen Begriffe präsentiert und erläutert.
11
The feminist encyclopedia of German literature. Hg. v. Friederike Eigler und Susanne Kord. Westport
(Conn.): Greenwood press 1997, S. 409.
9
2. Ein genderspezifischer Blick auf Transkulturalität
Um die Untersuchung einer möglichen Emanzipation der Migrantin Ildikó im Roman Tauben
Fliegen Auf12 anzufangen, ist es zuerst notwendig, einige wichtige Begriffe zu erklären.
Wichtiger als ihre Erklärung ist die Interpretation, die in dieser Arbeit diesen variablen
Konzepten gegeben wird. Migration ist ein erster Begriff, der klar definiert werden soll, um
die Entwicklungen im Roman konsequent zu besprechen. Diese erste Begriffsklärung wird
zum Feld der Migrationsliteratur, deren Gattungsproblematik zur Diskussion gestellt wird,
erweitert. In diesem Rahmen werden zusätzlich der Transkulturalitätsbegriff von Wolfgang
Welsch, Homi K. Bhabhas Hybriditäts- und Edward Saids Orientalismuskonzept erläutert.
Letztendlich wird auch die Rolle von Gender mit Bezug auf diese Theorien ausgeklärt, um
Rückschlüsse
aus
der
Dynamik
dieser
zwei
Perspektive
in
der
literarischen
Auseinandersetzung zu ermöglichen.
2.1. Der Migrationsbegriff
Michael Bommes gibt eine Übersicht der Migrationsforschung in Deutschland, wobei sich im
Jahr 1989 eine bedeutende Wende von der ‚Ausländerforschung‘ zur neuen, international
ausgerichteten Forschung vollzieht 13. Er erwähnt die Binnenmigration14 zwischen Ost- und
West-Deutschland und andere Formen von Migration, wie sie bei Asylanten und Flüchtlingen
sichtbar sind, als Ursachen einer gesteigerten Aufmerksamkeit für neue gedanklichen Ansätze
zu Migration. Franck Düvell behauptet weiter, dass der Migrationsdiskurs in Deutschland vor
allem auf die Integration von MigrantInnen fokussiert, während in der angelsächsischen
Forschung zu diesem Thema Integration deutlich von Migration getrennt wird 15. Auch in der
Besprechung des Romans TFA werden diese zwei Begriffe, die von einer sehr
unterschiedlichen Art sind, voneinander getrennt. Integration wird als Teil der Konfrontation
mit der Auswanderungsgesellschaft und deshalb im Rahmen von Hybridität behandelt, wie
dargelegt in Susan Stanford Friedmans drei Modellen von Machtverhältnissen 16. Migration
12
In zukünftigen Verweisungen zum Roman wird die Kurzform ,TFA’ verwendet.
Vgl. Michael Bommes: „Migration Research in Germany: The Emergence of a Generalised Research Field in
a Reluctant Immigration Country“. In: National Paradigms of Migration Research. 1. Aufl. Hg. v. Dietrich
Thränhardt und Michael Bommes. Göttingen: V&R unipress 2010, S. 148.
14
Für mehr über Binnenmigration vgl. Petrus Han: Soziologie der Migration. 2., überarbeitete und erweiterte
Auflage. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 9.
15
Vgl. Franck Düvell: Europäische und internationale Migration: Einführung in historische, soziologische und
politische Analysen. Hamburg: LIT Verlag 2006, S. 3.
16
Für eine Übersicht dieser Modelle und Friedmans ganze Hybriditätsauffassung, siehe: Susan Stanford
Friedman: Mappings. Feminism and the Cultural Geographies of Encounter. Princeton, New Jersey: Princeton
13
10
wird dagegen als Prozess behandelt, „der, beginnend von der Vorbereitung über den
faktischen Verlauf bis hin zu einem vorläufigen Abschluss, in einem langen zeitlichen
Kontinuum stattfindet“17. Die Bewegung der Migration deckt sowohl den Aufenthalt in Einund Auswanderungsland als auch die Bewegung zwischen den beiden. Migration deckt eine
sehr große, variierte Gruppe Menschen, die diese Bewegung auf eigentümliche Weise erfährt.
Die Motivation, das Herkunftsland zu verlassen (Arbeit, Krieg, Ehe, …), erstellt sich als ein
erster Unterschied18, der MigrantInnen in der Einwanderungsgesellschaft ihren politischen
Namen (‚Gastarbeiter‘, Flüchtling, …) zuweist. Ebenso wie zwischen den Subjekten selber
unterschieden wird, ist auch die Migration als Einzelfall zu behandeln. Vielmehr als die
Definition von Migration zu formulieren, wird hier der Begriff kritisch angenähert und eine
transnationale Auffassung dargestellt.
Migration bildet seit Jahrhunderte ein wichtiges Thema sowohl in der Gesellschaft als
auch in der Literatur, und ist vor allem mit den Wanderungsbewegungen in der heutigen
globalen Welt von großer Bedeutung. Frank Düvell stellt in seiner sozio-historischen Studie
zur Migration fest, dass es keine einheitliche Definition von Migration gibt 19. In einer
soziologischen Auffassung wird Migration als eine räumliche Bewegung, ausgelöst von
unterschiedlichen zusammenhängenden Ursachen, aufgefasst, und die Dauer des Aufenthalts
ist dabei von wesentlicher Bedeutung 20. Der sogenannte ‚dauerhafte Wohnortwechsel‘21
ermöglicht einen Unterschied zwischen MigrantInnen und z.B. Reisenden mit entweder
freizeitlichen oder beruflichen Absichten. Interessanterweise wird dieser Wohnortwechsel
nicht als der definitive Endpunkt der Migration gesehen. Auch die psychologische
Auswirkung einer solchen Bewegung wird in Betracht gezogen und oft in der Vorbereitung
auf die Migrationsreise situiert22. Die Vereinfachung der Migration zu einer unidirektionalen
Bewegung von Auswanderungsstaat zum Einwanderungsstaat 23 soll deswegen im öffentlichen
Diskurs nuanciert, sogar kontestiert werden. Dank der global village sind Menschen flexibler
geworden, und so auch die Auffassung von Migration:
University Press 1998, S. 85. Vgl. Friedman: Mappings, S. 89-91 für die detaillierte Auslegung dieser Modelle,
die sie im ,Oppression’, ,Locational’ und ,Transgression Model’ aufteilt.
17
Han: Soziologie, S. 8.
18
Vgl. Han: Soziologie, S. 208. Han erwähnt dazu, dass die sozialen Umstände im Herkunftsland zu der
Motivationsbildung einer Migration führen. Er behandelt die Motivation demzufolge als zweites entscheidende
Element für die Migration.
19
Vgl. Düvell: Europäische und internationale Migration, S. 6
20
Vgl. Han: Soziologie, S. 7-8.
21
Vgl. Han: Soziologie, S. 8.
22
Vgl. Han: Soziologie, Kapitel 3.
23
Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos: „Movements That Matter. Eine Einleitung“. In: Turbulente Ränder:
Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Hg. v. Transit Migration Forschungsgruppe.
Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 8.
11
Statt Auswanderung und Einwanderung, beides endgültige Entscheidungen, sind nun
eher anhaltende Migrationsprozesse zu beobachten, ein beständiges Kommen und
Gehen, ein Prozess permanenter Bewegungen von Individuen rundum den Globus. 24
Man spricht sogar von einem „modernen Nomadismus“25. In der Migrationsforschung ist seit
einiger Zeit der Schritt zum Transnationalismus gemacht, wobei beabsichtigt wird, das
„Container-Modell der Gesellschaftlichkeit“26 im Sinne von staatsnationalen Grenzen zu
übersteigen. Transmigranten, wie sie folglich genannt werden, sind Teil einer dynamischen
Bewegung zwischen sozialen Feldern, die nicht mehr notwendig mit ihren geographischen
Räumen übereinstimmen sollen. Der Heimatbegriff wird dadurch ebenso ‚entterritorialisiert‘
wie die Migrationserfahrung.
Auch eine konkrete Bezeichnung für MigrantInnen bleibt aus, da sie im politischen
Feld abhängig von den verschiedenen Ländern anders definiert werden: Einige Staaten
behandeln die fremde Staatsbürgerschaft als begriffsbestimmend, andere den Geburtsort27.
Weiter spielen die Zeit des Aufenthalts, Motivation, Abstand, u.a. in der sozio-politischen
Begriffsbestimmung auch mit 28. Diese Mehrdeutigkeit innerhalb der Begriffserklärung deutet
auf die Schwierigkeit, eine sehr verschiedenartige Zusammenstellung einer Gruppe konkret zu
definieren. Die Frage, zu welcher Gruppe von MigrantInnen die Familie Kocsis im Roman
TFA gehört, wird sogar innerhalb der Familie problematisch. Während die Eltern einer
Gruppe, einer Generation sogar, von MigrantInnen gehören, sind Ildi und Nomi Teil einer
Migrationskette, die der sozio-geographischen Bewegung der Eltern folgt. Die Schwestern
unterscheiden sich in ihrem MigrantInnenstatus von der Eltern nicht nur wegen des Alters,
sondern auch in der Motivation, sodass die freiwillige Art ihrer Auswanderung in Frage
gestellt wird. Während die erste Generation im Herkunftsland geboren ist und in einen
Zielstaat einwandert, stellt die zweite Generation diejenigen dar, die „am Zielort geboren oder
sozialisiert wurden“29. Ildi und Nomi sind in ihrem Herkunftsland Serbien geboren und
24
Düvell: Europäische und internationale Migration, S. 75.
Düvell: Europäische und internationale Migration, S. 75. Düvell erläuter diesen Begriff nicht weiter, aber
stellt die Interpretation von Migration als eine andauernde Bewegung diesen modernen Nomadismus nahe. Laut
Walter Fähnders wird Nomadismus als folgendes definiert: “Nomadentum setzt eine Welt ohne Grenzen voraus
– heutige Entgrenzungen, Stichwort Flexibilisierung und Globalisierung, begünstigen unübersehbar
›nomadische‹ Existenzweisen” (Nomadische Existenzen. Vagabondage und Boheme in Literatur und Kultur des
20. Jahrhunderts. Bd. 16. 1. Aufl. Hg. v. Walter Fähnders. Essen: Klartext Verlag 2007, S. 8.) Nomadentum und
Vagabundentum wird auf diese Weise von sowohl Migration als Reisen kontrastiert und vielmehr als eine
unruhige Fernweh aufgefasst.
26
Karakayali/Tsianos: „Movements“, S. 10.
27
Vgl. Düvell: Europäische und internationale Migration, S. 6.
28
Vgl. Düvell: Europäische und internationale Migration, S. 11.
29
Vgl. Carles Feixa: „Die Generation Eineinhalb. Identitäten und Handlungsfähigkeit von jungen
MigrantInnen“. In: Jugend als Akteurin sozialen Wandels: Veränderte Übergangsverläufe, strukturelle
Barrieren und Bewältigungsstrategien. Hg. v. Axel Pohl et al. Weinheim und München: Juventa 2011, S. 183.
25
12
wandern als Kinder in die Schweiz ein, wo sie auch aufwachsen, und wegen dieser
Migrationsgeschichte gehören die Schwestern zu der sogenannten „Generation eineinhalb“ 30.
Nachdem diesen Perspektiven auf die Bedeutung von Migration in Betracht gezogen
zu haben, wird für die Besprechung des Romans eine transnationale Herangehensweise
gewählt. Damit wird gemeint, dass Migration ihren geographischen Aspekt übersteigt.
Stattdessen rückt die individuelle Erfahrung des Oszillierens zwischen den verschiedenen
sozialen Räumen in den Mittelpunkt der Migrationsauffassung. Migration ist auf diese Weise
mehr als nur eine physische, unidirektionale Bewegung von einem Ort zu einem anderen.
Durch die unvermeidliche Konfrontation von MigrantInnen mit einer neuen Sprache und
einem neuen Kulturraum des Einwanderungstaates stellt Migration auch eine mentale
Bewegung dar, die zwischen den verschiedenen Aufenthaltsorten die Richtung wechselt. Der
Unterschied zwischen Migration und Reisen soll an dieser Stelle klargestellt werden:
Migration ist mit einem permanenten Aufenthalt im Zielland verbunden und äußert sich in der
Erfahrung der Hybridität. MigrantInnen sind – im Gegensatz zu Reisenden – immer in
Bewegung. Unabhängig davon, ob sie auf Reisen sein, sind sie immer in Interaktion mit ihrer
Kenntnissen von den Welten, zwischen denen sie sich bewegen. Die Rückschlüsse, die aus
der literarischen Analyse zu einer möglichen Emanzipation der migrierten Hauptfigur
gezogen werden, beziehen sich auf diesen Migrationsbegriff und die angeführte
Verschiedenheit der MigrantInnen.
2.1.1. Die Migrationsliteratur und ihre Entwicklung zur interkulturellen Literatur
Wenn Migration eine permanente, transnationale Bewegung zwischen sozialen Räumen
bedeutet, dann ist Migrationsliteratur eine Literatur, die sich mit dieser Thematik beschäftigt.
Eine kurze Begriffsgeschichte zeigt nicht nur die ursprünglich biographische Orientierung der
Migrationsliteratur, sondern auch den Niederschlag einer geänderten politischen Rezeption
der MigrantInnen in der Begriffsbenennung dieser Literatur. So wurde die Literatur
ausländischer Arbeitskräfte, der sogenannten ‚Gastarbeiter‘, im deutschen Sprachraum bis in
die 70er Jahren hinein ‚Gastarbeiterliteratur‘ genannt. Langsam aber wurde deutlich, dass
nicht mehr von einer Gesellschaft gesprochen werden konnte, die ausschließlich aus der in
Anzahl dominanten deutschsprachigen Bevölkerung der Einwanderungsländer und der
‚vorläufigen‘, für die Arbeit eingewanderten AusländerInnen bestand. Nicht nur hatten auch
Asylanten und Flüchtlinge31 ihren Weg zu denselben Ländern wie diese ‚Gastarbeiter‘
30
31
Feixa: „Die Generation Eineinhalb“, S. 183.
Vgl. Bommes: „Migration Research“, S. 148-149.
13
gefunden, sondern es wurde auch deutlich, dass diese letzte Gruppe sich permanent
angesiedelt hat und jetzt auch ihre Kinder und Enkelkinder in diesen Einwanderungsländer
aufwachsen.
‚Gastarbeiterliteratur’ wird nach diesen politisch-sozialen Änderungen in der
Forschung zum Namen ‚Ausländerliteratur‘ wechseln, wie zum Beispiel in der von Irmgard
Ackermann und Harald Weinrich zusammengestellten Arbeit Eine Nicht Nur Deutsche
Literatur (1986). Die Sammlung besteht aus Beiträgen verschiedener, in Deutschland
schreibender, ausländischer AutorInnen über u.a. die „Selbstdarstellung ihrer literarischen
Tätigkeiten“32. Ein(e) AusländerIn wird abhängig von der Perspektive, aus welcher man diese
Gruppe behandelt als ‚fremd‘ bezeichnet: Ein Deutscher ist nicht fremd in Deutschland, aber
schon in Griechenland. Im Schlusswort hält Harald Weinrich eine erste Phase, eine von
AusländerInnen
geschriebene
Literatur
als
‚Gastarbeiterliteratur‘
zu
nennen,
für
abgeschlossen und findet, „alle Namen sind schlecht, ganz gleich, ob man Ausländerliteratur,
Zweisprachigkeits-Literatur, Minderheiten-Literatur, Immigranten-Literatur oder sonstwie
sagt“33. Diese Möglichkeitsvielfalt der Begriffsverwendung für eine Literatur, die von
ausländischen AutorInnen geschrieben wird, und die Verweigerung, ihr einen konkreten
Namen zu geben, deutet auf eine Bemühung, sich politisch korrekt zu den Identitäten der
AutorInnen zu äußern.
In Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext versucht Heidi Rösch einen
Kompromiss zwischen der AutorInnenbiographie und dem Gegenstand der Migration zu
machen, indem sie von ‚Migrationsliteratur‘ spricht. Obwohl der biographische Hintergrund
der AutorInnen für ihre Gattungsbestimmung wichtig ist, plädiert sie für eine zusätzliche
Bedingung, die von einer „Offenheit gegenüber dem bearbeiteten Gegenstand“ 34
gekennzeichnet wird.
Migrationsliteratur läßt sich weder allein durch die AutorInnenbiographie noch allein
durch den Gegenstand bestimmen. Migrationsliteratur umfaßt weder alle migrierten
AutorInnen noch klammert der Begriff nicht-migrierte AutorInnen, die den
Gegenstand der Migration literarisch bearbeiten, per definitionem aus. 35
32
Irmgard Ackermann und Harald Weinrich: “Vorwort“. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur
Standortbestimmung der »Ausländerliteratur«. Hg. v. Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. München:
Piper 1986, S. 9.
33
Harald Weinrich: „Ein vorläufiges Schlusswort“. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur
Standortbestimmung der »Ausländerliteratur«. Hg. v. Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. München:
Piper 1986, S. 99.
34
Heidi Rösch: Migrationsliteratur im Interkulturellen Kontext. Eine didaktische Studie zur Literatur von Aras
Ören, Aysel Özakin, Franco Biondi und Rafik Schami. Hamburg: Verlag für Interkulturelle Kommunikation
1992, S. 18.
35
Rösch: Migrationsliteratur, S. 33.
14
In ihrer Auffassung werden AutorInnen einer ‚Migrationsliteratur‘ außerdem dazu
verpflichtet, „aus der Perspektive unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen zu schreiben und
gegen Rassismus und Ethnozentrismus in unserer Gesellschaft Stellung zu beziehen“ 36. Rösch
unterstreicht damit einen Aufstand gegen Unterdrückung in literarischen Texten, deren
Besprechung auch einen Einbezug der sozio-politischen Zugehörigkeit der AutorInnen
fordern kann. Diese zusätzliche Bedingung der Perspektive wird für Abonjis Roman nicht
weiter verfolgt: einerseits weil solche Vorhaben auch anderen literarischen Gattungen
zugeschrieben werden können und hier spezifisch der Fall von Migrationsliteratur untersucht
wird, die sich nicht notwendig mit Unterdrückung auseinandersetzt, andererseits weil vor
allem eine textorientierte Vorgehensweise dieser Arbeit zugrunde liegt, die sich nicht mit der
Biographie der Autorin beschäftigt.
Eine ‚interkulturelle Literatur‘ setzt die Diskussion über ‚Migrationsliteratur‘ in ihren
Ansätzen, über Kultur nachzudenken, weiter. Diese „kulturübergreifende und vielsprachige
Literaturbewegung“37 findet ihre Anfänge bei den Minderheiten der eingewanderten
MigrantInnen38 aber auch Bewegungen wie Exil beeinflussen ihre weitere Entwicklung. Im
Kontrast zu Rösch beschäftigt diese ‚interkulturelle Literatur‘ sich auf einer tieferen Ebene
mit der Gattungsdiskussion, da sie die politische, kulturelle und literarische Besorgnisse über
Migration enger miteinander verflechtet, ohne dass damit Unterdrückung gemeint wird. Die
Idee, kulturübergreifend zu arbeiten, setzt die traditionellen Kulturauffassungen, wie unten
von Welsch besprochen, in Frage und fordert durch eine öffentliche, theorietisch-literarische
Diskussion eine Änderung im politischen Handeln. Diese Literatur erkennt eine
„Kerndiskrepanz“ zwischen Zeit und Raum:
Da Vergangenheit und Zukunft unterschiedlichen Kulturräumen zugeordnet werden,
geraten Raum und Zeit aus dem Gleichgewicht und erhalten unterschiedliche
Stellenwerte. Während die Aufnahmegesellschaft die Priorität des Ortes hervorhebt,
negiert sie die mitgebrachte Vergangenheit der Ankommenden. Dem gegenüber setzen
die Ankommenden die Kontinuität ihrer Vorgeschichte, d.h. die Priorität der Zeit. 39
Diese Diskrepanz kann diese dank ihres grenzüberschreitenden Denkens überwunden werden.
Indem Zeit und Raum vereint werden und die Werke chronologisch behandelt werden, wird
nicht nur auf die Migrationsphase im Leben der AutorInnen fokussiert, wie auch Rösch mit
36
Rösch: Migrationsliteratur, S. 33.
Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Hg. v. Carmine Chiellino. Stuttgart: Metzler 2000, S.
51.
38
Vgl. Chiellino: Interkulturelle Literatur, S. 52.
39
Vgl. Chiellino: Interkulturelle Literatur, S. 53-54.
37
15
einer ‚MigrantInnenliteratur‘ beabsichtigt 40. Außerdem kann auch die im Ausland
entstandene, deutschsprachige Literatur von deutschen AutorInnen betrachtet werden. Die
Behandlung des Gegenstands „unabhängig von den Biographien der Autor/innen ist deswegen
notwendig“41, weil sie auch die künstlerische Freiheit zur Änderung im Werk der AutorInnen
respektiert.
Es gibt meines Erachtens zu viele gescheiterte Versuche, eine richtige Aufschrift für
Literatur von AutorInnen mit einem Migrationshintergrund zu finden. Die unterliegende
Diskussion über Kultur und MigrantInnen in Bezug auf literarischen Texten hat zu
verschiedenen Begriffsdefinitionen geführt. Sie scheint aber auch von der neueren
‚interkulturellen Literatur‘ nicht ganz aufgeklärt zu sein, wenn das Präfix „inter-“ noch immer
ein von Grenzen geprägtes Kulturdenken in sich trägt42. Die Gattungsbestimmung eines
Romans wie Tauben Fliegen Auf wird folglich innerhalb einer ‚Migrationsliteratur‘
untergebracht, die sich mit der Thematik der Migration beschäftigt und wobei Migration als
eine konstante, transnationale Bewegung aufgefasst wird. Solch eine Interpretation findet
ihren Niederschlag in der ‚transkulturellen Literatur‘ und wird im Rahmen der
Transkulturalität besprochen. Neben der textorientierten Behandlung des Romans wird hier
auch aus Rücksicht auf die SchriftstellerInnen dieser Texte nicht für eine zusätzliche
biographische
Einteilung
gewählt.
Manche
gehören
einer
zweiten
oder
dritten
Migrantengeneration an und rechnen sich selber nicht immer zu der Gruppe der
MigrantInnen, aus verschiedenen Gründen, z.B. weil sie Deutsch als Muttersprache statt die
Sprache der Vorfahren haben. Wenn AutorInnen zu der Gültigkeit einer ‚Migrationsliteratur‘
gefragt wird, sagen sie selber folgendes dazu:
Der Begriff «Migrationsliteratur» beinhaltet […] einen «sanften Ausschluss», mittels
dessen die Autoren vom Zentrum an die Peripherie abgeschoben werden. […] Auch
wenn es um die wissenschaftliche Beschreibung und Analyse des literarischen
Schreibens geht, greifen Kategorien wie «Migrationsliteratur» oder «Migrationsautor»
zu kurz. Vielmehr spielt die Migrationserfahrung als Besonderheit für das literarische
Schaffen eine Rolle […].43
40
Vgl. Rösch: Migrationsliteratur, S. 14.
Chiellino: Interkulturelle Literatur, S. 54.
42
Vgl. Wolfgang Welsch: „Was ist eigentlich Transkulturalität?” In: Hochschule als transkultureller Raum?
Beiträge zu Kultur, Bildung und Differenz. Hg. v. Lucyna Darowska u. Claudia Machold. transcript Verlag 2009,
S. 7. Vgl. dazu für die begrifflichen Klärung von Transkulturalität auch Olga Iljassova-Morger:
„Transkulturalität als Herausforderung für die Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik”. In: Das Wort.
Germanistisches Jahrbuch Russland 2009, S. 39.
43
URL: <http://migrationsfragen.ch/aktuell/diskurse-in-die-weite-kosmopolitische-raume-in-den-literaturen-derschweiz>. Publiziert 30/10/2010. Letzter Besuch 25/12/2011.
41
16
Die Bewegung von einem Zentrum weg ist genau dasjenige, was mit der Literatur
ausländischer AutorInnen entgegengesetzt worden war, wie auch in postkolonialen und
feministischen Ansätzen besprochen worden ist. Aber bevor die Relevanz dieser Theorien
zum Roman eingeführt wird, ist es notwendig, zuerst den Zusammenhang zwischen Migration
und Transkulturalität zu verdeutlichen, um den Übergang zu der postkolonialen Theorie zu
begründen.
2.1.2. Transkulturalität
In seinem Aufsatz „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ versucht Wolfgang Welsch anhand
der Kontrastierung zu einer traditionellen Kulturauffassung die Transkulturalität zu
definieren. Das alte ‚Kugelmodell’, zu dem „ein internes Homogenitätsgebot und ein externes
Abgrenzungsgebot“44 gehören, stellt Kulturen in klar abgegrenzten Kugeln dar. Eine solche
Konzipierung hat laut ihn eine Kommunikationsunmöglichkeit zur Folge, da solche
Kugelkulturen zur Konfrontation verurteilt sind 45. In der idealisierten Homogenität versuchen
diese Monokulturen sich von anderen zu differenzieren. Die transkulturelle Realität 46 ist aber,
laut Welsch, nicht mehr mit einer solchen kulturabgrenzenden Denkweise zu vereinen. Die
Verflechtungen und Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen, die er gerne als transkulturell
bezeichnen möchte, sind auch individuell zu verstehen und bilden sogar einen intrinsischen
Teil des Individuums.
Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle
Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle
Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität. […] Die Alternativen
zum Standard von einst liegen heute nicht mehr außer Reichweite, sondern sind
Bestandteil des Alltags geworden. Heutige Menschen werden zunehmend in sich
transkulturell. 47
Er kritisiert damit die synonym zu Transkulturalität verwendeten Multi- und Interkulturalität,
die seiner Meinung nach dem traditionellen Kugelmodell folgen. Mit Multikulturalität seien
die internen Kulturverhältnisse einer Gemeinschaft gemeint, während Interkulturalität eine
Interaktion zwischen verschiedenen Kulturen voraussetzt. Beide, aber, heben paradoxerweise
die Kulturgrenzen, die sie auszulöschen versuchen, hervor. Der Präfix „trans-“ aber
beschreibe etwas, „das durch die Kulturen hindurch geht und/oder jenseits der
44
Welsch: „Transkulturalität“, S. 2.
Vgl. Welsch: „Transkulturalität“, S. 2-3.
46
Vgl. Welsch: „Transkulturalität“, S. 10.
47
Welsch: „Transkulturalität“, S. 5.
45
17
herkömmlichen
Kulturvorstellungen
liegt“48.
Diese
individuelle
Belebung
der
Transkulturalität bestätigt den Stellenwert dieses Begriffes, obwohl ein Begriff wie
‚Mischlinge‘ die Kulturgrenzen eher zu bestätigen als zu übersteigen scheint.
Iljassova-Morger fasst drei Schwachstellen in der Argumentation von Welsch
zusammen, die vielfach genannt werden, das Konzept aber allgemein nicht anzweifeln49. Das
Wort „Transkulturalität“ beinhaltet, ebenso wie Multi- und Interkulturalität, eine
Kulturauffassung, die sie selber mit ihrem Präfix zu überwinden sucht. Eine Antwort auf
dieses Paradox findet Iljassova-Morger bei Welsch selber und formuliert diese als eine
Bewegung, die dank der und neben den „Einzelkulturen“ zu „einer neuen transkulturellen
Verfassung der Kulturen “ führt 50. Eine inhärent paradoxale Natur des Begriffes scheint in der
Annahme einer Entwicklung zur Transkulturalität als globale Realität zu münden. Auch diese
absolute Gültigkeit wird mit einer Warnung vor Etikettierung kontrastiert: Nicht alle
Lebensbereiche können einfach benannt werden und nicht alle sind überall von denselben
Migrations- und/oder Globalisierungstendenzen betroffen. So kann Erzählen sowohl trans- als
auch interkulturell interpretiert werden und bekommt vor allem die urbane und jüngere
Bevölkerung die größten Einflüsse der Transkulturalität. Eine letzte kritische Bemerkung
formuliert Iljassova-Morger im Bereich der Macht. Sie sagt, dass die Dynamik zwischen
Zentrum und Peripherie nicht überschätzt werden soll, da Asymmetrien sich selber bis jetzt
nicht aufzulösen wussten, obwohl die Transkulturalität sie auszugleichen beabsichtigt 51.
Darum sollen laut ihr die kulturellen Felder mit den politischen Raum kombiniert werden, um
„neben dem Diskurs der Vielfalt denjenigen der Macht kritisch mitzubedenken“ 52.
Diese sowohl von Welsch als auch von Iljassova-Morger formulierten Gedanken
werden in einer transkulturellen Vorgehensweise der Untersuchung einer möglichen
Emanzipation der Migrantin im Roman TFA erwägt. So wird Transkulturalität hier anhand
einer transnationalen Auffassung von Migration verstanden, die sowohl staatsnationale
Grenzen als auch die damit übereinstimmende Vorstellung von abgegrenzten Kulturen
übersteigt. Auf einer individuelleren Ebene wird die inhärente Transkulturalität – die vor
allem für die Hauptfigur Ildikó als von einem transkulturellen Dialog bestimmte Frau wichtig
ist – als eine Sammlung behandelt, weil diese die Metapher eines Patchworks die
Grenzüberschreitung besser deutet als ‚Mischlinge‘. Der Einfluss der Interkulturalitätstheorie
48
Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 39.
Vgl. Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 40.
50
Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 41.
51
Vgl. Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 43.
52
Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 43.
49
18
soll dabei aber nicht unberücksichtigt gelassen werden – so ist, z.B. der Gegensatz zwischen
‚fremd‘/‘eigen‘ wichtig für Vorstellungen über den Anderen – , aber es ist dabei wichtig, der
strukturelle Unterschied 53 zwischen ihr und Transkulturalität mitzudenken. Die politische
Ebene wird auch nicht vernachlässigt, aber wird hauptsächlich thematisch für die
Besprechung der Integration der Familie Kocsis im Roman von Belang sein. Was die
Transnationalität, wie von Welsch und Iljassova-Morger besprochen, schließlich in dieser
Arbeit kennzeichnet, ist das Maß an ‚negotiation‘, wie es von Bhabha formuliert und weiter
im folgenden Kapitel im Rahmen seiner Theorie erläutert wird.
2.2. Einfluss der postkolonialen Theorie: Homi K. Bhabhas Verortung der Kultur
Eine Erweiterung der theoretischen Diskussion neuer Themen wie das Hybriditätskonzept
stützt sich, laut Bhabha, auf
a space of translation: a place of hybridity, figuratively speaking, where the
construction of a political object that is new, neither the one nor the other, properly
alienates our political expectations, and changes, as it must, the very forms of our
recognition of the moment of politics. 54
Wichtig für die Entwicklung neuer Konzepte, oder neuer Perspektiven auf bereits bestehende
Konzepte, ist ein kritischer Dialog, der sich von doppeldeutigen und gegensätzlichen
Spannungsfeldern bewegen lässt und Ansichten modifizieren, und sogar ändern kann. Eine
solche Bewegung nennt Bhabha „negotiation“55, um die Begegnung von Differenzen
zwischen verschiedenen individuellen Hintergründen und Identifizierungen deuten zu können:
It is in the emergence of the interstices – the overlap and displacement of domains of
difference – that the intersubjective and collective experiences of nationness,
community interest, or cultural value are negotiated.56
Ein Beispiel einer solchen Diskussion ist diese über Kultur und die zugehörigen Inter/Transkulturalitätsdebatte, wie sie oben beschrieben worden ist. So können auch laut Bhabha
Modelle gemäß der Kugelauffassung von Kultur nicht mehr realistisch in die heutige Welt –
oder sogar die koloniale Welt – mit einbezogen werden. Er behauptet, nämlich, dass durch die
Ambivalenz
dieser
Überlappungen
die
historische
Idee
einer
vereinheitlichenden Kultur besonders angezweifelt wird 57.
53
Vgl. Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 45
Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London, New York: Routledge 1994, S. 25.
55
Vgl. Bhabha: Location, S. 25.
56
Bhabha: Location, S. 2.
57
Vgl. Bhabha: Location, S. 37.
54
19
homogenen
und
It is only when we understand that all cultural statements and systems are constructed
in this contradictory and ambivalent [third] space of enunciation, that we begin to
understand why hierarchical claims to the inherent originality of ‚purity‘ of cultures
are untenable, even before we resort to empirical historical instances that demonstrate
their hybridity. 58
Kulturen sind und waren für Bhabha immer ‚hybrid‘, wie auch dieser ‚dritte Raum‘, in dem
die Überlappungen zwischen Kulturen situiert werden, bezeichnet worden ist. Was er genau
unter ‚Hybridität‘ versteht, wird von Kritikern mit der gängigen deutschen Rezeption dieses
Begriffs kontrastiert.
2.2.1. Hybridität
Bhabhas hybrid geprägter ‚dritter Raum‘ scheint aus der Zurückweisung eines Denkens in
essentialistischen, binären Kategorien herauskristallisiert zu sein. Als Metapher für diesen
Raum verwendet er das Treppenhaus, wo eine Begegnung der beiden Enden gegenseitigen
Einfluss ermöglicht.
The stairwell as liminal space, in-between the designations of identity, becomes the
process of symbolic interaction, the connective tissue that constructs the difference
between upper and lower, [...]. The hither and thither of the stairwell, the temporal
movement and passage that it allows, prevents identities at either end of it from
settling into primordial polarities.59
Der ‚dritte Raum‘ setzt laut diesem Zitat keine Polaritäten voraus; die Äußersten dieses
Treppenhauses bleiben frei von klaren Grenzen.
Trotzdem enthält dieser Begriff genau das, was er zu vermeiden versucht, nämlich, die
Vorstellung einer Existenz von abgegrenzten Kulturformen an den Grenzen dieses Raums. So
trägt die Zuweisung der interkulturellen Begriffen, wie Bhabhas Hybridität und ‚dritten
Raum‘, eines ähnlichen Denkens in sich. 60 Worte wie „zwischen“ und „inter“ bekräftigen nur,
dass, was außerhalb des Zwischenraums besteht, klar zu definieren ist. Außerdem scheinen sie
trotz der Komponente der Mischung zu implizieren, dass auch die Hybridität, wie ein Rezept,
in ihren ‚ursprünglichen“ Bestandteilen aufgegliedert werden kann. Wie in der MultiInterkulturalitätsdebatte scheint auch diese Hybridität auf eine inhärent paradoxe
Namensgebung zu stoßen, ohne wirklich die Konzepte, die sie unterlaufen will, mit einer
eindeutigen Alternative bereitzustellen.
In den cultural studies kann Hybridität unter drei Typen verstanden werden. Erstens
gibt es die Verschmelzung von Unterschieden, die aus zwei eigenständige Formen eine neue,
58
Bhabha: Location, S. 37.
Bhabha: Location, S. 4.
60
Vgl. Iljassova-Morger: „Transkulturalität“, S. 44-45.
59
20
hybride Form erschafft. Zweitens werden Unterschieden als vermischt aufgefasst, wobei der
andauernde Einfluss der ursprünglichen, konstitutiven Unterschiede in der Mischung sichtbar
ist. Letztens, spricht man von „mixing of the already syncretic“ 61, wobei pure Formen der
Differenz angezweifelt werden und Hybridität die Norm aller Kulturen bildet. Diese letzte
Form entspricht Friedmans Hybriditätsauffassung, die eine Unmöglichkeit des Essentialismus
voraussetzt62 und weiter in Begriffen von Funktion, Zeit, Raum, und Macht 63 ‚mappiert‘
werden kann.
Kien Nghi Ha verteidigt in Hype um Hybridität Bhabhas Hybriditätskonzept gegen
solche Einwände aus zweierlei Sicht. Er befürwortet eine transkulturelle Auffassung von
Bhabhas Hybridität, die nicht einfach als Mischung verstanden werden kann.
Wenn Hybridität als reine Vermischung ganzer Kulturen gedacht wird, dann
missdeutet man Bhabha gründlich, der sich so oft vehement gegen essentialistische
Modelle kultureller Diversität und multikulturellen Exotismus ausgesprochen hat. 64
Bhabha ist, laut Ha, in der deutschen Rezeption dieses Begriffes missverstanden, da sie eine
kulturelle Vermischung lobt und einen Bild der MigrantInnen als „unterhaltsamen Exoten“
aufführt65, während das Selbstbild einer zweiten oder dritten MigrantInnengeneration sich als
komplexer erweist. Mit dem ‚dritten Raum‘ hofft Bhabha sich Zutritt zu verschaffen in
an international culture, based […] on the inscription and articulation of culture’s
hybridity. […] it is the ‚inter‘ – the cutting edge of translation and negotiation, the inbetween space – that carries the burden of the meaning of culture. 66
Bhabhas ‚in-between space‘ soll also nicht buchstäblich als, wie eine Art dritte
‚Zwischenmöglichkeit‘ in grenzkonnotierten Gegensatzpaaren wie Eigen/Fremd, innen/außen
u.Ä. erfasst werden67. Vielmehr wäre hier ein Denken ‚beyond‘ Grenzen an der
Tagesordnung, wie im Französischen „au-delà“68, das eine fortwährende Bewegung ohne
konkrete Richtung, eine „disorientation“ sogar, voraussetzt 69. In diesem Sinne kann die
transnational aufgefasste Migration damit übereinstimmen, und folglich auch eine
transkulturelle Denkweise der Hybridität als unaufhörliche Dynamik zwischen verschiedenen
Kulturräumen. Diese grenzüberschreitende Bewegung wird außerdem transkulturell
61
Friedman: Mappings, S. 84.
Friedman: Mappings, S. 92-93.
63
Vgl. Friedman: Mappings, S. 85.
64
Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im
Spätkapitalismus. Bd. 11. Hg. v. Rainer Winter. Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 94.
65
Vgl. Ha: Hype, S. 94-95.
66
Bhabha: Location, S. 38.
67
Vgl. Ha: Hype, S. 88.
68
Bhabha: Location, S. 1.
69
Vgl. Bhabha: Location, S. 1.
62
21
verstanden, indem die Idee der kulturellen Grenzen mitgedacht wird, um ihre Gültigkeit
folglich in der individuellen Erfahrung der Hybridität zu hinterfragen. Ebenso wie der ‚dritte
Raum‘70 ist auch die Mühe, ‚beyond‘ zu gehen, „unrepresentable, without a return to the
‚present‘ which, in the process of repetition, becomes disjunct and displaced“ 71. Das
Hybriditätskonzept kann also um die transkulturelle Dimension ergänzt werden, was bedeutet,
dass die kulturellen Grenzen nicht verleugnet werden, dass aber auch die Möglichkeiten
jenseits der Grenzen erkundet werden.
2.2.2. Saids Orientalism auf dem Balkan: Imagining the Balkans
Wichtig für diese Dynamik, wie Bhabha sie mit ‚beyond‘ formulierte, ist die Einbeziehung
der Kulturräume, zwischen denen die transkulturellen MigrantInnen Übergange kreieren
sollen. Die Weise, wie mit der Verschiedenheit der Kulturräume im Roman umgegangen
wird, ist eine Frage, die die literarische Auseinandersetzung prägen wird. Die Schwierigkeit
dieses Verfahrens kann schon an dieser Stelle anhand der Besprechung von Erwartungen und
Vorurteilen über eine andere Kultur einigermaßen geklärt werden.
Die Arbeit von Edward Said bildet dabei ein wichtiger Ausgangspunkt, da er in
Orientalism den westlichen Diskurs über die orientalische Welt analysiert, der definiert wird
als „a created body of theory and practice in which, for many generations, there has been a
considerable material investment“72. Der Diskurs der Wissenschaften, Medien, usw. im
Westen konstruiert laut Said die Kultur des Orients und ermöglicht auf diese Weise eine
europäische Identität. Er verwendet des Gegensatzpaares us/them im Rahmen einer
hegemonialen Idee der europäischen Kultur „as a superior one in comparison with all the nonEuropean peoples and cultures“73. In der (interkulturellen) Fremdheitsforschung wird schon
seit langem angenommen, dass die eigene Identität sich durch eine Kenntnis des Anderen
fassen lässt.74 De Toro spricht eher von Stigmatisierung des Anderen, wenn das sgn. ‚Wir‘
sich dank der Konstruktion eines irrationalen ‚Sie‘ als rational definiert 75. Um mit Saids
Worten diese Diskussion von ‚eigen‘/‘fremd‘ zu schließen: „Orientalism is – and does not
70
Vgl. Bhabha: Location, S. 37.
Bhabha: Location, S. 4.
72
Edward Said: Orientalism. London: Routledge and Kegan Paul 1980, S. 6.
73
Said: Orientalism, S. 7.
74
Vgl. Handbuch Interkulturelle Germanistik. Hg. v. Alois Wierlacher und Andrea Bogner. Stuttgart: Metzler
2003, S. 233.
75
Vgl. Alfonso De Toro: „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der
Hybridität und des Körpers als transnationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“. In:
Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hg. v. Christof Hamann und Cornelia
Sieber. Hildesheim: Olms 2002, S. 21-22.
71
22
simply represent – a considerable dimension of modern political-intellectual culture, and as
such has less to do with the Orient than it does with „our“ world“ 76. Der Anlass eines solchen
Diskurses, der eine überlegene Position den (ehemaligen) Kolonien gegenüber erzeugt hat,
situiert er in der kolonialen Vergangenheit Europas.
Maria Todorova bearbeitet
in ihrem Werk
Imagining the Balkans Saids
‚Orientalismus’-Konzept, indem sie es auf den Balkan anwendet. Ein wichtiger Unterschied
zwischen den zwei Konzepten wird deutlich, wenn sie den Balkan als einen historisch und
geographisch konkreten Raum behandelt, während der Osten einer relativeren, abstrakten Art
ist77. So änderte sich die Auffassung des Ostens historisch, abhängig vom Volk, das den Osten
vertrat: Im alten Griechenland war der Orient synonym für die nördlich gelegenen,
‚barbarischen‘ Thraker und Skythen, während im Byzantinischen Reich den Westen die
Barbarei verkörperte. Nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich werden Osten und Westen
antagonistisch behandelt. Die zeitliche Ebene78 nennt Todorova sogar die wichtigste
Komponente in gegenwärtigen Vorstellungen über den Gegensatzpaar Ost/West, die den
Osten aus wirtschaftlicher Sicht mit Aussprachen als „industrial backwardness“ oder
„irrational [and] unmarked by Western Enlightenment“79 negativ konnotieren. Solche
Vorurteile sind auch in den sgn. ‚balkanisms‘ 80 verfasst, die mit den ‚Anderen‘ von Europa
befasst sind81.
Eines der Klischeebilder über die Bevölkerung auf dem Balkan ist die Verweigerung
„to conform to the standards of behavior devised as normative by and for the civilized
world“82. So haben Konflikte auf dem Balkan durch das 20. Jahrhundert zu der Überzeugung
geführt, dass Barbarei ein inhärentes Merkmal seiner Bevölkerung ist. Eine „Balkanisierung“
wird laut Todorova nicht nur mit Bezug auf eine politische Zersplitterung von Staaten
verwendet, sondern auch für eine „reversion to the tribal, the backward, the primitive, the
barbarian“83. Sie hält u.a. die Reiseberichte, die vom Balkanleben erzählen, ohne dass die
AutorInnen es notwendig erlebt oder gesehen haben, verantwortlich für einen solchen
balkanistischen Diskurs. Die mangelhaften Kenntnisse, wie von diesen Texten dargestellt,
bekamen im Lauf der Jahre politische, soziale und kulturelle Untertöne, wodurch „the
complete dissociation of the designation from its object, and the subsequent reverse and
76
Said: Orientalism, S. 12.
Vgl. Maria Todorova: Imagining the Balkans. Oxford: Oxford University Press 1997, S. 11.
78
Vgl. Todorova: Imagining, S. 11-12.
79
Todorova: Imagining, S. 11.
80
Vgl. Todorova: Imagining, S. 11.
81
Vgl. Todorova: Imagining, S. 3.
82
Todorova: Imagining, S. 3.
83
Todorova: Imagining, S. 3.
77
23
retroactive ascription of the ideologically loaded designation to the region, particularly after
1989“84 ermöglicht wurde.
2.2.2.1. Das koloniale Verhältnis zwischen dem Balkan und dem Westen
Vielmehr als von einer kolonialen Vergangenheit geprägt oder von einer östlichen Verortung
wird der Balkan als eine Brücke zwischen den abstrakten Kategorien Osten und Westen
gesehen. Samuel Huntington verteilte die Welt in sgn. ‚Kulturräume‘85, wobei die Grenzen
Europas von ihm an den Übergang vom Christentum zur Orthodoxie und Islam lokalisiert
werden86. Eine klare Trennung zwischen Ost und West wird von dem Balkan, der die drei
Religionen vertretet, gefährdet. Die Brücke-Metapher wird mit einem Übergangscharakter
gleichgestellt und schreibt dem Balkan Merkmale wie „semioriental“ und sogar
„semicolonial“ zu87. Die Frage nach einer kolonialen Vergangenheit auf dem Balkan hat sich
in der Tat mehrmals in Bezug auf Deutschland und den deutschsprachigen Raum gestellt, aber
ist noch nicht ausführlich untersucht worden88. Lützeler spricht von Deutschlands kolonialen
Absichten zum slawischen Osten während des Mittelalters, die mit dem heutigen Österreich
übereinstimmen89. Später setzte Hitler diese kolonialen Ziele zum Osten aus ökonomischen
Gründen fort: In Osteuropa […] lockten – nicht in entfernten Weltregionen, sondern
gleichsam vor der Haustür liegend – die Tresore von Staatsbanken, Industriegebiete,
ertragreiche Landwirtschaften und Bodenschätze.90
Obwohl das Ottomanische Reich und die Doppelmonarchie beide auf dem Balkan
dominiert haben, wird das Gebiet nicht als Kolonie behandelt. Die Diskrepanz zwischen
abstraktem Orient und konkretem Balkan erschwert laut Todorova die Verwendung der
orientalistischen Theorie auf dem Balkan. Wegen „the absence of a colonial legacy“ 91 und
„the [negligable] self-perception of being colonial or not“ rechnet sie den Balkan zu Europa
und nicht zum Orient. Detrez stellt aber, dass laut neueren Interpretationen auch angrenzende
84
Todorova: Imagining, S. 7.
Die in dieser Arbeit erwähnten ‚Kulturräume‘ werden nicht im Sinne von Huntington, sondern im
transkulturellen Sinne verwendet. Eine genaue Grenze zwischen diesen Räumen ist nicht zu ziehen, vielmehr ist
von einer Wolkensammlung als von Räumen die Sprache, wobei der Übergang zwischen den verschiedenen
Wolken nicht abgegrenzt werden kann.
86
Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York:
Simon&Schuster 2003, S. 158.
87
Vgl. Todorova: Imagining, S. 16.
88
Eigler/Kord: Feminist Encyclopedia, S. 409.
89
Vgl. Paul Michael Lützeler: „Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur“. In: Schriftsteller und
"Dritte Welt". Studien zum postkolonialen Blick. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Tübingen: Stauffenburg Verlag
1998, S. 23.
90
Lützeler: „Einleitung“, S. 24
91
Todorova: Imagining, S. 20.
85
24
Gebiete im Koloniebegriff einbezogen werden können92, um folglich seine Diskussion der
semi-kolonialen Vergangenheit dieser zwei Fremdherrschaften auf den Balkan einzusetzen.
Er stellt aber paradoxerweise eine politische und wirtschaftliche Abhängigkeit fest, die das
Ottomanische Reich vom 17. Jahrhundert ab zunehmend von den westlichen europäischen
Mächten erfuhr93. Detrez und Todorova sprechen beide von „the legalistic distinction“94
zwischen Kolonien, wie sie in Bezug auf Afrika, Asien und Amerika behandelt werden, und
dem Balkan. Die koloniale Erfahrung dieses Gebietes wird eher als ‚semi-/quasiKolonialismus‘ bezeichnet95, konsistent mit dem erwähnten Zwischenzustand:
This ›semi-colonialism‹ matches amazingly well into the general, albeit rather
simplistic picture of the Balkans as a political and cultural transitional zone, a ›semi‹area between Europe and Asia. The Balkans are also ›semi-oriental‹. […] As Said has
shown, there exists a close relationship […] between being colonized and being
perceived as Oriental. The Balkans, having been but semi-colonised, is perceived
consistently as semi-oriental. 96
Während Todorova selber der Anwendung eines orientalistischen Modells auf den Balkan
skeptisch gegenüber steht, scheint dieser Semi-Zustand den Einbezug von orientalistischen
und postkolonialen Modellen in gewissem Umfang zu erlauben.
2.2.2.2. ‚Mental mappings‘: Balkanismen und Okzidentalismen
Todorova fasst in ihrer Argumentation über Balkanismen Kritik an Saids Werk zusammen,
die ihn von essentialistischen und fast reduktionistischen Darstellungen von dem Westen und
Europa beschuldigt 97. Die Auffassung homogener Kulturen98 birgt die Gefahr in sich,
Stereotypen zu verstärken, wodurch die Kommunikation mit Minderheitsgruppen in einem
transkulturellen Kontext erschwert wird. Alfonso de Toro zieht den Begriff ‚Postkolonialität‘
vor, um ähnliche Kritik zu vermeiden, indem sowohl den Kolonisatoren als den Kolonisierten
Mitspracherecht in der postkoloniale Debatte eingeräumt wird. Petra Günther warnt aber in
diesem Kontext vor der „Kurzschlüssigkeit, mit der […] Postkolonialismus und
92
Vgl. Raymond Detrez: „Colonialism in the Balkans. Historic realities and contemporary perceptions“. In:
URL: <http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/RDetrez1.pdf>. Letzter Besuch: 8/8/2012, S. 1. Ich danke Prof.
Dr. Raymond Detrez für seine Einsichten, die er in den Vorlesungen mit mir und meinen KommilitonInnen zum
Thema Kolonialismus in Bezug auf dem Balkan wie auch zu den Balkanismen teilte.
93
Vgl. Detrez: „Colonialism“, S. 2.
94
Detrez: „Colonialism“, S. 3. Und: Todorova: Imagining, S. 16.
95
Vgl. Detrez: „Colonialism“, S. 3.
96
Detrez: „Colonialism“, S. 3.
97
Vgl. Todorova: Imagining, S. 8-9.
98
Vgl. Petra Günther: „Die Kolonisierung der Migrantenliteratur.“ In: Räume der Hybridität: postkoloniale
Konzepte in Theorie und Literatur. Hg. v. Christof Hamann und Cornelia Sieber. Hildesheim: Olms 2002, S.
152.
25
Migrantenliteratur aufeinander bezogen werden“99. Sowohl in der Besprechung von
Migrationsliteratur im Rahmen der Inter-/Multi- und Transkulturalismusdebatte als auch im
postkolonialen Diskurs werden dieselben Themen, wie z.B. Identität/Alterität/Hybridität oder
Zentrum/Peripherie, große Wichtigkeit haben. Der Roman Tauben Fliegen Auf wird wohl
aufgrund einiger postkolonialer Konzepten analysiert, aber die Absicht ist nicht, um die
Einheimischen bzw. Ausländischen mit den Kolonisatoren bzw. Kolonisierten gleichzustellen.
Der Migrationskontext benötigt einen Rahmen, der ihrer eigenen Dynamik angemessen ist.
Sowohl die Idee homogener Kulturen als eine postkoloniale Interpretation der Migration
werden im Konzept der sgn. ‚mental mappings‘ kombiniert, wobei die gegenseitigen
Vorstellungen zwischen Einheimischen und Ausländischen besprochen werden.
‚Mental mapping‘ ist eine symbolische Geographie 100, die sich mit Identität/Alterität
der verschiedenen sozialen Gruppen, hauptsächlich aus geographischer, geschichtlicher und
kultureller Hinsicht, in der Gesellschaft auseinandersetzt. Die eine Seite dieser ‚Mappings‘
betrifft die Balkanismen, die im Roman von den Schweizern geäußert werden. Sie stellen
nämlich dar, wie der Balkan im sgn. ‚Westen‘, der von der Schweiz verkörpert wird,
perzipiert wird. Ebenso wie es Orientalismen und Balkanismen gibt, werden auch
Okzidentalismen untersucht, die den Westen als „Gegenstand der Bewunderung und
gleichzeitig der Frustration und des Hasses“ darstellen 101. Studien zu diesen Vorstellungen
vom Westen sind leider nicht hinreichend vorhanden102. De Toro zufolge ist ein Verständnis
von beiden Gruppen, und nicht nur von einer, interessant um die transkulturelle Prägung der
MigrantInnen im Roman zu besprechen, z.B. ob und wie sie als Objekt dieser
Balkanismen/Okzidentalismen gesehen werden können. Wichtig ist aber in dieser
Besprechung des Romans, um besonders den Migrantinnen Beachtung zu schenken.
2.3. ‚Mappings‘ des weiblichen Raumes: Gender und Migration
Wenn nach der Emanzipation der Migrantin gefragt wird, sollen nicht nur die Verhältnisse
zwischen den kulturellen Räumen, in denen sie sich bewegt, und einen möglichen kolonialen
Hintergrund betrachtet werden, sondern auch die Dimension von Gender. Spezifisch wird in
der Besprechung des Romans die Frau und die genderspezifischen Rollen, die gezwungen
99
Günther: „Migrantenliteratur“, S. 153.
Predrag Marković: „Die Deutschen als Naher Westen der Serben. Vorstellungen von den Deutschen und
Deutschland in der modernen serbischen Geschichte“. In: Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und
Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhaussen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ulf Brunnbauer.
München: R. Oldenbourg Verlag 2007, S. 540.
101
Marković: „Naher Westen“, S. 539.
102
Vgl. Marković: „Naher Westen“, S. 539.
100
26
oder freiwillig aufgenommen werden, mit Bezug auf Ildikó in ihrer familialen und
interpersonalen Position untersucht. Die Frauen bilden in der Migrationsforschung eine
Gruppe, die zu wenig erkundet worden ist.103 Wenn die Frau innerhalb des Migrationsthemas
untersucht wurde, dann wurde sie als passives Objekt der Migration ihres Mannes
dargestellt. 104 Migration wird im weiteren Sinne als eine andauernde Bewegung verstanden,
die auch nicht in der Einwanderungsgesellschaft aufhört, und Gender ist für eine erweiterte
Besprechung von Ildikó als Migrantin in dieser Konstellation interessant.
Die erwähnten Mappings sind auch in Bezug auf einen transkulturellen Feminismus
sehr gewünscht. Susan Stanford Friedman gründet ihre Arbeit auf die Idee mehrerer
Feminismen und Bhabhas Konzept ‚beyond‘, um folglich in ihrem ersten Kapitel ‚beyond‘
Gender und Differenz zu gehen. Die Hybridität in der Erfahrung von Gender und Kultur langt
im Zentrum dieser Diskussion an, wenn absolute Unterschiede angezweifelt werden.
Friedman versucht nicht nur binaristisch-hegemoniale Konstellationen, sondern auch
„reductionist meta-narratives of globalization“105 zu vermeiden. Ein Beispiel eines
verallgemeinernden Denkens ist die Idee, dass weltweit alle Frauen aufgrund ihres
Geschlechts dieselbe Unterdrückung erfahren. Im Feminismus wird diese Auffassung als „the
difference impasse“106 bezeichnet, um Unterschiede zwischen Frauen in Bezug auf
Kategorien wie Klasse, Ethnizität, Herkunft, Religion, u.Ä. zu beachten. Der Weg zu
‚feminisms‘ setzt Differenz als Norm voraus, um die Überlegenheit einer Form des
Feminismus über andere zu vermeiden107. Die Vielheit von geographisch und zeitlich
verschiedenen Situationen rufen Genderkonstellationen hervor, die dynamisch und einander
unähnlich sind. Die feministische Vorgehensweise in der Besprechung von Abonjis Roman
stimmt demzufolge überein mit Friedmans „locational feminism“, der folgendes als
Forschungsbereich hat: the study of difference in all its manifestations without being limited
to it, without establishing impermeable borders that inhibit the production and visibility of
ongoing intercultural exchange and hybridity.“ 108 Achtung für Differenz zwischen Frauen ist
wichtig, um eine angemessene Form des Feminismus für die von Hybridität und
Transkulturalität geprägten Migrantinnen zu gestalten. Friedman versucht „the spaces in
103
Vgl. Floya Anthias und Gabriella Lazaridis: „Introduction: Women on the Move“. In: Gender and Migration
in Southern Europe. Women on the Move. Hrsg. Floya Anthias und Gabriella Lazaridis. Oxford: Berg 2000, S. 1.
104
Vgl. Caroline Brettell: Anthropology and Migration: Essays on Transnationalism, Ethnicity, and Identity.
Walnut Creek: AltaMira Press 2003, S. 139. Und: Vgl. Moch: „Gender and Migration“, S. 98-99.
105
Friedman: Mappings, S. 5.
106
Vgl. Friedman: Mappings, S. 10. Ursprünglich wurde diese Auffassung von Mary Louise Fellows und
Sherene Razack im Aufsatz „Seeking Relations“ theorisiert.
107
Vgl. Friedman: Mappings, S. 4.
108
Friedman: Mappings, S. 5.
27
between difference“109 zu theorisieren, um so diese Hybridität besser deuten zu können. Ein
endgültiger Abschied von Differenz wird aber nicht damit gemeint, sondern eine Einladung,
die theoretisch unzureichend erfasste Gleichheit zu beachten 110 und deswegen Mimesis und
Alterität auch im Hybriditätsdiskurs einzubegreifen. Auf diese Weise können die Grenzen, die
von einem interkulturellen Verhältnis impliziert werden, überstiegen werden.
109
110
Friedman: Mappings, S. 68.
Vgl. Friedman: Mappings, S. 75-76.
28
3. Zeiterfahrung in der Migration: das Auswanderungsland
3.1. Tito: Führer eines sozialistischen Jugoslawiens
1980 verursachte Marschall Titos Tod große politischen Änderungen im sozialistischen
Jugoslawien. Mit Tito verlor das Land eine einflussreiche Figur, die im Kommunismus
interne Differenzen sozialer, religiöser, ethnischer und sprachlicher Art in einem Land
vereinte.111 Ab 1945 war er der einzige Führer eines sozialistischen Jugoslawiens, das sich
aber schnell vom kommunistischen Vorbild der Sowjetunion abgetrennt hatte. Er wusste die
Einwohner der sechs Republiken und der zwei 1974 autonom erklärten Provinzen, Vojvodina
und Kosovo, unter einer eigenen, jugoslawischen Form des Sozialismus zu führen, des
sogenannten Titoismus. Die Idee war, dass eine besondere Form des Kommunismus für ein
bestimmtes Volk modelliert werden soll und nicht einem festen Muster nachgefolgt wird. Da
das Land aber von einer einzigen sozialistischen Partei geführt wurde, die eine
vernachlässigbare Opposition tolerierte, soll die – auch im Buch thematisierte – Autorität des
Kommunismus betrachtet werden. So gab es zum Beispiel die berüchtigte Sträflingsinsel Goli
Otok (ins Deutsche übersetzt in ‚nackte Insel‘) vor der kroatischen Küste, wo
Andersdenkende zum Sozialismus ‚umerzogen‘ wurden. 112
Im zweiten Weltkrieg wurde die Monarchie unter Petar II Karađorđević von den
Faschisten besetzt, aber die letzte Gruppe wurde dank der Partisanen unter Tito vertrieben.
Diese Angehörigen von Titos kommunistischer Volksbefreiungsarmee wurden als Helden
empfangen und gewannen die Wahlen. Am 29. November 1945 wurde die Föderative
Volksrepublik Jugoslawien gegründet und 1963 wurde sie zur Sozialistischen Föderativen
Republik Jugoslawien umbenannt. Schon bevor die legale Macht eingestellt wurde, hatte Tito
im Jahr 1944 die Abteilung zum Schutz des Volkes (OZNA) aktiviert, um Kollaborateure und
Sympathisanten der Okkupationsmächte aufzuspüren. Verschiedene Strafen, wie die schon
erwähnte Zwangsarbeit und sogar der Tod, aber auch die Aberkennung der Bürgerrechte oder
Enteignungen sollten die Menschen folglich davon überzeugen, sich dieser neuen politischen
Konstellation zu fügen. Das Gesetz, das im selben Jahr der Machtübernahme Enteignungen
legalisierte, verteilte die eingenommenen Teile der Bauernwirtschaften unter Landlosen und
111
Vgl. Caroline Fetscher: „Der postmoderne Despot“. In: Der Tod des Diktators: Ereignis und Erinnerung im
20. Jahrhundert. Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2011, S. 259.
112
Vgl. Claudio Magris: „Alla Cieca“. In: Transkulturation: Literarische und mediale Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt. Hg. v. Vittoria Borsò und Heike Brohm. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 24.
29
Kleinbauern113, in der Anstrengung, um Gleichheit konform mit dem kommunistischen Ideal
zu kreieren.
3.2. Vergangenheitsdiskurse im Roman
Vor diesem historischen Hintergrund wird die Besprechung der Vergangenheitsdarstellungen
im Roman geführt. Zuerst erklärt die Geschichte von Ildis Großeltern mit den Kommunisten
den Übergang zu der persönlichen Eben der Geschichteerfahrung, um folglich die Diskussion
über den elterlichen Vergangenheitsdiskurs anzufangen. Dabei wird auf Ildis Umgang mit
diesen persönlichen Erzählungen über die Vojvodiner Vergangenheit fokussiert.
3.2.1. Die Erfahrung der Geschichte in der Familie Kocsis: die Großeltern
Für Ildis Vater Miklós ist die Sache einfach: ‚Die‘ Kommunisten sind alle gleich und dazu
gehören auch ‚alle‘ Serben. Sein Haß auf Kommunisten wird bei der zweiten Reise in die
Vojvodina im Buch vorweggenommen, wenn die Familie nach einer gründlichen
Durchsuchung des Autos an der Grenze letztendlich Jugoslawien hineinfährt. Im dadurch
verursachten „Wortschwall unseres Vaters“ gibt es „eine verschwiegene Geschichte […], die
mitten in Vaters Herz führt, die Geschichte von Papuci, dem Vater unseres Vaters“ 114, und die
bis zu einem der letzten Kapitel im Roman, „Mamika und Papuci“, unerzählt bleibt. Die
Schwestern erfahren diese Erzählung von ihrer Großmutter Mamika, die ihnen von den
sozialen Folgen der vielen Machtwechsel, die ihr Leben auf dem Land zerstört haben, erzählt.
Diese Kommunisten „wüteten“115, wie Mamika erzählt, und verursachten jedes Jahr
„neue Schrecken“116, sodass ihr ein „einfaches Leben“117 erschwert wurde. In solch einem
Leben wird „mit den Viechern gelebt“118, wobei Mamika und Papuci die Tiere „immer auch
als Teil [ihrer] Seele“119 empfunden haben. Die Politik wird diesem Leben gegenübergestellt,
indem Papuci den Grund für Titos kurzen Namen darlegt:
Hat man je von einer Schokolade, von einem Waschmittel mit einem langen,
komplizierten Namen gehört? Alles, was wir nicht unbedingt brauchen, soll sich mit
blödsinnigen plumpen Namen in unseren Köpfen einnisten. 120
113
Vgl. Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H.Beck 2010, S. 185.
Melinda Nadj Abonji: Tauben Fliegen Auf. 10. Aufl. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2011, S. 68.
115
Abonji: TFA, S. 253.
116
Abonji: TFA, S. 254.
117
Abonji: TFA, S. 254.
118
Abonji: TFA, S. 250.
119
Abonji: TFA, S. 250.
120
Abonji: TFA, S. 254.
114
30
Indem Tito, der Führer dieser terrorisierenden Kommunisten, als ein überflüssigen
Konsumprodukt dargestellt wird, kritisiert Papuci damit im Grunde seine Politik. Die
Entscheidungen, die er im obersten politischen Feld nimmt, beeinflussen die Bevölkerung auf
dem Lande, wie Ildis Großeltern. Laut den Kommunisten besitzen die Großeltern
„unrechtmässig erworbenes Land“121 und werden erzwungen es abzuliefern. Diese
Kommunisten sind aber keine Unbekannte, sondern ehemalige Arbeitskräfte auf dem
Bauernhof der Großeltern. Die Machtänderung zum Vorteil des Kommunismus scheint einen
Wechsel unter den Menschen hergestellt zu haben, sodass die Zugehörigkeit und Treue zu der
Partei jetzt von allen gefordert wird.
Während Papuci nur sein einfaches Leben wollte und dachte, dass diese neue
Machtform, wie auch der König und die Faschisten vorher, verschwinden würde, wusste
Mamika, dass sie fliehen und sich verstecken sollten. Sie sah ein, dass eine Verweigerung,
Genossen der Partei zu werden, sie zu Landfeinden verwandeln konnte. Bei Onkel Móric,
dem Bruder von Miklós, ist die Erbitterung über die verlorenen Landteile noch sichtbar,
sodass Ildi feststellt: „warum einem Land gehören kann und dann nicht mehr, war eine jener
ungestellten Fragen“122. Móric selber trägt einen tiefen Hass gegen Kommunisten in sich,
nachdem er täglich seinen Vater während der Verhöre vor der Absiedlung ins Kohlebergwerk
rufen hörte. Nachdem Papuci ohne Haare aus dem Arbeitslager zurückgekehrt war, und im
selben Jahr noch stirbt, erinnert Miklós sich an die Kommunisten. Laut ihm verweigerten sie,
den Läusepulver für Papucis „blutig gebissenen Schädel“ 123 am 1. Mai zu versenden, weil
man an diesem Tag Urlaub hatte. Während die Geschichte der Großeltern parallel zu der
Geschichte Jugoslawiens zur Zeit dieser Änderungen läuft, hat sich für ihre Söhne eine ganz
andere Geschichte herausgebildet. Die persönliche Ebene ist bei Miklós und Móric in diesem
historischen Rahmen stärker anwesend als bei ihren Eltern. Miklós übersetzt die
traumatischen Erinnerungen, die den Landverlust und den erschöpften Vater mit dem
Kommunismus verknüpfen, in einer Privatfehde gegen alle Kommunisten. Diese persönliche
Ebene in Miklós Geschichte die Besprechung der Geschichtserfahrung der Eltern ein, um Ildis
Verhältnis zu dieser Vergangenheit zu erforschen.
121
Abonji: TFA, S. 255.
Abonji: TFA, S. 212.
123
Abonji: TFA, S. 249.
122
31
3.2.2. Elterliche Autorität in persönlichen Geschichten
Mit „immer noch alles genau gleich“124 wird der erste gesprochene Satz im Buch vom Vater
realisiert und sein erbitterter Ton in „hat sich nichts verändert, gar nichts“ 125 wird mit der
naiven Hoffnung von Ildi kontrastiert, wenn sie mit der Frage „Alles noch da?“ 126 ihre
„ängstlichen Inspektionen“ durchführt, da sie „nichts so sehr fürchte[t] wie die
Veränderung“127. Vom ersten Moment an wird der Vater mit einer gewissen Autorität, die
keinen Widerspruch duldet, in einem engen historischen Verhältnis zu der Vojvodina gestellt.
Dieser Ausdruck seiner Erbitterung verrät nämlich seine Kenntnisse über die Provinz, in der
er gewohnt hat, bevor er in die Schweiz zog. Diese Autorität setzt sich durch, wenn Ildi nicht
die Mut hat, ihrem Vater zu sagen, dass sie sich für Geschichte interessiert, „weil es für ihn
am weitesten von dem entfernt ist, was ein sinnvolles Studium ist“128. Nicht die Arbeit im
Mondial, sondern ihre selbst ernannte Suche scheint der eigentliche Grund zu sein, warum sie
mit ihrem Studium aufgehört hat und behauptet: „(ich, die Vater nicht sagen kann, dass sie
immer noch am Suchen ist, weil das für Vater ein Reizwort ist […])“129. Ihre Suche wird von
ihm als ein zielloses Unternehmen umschrieben und ihre Vorkenntnis über seine Meinung zur
Geschichte schränkt ihre Ausdrucksmöglichkeiten ein. Ihr mündlicher Ausdruck ereignet sich
demzufolge nicht in direkter dialogischer Form, sondern zwischen Klammern.
Die Geschichten über die Vergangenheit des Vaters werden andererseits niemals von
ihm selber erzählt. Er wird von einer introvertierten Stille charakterisiert, die seine Abneigung
zur Äußerung von persönlichen Erfahrungen spiegeln. Diese Stille wird nur einmal von
Tränen gebrochen, wenn er und Ildi mit dem Wagen in die Vojvodina fahren, um Mamikas
Beerdigung beizuwohnen. Der Vater flucht auf Ungarisch und verwünscht jeden während
dieser Autofahrt, aber auch ständig im ganzen Roman, und dieses Bild ihres bösen, lauten
Vaters, der aber inhaltlich nichts ausdrückt, ist Ildi nicht unbekannt. Sie sieht sogar eine
Schönheit in diesen Flüchen und macht sich Gedanken, wie sie seine Worte übersetzen
könnte: „Wenn nämlich bereits ein Wort keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes
Leben in der neuen Sprache erzählt werden?, dann kann nur das Schweigen oder die
verkürzte, dramatische Form des Fluches davon erzählen, wie es gewesen ist“130. Sein
Kommunikationsmittel ist vielmehr die Stille, eine Ausdrucksform, die sie sehr gut versteht.
124
Abonji: TFA, S. 5-6.
Abonji: TFA, S. 6.
126
Abonji: TFA, S. 13.
127
Abonji: TFA, S. 13.
128
Abonji: TFA, S. 98.
129
Abonji: TFA, S. 99.
130
Abonji: TFA, S. 165.
125
32
Auch Ildi ist mehr dazu geneigt, statt zu sprechen, ihre Meinungen zu verinnerlichen in
Klammern. Vaters Geschichte in der Vojvodina wird von Ildis Großmutter Mamika
eingeführt und erzählt. In ihren Erzählungen, in denen die Erzählinstanz – im Gegensatz zu
Rózsas Geschichten (siehe unten) – nicht von Ildis Klammern gestört wird, mischt Mamika
persönliche Bemerkungen und Erfahrungen ein und überherrscht die Fokalisierung aus ihrer
Perspektive. Sie ist eine Ich-Erzählerin, die in ihrem direkten Dialog die Schwestern aktiv in
ihren Erzählungen einbezieht, weil sie ihre Enkelinnen, Nomi und Ildi, Fragen stellt und sie
mit „ihr“ anredet. Von Mamika entdecken die Schwestern über die erste Ehe des Vaters:
Mamika erzählt uns von Vater, von ihrem Miklós, und ich weiss gar nicht, ob es recht
ist, weil er euch ja offenbar nichts erzählt hat über seine erste Frau, aber warum sollt
ihr das nicht wissen?, und während Mamika gleichmässig und ruhig spricht, schaut sie
immer wieder Nomi an, mich, als müsste sie prüfen, ob sie ihre Erzählung fortsetzen
kann. 131
Die direkte Rede wird nicht klar angegeben, sodass die Ich-Perspektive von Ildi unter Druck
steht. Langsam nimmt Mamika die Erzählperspektive von Ildi über, und erzählt über Miklós
und Ibolya in der erlebte Rede. Sie lässt Ildi und Nomi mit der Erzählung interagieren, sodass
Fragen erlaubt werden und Miklós‘ Stille deshlab von ihr entkraftet wird. Die Autorität des
Vaters wird auf diese Weise von einer weiblichen Stimme dominiert, weil nicht seine
Perspektive, sondern diese seiner Mutter seine persönliche Geschichte erzählt. Ildi wird dank
Mamika in die Geschichte ihres Vaters einbezogen, ohne die Klammern als Ausweg ihrer
Fragen und Antworte herzustellen.
Aber nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter versucht ihre Autorität über ihre
Geschichte, die sich auf die Vojvodina bezieht, zu erweisen. Die Vater-Tochter-Beziehung
wird von der Mutter thematisiert, wenn ihre ernsthafte Reaktion auf die Nachricht der
Beziehung ihrer Cousine Csilla von Ildi und Nomi nicht verstanden wird. Während der
„Gelbe-Regen-Geschichte“132 der Mutter über ihre geheime Beziehung zu Imre Tóth bemerkt
Ildi, dass ihre Mutter den Schwestern „jetzt zum ersten Mal zu verstehen gab, wir hätten von
gewissen Dingen, die sich in unserer Heimat abspielen, keinen blassen Schimmer.“ 133 In
Gesprächen mit Eltern über Geschichte, d.h. in diesem Fall spezifisch über die Vergangenheit
in der Vojvodina, darf eine totalitäre Autorität festgestellt werden. Zuerst soll aber deutlich
gemacht werden, dass solche Gespräche im Roman nicht häufig vorkommen und überhaupt
nicht als Gespräche bezeichnet werden können. Sie funktionieren vielmehr als Geschichten,
131
Abonji: TFA, S. 75.
Abonji: TFA, S. 122.
133
Abonji: TFA, S. 122.
132
33
die den Schwestern erzählt werden, ohne weitere Reaktionen von ihnen zu erlauben. In Bezug
auf das Verhältnis der Eltern zur Geschichte scheint ein Bruch zwischen den zwei
Generationen aufzutreten. Die Autorität der älteren Generation über Geschichte ist eine erste
Begrenzung, die Ildi zu überwinden sucht, um die Worte zu finden, die ihre eigene Erzählung
gestalten werden. Ildis Emanzipation aus dieser ersten Begrenzung kennzeichnet die Suche,
die sie im Gespräch mit ihrem Vater verschwieg. Die Frage an dieser Stelle lautet folglich,
wie Ildi versucht, sich vom dominanten elterlichen Erzählverfahren zu befreien.
3.2.3. Mütterliche Dominanz in der persönlichen Geschichte untergraben
Eine Antwort auf diese Frage im narrativen Verfahren des Romans gefunden werden. Durch
die Erzählung hindurch wird ständig das Gesprochene auf die Probe gestellt, da die stilistisch
notwendigen Anführungszeichen, die für Leser den Übergang zwischen erzählter Rede und
gesprochener Rede markieren, weggelassen werden. Stattdessen markieren Kommas diese
Grenze und funktionieren oft auch als Punkte und können sogar Inquit-Formeln134 ersetzen,
sodass Sätze sich ineinander verschlingen. Durch verwirrende Übergänge zwischen diesen
zwei Reden wird Unklarheit über die Sprechinstanz erzeugt. Die Geschichte, die von Ildi
erzählt wird, ist auf diese Weise eine narratologische Herausforderung, da sie sowohl an den
inneren Monolog als auch an die erlebte Rede erinnert. Durch diese Kombination und die
fehlenden Anführungszeichen ermöglicht der Text auf stilistisch merkwürdige Weise Zugang
zu Ildis Gedankenwelt. Ildi ist nämlich eine homodiegetische Ich-Erzählerin, die selber auch
Figur in der Erzählung ist. Durch diese Erzählposition gehört sie sowohl der Erzähler- als
Figurenrede135, sodass sich im Text durch die unscharfe Trennung zwischen dieser zwei
Reden ständig die Frage stellen soll: Wer spricht? So ist in Dialogen der Übergang zu einer
anderen Figur undeutlich und eine in der direkten Rede sprechende Figur kann manchmal für
Ildis Erzählerrede oder Figurenrede gehalten werden, oder umgekehrt. Diese angepasste
Dynamik des Dialogs ermöglicht eine hybride Art der Rede, die den Dialog mit Gedanken der
134
Vgl. Einführung in die Erzähltextanalyse. Hg. v. Silke Lahn und Jan Christoph Meister. Stuttgart: J.B.
Metzler 2008, S. 121. Inquit-Formeln bezeichnen durch verba dicendi oder credendi, wie etwa ‘er dachte, dass’,
die “Ankündigung einer direkt oder indirekt zitierten Rede durch einen Erzähler.”
135
Vgl. Lahn/Meister: Erzähltextanalyse, S. 120-132. Man unterscheidet zwischen dem Drei-Stufen-Modell der
Redewiedergabe, der die zitierte Figurenrede, transponierte Figurenrede und erzählte Figurenrede umfasst, und
dem Textinterferenz-Modell, der die Figurenrede und Erzählerrede beinhaltet. Die Erzählerrede stimmt in
diesem Modell mit der transponierten und erzählten Rede überein, währen mit der Figurenrede nur die direkte
Rede der Figuren gemeint wird. Im Folgendem wird mit der begrifflichen Verwendung der Erzählerrede bzw.
Figurenrede auch die erwähnten Äquivalente aus dem Drei-Stufen-Modell gemeint, weil sie inhaltlich
übereinstimmen.
34
Erzählerin Ildi vermischt und so eine Vielfalt der Stimmen herstellt. Die Erzählung der Mutter
ist in dieser Hinsicht beachtenswert.
Ildi ist mit Nomi, ihrer Mutter und Tante Icu bei ihrer Cousine Csilla zu Besuch
gekommen, sodass Ildis Mutter Rózsa, die sich einmal in einer ähnlichen Lage wie Csilla
befand, ihre Erfahrung mit Csilla teilen kann. Sie hatte sich in Imre Tóth verliebt, ohne ihren
Vater davon zu erzählen, ähnlich wie Csilla, die jetzt mit einem Mann verheiratet worden ist,
den ihr Vater nicht kennt. Am Anfang dieser ‚Gelbe-Regen-Geschichte‘, beschreibt die IchFigur Ildi, dass sie zuhört, wie ihre Mutter über ‚eine‘ Frau erzählt, ohne dabei zu erwähnen,
dass die Mutter diese Frau ist.
Ich […] höre zu, höre der ruhigen, weichen Stimme von Mutter zu, wie sie die
Geschichte einer jungen Frau erzählt, die eigentlich Lehrerin werden will, es aber
nicht werden kann, […] aber sie hat sich geschworen, wenigstens eine Lehre
abzuschliessen, […] und in dem Geschäft, wo sie ihre Lehre macht, lernt sie einen
Mann kennen, der anders ist als alle anderen (einer ist immer anders, sagte Mutter und
lachte), Imre Tóth heisst er, […] er war schön in seinem Humor, sagt Mutter […]. […]
Im gleichen Jahr stirbt ihre Mutter […] (Tante Icu, die die Kaffees auf den Tisch
stellte, sich neben Mutter setzte, ihr die Hand auf den Arm legte) [und] die junge Frau
spürt, wie sie mit dem Tod der Mutter auch einen umfassenden Schutz verliert. […]
Sie erzählt ihrem Vater von Imre […]. Ein paar Wochen später rennt er nach einem
Streit mit einem Stössel aus Bronze auf sie los. 136
Die Erzählinstanz ändert ohne direkten Hinweis von Inquit-Formel oder Lesezeichen, sodass
Ildi diese Geschichte vielmehr einführt, die deswegen als Binnenerzählung bezeichnet werden
kann. ldis homodiegetische Perspektive im Rahmenerzählung wird in einer heterodiegetischen
Erzählerin der Binnenerzählung umgestaltet. Die Erzählerin dieser Geschichte ist die Mutter,
die in der dritten Person über sich selber erzählt und also diese ‚eine‘ Frau ist. Die unklar
markierte Änderung in der Erzählinstanz deutet also auf einen Figurenwandel. Die Mutter
bringt mit der Verweigerung einer homodiegetischen Perspektive eine Distanz hervor, die
sowohl ihr selber als den Zuhörern, wie Ildi, eine Identifikation mit der Frau verweigert und
keine Fragen erlaubt.
Diese Unidirektionalität wird am Ende von Rózsas Erzählung, die die väterliche
Gewalt thematisiert, deutlich in Nomis Frage über Csillas Vater: „(aber Onkel Piri ist doch
ganz anders, er ist nicht so, wie der Vater in deiner Geschichte; Mutter, die Nomis Einwand
ignoriert)“137. Die Einklammerung von sowohl Nomis Bemerkung als auch Mutters
Verweigerung, zu antworten, rückt in den Vordergrund, weil sie ein verbotenes
Einfühlungsvermögen impliziert, sodass sie den Fokus auf eingeklammerte Sätze in Rózsas
136
137
Abonji: TFA, S. 125-127.
Abonji: TFA, S. 128.
35
Erzählung richtet. Die explizite Hinweise auf „Mutter“138 und die Körpersprache in den
beiden Einklammerungen in der Binnenerzählung deuten auf eine intime Beteiligung, die die
sonst scheinbar heterodiegetische Erzählinstanz in Rózsas Erzählung persönlich machen. Auf
diese Weise werden die Mutter (als Erzählerin der Binnenerzählung) und die junge Frau (als
Figur der Binnenerzählung) mit einander identifiziert. Die Klammern erstellen Ildis Macht als
primäre Erzählerin, die diese Binnenerzählung eingeführt hat, um die Erzählstimme ihrer
Mutter kritisch zu nuancieren. Sie gelingt nämlich darin, die sgn. heterodiegetische
Erzählstimme der Mutter durch die Klammern als homodiegetisch zu entlarven. Die
Ersatzolle der Kommas, die jetzt für die Redeübergänge verantwortlich sind, löst eine Vielfalt
der Stimmen aus, sodass Ildi erfolgreich mit der Dominanz der mütterlichen Stimme
konkurrieren kann. Durch diese narratologische Generierung der Nähe deuten die
Einklammerungen in Rózsas Erzählung vor allem darauf hin, dass Ildi sich als eine bewusste
Erzählerin profiliert, die Binnenerzählungen über die Vojvodiner Vergangenheit als Einheit
darstellt.
In
diesem
mehrschichtigen
Verfahren
der
Binnenerzählungen
werden
die
Hauptfiguren (nicht nur die Mutter, sondern auch Ildis Vater Miklós, Miklós‘ Vater Papuci
und Rózsas Mutter) von der primären Erzählerin, Ildi, eingeführt. Wenn die Mutter ihre
Geschichten erzählt, werden sie niemals direkt an die Schwestern adressiert: Sie richtet sich
entweder an die Blumen139 oder Frau Köchli140. Diese Attitüde verrät eine Abneigung zur
Identifikation mit und Fragen über die Vergangenheit. Wie gesagt, überherrscht Ildis
Interferenz durch die Verwendung von Klammern die Stimme der Mutter in der
Binnenerzählung. In den Klammern kann Ildi eine Gefühlsebene kreieren, die Identifikation
mit den Hauptfiguren ermöglicht. In der anderen Binnenerzählung der Mutter wird Rózsas
Mutter von einer ähnlichen scheinbar heterodiegetischen Perspektive von Rózsa vorgestellt.
Wieder hört Ildi ihre Mutter zu, wie sie nicht Ildi, sondern Frau Köchli über die
Vergangenheit erzählt:
ich überlege mir, ob Mutter hofft, dass ich ihr zuhöre, während sie erzählt […]. Die
Geschichte einer Frau, die über dreissig ist, als sie ihr drittes Kind bekommt, und weil
die anderen beiden schon ausser Haus sind, verheiratet, als die spätgeborene Tochter
noch klein ist, wächst sie als ein Einzelkind auf, […] und als das Kind heranwächst,
schaut sein Vater es manchmal lange an, […] als sie sieben Jahre alt ist und ihre Eltern
sich eines Nachts streiten, ihr Vater ihre Mutter schlägt, ob ihr denn schon aufgefallen
sei, dass das Kind nichts von ihm habe, so schreit der Vater, ihre Mutter, die ihren
138
Vgl. Abonji: TFA, S. 126-127.
Abonji: TFA, S. 122.
140
Abonji: TFA, S. 208.
139
36
Mann schreien und reden lässt, nichts antwortet […]. [D]eine Eifersucht macht dich
nicht nur blind, sondern auch vergesslich: Weisst du nicht mehr, wie früh unser Kind
auf die Welt gekommen ist, […]? Wenn du also wirklich von dem überzeugt bist, was
du sagst, dann pack du meine Sachen und stell uns auf die Strasse, jetzt, sofort!
Grossmutter, die offenbar in ihrem Leben noch nie so geredet hat […].141
Während die Einklammerung in der ersten Erzählung die distanzierte Erzählweise der Mutter
kontrastierte, ist in der Darstellung von Ildis anderer Großmutter, der Mutter von Rózsa, die
Einklammerung abwesend. Die Distanz ist in der vagen Verweisung ‚einer‘ Frau wieder
anwesend, aber jetzt wird die Erzählperspektive von Rózsa vollständig aufgelöst. Die Identität
dieser ‚einen‘ Frau scheint auf den ersten Blick Rózsa selber zu sein, wenn nicht die
Erwähnung des dritten Kindes wäre. Die ‚eine‘ Frau ist Rózsas Mutter und die Tochter ist
Rózsa, die sieht wie ihr Vater ihre Mutter verprügelt. Obwohl nach ‚dem‘ Kind verwiesen
wird und Distanz kreiert wird, verkörpert Rózsa die heterodiegetische Erzählperspektive in
dieser Binnenerzählung nicht. Rózsas Erzählinstanz wird von jetzt Ildi übernommen, so lässt
die Abwesenheit der Klammern vermuten. Ildi unterfindet keinen Druck mehr von der
autoritären Stimme der Mutter über ihre persönliche Vergangenheit und ist im Stande, sowohl
als
primäre,
homodiegetische
Erzählerin
der
Rahmenerzählung
als
sekundäre,
heterodiegetische Erzählerin der Binnenerzählung zu funktionieren. Im Gegensatz zu der
Erzählung der Mutter, ist die Emotionalität bei Ildi erlaubt. Die Äußerungen des Vaters
werden in transponierter Rede vermittelt, sodass ihnen das Charakter falscher Behauptungen
zugeschrieben wird. Die Antwort der Frau kommt deswegen in der direkten Rede im Präsens
zum Tragen und ist nicht länger ‚eine‘ Frau, sondern wird klar identifiziert als Ildis
Großmutter. Die Verbundenheit zu ihrer Großmutter beweist die Herstellung der Dominanz,
die Ildi als Erzählerin im Verlauf des Romans einzunehmen scheint.
3.3. Gegenwartsdiskurse
Jetzt, wo die Vergangenheit der Eltern in Serbien kurz besprochen worden ist, ist es
interessant zu untersuchen, wie die Autorität der älteren Generation über die Vojvodina in der
Gegenwart hergestellt wird. In den Binnenerzählungen wird die Konfrontation der Eltern mit
Familienmachtverhältnissen
thematisiert.
So
zeigen
die
Erzählungen
der
Emanzipationsversuche der beiden Eltern eine mühsam zu erreichende Offenheit in der
Gemeinschaft gegenüber freiwilliger Partnerwahl und Scheidung. Die Mutter wird von ihrem
Vater verprügelt, wenn er ihre verschwiegene Beziehung mit dem ihm unbekannten Imre Tóth
entdeckt. Auch Ildis Vater wurde mehrmals von dem eigenen Bruder Móric misshandelt, der
141
Abonji: TFA, S. 208-209.
37
sich als „Ehrenretter“142 in Miklós‘ Beziehung zu Ibolya aufspielt. Mit ihr hat Miklós eine
Tochter bekommen, Janka, aber trotzdem wird er sich von ihr scheiden lassen. Diese
Geschichten über die Vergangenheit der Eltern haben aber nicht die Dynamik eines Dialogs.
Vielmehr sind sie einseitig gerichtete Erzählungen für Ildi und Nomi, als wären sie Beweise
dafür, dass die Schwestern ein besseres Leben haben in der Schweiz als sie in der Vojvodina
haben würden. Das Leben von ihrer Halbschwester Janka in Serbien funktioniert deshalb als
ein Parallelleben für Ildi. Weil Ildi ausgewandert ist und Janka nicht, stellt Janka die Realität
eines Lebens in der Vojvodina dar. Diese Gedanken an Janka, mit der Ildi sonst wenig
Kontakt hat, zeigen auf ein Bewusstsein der gefährlichen Kriegssituation, in der die Familie
sich befindet, wenn Serbien ein Embargo143 auferlegt wird.
Die Besorgnis um ihre Familie übersetzt Ildi in konkrete Hilfe, dabei stößt sie aber auf
Widerstand von der Seite ihrer Eltern. Wenn Ildi ihrer Mutter vorschlägt, Tante Icu könne in
der Küche des ‚Mondials‘ arbeiten, beweist die Mutter, dass ihre Versuche, der Familie
finanziell zu helfen, von den korrumpierten Postangestellten behindert werden. Die
angreifende Wiederholung von „Meint ihr“144 am Anfang ihrer rhetorischen Fragen bestätigt
die Autorität der Mutter über diese Kenntnisse und sie antwortet ihrer Töchtern aufgeregt:
„habt ihr eigentlich schon mal irgendwas überlegt, das über eure Nasenspitze hinausgeht?
(normalerweise sagt das Vater)“145. Aus Ildis eingeklammerter Bemerkung wird deutlich, dass
Vater normalerweise diese Autorität ausübt, aber jetzt vereinen sich die Eltern. Die Eltern
scheinen zu meinen, dass die Schwestern Glück haben weit von der Korruption und dem
Krieg zu stehen, die ihnen die Möglichkeiten, die sie in der Schweiz haben, entnehmen
würden. Die Aussprache des Vaters fasst ihre gemeinsame Meinung zusammen, wenn er sagt:
„was würden sie denn tun, wenn Krieg wäre, wenn es nichts nichts nichts nichts mehr
gäbe“146. Der Versuch, die auferlegte Stille zu durchbrechen und mit den Eltern über Hilfe für
die Familie in der Vojvodina zu sprechen, ist gescheitert. Der Grund dafür liegt im autoritären
Diskurs, den die ältere Generation Ildi aufzwingt. Die Eltern insistieren auf die Unwissenheit
der Schwestern, indem sie ‚die‘ Vojvodiner Realität aus ihren Geschichten über die
Erwartungen der Kinder dominieren lassen. Wie die elterlichen Vergangenheitsdiskurse
aufgewiesen haben, ist der Versuch, Autorität über ihre persönliche Geschichte über die
Vojvodina herzustellen, gescheitert, weil Ildi diese Geschichten narratologisch dominiert.
142
Abonji: TFA, S. 77.
Vgl. Abonji: TFA, S. 96.
144
Abonji: TFA, S. 94.
145
Abonji: TFA, S. 94.
146
Abonji: TFA, S. 228.
143
38
Auch im Gegenwartsdiskurs scheinen die Eltern sich auf ähnliche Weise zu benehmen. Sie
lassen die eigenen Erfahrungen aus der Vergangenheit vorherrschen und kreieren damit ein
Bild des Herkunftslandes, das Ildis Erinnerungen nicht entspricht. Wie sie im Verhältnis zu
ihren Eltern mit der Gegenwart in der Schweiz umgeht, wird nach dem folgenden Kapitel, das
die Migrationsreise bespricht, im Rahmen der Integration besprochen (siehe Kapitel 5).
3.4. Schlussbemerkung zu der Beziehung zwischen Geschichte und
Klammerverwendung
Angesichts sowohl der Makro- als auch Mikroebene der Geschichte kann Ildis Ich-Erzählung
durch die Klammerverwendung als eine Gegenbewegung von der elterlichen Version der
Geschichte gelesen werden. Geschichte als historische Erzählung der Weltvorgänge steht oft
den persönlichen Erzählungen gegenüber, wo eine Gefühlsebene in der Nacherzählung von
Generation zu Generation sich zu entfalten neigt. Die persönlichen Erfahrungen der Eltern
und ihr historisches Wissen stellen eine Dominanz über das Sprechrecht der Schwestern über
die Vojvodina her. Die Eltern üben sowohl über die Vergangenheit als auch über die
Gegenwart in der Vojvodina eine Autorität aus, die der Schwestern mögliche Interpretationen
über ihr Herkunftsland verhindern. Diese Geschichten werden als Binnenerzählungen
dargestellt und nur von Frauen vermittelt: Ildis Mutter, Rózsa, erzählt über ihre eigenen
Erfahrungen, während Mamika die Geschichte ihres Sohnes, Ildis Vater, darstellt. Durch in
der dritten Person zu erzählen, baut die Mutter in ihren Geschichten eine Distanz ein, die
Identifikation mit der Hauptfigur, nämlich mit ihr selber, verhindert. Ildi gelingt es aber,
durch Klammern diese Distanz zu entlarven und führt so zu einer Mehrstimmigkeit, die aber
nicht in Mamikas Geschichten durchgeführt. Wegen des hohen Grades an Interaktion in ihren
Geschichten über Miklós kann sie von dem Vergangenheitsdiskurs der Eltern differenziert
werden. Weil Mamika in ihren Erzählungen Interaktion ermöglicht, beschränkt sich die
Gegenbewegung, die Ildi im narrativen Bereich herstellt, auf den dominanten Diskurs der
Eltern.
Der Dominanz der älteren Generation auf historischer Mikroebene widersteht sie
durch mit den abweichenden Klammern in diesen Binnenerzählungen die Distanz aufzulösen,
sodass die persönliche Ebene stärker akzentuiert wird. Narratologisch gesehen ist Ildi
dominant im Vergangenheitsdiskurs, da sie durch diese Klammerverwendung das letzte Wort
bekommt. Weil die Vergangenheit von Frauen vermittelt wird und Ildi für die Einrahmung
dieser vergangenen Vorgänge verantwortlich ist, darf die Herausstellung eines dominanten,
weiblichen Diskurses in Ildis Erzählstil in der gesamten Romanstruktur geahnt werden. Die
39
Binnenerzählungen werden in ihrer persönlichen Geschichte in der Gegenwart eingestreut.
Durch die Beförderung ihrer eigenen Erzählungen aus der Vojvodiner Vergangenheit im
dominanten Bereich der Rahmenerzählung erzeugt Ildi die Autorität über die eigene
Erzählung in der Gegenwart, d.h. über den ganzen Roman. Außerdem deutet die
Einklammerung auf eine berechnete Einmischung von Ildis Stimme im dominanten
elterlichen Diskurs. Meine These zu dieser zeitlichen Dimension der Migration lautet, dass
Ildi Erzählerin der konstruierten Geschichte ihrer Emanzipation ist. Der weitere Verlauf der
Arbeit
wird
aufweisen,
dass
das
konstrukthafte
Charakter
der
Klammern eine
emanzipatorische Wirkung in verschiedenen Bereichen herausstellen kann. In diesem ersten
Kapitel ist darauf hingewiesen, dass Ildi im Stande ist, eine Dominanz über den
Vergangenheitsdiskurs der Eltern zu kreieren, indem sie ihre Stimme in den Geschichten der
Eltern hören lässt.
Ihre eigene Erzählungen, sowohl aus ihrer Vergangenheit in der Vojvodina (Vgl.
Kapitel 4) als über die Gegenwart in der Schweiz (Vgl. Kapitel 5), bleiben außer Reichweite
der Binnenerzählungen. Diese Binnenerzählungen, die die Geschichten der Eltern und
Großeltern darstellen, werden erzählförmlich von Ildi eingrenzt, weil Ildi sie einführt und
durch Einklammerung ihre Anwesenheit im Diskurs gelten lässt. Durch diese Position der
persönlichen Gedächtnisse in der Rahmenerzählung kann Ildis literarische Darstellung ihrer
Kindheitsepisoden „zum einen Vergangenheitsvorstellungen inszenieren, aber auch neue
Erinnerungsmodelle artikulieren.“147 Ildis narratologisch eingerichtete Überlegenheit über die
elterlichen Vergangenheitsdarstellung kreiert ein solches Erinnerungsmodell, der Dominanz
nicht nur in den Binnenerzählungen narratologisch herstellt. Die Erinnerungen der älteren
Generationen werden nämlich so manipuliert, dass die Einmischung von Ildis Erzählstimme
in diesen Binnenerzählungen notwendigerweise die Andacht im folgenden Kapitel auf die
Erinnerungen der Erzählerin selber richtet. Dazu bildet die konstruierte Abwechslung der
Kapitel von Vojvodiner Vergangenheit zu Schweizer Gegenwart einen Hinweis darauf, dass
nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Diskrepanz in der Migration
aufgefunden werden kann.
147
Katja Kobolt: Frauen Schreiben Geschichte(n). Krieg, Geschlecht und Erinnern im ehemaligen Jugoslawien.
Klagenfurt/Celovac: Drava Verlag 2008, S. 98.
40
4. Raum in der Migration: die ‚Zwischenwelt‘ der Auswanderung
4.1. „Kann man von einem Tag auf den anderen, von einer Nacht auf die nächste
in ein neues Leben hineinfahren?“ 148: Die Reise in die Schweiz
Wenn Ildis Migrationshintergrund chronologisch gefolgt wird, dann wäre es gerecht, dieses
Kapitel mit der Reise in die Schweiz anzufangen. Die Einwanderung wird aber im Roman erst
später erzählt und zwar in verschiedenen Versionen und Teilen: die Autofahrt aus dem Dorf
Hajduk Stankova, um den Bus nach Belgrad zu nehmen und demnach dort mit dem Zug die
Reise in die Schweiz weiterzusetzen. Die Beschreibung der Auswanderung, wie sie von Ildi
erfahren wurde, kommt im Kapitel „Wir“ das erste Mal zur Sprache. Hier ergibt sich die
Frage im Roman, warum die Eltern überhaupt in die Schweiz ausgewandert sind. Ildi
beschreibt in der folgenden Episode die Abfahrt in einem „roten Moskowitsch“ 149 aus der
Hajduk
Stankova
zum
Busbahnhof.
Die
Schwestern
gehen
an
diesem
kalten
Novembermorgen um den Bauernhof, um von allen noch einmal Abschied zu nehmen. Am
Bahnhof beginnt die Busfahrt, „die sich von allen anderen Busfahrten nur dadurch
unterschied, dass sie viel länger dauerte“150. Während dieser Reise nach Belgrad bilden die
Palatschinken und Lieder, die Mamika so kennzeichnen, das Bekannte in der fremden
Umgebung des Busses. Wenn sie Abends endlich ins „Lichtermeer“151, das Belgrad ist,
einfahren, wird die Reisebeschreibung auf ein späteres Kapitel 152 verschoben.
4.1.1. Grenzerfahrungen
Die Reise mit Mamika fängt also etwa fünfzig Seiten später im nächtlichen Zug wieder an
und wird von den Schwestern fast ganz verschlafen. Die Erinnerung an die Grenzpolizisten,
die den Reisenden ihre Papiere zurückgeben und in Ildis Augen dabei „also die Erlaubnis
[geben], unsere Reise fortzusetzen“153 [meine Hervorhebung], thematisiert die Erfahrung von
Grenzen, von der auch im Kapitel „Grenzpolizisten, Trauerweiden“ bei der Reise in die
Vojvodina erzählt wird. In diesen beiden Auszügen, die die Reisebewegung aus bzw. in
Jugoslawien hinein darstellen, wird die kindliche Unschuld dem ernsten, „aus Stein
148
TFA, 172.
Abonji: TFA, S. 213.
150
Abonji: TFA, S. 217.
151
Abonji: TFA, S. 217.
152
Vgl. Abonji: TFA, S. 212-217 für die Autofahrt aus der Hajduk Stankova nach Belgrad und S. 270-277 für die
Reise aus Belgrad in die Schweiz.
153
Abonji: TFA, S. 270.
149
41
gehauene[n] Kommunist[en]“154, wie Ildis Vater sie nennt, entgegengehalten, um den
Grenzpolizisten zeigen zu können, „dass wir unschuldig sind, und nicht nur wir, sondern auch
Vater“155. Die Grenzpolizisten verkörpern in ihrer Funktion eine unsichtbare, geographische
Grenze zwischen Ländern, die anhand der richtigen Papiere überquert werden darf. Aus der
Perspektive eines Kindes ist neben den Papieren die Unschuld eine zusätzliche Vorbedingung,
um Grenzen zu überschreiten. Diese Unschuld wird in Ildis und Nomis Alter verkörpert und
die kindliche Anwesenheit mildert das Misstrauen, das die Grenzpolizisten gegen die
erwachsenen Mitreisenden haben können. In der Reise in die Schweiz wird die Großmutter
und in den Reisen in die Vojvodina wird der Vater auf diese Weise von den Kindern
‚geschützt‘. Ildis Verständnis einer Grenze entstammt ihrer Erinnerung an ein festliche rote
Band156, das sie nie wieder während späterer Reisen erkannte. Diese „erste, naive Vorstellung
von einer Grenze“157 steht weit von dem realistischen Bild entfernt, das besteht aus
([…] Wachtürmen, patrouillierenden Soldaten, die ihre Waffen so selbstverständlich
tragen wie ein Paar Schuhe, Wachhunde, die an ihren Leinen ziehen, und meistens
wehen an den Grenzen Fahnen oder hängen schlaff an Stangen nebeneinander, die
Steine, die Büsche, das Gras, die wenigen Bäume kommen mir farblos vor,
unnatürlich, […]).158
Mittels der Klammern, innerhalb derer eine Grenze in ihrer realen Drohung dargestellt wird,
wird nicht nur Ildis anfängliche Naivität, sondern auch die kindliche Perspektive während der
Migration hervorgehoben. Obwohl Ildi als erwachsene Erzählerin die Vorgänge darstellt,
verschiebt sie während dieser Episode aus ihrer Kindheit die Fokalisierung auf die kleine Ildi
als erlebendes Ich159 in der Vergangenheit. Ihre kindliche Vorstellung einer Grenze weicht
grundlegend von ihrem späteren Wissen ab. Diese Wachtürme, Fahnen, die erforderlichen
Papiere, und vor allem die Grenzpolizisten, bilden den Übergang zu einem neuen Land, das
auf diese Weise als homogenes Ganzes dargestellt wird. Diese einheitliche Monokulturalität,
die streng bewacht wird, kommt Ildi „unnatürlich“ vor und spiegelt den politisch erstellten
staatsnationalen Grenzen. Während der Übergang zu einem neuen Land von einer sichtbaren
Grenze gekennzeichnet ist, fordert die sprachliche Differenz kein solches Indiz 160, da sie in
154
Abonji: TFA, S. 67.
Abonji: TFA, S. 67.
156
Vgl. Abonji: TFA, S. 270.
157
Abonji: TFA, S. 270.
158
Abonji: TFA, S. 270-271.
159
Vgl. Lahn/Meister: Erzähltextanalyse, S. 70.
160
Vgl. Norbert Mecklenburg: “Eingrenzung, Ausgrenzung, Grenzüberschreitung. Grundprobleme deutscher
Literatur von Minderheiten”. In: Die "andere" deutsche Literatur. Hg. v. Manfred Durzak und Nilüfer
Kuruyazıcı. Würzburg: Königshausen&Neumann 2004, S. 24. Mecklenburgs Bemerkung ist interessant in Bezug
auf eine transkulturelle Auffassung von Kulturgrenzen, während politische und sprachliche Grenzen leichter eine
interkulturelle Interpretation zulassen.
155
42
der Kommunikation ihre Grenzen erstellt. So konkludiert Ildi, wenn Mamika angibt, dass sie
in Österreich angelangt sind, und ein Mann einsteigt, der den Mädchen Süßigkeiten anbietet,
dass er „ein Österreicher sein musste“161. Nicht nur seine Nationalität, sondern die zusätzliche
Ebene der Sprache differenziert ihn jetzt von den Schwestern und Mamika. Es wird folglich
angenommen, dass er ihnen auf Ungarisch nicht verstehen würde und sie mit ihm in seiner
Sprache auch nicht kommunizieren könnten. Die Überraschung ist groß, wenn die
Sprachkenntnisse dieses Mannes, obwohl nur ein wenig, auch das Ungarische umfassen,
sodass die Sprachgrenze zwischen dem Mann und den Schwestern verschwimmt. Die
Feststellung, dass auch die Schwestern jetzt ihre Sprachkenntnisse ausweiten sollen, wird sie
bei der Ankunft in der Schweiz schnell genug einsehen.
Die Dichotomie ‚eigen/fremd‘ wird in der Reiseerfahrung der Migration fühlbar durch
sichtbare und hörbare Grenzen. Die politisch konstruierten Grenzen werden im Kontext der
Reise erfahren, während die sprachliche Grenze erst im Einwanderungsland eine spürbare
Realität wird. Während eines Spazierganges am See in der Nähe der neuen Wohnung in der
Schweiz haben Mamika und die Schwestern sich verlaufen und deswegen versuchen sie, um
Hilfe zu bitten. Mamika spricht die Umstehenden nur auf Ungarisch an, was auch für die
Schwestern das Bekannte – das Eigene – darstellt. Wenn sie aber nach „Todistrass“162 fragt,
die Straße, wo die Eltern wohnen, werden sie von niemandem verstanden. Wenn endlich ein
Mann Mamikas Fehler bemerkt und in „Tödistrasse“ verbessert, weist er ihnen den Weg
zurück. Nur die kleine Lautänderung verursachte eine so große Verwirrung, stellt Mamika
später mit den Schwestern fest, wenn sie dazu sagt: „wie wenig es doch braucht, und man ist
ganz verloren in der Welt“163. Die neue Sprache enthält ebenso wie das Ungarische
spezifische Aussprachemerkmale, die aber den Schwestern und ihrer Großmutter unbekannt
sind und deswegen als fremd164 aufgefasst werden. Wenn die neue Sprache und die neue
Gesellschaft zum Eigenen gerechnet werden wollen, ist das Verstehen dieser Komponenten
ein wesentlicher Teil der Integration der Schwestern, weil sie nicht länger ‚verloren‘ sind. Das
Eigene wird durch die Aufnahme des Fremden erweitert165: Da die Schweiz jetzt der neue
Wohnplatz für die ausgewanderte Ildi ist, wird das Eigene nicht nur von dem alten bekannten
Ungarischen, sondern auch notwendig von dem neuen und fremden Deutschen gebildet.
161
Abonji: TFA, S. 271.
Abonji: TFA, S. 274.
163
Abonji: TFA, S. 274.
164
Vgl. Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft: Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink
Verlag 2006, S. 17.
165
Vgl. Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 17.
162
43
4.1.2. Trauma der Migration
Die Herausforderungen, die die Ankunft der jungen Ildi in einem fremden Land stellt, sind
zahlreich. Migration wird als Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft 166
gesehen, die eine Migrantin wie Ildi in ihrer Zeit- und Raumerfahrung zum neuen
Erinnerungsmodell (siehe 3.4.) behandelt, herausfordert: „Migration is a condition of memory
[…]. Movement (voluntary or not) creates a story that gives shape to memory.“ 167 In diesem
Kapitel wird Ildis Erzählung ihrer Migrationsreise zum Gegenstand der Analyse. Sie erzählt
wie sie aus der Vojvodina reist, wo sie mit Nomi bei ihrer Großmutter gewohnt hat, während
die Eltern in der Schweiz arbeiteten. Auffallend dabei ist die zweifache Darstellung der
Abfahrt aus der Vojvodina. Mit diesen zwei Versionen der Abreise zeigt Ildi, dass ihre
Erinnerungen nicht zuverlässig sind. Während der Reise wird sie sich zum ersten Mal des
Begriffs der ‚Grenze‘ bewusst und löst die Sprache im Einwanderungsland die nötige
Verwirrung aus. Aber die kennzeichnende Komponente des Verlusts168 erschwert für Ildi
wesentlich die Auswanderung, weil sie sich von Mamika verabschieden soll. Darum ist
Mamikas prägnante Anwesenheit vor und während dieser Migrationsreise wichtig für das
Verständnis dieses Abschiedes. Für diese Diskussion wird aus psychoanalystischem
Blickwinkel gearbeitet: Die Mutterrolle von Mamika und die Auswanderung bilden dabei die
konstitutiven Elemente der Fragestellung, ob in Ildis Fall von einer traumatischen
Migrationserfahrung gesprochen werden kann. In der Beziehung zwischen Trauma und
Identität plädiert Laura Brown dafür, die „multiple identities“ zu betrachten, weil laut ihr „no
person has one identity. […] Each individual has a gender, and each individual has a gender
as expressed through social class, age cohort, culture, and so on.“ 169 Sie integriert nicht nur
Kategorien wie Gender oder Ethnizität in ihre Theorie über Trauma, sondern auch Migration.
Ein erster Grund, Ildis prozesshafte Darstellung ihrer Migration als das Verarbeiten eines
Traumas zu klären, wird anhand der Erinnerungen besprochen, um später Mamika in die
Diskussion einzubeziehen.
166
Vgl. Chiellino: Interkulturelle Literatur, S. 52-53.
Srdja Pavlovic: „Memory for Breakfast“. In: Memory and Migration: Multidisciplinary Approaches to
Memory Studies. Hg. v. Julia Creet und Andreas Kitzmann. Toronto: University of Toronto Press Incorporated
2011, S. 43.
168
Migration and Mental Health. Hg. v. Dinesh Bhugra und Susham Gupta. Cambridge: Cambridge University
Press 2011, S. 3.
169
Laura S. Brown: Cultural Competence in Trauma Therapy. Beyond the Flashback. Washington: American
Psychological Association 2008, S. 16.
167
44
4.1.2.1. Trauma als Feind der Erinnerungen
Die Erzählerin Ildi versucht sich in der Beschreibung der Migration mit größtem Aufwand zu
erinnern, wie sie als klein Mädchen diese große Änderung in ihrem Leben erfahren hat. In
dem Abruf der materiellen Neuigkeiten der neuen Wohnung, die ohne die bekannten Tiere
von Mamikas Bauernhof in einer von der Stille geprägten Umgebung gelegen ist, versucht
Ildi sich an ihre Gefühle bei diesen Wahrnehmungen zu erinnern. Es gelingt ihr aber nicht,
ihre Begegnung mit der Schweiz wahrheitsgetreu darzustellen. So erinnert sie sich nicht mehr,
ob es „vielleicht“ Miklós oder „wahrscheinlich“ und „ziemlich sicher“ 170 Nándor war, der sie
zum Busbahnhof geführt hat. Sie findet außerdem keine Bestätigung bei Nomi, die als Zeuge
derselben Migration Ildis Erfahrungen bestätigen sollte. Trotzdem differenziert Ildi sich von
ihrer jüngeren Schwester, weil sie während der Untersuchungen im Bauernhof bei jeder
Rückkehr in der Vojvodina, „anders damit umgeht“171. In der Traumatheorie wird aber
angenommen, dass Traumata von jeder Person einzigartig erfahren werden: „Each experience
of an encounter with a traumatic stressor is unique and is given unique meaning by the life
history of the person to whom it occurs.“172 Deswegen soll auch Ildis Trauma nicht allgemein
behandelt oder mit Nomis Erfahrungen verglichen, sondern in ihrer Einzelheit besprochen
werden. Die Frage, was in Nomi bei der Konfrontation mit der Schweiz vorgegangen ist,
bleibt nämlich unbeantwortet und akzentuiert Ildis Unwissenheit über die realen Vorgänge.
Die Beschreibung der Abfahrt ist nämlich kaum eindeutig zu nennen: es gibt zwei Versionen,
die grundsätzlich voneinander abweichen. In der ersten, und bis jetzt unerörterten, Fassung,
die im Kapitel „Juli“ nach der Beschreibung von Mamikas Beerdigung beginnt, wird die
vorbereitende Phase der Migration173 beschrieben: die Papiere, die für die Schwestern aus der
Schweiz angekommen waren, und die Abschiede von den Tieren und Gegenständen auf dem
Bauernhof.
Der Abschied von Juli spielt bei der Abfahrt eine entscheidende Rolle, weil er in den
zwei Versionen grundsätzlich anders wird beschrieben. In der ersten Beschreibung wird
dieser Abschied ausführlich beschrieben, wobei in dem Auto lange auf Juli gewartet wird.
Wenn sie endlich erscheint, steigen die Schwestern aus und versehen Juli mit den geforderten
Salzstangen. Sie erzählen ihr, dass sie in die Schweiz fahren, antworten aber nicht auf Julis
Frage, wann sie aus der „Schaiz“ zurückkommen. Die Fehlaussprache des Wortes wirkt bei
170
Abonji: TFA, S. 212.
Abonji: TFA, S. 13.
172
Brown: Trauma Therapy, S. 4.
173
Vgl. Han: Soziologie, S. 8.
171
45
Juli, die geistig behindert ist, spielerisch und wird nicht ernst genommen. Nachdem sie ins
Auto steigen, bricht die Beschreibung ab. In der zweiten Version dieser Abreise wird aber
nicht auf Juli gewartet. Sie wird von Nomi auf die Straße bemerkt und darum wird von
Nándor – und nicht Móric – gefragt, an die Seite zu fahren. Auch hat Juli nicht nach
Süßigkeiten oder Salzstangen gefragt, sondern blieb still. Die Entstellung „Schaiz“ wird in
dieser Erinnerung Julis Mutter zugeschrieben und bekommt dadurch eine peinliche
Konnotation, da sich so die Unwissenheit der Mutter über die richtige Aussprache zeigt. Die
Reise geht also in die Richtung eines Ortes, dessen Namen an die zukünftige „Scheiße“Episode174 in den Toiletten des ‚Mondials‘ erinnert und sie sogar voraussagt. Die Migration
bekommt auf diese Weise schon bei der Abfahrt eine negative Konnotation, die unten im
Rahmen der Assimilation der Eltern weiter erläutert wird.
An diesem entscheidenden Moment der Migration, wenn sie ihren Geburtsort verlässt,
herrscht Zweifel über die eigentlichen Vorgänge und kann ein Hinweis dafür sein, die
Migration vielmehr als Prozess zu behandeln. In der zweiten Erinnerung der Abreise wird
außerdem, anders als in der ersten Version, auch die Reise nach Belgrad beschrieben. Diese
prozesshafte Darstellung und die zwei Versionen der Abfahrt erschweren eine Lesung der
Migrationserzählung.
Ereignisse, die emotionalisiert werden, werden auch intensiver erinnert – dabei soll
jedoch […] die Affektierung nicht im Übermaß steigen, denn sonst drohen die
Ereignisse nicht erinnert zu werden, wie uns das Phänomen des Traumas lehrt […]. 175
Die Abfahrt aus der Vojvodina, die ausführlich und prozessual beschrieben wird, ist für Ildi
mit starken Emotionen verbunden. Das lehren uns ihre Abschiede, die so detailliert erinnert
und sogar doppelt beschrieben werden. Aber in Ildis Versuch, eine einheitliche Erzählung der
Migration darzulegen, stellen die Erinnerungen sich aber als zweifelhaft heraus. Die zwei
Darstellungen desselben Vorganges deuten auf eine Verwirrung, die die ganze
Migrationsreise anzuzweifeln scheint. Da diese doppeldeutigen Erinnerungen Erfahrungen
enthalten, die für Ildi zu affektiv waren und deswegen fehlerhaft konstruiert wurden, ist es
möglich anzunehmen, dass die Migration traumatisch für sie war.
4.1.2.2. Mamika als Ersatzmutter
In den Beschreibungen der Auswanderungsreise wird Mamika ständig adressiert, was auf die
Wichtigkeit ihrer Anwesenheit in Ildis Kindheit hindeutet. Die Großmutter blieb mit Ildi und
174
175
Vgl. Kapitel “Hände in der Luft” in Abonji: TFA, S. 278-301.
Kobolt: Frauen schreiben Geschichte, S. 96.
46
Nomi in der Vojvodina zurück, während die Eltern eine Existenz in der Schweiz aufbauen,
um sich nach einigen Jahren dort mit ihren Töchtern zu vereinen. Schon bei der ersten
Begegnung am Bahnhof, wenn die Schwestern nach ihrer langen Reise aus der Vojvodina
endlich ankommen, werden die Spuren der Trennung von den Eltern deutlich. Während Nomi
ihre Eltern wieder erkennt, wirkt auf Ildi die zeitliche Distanz als unüberwindbar.
ich weiss, dass ich Ihre Hand nicht loslassen wollte, ich weiss nicht, ob ich noch etwas
anderes wollte, als in Ihrer Nähe bleiben […]; ich weiss nicht, ob ich es mir einbilde
oder ob es so war, dass ich damals schon, als wir angekommen sind, geahnt habe, dass
es zwischen mir und meinen Eltern eine unaufholbare Zeit geben würde, und für
Nomi würde das nicht im gleichen Ausmass so sein, vermutlich weil sie zwei Jahre
jünger ist. […] Mamika, ich versuche mich zu erinnern, wie es war, dieses Ankommen
im neuen Zuhause […]? [D]ie Erinnerung bricht da ab, am Bahnhof, als wir am
Bahnsteig standen, von Mutter und Vater abgeholt wurden. 176 [Meine Hervorhebung]
Ildi bleibt in Mamikas Nähe, verweigert sich, die Freude des Wiedersehens mit ihren Eltern
zu teilen, weil sie sich von ihnen entfremdet fühlt. So lautet auf jeden Fall jetzt ihre eigene
Diagnose, die aber nicht mit Sicherheit für ihr erlebendes Ich gestellt werden kann. Die kleine
Ildi scheint Mamika eine mütterliche Rolle zuzuschreiben, sodass die Konfrontation mit ihren
Eltern zurückhaltend verläuft und sogar so affektiv ist, dass Ildi sich nichts mehr erinnern
kann. Auch in der privaten Sphäre der Wohnung, wo Rózsa Annäherung zu ihren Kindern
sucht, ist aus Ildis Körpersprache, wie das Wegdrehen ihres Gesichtes 177, zu folgern, dass die
Mutterrollen geändert sind. Ildi erwähnt ihre „grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass
nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika“178. Damit bekennt Ildi, dass sie Mamika
die Mutterrolle, die von Rózsa durch ihre Auswanderung verzichtet worden ist, zugeordnet
hat.
4.1.2.3. Mamika als Verkörperung der Heimat
Der persönliche Beitrag ist in der Heimatsbelebung eine definierende Komponente, die es
ermöglicht, Gender in diese Diskussion über Trauma mit einzubeziehen. Sigmund Freud
diskutiert die Idee der Heimat in Bezug zum Weiblichen in seinem 1919 erschienenen Essay
„Das Unheimliche“, wobei das Mütterliche und die Gebärmutter ein Zuhause vorstellen. 179 Es
wird aber angenommen, dass Heimat nicht nur von Frauen verkörpert wird 180, sondern dass
176
Abonji: TFA, S. 272-273.
Vgl. Abonji: TFA, S. 275.
178
Abonji: TFA, S. 275.
179
Vgl. Peter Blickle: Heimat: A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Camden House 2004, S. 9293.
180
Vgl. Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman: Heimat. A German Dream. Regional Loyalties and National
Identity in German Culture 1890-1990. Oxford: Oxford University Press 2000, S. 26.
177
47
sie in einer ähnlichen Beziehung wie Frauen zu ‚Natur‘ steht. Frauen repräsentieren laut
Sherry Ortner nämlich „something that every culture devalues“ 181, eine Eigenschaft, die sie
auch in ‚Natur‘ lokalisiert. Dagegen werden Männer mit der gesellschaftlichen und
zivilisierten Kultur identifiziert, die der Natur überlegen ist und den Frauen gegenüber
patriarchal konnotiert wird.182 Die Kritik an diesem Gegensatz Frau/Mann bzw. Natur/Kultur
besteht darin, dass die Bedeutungen, die Männern und Frauen zugeschrieben werden 183,
ebenso arbiträr sind, wie die Konnotationen, die Natur und Kultur in sich tragen. 184 Ohne aber
in strengen Dichotomien zurückzuverfallen, verteidigt Ortner in ihrem Aufsatz ihre These,
dass Frauen der Natur näher stehen als Männer. 185 Eine eindeutige Beziehung haben Frauen
und Heimat zur Natur jedoch nicht. Während Männer in der traditionellen Rollenverteilung
zwischen Gesellschaft und Haus oszillieren, um die Kombination von Arbeit und Familie
aufrechterhalten zu können, bilden die Frauen eine Brücke zwischen diesen zwei Welten,
ohne völlig in die „civil society“ einzudringen186. Auf ähnliche Weise befindet sich Heimat
auch in einer Schwellenposition,187 wenn die Sozialisation der Kinder einem Leben im Schoß
der Mutter folgt. Diese individuelle, von Gender geprägte Ebene ist aus der Besprechung von
Heimat im vorigen, mit Trauma verknüpften Kapitel nicht wegzudenken und bildet den
Hintergrund für die persönliche Heimatbildung, die jetzt weiterverfolgt wird.
Zu der Verbindung zwischen Mütterlichkeit und Heimat kann folgendes bemerkt
werden: „Maternal health or sickness may symbolize the health and sickness of the Heimat,
decadence or poverty often being signified in the figure of a sickly mother.” 188 Indem,
tatsächlich, der Gemütszustand der Mutter den Heimatszustand spiegelt, kann dann die
Anwesenheit von Mamika die Heimatsgefühle aufrufen, um dementsprechend mit ihrer
181
Sherry Ortner: „Is Female to Male as Nature is to Culture?“ In: Woman, Culture, and Society. Hg. v. Michelle
Zimbalist Rosaldo und Louise Lamphere. Stanford: Stanford University Press 1974, S. 72.
182
Ortner: „Female to Male“, S. 73.
183
Vgl. Karin Hausen: “Die Polarisierung der “Geschlechtscharaktere” – Eine Spiegelung der Dissoziation von
Erwerbs- und Familienleben”. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Hg.
v. Werner Conze. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1976 [=Industrielle Welt: Schriftenreihe des Arbeitskreises für
moderne Sozialgeschichte. Bd. 21], S. 363-393. Und: Vgl. Gertraude Krell: “Die Polarisierung der
»Geschlechtscharaktere« – eine unendliche Geschichte?” In: Geschichte in Geschichten: Ein historisches
Lesebuch. Hg. v. Corinna Seith. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2003, S. 58-61.
184
Vgl. Carol P. MacCormack: “Nature, culture and gender: a critique”. In: Nature, Culture and Gender. Hg. v.
Carol MacCormack und Marilyn Strathern. Melbourne: Cambridge University Press 1980, S. 18. “[T]he link
between nature and women is not a ‘given’. […] Those who have developed the nature-culture-gender thesis root
femaleness in biology and maleness in the social domain […]. However, if men and women are one species and
together constitute human society then, logically, analysis of intrinsic gender attributes must be made with
reference to the same domain.”
185
Ortner: „Female to Male“, S. 73.
186
Vgl. Boa/Palfreyman: Heimat, S. 184.
187
Vgl. Boa/Palfreyman: Heimat, S. 27; S. 184. Vgl. dazu auch MacCormack: “Nature, culture and gender”, S.
8-9: Nicht nur Frauen, sondern auch Männer stellen die “threshold” zwischen Natur und Kultur dar.
188
Boa/Palfreyman: Heimat, 26.
48
Abfahrt (und der daraus folgenden Abwesenheit) Ildi der Heimat zu entreißen? Meines
Erachtens erfährt Ildi tatsächlich nicht sosehr die Auswanderung, sondern das Verlassen von
Mamika als traumatisch. Der Abschied von der Großmutter bedeutet zugleich den Abschied
von der Vojvodina, der wider Ildis Erwarten – man denke an die Abschiede vom Bauernhof –
in der Schweiz genommen wird.
Während die Lücken in Ildis Erinnerungen eine Folge des Migrationstraumas sein,
stellt sich Mamika als die Ursache heraus. Die ganze Reisebeschreibung, vom Anfang bis
zum Ende, wird Mamika, die mit „Sie“ adressiert wird, gewidmet. Diese Höflichkeitsanrede,
die normalerweise eine Distanz zwischen den Gesprächspartnern einbaut, zeugt von Respekt,
der merkwürdigerweise gleichzeitig eine intime Nähe signalisiert. Ildi spürt Mamikas
singende Stimme im ganzen Körper, und diese Musik kreiert eine Intimität und bringt
zugleich Bewunderung bei Ildi hervor. Die Verweigerung, ihre Großmutter abreisen zu
lassen, wird von der Verflechtung zwischen Mamikas Stimme und Ildis Körper ausgelöst,
weil das Lied mit der Vojvodina identifiziert werden. Mamika verkörpert diesen Ort, den Ildi
stets als Heimat definiert. In Bezug auf Heimat und Frauen wird festgestellt, dass Frauen, im
Gegensatz zu Männern, die Heimat nicht materiell besitzen, sondern sie vielmehr in einer
mütterlichen Rolle seelisch verkörpern. 189 Diese Annahme trägt zu der These bei, dass
Mamika nicht nur als Mutter, sondern auch als Trägerin der Heimat gesehen wird. Diese
Heimatserfahrung entstammt der folgenden Beschreibung beim Abschied der Großmutter:
erst als der Zug wegfuhr, habe ich begriffen, dass das der wirkliche Abschied war
und nicht der in der Vojvodina, als all unsere Verwandte uns besucht haben oder wir
sie […]; jetzt, wo Sie im Zug wegfuhren, war es so, wie wenn meine ganze
bisherige Welt von mir wegfahren würde, Ihr Haus, Ihr Garten, die geliebten Tiere,
der Staub und Dreck, der bleiche Herr Pfarrer in seiner dunklen Kirche, das
Stimmengewirr auf dem Markt, der schwere, süsse Duft nach frischen Pfannkuchen,
Palatschinken, Onkel Piris Augen, die schönsten Augen der Welt, so fanden Nomi und
ich, Tante Icu, die uns mit Süssigkeiten verwöhnte, an den Wochenenden, die wir bei
ihr und Onkel Piri verbrachten, damit Sie die frühe und späte Messe besuchen
konnten; ich habe mit einem Mal alles vermisst, die lauten Stimmen der Menschen,
die ihre Zähne zeigten, die staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die
so zärtlich waren mit der Luft – ich habe alles, was ich geliebt habe mit Ihrer
Abreise verloren […].190 [Meine Hervorhebung]
Wenn Mamika abfährt, kommt Ildi zu der Erkenntnis, dass sie sich von dem Bekannten
verabschieden soll. Während Mamika darauf bestand, sich in der Schweiz so zu benehmen,
„als wären wir Gäste“191, ist diese Haltung nicht Ildis Realität. Sie und Nomi müssen sich auf
189
Vgl. Boa/Palfreyman: Heimat, S. 26.
Abonji: TFA, S. 276-277.
191
Abonji: TFA, S. 275.
190
49
die neue Situation eines permanenten Aufenthaltes einstellen. Mamikas Abfahrt erweist sich
als problematisch, weil Ildi sich „Svájcba“, die sgn. ‚bessere‘ Welt 192 in der Schweiz, wo die
Eltern auf sie und Nomi gewartet haben, anders vorgestellt hatte: „‘Besser‘ bedeutete für mich
einfach ‚mehr‘. Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte.“ 193 Ihre falsche Erwartung,
dieselben Elemente aus Mamikas Dorf auch im Land der Eltern zurückzufinden, wird ihr klar,
wenn das Bekannte, verkörpert in Mamika, jetzt mit dem Zug in die Vojvodina zurückfährt.
Ein weiterer Grund, Mamika als die Verkörperung der Vojvodina zu behandeln, kann
in der Beschreibung von Mamikas Beerdigung gefunden werden. Nachdem Ildi die Nachricht
bekommen hatte, dass ihre Großmutter gestorben ist, fährt sie mit ihrem Vater im Jahr 1989 in
die Vojvodina, um der Beerdigung beizuwohnen. Es dauert bis zu der Beerdigung, auf der
viele Verwandte und Freunde anwesend sind, dass Ildi weint. Juli, Mamikas geistig
behinderte Nachbarin, die abgesondert von der Masse Mamika beweint, stand wegen ihrer
kindlichen Perspektive immer den Schwestern während ihrer Kindheit in der Vojvodina nahe.
Ihre Wehklage am Friedhof bestätigt für Ildi Mamikas Tod und spiegelt Ildis ängstliches
Gefühl aus der Kindheit, „als Fremde in dieser Welt dazustehen, von Mamikas Leben
ausgeschlossen zu sein“194. Darum kontrollierte sie intensiv den ganzen Bauernhof auf
mögliche Änderungen bei jeder Rückkehr in die Vojvodina, weil sie sonst die Verbindung mit
ihrer Großmutter zu verlieren drohte. Sie fängt ihr Leben in der neuen Welt der
Auswanderung, der Schweiz, als Fremde an. Durch Julis Reaktion kommt Ildi zur Einsicht,
dass von diesem Moment ab unbestreitbar „ein Leben, mein Leben ohne Mamika beginnen
muss.“195 Nach dieser Episode am Friedhof, fängt die erste Beschreibung der
Migrationsreise196 an, sodass Mamikas Tod und der Abschied von der Vojvodina auch
stilistisch miteinander verknüpft werden.
Die Adressierung an Mamika bekommt in dieser Hinsicht eine zusätzliche makabere
Dimension. Ohne ihre Großmutter zu leben, ist eine Realität, die sie als Kind bei Mamikas
Abfahrt zurück in die Vojvodina akzeptieren musste. Aber wenn Mamika noch lebte,
erlaubten die Reisen in die Vojvodina ein Wiedersehen, das jetzt unmöglich wird. Ildi stellt
fest, dass 1989 für ihre persönliche Geschichte nicht ein großes Geschehnis wie der
Mauerfall, sondern Mamikas Tod von Bedeutung ist. Der Abschied wird endgültig, wenn ihre
Großmutter stirbt, und scheint auch narratologisch mit einem symbolischen Tod der
192
Vgl. Abonji: TFA, S. 172.
Abonji: TFA, S. 172-173.
194
Abonji: TFA, S. 13.
195
Abonji: TFA, S. 171.
196
Vgl. Abonji: TFA, S. 172-178.
193
50
Vojvodina übereinszustimmen, die für Ildi die in der Migration verlorene Heimat darstellt.
Ohne es selber zu wissen, verabschiedet sie sich nach der Beerdigung für die längste Zeit in
ihrem Leben auch von der Vojvodina: „ich werde für mehr als ein Jahrzehnt das letzte Mal in
meiner Heimat gewesen sein“ 197. Die Adressierung von Mamika kann aus gegebenem Anlass
als ein Gespräch erklärt werden, das Ildi mit ihrer toten Großmutter führt. 198 Ildi bekräfigt
diese Annahme, indem sie ihren Eltern mitteilt: „[I]ch spreche mit den Toten, […] ich
verbringe ab jetzt meine Zeit mit den Toten, […] ich weiss schon, dass man mit den Toten
nicht sprechen kann, aber sie hören zu, sie hören gern zu […].“ 199 Was Ildi so gerne
aussprechen will und nur von den Toten gehört wird, ist ihre Migrationsgeschichte, deren
Lücken sie ohne ihrer Hilfe nicht selber füllen kann. Die Eltern helfen iher Tochter aber nicht
in diesem Konstruktionsprozess, so erzählt Ildi nach der Abfahrt von Mamika:
Später, in den wenigen Momenten, wo es möglich gewesen wäre, über diesen
plötzlichen Abbruch unseres bisherigen Lebens zu reden, war immer sofort klar, dass
Mutter und Vater, im Zusammenhang mit unserer Heimat, die tieferen,
schmerzhafteren Gefühle für sich beanspruchen durften; das, was in Nomi und mir
damals vorging, hatte wenig oder kein Gewicht. 200
Die Migrationsreise hat deshalb einen prozesshaften Charakter, da sie, anstelle in einer
einheitlichen Erzählung geschildert zu werden, unter mehrere Kapitel verteilt wird. Die
Besuche an der Vojvodina kompensieren dabei nicht nur den Verlust der Großmutter, sondern
gewähren Einblick in Ildis Heimatauffassung, die sich außer Mamikas Anspruch auf ihr
erweitert.
4.2. Die Reisen in die Vojvodina
Wie gesagt, fängt der Roman nicht mit der Migration in die Schweiz, die bis weit in den
Roman hinausgeschoben wird, an, sondern mit einer der vielen Reisen in die Vojvodina. Die
Migration ist außerdem keine einmalige, unidirektionale Beziehung zwischen Ein- und
Auswanderungsland, sondern besteht wegen dem prozesshaften Charakter aus einer Dynamik
zwischen Ildis Erlebniswelten. Während oben nur ‚die‘ Reise in die Schweiz im Rahmen von
197
Abonji: TFA, S. 167.
Vgl. Sofie Decock: Papierfähnchen auf einer imaginären Weltkarte. Mythische Topo- und Tempografien in
den Asien- und Afrikaschriften Annemarie Schwarzenbachs. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2010, S. 151-157. Auch
Sofie Decock spricht von fehlerhaften Erinnerungen, die von einem Trauma des Todes ausgelöst worden sind.
Dabei sind die Gespräche mit den toten Freunden des Protagonisten in Annemarie Schwarzenbachs Roman Das
Glückliche Tal von Bedeutung: “Am schwersten fällt es ihm, sich an Namen zu erinnern und Gesichter zu
beschwören [.] Es lässt sich deswegen vermuten, dass sich das Trauma auf Menschen bezieht, die er geliebt hat.”
(S. 154-155) Die menschliche Komponente in der Ursache des Traumas ist für meine Analyse auch wichtig,
wird aber ständig mit dem Ort verknüpft.
199
Abonji: TFA, S. 291.
200
Abonji: TFA, S. 277.
198
51
Trauma und Heimat analysiert worden ist, ist für Ildis Heimatkonstruktion eine Mehrzahl an
Reisen in die Vojvodina wichtig. Die im Roman wiederholten Beschreibungen dieser Reisen
und die nicht beschriebene Rückreisen in die Schweiz begründen diese Aufteilung. Weil der
permanente Wohnsitz in der Schweiz lokalisiert ist, wird sie von einer
Sicherheit
gekennzeichnet, die ihren Niederschlag in einem Haus, in der Arbeit und in der Schule findet.
Aber es wäre voreilig, um aus dieser Diskrepanz zwischen einem vorläufigen Aufenthalt in
der Vojvodina und einer permanenten Wohnung in der Schweiz eine Heimat definieren zu
können. Laut Ildi ist sie „keine Reisende, sondern eine, die weggeht und nicht weiss, ob sie
jemals zurückkommt, und [sich] immer auf eine Abreise ohne Rückkehr vorbereitet“ 201, wenn
sie in die Vojvodina gereist ist. Diese Aussage und einige Elemente schon am Anfang des
Romans deuten auf ein kompliziertes Heimatbild, das im Rahmen einer transkulturellen
Migrationsauffassung erst nach einiger Erläuterung über dem Heimatbegriff selber dargelegt
werden kann.
4.2.1. Wo liegt die Heimat?
Die Suche nach einer konkreten Definition von Heimat blieb in den sogenannten Heimat
studies bis jetzt unbeantwortet, da Forscher in ihrer Metaphorik immer „overly broad,
otherworldly and unspecific“202 waren. Heimat wurde stets innerhalb bekannter Gegensätze
diskutiert:
country against city, province against metropolis, tradition against modernity, nature
against artificiality, organic culture against civilization, fixed, familiar, rooted identity
against cosmopolitanism, hybridity, alien otherness, or the faceless mass. 203
Da in den verschiedenen Disziplinen zu fachspezifisch gearbeitet werde, werde der Begriff
nicht umfassend untersucht. So wird den Literaturwissenschaften vorgeworfen, Fallstudien zu
bevorzugen, in denen Heimat als literarisches Phänomen behandelt wird, und an den
Psychologen wird kritisiert, Heimat zu schnell in ödipalen Begriffen zu denken. 204
Herkömmlicherweise wird Heimat mit einem Ort verknüpft, wo jemand geboren oder
aufgewachsen ist: „either simply in the form of the house where one was born and grew up, of
one’s literal native town, of the town or landscape to which one feels native [or] of the
country where one has grown up or at least lived for an extended period“205. Für Migrantinnen
insbesondere ist diese Ebene nicht zu vernachlässigen, da die konkrete Verortung von und die
201
Abonji: TFA, S. 138.
Blickle: Heimat, S. 5.
203
Boa/Palfreyman: Heimat, S. 2.
204
Vgl. Blickle: Heimat, S. 5.
205
Blickle: Heimat, S. 4.
202
52
räumliche Distanz zwischen Aus- und Einwanderungsland für ihre Identität entscheidend
sind, wie die spätere Diskussion über Ildis Umgang mit Balkanismen zeigen wird. Ohne aber
immer am Geographischen gebunden zu bleiben, wird Heimat auch von Beschreibungen wie
„self, I, love, need, body [oder] longing“206 charakterisiert, die eine relative Auffassung des
Begriffes voraussetzen. Bemerkenswert ist hierbei, dass Heimat nicht immer von etwas
Konkretem gekennzeichnet werden soll, sondern sie besteht ohne deutlich definierte Züge im
Verstand der Menschen. Ich würde behaupten, dass Heimat gefühlsmäßig bestimmt wird und
deswegen nicht klar definierbar ist. Ebenso wie Liebe oder Verlangen nicht für jeden dasselbe
bedeutet, wird Heimat auch von individuell verschiedenen Merkmalen erzeugt.
Built into most usages [of Heimat] is the notion of a linking or connecting of the self
with something larger through a process of identification signified by the spatial
metaphor. Heimat is, then, a physical space, or social space, or bounded medium of
some kind which provides a sense of security and belonging. As a surrounding
medium, Heimat protects the self by stimulating identification whether with family,
locality, nation, folk or race, native dialect or tongue, or whatever else may fill the
empty signifier to fuel a process of definition or of buttressing which feeds and
sustains a sense of identity. [...] But since identity denotes continuation through time,
time and change are built into the spatial metaphor of Heimat: time is the ever-present
enemy of Heimat [...].207
Sowohl Raum, Zeit als auch Identität hängen zusammen in einem Definierungsversuch von
Heimat. Identität ist oben im Rahmen des Traumas der Migration (siehe 4.1.2.) besprochen
worden, wobei in der Figur von Mamika Gender mit der Heimatserfahrung verknüpft worden
ist, und wird auch im Folgenden mitgedacht, da sie für eine Deutung von Ildis
Heimatverständnis unerlässlich ist.
Neben einer örtlich geprägten Dimension lässt Heimat sich auch zeitlich erfassen, wobei
Änderung und Erinnerung die Leitfäden der folgenden Analyse bilden. Weil ein Ort immer
neuen Anregungen politischer, ökonomischer, sozialer, u.a. Art unterworfen ist, bedeutet Zeit
auch Änderung. Aber nicht nur ein Ort ändert, sondern auch das Individu, das deswegen nicht
aus der Diskussion ausgegrenzt werden kann. Eine Migrantin, die aus ihr Herkunftsort
wegzieht, macht nicht länger die Änderungen an diesem Ort mit. Ihre Umsiedlung ins
Zielland umfasst eine zeitliche Ebene der Erinnerung, in der Gedanken ans Herkunftsland sich
in Nostalgie, Heimweh oder Melancholie 208 manifestieren können. Die Komponente des
206
Blickle: Heimat, S. 4. Blickle erwähnt, dass die Schwierigkeit bei „educated, self-analytical German
speakers“, eine eindeutige Definition von Heimat zu formulieren, deutlich wird, da sie durch diese
Beschreibungen erkennen, dass es mehr als nur eine Heimat gibt.
207
Boa/Palfreyman: Heimat, S. 23-24.
208
Mehr über MigrantInnen und Melancholie, siehe: Zofia Rozińska: “Emigratory Experience. The Melancholy
of No Return”. In: Memory and Migration: Multidisciplinary Approaches to Memory Studies. Hg. v. Julia Creet
und Andreas Kitzmann. Toronto: University of Toronto Press Incorporated 2011, S. 29-42.
53
Verlusts209, die mit dem Verlassen der Heimat gleichgestellt wird, ermöglicht solche Gefühle,
weil beim Auswandern das Bekannte zurückgelassen wird. Durch Änderungen am Ort, wo die
Heimat von den MigrantInnen lokalisiert wird, oder beim Subjekt selber, ist es möglich, dass
die Erinnerungen nicht mehr mit dem gegenwärtigen Ort übereinstimmen. Dadurch entsteht
eine Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität, sodass es möglich wird, dass eine
Migrantin ‚die‘ Heimat nicht länger im Singular 210 schätzt und sogar anzweifelt: “[I]f Heimat,
supposedly the unique place of origin, can be multiplied, then the outcome may indeed be
‘keine’, a negation of the concept”211.
Einer solchen dekonstruierenden Argumentation zufolge kann die Relativität und
Flexibilität des Begriffes an Akzeptanz gewinnen. Wenn örtlich ‚keine‘ Heimat mehr besteht,
kann Heimat sich vielmehr in einem persönlichen, affektiven Erfahrungsraum umwandeln.
Durch die Diskrepanz zwischen Erwartung, die den Erinnerungen an die Heimat entspringen,
und Realität, kann die Assoziation zwischen dem Heimischen und dem Ort scheitern. Heimat
wird zu einem mehr zeitgebundenen Phänomen, das in der Erinnerung lebt. Das
Heimatsgefühl bindet sich aber nicht mehr an einem oder mehreren Orten, sondern es wird als
fließendes Konzept erlebt, das sich für eine Migrantin radikal ändern kann. Dies bestätigen
auch Elizabeth Boa und Rachel Palfreyman: “Heimat is not a fixed, static place, but rather a
social space which must be constantly adapted or recreated, through individual effort [...] or
as an ‘Aufgabe und Errungenschaft’” 212 [meine Hervorhebung]. Heimat wird in dieser Arbeit
als eine individuelle Konstruktion aufgefasst und mit einer stark von der Zeit geprägten
Geborgenheit assoziiert, das das Bekannte und Vertraute als Voraussetzung hat. Ein Ort kann
ein heimisches Gefühl aufwecken, wenn er bekannt ist und ein vertrautes Wissen
hervorbringt. So können Erinnerungen aus der Kindheit, wie diese im Roman thematisiert
werden, Geborgenheit hervorbringen, die in neuen (fremden) Situationen evoziert werden
kann, indem das Bekannte aufgesucht wird. Wenn ein unbekanntes Element in einer fremden
Umgebung zum Eigenen gemacht wird, kann die heimische Geborgenheit konstruiert werden.
209
Vgl. Gunther Gebhard et al.: „Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“. In:
Heimat: Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Hg. v. Gunther Gebhard et al. Bielefeld:
transcript Verlag 2007, S. 11. Die Lösung für die früheren problematischen Annäherungen, die Heimat mit
anverwandten Wörtern (z.B. Heimat als Ort wo jemand ‚daheim‘ ist) definierten, findet er in der Trias ‚VerlustDistanzierung-Reflexion‘: „Erst der geglaubte Verlust ermöglicht das entscheidende Moment der Distanz in dem
Sinne, dass hier das unhinterfragte Nahverhältnis aufgelöst wird und damit überhaupt erst zum Thema werden
und Reflexion evozieren kann.“
210
Vgl. Boa/Palfreyman: Heimat, S. 195.
211
Vgl. Boa/Palfreyman: Heimat, S. 195. Dazu wird Heinrich Bölls Aufsatz “Heimat und keine” erwähnt, in
dem der Schriftsteller Köln vor dem zweiten Weltkrieg mit der Nachkriegszeit in seiner Stadt vergleicht.
212
Boa/Palfreyman: Heimat, S. 194.
54
Diese Dynamik zwischen eigen und fremd bildet den Hintergrund für die Besprechung der
Natur in Bezug auf Ildis Heimatbildung.
4.2.2. Natur/Kultur
Das erste Kapitel im Roman beginnt mit der Einfahrt der Familie Kocsis ins Vojvodiner Dorf
mit einem „amerikanischen Wagen, einem tiefbraunen Chevrolet“ 213. Die „Kühlbox“214 fährt
„geräuschlos“215 und „fast immun gegen die Unebenheiten der Strasse“216 an den obdachlosen
Zigeunern in der heißen Mittagssonne vorbei. Die Wiederholung von „Zivilisation“217 stellt
das Dorf nicht nur dem Wagen und seinen Insassen gegenüber, sondern fast dem ganzen
modernen Leben. Der Wagen, ein kennzeichnendes Element der Modernität, das mit der
Industrialisierung
und
der
Großmacht
Amerika
gleichgestellt
wird,
scheint
der
herausfordernden Natur zu widerstehen. Sowohl Hitze als auch schlechte Straßen werden
überwunden, sobald aber ihr „schokoladefarbenes Schiff“ 218‚anlegt‘, wird es von
„eingetrocknete[m] Dreck mit einer dünnen Staubschicht“219 eingehüllt. Ildi stellt diese
Gegensätze so dar, als wäre die Zivilisation im Dorf zu einem „Stillstand“ 220 gebracht. Die
erbitterte, wiederholte Feststellung des Vaters, dass sich in der Heimat nichts geändert habe,
steht seinem Wagen als Symbol der Modernität und des Fortschritts gegenüber. Maria
Todorova spricht von einem zeitlichen Aspekt, der Osten und Westen voneinander trennt,
wobei die Bewegung von Vergangenheit zu Zukunft als „evolution from simple to complex,
backward to developed, primitive to cultivated“221 [meine Hervorhebung] gedacht wird. Die
Assoziation von Änderung mit Fortschritt222 differenziert die Familie wegen der Migration
automatisch von ihrem Herkunftsort. Das Bild dieses ‚unterentwickelten‘ Dorfes, das – so
zeigen die Beschreibungen – der Natur nahe steht, wird der im Auto hermetisch von ihm
abgeschlossenen Familie entgegengestellt.
213
Abonji: TFA, S. 5.
Abonji: TFA, S. 8.
215
Abonji: TFA, S. 5.
216
Abonji: TFA, S. 6.
217
Vgl. Abonji: TFA, S. 6; S. 7 und S. 12.
218
Abonji: TFA, S. 5.
219
Abonji: TFA, S. 12.
220
Abonji: TFA, S. 12.
221
Todorova: Imagining, S. 12.
222
Vgl. Abonji: TFA, S. 297: Diese Annahme gilt im Besonderen für die Eltern, die sich auf die Leiter des
Erfolgs “hochzuarbeiten” versuchten, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der Vojvodina. Arbeit,
Ausbildung und Möglichkeiten charakterisieren die Denkweise der Eltern, die Ildis eigene Wahl zu diesen
Themen bestimmen wird. Diese soziale Ebene wird in dieser Arbeit nicht weiterverfolgt, allerdings stellt die
Thematik der Arbeit(sschichten) einen interessanten Forschungsgegenstand dar.
214
55
Auf diese Weise erinnert die Einfahrt im Dorf an die binäre Beziehung zwischen Natur
und Kultur, wobei die typisch natürlichen Elementen in einer Assoziation mit dem Dorf
negativ konnotiert werden. Die Zigeuner und das Dorf werden dabei von Armut bestimmt,
obwohl noch ein Unterschied zwischen ihnen gemacht wird. So befindet Ildis Cousine Csilla
sich in einem abgesonderten, baufälligen Viertel, nachdem sie aus dem elterlichen Haus
ausgezogen ist, um bei Csabo, in den sie sich verliebt hat, zu wohnen. Ildi beschreibt diese
Umgebung, wenn sie bei Csilla zu Besuch kommt.
[Der] Abwasserkanal, in dem eine tote Katze liegt, Haushaltsmüll, sogar der
Klatschmohn und die Feldblümchen sehen dreckig aus […]. Häuser, die aus Brettern,
Wellblech, Kotflügeln, Stofffetzen, aus irgendwelchem Material gezimmert sind, ein
paar offene Feuerstellen, überall schlammige Erde, obwohl es seit Tagen nicht mehr
geregnet hat, es riecht nach Mist und Rauch und verbranntem Plastik und Urin und
Hühnerdreck und Schweinekot, […] ja, genauso sieht es hier aus wie beim Müllberg,
da, wo die Zigeuner leben, […], und weil ich schon ein paar Brocken Englisch kann,
fällt mir wahrscheinlich ein englisches Wort ein, Slum, […].
Die Klimaanlage und die Schockabsorber des Wagens gehören zu der avancierten
Technologie einer fortgeschrittenen Kultur und kämpfen mit dieser vernachlässigten Natur.
Neben dem Chevrolet werden die Kapitel, die die Besuche in der Vojvodina beschreiben, von
anderen Autos eingeführt. So fährt die Familie mit dem Mercedes Benz 223 der ersten
Begegnung mit Miklós Tochter Janka aus seiner ersten Ehe entgegen. Zwei Kapitel später
wird bei der Ankunft bei Tante Icu noch die weiße Farbe des Wagens 224 erwähnt, der bei Ildis
letztem Besuch in der Vojvodina silbergrau225 gefärbt ist. Die Wagen werden ständig mit dem
Vater assoziiert, der früher auch ein Motorrad hatte: „nicht irgendeines, sondern eines aus
dem Westen, aus Deutschland“226. Der Vater und seine Fahrzeuge, die westlicher Herkunft
sind, werden offensichtlich mit der Technik und in weiterem Sinne mit der Modernität
identifiziert. Die Kultur repräsentiert in dieser Hinsicht den Westen und steht der Natur des
Dorfes gegenüber, das in Analogie zu der Natur/Kultur-Dichotomie zum Osten gerechnet
wird.
4.2.2. Positive Hochschätzung der Natur
Ildis Liebe für die Pappelbäume und die charakteristische „Luft der Ebene“ 227 dazwischen ruft
die Erinnerungen an ihre erste Liebe, den italienischen Matteo, in den sie sich als
223
Vgl. Abonji: TFA, S. 66.
Vgl. Abonji: TFA, S. 111.
225
Vgl. Abonji: TFA, S. 162.
226
Abonji: TFA, S. 79.
227
Abonji: TFA, S. 5.
224
56
Dreizehnjährige in der Schweiz verliebt hatte, hervor. Die Assoziation mit Liebe bewertet die
bis jetzt als unzivilisiert geschilderte Umgebung positiv. Ildi versucht nämlich durch eine
Identifizierung der Zigeuner mit der Natur die Perspektive ihres Vaters auf ihre Herkunft zu
nuancieren:
Und mein Vater schielt aus dem Fenster, schüttelt den Kopf […] ich, die die
schmutzstarren Gesichter aufnimmt, die scharfen Blicke, die Lumpen, Fetzen, das über
den Müllbergen zitternde Licht, ich verlängere meinen Blick, als müsste ich das alles
verstehen, diese Bilder von Menschen, die keine Matratzen haben, Betten schon gar
nicht, sich deswegen nachts vielleicht in die Erde eingraben, in die tiefschwarze Ebene
[…], Erde, nichts als Erde, die im Winter von einem zentnerschweren Himmel
erdrückt wird, die, wenn der Himmel sie in Ruhe lässt, zu einem Meer wird, windstill.
Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene, die sich zu einem
trostlosen Strich verdünnt, […] auf die du dich höchstens legen kannst, mit
ausgebreiteten Armen, und das ist der Schutz, den sie dir gewährt. 228 [meine
Hervorhebung]
Die Bewunderung und der Schutz, die sie in dieser Ebene fühlt, lassen eine tiefere
Verbindung mit der Natur vermuten, die die Identifizierung der nomadischen Zigeuner mit
den Elementen der Natur ähnelt. Die Gefühle und Erinnerungen, die diese Natur bei Ildi
hervorruft, sind wichtiger als der eigentliche Ort. Ildi verlängert ihren Blick und bewegt sich
mental außerhalb des Wagens, in die Erde hinein, um die Zigeuner in einem größeren
Rahmen zu deuten. Damit verrät sie ihre eigene Liebe für die unfassbare Ebene, die sich als
ein schützendes Zuhause verstehen lässt. Der Raumbelebung wegen darf die Vojvodiner
Natur also zu einem Teil von Ildis Heimatkonstruktion gerechnet werden. Dabei soll bemerkt
werden, dass die heimatbildende Rolle der Natur nicht nur mit der Vojvodina assoziiert wird,
sondern auch in den Beschreibungen der Schweiz anwesend ist. Die Kastanienbäume und der
See kreieren ein bekanntes Wohlfühlen, das in Ildis Liebesbeziehung mit dem kroatischen
Dalibor deutlich zum Ausdruck kommt. Die Natur verbindet Ildi und Dalibor, die vor allem
das Wasser gemeinsam haben, wenn Ildi zu ihm sagt: „wir lieben doch beide das Wasser“ 229.
Dalibors Meer in Kroatien wird parallel zu Ildis Fluss gestellt, von dem sie in der Schweiz
noch niemandem230 erzählt hat. Ihre erste Begegnung im ‚Mondial‘, wo Dalibor eine Stelle
suchte, führte zum Treffen am See, das sich bis Dalibors Rückkehr nach Kroatien monatelang
wiederholte.
228
Abonji: TFA, S. 7-8.
Abonji: TFA, S. 264.
230
Vgl. Abonji: TFA, S. 184. Ildi sagt zu Dalibor: “ich habe hier noch nie jemandem von meinem Fluss erzählt”
und insinuiert dabei, dass mit ‘hier’ die Schweiz gemeint wird, während ‘dort’ im Herkunftsort, “wo wir wieder
hinfahren können” (S. 264), das Meer und der Fluss liegen.
229
57
Das erste Treffen charakterisiert ihre Beziehung zu Dalibor und Ildis Darstellung der
Natur:
Wir sitzen also auf einer der Bänke am See, ein zerfleddertes Wörterbuch zwischen
uns, das uns verbindet, und wir denken uns weg vom gegenüberliegenden Ufer, malen
uns den Horizont aus, the sea, das Meer, […] (das schöne Wort für Meer in seiner
Sprache: more), […] ich schaue ihm zu, dem Flüchter, wie er […] nach flachen
Steinen sucht, […] sich wieder zu mir dreht, […] schau dir diesen Stein an, ist er
wertvoll, precious?231
Das Wörterbuch ermöglicht die Kommunikation zwischen Ildi und Dalibor, da Dalibor
Englisch spricht und Ildi sich mit ihm nicht auf Deutsch unterhalten kann. Was Ildi ‚seine‘
Sprache nennt, ist das Serbokroatische, das sie in der Vojvodina nie gelernt hatte, 232 weil sie
in die Schweiz eingewandert ist. Ihre Gespräche werden von Ildi hauptsächlich auf Deutsch
präsentiert und sind zugleich von Fehlern, englischen Sätzen und sogar serbokroatischen
Wörtern gekennzeichnet. Die Sprache ihrer Gespräche erstellt sich deshalb als hybrid: die
Grenzen der Nationalsprachen werden überschritten, indem andere Sprachen ins Deutsche
hineingemischt werden. Ildis Deutsch wird in den Episoden mit Dalibor von verschiedenen
sprachlichen Einflüssen geprägt, sodass mehr und mehr eine transsprachliche Liebe gebildet
wird. Ildi erklärt diese Liebe, die sie auch mit Matteo erfährt, auf folgende Weise: „wir
küssten uns auf Ungarisch oder Italienisch, das heißt, wir brachten uns die wichtigsten Wörter
bei“233. Das Kapitel „Dalibor“ schließt mit dem ersten Kuss mit Dalibor: „wir küssen uns
mehrsprachig, ich habe mich in dich verliebt, auf Ungarisch, Deutsch, Serbokroatisch,
Englisch.“234 In Verbindung mit dieser sprachübergreifenden Liebe wird die Natur
hochgeschätzt. Die Verliebtheit kreiert eine Geborgenheit, die mit der Natur assoziiert wird
und zu einem persönlichen Heimatbild beiträgt. Die Natur wird auf diese Weise eine Heimat:
Bäume und Wasser werden in der Schweiz in den Kastanienbäumen und dem See verkörpert,
während sie in der Vojvodina die Pappelbäume und Ildis mysteriösen Fluss bedeuten. Die
transsprachliche Liebe, die in der Schweiz erfahren wird und mit der Schweizer Natur
verknüpft wird, steht der Vojvodiner Natur nahe, sodass das ‚trans‘-Charakter auf die Natur
projiziert wird. Die Natur übergreift nicht sosehr sprachliche, sondern vielmehr
staatsnationale Grenzen und wird damit ent-territorial aufgefasst: Die Natur trennt sich von
dem Herkunfts- und Aufenthaltsort und assimiliert sich in Ildis hybride Erlebniswelt.
231
Abonji: TFA, S. 184-186.
Abonji: TFA, S. 140-141.
233
Abonji: TFA, S. 196.
234
Abonji: TFA, S. 198.
232
58
4.3. Transkulturell Reisen: Gültigkeit der Hybridität
4.3.1. „Die Atmosphäre meiner Kindheit“235
Während die Natur beim Einfahren in die Vojvodina heimatbildend interpretiert worden ist,
situiert Ildi selber ‚die‘ Heimat in der Vojvodina. Mamikas Haus, als „Prototyp eines Hauses,
das die ersten und tiefsten Geheimnisse birgt“236, wird der Schweiz gegenübergestellt. Ildi
spricht nämlich von Traubisoda, dem „Zaubergetränk unserer Heimat“ 237, das sie gerne „mit
nach Hause, in die Schweiz“238 nehmen will, um ihre Freundinnen von der Qualität zu
überzeugen. Die Vojvodina wird als mysteriösen Ort dargestellt, der als ‚Heimat‘ verstanden
wird, während die Schweiz als ‚Zuhause‘ definiert wird, wo Ildi nach ihrem Besuch an der
Vojvodina zurückkehrt. Ildi selber schildert ihre Interpretation von ‚Heimat‘ einige Seiten
nach der Beschreibung ihrer geliebten Ebene als die Kindheitsatmosphäre in der Vojvodina:
Der Weiche Singsang meiner Grossmutter, das nächtliche Gequake der Frösche, die
Schweine, wenn sie aus ihren Schweinchenaugen blinzeln, das aufgeregte Gegacker
eines Huhnes, bevor es geschlachtet wird, die Nachtviolen und Aprikosenrosen, derbe
Flüche, die unerbittliche Sommersonne und dazu der Geruch nach gedünsteten
Zwiebeln, mein strenger Onkel Móric, der plötzlich aufsteht und tanzt. 239
In ihrer eigenen ‚Definition‘, die nicht einmal geografische Andeutungen wie ‚Vojvodina‘
oder ‚Hajduk Stankova‘ erwähnt, scheint Ildis Heimat aus Personen, Tieren, Lauten, Blumen
und Gerüchen zu bestehen. In Analogie dazu könnte man vermuten, dass auch Geschmäcke
zum Heimatbild gehören, wie z.B. die erste Erinnerung an die Süßigkeit des Akazienhonigs,
„auf einer dicken Brotscheibe, die Mamika mir geschnitten hat“ 240. Gleichwie der Schutz der
Ebene werden diese Eindrücke und Gegenstände in der Vojvodina lokalisiert. Die Schweiz
wird nicht in solchen konkreten Begriffen beschrieben: das Leben im Haus wird im Gegensatz
zu der Arbeitsstelle im ‚Mondial‘ selten dargestellt und im Café ‚Wohlgroth‘ fühlt Ildi sich
„schutzlos“241. Zu dieser Zeit hatte sie aber „de[n] drängende[n] Wunsch, einen Ort zu haben,
der mich definiert“242 und suchte sie das ‚Wohlgroth‘ auf, wo die Eltern nie kamen. Ist aber
Ildis Heimat ein Ort, indem diese Eindrücke und die oben besprochene Natur so nichträumlich wirken?
235
Abonji, TFA, S. 19.
Abonji: TFA, S. 12.
237
Abonji: TFA, S. 15.
238
Abonji: TFA, S. 15.
239
Abonji: TFA, S. 19.
240
Abonji: TFA, S. 192.
241
Abonji: TFA, S. 190.
242
Abonji: TFA, S. 190.
236
59
4.3.2. Hybride Heimat: ein Patchwork
Am Anfang der Heimatbesprechung (siehe 4.2.1.) wurde behauptet, dass Heimat eher als
einen sozialen Raum aufgefasst werden kann, der von Gefühlen und individueller Beteiligung
konstruiert wird. Weil ein Ort und das Individu sich in der Zeit beiden ändern, kann bei der
Migrantin eine Diskrepanz zwischen Erinnerung und Realität entstehen und so die erinnerte
Heimat von der realen differenzieren. Demzufolge wird die Existenz der Heimat in Frage
gestellt. Statt Heimat vielmehr als Seelenzustand zu behandeln, kann diese Kritik an ‚der‘
Heimat kontrastiert werden: “[I]f Heimat is a frame of mind inducing an active relationship
between human beings and their environment, then multiplication may salvage values worth
retaining in an age of more rapid change and greater mobility than ever before.” 243 Die
Möglichkeit mehrerer Heimaten kann in einer Gegenbewegung von ‚keiner‘ durch eine Art
‚Patchwork‘-Heimat wieder in ‚einer‘ Heimat gesammelt werden. In diesem Sammelbegriff
von
Heimat
werden
Gefühle
und
Gegenstände
aus
unterschiedlichen
Orten
zusammengebracht, um eine Heimatsidee zu bilden. In Ildis Fall wäre diese ‚Patchwork‘Heimat eine Sammlung von Erfahrungen aus ihrer Kindheit in der Vojvodina und die Natur,
die sie mit der Liebe verknüpft und sowohl in der Vojvodina wie in der Schweiz situieren
kann. Die bekannten Bäume aus der Vojvodina findet Ildi in den fremden Schweizer
Kastanienbäumen, die jetzt auch zum Eigenen gerechnet werden können. Welsch nimmt eine
ähnliche Meinung ein, wenn er die transkulturelle Identität bespricht:
Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle
Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle
Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität.244
Im Roman wird diese Identität im Rahmen der Heimat als befreiend thematisiert, wenn Nomi
Ildi deutlich macht, sie sollen ihren Rückkehrwunsch aufgeben:
es sei doch bekannt, das typische Emigrantenschicksal, für die Zukunft sparen und dann in
der alten Heimat unglücklich sein?, […] wir sind Mischwesen und die seien tendenziell
glücklicher, deshalb, weil sie in mehreren Welten zu Hause seien, sich wo auch immer zu
Hause fühlten, sich aber nirgendwo zu Hause Fühlen müssten 245 [meine Hervorhebung]
Obwohl diese Aussage insinuiert, dass die Glück bei der Rückkehr ins Herkunftsland
unmöglich wäre, ermöglicht diese ‚Enträumlichung‘ eine größere Freiheit in der
Heimatskonstruktion, weil ein Gefühl der Gebundenheit vermieden wird. Dadurch können
Migrantinnen wie Ildi sich nicht nur an verschiedenen Orten geborgen fühlen, sondern auch
243
Boa/Palfreyman: Heimat, S. 195.
Welsch: “Transkulturalität”, S. 5.
245
Abonji: TFA, S. 160.
244
60
die eigene Heimat individuell wählen und konstruieren. Ildis Heimat ist nicht eindeutig zu
bestimmen, sondern ist eine hybride Mischung von sinnlichen Erfahrungen, Menschen,
Gegenständen und mit der Natur verknüpften Gefühlen, die an anderen Orten wieder neu
erlebt werden kann.
61
5. Integration in der Einwanderungsgesellschaft
Nachdem die Migrationsreise Ildi und ihre Schwester Nomi von der Vojvodina in die Schweiz
geführt hat, fängt eine Zeit der Anpassung an. Nachdem oben die Herausforderungen der
Aufnahmegesellschaft – Sprache, neue Wohnung, Mutterwechsel – besprochen worden sind
(siehe 4.1.), stellt sich jetzt die Frage, wie die Integration verläuft. In der Forschung wird
angenommen, dass MigrantInnen in der Integration in der Einwanderungsgesellschaft die
spezifischen kulturellen Merkmale behalten, die in der Assimilation drohen verloren zu
gehen. 246 Der Wunsch, sowohl die eigenen wie die fremden Elemente, wie oben im Rahmen
von Ildis Heimatbildung (siehe 4.3.) besprochen, dialogieren zu lassen, läuft auf den Wunsch
zur Integration hinaus. Wie lässt sich Ildis Integration denn fassen? Die Sprache bildet eine
erste Komponente, die eine einheitliche Lesung des Romans erschwert: die Einstreuung
verschiedener Sprachen in den ganzen Text, (fehlende) Übersetzungen, sprachliche Fehler
und verschwiegene ungarische Wörter thematisieren eine Fehlkommunikation, die nicht nur
die Figuren, sondern auch die Leser erfahren. Zweitens wird auch die kulturelle Dimension
besprochen, in der Vorurteilen der rote Faden bilden. Während zuerst wird kurz auf die
Familie in der Vojvodina im Rahmen der Okzidentalismen konzentriert, um später Ildis
Position in der Arbeit der Kundschaft gegenüber im Rahmen des Kriegs- und
Ausländerdiskurses zu besprechen.
5.1. Sprache als Herausforderung
Während im vorigen Kapitel die staatsnationalen Grenzen dank der transsprachlichen Liebe
überschritten wurden und so Ildis hybride Heimatsauffassung bildeten, werden jetzt die
Nationalsprachen weiter auf Hybridität überprüft. Der Ein- und Auswanderungsländer
bezüglich, kann festgestellt werden, dass Ildis Sprachekenntnisse das Ungarisch und das
Deutsch umfassen. Im Text wird deutlich, dass Ildi das Schweizer Schriftdeutsch verwendet,
zugleich aber Wörter auf Schwyzertüütsch und Ungarisch in den Text einbezieht. Wenn Ildi
und ihr Vater die Flugblätter der SVP auf der Eingangstür des ‚Mondials‘ entdecken, fällt in
ihrem Gespräch die stilistische Besonderheit der Verwendung dieser zwei Sprachen auf:
246
Handbook of Cross-Cultural Psychology: Social Behavior and Applications. Vol. 3. 2. Aufl. Hg. v. John W.
Berry et al. Boston: Allyn & Bacon 1997, S. 297 und S. 314-315. Berry stellt Akkulturationstrategien
(Assimilation, Segregation, Integration und Marginalization) dar, die beschreiben, wie Individuen in “all plural
societies” (S. 269) mit der Anpassung an einer neuen Gesellschaft umgehen. Im Fall einer Integration wird “a
high degree of contact and participation” (S. 297) beabsichtigt, wobei “heritage cultural maintenance” (S. 314)
die Erhaltung der kulturellen Merkmale des Herkunftslandes gemeint wird.
62
Eine Einladung zum Puure Zmorge, sage ich, Bauernfrühstück, gratis! […] man darf
umsonst Chäs und Wurscht essen, dafür wollen sie als Gegenleistung eine
Unterschrift, in der man eine Initiative unterstützt, meist eine menschenfeindliche. […]
Hülye csíny, sagt Vater. Was?, frage ich. Und Vater übersetzt, weil er glaubt, ich hätte
die ungarische Wendung nicht verstanden, ein Streik, ein dummer Kinderstreik, sagt
er, Streich, antworte ich (aber professionell gekleibt, denke ich) 247
Die beiden Sprachen stehen, im Gegensatz zum Hochdeutschen, im Kursivdruck und werden
außerdem direkt übersetzt, wenn sie nicht erkennbar sind: Käse und Wurst auf Deutsch ist
dem Schwyzertüütschen verwandt und auch ‚Streich‘ ist von ‚Streik‘ abzuleiten. Die zwei
Sprachen werden hervorgehoben, sodass die Trennung mit dem Deutschen sichtbar wird. Man
könnte sagen, dass Ildi ihre Sprachen stilistisch vom Deutschen versucht abzugrenzen,
während die zwei andere Sprachen einander verwandt werden, weil sie den Kursivdruck
gemeinsam haben.
Ihre Hervorhebung erzeugt nicht nur eine stilistische, sondern auch eine inhaltliche
Abweichung. Für ein Wort wie ‚Puure Zmorge‘ oder für die ungarische Wörter wäre ein
Wörterbuch notwendig, um die Bedeutung verstehen zu können. Obwohl Ildi diese
‚unverständlichen‘ Wörter beinahe gleich ins Deutsche übersetzt, ist der Leser für ein
einheitliches Verständnis des Textes von ihrer Hilfe abhängig. Ohne Übersetzung, „was für
viele MigrantInnen zum Alltag gehört“248, wird der Leser in der Position einer Migrantin
gezwungen, um so die verschiedenen Sprachen mit einander zu vereinen. Aber auch mit
Übersetzung bilden die wenigen schwyzertüütschen und ungarischen Worten wie Hindernisse
im Verstehensprozess, weil die Bedeutung dieser Worten nicht immer direkt folgt: die
Übersetzung für ‚Hülye csíny‘ ist etwa zwei Sätze später vorhanden. Die Übersetzung des
Vaters steht aber auch im Kursivdruck und weist damit auf seinen sprachlichen Fehler hin.
Die Fehler der Eltern im sprachlichen Bereich werden immer kursiv gedruckt, sodass
das Mangel ihrer Sprachkenntnisse hervorgehoben wird. Vor allem ist dabei die Aussprache
zu bemerken, die die deutschen Worten ändern: ‚Wortfrisch‘249 statt Wartefrist,
‚Förderalismus‘250 statt Föderalismus oder ‚Individien‘251 statt Individuen. Diese Fehler
haben laut Ildi „eine eigene Schönheit“252, aber reflektieren die Schwierigkeit der Eltern, die
Sprache richtig zu beherrschen. Die Fehlkommunikation ist bei ihnen manchmal eine Folge,
wie die Mutter auf ihre Einbürgerungsprüfung entdeckt, wenn sie das schweizerische Wort
247
Abonji: TFA, S. 100.
Christof Hamann: „Mangelhafte Pädagogik“. In: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie
und Literatur. Hg. v. Christof Hamann und Cornelia Sieber. Hildesheim: Olms 2002, S. 261.
249
Vgl. Abonji: TFA, S. 47.
250
Abonji: TFA, S. 146.
251
Abonji: TFA, S. 151.
252
Abonji: TFA, S. 149.
248
63
‚Sudel‘ für ‚Kladde‘ nicht versteht und stattdessen die Kommission „ein besonders
ausgefallenes Strudelrezept“253 gibt. Das komische Effekt der Missverständnisse und der
Aussprache, die von den eigenen Töchtern verbessert wird, deutet bei der Eltern auf eine
scheinbar unüberwindbare Kategorie der Sprache hin: „die Hilflosigkeit gegenüber erlittenem
Schmerz, Enttäuschungen, die sich hinter diesen Sprüchen verschanzen“ 254. Ildi stell deshalb
fest, dass die sprachliche Grenze sichtbar ist, weil ihre Eltern fast ‚verwandeln‘ 255 wenn sie
Ungarisch sprechen.
Die Fehler werden aber nicht immer korrigiert und auch die Übersetzung ungarischer
Wörter kann fehlen. In einem Vortrag, der seine Interpretation über die Schweizer schildert,
erzählt der Vater, wie sie ihre ‚Wurschtli‘ essen. Dabei schließt er, dass man überall „unseren
kolbász“ kennt, ohne dass Ildi das Wort als ‚Wurst‘ übersetzt. Auch über die Schweizer
Hausfrauen, die „zusammen höcklet, sitzen, besprechen“, bleibt unklar, was eindeutig unter
ihrer Aktivität zu verstehen ist. Dem Leser wird die eigene Interpretation dieser Ausdrücke
überlassen, gleichwie in deutschen Übersetzungen von ungarischen Redewendungen das
Ungarisch nicht dargestellt wird. So bleibt das ungarische Wort für Ochsenschwanzsuppe, die
auf Deutsch „ungeniessbar klingt“256, unbekannt und erzählt Ildi über ihre schlaflose Nacht
vor der Öffnung des ‚Mondials‘, dass auf Ungarisch ihre Augen traumlos geblieben sind,
während man auf Deutsch keine Auge zudrückt.257 Auf diese Weise wird die Neugier nach
dem eigentlichen Ausdruck aufgeweckt, aber bleibt leider ungestillt.
Wegen der abwesenden und fehlenden Übersetzungen kann eine Störung im Fluss der
Lektüre258 festgestellt werden. Das Verstehen wird durch die Einstreuung unterschiedlicher
Sprachen in den Text gehindert, wobei die sprachlichen Fehler der Eltern den Bruch zwischen
ihre Sprachkenntnisse des Ungarischen und Deutschen kennzeichnen. Übersetzungen werden
hauptsächlich bereitgestellt, können aber auch fehlen, sodass entweder das Schwyzertüütsch
oder das Ungarisch zum Fremdkörper wird. Ildi hat die Macht, diese Ausdrücke zu übersetzen
und folglich auch dem Leser eine Übersetzung zu verweigern, weil sie diese Sprachen
fließend beherrscht. Die Lesung gerät deshalb in einen hybriden Verstehensprozess, in dem
diese Übersetzungstechnik eine einheitliche Rezeption259 erschwert. Durch Ildis Sprachen
durcheinander zu verwenden, ohne notwendig zu übersetzen, wird der Leser in ihren
253
Abonji: TFA, S. 147.
Abonji: TFA, S. 149.
255
Vgl. Abonji: TFA, S. 115 und S. 149.
256
Abonji: TFA, S. 49.
257
Abonji: TFA, S. 52.
258
Vgl. Hamann: “Mangelhafte Pädagogik”, S. 261.
259
Vgl. Hamann: “Mangelhafte Pädagogik”, S. 261.
254
64
sprachlichen Raum verlagert und erfährt auch die Anstrengungen, mit denen sie als Mädchen
in der deutschen Sprache konfrontiert worden war. Will man Ildis Integrations verstehen,
dann sind nicht nur diese sprachliche Herausforderungen, sondern auch die doppelte
Darstellung der kulturellen Räume in diesem hybriden Verstehensprozess wichtig.
5.2. Vorurteilen und Schwierigkeit der Integration
Ildis Integration in der Schweizer Gesellschaft wird von verschiedenen Faktoren bestimmt
und erschwert. Die Schweizer Gesellschaft bildet ein Grundbaustein dieser Integration, weil
sie als Zielort der Migration den neuen Raum ist, in dem Ildis Leben sich neu gestalten soll.
Weil Migration eine andauernde Bewegung ist, sollen zugleich die Besuchen an der
Vojvodina nicht vernachlässigt werden. Beide Räumen werden im Folgenden im Rahmen der
Vorurteilen behandelt, um Ildis Zugehörigkeit zu ihnen zu erkunden.
5.2.1. Okzidentalismen in der Vojvodina
Die herrschende Idee über die Schweiz bei Familie und Freunde in der Vojvodina wird von
Reichtum bestimmt. Béla, Ildis Cousin, schreibt nicht nur dem Westen, sondern auch Ildi und
Nomi persönlich diesem Merkmal zu: „Ihr seid ganz verwöhnt bei euch im Westen,
Luxussorgen nenne ich das, wenn eure Eltern erzählen, dass bei euch alles so teuer ist“ 260.
Dadurch entsteht ein wir/sie-Diskrepanz, sodass er sich sichtbar von den Schwestern
differenziert. Auch Cousine Lujza, die für die Hochzeit von Nándor zusammen mit den
Schwestern Servietten faltet, stellt die Schwierigkeit, die die Schwestern in dieser Arbeit
unterfinden, in einem okzidentalistischen Diskurs fest: „ich dachte, ehrlich gesagt, dass ihr im
Westen alles könnt“261. Aus diesen Aussagen kann sogar einen Spur von Neid 262 bemerkt
werden, der auch sichtbar wird, wenn die Familie Kocsis auf die Hochzeit erscheint. Das
ganze Festzelt erstarrt: „Suppenlöffel bleiben in der Luft, an Brotbissen wird nicht mehr
gekaut, und einen Moment lang kommt es mir vor, als müssten wir rückwärts wieder raus“ 263.
Ildi glaubt, dass sie mit ihrer festlichen Kleidung auffällt und deswegen Tratsch auslöst: „Hat
wirklich jemand gesagt, da soll noch einer wissen, wer die Braut ist, gesagt?“ 264 Dieses
Benehmen der Vojvodiner Gesellschaft projiziert ein wir/sie-Gefühl auf Ildi, sodass sie sich
von ihrer Herkunftsort ausgegrenzt fühlt. Die Idee, in ihrer ‚Heimat‘ willkommen zu sein,
260
Abonji: TFA, S. 115.
Abonji: TFA, S. 32.
262
Vgl. Marković: “Naher Westen”, S. 539. Laut Marković wird der Westen wird zugleich bewundert und
gehasst.
263
Abonji: TFA, S. 34.
264
Abonji: TFA, S. 36.
261
65
wird mit diesen Hinweisen langsam abgebaut und wird in Analogie zu einem balkanistischen
Diskurs in der Schweiz Verwirrung über Ildis Zugehörigkeit hervorrufen.
5.2.2. Übernahme des ‚Mondials‘ als Hinweis der elterlichen Assimilation
Das ‚Mondial‘, das die Familie Kocsis von den Tanners übernimmt, öffnet die Türen im
Januar
1993.
Die
Familie
nimmt
aber
buchstäblich
alles
über:
„nicht
nur
Ochsenschwanzsuppe, Brät, Bratensauce, Ravioli und Bohnen aus der Büchse […], sondern
auch die beiden Serviertöchter, Anita und Christel, und Marlis, die Küchenhilfe“ 265. Der
Betrieb badet außerdem in einer senfgelben Farbe der Tischtücher 266 und Sitzbänke267, die das
‚Mondial‘ auch bei den Tanners hatte; nur die Tapete wird geändert. Sogar der Kaffee bleibt
derselbe, obwohl Kunden – laut Anita – den Kaffee „nicht mehr so stark [finden] wie bei den
Tanners“268. Bis auf die neuen Geschäftsführer und die Tapete bleibt alles im ‚Mondial‘ beim
Alten, „weil wir mit diesem Geschäft ein Glückslos gezogen haben“ 269, so Ildi. Das ‚Mondial‘
bekommt also keine neue Identität, obwohl die Familie freie Wahl in den Änderungen hat.
Deswegen kann die Geschäftsübernahme als eine Assimilationsbewegung gelesen werden:
Die Familie passt sich komplett an die neue Umgebung an. Der Grund dieser Assimilation
kann den Eltern zugeschrieben werden, und zwar aus zweierlei Hinsicht.
Erstens kann das Glückslos in Ildis Bemerkung zu dem Wortschatz eines Spiels
gerechnet werden. Die Familie ist „von einer guten Fee geküsst worden“ 270 und die Mutter
erzählt, dass sie von konkurrierenden Interessenten für das Geschäft „gewonnen“ 271 haben.
Der Erfolg in der Arbeit haben sie dem Glück zu verdanken, das „eine logische und gerechte
Fortsetzung der Vergangenheit“272 ist, weil die früheren Arbeitsstellen in Niedriglohnsektoren
schwer waren. Die Vorbereitung der Eltern auf die Einbürgerungsprüfung wird beschrieben,
während die Familie Monopoly spielt. Da erwies sich die Sprache als Hürde, die beim
zweiten Anlauf überwunden wurde. Der bestandene Test reicht für die Eltern aber noch nicht,
um die Schweizer Nationalität zu bekommen: „die Schweizer müssen erst mal noch
abstimmen für uns.“273 Daraus kann der zweite Grund der Assimilation der Eltern hergeleitet
werden, nämlich die Angst, nicht von den Schweizern akzeptiert zu werden. Diese Angst geht
265
Abonji: TFA, S. 52-53.
Vgl. Abonji: TFA, S. 180.
267
Vgl. Abonji: TFA, S. 108.
268
Abonji: TFA, S. 62.
269
Abonji: TFA, S. 49.
270
Abonji: TFA, S. 49.
271
Abonji: TFA, S. 44.
272
Abonji: TFA, S. 45.
273
Abonji: TFA, S. 150.
266
66
auf die berüchtigte Schwarzenbach-Initiative im Jahr 1970 zurück. Diese ‚Initiative Gegen
Überfremdung‘274 wurde von der Partei ‚Nationale Aktion‘ mit der Absicht, den
Ausländeranteil auf 10 Prozent herabzusetzen, organisiert. Ildis Eltern fürchteten, dass sie mit
nichts in die Vojvodina zurückkehren sollten. Dreiviertel der Wähler stimmte ab und mit 54%
Gegenstimmen wurde der Vorschlag abgelehnt. Ildis Vater spricht von einem Respekt, den er
seitdem fühlt, weil „man immer damit rechnen müsse, ausgewiesen zu werden.“275 Die
Schweizer haben den Eltern dieses Schicksal erspart, aber bei der Übernahme des ,Mondials‘
haben die Eltern noch immer Angst dafür, zurückgeschickt zu werden, falls sie sich nicht
genügend anpassen. Ildi sieht dies anders, da sie zunächst in die Vojvodina zurückkehren will
und da ihre Arbeit im ‚Mondial’ ihr nicht gefällt. Vielmehr scheint der Assimilationsdrang der
Eltern die Integration von Ildi zu behindern.
5.2.3. Das Fräulein
Nach der Kündigung von Anita und Christel, deren Stellen, so die Eltern, vorzugsweise von
Schweizerinnen276 neu besetzt werden sollen, beschreibt Ildi zum ersten Mal ihre Arbeit bis
ins Detail. Hinter dem Buffet ist sie für die Bestellungen verantwortlich und für
„Milchschaumberge“277 auf Cappuccinos braucht sie neben der Kaffeemaschine auch die
nötige Handarbeit 278, damit der Schaum beim Streuen der Schokoladepulver nicht einstürzt.
Genau diese menschliche Komponente im sonst mechanischen Prozess interessiert Ildi an
ihrer Arbeit. Ildis Gefühl, in der Arbeit fähig zu sein, wird von einem Schutzgefühl gesteuert.
Die Theke, wo sie den Kaffee produziert, löst dieses Gefühl aus und schützt „wenigstens den
unteren Teil des Körpers“279. Dies im Gegenteil zum Service, in dem Ildi sich, obwohl sie
sich in dieser Tätigkeit freier bewegen kann, „vogelfrei“ 280 und gestresst fühlt.
Ein erstes Problem im Service bilden die Nerven, die sie beim Hören der Äußerung
„Fräulein zalle!“ zu verlieren und sich in ihr „Innenleben“ 281 zurückzuziehen droht. Laufen
ist ein zweites Element, das sie vermeiden soll, denn „(wir müssen den Gästen das Gefühl
geben, dass uns unsere Arbeit leicht fällt, versteht ihr?)“ 282. Diese Bemerkung hat einen
274
Vgl. The Radical Right in Switzerland: Continuity and Change, 1945-2000. Damir Skenderovic. USA:
Berghahn Books 2009, S. 65-66.
275
Abonji: TFA, S. 101.
276
Vgl. Abonji: TFA, S. 88.
277
Abonji: TFA, S. 88.
278
Abonji: TFA, S. 89.
279
Abonji: TFA, S. 89.
280
Abonji: TFA, S. 89.
281
Abonji: TFA, S. 104.
282
Abonji: TFA, S. 105.
67
belehrenden Ton und wird nebenbei erwähnt, als ob Ildi beim Erzählen durch die
Geschwindigkeit ihrer Arbeit beeinflusst worden ist. Der dritte und wichtigste Aspekt ist die
Kleidung, oder wie Ildi sie nennt: „Verkleidung“283. Dieser Begriff enthält eine weibliche und
eine postkoloniale Dimension, die die Identität als Frau bzw. Migrantin prägt.
Ihr Kostüm besteht aus einer Bluse und einem Jupe oder einem Kleid 284 und sie
empfindet wegen der Strumpfhose „einen unangenehmen Druck auf meine Schenkel“ 285.
Diese typisch weibliche Kleidung wird mit den Baggy Pants und den zu großen Pullovern 286,
die Ildi „geschlechtslos“287 – laut den Eltern vor allem männlich – machen, kontrastiert.
Weder in der Arbeit noch in der Freizeit ist Ildi im Stande, sich in ihrem Aussehen zu äußern,
weil beide Genderrollen ihr aufgedrängt werden. Sie kleidet sich nicht, sonder verkleidet sich
und führt eine Rolle auf, die der Assimilation der Eltern entspricht. Der Zusammenhang mit
dem Theatralischen wird später anhand des postkolonialen Konzeptes von Mimikry erkundet.
Zuerst soll aber die Dynamik mit der Kundschaft erkundet werden.
5.2.3.1. Ildi in der Arbeitsstelle: der integrierte „homo balcanicus“ 288
Im Kapitel „Wörter Wie“ arbeitet Ildi im Service, in dem die Nerven, das Laufen und die
Frauenkleider sie ersticken, während sie die balkanistisch geprägten Gespräche der Kunden
anhört. Der Kunde Herr Pfister bespricht die Kriegssituation in Jugoslawien, wo die
Aufklärung „einfach noch nicht durchgemacht“289 worden sei, und wundert sich, ob der Vater
von Slobodan Milošević, dem serbischen Präsidenten, ein Schuhmacher war. Inzwischen hat
Frau Hungerbühler ihren zweiten Schuh, der sich unter Herr Pfisters Tisch befindet, verloren.
Wenn Ildi auf den Knien290 unter dem Tisch herumkriecht, um den Schuh zu suchen, entdeckt
sie Herrn Pfisters Hund. Die Kommentare und der Druck der Arbeit sind so überwältigend,
dass Ildi den Herrn Pfister „ins Bein beissen“291 will. Wenn er Ildi über die
Herausforderungen eines Arbeitgebers erzählt, sitzt Ildi gerade mit dem Hund unter der
Sitzbank.
[I]ch weiss ja, dass der Schweizer heute andere Ansprüche hat, und dann, wenn die
Schweizer erst mal weg sind, muss man sich mit Albanern oder sonstigen Balkanesen
283
Abonji: TFA, S. 88.
Vgl. Abonji: TFA, S. 88 und S. 235. Ildi spricht von ihren “Mondial-Kleidern” (S. 235).
285
Abonji: TFA, S. 105.
286
Vgl. Abonji: TFA, S. 133-134.
287
Abonji: TFA, S. 134.
288
Abonji: TFA, S. 108.
289
Abonji: TFA, S. 108.
290
Abonji: TFA, S. 107.
291
Abonji: TFA, S. 108.
284
68
zufrieden geben; […] bei Ihnen, das ist ja etwas anderes, Sie sind ja schon
eingebürgert und kennen die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes, aber die, die
seit den 90ern kommen, das ist ja rohes Material292
Nicht nur wird sie wegen des Schuhes mit Milošević assoziiert, sondern sie teilt auch den
Platz unter Herrn Pfister mit dem Hund, sodass sie sich in eine ähnliche unterlegene Position
wie der Hund befindet, der von seinem Herrchen besitzt wird. Ildi wird auf diese Weise mit
dem Hund identifiziert, während Pfisters Kommentar zwischen ihr und den „rohen“
Ausländern aus dem Balkan differenziert. Im Gegensatz zu ihnen ist Ildi, so Pfister, integriert,
weil sie die Gewohnheiten in der Schweiz kennt. Obwohl sie nicht zu dieser Ausländergruppe
gerechnet wird, wird ihr Migrantenstatus aber doch über die Identifikation mit dem Hund
markiert. Sie steht zwischen diesen zwei Gruppen, gehört zu keiner der zwei, sondern zu den
Hunden, die laut Ildis Vater in der Schweizer Gesellschaft Vortritt 293 haben. Diese Position
erinnert an Bhabhas bildsprachliches Treppenhaus, das die Entstehung primordialer
Polaritäten auf beiden Enden verhindert. Ildi als integrierte Migrantin hat weder die
Schweizer noch die Vojvodiner Identität, sondern steht in einem dialogischen Verhältnis
zwischen ihnen. Ihre Identität wird von den Kunden aber nur ihrem Herkunftsland
zugeschrieben. Weil sie ständig – in metaphorischem Sinne – in die Vojvodina
zurückgeschickt, wird sie einseitig als Migrantin definiert und auf diese Weise von der
Schweizer Gesellschaft ausgegrenzt.
5.2.3.2. „Woher kommen Sie eigentlich?“294: Ildis Migrantinidentität
Wenn Ildi von den Kunden nach ihrem Land gefragt wird, entsteht eine Diskrepanz in Ildis
Migrantinidentität. Weil sie aus dem ungarischen Teil Serbiens kommt und also kein
Serbokroatisch, sondern Ungarisch spricht, meinen die Kunden, dass sie nicht vom Balkan ist.
Ildis Reaktion auf dieses Gespräch spiegelt die Diskrepanz ihrer Identität: „Nicht eigentlich,
antwortete ich, aber doch irgendwie, dachte ich.“295 Ihrer Antwort wegen konkludiert Herr
Berger: „ich hab’s doch gesagt, die vom Balkan haben andere Hinterköpfe“ 296. Für Herrn
Berger haben die Menschen auf dem Balkan ‚andere‘ Hinterköpfe, aber er erwähnt nicht,
wem sie entgegengesetzt werden. Er ordnet Ildi wegen ihrer Sprachkenntnisse Ungarn zu,
obwohl Ildi aus Serbien kommt und seiner Meinung nach auch einen ‚anderen‘ Hinterkopf
292
Abonji: TFA, S. 108.
Vgl. Abonji: TFA, S. 148.
294
Abonji: TFA, S. 239. Die Frage wird dem Herrn Tognoni, einem italienischen Einwanderer, gestellt aber vgl.
Abonji: TFA, S. 240, wo Ildi in dasselbe Gespräch einbezogen wird.
295
Abonji: TFA, S. 241.
296
Abonji: TFA, S. 241.
293
69
haben würde. Ungarn ist für Ildi „immer die Rettung“297, weil Ungarn als außerhalb des
Balkans positiv bewertet wird. Da aber Ildis Dorf in der Vojvodina mit den Pappeln und der
Ebene zum Balkanraum gehören, wird der serbische Anteil in Ildis Identität von ihr nicht
verneint. Sie fühlt sich selber mit dem Balkan verbunden, sodass die balkanistischen
Kommentare der Kunden sie tatsächlich treffen. Laura Brown nennt solche Bemerkungen
Angriffe auf die Psyche, die im Stande sind eine ‚insidious traumatization‘ auszulösen:
In the lives of many individuals who are members of target groups, daily existence is
replete with reminders of the potential for traumatization and the absence of safety.
These reminders can occur in apparently banal ways, for instance, when a member of
one’s group is made a target of ridicule in a public discourse or when media
consistently portray one’s group in a stereotypical manner. 298
Ein zusätzliches Element in Ildis Migrantinidentität bildet der Schweizer Raum, in dem Ildi
aufgewachsen und sozialisiert worden ist. Keiner der Kunden aber fragt sie aber nach ihren
Kenntnissen über die Schweizer Kultur und Geschichte, obwohl sie diese beherrscht:
(vielleicht stelle ich Ihnen nächstes Mal eine Frage, denke ich, über die
Glaubenskriege, die Schlacht bei Sempach, die Reisläufer oder die Teufelssage würde
sie, die ich bin, Tisch sechs und sieben befragen, und Frau Berger würde vor Schreck
vergessen, das Milchschäumchen unauffällig vom Mundwinkel abzulecken, da sie
nicht erwartet hat, dass das Fräulein eine Frage zur Schweizer Geschichte, zur
Schweizer Kultur stellen kann; ich komme vom Balkan und studiere Geschichte,
werde ich sagen, Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte […])299
Die Klammern verraten, dass es sich um eine imaginäre Situation handelt. Ildi spricht noch
immer über ein Geschichtsstudium, mit dem sie gerne anfangen will, und scheint wegen ihrer
Faszination für Geschichte und der Klammerverwendung ihre eigene Geschichte zu erzählen,
die sich von ungarischen, serbischen und Schweizer Merkmalen gestalten lässt. Die
Klammern unterstützen Ildis Versuch, die einseitige Auffassung der Kunden über Ildis
Identität als Nicht-Schweizerin zu nuancieren, und vermitteln deshalb Ildis Hybridität.
Nicht nur die Balkanismen, sondern auch die Unwissenheit über den Balkan ist
problematisch für Ildis Migrantinsubjektivität. Dabei ist die Differenzierung zwischen den
verschiedenen Ethnizitäten, wie die ungarische Minderheit in der Vojvodina, abwesend. Ildis
Vater erzählt, wie ein Kunde ihn fragte, „ob wir denn alle Jugos seien, und ich musste dem
Meili erklären, dass wir Ungarn sind, warum weiss der Meili das nicht?, könnt ihr da vorne
eigentlich den Gästen nicht erklären, was der Unterschied ist zwischen Slawen und
297
Abonji: TFA, S. 240.
Brown: Trauma Therapy, S. 103.
299
Abonji: TFA, S. 242.
298
70
Ungarn?“300 Der Vater lehnt damit einen möglichen gemeinsamen Hintergrund mit Dragana,
die aus Sarajevo kommt und in der Küche arbeitet, und mit Glorija, der kroatischen
Serviertochter, die „fast fliessend Deutsch spricht“301, ab. Über die kulturellen und
sprachlichen Ausprägungen der Familie scheinen die Kunden hinwegzusehen und indem sie
vorurteilshaft reden, reduzieren die Vielfalt des Balkans zu einem homogenen Raum.
[C]ontradictory articulations of reality and desire – seen in racist stereotypes,
statements, jokes, myths – […] are the effects of a disavowal that denies the
differences of the other but produces in its stead forms of authority and multiple belief
that alienate the assumptions of „civil“ discourse. 302
Dem autoritären Diskurs, dem Ildi nicht öffentlich entgegentritt, wird hinzugefügt, „der
Balkan ist aber keine Einheit“303. Nicht nur bei den Kunden, sonder auch im ‚Wohlgroth‘
werden Missverständnisse über Ildis Herkunft sichtbar, wenn Benno Ildi und Nomi wegen
ihrer vermuteten Sprachkenntnisse des Serbokroatischen um Hilfe bei seiner Mediengruppe
bittet. Ildi meint, „man kennt uns, weiss, dass wir aus Jugoslawien kommen, das ist fast so, als
käme man aus Moskau“ und bestätigt damit die Unwissenheit der Schweizer Jugend im
‚Wohlgroth‘ über die Lage Jugoslawiens. Benno aber lokalisiert die Schwestern sofort in der
Vojvodina, wenn sie ihm erklären, sie sprechen Ungarisch. Die Ähnlichkeit zwischen
Russland und Jugoslawien wird noch einmal insinuiert, wenn Herr Tognoni dachte, dass Ildi
aus Russland304 kam. Nicht nur die Arbeitskleidung, die Ildi zur Assimilation zwingt, sondern
auch die Gefahr, von den uninformierten, balkanistischen Kommentaren verletzt zu werden,
erschweren die von Ildi aufgeführte Rolle des Fräuleins im Service. Wie sie mit dieser Rolle
umgeht, wird anhand der Metapher der Maske erforscht.
5.3. Mimikry und gescheiterte Integration wegen der Fräulein-Maske
Im ‚Wohlgroth‘ versucht Ildi dem Assimilationsdruck und den Balkanismen zu entfliehen,
stattdessen begegnet sie dort ihrem Innenleben, das sie in der Arbeit vermeidet. Während Ildi
einen Joint raucht, hofft sie die Arbeit zu vergessen und denkt: „gleich werde ich Tierköpfe
sehen und keine Menschengesichter mehr“305. Das Marihuana hat aber eine schlechte
Auswirkung auf sie, weil durch die Besprechung von Bennos Mediengruppe Bilder von dem
Krieg in Sarajevo sie beängstigen. Die Szene endet mit Nomi in den Toiletten, wo ihre
300
Abonji: TFA, S. 226.
Abonji: TFA, S. 88.
302
Bhabha: Location, S. 91.
303
Abonji: TFA, S. 237.
304
Vgl. Abonji: TFA, S. 241-242.
305
Abonji: TFA, S. 139.
301
71
Schwester sie zu beruhigen versucht. Wenn sie sich im Spiegel betrachtet, erinnert sich Ildi an
Mamikas Aussage, dass jeder Mensch mehr als zwei Gesichter hat und stellt fest, dass sie nur
ein Gesicht haben, nicht mehr im ‚Mondial‘ arbeiten oder ins ‚Wohlgroth‘ kommen will. Die
verschiedenen Gesichter, die sie sowohl in der Arbeit als in der Freizeit hat, erträgt sie nicht
mehr, und sie sehnt nach einem Gesicht, mit dem sie nicht länger „unecht“ 306 ist, sondern
„einen echten Kern“307 in ihrer Arbeit auffinden kann. Diese Sehnsucht nach Authentizität
erweitert die Besprechung von der Rolle, die Ildi als Fräulein in der Arbeitskleidung aufführt.
Ildis Benehmen in der Arbeit kann als eine Maske gelesen werden, die Ildi von den
Kunden aufgesetzt wird und die als Teil der kolonialen Mimikry Ildis ‚unechtes‘ Innenleben
vertritt. Bhabha hat Mimikry definiert als
„the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is
almost the same, but not quite. […] the discourse of mimicry is constructed around an
ambivalence; in order to be effective, mimicry must continually produce its slippage,
its excess, its difference.“308
Ildi wird als Migrantin einem Bild des ‚Anderen‘ zugeordnet, das konstruiert wird, um der
Schweizer Gesellschaft zu ähneln und zugleich von ihr differenziert zu werden. Eine solche
Konstruktion ist ambivalent und kann nur funktionieren, indem ständig nach Differenz
gesucht wird. Ildis Integration wird in jedem balkanistischen Gespräch aufgehoben, weil Ildi
wegen ihrer Herkunft dabei eine Zugehörigkeit in der Schweiz versagt wird. Ildi spiegelt die
Erwartungen der Kunden und benimmt sich, wie die Rolle eines Fräuleins es vorschreibt, aber
erkennt, dass „das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist“ 309. Deshalb
wird deutlich, warum sie sich dafür entscheidet, in bestimmten Momenten nicht zu reden und
ihre Meinung zwischen Klammern oder in Gedanken zu äußern. Ildis Stimme soll in ihrer
Interaktion mit den Kunden also nicht notwendig hörbar sein, aber ist auf jeden Fall
emanzipatorisch konnotiert, indem ihre Meinung dem herrschenden Diskurs der Kunden
widerspricht. Bhabha stellt weiter, dass in dem Versuch, einen ähnlichen ‚Anderen‘ zu
kreieren, die Differenz von dieser Konstruktion Besitz ergreift und den ‚Anderen‘ als „a
‚partial‘ presence“310 darstellt. Das koloniale Subjekt in Bhabhas Theorie ist zugleich
‚incomplete‘ wie ‚virtual‘311 im Mimikry-Diskurs des Kolonisators und wird niemals
einheitlich dargestellt. Auch gibt es keine wahre Essenz, die sich hinter diesen Darstellungen,
306
Abonji: TFA, S. 134.
Abonji: TFA, S. 135.
308
Bhabha: Location, S. 86.
309
Abonji: TFA, S. 283.
310
Bhabha: Location, S. 86.
311
Vgl. Bhabha: Location, S. 86.
307
72
diesen von den Kolonisatoren auferlegten Masken, verbirgt. Eine ähnliche Aufspaltung der
Person ist sichtbar in Ildis Erzählstrategie, in der oft die Formel „sie, die ich bin“ verwendet
wird. So verbindet sie Herrn Pfisters balkanistisches Gespräch mit dem Kompliment, dass sie
sehr kompetent ist in ihrer Arbeit, sodass die Ambivalenz der Mimikry sichtbar wird.
Zugleich weist sie das Resultat ihrer Arbeit im doppelten Gefühl auf, nicht auf seine
schmerzlichen Bemerkungen über MigrantInnen reagiert zu haben: „ich, die sich trotz allem
geschmeichelt fühlt, ärgere mich, über sie, die ich bin.“ 312 In ihrer Arbeit im Service wird Ildi
ständig mit der Mimikry konfrontiert, zum trügerischen Schein, dass die Schweizer Kunden
sie akzeptiert haben und die Integration deshalb gelungen ist. Sie ist nicht im Stande, sich der
Dynamik der Mimikry zu entziehen, weil ihr die Maske des Fräuleins von anderen auferlegt
wird. Nicht nur die Kunden, sondern auch die Eltern fragen ständig, diese Maske aufzusetzen,
um die Kunden zufrieden zu stellen. Im Rahmen der Assimilation und der Mimikry hat sich
die Fräulein-Maske als besonders nützlich für das Verständnis von Ildis Migrantinidentität
aufgezeigt. In dieser Dynamik zwischen Balkanismen und Verkleidung kann aber zusätzlich
eine zweite Ebene in der Maskenmetaphorik bemerkt werden.
5.3.1. „wir Serben sind Menschenfresser“ 313: Hundemaske des Krieges
Ein anderer Aspekt, der aus dem Verhältnis zwischen Ildi und den Kunden entsteht, wird von
der animalischen Darstellung des Balkanmenschen, die Ildi sich in einer verspottenden Art
aneignet, gebildet. In der Besprechung von Ildis Integration wurde behauptet, dass eine
Identifikation zwischen Ildi und Herrn Pfisters Hund dieselbe unterlegene Position verrät. Sie
wird auf diese Weise mit den Einwanderern aus dem Balkan gleichgestellt, obwohl Pfister ihr
deutlich macht, sie sei wegen ihres Verständnisses der Schweizer Gewohnheiten anders. Auch
im ‚Wohlgroth‘, wenn sie Tierköpfe sehen will und stattdessen mit Opfern im belagerten
Sarajevo konfrontiert wird, will sie „keine Hunde mehr sehen, keine blutenden Münder“ 314.
Die Assoziation, die zwischen Hunden und Sarajevo gemacht wird, lässt vermuten, dass die
Identifikation mit Pfisters Hund Ildi im weiteren Sinne mit den Kriegsopfern gleichstellt.
Umgekehrt, aber, lässt der vom Krieg leidende Balkanmensch sich auch mit dem Hund
assoziieren. So erinnert Ildi sich an die zwei Schäferhunde ihres Cousins Béla, wenn ihr Vater
einen Abend bei der Ankunft in der Vojvodina mit dem Auto in der Erde festfährt. Onkel Piri,
der Bélas Vater ist, und Béla selber helfen Miklós den Wagen zum Gehen zu bringen. Wenn
312
Abonji: TFA, S. 109.
Abonji: TFA, S. 157.
314
Abonji: TFA, S. 142.
313
73
sich Béla mit seinem Vater und Miklós dem Auto annähern, merkt Ildi, wie Béla nicht beeilt
ist, „während die Väter rennen, als hätte Béla sie aufgescheucht, als würde er sie vor sich
hertreiben“315. Während Béla vor dieser animalischen Bildsprache bewahrt wird, ähneln die
Väter in Ildis Darstellung den Hunden.
Über die Assoziation zwischen Tieren und Kolonisierten wird behauptet, dass auf
diese Weise das Stereotyp des animalischen, wilden schwarzen Mannes in Stand gehalten
wird, der im kolonialen Diskurs als Verbrecher dargestellt wird.316 Herr Pfisters Bemerkung,
dass die Serben eine „kriegerische Meute […] wie die Hyänen“ sind, verbindet die tierische
Bildsprache mit dem Streit. Auch der von Ildi eingebildete Vortrag ihres Onkels Piri über den
Krieg und die Politiker macht diese Verbindung. Er nennt die Politiker auf Ungarisch nicht
„politikusok“, sondern verwendet die Abkürzung „kusok“, das laut Ildi klingt wie
„Kuscher“317 auf Deutsch. Auf diese Weise wird der Befehl ‚kusch‘ insinuiert, der einem
Hund gegeben wird, um sich hinzulegen und still zu sein. Diese Assoziation erklärt auch
Nomis und Ildis Witze, um einen Begriff wie ‚Balkankrieg‘ zu deuten: „das klingt wie eine
Spezialität, so wie es Waadtländer Saucisson oder Wiener Schnitzel gibt, […] die Spezialität
eines Volkes, ein hausgemachtes Produkt, das einem kriegerischen Charakter entspringt“ 318.
Während die Tiere im kolonialen Diskurs und bei Pfister negativ konnotiert werden, werden
sie bei Ildi als Opfer dargestellt und sind auch die Witze ein Versuch, die Besorgnisse um die
Familie zu lindern.
Auch die Beschreibung der Zähne, die im Allgemeinen mit Essen assoziiert werden,
kann im Rahmen des Tierischen betrachtet werden. Die Bildsprache des Kannibalismus wird
verwendet, um die Grenzen in der wir/sie-Diskrepanz zu verstärken319 und ermöglicht
deswegen die Interpretation, dass der Balkanmensch als ein Wilder dargestellt wird. Der
Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei im Kannibalismus spiegelt nicht nur den
früheren kolonialen Diskurs, sondern ist auch als Mittel zur Unterdrückung der Macht von
marginalen Gruppen in der Gesellschaft verwendet worden. 320 Ildis Vater ist mit seinen
aufblitzenden Schneidezähnen321 und goldenen Vorderzähnen322 der Hauptvertreter des
315
Abonji: TFA, S. 112.
Vgl. Sara Upstone: Spatial Politics in the Postcolonial Novel. Surrey: Ashgate Publishing, 2009, S. 151.
317
Abonji: TFA, S. 232.
318
Abonji: TFA, S. 234.
319
Vgl. Kristen Guest: “Introduction: Cannibalism and the Boundaries of Identity” . In: Eating Their Words:
Cannibalism and the Boundaries of Cultural Identity. Hg. v. Kristen Guest. New York: State University of New
York Press 2001, S. 2.
320
Vgl. Kristen Guest: “Introduction”, S. 2.
321
Vgl. Abonji: TFA, S. 24.
322
Vgl. Abonji: TFA, S. 28.
316
74
Zahnmotives. Die Mitglieder der Vojvodiner Familie werden der Reihe nach überprüft, um
ihnen eine mögliche Arbeitsstelle im ‚Mondial‘ anzubieten. Die Zähne bilden dabei einen
Stolperstein, weil die Onkel „mit ihrem je speziell schadhaften Gebiss jeden Gast misstrauisch
machen würden“323. Auch die Cousine Csilla sollte ihr „Zahn-Zahnlücke-Lachen“324
verstecken, denn „die Schweizer sind so was nicht gewohnt“325. Das Motiv der Zähne wird
sichtbar zum Animalischen erweitert, wenn im Gespräch mit Dragana über den Krieg Ildi sich
selber mit einem Tier vergleicht. Ildi scheint eine Tiermaske aufzusetzen, in der sie sich die
kannibalische Konnotation des Balkans aneignet. Ildi bildet sich ein, dass sie und Dragana
zwei Tiere [sind], die sich in die Augen schauen, […] die Todesfeinde sein müssten,
weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? und ich zur ungarischen
Minderheit in Serbien gehöre […]. (Unsere Gäste, sind die deutsche Schweizer oder
schweizerische Deutsche?) 326
Die Unklarheit über Draganas Identität verwirrt Ildi auf solche Weise, dass sie die ethnische
Situation des Balkans auf die Schweiz projiziert. Die eingeklammerte Frage nach der
Ethnizität der Gäste scheint vielmehr Ildis eigene Zugehörigkeit zum ungarisch-serbischen
und schweizerisch-deutschen Kulturraum zu bestätigen. Weil ihre ungarische Seite nicht nur
von Ungarn, sondern auch von Serbien bestimmt wird, kann an dieser Stelle angenommen
werden, dass auch ihre Sozialisation in der Schweizer Gesellschaft in ihrer Jugend Spuren von
deutschen kulturellen Einflüssen in sich trägt. Indem Kannibalismus auch binäre
Oppositionen in Frage stellt,327 kann Ildi wegen ihrer eingeklammerten kritischen Befragung
als eine Kannibalin gesehen werden: die Schweiz und der Balkan werden hier nämlich nicht
antagonistisch aufeinander bezogen, sondern ähneln einander. Weil Kannibalismus einen
Binarismus anzweifelt, ist die Kannibalin außerdem im Stande die Idee der Koexistenz von
Menschlichkeit und Wildheit aufzulösen. 328 Sie verkörpert die beiden Konzepte und nimmt
deshalb eine Schwellenposition ein. Im weiteren Sinne ist damit auch den Gegensatz
zwischen unzivilisierter Natur und kultivierter Zivilisation gemeint. Ein Krieg, wie dieser auf
dem Balkan, wäre dieser Argumentation zufolge auch in der Schweiz möglich. Im Krieg
scheint die Grenze zwischen Kultur und Natur zu verblassen, sodass auch die Schweizer zum
Gegenstand eines tierischen, unzivilisierten Diskurses werden können.
323
Abonji: TFA, S. 90.
Abonji: TFA, S. 90.
325
Abonji: TFA, S. 91.
326
Abonji: TFA, S. 157-158.
327
Vgl. Kristen Guest: “Introduction”, S. 4.
328
Vgl. Kristen Guest: “Introduction”, S. 4.
324
75
Weder die Witze, noch die animalische Bildsprache werden aber von Ildi fortgesetzt,
wenn sie die Nachricht bekommt, dass Béla eingezogen worden ist. Béla, der nicht als Hund,
sondern als Herrchen beschrieben wird, ist aber auch ein Opfer, „weil er als Ungar nicht in
der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will“ 329. Ildis Gespräche mit Dalibor, der über seine
Kriegserfahrungen erzählt, vermitteln ein negatives Bild der Armee und des Kriegs. Er fragt
Ildi, ob sie weiß, „wie es ist, wenn du schießen musst, und wenn du es nicht tust, wirst du
erschossen?“330 und bekennt implizit, dass er seinen besten Freund erschossen hat. Ildi bildet
sich ein, dass Béla, wie Dalibor, in der Armee zum Töten gezwungen wird, und denkt
verschiedene Worst-Case-Szenarien aus, in denen ihr Cousin umgebracht wird. In der
Hundemaske spiegelt Ildi ihre Besorgnisse um ihre Vojvodiner Familie, die sich in einer
Kriegssituation befindet. Die Assoziation mit Zähnen oder Hunden ist bei Béla aber
abwesend, weil seine Teilnahme im Krieg für Ildi die Realität ihrer Verwandten konkret
macht. Sie denkt, dass man „Hunde retten müsste“331, aber steht der Unmöglichkeit, ihre
Familie zu erreichen, machtlos gegenüber. Der Kriegsdiskurs der Kunden stellt den
kriegführenden Balkan tierisch-kannibalisch dar, sodass der Balkanmensch als Wilder negativ
konnotiert wird. Ildis Hundemaske entspricht dieser Sprache, sodass sie zur Kannibalin wird.
Wegen der Schweizer Komponente in ihrer Identität versucht sie die Kriegssituation auf die
Schweiz zu projizieren. Die Funktion dieser Maske opponiert deswegen die binaristisch
geprägten Kommentare, indem Ildi sich als Kannibalin in einer hybriden Position befindet: sie
kommt vom ‚wilden‘ und tierischen Balkan, aber verkörpert die menschliche Dimension des
Krieges, weil sie das Leid der Opfer thematisiert. Sie erkennt jetzt, „dass der Krieg tatsächlich
ein Gesicht hat“332, weil Bélas menschliches Schicksal die Universalität des Krieges, die
staatsnationale und kulturelle Grenzen übersteigt, enttarnt.
5.3.2. Das ‚Fräulein‘ Ildi als rettende Zahnärztin
Das Zahnmotiv, das mit dem Animalischen und dem Kannibalismus assoziiert worden ist,
erzielt eine Darstellung des Wilden, die dem Vorurteil, der Balkanmensch sei ein
Menschenfresser, entspricht. Die Tierköpfe, die Ildi sieht, werden aber mit den Opfern des
Krieges gleichgesetzt, sodass die einseitige Täter-Perspektive des kriegführenden Wilden
gemildert wird. Sie versucht deshalb ihrer Familie, die auch unter dem Krieg leitet, zu helfen.
Die fehlerhaften Zähne ihrer Familie verraten die Unfähigkeit richtig essen zu können und
329
Abonji: TFA, S. 157.
Abonji: TFA, S. 263.
331
Abonji: TFA, S. 108.
332
Abonji: TFA, S. 233.
330
76
entkräften damit eine Assoziation mit kannibalischen Neigungen und folglich auch das
Stereotyp. Die Machtlosigkeit der Familie wird auf diese Weise betont, sodass Ildis versucht,
Hilfe für diese benachteiligte Lage zu finden.
Beim Hören der Nachricht, dass Béla eingezogen worden ist, stellt die Mutter fest,
man könne nur warten. Während Ildi krampfhaft versucht, Lösungen zu finden, kann sie
selber nur einen konkreten Vorschlag machen, und zwar, dass Tante Icu im ‚Mondial‘
arbeiten könnte. Die Mutter lehnt diese Möglichkeit aber sofort ab und zwingt Ildi in dieselbe
hilflose Position, die im Laufe der Erzählung Schuldgefühle auslösen wird. Die
Konfrontation, sich jeden Tag mit Essen zu beschäftigen, während die Familie dem Krieg
nicht ohne Hilfe entfliehen kann, thematisiert Ildis Schuldgefühl, dass sie sich in der Schweiz
im „Zuschauerraum“333 befindet. Weil Dragana ihren Sohn in Sarajevo hinterlassen hat und
deswegen die eigene hilflose Position bedauert, entzündet sie bei Ildi noch mehr das
Engagement, etwas für ihre Familie tun zu können. So überlegt sie sich, sich vielleicht doch
Bennos Mediengruppe anzuschließen, um die unabhängige Zeitung in Sarajevo zu
unterstützen. Dalibor dagegen verweisen Ildi an Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty
International und macht damit deutlich, dass sie persönlich während des Krieges niemandem
auf dem Balkan helfen kann.
Trotz der ernüchternden Feststellung, dass direkte Hilfe von Ildis Seite unmöglich ist,
befindet sie sich in der Rolle einer Retterin, die in Anspielungen auf ihre Ähnlichkeit wie
Zahnärztin sichtbar sind. Das fehlerhafte Gebiss ihrer Familie stellt auf erweiterte Weise ihre
Position im Krieg vor, sodass Ildis Versuche, die Familie zu helfen, der Metapher einer
Zahnärztin passt. Ildis Vater motiviert sie, eine Ausbildung zu suchen, sodass sie einen Beruf
als Zahnärztin334 haben kann. Er stellt aber fest, „es gibt Schöneres, als allen in die
Innenausstattung zu schauen“335 und demotiviert damit die Retterin, ihre Absichten zu
verfolgen. Dalibor bemerkt, dass ihre Arbeitskleidung so aussieht, als wäre sie in einer
Zahnarztpraxis angestellt, fügt aber hinzu, dass das Kleid nicht zu ihr passt. 336 Mit seiner
Aussage wird auch deutlich, dass sie diese Rolle einer Retterin nicht lange ausreichen wird,
unter anderem weil Ildi schon mit der Rolle des Fräuleins belastet ist. Die Einsicht, dass der
Krieg ein Gesicht hat, ermöglicht die realistische Einsicht, dass sie sich nicht länger in der
Position einer Retterin befindet. Sie ist nicht im Stande Béla aus der Armee oder ihrer Familie
aus der Vojvodina zu helfen. Die Hundemaske, mit der Ildi noch an Hilfe glaubte und die ihre
333
Abonji: TFA, S. 154.
Vgl. Abonji: TFA, S. 98-99.
335
Vgl. Abonji: TFA, S. 98-99.
336
Vgl. Abonji: TFA, S. 182.
334
77
Rolle als rettende Zahnärztin unterstützte, wird dank Béla abgenommen und führt sie dazu,
ihre Machtlosigkeit zu akzeptieren. An der Fräuleinrolle wird dagegen noch immer
festgehalten und damit wird die stärkere Wirkung dieser Rolle auf Ildi sichtbar. Der Warnruf,
dass sie sich nicht länger als Fräulein aufführen kann, wird sie aber bald hören.
5.4. Spiegel als Erkenntnis und Fenster als Schwelle: Abnehmen der Maske
Die Erkenntnis, dass die Integration eine maskiertes Verfahren hervorbringt, erlernt Ildi nicht
nur durch den Diskurs der Vorurteilen, sondern durch die Konfrontation mit dieser FräuleinMaske im Spiegel der Herrentoilette.
[I]ch, die die schwere Tür mit den Schultern aufstösst und als erstes ihr Gesicht im
Spiegel sieht, ich bleibe stehen, höre, wie sich die schwere Tür lautlos hinter mir
schliesst, sehe den Schrubberstiel neben meinem Kopf, ich, mit hochgestecktem Haar,
schaue mir in die Augen, und es fällt mir ein Wort ein, Einfaltspinsel, wahrscheinlich
wegen dem Schrubberstiel, und ich sehe im Spiegel nicht nur mich, sondern das, was
das Fräulein erwartet. Eine verschissene Klobrille, eine Männerunterhose, die neben
der Kloschüssel liegt, die gemaserte Wand, die nicht mehr weiss, sondern mit Scheisse
verschmiert ist (der Spiegel fügt alles zusammen) […]. […] Wir sind ein Herz und
eine Seele geworden, ich und das Fräulein; und ich, die den Eimer packt, den
Schrubber, gehe zum Fenster, öffne es […].337
Dieser Vorfall in den Toiletten des ‚Mondials‘ stimmt mit Ildis frühere Verweisung zum
„Denkzettel“338 der Gebruder Schärer überein. In diesem Moment, aber, weiß Ildi noch nicht,
wer die Schuldigen sind. Sie kann nur feststellen, dass jemand es absichtlich tat, und zieht
deswegen ihre Handschuhe aus, um direkten Kontakt mit den Fäkalien zu haben. Die
Konfrontation mit dem Zustand der Toiletten wird von dem Spiegel ermittelt. Zuerst sieht Ildi
‚ihr Gesicht‘ und deutet damit auf eine Aufspaltung zwischen dem Ich und dem Fräulein hin.
Der Spiegel als Metapher für die menschliche Erkenntnisfähigkeit 339 verknüpft diesen Vorfall
mit Ildis Fräulein-Maske, sodass das Dreieck Fäkalien/Fräulein/Ildi in eine gleichwertige
Konstellation geraten, weil Ildi beim Reinigen an das Schimpfwort „Scheissausländer“340
denkt. Auch wenn sie die Wand zu reinigen beginnt, ändern die Fäkalien sich in „braune
Schmiere, ein Dorf“341, wo die Einwohner die MigrantInnen aus dem Balkan mit Scheiße
gleichgestellen: „Jugo und Scheisse, das passt zusammen“342. Die Maske entlarvt das Fräulein
als eine Ausländerin: die einzige Rolle, die Ildi auferlegt worden ist. Die Fräulein-Rolle wirkt
337
Abonji: TFA, 280-281.
Abonji: TFA, S. 244.
339
Angela Weber: Im Spiegel der Migrationen. Transkulturelles Erzählen und Sprachpolitik bei Emine Sevgi
Özdamar. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 27.
340
Abonji: TFA, S. 283.
341
Abonji: TFA, S. 282.
342
Abonji: TFA, S. 283.
338
78
dabei metaphorisch und erweitert den Namen des ‚Mondials‘ auch zu diesem Feld, wo
allerhand Nationalitäten sich treffen, um Kaffee zu trinken. Die Attribute, die die Rolle des
Fräuleins unterstützen, wie die Kleider, die Frisur und jetzt auch die Putzwerkzeuge passen im
Spiegel nicht mehr zum Ich und führen Ildi zu der Wahrnehmung, sie sei einen
‚Einfaltspinsel‘.
Auch das Fenster, das sie öffnet, um „irgendein Gefühl“ 343 in sich aufzuwecken,
ermöglicht eine Befreiung aus die Fräulein-Maske. Das Fenster wird ständig im Roman
erwähnt und im Verhältnis mit Freiheit gestellt. Das Fenster, das als Schwellenort fungiert,
verbindet die Innen- und Außenwelt miteinander. 344 Es ist aber eine virtuelle Grenze,345 die
Überschreitungen nicht erleichtert, wie etwa die Tür, sondern die Position des
wahrnehmenden Subjekts befragt.
Während das Abbildungsverfahren beim Spiegel in einer gleichartigen Widerspiegelung
besteht, mithin die Wahrnehmung nur verdoppelt oder vervielfacht, verlaufen die
Abbildungsverfahren beim Fenster sehr viel komplexer. Das Fenster kann Bildrahmung,
Blickkonzentration, Transparenz und (möglicherweise) zugleich und zusätzlich
Widerspiegelung sein; die Wahrnehmung des Fensters und durch das Fenster ist also
vieldeutig. Diese Polyvalenz des Fensters macht es als Bildanalogie besonders geeignet
zur Erklärung der Uneindeutigkeiten und Vieldeutigkeiten der Welt. 346
Die verschiedenen Fenster im Roman können wegen ihrer Symbolik der Vieldeutigkeit in der
Tat Ildis maskenhafte – und also polyvalente – Identität auf passender Weise fassen. Während
die Fenster im Zug eine Spiegelung zulassen und die männliche Kleidung fürs ‚Wohlgroth‘
befragen, und die spiegelnde Fenster des ‚Mondials‘ Ildi verhindern, hineinschauen zu
können, ist die widerspiegelnde Wirkung des Fensters im Roman anwesend. Wichtiger ist
aber die Schwellenwirkung des Fensters, wenn Ildi aber in der Arbeit durch die Fenster in die
Außenwelt hinausschaut. Ihre Gespräche mit den Schweizer Kunden und mit den Eltern
stellen Ildi als ein Polster her, das Erwartungen von beiden Seiten miteinander zu vereinen
sucht. Ihre hybride Identität, die eine Zugehörigkeit zu sowohl der ungarisch-serbischen als
auch Schweizer Gesellschaft fordert, wird dabei vernachlässigt. Sie gehört wegen dem
okzidentalistischen und balkanistischen Diskurs aber zugleich zu keinem dieser Räume,
sodass die Hybridität ambivalent ist. Das Fenster scheint aber durch seinen eigenen hybriden
Charakter Ildis Hybridität zu deuten. Ildi gelingt nämlich darin, diese Hybridität stilistisch zu
vermitteln. Im Laufe der Auseinandersetzung im zeitlichen, räumlichen und jetzt auch
343
Abonji: TFA, S. 281.
Vgl. Rolf Selbmann: Eine Kulturgeschichte des Fensters. Von der Antike bis zur Moderne. Berlin: Dietrich
Reimer Verlag 2010, S. 12.
345
Vgl. Selbmann: Kulturgeschichte des Fensters, S. 17.
346
Selbmann: Kulturgeschichte des Fensters, S. 18-20.
344
79
sozialen Bereich, haben die Klammern sich als eine befreiende Erzähltechnik herausgestellt.
Indem die Bildrahmung des Fensters, das als Grenze zwischen zwei Räumen steht, die
Außenwelt einrahmt, kann in Erweiterung also damit die Einrahmung des Fremden und
Unbekannten interpretiert werden. Indem jetzt die Klammern als buchstäbliche Einrahmung
von Ildis Meinungen aufgefasst werden, kann die unbekannte, hybride Identität sich äußern
und zur Auflösung eines dichotomischen Denkens führen. Auf diese Weise erreicht Ildi eine
inhaltliche
Entgrenzung,
die
als
eine
Befreiung
Migrationsdiskurs interpretiert werden kann.
80
aus
einem
grenzkonnotierten
6. Schlussfolgerung: von feminisms bis zu emancipations
Am Anfang der Arbeit wurde eine transkulturelle Migrationsauffassung vorgeschlagen, um
erkunden zu können, in welcher Weise Ildi ihre Emanzipation anstrebt und ob sie in ihrem
Versuch erfolgreich ist. Um diese Emanzipation, die als eine Bewegung aus der
unterdrückenden Bereiche der Migration interpretiert wurde, herausfinden zu können, erwies
sich die Annahme der Ungleichheit unter Frauen als notwendig. Dadurch wird eine Mehrzahl
an Feminismen ermöglicht. Indem Beiträge aus der Migrationsforschung mit feministischen
und postkolonialen Einsichten kombiniert wurden, konnten die Ebenen von Gender und von
Kultur miteinander kombiniert werden. Auf diese Weise konnten die Bereiche der
Unterdrückung im Roman im spezifischen Rahmen der Migration gedeutet werden, um so
Rückschlüsse auf Ildis Emanzipation zu ziehen.
In Bezug auf die zeitliche Ebene der Migration, wurden die dominanten
Vergangenheitsdiskurse der Eltern untersucht. Ihre Dominanz über die Vergangenheit in der
Vojvodina wurde in der Form persönlicher Geschichten vorgestellt, die im Roman als
Binnenerzählungen vorkommen. Durch die Stille des Vaters und die Distanz der mütterlichen
Erzählinstanz erlaubten diese Geschichten keine Interaktion mit den Zuhörern. Ildi ist im
Stande, diese Strukturen als Erzählerin zu unterlaufen. Die Geschichten des Vaters werden
von Mamika, aus einer weiblichen Perspektive also, vermittelt, die Interaktion mit Ildi als
Zuhörerin erlaubt und die Stille des Vaters demzufolge auflöst. Die Binnenerzählungen der
Mutter werden von Ildi in der Rahmenerzählung eingeführt, um in der Binnenerzählung in
Klammern die affektive Distanz der Mutter zu kontrastieren. Durch die Klammern wird
Identifikation mit den Figuren in diesen Binnenerzählungen möglich. Ildi entfaltet sich als
eine dominante Erzählerin, indem diese Klammern in einer späteren Binnenerzählung
abwesend sind und die Identifikation mit den Figuren außerhalb der Klammern hergestellt
wird. Auf Basis dieser Feststellungen wird die These einer dominanten, weiblichen
Erzählstimme aufgestellt.
Die Raumerfahrung wurde im Kontext der Dynamik der Migrationsreise besprochen,
wobei sowohl die Bewegung aus der Vojvodina in die Schweiz als auch Reisen aus der
Schweiz in die Vojvodina erforscht wurden. Die Auswanderungsreise in die Schweiz wird
von räumlichen und sprachlichen Grenzen gekennzeichnet, die Ildi aus der neuen Schweizer
Gesellschaft ausschließen. Mamika, die sich als eine Ersatzmutter in Ildis Kindheit erweist,
verkörpert zugleich die Heimat, sodass der Abschied von Mamika der Abschied von der
81
Vojvodina bedeutet. Darum ist nicht sosehr die Migration, sondern vielmehr dieser Abschied
traumatisch für Ildi, und dieses Trauma hat zur Folge, dass sie sich die Vorgänge während der
Auswanderung nicht mehr richtig erinnern kann. In den Besuchen an der Vojvodina konnte
ein Gegensatz zwischen Natur und Kultur beobachtet werden. Die Autos, mit denen die
Familie Kocsis in die Vojvodina fährt, wurden als Symbole der Zivilisation und des
Fortschritts mit der Kultur identifiziert, während die Vojvodina mit einer barbarischen Natur
gleichgesetzt wurde. Aus Ildis Heimatbildung konnte die sonst benachteiligte Position der
Natur im dichotomischen Verhältnis zu Kultur positiv bewertet werden, weil Ildi sich nicht
nur in der Natur geschützt fühlt, sondern sie auch mit der Liebe assoziiert. Die Natur ist
sowohl in der Vojvodina als auch in der Schweiz ein heimatbildendes Element. Ildi
versammelt außerdem ihre Erinnerungen und sinnliche Erfahrungen aus der Kindheit, die
zusammen
mit
der
Natur
eine
Art
Patchwork-Heimat
aktiv konstruieren.
Ihre
emanzipatorische Heimatauffassung entwickelt sich aus einer transkulturellen Interpretation
der Migration und stellt sich dadurch als ent-territorial heraus.
Im Rahmen der Diskussion über Ildis Integration wurde die soziale Dimension der
Migration berücksichtigt, wobei Sprache und Vorurteile einen zentralen Bestandteil der
Analyse bildeten. In der Sprache wurde deutlich, dass Ildi Wörter aus verschiedenen Sprachen
in den Text hineinmischt, ohne notwendigerweise das Ungarische oder Schweizerdeutsche zu
übersetzen, sodass sie den Leser mit der hybriden Realität ihrer Sprache konfrontiert. Damit
wird die Zugehörigkeit zu den entsprechenden kulturellen Räumen reflektiert. In der
Vojvodina wird sie aber ausgegrenzt, indem Okzidentalismen sie als Fremde im Herkunftsort
darstellen. In der Schweiz war das ‚Mondial’ für die Diskussion der Integration bedeutend,
weil Ildi sich als Fräulein zwischen den Eltern und den Kunden bewegt. Von den Eltern wird
sie mit der Übernahme des ‚Mondials’ in die Assimilation gezwungen, die sich in Höflichkeit
zu den Kunden und in richtigen Kleidern ausdrückt, sodass sie in der Arbeit vielmehr eine
Rolle aufzuführen scheint. Diese Fräulein-Rolle zeigt sich in der Interaktion mit den Kunden,
die in balkanistischen Plattitüden über AusländerInnen und den Krieg reden, als eine Maske.
Die Mimikry, die ihr von den Kunden aufgelegt wird, zwingt sie in die Stille und Höflichkeit
ihrer Fräulein-Maske. Sie reagiert nicht auf deren balkanistischen Bemerkungen, sondern
äußert ihre Meinung zwischen Klammern. Auf diese Weise werden die Bemerkungen der
Kunden über ihre Herkunft und Sprache doch kontrastiert und angezweifelt. In den Klammern
wird Ildis Hybridität sichtbar. Neben dem ungarischen Teil gehört nämlich auch das
sprachliche und kulturelle Erbe der Schweiz zu ihrer Identität. Sie transponiert so die
Problematik der Ethnizität, die sich auf dem Balkan zur Zeit des Krieges äußerte, auf die
82
Schweiz. Die Balkanismen treiben Ildi aber dazu, eine neue Maske aufzusetzen: Die
barbarische Natur des Balkanmenschen, mit dem sie sich wegen ihrer Herkunft identifiziert,
wird mit einem Hund verglichen. Sie eignet sich das wilde, kannibalische Stereotyp des
Balkans an, aber thematisiert durch die Maske die Opfer des Krieges. Dabei wird die tierische
Bildsprache nicht auf ihren in der Armee eingezogenen Cousin Béla verwendet, weil mit ihm
der Krieg endlich ein Gesicht bekommt und die Realität ihrer Hilflosigkeit deutlich wird. Sie
versuchte die Familie in der Vojvodina von dem Krieg zu retten, realisiert sich aber dank
Béla, dass sie niemandem helfen und deswegen die Hundemaske abnehmen kann. Durch die
Konfrontation mit sich selber im Spiegel der Herrentoilette, in denen die Wand von Fäkalien
beschmiert worden ist, erkennt sie ihre Rolle als Fräulein. Ihre Identität spaltet sich auf und
sie erkennt, dass das Ich sich vom Fräulein differenziert. Die Hybridität des Ichs wird nicht
mehr von der Fräulein-Rolle, die von den Eltern und den Kunden auferlegt wurde,
unterdrückt. Im Gegensatz zum Spiegel erlaubt das Fenster als Motiv der Schwelle, Ildis
Hybridität zu thematisieren. Nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch kann die
Einrahmung von Gedanken in Klammern als eine Befreiung gesehen werden.
Diese drei Ebenen der Migration werden nicht voneinander getrennt. Die Zeit, der
Raum und die Gesellschaft sind miteinander verknüpft und alle tragen Grenzen in sich, von
denen Ildi sich emanzipiert. Ildi kann sich durch die Verwendung von Klammern aus dem
elterlichen Vergangenheitsdiskurs emanzipieren, während in ihrer Heimatbildung der Ort
einer persönlichen Patchwork-Heimat untergeordnet wird. Vielmehr werden Gefühle,
Erinnerungen und Erfahrungen wesentlich für diese aktive Konstruktion der Heimat. Auf der
Gesellschaftsebene erweist die Fräulein-Rolle sich als erstickend: die Eltern wollen, dass Ildi
sich assimiliert, während durch die Mimikry mit den Kunden Ildi eine Hundemaske aufgesetzt
wird. In ihrer Konfrontation mit dem Ich im Spiegel erkennt sie diese Fassaden. Das Fenster
deutet zusätzlich nicht nur auf Grenzen, sondern auch auf Freiheit hin, weil es – auch
stilistisch in Klammern – Vielfalt thematisiert. Ihre Emanzipation lässt einen transkulturellen
Charakter vermuten, der diese Grenzen dank der Hybridität überschreitet. Ildis Hybridität
ermöglicht in jeder Migrationsebene eine Emanzipation, sodass sie in mehreren
Emanzipationen erfolgreich ist. Für weitere Forschung zum Thema Gender und Migration
wäre es darum interessant, eine Vielfalt an Emanzipationen in Betracht zu ziehen. In dieser
Arbeit haben die Emanzipationen im Roman Tauben Fliegen Auf sich auf der Ebene der
Narratologie hergestellt, die im Bezug auf Heimweh, Nostalgie und Melancholie und Ildis
Erzählperspektive noch mehr aufweisen kann.
83
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