Beruf und Pflege gut vereinbart

Transcription

Beruf und Pflege gut vereinbart
44 ORGANISATION_FAMILIENPFLEGEZEIT
Beruf und Pflege gut vereinbart
EINBLICK. Trotz klarer Rechtsansprüche lassen sich Beruf und Pflege für viele Arbeit-
© ALEXRATHS / THINKSTOCKPHOTOS.DE
nehmer nur schwer vereinbaren. Wir zeigen, wo Unternehmen ansetzen können.
ein starkes Familiennetzwerk. Doch gibt
es aktuell von staatlicher Seite noch
kaum umfassende Angebote, die die pflegenden Angehörigen unterstützen und
entlasten – und wenn, dann ist dieser
Ansatz eher punktuell statt umfassend.
Freistellung alleine genügt nicht –
echte Unterstützung ist gefragt
Das Modell entspannter Pflege neben der Arbeit ist in der Realität nur selten zu finden.
Von Gret Beccard
I
n Deutschland gibt es derzeit über
2,6 Millionen pflegebedürftige Menschen. Diese Zahl wird sich laut
Prognosen des Statistischen Bundesamtes bis ins Jahr 2050 auf 4,5 Millionen
fast verdoppeln. Knapp 70 Prozent davon
(absolut: 1,8 Millionen) werden häuslich
und von der Familie betreut. Tendenz
steigend. Laut Pflegereport 2030 der Bertelsmann Stiftung ist die Situation von
Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. So weisen die Szenarien für Bremen
für den Zeitraum bis 2030 ein Wachstum
der Zahl der Pflegebedürftigen von 28
Prozent aus, während diese Wachstumsrate für Mecklenburg-Vorpommern mit
fast 56 Prozent annähernd doppelt und
für Brandenburg mit etwas über 72 Prozent sogar mehr als 2,5-mal so hoch ist.
Überdurchschnittliche Steigerungsraten
zeigen sich auch für Berlin (rund 56 Prozent), Schleswig-Holstein, Bayern und
Baden-Württemberg mit jeweils knapp
54 Prozent.
Diese Situation ist eine riesige Herausforderung für Unternehmen, die
zunehmend mit Fragen zu aktuellen Gesetzesregelungen, Beratungsangeboten
und Möglichkeiten der Unterstützung
konfrontiert werden. Dem Grundsatz
„ambulant vor stationär“ der gesetzlichen Pflegeversicherung folgend setzt
die Gesundheitspolitik in Deutschland
bei der Betreuung von Pflegefällen auf
Zwar haben Arbeitnehmer in Betrieben
ab 25 Mitarbeitern durch das seit Januar
2015 geltende Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
nun einen Rechtsanspruch, ihre Arbeit
zur Pflege eines Angehörigen maximal
zwei Jahre auf bis zu 15 Stunden reduzieren zu dürfen, die Kernprobleme aber
bleiben bestehen. Denn mit der reduzierten Arbeit alleine ist es häufig nicht getan. Ein Beispiel: Dank der zunehmenden
Mobilität kann längst nicht mehr erwartet werden, dass der zu pflegende Angehörige im selben Ort oder zumindest in
der Nähe des pflegewilligen Mitarbeiters
wohnt – wie kann der Spagat zwischen
Job und Entfernung geschafft werden,
wenn der zu betreuende Elternteil 200
km entfernt lebt?
In vielen Unternehmen fällt auf, dass
gut ausgebildete Fachkräfte in dieser
Situation enorm belastet sind, häufig
jedoch Hilfsangebote nicht kennen,
wahrnehmen und auch die Personalabteilung hier nicht unterstützen kann –
Überforderung und langfristige Ausfälle
des Mitarbeiters statt gut organisierter
Pflege sind die Folge. Doch kein Unternehmen kann es sich auf Dauer leisten,
dass die Erwerbstätigkeit seiner Mitarbeiter massiv eingeschränkt wird oder
personalmagazin 10 / 15
45
durch Überlastung hohe Ausfallzeiten
entstehen. Es stellt sich also die Frage,
wie man durch neue Angebote die bislang noch recht hohen Werte in Bezug
auf Einschränkung oder Aufgabe der
Erwerbstätigkeit und die Wahrnehmung
auf Mitarbeiterseite verbessern kann.
Die Umfragen in Unternehmen zeigen,
dass der Bedarf hoch ist und die meisten
Arbeitgeber hohe Motivationswerte und
konkrete Wünsche beziehungsweise
Vorstellungen für unterstützende Angebote haben.
Mitarbeiter wollen auch bei der
Pflege erwerbstätig bleiben
In einem von der Europäischen Union
geförderten Projekt zur Untersuchung
der Situation pflegender Angehöriger in
sechs europäischen Ländern (Eurofamcare) wurde deutlich, dass Mitarbeiter
in Pflegesituationen neben Entlastung
und Möglichkeiten zur Aussprache
insbesondere auch Informationen und
Beratung zu aktuellen Regelungen und
qualifizierten Beratungsangeboten oder
-modellen brauchen. Sachkundige individuelle Angebote, die das Unternehmen den betroffenen Mitarbeitern bereitstellt, entlasten diese nicht nur, sie
beinhalten auch eine Wertschätzung für
die Mitarbeiter und sollten zur Selbstverständlichkeit im Vielklang betrieblicher Zusatzangebote werden.
Ein Stimmungsbild aufgrund der Ergebnisse der ZQP-Befragung „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ zeigt: 72
Prozent schätzen die Vereinbarkeit von
Mitarbeiter sehen Vereinbarkeit als
Unternehmensaufgabe
TABUTHEMA PFLEGESITUATION
Angst vor mangelndem
Verständnis der Kollegen
35
26
30
24
Das Thema ist zu persönlich
32
32
37
46
Angst vor mangelndem
Verständnis der Vorgesetzten
48
45
49
47
Angst vor beruflichen
Nachteilen
52
59
62
60
Sorge um den Arbeitsplatz
63
62
64
70
Angaben in Prozent
60+ Jahre
45-59 Jahre
30-44 Jahre
18-29 Jahre
Was hält MItarbeiter davon ab, ihre Pflegebeanspruchung im Unternehmen mitzuteilen?
Insbesondere aus Angst um den Arbeitsplatz wird die Pflege Angehöriger verschwiegen.
QUELLE: ZQP
10 / 15 personalmagazin
Beruf und Pflege in der aktuellen Situation als „eher schlecht oder sehr schlecht“
ein. 64 Prozent der Befragten nennen die
„Sorge um den Arbeitsplatz“ als hauptsächlichen Grund, die Pflegesituation
am Arbeitsplatz nicht mitzuteilen. Die
Befragten, die bereits persönliche Erfahrungen mit der Pflege beziehungsweise
Kontakt zu pflegenden Angehörigen
haben, schätzen die Situation dabei kritischer ein als Mitarbeiter ohne solche
Erfahrungen. Dabei wird die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, respektive die
Wichtigkeit, trotz Pflege erwerbstätig zu
bleiben, von der Mehrheit der Befragten
(94 Prozent) als sehr hoch eingeschätzt.
86 Prozent der Arbeitnehmer nennen „finanzielle Gründe“ als besonders wichtig
oder sogar ausschlaggebend für die Entscheidung, erwerbstätig zu bleiben.
Eine Umfrage der IHK Stuttgart zur
besseren Vereinbarkeit von Beruf und
Familie/Pflege unter kleinen und mittleren Unternehmen zeigt, wo der größte
Unterstützungsbedarf liegt:
• 53 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden Unternehmen erklären, dass sie
die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben als Unternehmensaufgabe betrachten.
• 49 Prozent der Unternehmen sind der
Meinung, dass die Bedeutung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben in den
kommenden Jahren zunehmen wird.
• Besonders kleine Unternehmen bevorzugen in der Umsetzung individuelle, an
den konkreten Bedarfen der Beschäftigten ausgerichtete Lösungen.
• Den größten Unterstützungsbedarf bei
der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben haben mittelgroße Unternehmen.
• Soll die Vereinbarkeit von Beruf und
Privatleben gelingen, sind die uneingeschränkte Zusage der Geschäftsführung
und die Vorbildfunktion der Führungskräfte unerlässlich.
Auch bei den sich verändernden rechtlichen und steuerlichen Fragen sind viele
Wissenslücken bei den Mitarbeitern zu
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an [email protected]
46 ORGANISATION_FAMILIENPFLEGEZEIT
verzeichnen. Checklisten, Beratungsadressen und Informationen zur aktuellen
Gesetzgebung sind dabei die meistgefragten Module bei den Mitarbeitern.
Personalmanager wünschen sich bei
zunehmender Brisanz der Pflegethematik und steigenden Fällen mehr konkrete
und individuellere Angebote, damit
wichtige Leistungsträger im Unternehmen gezielt unterstützt werden können
und Mitarbeiter vor einer Überforderung
durch private Probleme bewahrt bleiben.
Was bei allen Diskussionen quer
durch die Unternehmen deutlich wird:
eine individuellere Pflegeunterstützung
wird zunehmend ein weiterer wichtiger
Bestandteil des Employer Branding. Attraktive Arbeitgebermarken mit dem
Gütesiegel „Familienfreundlich“ werden
den Part der Vereinbarkeit von Pflege und
Beruf selbstverständlich integrieren.
Die bessere Vereinbarkeit von temporärer und kontinuierlicher häuslicher
Pflege und Beruf muss in die Unternehmensstrategien eingebaut werden.
Sinnvoll sind durch die stetige Zunahme
von unternehmensübergreifenden Workflows, Homeoffices und bei verschiedenen
Firmenlokationen digitale standortübergreifende Angebote sowie der Aufbau von
Kompetenzcentern im Unternehmen.
Beratungsangebote meist nur unzureichend und zu spezialisiert
Da die Anfrage nach Beratungsangeboten
stetig steigt, gibt es auf staatlicher Ebene
einige Anlaufstellen für Privatpersonen
wie die Pflegeberatung durch den PKVVerband. Auch im Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
sowie bei den Krankenkassen gibt es Initiativen, um bei der Vereinbarkeit von
Beruf und Pflege zu unterstützen.
Daneben gibt es zahlreiche Firmen,
die über Firmenkontingente bedarfsorientierte Unterstützung anbieten. Viele
Hilfsangebote konzentrieren sich jedoch
häufig nur auf einzelne Aspekte, gerade im Bereich der Unterstützung von
Familien steht die Kinderbetreuung im
Fokus. Betrachtet man die Hilfestellung
ONLINETIPPS
PRAXISBEISPIEL
Digitale Unterstützung
Digitale Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf bieten inzwischen
mehrere Dienstleister mit teils kostenpflichtigen Informations- und Servicedatenbanken. Die Redaktion hat einige von ihnen für Sie untersucht.
Wege zur Pflege
Die Informationsdatenbank des BMFSFJ bietet rechtliche Informationen zu den seit
1. Januar 2015 im Bereich der Pflege geltenden neuen gesetzlichen Regelungen. Besonders interessant ist der Pflegerechner, der Beschäftigten eine erste, auf ihre persönliche
Lebenssituation abgestimmte Orientierung ihrer Einkommenssituation während der
www.wege-zur-pflege.de
Pflege- oder Familienpflegezeit gibt. Psychologische Online-Beratung für pflegende Angehörige
Eine kostenlose Online-Beratung für gesetzlich Versicherte Arbeitnehmer, die pflegebedürftige Angehörige im häuslichen Umfeld versorgen, bietet das Online Portal Pflegenund-leben.de der vier Pflegekassen Barmer GEK Pflegekasse, TK-Pflegeversicherung,
DAK-Gesundheit-Pflegekasse und die hkk-Pflegeversicherung. www.pflegen-und-leben.de
Digitale Pflegemappe
Informationen für Mitarbeiter, die zu Hause pflegen, vor allem aber praxiserprobte
Unterstützungsmöglichketen für Personalverantwortliche enthält die digitale „Servicemappe Beruf und Pflege“ der Landesinitiative Netzwerk W. Obwohl stark auf NordrheinWestfalen bezogen, bieten die Broschüren der Pflegemappe auch wichtige überregionale Informationen. Für spezifische Fragestellungen vor Ort sind Ansprechpartner
www.arbeiten-pflegen-leben.de/digitale-servicemappe.html
benannt. Digitales Pflegecenter
Das digitale Pflegecenter Juuna bietet neben rechtlichen Informationen zu den neuen
Regelungen für Mitarbeiter eine interaktive Service-Plattform zur Pflegeorganisation,
individuell anpassbar auf die spezifischen Bedürfnisse des Mitarbeiters und eine integrierte persönliche Pflegeberatung. Ein Management-Tool bietet dem Arbeitnehmer Unterstützung bei der Zeitplanung und Organisation, aber auch im Umgang mit Behörden,
Gesundheitsdienstleistern und Kassen. Im Rahmen einer Firmenlizenz können Mitarbeiwww.juuna.de
ter anonym ihr persönliches Pflegecenter einrichten.
und Wissensvermittlung im Pflegeumfeld, zeigt sich: Es gibt unterschiedliche
Informationen zu Pflegethemen, Beratungsleistungen und Vorträge, Vermittlung zusätzlicher Betreuungsplätze oder
Pflegekräfte, allgemeine Pflegeberatung,
betriebseigene Pflege, Gesundheitsberatung sowie Seminare.
Gebündelte digitale und vor allem individualisierbare Angebote sind noch
die Ausnahme, rücken aber immer mehr
in den Fokus von Personalabteilungen.
Durch die zunehmende Digitalisierung
der Gesellschaft und der Arbeitswelt
könnten allerdings gerade solche einfach zugänglichen und handhabbaren
Service- und Beratungsangebote einen
wesentlichen Beitrag zur Verbesserung
des Angebots für die Angehörigen schaffen und damit auch die individuelle Situation entscheidend verbessern. GRET BECCARD ist freie Journalistin und
spezialisiert auf Wirtschafts- und E-HealthThemen.
personalmagazin 10 / 15