Die Psyche der Anleger
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Die Psyche der Anleger
Sonderdruck einer Artikelserie in der «Finanz und Wirtschaft» von 2012 Die Psyche der Anleger Über den Einfluss der Psychologie an den Finanzmärkten, typische Anlagefehler und wie sie zu vermeiden sind. Von Professor Thorsten Hens, Universität Zürich Redaktionelle Bearbeitung Hanspeter Frey Layout Sandra Meier Illustrationen Wolfgang Horsch Infografiken Sebastian Broschinski Michael Rüegg Verlag Finanz und Wirtschaft AG Postfach 8021 Zürich [email protected] www.fuw.ch Einführung Die Psychologie des Investierens Teil 1 Behavioural Biases – Vorsicht, Falle Teil 2 Wie Kultur die Anleger beeinflusst Teil 3a Welcher Risikotyp bin ich? Teil 3b Vom Risikoprofil zum Anlagemix Teil 4 Neurofinance – auch der Kopf kann sich irren Teil 5 Wie Medien Teil des Systems sind Teil 6 Wann Momentum, wann Value? 18 Mittwoch, 16. Mai 2012 · Nr. 39 BEHAVIOURAL FINANCE Die Serie im Überblick Würden sich Anleger rein rational verhalten, wären die Finanzmärkte effizient oder zumindest weniger schwankungsanfällig als in den vergangenen Jahren. Bekannt ist ebenfalls, dass auch die Psychologie für das Anlegerverhalten und die Marktdynamik eine grosse Rolle spielt. Gleichwohl wird ihr Einfluss oft unterschätzt oder verdrängt. Prof. Thorsten Hens stösst in diese Lücke vor. Er erforscht als Vertreter der Behavioural Finance das Investorenverhalten unter evolutionstheoretischen, psychologischen und neurologischen Aspekten. Über seine Erkenntnisse, typische Anlegerfehler und die Lehren daraus berichtet er in einer FuW-Serie, die mit untenstehender Einführung beginnt. Anschliessend beleuchtet er in mehreren Kapiteln die wichtigsten Themen der Behavioural Finance. Die Psychologie des Investierens FUW-SERIE Wie Finanzmärkte funktionieren – Dem Wesen der Anleger und der Vermögensverwalter auf der Spur THORSTEN HENS A n Ideen und Empfehlungen für eine erfolgreiche Kapitalanlage fehlt es nie, und mögen die Märkte noch so widersprüchlich, sprunghaft und richtungslos sein, wie es zurzeit der Fall ist. Sich über die vielen Szenarien, Konzepte und den Portfoliomix klar zu werden und sich für eine bestimmte Variante zu entscheiden, ist eine grosse Herausforderung. Es erleichtert die Aufgabe, wenn sich Anleger und Vermögensberater mit der über allem stehenden Frage befassen: Wie funktionieren die Finanzmärkte, und was sind die Motive und die Verhaltensmuster der Akteure, die den Märkten den Stempel aufdrücken? Eine Antwort auf diese einfache Frage und den doch so komplexen Hintergrund verleiht einer Anlage erst realistische Chancen und minimiert das Risiko von Fehlentscheiden. Behavioural Finance heisst die sozialwissenschaftliche Analyse der Märkte. Eine FuWSerie nimmt sich des spannenden und vielseitigen Themas an. Autor – das eine Anmerkung der Redaktion – ist Prof. Thorsten Hens, ein führender Experte in der sozialwissenschaftlichen Forschung der Finanzmärkte. In wöchentlichen Beiträgen befasst er sich in dieser Zeitung mit den wichtigsten Aspekten des Markt- und Investorenverhaltens. Hens startet mit nachfolgender Einführung. Veraltete Sichtweise Als ich 1999 in die Schweiz kam, war die Bankenwelt noch in Ordnung. Die Börsen kannten seit Jahren nur eine Richtung: aufwärts. Von den stolzen Renditen mussten die Banken nur wenig abgeben, da die Kunden vor allem aus dem Ausland kamen und von der Steuer- ersparnis lebten. Die lokalen Professoren waren Vertreter der rationalen Sichtweise der Finanzmärkte und berieten die lokalen Banken mit den Erkenntnissen der Wissenschaft der Fünfziger- (moderne Portfoliotheorie) und Sechzigerjahre (Kapitalmarkttheorie). Manche waren auch Experten in den Erkenntnissen der Siebziger (Theorie der Derivate). Der Finanzplatz Schweiz brauchte viele Mitarbeiter, Zum Autor Thorsten Hens (50) ist Swiss-Finance-InstituteProfessor an der Universität Zürich und Direktor des Instituts für Banking und Finance. Er ist zudem Partner von Behavioural Finance Solutions (BhFS), einem Spin-off der Uni Zürich, das Finanzunternehmen in der Portfoliogestaltung unter Erkenntnissen der Verhaltenswissenschaft berät. Auch ist Hens ausserordentlicher Professor an der Norwegian School of Economics in Bergen, und einen engen Kontakt pflegt er zur Stanford University in Kalifornien, wo er im Jahr 1993 Assistenzprofessor war und 2011 ein Forschungssemester verbrachte. Hens habilitierte 1996 an der Universität Bonn und zog 1999 in die Schweiz. Im Bereich seiner Forschungsschwerpunkte – der Evolutionary Finance und der Behavioural Finance – zählt er zu den führenden Wissenschaftlern in Europa. Für die FuW schreibt er Leitartikel und tritt als Referent an Seminaren auf. Hens ist verheiratet HF und Vater von zwei Kindern. die aus unterschiedlichsten Berufsgruppen umgeschult wurden. Seitdem brachen die Börsen stark ein, weshalb grosse Zweifel an der Gültigkeit zentraler Thesen der rationalen Sichtweise aufkamen. So zweifeln heute viele Anleger an der auf lange Sicht sicher geglaubten Überrendite von Aktien zu Obligationen, und die fiskalischen Vorteile für Ausländer schmolzen stärker als die Gletscher der Alpen. Als Folge davon rückt der Kunde wieder stärker ins Bewusstsein der Banken, wo es in der Tat Nachholbedarf gibt: Die Beratung der meisten Banken in der Schweiz ist noch weit davon entfernt, die neueren Erkenntnisse der Wissenschaft umzusetzen. Fast alle beraten ihre Kunden nach wie vor mit den Erkenntnissen der Fünfziger- und Sechzigerjahre des vergangenen Jahrtausends: Volatilität ist das einzige Risikomass und die Rationalität der Märkte die einzige Sicht. Dabei hat in der Finanzwissenschaft seit den Achtzigerjahren eine Abkehr von der Annahme der vollkommenen Rationalität stattgefunden. Dieses Umdenken wurde im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, verliehen an Daniel Kahneman und Vernon Smith, ausgezeichnet. Die von diesen Wissenschaftlern begründete Forschungsrichtung Behavioural Finance liefert eine ideale Grundlage für die Anlageberatung. Im Zentrum der Behavioural Finance steht das Fehlverhalten, das Menschen bei Entscheidungen unter Unsicherheit und Risiko zeigen. Darauf aufbauend wird untersucht, wie Menschen Risiken empfinden und wie man ihnen helfen kann, bessere Anlageergebnisse zu erzielen. Es zeigt sich zum Beispiel, dass die auf Volatilität basierende Efficient Frontier von Markowitz durch eine Behavioural Efficient Frontier basierend auf der Prospekttheorie von Kahneman und Tversky ersetzt werden muss. 19 Zudem kann man Diagnosetest gestalten, die den Kunden ihre Stärken und Schwächen beim Geldanlegen aufzeigen. Schliesslich löst Behavioural Finance das Financial-Literacy-Problem, da sie einfache Modelle entwickelt und eine Sprache benutzt, die Entscheidungen aus Kundensicht darstellt. Psychofallen Im ersten spezifischen Teil der Serie geht es um Behavioural Biases (Psychofallen), in die man als unerfahrener Investor oft hineinfällt. Die Behavioural Finance hat nicht nur eine lange Liste solcher Fallen erstellt, sondern verlässliche Methoden der Diagnose entwickelt und angemessene Rezepte gefunden, sie zu meiden. Dabei greift sie neuerdings auch auf Erkenntnisse der Neurofinance, die Hirnforschung, zurück. Diese ist in den letzten Jahren durch eine sprunghafte technologische Entwicklung (fMRI) immer mehr in die Ökonomie eingeflossen und findet nun auch in der Finanzwissenschaft Anwendung. Die Neurofinance erlaubt es festzustellen, welche «Falle» biologische Ursachen hat und deshalb nicht einfach gemieden werden kann. Auch hat sich die Behavioural Finance in die Kulturforschung verzweigt. Dort zeigt sie auf, inwieweit sich Behavioural Biases in den uns bekannten Kulturen unterscheiden. Die Cultural Finance entwickelt so eine wichtige Grundlage für global aktive Banken. Insbesondere gehe ich darauf ein, ob es bei Anlageentscheidungen eine «Swissness» gibt. Beim Anlageberatungsgespräch sitzen geladene und ungeladene Gäste am Tisch. Neben den ausländischen Steuerbehörden mahnt dieser Tage auch die inländische Aufsichtsbehörde, die Finma, einen Platz an. Neu soll das Beratungsgespräch stärker reguliert werden. Wie in der europäischen Mifid vorgeschrieben, wird auch in der Schweiz die Verwendung von Risiko- Vernon Smith (links) und Daniel Kahnemann erhielten 2002 den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Erkenntnisse in der Verhaltensökonomie. profilern Pflicht. Das sind mehr oder weniger intelligente Fragebögen, die darin gipfeln, dass sie eine strategische Asset Allocation festlegen. Leider führt das an sich gut gemeinte Anliegen der Aufsichtsbehörden meist nicht zu einer Verbesserung der Beratungsqualität, da man bekanntlich auf dumme Fragen dumme Antworten erhält. Jedoch ist nicht einfach festzustellen, welche Fragen gescheit und welche dumm sind. Eine Anwendung der Behavioural Finance, von der ich in dieser Serie berichten werde, zeigt auf, wie man mit kontrollierten Laborexperimenten Risikoprofiler entwickelt, die Mifid-konform sind und zu einer Anlagestrategie führen, die der Kunde auch versteht und durchhält. Während bis in die Siebzigerjahre Informationen über Finanzmarkt und Wertanlagen noch so rar waren, dass Eugene Fama mit Recht postulieren konnte, dass jede neu eintreffende Information sofort in die Kurse eingepreist wird, erleben wir heutzutage den Informations-Overkill. Wir werden jederzeit mit relevanten und irrelevanten Informationen überschüttet. Leider zeigt die Behavioural Finance, dass dadurch die Qualität unserer Entscheidungen nicht zu-, sondern eher abnimmt. Wie man richtig mit Informationen umgeht und welchen Einfluss die Medien auf das Geschehen an den Finanzmärkten haben, ist ebenfalls Gegenstand der Serie. Dank an die Schweiz Schliesslich wage ich mich an die wohl schwierigste Aufgabe: Was folgt von den auf individueller Ebene behandelten Psychofallen für den Kursverlauf? Werden die rationalen Anleger von den Psychofallen der anderen Investoren profitieren und diese letztlich aus dem Markt verdrängen? Oder gibt es Phasen, wo es genau umkehrt ist? Erlaubt die Kenntnis der Behavioural Biases eine bessere Orientierung? Ich hoffe, den Leserinnen und Lesern durch meine Artikel einen wertvollen Einblick in meine Forschung zu geben, um mich auf diese Weise für die Gastfreundschaft zu bedanken, die ich seit 1999 in der Schweiz erfahren habe. 16 Mittwoch, 23. Mai 2012 · Nr. 41 Behavioural Biases – Vorsicht, Falle! (Teil 1) – Warum sich Investoren oft ver- und überschätzen – Das süsse Gift der Gewinne trübt die Urteilskraft B is auf den Mann im Spiegel, den ich jeden Morgen sehe, habe ich noch nie jemanden getroffen, der an der Börse Geld verloren hat. Im Gegenteil: Eine Erfolgsgeschichte nach der anderen wird mir zugetragen. Meine Studenten wurden reich mit Apple, meine Frau mit Gold, und manche Kollegen haben sogar an griechischen Obligationen verdient. Schaut man aber systematisch auf die Performance von Privatinvestoren, so ist die Evidenz eher ernüchternd. Wie Studien des US-Finanzanalysehauses Dalbar zeigen, erreichen Privatanleger nur selten die Rendite eines breit diversifizierten Index, wie zum Beispiel des MSCI World. Was ist los? Lügen wir bei Geldanlagen? Nicht unbedingt. Viele Studien belegen, dass sich Privatinvestoren gar nicht bewusst sind, dass sie schlechter anlegen als der Markt. Sie tappen in psychologische Fallen (Behavioural Biases), merken es aber nicht, da sie ihr Anlageergebnis nicht systematisch messen. Auf der Achterbahn Basierend auf vielen tausend Konten von USPrivatanlegern haben die kalifornischen Professoren Brad Barber und Terry Odean ein typisches Verhalten festgestellt (vgl. Grafik). Grob betrachtet gliedert sich der von ihnen beschriebene Zyklus in drei Phasen: die Investitions-, die Verlust- bzw. Crash- und die Erholungsphase. Meist werden Privatanleger durch eine ungewöhnliche Kursbewegung auf eine Investitionsmöglichkeit aufmerksam, da sie mit grosser Sicherheit in den Medien kommentiert wird. Oft glaubt man zu früh, einen Trend entdeckt zu haben. Daniel Kahneman, der für seine psychologischen Erkenntnisse 2002 den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hat, nennt diese Falle das Gesetz der kleinen Zahlen. Uns ist aus der Schule das Gesetz der grossen Zahlen bekannt. Wer eine Münze lange genug wirft, wird beobachten, dass Kopf und Zahl ungefähr gleich häufig fallen. Leider meint man oft, dass diese Übereinstimmung von relativer Häufigkeit mit der Wahrscheinlichkeit auch schon in kleinen Stichproben gilt. Das führt dazu, dass Investoren bereits nach kurzen Sequenzen guter Renditen glauben, die Welt habe sich grundlegend zum Besseren gewandelt. Auch in der Titelauswahl unterliegen wir psychologischen Fallen. Wir treffen Freunde, die von den Apple-Aktien schwärmen, und jedermann und jedefrau kann sich von der Qualität der Produkte selbst überzeugen: iPods, iPads und iPhones sind allgegenwärtig. Es liegt also nahe, nichts verpassen zu wollen und die Aktien ebenfalls zu kaufen. Barber und Odean finden in ihrem Artikel «All that Glitters», dass Privatanleger eher Titel kaufen, die in den Medien erwähnt werden. Ein systematischer Vergleich von «Glitzer»-Aktien mit solchen, die nach fundamentalen Kriterien ausgesucht werden (Value- oder Substanzwerten), zeigt allerdings, dass langweilige Titel die bessere Investition sind. Nach dem Kauf beginnt das Hoffen und Bangen. Selbstverständlich hängt der Kursverlauf sehr vom Zufall ab. Aus psychologischer Sicht ist aber entscheidend, wie man damit umgeht. Der Optimist sieht in jeder Kurssteige- rung eine Bestätigung seiner Entscheidung, und Kursverluste tut er mit der Bemerkung ab, es sei Pech oder die Korrektur notwendig. Der Skeptiker denkt bei jeder Aufwärtsbewegung, dass er Glück gehabt hat, und wenn der Kurs sinkt, ärgert er sich doppelt, denn im Grunde hatte er ja gar nicht kaufen wollen. Man kann sich leicht vorstellen, dass deshalb Pessimisten nicht lange investiert bleiben – es sei denn, sie sind masochistisch veranlagt. Optimisten führen So dominieren am Aktienmarkt tendenziell die Optimisten. Sie investieren nicht selten nach dem Prinzip Hoffnung, legen etwa in vermeintlich bahnbrechende neue Technologien an, die hohen Gewinn versprechen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit klein ist. Dieses Verhalten kennt man von Sportwetten, es wird Favorite Long Shot Bias genannt. Wer dem folgt, wettet immer auf die Aussenseiter – leider geht vergessen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Aussenseitersiegs die Höhe des Gesamteinsatzes im Durchschnitt zunichtemacht. Statistisch betrachtet ist es sinnvoller, eher auf die Favoriten zu setzen. Besonders interessant ist das typische Anlegerverhalten, wenn die Kurse fallen. Die erste Reaktion ist Nachkaufen. Das beruht auf dem sogenannten Ankereffekt. Der Einstandspreis ist ein psychologischer Anker. Sinken die Kurse darunter, erscheint ein Titel wie das Sonderangebot im Supermarkt günstig. Häufig wird bei weiteren Kursverlusten nachgedoppelt. Der Drang, den Wertverlust mit Nachkaufen und der Hoffnung auf den Das Verhalten des typischen Privatanlegers Zum Glück habe ich nicht gewartet! Ah der Kurs steigt, mal den Markt beobachten. Wenn ich noch länger warte, profitiere ich nicht vom Trend. KAUFEN! Ich werde diese Korrektur nützen – meine Position ausbauen. Was soll’s, ich kaufe wieder, es ist ohnehin billiger als beim letzten Mal. Super! Zu diesem Preis verdopple ich meine Position! Ich kann’s kaum glauben! Der Kurs hat sich halbiert! Das muss wohl der absolute Tiefstand sein. Warum sagen die Bankiervereinigung und Börse nichts dazu?!? Genug ist genug! Ich verkaufe und rühre keine Aktie mehr an Zum Glück habe ich alles verkauft! Es wird trotzdem abstürzen! Ich wusste die ganze Zeit, dass das passieren würde. Was ist denn jetzt los? Was hab’ ich gesagt... Quelle: BhFS Behaviourals Finance Solutions / Grafik: FuW, br 17 Wie oft liegen Investoren richtig? 100% 2000 richtige Einschätzung (l. Skala) S&P 500 (r. Skala) 67% 67% 42% 42% 58% 83% 67% 67% 83% 33% 50% 42% 50% 400 67% 20% 75% 800 83% 40% 92% 1200 58% 60% 67% 1600 75% 80% 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 Eine Grafik der Studie 2012 des Bostoner Finanzanalysehauses Dalbar zeigt, was die Verhaltensökonomie und landläufige Beobachtungen schon länger feststellen: Die meisten Anleger handeln zyklisch. Im Aufschwung mag die Rechnung aufgehen, mit sinkender Wahrscheinlichkeit, je höher die Kurse klettern. Im Abschwung hingegen ist es tückisch, dem Markt zu folgen. Die meisten Anleger verkaufen in der Baisse zu spät. Das belegen die Jahre 2000 bis 2002 und 2006 bis 2006. Als die Kurse einbrachen, schätzte klar mehr als die Hälfte der Investoren die Lage falsch ein. Es zeigt sich auch, dass der «typische» Investor noch Titel abstösst, wenn die Börse bereits gedreht hat. Er verpasst so die lukrativste Phase der Erholung. Selbstverständlich ist man im Nachhinein klüger. Der antizyklisch handelnde Anleger beugt dem vor. Er kauft im Abschwung günstig und verkauft in der Hausse teuer. Quelle: Dalbar-Studie 2012 / Grafik: FuW, rm Turnaround zu kompensieren (Get-Evenitis), führt dazu, dass immer mehr riskiert wird. Doch bis zu einer Wende kann es lange dauern, die finanzielle Risikofähigkeit ist oft früher erschöpft. Ziemlich sicher aber ist die psychologische Risikofähigkeit ermattet. Wenn ein Anleger trotz Zukauf weiter verliert, kommen Zweifel auf. Er sucht Hilfe von aussen und bricht schliesslich die Investition ab. Schauen wir zurück auf den Kaufentscheid, wird deutlich, dass zum Investitionszeitpunkt das Aufwärtspotenzial über- und die psychologische Risikofähigkeit unterschätzt wurde. Es ist ein typisches und weit verbreitetes Muster: Steigen die Märkte, werden die Anleger zu selbstsicher, sie leiden am Overconfidence Bias. Das süsse Gift der Gewinne trübt schnell unsere Urteilsfähigkeit. Die dritte und letzte Phase unserer Fallstudie ist der Rebound. Natürlich kann man auch die Erholung nicht im Voraus bestimmen, jedoch wird sie wahrscheinlicher, je tiefer die Kurse fallen. Aktien werden immer günstiger, die Dividendenrendite übersteigt die Obligationenrendite, und irgendwann ist der Markt überverkauft. Wohl dem, der jetzt noch handlungsfähig ist. Gegen die Natur handeln Der typische Privatanleger wird von der Wende ebenso überrascht wie vom Crash. Wird die Erholung dann durch einen fortgesetzten Aufschwung bestätigt, investiert er wieder, obschon die Kurse schon kräftig gestiegen sind. Die Aussage «ich wusste die ganze Zeit, dass der Markt sich erholen wird» ist ein Beweis mehr, dass man im Nachhinein immer klüger ist. Es handelt sich um den sogenannten Rückschaufehler (Hindsight Bias), der deshalb problematisch ist, weil er uns hindert, aus Fehlern zu lernen. Der typische Privatanleger kauft deshalb, wenn die Kurse hoch sind, und verkauft, wenn sie niedrig sind (vgl. Box oben). Auf Dauer verbrennt er so viel Geld. Der wesentliche Grund dafür liegt darin, dass das menschliche Verhalten durch Millionen von Jahren von der Evolution an unsere natürliche Umwelt angepasst wurde. Die Art und Weise, wie wir auf Finanzmärkten interagieren (sollen), ist aber ganz und gar nicht natürlich. Wir können keinen unserer für die Natur angepassten Sinne gewinnbringend einsetzen und bewegen uns an den Finanzmärkten in einem komplexen System, das wir nur partiell verstehen. Wir sind von Natur aus «adaptive Lerner». Was gut ging, setzen wir fort, was schlecht war, meiden wir. Am Finanzmarkt ist es eher besser, gegen den Strom zu schwimmen, sich also nicht von der Herde der Anleger mitreissen zu lassen. Über weitere Irrtümer und mentale Konten Die in der Grafik skizzierte Fallstudie fördert viele Behavioural Biases oder Wahrnehmungsverzerrungen zutage. Jedoch behandelt sie nicht die Fehler, die bei der Zusammenstellung des Portfolios auftreten. Studien zeigen immer wieder, dass Privatanleger unterdiversifiziert sind, ihr Aktienportefeuille zum Beispiel aus nur wenigen Positionen besteht. Zudem gibt es die Tendenz, nationalistisch anzulegen, also zu wenig international zu diversifizieren. Seit fünf Jahren untersuche ich einmal jährlich die Anlageempfehlungen, die Banken in der Schweiz ihren Kunden geben. Ich habe noch kaum eine negative Empfehlung zu Nestlé gesehen und kein Portfolio, in dem diese Titel fehlen. Ausserdem führen viele Privatanleger mentale Konten – sie machen in Gedanken Unterschiede, die es gar nicht gibt. So wird häufig zwischen Buchgewinnen oder -verlusten und realisierten Gewinnen und Verlusten unterschieden, mit der Folge, dass Aktien im Gewinn zu früh und im Verlust zu spät verkauft werden. Die Überführung eines Buch- in einen realen Gewinn macht Freude, während man vor dem Schritt, aus einem Buchverlust einen realen zu machen, zurückscheut. Dieser Bias heisst in der Literatur Dispositionseffekt. Eine zweite Form der mentalen Konten betrifft die Unterscheidung von Geld, das aus Einlagen kommt, und dem, das am Finanzmarkt gewonnen wird. An der Börse verdientes Geld, auch House Money genannt, wird oft viel leichtfertiger riskiert als die Einlagen, die in den meisten Fällen Ersparnisse sind. Mentale Konten führen also dazu, dass ein Franken nicht ein Franken ist – eine gefährliche Sichtweise. Ebenfalls sind wir geneigt, mentale Konten für Gewinne und für Verluste getrennt zu führen. Auch da ist gedanklich das Verhältnis nicht eins zu eins, ganz im Gegenteil. Nobelpreisträger Kahneman hat herausgefunden, dass 1000 Fr. Verlust durch mindestens 2000 Fr. Gewinn kompensiert werden müssen, damit die mentale Balance wiederhergestellt ist. Diese klare Asymmetrie heisst Verlustaversion. Investoren mit grosser Verlustaversion schrecken vor vielen Anlagechancen zurück. Sie leiden am kuzfristigen Auf und Ab der Börse so stark, dass es besser für sie wäre, wenn sie nur nach längeren Halteperioden kontrollierten, wie es mit den Anlagen steht. Viele Fallen treten in der Beurteilung des Anlageerfolgs auf. Stark verlustaverse Investoren sollten nicht zu detailliert auf ihren Kontoauszug schauen, da sie dann auf Titelebene zu viele Minuspositionen finden, die auf der Ebene von Anlageklassen häufig durch Gewinne kompensiert werden. Zudem gilt es zu bedenken, dass die meisten von uns ihre Investitionsentscheidungen nicht allein treffen. Wohl dem, der einen Anlageberater hat. Nicht, dass dieser immer richtig läge, aber so hat man wenigstens jemanden, dem man die Schuld für schlechte Entscheide geben kann, während man die guten sich selbst zuschreibt und, wie eingangs erwähnt, gerne weitererzählt. Das Diagnostiktool von BhFS (Login erhältlich über [email protected]) zur Entdeckung von Behavioural Biases hilft, viele Anlagefehler zu verhindern. Es ersetzt aber nicht den im Haupttext oben erwähnten morgendlichen Blick in den Spiegel. 18 Mittwoch, 30. Mai 2012 · Nr. 43 Wie Kultur die Anleger beeinflusst (Teil 2) – Kulturelle Unterschiede auch in Finanzfragen – Lateinische Länder ungeduldig und risikoscheu – Nordeuropäer cool PDI IDV MAS UAI LTO tiefste Ausprägung höchste Ausprägung Österreich Kolumbien Norwegen Dänemark Tschechien Malaysia USA Japan Griechenland China Quelle: Hofstede, Hens / Grafik: FuW, br Verlustaversion und Geduld 3.5 2 0.9 0.8 0.7 0.6 0.5 0.4 0.3 0.2 0.1 3 2.5 2 1.5 1 0.5 ka Os te u Sü rop de a ur op Os a ta No si rd en eu ro Na he pa rO st en La Af rik te in am a An e ge rika lsa ch se n Verlustaversion hoch ri Af niedrig pa rika opa sen ten ien pa s ro s r e h ro a u c O t u m a te er lsa de Os Os Sü tein or ge Nah N n a A L u de Geduld niedrig hoch Quelle: Mei Wang, Marc Oliver Rieger / Grafik: FuW, br Value-Prämie (Value minus Growth) 0,35 hoch hoch 0,3 3 je nach Land 0,35 Valueprämie in % 0,3 0,25 0,2 0,15 0,1 0,25 0,2 0,15 0,1 niedrig Kultur ist im weitesten Sinn alles, was der Mensch gestaltend hervorbringt. Wenn man die Kunstschätze der Welt ansieht, so kann man wunderbar die kulturellen Unterschiede erfassen, die es in verschiedenen Regionen gab und teils noch heute gibt. Aber wie kann man Kultur messen und mit so etwas Banalem wie Anlageverhalten und Marktrenditen in einen numerischen Zusammenhang bringen? Weil Anlegerverhalten ein Teil unseres Sozialverhaltens ist, helfen uns die kulturellen Dimensionen, die der weltberühmte niederländische Soziologe Geert Hofstede ermittelt hat, weiter. Hofstede hat herausgefunden, dass unser Sozialverhalten am besten anhand von fünf Dimensionen beschrieben werden kann: der Ungleichheit von Macht und Vermögen, der Belohnung von individuellen oder kollektiven Leistungen, den Geschlechterunterschieden in der Gesellschaft, der Intoleranz gegen Unsicherheit und dem Respekt für Traditionen (vgl. Grafik 1). Die Grafik zeigt, welche Länder die extremsten Ausprägungen der fünf Hofstede-Dimensionen haben. Auf Hofstedes Website (Geerthofstede.com) kann man sich Land für Land durch die kulturellen Unterschiede klicken. Die Schweiz bewegt sich mehr oder minder im Durchschnitt, mit Unterschieden je nach Sprachregionen (vgl. Box rechte Seite unten). So ist zum Beispiel die Risikoscheu in der lateinischen Schweiz grösser als im deutschsprachigen Landesteil In der bislang weltweit umfangreichsten Studie zu kulturellen Unterschieden in der Finanzökonomie haben meine Kollegen Mei Wang und Marc Oliver Rieger sowie ich vor kurzem die Zeitpräferenzen, das Risikoverhalten und die Behavioural Biases (psychologische Fallen im Investorenverhalten) von über 6000 Anlegern in 50 Ländern ermittelt. Gruppiert man die Ergebnisse nach kulturellen Regionen, so zeigen sich erstaunliche Differenzen: Zum einen sind die Anleger in den nordischen und den deutschsprachigen Ländern die geduldigsten, während die afrikanischen vor Südeuropa am ungeduldigsten sind. Zum anderen können die Anleger in den angelsächsischen Ländern am besten Verluste verkraften, während die In- 1 Power Distance Index – PDI Ungleichheit von Macht und Vermögen Individualism – IDV Belohnung von individuellen oder kollektiven Leistungen Masculinity – MAS Geschlechterunterschiede in der Gesellschaft Uncertainty Avoidance Index – UAI Intoleranz gegen Unsicherheit Long-Term Orientation – LTO Respekt für Traditionen Valueprämie in % Was ist Kultur? Hofstedes Dimensionen niedrig T rotz der fortschreitenden Globalisierung gibt es weiterhin kulturelle Unterschiede. Auf der Welt werden rund 6500 Sprachen gesprochen, die Essgewohnheiten sind verschieden, und auch das Sozialverhalten unterscheidet sich je nach Region. Die traditionelle Finanzökonomie jedoch zeigt sich von der kulturellen Vielfalt ziemlich unbeeindruckt. Sie behauptet: Wenn’s ums Geld geht, sind wir alle gleich. Jeder Anleger kann heute mit ein paar Klicks jedes Wertpapier dieser Welt handeln. Und die traditionelle Finance stellt fest: Am Ende wollen wir alle dasselbe – eine hohe Rendite ohne ein zu grosses Risiko. Vor rund zwanzig Jahren haben Forscher der Behavioural Finance damit begonnen, die Frage zu klären, ob es nicht doch auch im Anlegerverhalten kulturelle Unterschiede gibt. Sie vermuten – selbst unter der Annahme, dass die Investoren überall den Rendite-Risiko-Tradeoff, das Abwägen zwischen Rendite und Risiko, beachten –, dass die Kultur etwa in der Auswahl der Wertanlagen, beim Zeithorizont und bei der Risikoaversion eine Rolle spielt. Schliesslich betont die Behavioural Finance, dass es zwar nur einen Weg gibt, wie man sich rational verhält, es aber viele Arten gibt, sich irrational zu verhalten. Also könnte es auch sein, dass unsere Kultur bestimmt, in welche psychologischen Fallen wir beim Anlegen tappen. Nicht nur gibt es faszinierende kulturelle Unterschiede im Investorenverhalten, sie beeinflussen auch die Renditen auf den Aktienmärkten. 0,05 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 niedrig Geduld 1 hoch 0,05 0,2 0,4 niedrig 0,6 0,8 1 Verlustaversion 1,2 1,4 1,6 hoch Quelle: Nilüfer Caliskan / Grafik: FuW, br 19 vestoren in Osteuropa und in den lateinischen Ländern am meisten unter einem Fehlentscheid leiden und entsprechend die höchste Risikoscheu haben (Grafik 2). Obwohl jeder Anleger wie erwähnt heutzutage mit ein paar Klicks jedes Wertpapier dieser Welt handeln kann, stellt man immer wieder fest, dass es eben doch nicht getan wird. Die Konzentration auf den Heimmarkt ist offensichtlich. Die Deutschen kaufen zu 80% deutsche Aktien, die Franzosen zu 90% französische und die Amerikaner zu 110% amerikanische – über 100% deshalb, weil man in Amerika auch gerne mit Leverage, also mit Schulden, investiert. Das ist der immer wieder dokumentierte Home Bias. Auswirkung auf Rendite Es ist aus diesem Grund womöglich doch so, dass regional unterschiedliche Kulturen nicht nur das Anlegerverhalten, sondern sogar die Marktrenditen beeinflussen. Bevor man den Zusammenhang zwischen individuellem Anlegerverhalten und Marktrendite verstehen kann, muss man sich allerdings das Prinzip des ökonomischen Gleichgewichts vor Augen führen. Wie sagte meine Grossmutter schon so passend: Wenn alle dasselbe wollen, bekommt keiner was. Was heisst das für den Finanzmarkt? Mit Aktieninvestments sind bekanntlich grössere Unsicherheiten verbunden, man kann mit Dividendenpapieren eher Geld verlieren als mit Obligationen. Und nur wer langfristig in Aktien investiert, kann damit rechnen, eine ansprechende Performance oder Rendite (Kursertrag und Ausschüttung) zu erzielen. Die Renditen, die im ökonomischen Gleichgewicht die Entschädigung für das Halten von Aktien sind, sollten also in Regionen, in denen die Investoren mehr unter Unsicherheit leiden respektive stärker verlustavers sind und kurzfristiger anlegen, tendenziell höher sein als in anderen Regionen. In der Tat finden Wang und Rieger, dass der Uncertainty Avoidance Index (UAI) von Hofstede die regionalen Unterschiede in der längerfristigen Überrendite von Aktien zu Obligationen (Equity Premium oder Aktienprämie) erklären kann. Und Chui, Titman und Weil stellen in ihrem 2010 im «Journal of Finance» publizierten Artikel fest, dass Hofstedes Individualismus-Index (IDV) die Überrendite von Momentumstrategien gegenüber der Marktrendite erklären kann (bei der Momentumstrategie werden Aktien gekauft, die zulegen, in der Erwartung weiterer Kurssteigerungen). Prämie für Value vs. Growth Schliesslich zeigt eine aktuelle Arbeit meiner Doktorandin Nilufer Caliskan und von mir, dass man die regional unterschiedliche Überrendite von Value-Strategien (Kauf von unterbewerteten Aktien) gegenüber der Marktrendite mit der Geduldigkeit und der Verlustaversion der Anleger erklären kann. Um eine respektable Performance mit Value-Aktien einzufahren, muss man noch mehr Verluste tolerieren können und geduldiger sein, als wenn man in einen Marktindex investiert. Grafik 3 verdeutlicht die Risikoaversion und die Geduld in einzelnen Ländern bezüglich der Gibt es Swissness im Anlageverhalten? In einer vom Versicherer Bâloise unterstützten Studie haben meine Oberassistentin Kremena Bachmann und ich letztes Jahr analysiert, ob es etwas typisch Schweizerisches am Verhalten der Anleger in der Schweiz gibt. Die Gegenthese war, dass die Anleger in der Ostschweiz den Deutschen, die Investoren in der Westschweiz den Franzosen und die Tessiner den italienischen Anlegern ähnlicher sind als ihren Schweizer Landesgenossen. Diesem Thema sind wir anhand von Fragen zum Entscheidungsverhalten sowie zu den emotionalen, den psychologischen und den wissensbedingten Treibern des Entscheids nachgegangen. Die Studie zeigt, dass beim Vertrauen in Anlageempfehlungen von Freunden und ihrem Finanzberater Schweizer Investoren ähnlich entscheiden wie ihre Nachbarn. Bei vielen anderen Eigenschaften gibt es jedoch eine Swiss- Value-Prämie (Value, hohes Buch-Kurs-Verhältnis) minus Growth (tiefes Buch-Kurs-Verhältnis). Der Geduldsfaktor zum Beispiel wurde mit der Frage ermittelt «Lieber 3000 € jetzt oder 3300 € später bekommen?» Auch da zeigt sich: je niedriger die Geduld resp. je höher die Verlustangst, desto höher die (verlangte) Prämie. ness. Sie zeigt sich vor allem im Umgang mit Risiken und Verlusten sowie beim Hang zu Emotionen wie beispielsweise dem Bedauern, wenn eine falsche Entscheidung getroffen worden ist. Eine ebenso interessante Erkenntnis ist, dass in mancher Hinsicht die Investoren in der Ostschweiz den Anlegern in der Westschweiz am ähnlichsten sind, während die Tessiner sich in verschiedenen Aspekten anders verhalten. Sie sind in manchen Punkten ihren Nachbarn in Italien ähnlicher als ihren Landsleuten. Diese Ähnlichkeit zeigt sich ausgeprägt in ihrem Verhalten nach Gewinnen, dem grösseren Vertrauen in Empfehlungen von Freunden und ihrem Hang, lotterieähnliche Anlagen zu kaufen. Als besonders geduldig gelten Tessiner Anleger nicht – nach Hofstedes Dimensionen (vgl. Haupttext und Grafik 2) eher typisch für lateinische Völker. Die kulturelle Vielschichtigkeit zeigt sich also auch in den Marktrenditen. Es bleibt zu untersuchen, ob sich diese Unterschiede mit der fortschreitenden Globalisierung «abschleifen» wie die Unterschiede in unseren Sprachen, unseren Essgewohnheiten und unserem Sozialverhalten. 18 Mittwoch, 6. Juni 2012 · Nr. 45 Welcher Risikotyp bin ich? (Teil 3a) – Investieren beginnt mit Risikoprofiler – Gute und schlechte Beispiele – Behavioural Finance legt Wert auf Verlusttoleranz Laborexperimente hilfreich Eine wesentliche Hilfestellung beim Design von Risikoprofilern liefern kontrollierte Laborexperimente. Laborexperimente in der Ökonomie sind eine der bedeutendsten Forschungsmethoden der Behavioural Finance. Sie gehen auf den amerikanischen Professor Vernon Smith zurück, der dafür im Jahr 2002 mit dem Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. Der wesentliche Vorteil von Laborexperimenten ist, dass der Laborleiter die Kontrolle über die exogenen Einflussfaktoren behält und somit direkte Vergleiche ziehen kann, zum Beispiel zwischen dem Anlageerfolg von Investoren, die mit, und solchen, die ohne Risikoprofiler angelegt haben. Dieser Vergleich kann sogar für alle Marktphasen (steigend, fallend, seitwärts etc.) gezogen werden, da der Laborleiter auch sie im Experiment vorgeben kann. Das ist ein riesiger Vorteil gegenüber der Praxis, wo Experimentieren mit dem Kundenberatungsprozess nicht möglich ist. Seit rund fünf Jahren entwickelt meine Forschergruppe am Institut für Banking und Finance der Universität Zürich Risikoprofiler mithilfe von Laborexperimenten. In diesem Artikel, der zweigeteilt ist (Teil 3a und 3b), gebe ich einen Überblick über die bisherigen Ergebnisse. Das Ziel eines Risikoprofilers ist die Bestimmung einer Aufteilung des Vermögens nach Anlageklassen, die den Investor optimal auf dem Rendite-Risiko-Trade-off (Chancen-Risiko-Verhältnis) der Anlagemöglichkeiten positioniert, sodass er die Anlagestrategie langfristig durchhalten kann. Das Ziel ist sehr hoch gesteckt, denn es verlangt, eine Balance zwischen den rationalen und den irrationalen Aspekten des Anlegers zu finden. Es ist für den Investor schlecht, wenn seine Behavioural Biases (psychologi- sche Fallen) zu stark seine Asset Allocation bestimmen, da er dann Rendite verliert. Es ist aber ebenso wenig gut, wenn seine Psychologie ignoriert wird, da er dann mit der Anlagestrategie überfordert ist und sie im falschen Moment abbricht. In Kontext einbetten Um den Konflikt zwischen irrationalem Verhalten und Überforderung zu entschärfen, empfiehlt es sich, den Risikoprofiler nicht isoliert anzuwenden, sondern ihn in einen Kontext zum Beispiel mit einem Diagnostikmodul und einem Trainingsmodul zuvor sowie einem guten Reporting danach zu stellen. Ein Diagnostikmodul deckt die Behavioural Biases des Investors ab, während in einem Trainingsmodul die Vor- und Nachteile von Anlageklassen und -strategien erlernt werden. Zunächst ist klar, dass die Fragen einem Risikoprofiler einen logischen Fluss von Gedanken vermitteln müssen, damit der Anleger nachvollziehen kann, warum er überhaupt solche Fragen beantworten muss. Ein logischer Ablauf ist z.B., mit den Zielen des Kunden zu beginnen, dann die finanziellen Mittel anzusehen, mit denen die Ziele angestrebt werden sollen, mögliche Restriktionen festzuhalten, die bei der Benutzung des Kapitals einzuhalten sind, und schliesslich die Lösung zu analysieren. Um zu verstehen, wie sich die Lösung aus den Zielen, den Mitteln und den Restriktionen ergibt, ist es wesentlich, immer wieder auf die vorhergehenden Aspekte zurückkommen zu können, sodass ein Dialog anhand des Risikoprofilers möglich ist. Den Anfang machen wie erwähnt die Investitionsziele. Sie sollten nach ihrer Bedeutung geordnet werden. Ziele können Verpflichtungen sein (Abtragen einer Hypothek, Ausbildung der Kinder usw.) wie auch Pläne und Wünsche, die man sich und anderen erfüllen möchte (Ferienhaus, Weltreise etc.). Aus den Zielen ergibt sich auch der Anlagehorizont. Dann rücken die finanziellen Mittel sowie die Anlageinstrumente, die zur Erreichung der Ziele zur Verfügung stehen, in den Fokus. In diesem Schritt ist es wesentlich, steuerliche, rechtliche und persönliche Restriktionen zu berücksichtigen. Risikofähigkeit absichern Substanziell ist, wie die Risikofähigkeit gesichert werden soll. Unter Risikofähigkeit versteht man, dass der Wert des Anlagevermögens jederzeit möglichst gut die Verpflichtungen decken soll. Die traditionelle Finance arbeitet hier mit dem Konzept des Value at Risk. Er ist der Wert des Vermögens, der bis auf wenige Fälle am Ende des Anlagezeitraums nicht unterschritten werden darf. Leider ist diese Betrachtung aus psychologischer Sicht nicht gerade beruhigend, da es eben doch Fälle gibt, wo man so viel Geld verlieren kann, dass die Verpflichtungen nicht mehr gedeckt sind. Das kann dazu führen, dass Investoren bei fallenden Kursen nervös werden und ihre Anlagestrategie abbrechen. Eine bessere Methode ist, die harten Verpflichtungen durch wetterfeste Anlagen abzusichern. Das heisst, man sollte statt der Value-at-Risk-Betrachtung besser einen Asset Split einführen. Die alles entscheidende Frage ist dann, wie man die Risikotoleranz des Anlegers bestimmt. Nach traditioneller Auffassung besteht Risiko Differenzierte Sicht der Risikotoleranz Anlage A hat eine höhere Standardabweichung der Renditen als Anlage B, die aber eine höhere Volatilität der Renditen als A hat. Je nachdem, ob man den Punkt P in den Verlauf der Renditen von B mit einbezieht, hat B ein höheres Verlustpotenztial als A. Kumulative Rendite E in wesentlicher Teil der Anlageberatung ist es, das passende Risikoprofil des Kunden zu ermitteln. Das Risikoprofil bestimmt dann die strategische Asset Allocation (SAA), also die langfristig anvisierte Aufteilung des Vermögens nach Anlageklassen. Viele Studien haben gezeigt, dass der Investitionserfolg im Wesentlichen von der strategischen Asset Allocation abhängt. Sie ist quasi der Schlüssel zum Erfolg. Während vor wenigen Jahren die meisten Banken die SAA allein anhand der qualitativen Einschätzung des Kundenberaters festlegten, benutzen heute fast alle einen formalisierten Fragebogen, den sogenannten Risikoprofiler. In den meisten entwickelten Ländern ist dieses Vorgehen sogar gesetzlich vorgeschrieben. Selbstverständlich ist es bei den Risikoprofilern wie überall: Es gibt gute und schlechte. Leider ist es aber für die Banken und die Kunden nicht einfach zu erkennen, worin sich gute und schlechte Risikoprofiler unterscheiden. A B A B P Zeitverlauf Quelle: BhFS Behavioural Finance Solutions / Grafik: FuW, br 19 allein darin, dass bei manchen Wertanlagen, wie zum Beispiel Aktien, weniger gut eingegrenzt werden kann, wie hoch der Ertrag am Ende des Investitionszeitraums sein wird. In der Tat ist es empirisch so, dass entlang der Anlageklassen (Geldmarkt, Obligationen, Hedge Funds, Aktien) die mittlere Rendite und die Standardabweichung der Rendite steigen. Häufige Fehler Aus Sicht der traditionellen Finance besteht die Ermittlung der Risikotoleranz nur darin, aus dieser Abwägung und Gegenüberstellung auszuwählen. Manche Banken benutzen Risikoprofiler, die ziemlich direkt nach diesem Tradeoff fragen, indem sie dem Kunden ein paar Kombinationen von mittlerer Rendite und Standardabweichung zur Auswahl stellen. Laborexperimente, aber auch Erfahrungen in vielen Finanzinstituten zeigen, dass Kunden mit dieser Vorgehensweise überfordert sind. Sie verstehen die Frage nicht richtig, und ihre Antwort führt dazu, dass sie einen Vermögensmix bekommen, der für sie zu aggressiv ist, sodass sie ihn in Krisenzeiten nicht durchhalten. Die Behavioural Finance hat eine differenziertere Sicht der Risikotoleranz. Natürlich ist die Unsicherheit, wie hoch am Ende der Laufzeit die Rendite sein kann, ein wichtiger Aspekt der Risikotoleranz. Viel wichtiger ist aber die Toleranz gegenüber Verlusten. Da die meisten Renditen von Anlagen nicht gleich viele Chancen auf Verlust und Gewinn haben, ist dieser Unterschied für die Anlageallokation höchst relevant. Aktien zum Beispiel haben gegenüber ihrer Standardabweichung viel mehr Verluste, als sie es normalerweise haben sollten, kapitalgeschützte Produkte weisen eine hohe Standardabweichung ihrer Renditen auf, obwohl ihre Verluste begrenzt sind. Die explizite Einbeziehung von Verlusten in die Risikotoleranz führt also dazu, dass die Asset Allocation weniger Aktien hat – aber kapitalgeschützte Anlagevehikel eine wichtige Rolle spielen können. Schliesslich bezieht die Behavioural Finance die Schwankungen des Portfolios (die Volatilität) explizit mit ein. Die Reaktion auf Schwankungen des Vermögens, das Investitionstemperament, ist ein wichtiger Indikator dafür, ob Anleger ihre Strategie durchhalten. Die Grafik zeigt die Unterschiede zwischen den drei Bestandteilen der Risikotoleranz. Nachdem die Investitionsziele, die Verpflichtungen, die Risikotoleranz und mögliche Anlageinstrumente ermittelt worden sind, stellt sich die Frage, wie man all dies zu einer Asset Allocation verknüpft. Diesem Schritt widmet sich der zweite Teil über Risikoprofiler (3b, «Vom Risikoprofil zum Anlagemix»). Wer schon einmal sein Risikoprofil erkunden möchte, kann via E-Mail an [email protected] das Login zum Risikoprofiler der Behavioural Finance Solutions (BhFS), eines Spin-off-Unternehmens der Universität Zürich, anfordern. Erwartungsmanagement In einer viel beachteten Studie zeigt Hersh Shefrin, Professor an der Santa-Clara-Universität in Kalifornien, dass die meisten Investoren denken, Anlagen mit hohem Risiko hätten eine niedrige Rendite und solche mit niedrigem Risiko eine hohe Rendite. Schlechtes wird mit Schlechtem assoziiert und Gutes mit Gutem. Deshalb erwarten die meisten Kunden von ihrer Bank quasi die Quadratur des Kreises: eine Anlagestrategie, bei der man ohne viel Risiko viel gewinnen kann. Die Realität am Finanzmarkt zeigt genau das Gegenteil. Nur Anlagen mit überdurchschnittlichem Risiko haben auch eine überdurchschnittliche Rendite. Eine wesentliche Aufgabe der Anlageberatung ist deshalb, die Kunden über diesen Rendite-Risiko-Trade-off aufzuklären. Ist das geschafft, besteht die nächste Aufgabe darin, die vom Kunden anvisierte Renditeerwartung mit seiner Risikofähigkeit in Einklang zu bringen. Ist die Risikofähigkeit für die angestrebte Rendite zu gering, muss sie diskutiert, aber nicht das Risiko erhöht werden. Leider ist das Überbringen schlechter Nachrichten nicht populär, und es besteht die Gefahr, dass der Kunde zu einer Bank wechselt, die behauptet, sie könne hohe Rendite ohne Risiko liefern. Eine solche Bank-Kunde-Beziehung beruht auf einem Trugschluss, der spätestens in der nächsten Krise am Finanzmarkt aufgedeckt wird. 16 Mittwoch, 13. Juni 2012 · Nr. 47 Vom Risikoprofil zum Anlagemix (Teil 3b) – Individuelles Portfolio die beste Lösung – Differenzierte Analyse und interaktive Tools helfen beim Entscheid E in wesentlicher Teil der Anlageberatung ist, das passende Risikoprofil des Kunden zu ermitteln. Der Bestimmung des Risikotyps war der Beitrag vor einer Woche gewidmet (Teil 3a). Die Bestimmung basiert in den meisten Fällen auf einem formalisierten Fragebogen (Riskprofiler), der wiederum Ausgangspunkt für die strategische Asset Allocation (SAA) ist. Sind die Investitionsziele, die finanziellen Verpflichtungen und die Risiko- respektive (nach der Lehre der Behavioural Finance) die Verlusttoleranz ermittelt, stellt sich die Frage, wie all diese Informationen zu einem optimalen Anlagemix führen. Dieser Schritt wird in der Praxis leider nur oberflächlich behandelt. Weit verbreitet sind Scoring-Methoden, die jeder Antwort im Risikoprofiler eine Gewichtung (Score) zuordnen, die dann addiert wird. Verschiedene der aufwendig erhobenen Informationen gehen so verloren, weil sie nur grob auf einer Skala (z. B. 0 bis 10) abgebildet werden. Jedoch ist dieser Weg für die Bank sehr bequem, kann sie die Resultate doch einfach einem Musterportefeuille zuordnen. Die Prospekttheorie Fundierter ist die Auswertung der Kundenbefragung mit einem Entscheidungsmodell. Anhand der Antworten werden Parameterwerte einer Zielfunktion und ihrer Restriktionen bestimmt und auf einem Datensatz Mit dem Risikomonitor navigieren Die für den Investor optimale Anlagestrategie muss fortwährend überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Im Laufe der Zeit kann sich die Risikofähigkeit des Anlegers aus zwei Gründen stark ändern: Gewinne und Verluste am Finanzmarkt beeinflussen sein Vermögen, und persönliche Ereignisse wie Heirat, Geburt von Kindern, Scheidung und Pensionierung verändern seine Verpflichtungen. Die fortwährende Kontrolle der Angemessenheit der einmal gewählten Strategie leistet ein sog. Risikomonitor. Er stellt dar, welche Verpflichtungen und Wünsche sich der Investor mit seinem Vermögen heute leisten kann und welche er voraussichtlich in Zukunft hat. Er liefert somit wertvolle Signale, die Anlagestrategie zu überprüfen. Der Risikomonitor sollte auf langfristigen Renditeerwartungen basieren und eine gewisse Toleranz gegenüber den Marktschwankungen einplanen, damit er nicht zu unnötigem, riskantem und teurem Aktionismus im Portfolio führt. 17 Das individuelle Portfolio Behavioural Efficent Frontier mit zwei Asset Allocations ASSET ALLOCATION Risk 2 1 CDY REAL EMKT Szenarien durchspielen Sie erlaubt es auch, ein Rendite-Risikodiagramm zu definieren, mit dem der Trade-off, das Angebot, kommuniziert werden kann, das der Finanzmarkt dem Investor bietet. Die Grafik oben zeigt, wie die Behavioral Efficient Frontier gemäss De Giorgi, Hens und Mayer zu diesem Resultat kommt. «Reward» ist der Nutzen, der aus den Gewinnen, «Risk» der Frust, der durch die Verluste entsteht. Die Behavioural Efficient Frontier bestimmt zu jedem Reward eine Asset Allocation, die das kleinste mögliche Risiko birgt, hier dargestellt an zwei unterschiedlichen Portfolios (vgl. Grafik nebenan). Nimmt man die Verlusttoleranz auf der Kurve zurück, entsteht das Portfolio rechts. Die untere Grafik «Performanceszenarien» stellt die zeitlichen Renditeverläufe eines vorgeschlagenen Portfolios in verschiedenen Marktszenarien dar, wie sie in den zwei vergangenen wechselvollen Jahrzehnten Tatsache waren. Das gewählte Portfolio verfolgt in allen Marktlagen einen mittleren Weg zwischen den Extremen volles Risiko mit 100% Aktien und kein Risiko mit 100% Cash. Das hat zur Folge, dass es in einem fallenden Markt weniger Verlust erleidet als die Aktien, jedoch in einem steigenden oder einem normalen Markt hinter sie zurückfällt. In jedem Fall verläuft es ruhiger als eine 100%ige Aktienanlage, aber auch nicht so langweilig wie ein reines Cash-Portfolio. Aber Risikoprofiler sind für eine individuelle und optimale Lösung eine wichtige Entscheidungshilfe. Leider gibt es keine Qualitätskontrolle für Risikoprofiler, und in vielen Fällen versteht man erst im Laufe des Investitionsprozesses, dass sie ihr Ziel verfehlen. Einen wissenschaftlich entwickelten Riskprofiler, der sich in der Praxis bewährt hat, findet man bei Behavioural Finance Solutions (BhFS), einem Spin-off-Unternehmen der Universität Zürich. Ein Login zum BhFS-Tool gibt es via E-Mail an die Adresse [email protected]. steht, welche Antwort zu welcher Veränderung in der Asset Allocation führt. Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass der Kunde den vorgeschlagene Anlagemix überschlafen und vielleicht mit anderen Personen noch diskutieren will. Er sollte deshalb eine Dokumentation mit dem gesamten Ablauf überreicht bekommen. Die auf dem beschriebenen Weg ermittelte strategische Asset Allocation (SAA) ist die Quelle des Anlageerfolgs. Es gibt aber keine Lösung, die zu allen Investoren gleichermassen passt. Reward von Renditen optimiert. Das zentrale Entscheidungsmodell der Behavioural Finance ist die Prospekttheorie von Daniel Kahneman und Amos Tversky. Kahneman wurde dafür 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Sie geht von den Zielen des Anlegers aus und nimmt Rücksicht darauf, wenn er unter keinen Umständen Verluste erleiden will und dem mehr Gewicht einräumt als der Gewinnmaximierung. Überhaupt: Wer Verluste minimiert, fährt auf Dauer besser als der Gesamtmarkt. In einem Aufsatz zeigen Enrico De Giorgi, Janos Mayer und ich, dass die Prospekttheorie mathematisch so niedergeschrieben werden kann, dass sie als Spezialfall das Standardportfoliomodell der traditionellen Finanzökonomie – das Mittelwert-Standardabweichungs-Kalkül von Harry Markowitz – enthält. Somit geht mit der Prospekttheorie nichts gegenüber dem traditionellen Ansatz verloren, im Gegenteil. Die Entscheide können nur besser werden, oder anders gesagt: Die auf Volatilität basierende Efficient Frontier von Markowitz sollte durch eine Behavioural Efficient Frontier basierend auf der Prospekttheorie ersetzt werden. HF Global Equities (EQTY) 0% GOVB 1 EQTY 30% 8% Empfohlenes Portfolio Cash 6% 2% 2% 1% 38% CDY 38% HF PE Global Bonds (GOVB) 0% EMKT Private Equity (PE) 4% 4% 8% 2% Übersteuertes Portfolio Hedge Fonds (HF) Emerging Markets (EMKT) Commodities (CDY) Global Real Estate (REAL) 0% Cash 44% 2 EQTY Cash Quelle: BhFS Behavioural Finance Solutions / Grafik: FuW, br Performance-Szenarien Darstellung zeitlicher Renditeverläufe des empfohlenen Portfolios in den verschiedenen Marktszenarien Normaler Trend 1.4 2004-2007 Historische Performance nach Investmententscheid 1.2 Global Equities Cash Empfohlenes Portfolio 2,6% 0,2% 1,2% 1.0 Aufwärtstrend 1997-2000 Historische Performance nach Investmententscheid Global Equities Cash Empfohlenes Portfolio 1.5 5,2% 0,3% 2,1% 1.0 Abwärtstrend Quelle des Erfolgs Sehr wichtig ist, dass die vorgeschlagene Asset Allocation keine Anweisung oder ein Befehl, sondern nur ein Diskussionsvorschlag ist. Ein interaktiver Risikoprofiler erlaubt es jederzeit, auch andere Vermögensaufteilungen anzusehen und auf die zu Beginn gestellten Fragen zurückzugreifen, sodass man ver- 2008-2009, Finanzkrise Historische Performance nach Investmententscheid Global Equities Cash Empfohlenes Portfolio –2,2% 0,5% –0,2% 1.2 1.0 0.8 0.6 Quelle: BhFS Behavioural Finance Solutions / Grafik: FuW, br 18 Mittwoch, 20. Juni 2012 · Nr. 49 Auch der Kopf kann sich irren (Teil 4) – Was die Hirnforschung lehrt – Verlustängste wirken stärker als Gewinnversprechen – Ratio kommt zu kurz E s gibt viele Lebensbereiche, in denen wir Fehler machen – Fehler, die wir selbst nach mehrfacher Belehrung immer wieder begehen. Besonders im finanziellen Bereich treffen wir stets wieder Entscheidungen, die der Ökonom als irrational bezeichnet. So spielen wir Lotto, obwohl wir im Durchschnitt gesehen verlieren. Wir fahren nach Las Vegas und spielen Roulette, verlieren zwar, reden uns aber ein, wir hätten es ja gewusst, dass es besser gewesen wäre, auf Rot statt auf Schwarz zu setzen. Wir kaufen die Jacke, die im Schaufenster so elegant aussah und uns gefällt, aber das Budget bei weitem übersteigt. Auch die Finanz- und Schuldenkrise der letzten Jahre ist von menschlichen Fehlentscheidungen getrieben. Risiken wurden igno- riert, und falsche Anreize für Traders und Investoren verleiteten dazu, erkannte Gefahren herunterzuspielen. Im Grunde ist unser Gehirn nicht für Finanzentscheidungen und komplexe Finanzmärkte geschaffen. Weshalb? Warum emotional? Zu Beginn der Entwicklung unseres komplexen Gehirns standen einfache Nervennetze, aus denen sich über Millionen von Jahren unser Gehirn entwickelte. Den Grossteil dieser Zeit verbrachte der Mensch mit dem Überlebenskampf: Nahrungssuche, Fortpflanzung und Schutz vor natürlichen Feinden. Erst in den letzten Jahrtausenden dieser Entwicklung hat der Mensch begonnen, sein Gehirn auch für Fi- Die Anatomie des menschlichen Gehirns nanzentscheidungen zu benutzen. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Investoren (professionelle und private) systematisch vom rationalen Entscheidungsverhalten abweichen. Um diesen Ansatz und seine Schlussfolgerungen zu verstehen, müssen wir einen kurzen Ausflug in die Neurowissenschaften unternehmen. Das menschliche Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen: Der älteste, der den inneren Kern bildet, ist der Hirnstamm (Truncus cerebri, vgl. Grafik). Er steuert wichtige Körperfunktionen wie zum Beispiel Kreislauf, Atmung und Verdauung. Das limbische System ist für unsere Sinne (im Thalamus) zuständig. Es beinhaltet auch die Instinkte wie Überlebensdrang und Fortpflanzung (im Hypothalamus), unsere positiven Gefühle (im Nucleus accumbens) sowie unsere Ängste (in der Amygdala, dem Mandelkern). Nicht unerwartet ist dieser Teil massgeblich an unserer Intuition beteiligt. Kampf der Systeme Grosshirn Grosshirnrinde Nucleus accumbens Hypothalamus Thalamus Mandelkern Hypophyse Kleinhirn Hirnstamm Grafik: FuW, br Was ist Neurofinance? Neurofinance ist eine Art «Joint Venture» zwischen Finanzökonomie und Neurowissenschaft (diese befasst sich mit dem Aufbau und der Funktionsweise der Nervensysteme resp. des Gehirns). Die Neurofinance erforscht, welche neuronalen Prozesse unseren Entscheidungen zugrunde liegen, und hat zum Ziel, Entscheidungsprozesse besser verstehen, vorhersagen und steuern zu können. Sie unterscheidet sich damit stark von traditionellen Ansätzen: Die klassische Ökonomie versucht zu formulieren, wie Menschen sich verhalten sollten. Sie definiert, was rationales Verhalten ist. Die Verhaltensökonomie, wie zum Beispiel die Behavioural Finance, bedient sich empirischer Daten, um klassische Modelle zu überprüfen und allenfalls zu verbessern. Die Neurofinance analy- siert, wie die Abweichungen der Verhaltensökonomie von den klassischen rationalen ökonomischen Modellen entstehen, indem sie den Entscheidungsprozess selbst zu verstehen versucht. So geht die traditionelle Finanzanalyse davon aus, dass Gewinne und Verluste im vorderen Gehirnteil, im kognitiven, verarbeitet werden und man das eine gegen das andere abwägen kann. Doch so einfach ist es nicht. Die Erfahrungen von Gewinn und Verlust sind in den sehr alten Teilen gespeichert, wo auch Emotionen und Gefühle verarbeitet werden (vgl. Haupttext). Es braucht also viel Überzeugungsarbeit, um diese Erfahrungen aus dem emotionalen in den vorderen Teil des Gehirns zu verlagern, wo man sie dann rational verarbeiten kann. Schliesslich bestehen beim menschlichen Gehirn drei Viertel aus der Grosshirnrinde (Telencephalon). Was uns jetzt von anderen Lebewesen unterscheidet, ist besonders der präfrontale Kortex, das heisst seine Beteiligung an Kurzund Langzeitgedächtnis sowie am Lernen, am Planen und an der Kontrolle von Verhalten. Zudem hilft uns die Grosshirnrinde, über Gefühle wie Liebe, Hass und Glück zu reflektieren. Entscheidend ist, dass sich die «älteren» Areale im Laufe der Evolution nicht wesentlich verändert haben. Stattdessen sind neue Areale wie die Grosshirnrinde dazugekommen, die zusätzliche Funktionen wie Planen und Sozialverhalten übernommen haben. Wenn wir uns also in einer Entscheidungssituation befinden, werden sowohl das limbische System als auch die Grosshirnrinde aktiv. Intuition und Emotionen treffen auf Kognition. Nicht immer sind sich diese Systeme einig. Dass dabei die Emotionen häufig die Oberhand gewinnen, lässt sich am besten zeigen, indem man physiologische und neuronale Aktivität misst. Mithilfe von bildgebenden Verfahren des Gehirns versucht die Neurofinance (vgl. Textbox) zu erklären, wie und wo irrationales Verhalten entsteht, woran es liegt, dass wir trotz unserer kognitiven Fähigkeiten Risiken häufig falsch einschätzen oder falsch auf Risiken reagieren, und welche Entscheide rationaler sind – die intuitiven oder die Entscheide, über die wir lange nachdenken. Für das Verstehen von Investitionsverhalten besonders interessant sind die Fragen: Wie reagiert unser Gehirn auf Gewinne und Verluste? Wie reagiert es auf Risiken? Und wie verhält es sich mit sofortigen gegenüber langfristigen Gewinnen, Verlusten und Risiken? Schätzt unser Gehirn Gewinne, Verluste und Risiken korrekt ein? Zunächst spiegeln schon äusserliche physiologische Signale unsere Risikowahrnehmung. 19 Bei professionellen Tradern schwanken Blutdruck und Hautleitfähigkeit mit der Volatilität der Märkte. Und bei den meisten Probanden erweitert sich die Pupille, wenn klar wird, dass das Risiko falsch eingeschätzt wurde. Neuronale Signale Auf neuronaler Ebene finden sich Beweise für rationales wie auch für irrationales Verhalten. Eine erste bemerkenswerte Beobachtung der Neurofinance ist, dass der Erwartungswert (aus dem sich die Rendite errechnen lässt) und das Risiko von finanziellen Entscheidungen explizit und in verschiedenen Gehirnarealen repräsentiert sind. Die notwendige Integration von Rendite und Risiko, die wir zum Verständnis von Rendite-Risiko-Trade-offs benötigen, findet wiederum in einem anderen Bereich statt. Solche Ergebnisse unterstützen die klassische Finanztheorie, wonach der Entscheid für oder gegen eine Investition Ergebnis einer bewussten Abwägung von Erwartungswerten und Risiken ist. Allerdings lassen sich auch neurologische Nachweise für individuelle Präferenzen wie die Risikoaversion finden. Andererseits finden sich neuronale Signale, die auf eine emotional beeinflusste Abwägung von Rendite und Risiko hindeuten. So treten in unserem Gehirn Gewinne und Verluste in teils verschiedenen Bereichen auf. Einige dieser Bereiche wie das Striatum und die Amygdala sind dabei eindeutig dem limbischen System und nicht unserem rationalen präfrontalen Kortex zugeordnet. Also ist die klare Trennung von Gewinnen und Verlusten, die der nobelpreisgekrönten Prospekttheorie (Teilgebiet der Behavioural Finance, vgl. Teil 3b) von Daniel Kahneman und Amos Tversky zugrunde liegt, natürlicher, als die traditionelle Finanzwissenschaft gedacht hat. Die wesentliche Aussage der Prospekttheorie ist die Verlustaversion, das heisst die Beobachtung, dass uns Verluste typischerweise doppelt so sehr schmerzen, wie uns Gewinne freuen. Wenn wir von einem «schmerzhaften finanziellen Verlust» reden, ist das nicht nur eine Redewendung. Der Verlust wird tatsächlich von Hirnarealen, die dem Schmerznetzwerk angehören, prozessiert. Eines dieser Areale ist die Amygdala. Patienten mit einer Schädigung in diesem Bereich scheuen keine Verluste und gehen oft unverantwortlich hohe finanzielle Risiken ein. Eine genauere Betrachtung von Fehlverhalten, das der Verlustaversion zugeschrieben wird, zeigt, dass es immer im Zusammenhang mit anderen Anlagefehlern, wie zum Beispiel einem zu kurzfristigen Investitionshorizont, auftritt. Die Frage nach dem Investitionshorizont ist sehr wichtig, denn Menschen sind schlecht darin, für die Zukunft zu planen. Das sogenannte hyperbolische Diskontieren (Gegenwartsbias) führt dazu, dass wir zukünftige Risiken falsch einschätzen. Auch Vernunft ist individuell Betrachten wir dazu die folgenden zwei Fragen. Erstens: Würden Sie lieber a) 100 Fr. heute oder b) 102 Fr. morgen erhalten? Und zweitens: Würden Sie lieber a) 100 Fr. in zehn Tagen oder b) 102 Fr. in elf Tagen bekommen? Die meisten Menschen wählen im ersten Fall a) und im zweiten b). Dabei geht es in beiden Fällen um die Frage, ob man willens ist, einen Tag zu warten, um 2 Fr. mehr zu erhalten. So betrachtet sind die Entscheide identisch. Doch der Gegenwartsbezug der ersten Frage verändert die Wahrnehmung des Gewinns. Und tatsächlich ist bei dieser ersten Frage das limbische System stärker beteiligt. Beim zweiten Entscheid hingegen wird der präfrontale Kortex, also das Planen, stärker aktiviert. Was bedeuten jetzt all diese Erkenntnisse für den Anleger? Zum Ersten wird die These der Behavioural Finance durch die Hirnforschung bestätigt, dass Menschen verschieden sind und rationales Entscheidungsverhalten individuell ist. Die in der traditionellen Finance noch vorherrschende Verkürzung des finanziellen Verhaltens auf eine Abwägung von mittlerer Rendite und Volatilität der Rendite ist allenfalls eine erste Annäherung an die vielschichtige Weise, wie Rendite und Risiko im Gehirn wahrgenommen werden. Entscheid mit Hirnscanner? Zum Zweiten hilft die Neurofinance, Risikopräferenzen und somit Risikoprofile zu ermitteln. Natürlich sollten wir nicht erwarten, dass die Anlageberatung in naher Zukunft in einem Hirnscanner stattfindet, aber die Neurofinance hat schon Fragebögen ermittelt, deren Auswertung nahe an den Erkenntnissen der Computertomographien des Gehirns liegen. Schliesslich hilft die Neurofinance, zwischen weichen und harten Behavioural Biases (Fehlverhalten) zu unterscheiden, indem sie lokalisiert, von welchem Hirnareal welcher Bias auftritt. Das Führen mentaler Konten, die Verzerrung der Aufmerksamkeit sowie Rechenfehler wie der Representativeness Bias (zu starke Beachtung augenfälliger Merkmale) oder die Gambler’s Fallacy (Spielerfehlschluss, Wahrscheinlichkeit falsch abgeschätzt) treten in der Grosshirnrinde auf, während der Gegenwartsbias und die Verlustaversion in älteren Hirnregionen wie dem limbischen System zu lokalisieren sind. Es besteht Hoffnung, die weichen Biases durch gute Beratungsgespräche zu mildern. Wenn der Anlageberater jedoch gegen die harten Biases ankämpft, wird dies eher zu Unverständnis und Frustration – auf beiden Seiten – führen. Thorsten Hens in Zusammenarbeit mit Kerstin Preuschoff, sie forscht am Laboratoire de Recherche en Neuroimagerie an der Technischen Hochschule Lausanne. 16 Mittwoch, 27. Juni 2012 · Nr. 51 Wie die Medien Teil des Systems sind (Teil 5) – Auch No News bewegen Kurse – Aufmerksamkeitseffekte wirken auf Kaufentscheid stärker als auf Verkauf S eit der Französischen Revolution sind die Gewalten unserer Staaten auf die Legislative, die Exekutive und die Judikative aufgeteilt. Wieso unterhalten dann Politiker wie Silvio Berlusconi und Christoph Blocher eigene Fernsehkanäle? Klar: Weil es im Grunde noch eine vierte Gewalt gibt – die Medien. In der traditionellen Finanzwissenschaft spielen sie allerdings keine Rolle, denn das herrschende Dogma ist dort die Informationseffizienz, die der Chicagoer Ökonom Eugene Fama postuliert hat (vgl. Textbox rechte Seite). Gemäss Fama sind alle öffentlichen Informationen immer schon in den Kursen eingepreist. Eine andere Sicht vertrat der englische Ökonom John Maynard Keynes. Er war ein sehr erfolgreicher Anleger und wusste sehr genau, dass es am Finanzmarkt nicht nur darauf ankommt, was man als den richtigen Kurs einer Anlage berechnen kann, sondern darauf, ob die anderen Marktteilnehmer diese Einschätzung teilen. Denn wie er treffend sagte: «Märkte können länger irrational bleiben, als man Geld hat, um sich dagegen zu positionieren.» Medienberichte können deshalb wertvoll sein, da sie uns darüber informieren, was die anderen Anleger denken oder gar wie ihre Stimmung ist. Aeron Davis von der University of London hat 2005 in einer Studie den sogenannten Third Person Effect nachgewiesen: Anleger reagieren auf Medienmeldungen, weil sie glauben, dass diese andere Marktteilnehmer beeinflussen werden und die Kurse sich deshalb verändern. Verzögerungseffekt Aufschlussreich ist auch, was Gur Huberman und Tomer Regev von der Columbia University im Jahr 2001 mit dem spektakulären Fall EntreMed aufgezeigt haben, dass nämlich Medienberichte grosse Preisänderungen auslösen können, selbst wenn keine neuen Informationen vorliegen. Am Sonntag, 3. Mai 1998, hatte die «New York Times» auf ihrer Titelseite über eine vielversprechende Krebstherapie berichtet, die von EntreMed entwickelt wurde. Die Aktien von EntreMed bewegten sich am Freitag davor um 12 $. Am Montag nach der Publikation eröffneten sie auf 85 $ – obwohl die Erkenntnisse aus dem Artikel schon seit Monaten bekannt und in der Fachzeitschrift «Nature» (wie sogar in der «New York Times» selbst) beschrieben waren. Drei Aspekte dieses Vorfalls sind aus Sicht der Markteffizienz besonders rätselhaft. Erstens: Die Reaktion auf dieses No-News-Ereignis war viel grösser als zum Zeitpunkt, als die Informa- tion erstmals publiziert wurde. Zweitens: Der Kursausschlag hielt sich recht lange – Monate später notierten die Titel immer noch rund doppelt so hoch wie vor der Titelstory. Drittens: Einige andere Biotech-Aktien wurden vom Kursschub mitgerissen. In der Behavioural Finance beschäftigen sich deshalb immer mehr Wissenschaftler mit dem Zusammenspiel von Medien und Finanzmärkten. Dieser Artikel berichtet von ihren faszinierenden Ergebnissen. Abhängigkeit ist gegenseitig Ein kritischer Journalist sollte wissen, dass Finanzmärkte aus sich selbst heraus Zyklen entwickeln, die zu starken Schwankungen um die Fundamentalwerte führen. Genau diese sogenannte Excess Volatility hat der US-Ökonom Robert Shiller schon 1980 im «American Economic Review» nachgewiesen. Also sollte man erwarten, dass die Medien einen kritischen Blick von aussen vertreten und helfen, diese Schwankungen zu dämpfen. Diese idealistische Sicht verkennt allerdings, dass die Medien selbst Teil des Systems sind. Auf ihrer Inputseite sind sie von Quellen abhängig, und auf ihrer Outputseite hängen sie davon ab, dass sie gelesen resp. konsumiert werden. Schwimmen sie zu lange gegen den 17 Strom, versiegen die Quellen, weil die Informanten sich jeweils wundern, warum ihre Ansichten gegenteilig kommentiert werden. Auf der Outputseite werden Massenmedien (davon ist hier die Rede), die gegen den Strom schwimmen, mit der Zeit nicht mehr gehört. Denn die meisten Leute konsumieren Medien nicht, um informiert zu werden, sondern um Bestätigung ihrer Ansichten zu finden (Confirmation Bias). So zeigt Anya Schiffrin von der Columbia University in ihrem neuen Buch «Bad News. How America’s Business Press Missed the Story of the Century», dass die amerikanischen Medien nicht auf die Finanzkrise hingewiesen haben. Die Kraft des Bildes Andererseits giessen Medien in Boomzeiten allzu oft Öl ins Feuer. Sie prägen mit schöner Regelmässigkeit Begriffe wie New Era Economics, um nahezulegen, dass wir in ganz besonderen Zeiten leben, in denen die alten ökonomischen Zusammenhänge zwischen Rendite und Risiko nicht mehr gelten. Der Fall EntreMed wirft die Frage auf, ob Anleger generell auf irrelevante Aspekte in der Medienberichterstattung reagieren. Matteo Arena und John S. Howe haben 2008 basierend auf der «Who’s News»-Spalte des «Wall Street Journal» wissenschaftlich belegt, dass Berichte versehen mit einem Bild des CEO eine stärkere Reaktion auslösten als Beiträge ohne Bild, selbst wenn beide Artikel direkt nebeneinander erschienen. Ausserdem kommen Aufmerksamkeitseffekte beim Kaufentscheid viel stärker zur Geltung, weil da ein fast unbegrenztes Universum zur Verfü- gung steht, wohingegen beim Verkauf meist nur das eigene Portfolio in Betracht kommt. Und – Privatinvestoren, die sich nicht ständig mit dem Finanzmarkt beschäftigen, sind dem «Attention Grabbing» besonders ausgesetzt. Diese zwei Hypothesen haben die kalifornischen Professoren Brad Barber und Terry Odean anhand von Millionen von Handelsaufträgen untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass Privatinvestoren stark dazu tendieren, Aktien zu kaufen, die aktuell in den Medien erwähnt werden. Leider ist es so, dass aufmerksamkeitsgetriebenes Anlegen keine Überrendite generiert und im Zusammenhang mit häufigen Umschichtungen im Depot sogar schädlich für das Vermögen sein kann. Die bisher vorgestellte Forschung hat sich nur mit der Frage der Medienpräsenz befasst, vergleichbar mit der Agenda-Setting-Theorie der Medienwissenschaft. Der andere wichtige Aspekt ist die Frage, ob die Stimmung in den Medien die Stimmung auf dem Finanzmarkt beeinflussen kann. Es gibt mittlerweile sehr effiziente Algorithmen, mit denen die Stimmung der Sprache in Tausenden von Medienmitteilungen quantifizieren werden kann. Von Präsenz zur Stimmung So wird zum Beispiel der Anteil negativer Worte (gemäss einem vordefinierten Wörterbuch, zum Beispiel dem «Harvard IV-4 Sociolinguistic Dictionary») in einem Text erhoben. In zwei auf diesem einfachen Mass basierenden Studien haben Paul Tetlock und sein Team von der ColumbiaUniversität gezeigt, dass man mit Medienstimmung nicht nur kurzfristige Rendite, sondern auch Unternehmensgewinne besser vorhersagen kann. Wendet man die Algorithmen auf Quartalsberichte an, so generiert die Medienstimmung einen Zusatzeffekt über die herkömmlichen Kennzahlen wie die «Gewinnüberraschung» hinaus, wie auch Joseph Engelberg von der Universität in San Diego zum Ausdruck bringt. Unsere eigene Forschung zeigt, dass Medien den Finanzmarkt viel stärker in Phasen hoher Unsicherheit prägen. Die Märkte reagieren schneller auf positive und negative Gewinnüberraschungen, was interessante Auswirkungen auf Anlagestrategien hat, die auf dem sogenannten Post Earnings Announcement Drift (PEAD) gründen. Positive Gewinnüberraschungen führen in der Regel zu einer Mehrrendite nicht nur am Publikationstag, sondern auch danach. Bei negativen Überraschungen funktioniert der Drift spiegelbildlich, was für verzögerte Informationsverarbeitung spricht. Es gibt noch viel zu tun Der Erfolg einer Strategie, die Aktien mit positiven Überraschungen kauft und solche mit (vermeintlich) negativen leer verkauft, wurde in mehreren Studien nachgewiesen. Sie lässt sich unter Berücksichtigung der Stimmung von Quartalsberichten sogar verbessern. Nun geschieht aber bei hoher Unsicherheit der grösste Teil der Preisreaktion (die insgesamt stärker ist als in ruhigen Phasen) bereits zeitnah, was für erhöhte Aufmerksamkeit spricht. Andererseits hat diese reduzierte Halbwertzeit von Firmenberichten sehr wohl damit zu tun, dass in unsicheren Zeiten viel mehr publiziert wird und auch die Medienstimmung selbst volatiler wird. Demzufolge lassen sich bei erhöhter Unsicherheit kaum noch Überrenditen aus dem Drift erzielen. All diese Beispiele verdeutlichen, dass – entgegen der Informationseffizienzthese der traditionellen Finance – Medien eine aktive Rolle im Finanzmarkt spielen. Für diese Beobachtungen bietet die Behavioural Finance einen Rahmen. In der Tat können viele Aspekte der Medienwirkung auf Anleger und Marktrenditen auf Behavioural Biases (irrationales Verhalten) zurückgeführt werden. Das Forschungsthema Medien und Finance ist vielversprechend. Es bleibt zu hoffen, dass die Medien objektiv darüber berichten werden. Thorsten Hens in Zusammenarbeit mit Michal Dzielinsky, Assistent am Institut für Banking und Finance. Stimmungsmesser Internetmedien In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrtausends, als der US-Wirtschaftswissenschaftler Eugene Fama die Informationseffizienz der Finanzmärkte postulierte, waren öffentliche Informationen noch relativ selten. Sobald sie in den Medien erschienen, hatten Insider meistens schon gehandelt. So ist es nicht erstaunlich, dass Fama feststellte, öffentliche Informationen seien immer schon in den Preisen eskomptiert. Inzwischen ist Insiderhandel verboten, und die Knappheit an Informationen ist durch einen «Information Overkill» abgelöst worden. Egal, wo wir uns gerade aufhalten, werden wir mit Nachrichten nur so bombardiert – ob wir wollen oder nicht. An vielen öffentlichen Orten läuft ein Fernseher, und wir selbst sind ständig online, mailen, twittern, googeln etc. Das Internet hat die Kommunikation aber nicht nur schneller, sondern auch interaktiver gemacht. Gerade der interaktive Teil der Kommunikation eröffnet neue Chancen, in der Flut der Informationen nicht unterzugehen, sondern geschickt auf ihren Wellen zu reiten. So haben die Informatiker Johan Bollen, Huinan Mao und Xiao-Jun Zeng von der Indiana University in Bloomington in einer vielbeachteten Studie («Twitter mood predicts the stock market») aufgezeigt, dass man Tweets auf Twitter einer Stimmungsanalyse unterziehen und damit die Vorhersage des Blue-Chip-Barometers Dow Jones Industrial auf Tagesbasis verbessern kann. Unsere eigene Untersuchung basierend auf Suchbegriffen in Google zeigt, dass auch diese aktive Teilnahme an den Medien Aufschluss über die Stimmung in der Ökonomie geben kann, womit dann wiederum Rückschlüsse auf die wöchentliche Entwicklung des S&P-500-Index gezogen werden können. Kollegen von uns versuchen, Facebook für Blitzumfragen zu nutzen, um auch hierdurch den Märkten einen Schritt voraus zu sein. Daraus folgt, dass nicht nur die Medien ein Teil des Systems sind. Auch wir sind via Internet alle Teil der Medien geworden. 16 Mittwoch, 4. Juli 2012 · Nr. 53 Wann Momentum, wann Value? (Teil 6) – Wie es zu Marktanomalien kommt – Beide Strategien je nach Situation erfolgversprechend D ie Behavioural Finance zeigt, dass das Verhalten von Anlegern auf vielfache Weise vom Idealbild des rationalen Investors abweicht. Doch könnte es sein, dass sich das individuelle Fehlverhalten ausgleicht? Wenn manche Anleger zu optimistisch und andere zu pessimistisch sind, könnte im Mittel der Markt doch immer noch realistisch sein. Und ist es nicht so, dass die Anleger, die Fehler machen, letztlich Geld an rationale Arbitrageure, wie Hedge Funds, verlieren, sodass sie für das Marktgeschehen immer weniger relevant werden? Die Behavioural Finance stellt trotz dieser an sich plausiblen Einwände eine Reihe von Marktineffizienzen (Marktanomalien) fest. Es scheint eher zu sein, dass die individuellen Anlagefehler in die gleiche Richtung gehen und auch ziemlich gleichzeitig auftreten. Und es ist nicht klar, ob irrationale Anleger gegen rationale Arbitrageure Geld verlieren. Es kann auch umgekehrt sein. Falls der Aktienmarkt nach fundamentaler Betrachtung zu preiswert ist, sodass rationale Investoren kaufen sollten, kann eine Panik der irrationalen Anleger trotzdem zu weiteren Kursverlusten führen. Keynes beschrieb es schon vor fast hundert Jahren: «Märkte können länger irrational bleiben, als man Geld hat.» Übertriebene Hoffnung, dass sich die rationalen Anleger am Markt schnell durchsetzen, kann sehr gefährlich sein. In den Siebzigerjahren postulierte der Chicagoer Ökonom Eugene Fama, dass Finanzmärkte effizient seien. Er folgerte es aus der Annahme der vollkommenen Rationalität aller Anleger. Da eine Marktanomalie eine Abweichung von dieser Effizienzmarkthypothese ist, müssen wir zuerst verstehen, was sie genau beinhaltet. Zunächst ist ein Franken dasselbe wie zweimal fünfzig Rappen – es sei denn, man steht an einer dieser Parkuhren, die nur 50-Rp.Stücke akzeptieren. Aber die gibt es im Finanzmarkt zum Glück nicht. Was wäre, wenn? Das heisst, Wertpapiere mit den gleichen Auszahlungen müssen auch den gleichen Preis haben. In der Finance nennt man dieses Postulat das Law of One Price. So banal das Law of One Price auch klingt, ist es doch die Grundüberlegung zur Bewertung von Obligationen, Aktien und auch allen Derivaten. Schauen wir einmal auf Aktien. Was sollte nach diesem Gesetz eine Aktie wert sein? Nach dem Law of One Price muss es genau so viel sein wie die abdiskontierte Summe der Cashflows (vor allem Dividenden). Falls die zukünftigen Cashflows sicher sind, muss man sie mit dem Zins von Obligationen gleicher Laufzeit abdiskontieren. In diesem Fall sind 100 Fr. Dividende in Zukunft das Gleiche wie ein Zinscoupon von 100 Fr. Da Dividenden aber ganz und gar unsicher sind, muss man sie mit sogenannten risikogerechten Zinsen abdiskontieren. Diese Zinsen berücksichti- gen die Unsicherheit der Cashflows wie auch die Risikoaversion der Anleger. An dieser Stelle macht die Effizienzmarkthypothese zwei wesentliche Annahmen: Erstens unterstellt sie, dass alle Anleger rationale Erwartungen haben, also die Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Dividenden schon kennen, und zweitens, dass ihre Risikoaversion konstant bleibt. Als Folge schwanken die Kurse nur mit den Dividenden. Der Finanzmarkt transformiert die exogene Volatilität der Dividenden eins zu eins in die Volatilität der Kurse – er generiert also keine endogenen Schwankungen, er hat kein Eigenleben. Ob Finanzmärkte effizient sind, ist keine Glaubensfrage, sondern ist empirisch zu überprüfen. Der US-Ökonom Robert Shiller macht seit zwanzig Jahren auf seiner Webpage folgende einfache Rechnung publik: Er vergleicht den S&P 500 mit dem Wert, den er haben müsste, wenn alle Anleger die zukünftigen Dividenden perfekt voraussehen könnten und eine konstante Risikoaversion hätten (vgl. Grafik rechte Seite). Die Kurse schwanken also substanziell um den rationalen Wert. Es gibt Phasen der Über- und der Unterreaktion. Shiller folgert aus seiner Berechnung, dass Aktienkurse ein gewisses Eigenleben haben. Sie reagieren nicht einfach auf Schwankungen der erwarteten Dividenden. Selbsterfüllende Erwartung Das in der Behavioural Finance analysierte Investor Sentiment (Anlageklima) geht dem Eigenleben des Marktes auf die Spur. Da die wenigsten Anleger eine Aktie kaufen und ewig halten wol- Evolutionary Finance Die evolutionäre Finanzmarktforschung erklärt die Dynamik von Finanzmärkten durch biologische Modelle der Evolution. Diese Modelle studieren die Interaktion von Strategien, wobei die natürliche Selektion die Vielfalt der Strategien einschränkt, während die Mutation immer wieder für neue Strategien sorgt. Die ersten evolutionären Finanzmarktmodelle wurden in den Neunzigerjahren am SantaFe-Institut in den USA entwickelt. Sie beruhten auf Computersimulationen. Fortschritte in der Mathematik der dynamischen Systeme erlauben inzwischen auch viele analytische Aussagen in evolutionärer Finanzmarktforschung. Wegbereiter der evolutionären Finanzmarktforschung waren Armen Alchian, Milton Friedman und Friedrich Hayek. Am Santa-Fe-Institut forschen Brian Arthur, John Holland und Doyne Farmer zu diesem Thema. In der Schweiz forschen neben mir Dirk Helbing und Didier Sornette an der ETH auf diesem Gebiet. len, ist für sie interessant, was andere von dem Titel halten. So kann es kommen, dass nicht die fundamental wertvollste Aktie am teuersten ist, sondern diejenigen Titel, die in Mode sind. Wiederum hat Keynes als Erster darauf hingewiesen. Er verglich die Börse mit einem Schönheitswettbewerb. Es siegt nicht immer die oder der Schönste, sondern die Person, von der alle glauben, die anderen hielten sie für die schönste. George Soros geht sogar noch einen Schritt weiter. In seinem Reflexivitätsprinzip weist er darauf hin, dass die Dividenden selbst davon abhängen, was die Anleger über die Zukunft des Unternehmens denken. Sind sie zuversichtlich, kann sich das Unternehmen preiswert finanzieren und innovativer sein, womit die Chance auf eine hohe Ausschüttung steigt. Aktienkurse sind also bis zu einem gewissen Grad willkürlich. Sie hängen essenziell von Erwartungen der Anleger ab, die selbsterfüllend sein können, da sie die Fundamentaldaten beeinflussen. Ist das Investor Sentiment gut, so kann dies Mechanismen aktivieren, die sich selbst verstärken und zu guten Fundamentaldaten führen. Ist das Investor Sentiment schlecht, geht es genau anders herum. Die Behavioural Finance versucht auf verschiedene Weise, das Investor Sentiment zu messen: Bob Shiller veröffentlicht auf seiner Webpage Umfragen unter Institutionellen und unter Privatanlegern, andere wenden Texterkennungsalgorithmen auf Nachrichten zum Beispiel in Bloomberg an, und wieder andere analysieren Tweets auf Twitter (vgl. Teil 5). All diese Methoden legen dar, dass man geschickt auf den Wellen des Marktes reiten kann, dass also Momentum-Strategien ertragreich sind. Andererseits ist bekannt, dass die langfristig erfolgreichsten Investoren Value-Anleger sind. Wie passt dies zusammen? Leitplanken für Investoren Eine Antwort auf die Frage, wie das Investor Sentiment der Behavioural Finance mit der fundamentalen Bewertung der traditionellen Finance zusammenpasst, liefert die evolutionäre Finanzmarktforschung oder Evolutionary Finance (vgl. Textbox). Sie beginnt mit einer sauberen strukturellen Analyse der Ökonomie: Welcher Marktteilnehmer (Konsumenten, Firmen, Staaten etc.) hat in seiner aktuellen Position (Vermögen, Technologie, Verschuldung) in der Zukunft welche Handlungsmöglichkeiten (Sparen, Investieren, Besteuern usw.)? Aus der strukturellen Betrachtung ergeben sich dann gewisse Leitplanken (Konsum-Vermögens-Verhältnis, Kurs-Gewinn-Verhältnis, Staatsverschuldung relativ zum Bruttosozialprodukt etc.), innerhalb deren das Marktergebnis zu erwarten ist. Im nächsten Schritt betrachtet die Evolutionary Finance dann die Interaktion von Strategien auf dem Markt. Als Beispiel hier die Interaktion von Value- und Momentum-Strategien an der Börse. 17 Value-Investoren (wie Warren Buffett) gehen davon aus, dass es einen Unterschied zwischen dem Wert und dem Preis von Unternehmen gibt. Der Wert eines Unternehmens berechnet sich anhand der Bilanz und der zu erwartenden Cashflows. Der Preis ist durch den Aktienkurs bestimmt. Ist er wesentlich niedriger als der Wert des Unternehmens, so kaufen ValueInvestoren, und sie verkaufen, wenn sich die Lücke geschlossen hat. Wann kaufen und verkaufen? Momentum-Investoren kümmern sich nicht um ökonomische Bewertungen, sondern versuchen, die Kursentwicklung einer Aktie anhand vergangener Kurse und zum Beispiel von Sentimentindikatoren zu ermitteln. Sie kaufen, wenn der Aktienkurs steigt, und verkaufen, wenn er fällt. Es ist in der Finance-Forschung immer wieder bestätigt worden, dass je nach Anlagehorizont sowohl Value als auch Momentum eine ansehnliche Überrendite gegenüber dem Markt erwirtschaften. In der kurzen Frist ist Momentum erfolgreicher, in der langen Frist Value. Da die Beobachtung, dass Value- und Momentum-Strategien eine höhere mittlere Rendite als der Markt generieren, nun allgemein bekannt ist, wundert man sich, warum die Überrenditen nicht irgendwann einmal verschwinden. Die Antwort der Evolutionary Finance ist, dass Value und Momentum sich gegenseitig bedingen. Ohne Momentum-Investoren wären die Kurse sehr nahe an den Fundamentalwerten, sodass Value-Anleger keine Renditen erwirtschaften könnten, und ohne Value-Investoren würden die Momentum-Anleger das Finanzsystem zerstören, sodass keiner eine Rendite bekäme. Nach der Evolutionary Finance wird das Marktgeschehen zwischen gewissen Leitplanken schwanken – und zwar viel mehr, als es gemäss der traditionellen Finanzwissenschaft zu erwarten wäre. Die Anlageempfehlung der Evolutionary Finance ist deshalb zunächst, dass man auf diese Extremsituationen achten sollte. Falls das Konsum-Vermögens-Verhältnis sehr niedrig ist, oder das Kurs-Gewinn-Verhältnis sehr hoch, ist das ein Zeichen, dass Wallstreet zu weit von Main Street abgehoben hat und man deshalb besser nicht in Aktien investiert. Analog sollte man investiert sein, wenn diese Kennziffern ins andere Extrem ausschlagen. Und was macht man zwischen diesen Leitplanken? Die hohe Kunst des Investierens, die manche Hedge Funds beherrschen, ist, dann, kurzfristigen Momentum-Indikatoren zu folgen. Doch einfacher geht es, wenn man konsequent sein Portfolio rebalanciert. Rebalancieren ist eine einfache kontrazyklische Strategie, bei der man die prozentuale Aufteilung des Vermögens konstant hält. Steigt eine Anlage im Wert, muss man die Anteile verkaufen, sinkt sie, muss man zukaufen. Wie oft man die Proportionen wieder ins Lot rückt, hängt zum einen von den Transaktionskosten ab, zum anderen sollte man auch deshalb nicht zu oft rebalancieren, da es doch einiges Momentum gibt, wie wir noch sehen. Meine Forschung zur Evolutionary Finance, die ich in den letzten zehn Jahren mit den Kollegen Igor Evstigneev aus Manchester und Klaus-Reiner Schenk-Hoppe aus Leeds gemacht habe, zeigt, dass die beste Strukturie- rung des Portfolios durch die zu erwartenden relativen Cashflows der Anlageklassen gegeben ist. Auch in diesem Sinne ist die Evolutionary Finance eine Synthese der traditionellen und der Behavioural Finance. Die traditionelle Finance behauptet, dass Kurse nur anhand der zu erwartenden abdiskontierten Cashflows be- stimmt sind. Die Behavioural Finance gibt allerhand Begründungen dafür, dass reale Kurse davon abweichen, und die Evolutionary Finance nimmt die traditionelle Bewertung als Anker für Rebalancierungsstrategien, die umso ertragreicher sind, je mehr der Markt – innerhalb plausibler Leitplanken – davon abweicht. Marktanomalien S&P 500 (inflationsbereinigt) Bewertung gemäss der Effizienzmarkthypothese 500 200 100 50 0 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Quelle: Robert Shiller / Grafik: FuW, br