DIE ORION-TOUR

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DIE ORION-TOUR
DIE ORION-TOUR
Tagebuch des Grenzgängers Andrea Vogel
Orion-Tour 2008
Alle hier veröffentlichten Texte sind während der Grenztour auf dem alten Salzkarawanenweg durch die
westliche Sahara entstanden.
Sämtliche Veröffentlichungen der vorliegenden Texte auf Papier oder elektronischen Datenträgern sind nur mit
ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.
Autor:
Andrea Vogel
Layout:
Webdidac GmbH
Website:
www.orion-tour.ch
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Eigentlich wäre geplant gewesen, heute zu starten. Aber manchmal hält das Leben
Überraschungen bereit. Vor zwei Jahren entwickelte ich meine Idee zu einem Traum, der
in mir eine tiefe Sehnsucht auslöste. Inzwischen, nach den unzähligen Erfahrungen,
schlägt das Pendel zwischen den Gebrüdern Traum und Alptraum hin und her. In den
ersten kaum drei Tagen in Mali wäre ich am liebsten schon wieder ein paar Mal nach
hause in die Schweiz geflogen.
Es scheint wirklich so zu sein, dass ein Unternehmen wie meines, wo man auf Hilfe
einheimischer Menschen angewiesen ist und wo die ganze Zusammenarbeit auf
Vertrauen aufgebaut werden muss, hier in Mali ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Nach zwei Jahren Planung bin ich zurück in Timbuktu, um meinen zweiten und letzten
Versuch der Durchquerung zu wagen. Bei den Vorbereitungen zu meiner Trans-SaharaExpedition schockt mich eigentlich kaum etwas. Zu viel habe ich gesehen. Doch diesmal
übertrifft es alles, was ich in meinem Leben an menschlicher Enttäuschung erlebt habe.
Nichts deutet an diesem Tag auf die erwähnte Überraschung hin: Die Sonne steht hoch
am blauen Himmel, die Kinder spielen in den mit Sand gefüllten staubigen Gassen, der
Handel auf dem Markt von Timbuktu floriert. Für die Tour ist alles bis ins letzte Detail
geplant, und x-mal persönlich, telefonisch und per E-Mail abgesichert. Das letzte E-Mail
aus Timbuktu von vor drei Wochen schloss mit den Worten «à bientôt» (bis bald).
Ich bin viermal nach Mali geflogen, habe tagelang mit meinem Expeditionspartner
persönlich und zusammen mit Dolmetschern gesprochen, damit sprachlich ja keine
Missverständnisse entstehen, meinen Partnern einen guten und viel benötigten Garten
finanziert, ihren Kindern die Schule ermöglicht, den ersten Versuch bestens entlöhnt
(auch wenn der Grund des Abbruchs nicht bei mir lag) und so weiter. Und nun, mitten in
Timbuktu, im Haus von Abdou, meinem verantwortlichen Expeditionspartner, stehend
schaut mich seine Frau an und sagt: «Abdou Sahara Taoudenni». Also ist Abdou ohne
mich einfach auf und davon. In die Salzoase Taoudenni, die erste Station unserer Route
und der Endstation der Salzkarawanenroute. Mein ortskundiger Tuareg ist weg.
Doch die Enttäuschung geht weiter: Neben der ersten Frau sitzt am Boden zu meiner
Überraschung eine zweite Nomadenfrau. Sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie mich
sieht, und begrüsst mich herzlich. Es ist Fatima. Vor sechs Monaten hatte mich Abdou
angerufen und verkündet, dass seine Wüstenfrau Fatima gestorben sei. Jetzt ist mir
endgültig klar geworden: es wird gelogen und betrogen, was das Zeug hält. Es ist
denkbar der ungünstigste Zeitpunkt, so etwas erleben zu müssen.
Was für eine Peinlichkeit: Zu scheitern, bevor die Expedition überhaupt begonnen hat.
Ein sturer Bock mit meinem Bündner Schädel wird doch wohl nicht so schnell wieder nach
Hause fliegen!?
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Zum Glück macht mich die Sache total wütend und lähmt mich nicht. Vielleicht heisst die
Lösung des Dilemmas Lamana. Lamana ist neben Abdou der zweite noch existierende
grosse Sahara-Führer, der zu einem absoluten Wüstengang noch fähig ist. Vielleicht ist
das noch eine Chance. Er wollte mich damals bei meinem ersten Versuch begleiten. Jetzt
darf keine Sekunde vergeudet werden. Ich muss ihn finden und gewinnen!
Nachdem mich mein ursprünglicher Expeditionspartner Abdou buchstäblich sitzen
gelassen hat, muss ich handeln. Wie ein Besessener suche ich Lamana, den zweiten
heute noch fähigen Karawanenführer Schwarzafrikas für meine Sahara-Durchquerung.
Was ich zu dieser Zeit nicht weiss: Lamana ist auch auf der Suche nach mir. Er hat
vernommen, dass ich wieder in Timbuktu bin. Er hofft auf einen zweiten Versuch zur
Trans-Sahara-Expedition - dieses Mal mit ihm.
Noch am gleichen Tag finden wir uns. Beide glücklich darüber, beide aber auch hart im
Nehmen und im Geben. So dauert es bis am Abend darauf, bis wir uns einig sind, zu
welchen Bedingungen wir die Begehung gemeinsam anpacken wollen. Die letzte
Verhandlung dauert fast drei Stunden! Hart in der Sache, aber fair. Es gilt, mein
Pokerface zu bewahren. Er darf ja nicht merken, wie angewiesen ich auf ihn eigentlich
bin. Die Verständigung muss unbedingt klappen, denn es geht um so viel, ums
Überleben. So ziehe ich Baba Maiga bei, der in die Songhai-Sprache übersetzt, und
Beatrice Stöckli, eine Art Missionarin aus der Schweiz, die schon fünf Jahre hier in
Timbuktu tätig ist. Sie machen mir das schlechte Französisch Lamanas verständlicher.
Am Ende setze ich mich grösstenteils ziemlich durch.
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Während der Verhandlungen stösst Beatrice an ihre Belastbarkeitsgrenze. Sie ärgert sich
zusehends über die Art und die Argumente von Lamana. Beatrice meint zu mir, sie hätte
die Nerven nicht um so ein Projekt in diesen Breitengraden auf die Beine zu stellen. Ich
bin ihr sehr dankbar für ihre Hilfe und auch erfreut, dass es für malische Verhältnisse so
zügig läuft. Sie hat mir auch den Kontakt zum Kommissär von Timbuktu aufgebaut, man
weiss ja nie.
Am Ende meint Lamana, Abdou (mein Begleiter vor zwei Jahren) sei nicht der grosse
Führer. Mehr sagt er nicht. Aus seinem Verhalten glaube ich aber zu verstehen, was er
sagen möchte: “Ich bin der grosse Führer!” Es wäre wirklich schön, wenn es so ist. Wir
werden sehen.
Der Weg wird das Ziel werden. Flexibilität, grosse Anpassungsfähigkeit, ein feines Gespür
für die Situation und - last but not least - ein grosses Durchhaltevermögen werden
gefragt sein.
Noch am gleichen Abend fahren wir mit einem Jeep hinaus in die Wüste zu zwei seiner
noch sehr starken Kamele. Die anderen Tiere sind ausgebrannt von einer kürzlichen
Salzkarawanen-Tour. Frühmorgens gehts los Richtung West-Nordwest. Nach zwei Tagen
Timbuktu sind wir schon unterwegs. Die kleinste Karawane der Welt auf der Suche nach
einer grösseren Karawane. Lamana kennt zwei und meint, sie rund 50 Kilometer westlich
zu finden, leider also genau in der verkehrten Richtung der geplanten Route. Aber die
Sicherheit geht vor. Und so bin ich bereit, 100 Zusatz-Kilometer auf mich zu nehmen. In
Timbuktu habe ich mir noch einen Boubou (ein Karawanenkleid) schneidern lassen. Ein
bisschen zum Wohlbefinden, aber vor allem der Sicherheit zuliebe. So werde ich
zumindest aus der Distanz als Nomade wahrgenommen.
Lamana meint, dass er Leute, die wegen einer Reise in die Wüste an ihn herantreten,
normalerweise an andere Führer weitergebe. Mich und meine Idee möchte er gerne
selber begleiten. “Andrea, du hast dir bei deinem ersten Versuch vor zwei Jahren einen
sehr guten Namen gemacht.” Das zu hören freut mich natürlich.
Die ersten paar Tage lassen mich grübeln. Ich fühle mich an Heinrich Barth erinnert, dem
grossen Wüstendurchquerer und Forscher, der vor 160 Jahren auch einen Teil meiner
Route gegangen war. Er musste zwar nicht abbrechen, dafür aber neun Monate warten,
bis er starten konnte. So gesehen haben sich die Zeiten kaum geändert. Nur die Route ist
heute um einiges schwieriger: Viel mehr Verwüstung, weniger Wasser und Oasen, mehr
Kriminalität (Al Kaida), Banditentum, politische Unruhen, geschlossene Grenzen, und so
weiter. Was ich in dieser Zeit während meiner Expedition senden kann, sind nur
Bruchstücke meiner Gedanken. Zu fordernd und entbehrungsreich ist das alltägliche
Leben bei einer solchen Durchquerung. Technisch mit einem Minimum auskommen zu
müssen, heisst täglich eineinhalb Stunden zusätzliche Nachtarbeit, wenn meine Begleiter
schlafen.
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Heute ist der 12. Februar. Wir sind nun zwei Tage unterwegs im Glutofen Sahara. Gerne
wäre ich einen Monat früher gestartet. Habe dies aber organisatorisch einfach nicht
geschafft. Ich ahnte es: Jetzt muss ich büssen.
Als Schweizer habe ich lieber zu kalt als zu heiss. Bei Kälte kann man immer noch etwas
anziehen. Sich bei Hitze ausziehen ist nicht immer sinnvoll oder möglich.
Es ist eine Reise in die Hitze. Starker Ost-Wind, direkt aus dem Zentrum der Sahara,
bläst wie ein Haar-Fön auf heissester Stufe aus sechzig Zentimeter Entfernung. 39° C bei
20 Prozent Luftfeuchtigkeit zeigt mein Thermometer an. Gleissende Sonne von morgens
bis abends, gestern wie heute. Mein Boubou (Karawanen-Umhang) und der Schesch
(Turban) tun ihren Dienst. Doch es gibt kein Entkommen, unser Weg ist gegeben. Quer
durch die Sahara. Jeder Schritt muss getan werden.
Ich kämpfe mehr als erwartet. Gestern acht Stunden, heute neun Stunden Laufen. Es ist
2 bis 4 Grad wärmer als bei meinem ersten Versuch im Januar vor zwei Jahren. Zwei
Grad zu heiss für meinen Geschmack. Ich laufe am Rande eines Kollapses halb
ausgedörrt vor unseren zwei Kamelen, neben Lamana, ohne Worte. Einfach gehen.
Kämpfen, denken, so gut es noch geht, und einfach weitergehen, immer gehen, noch
2900 Kilometer.
Ein Führer wie Lamana ist hart. Wenn er einmal gestartet ist, läuft er täglich seine 8 bis
15 Stunden durch den Tag. Ich will ihn nicht bremsen. Alles hat seine Gründe. Ein
Gehrhythmus auf höchstem Niveau ist lebenswichtig, um durchzukommen.
Unsäglich hart scheint das Gehen mir jetzt. Ich bin überrascht. Ich habe einen doppelten
Bedarf an Flüssigkeit, als noch vor zwei Jahren. Mein Mund ist halb zugeklebt. Essen mag
ich nicht. Höchstens erbrechen. Nur das nicht!
Ich trinke und trinke, schlückchenweise, alle anderthalb Stunden. Beim ersten Versuch
kam ich an einem Tag mit einer Laufzeit von 12 bis 13 Stunden ohne Pause mit einem
Liter aus. Dabei nahm ich damals den ersten Schluck konsequent erst nach sieben
Stunden. Aber jetzt: ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht zusammenbreche. Ein
Kollaps wäre das sichere Aus, denn wir haben nicht die Zeit, mich aufzupäppeln.
Da gibts nur ein Entkommen: durchzuhalten, mich aufzufangen und den Weg nach
Norden möglichst schnell immer weiterzugehen. Dort ist es bekanntlich kühler.
Gleichzeitig schreitet aber auch das Jahr voran und es wird zunehmend wärmer. Mein
Wettlauf mit der Zeit hat begonnen.
Warum schon zu Beginn? Was hat sich verändert? Der gravierendste Unterschied ist die
höhere Temperatur als beim ersten Versuch. Der konstante, teils kühle Nordwind bleibt
bis jetzt aus, dafür bläst der schon erwähnte heisse Ostwind. Letztes Mal konnte ich in
Timbuktu fünf Wochen akklimatisieren. Diesmal reichte es für knapp fünf Tage. Trotzdem
bin ich natürlich sehr froh, alles so schnell auf den Weg gebracht zu haben.
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Lamana macht mir einen sehr starken Eindruck. Er kommt auch gut mit weniger Wasser
zurecht. Nach Erreichen unseres Tagesziels schlage ich mich auf einer Decke im Sand bei
stockdunkler Nacht mit einer Stirnlampe am Kopf bis um Mitternacht mit europäischer
Technik herum. Eigentlich wäre die Idee, ab und zu ein paar aktuelle Bilder via Satellit in
die Schweiz zu schicken. Währenddem schläft Lamana neben mir im Sand genüsslich.
Bereits um 4:45 brennt neben mir ein kleines Feuer. Auch ich stehe auf. Bis um 6 Uhr
wollen wir wieder unterwegs sein. Bis dann muss gepackt, gegessen und die Kamele
beladen werden. Essen konnte ich in den letzten zwei Tagen kaum etwas. Hatte
überhaupt keinen Appetit. Vier Löffel Reis abends und vier Löffel Müesli morgens in zwei
Tagen. Viel zu wenig für diesen Energieverschleiss.
Heute um 14.30 Uhr messe ich 40,5° Celsius bei 20 Prozent Luftfeuchtigkeit. Dabei
komme ich zu einer weiteren Erkenntnis: Es gibt noch etwas Fordernderes als der
aufgeheizte Zentral-Sahara-Wind von Osten. Nämlich überhaupt kein Wind. Absolute
Windstille erscheint einem fast mörderisch. Hat fast etwas Gespenstiges an sich. Man hat
das Gefühl, die Dürre und das langsame Verdunsten um sich förmlich knistern zu hören.
Inmitten dieser Wahnsinns-Stille die unglaubliche Weite. Ja, Weite, weiter, immer
weitergehen, weitermachen, trotz Überhitzung und Übermüdung. Durch das Meer ohne
Wasser, wie die Sahara auch genannt wird. Im Moment führt unser Weg wellenartig
immer leicht rauf und runter.
Lamana steuert zu meinem Glück einen Schatten spendenden Strauch an. Ich lasse mich
flach auf den Sand fallen, breite die Arme aus und ziehe immer wieder die Knie an, um
mich mit den Fersen in kühlere Sandschichten zu graben. Sofort wird Teewasser gekocht.
Heisse Getränke löschen den Durst in der Hitze erfahrungsgemäss besser. Lamana
träufelt etwas Wasser über meinen Kopf und bespritzt danach meinen ganzen Körper
inklusive Kleider noch etwas. Was für ein Wohlgefühl zusammen mit meinen aufgeheizten
Füssen, die im kühlen Sand stecken.
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Die überraschende Erfrischung dauert drei bis vier Minuten, kommt mir aber vor wie eine
kleine Ewigkeit. Danach ist alles wie gehabt. Sandkörner fliegen über mein Gesicht und
die Sonne heizt weiter in ihrer steten Manier. Lamana meint: “Il fait chaud, aujourd’hui.”
Ich schweige und denke: Nicht nur heute.
Lamana ist nicht alt und nicht jung. Er ist 42-jährig, 55 Kilo und hat Hände wie ein
Bauarbeiter. Er ist einer, der seit Kindesbeinen an das Karawanenführen gelernt und
übernommen hat. Er kommt aus Arouane, dort sollten wir in fünf Tagen vorbeikommen.
Ich bin froh, ist Lamana ein Arouaner. Dort wurde mir von zwei Jahren ein Batzen Geld
abgezockt, so quasi als Wegzoll. Lamana ist ein Mischling, sein Vater ist Tuareg, seine
Mutter Araberin.
Seit der ersten Nacht in der Brousch, wie die Einheimischen das “Land da draussen”
nennen, habe ich im rechten Auge ein Sandkorn unter dem Augenlid, was mein Auge
zusätzlich reizt. Ich versuche es täglich 20 bis 30 Mal herauszukriegen. Irgendwann wird
es mir hoffentlich gelingen.
Ténéré, die grösste Wüstenebene der Welt, heisst übrigens wörtlich auch “Land da
draussen”. Dort gab es einst den “Arbre de Ténéré”, ein kleiner, unentwegter, sehr
einsamer Baum, allein im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Doch vor ein paar
Jahren wurde er von einem Chauffeur versehentlich umgefahren. Kaum vorstellbar:
etwas Ähnliches ist mir jetzt wohl widerfahren. Ein einsamer Baum, wohlmöglich der
letzte für mehrere Tage, habe ich gradlinig angepeilt, um seinen Schatten in drei
Sekunden durchlaufen zu können. Au! Schon steckt ein 5 Zentimeter langer und 1,5
Millimeter breiter Dorn des Akazienbaums in meinem Fuss. Ohne Problem hat sich dieser
fast nagelharte Dorn durch meine Sandalensohle gebohrt. Der Boden war nur scheinbar
dornenlos. Da habe ich mich spürbar geirrt. So schmerzhaft wie er hineinkam, kommt er
nun auch wieder hinaus. Au! Und schon ist der schmerzliche Spuk auch wieder vorbei.
Wenn es nur weiter nichts ist.
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Immer wenn ich spätabends im Schlafsack liege, leuchtet über meiner Nasenspitze der
Orion. Wundervoll, dieses klare Leuchten in der so weiten Ferne. Es tut gut zu wissen,
über sich so einen zuverlässigen Begleiter zu haben. Ich versuche mich mit dem
Schicksal der überhöhten Hitze zu arrangieren. Heute Morgen um 4.30 Uhr waren es
sage und schreibe 26° C. Dementsprechend wird der Tag sein. Und dies Anfang Februar.
Das habe ich in all meinen Wüsten-Jahren noch nie erlebt. Könnte das mit der globalen
Erwärmung zu tun haben? Gestern kletterte das Thermometer wieder auf 39,5° C im
Schatten - und weit und breit kein Schatten. Also nicht einmal 40°, was will ich noch
mehr? Ich bin ein Glückspilz.
Auch das Licht ist hier im Vergleich zu Europa extrem stark. Bei schönstem Wetter
herrscht hier genau die doppelte Lichtmenge wie in der Schweiz. Ich muss unbedingt
schnellstens diese Hitze in den Griff bekommen. Nur auf kühle Tage zu hoffen, ist zu
unsicher. Ich muss stärker werden, es wird unweigerlich noch härter. In ein paar Tagen,
wenn wir eine Karawane gefunden haben, geht man den Rhythmus der Salzkarawane.
Keine Schattenbäume, keine Pausen, 11 bis 14 Stunden gehen. Und an noch später zu
denken, wage ich gar nicht. Dann sollte das bis jetzt Unmögliche möglich gemacht
werden.
Akklimatisieren braucht Zeit. Das Unterleibchen ausziehen brachte minim etwas.
Begrenzt während der Nacht gehen hilft auch gegen Hitze. Sie will mich in die Knie
zwingen. Dabei habe ich doch erst angefangen. Die Sonne brennt mir fast ein Loch in den
Kopf. Einige Motivations-Belohnungen für später erreichte Ziele sind bereits
aufgebraucht. Zwei von vier Salaten und das einzige Dessert, eine Büchse Ananas, sind
schon verdaut. Ich brachte sonst nichts herunter, brauchte sie einfach. Es gibt keine
zweite Runde, wenn man die erste nicht übersteht. Heute nach sechs Stunden gehen
wohl die letzte Mittagspause. Die Sonne und das Feuer brennen. Auch meine Fussballen.
Zwei 5-Fränkler grosse Blasen sind in Sicht. Jetzt geniesse ich zwei grosse Tassen Tee.
Genug, um wieder Freude an der Sache zu bekommen. Aber genug ist nicht genug:
genug zum Überleben, zu wenig um stark zu sein. Ich fühle mich wie ein Säufer: Ich
trinke und trinke und nie ist es genug. Kämpfe noch täglich, bin nahe an meiner
Leistungsgrenze, muss endlich auch die mitgenommenen Sorgen von zuhause loslassen.
Gedankenfetzen fliegen durch mein Hirn. Wir Menschen denken in Bildern. So sehe ich
das zum Abschied genossene Coca Cola im Grossformat. Ich sehe das Paket mit den
Schriften von Historiker El Hadj, das Beatrice Stöckli in Timbuktu für mich auf die Post
gebracht hat. Preis für den Versand von 800 Gramm: 67 Franken. Das in einem der
ärmsten Länder der Welt. Und ich sehe das Bild, wie Baba mir die Pistole seines Vaters in
die Hand drückt, die er - immer wenn er in den Norden gehe - mitnehme. Kurz davor
sagte er mir auch, er meine Abdou (mein ursprünglicher Expeditions-Führer) sei verrückt
geworden. Nach meiner Geschichte, wie Abdou mich behandelt habe, sei Baba jetzt ganz
sicher, etwas stimme mit ihm nicht.
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Ich nehme heute meine letzte Malaria-Tablette. Einen Tag früher, als vom Arzt verordnet.
Ich will meinen Körper stärken und das macht man am besten nicht mit Chemie. Einen
Tag früher die Prophylaxe abbrechen kann ich verantworten. Ich kenne den
Sicherheitsfaktor bei Drahtseilen: In der Schweiz ist er bei siebenfach, bei italienischen
Standseilbahnen vierfach. Das heisst, die Seile halten sieben- bzw. viermal mehr, als sie
halten müssten. So gesehen wird eine Malaria-Tablette nicht ins Gewicht fallen. Dafür
nehme ich täglich Echinaforce [Anm. d. Red: Pflanzenheilmittel], das stärkt hingegen
wieder mein Immunsystem und hilft mir. So hoffe ich, meine angesammelten Fussblasen
zu heilen. Vielleicht hilft es sogar gegen Ängste, Alpträume und Banditen, wer weiss.
Glaube versetzt bekanntlich Berge. Meistens setzt der Mensch ja seine eigenen Grenzen
im Kopf.
Jetzt haben wir sechs Tage gehen in der Wüste hinter uns - und noch immer war ich noch
kein einziges Mal auf der Toilette. Rekordverdächtig. Ich kann mich nicht erinnern, in all
meinen Jahren so etwas erlebt zu haben. Wie soll man das hinkriegen, wenn man kaum
isst? Immer nur verbrennt.
Dafür funktioniert wenigstens der flüssige Gang einmal pro Tag ganz wenig. Aber in der
Art wie mein Hund Baly, der ja auch aus der Wüste kommt. Dort hat ihm niemand
gezeigt, wie man es richtig macht. Er brünzelt manchmal sein eigenes Bein an, der
Grüsel. Ich wüsste eigentlich wie’s funktioniert, habe es neuerdings aber auch schon
fertig gebracht. Das Lauftempo, der Wind, meine Pluderhosen und die Müdigkeit haben
sich verbündet. So bin auch ich ein Grüsel geworden.
Apropos Grüsel: Meine Nachbarin stellte mir vor dem Abflug die Frage: “Wie viel Paar
Unterhosen nimmst du mit?” Ich antwortete: “Total drei Paare.” Ich glaube ich konnte ihr
ansehen, was in ihrem Kopf vorging: “Mit der Hygiene steht es wohl bei solch einer
Expedition nicht zum Besten?”
Dazu möchte ich beifügen, dass bei der viel niedrigeren Luftfeuchtigkeit der Wüste
weniger geschwitzt wird und auch nicht die geringsten Abgase in der Luft sind. So
gesehen ist man nach einer Woche Wüste nicht dreckiger als nach einem Tag Grossstadt.
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Ja, Zähneputzen wäre auch mal wieder angebracht. Aber wie: Ohne Wasser klebt die
Zahnpaste innert Kürze wie Beton an den Zähnen. Das Wasser ist auf den Kamelen
verpackt, der Speichel nach sieben Stunden Laufen längst ausgetrocknet. Ich nehme
einen Schluck von meiner täglichen Ration Energy-Drink, er hat mir in den letzten Tagen
über die Runden geholfen, als ich einfach nichts Essbares runterkriegte.
Soeben haben wir die erste Karawane getroffen und uns geeinigt, eventuell - noch nicht
ganz sicher - gemeinsam weiter zu ziehen. Ihr Karawanenführer macht einen
sonderbaren Eindruck auf mich. Sein Gesicht ist voller schwarzer Teer-Streifen. Lamana
meint zu mir, dieser Mann sei vor lauter Zahnschmerzen verrückt geworden. Wie so oft
sieht auch dieser Mann in mir einen Doktor und möchte von mir behandelt werden. Das
kann ich ihm und auch mir beim besten Willen nicht antun. Das wäre ein Team für den
weiteren Weg: Ein Spinner, ein Suchender und Lamana, der noch neutral ist
Eine Krankenschwester würde sagen: “Der Stuhlgang ist wieder völlig normal.” Das
Problem wäre behoben. Meine Formkurve zeigt aufwärts. Ich glaube der Turnaround ist
geschafft. Die Zeit (Akklimatisation), die optimierte Ernährung, die kurzfristig erhöhte
Wasserzufuhr, das Wechseln der Schuhe, die Verbesserung der Gangart und der starke
Willen, mich aufzufangen, haben mir dabei geholfen. Ich habe immer gesagt, eine gute
Akklimatisation an die Höhe ist die halbe Besteigung eines Bergs. So ist es auch in der
Wüste. Mit der Zeit, der Hitze und dem Trinken. 2 Prozent Feuchtigkeitsverlust bedeuten
20 Prozent Leistungsabfall. So erhöhte ich unterwegs meine Tagesration von 1,4 auf 1,7
Liter. Bei den Schuhen bin ich von den bewährten Sandalen, mit denen ich dieses Mal
unten und oben Verbrennungen holte und die mir 9 Blasen einbrachten, auf einen
brandneuen Lederschuh umgestiegen. Danke, Katja, dass du mir den so dringend
benötigten besten Schuh der Welt vor meiner Abreise noch besorgen konntest.
Gegen meine überhitzten Füsse habe ich eine Art Therapie entwickelt. Ich nenne sie
“Schattengehen”. Bis die Füsse sich erholt haben, laufe ich von 9 Uhr bis 10.30 Uhr und
von 14.30 Uhr bis 16.30 Uhr immer im Schatten meines Kamels. Mein 6,5 Meter langer
Schesch (Turban), eine erstklassige Wüstenerfindung, schützt meinen Kopf, Hals, Mund
und Nase vor Hitze, Kälte und Wind. Der Schesch der Wüstenmenschen von Mali ist 4 bis
5 Meter lang. In Algerien und in Niger tragen die Leute 6 bis 7 Meter lange Schesch.
Wenn er länger ist, kann man seine vielseitigen Möglichkeiten optimaler nutzen. Er ist
auch ideal als Kopfkissen oder - wie jetzt - als Polsterung zum Draufsitzen.
Die zweite Karawane ist gefunden und die erste mit einer vertrauenswürdigeren ersetzt
worden. Nadina ist der Anführer der anderen Karawane. Unsere künftigen Begleiter
machen auf mich den Eindruck eines wilden, entschlossenen Haufens; aber auch etwas in
sich ruhendes strahlt die Truppe aus. Ihre Richtung ist vorgegeben, ihr Weg nicht. Meine
Richtung ist dieselbe, aber auch mein Weg ist nicht vorgegeben. Zu vieles ist im Fluss,
lässt sich tragen von der Zeit. Unabdingbarkeit wird mich auf meinem Weg immer wieder
konfrontieren. Und dies gilt es zu berücksichtigen. Ich bin nicht ganz sicher, ob es heute
noch viele gibt, die schwierigste Routen wie die meine zu meistern wissen. Lamana ist
ein Wüstenprofi aber kein Grenzgänger.
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Unsere neu formierte Grosskarawane besteht nun aus 11 Männern und 151 Kamelen.
Gestern durchliefen wir ein Feld von Abertausenden von Muscheln. Gleichentags steht im
sandigen Nichts, einsam und verlassen ein ausgetrockneter Pilz in seiner vollen Form.
Araouane, die Heimat von Lamana, haben wir gestern erreicht. Dort konnten wir in seiner
Lehmhütte wie auch seine Schwester, zwei Kinder von ihm und eine Bedienstete wohnen.
Araouane ist umgeben von kleinen Dünen und liegt selber auf einem Sandrücken. Hier
herrscht eine ganz eigenartige Stimmung. Hier tanken wir für die nächsten Tage gutes
Wasser. Wegen der Schlaufe nach Nordwesten liegen rund 350 Kilometer hinter uns. Die
effektive Distanz zwischen Timbuktu und Araouane sind 250 Kilometer.
Plötzlich hellwach! Was ist das? 30 fette Regentropfen, die mitten in der Nacht auf mein
schlafendes Gesicht fallen. Weiter nichts. Was ist, wenn es nicht aufhört? Einen
natürlichen Schutz vor Regen kennt die Wüste nicht.
Ich schaffe es nicht, alle zwei Tage zu schreiben und den Text in die Schweiz zu senden.
Zeit und Kraft fehlen mir. Auch Grenzgänger sind begrenzt, sind nur Menschen. Der
gestrige Abend war mit 20° C eine kühle Ausnahme. Eine menschliche Traumtemperatur,
aber alle froren und zogen sich ihre Jacken an. Heute abend um 8 - da ist es hier schon
stockdunkel - messe ich 30° C. Aber auch heute friert es mich und ich muss die Jacke
erneut anziehen. Mein Körper signalisiert mir unmissverständlich, dass er sich seit Tagen
an seiner Leistungsgrenze bewegt. Ich weiss es, habe aber nichts mehr zu optimieren.
Den Karawanies sind zwei Dinge heilig: der Glaube und die Karawane. Der Rhythmus ist
gegeben. Alles andere muss der Karawane untergeordnet werden. Fotografieren ist ein
Fremdwort, jetzt gilt es einfach durchzukommen bis Taoudenni, der Endstation der
Salzkarawanen-Route.
Bei Lamana spüre ich eine gewisse innere Verunsicherung. Liegt es an
Selbstüberschätzung? Hatte ich diesen Eindruck nicht schon einmal vor zwei Jahren bei
Abdou? Irgendwie spür ich es: Entweder gehe ich dem Abbruch entgegen oder ich kann
demnächst meinen Rhythmus einbringen und mit Musse unter dem Orion und dem
funkelnden Sternenmeer weiterziehen.
Täglich 12 bis 15 Stunden unterwegs ohne Pause. Die Karawanies reiten zwölf von
fünfzehn Stunden. Ich reite nie. Unten auf Fussgängerhöhe ist die Luft heisser als zwei
Meter höher auf dem Kamel. Ab halb 10 wird geschlafen. Um halb 11 versuche ich noch
ein paar Gedanken aufzuschreiben und krieche dann todmüde in den Schlafsack.
Vergesse dabei oft die Akkus von meinen Geräten zu entfernen. So leuchten ihre Dioden
am nächtlichen Morgen beim Aufstehen um 1.30 Uhr immer noch in den Sternenhimmel
hinaus.
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Gerne würde ich einmal über diese gigantische, kosmische Leuchtkraft ein paar Zeilen
schreiben. Aber nicht in diesem Zustand. Nach der Idee meiner Frau habe ich diesmal in
Timbuktu einen Kasten Mineralwasser auf mein Kamel geladen. So konnte ich mir bis
jetzt das tägliche eineinhalbstündige mühsame Filtern des Wassers unterwegs ersparen.
Ich weiss noch gut, wie mir vor meinem ersten Versuch der Filterverkäufer erklärte, dass
nach etwa 40 bis 50 Litern gefilterten Wassers der Filter gereinigt werden müsse. In der
Praxis war der Filter dann einmal bereits nach 8 Dezilitern verstopft - So schmutzig war
das Wasser. Es hatte die Farbe eines starken Kaffees. Alle Männer waren am Abend zu
müde, um diesen Filter noch öffnen um ihn reinigen zu können. So musste ich mich am
nächsten Tag mit 0,8 Liter Wasser begnügen. Nur schon der Gedanke daran war
knochenhart. Die Ideen der Frauen sind oft gut. Und die Männer sind eher Chaoten.
Karawanenführer Nadina sagt am Feuer zu Lamana, er kenne mich, und Hajou, sein
Stellvertreter, auch. Sie seien stolz uns in ihrer Karawane zu haben. Hajou zieht sein
Schnupftabak aus einer Art Parfüm-Fläschli hervor und tupft mit seinem Zeigefinger seine
Nasenlöcher voll. Dann streckt er es mir entgegen. Was bin ich nur für ein
Expeditionsleiter?! Auf einmal habe ich aus meinem Necessaire einen Deodorant und ein
Skalpell in den Fingern. Da soll mir noch einer sagen, auf meiner Expedition stehe es
nicht zum Besten mit der Hygiene! Vielleicht könnte das Deo auch noch gut sein,
Banditen abzuschrecken. Denn für sie sind solche Düfte wahrscheinlich irreführend. Das
Skalpell vergesse ich am besten schnell wieder. Das wäre für den schlimmsten Fall
gedacht. Bei einem solchen Unternehmen stellt sich am Anfang immer auch die Frage:
Was machst du bei Blinddarm, Gallensteinen oder ähnlichem?
Mohammed läuft vor mir durch und zeigt vollen Stolz auf seinen Patronengurt und seine
einzige Patrone. “Was willst du mit einer einzigen Patrone?”, frage ich ihn. Er mein
entschlossen: “Eine genügt - für den Anführer der Angreifer. Dann läuft der Rest davon.”
Hajou fuchtelt am Feuer mit dem Dolch herum. Das Karawanenteam versteht sich gut,
immer besser. Doch die Kommunikation bleibt schwierig. Bei Nadina und mir läuft die
Verständigung vor allem über die Augen, die Bewegung und die Glaubwürdigkeit. Denn:
Das Gestikulierte und das Wort müssen auch gelebt werden.
©Andrea Vogel
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Fühle mich heute nicht fehl am Platz und nicht überfordert. Fühle mich stark, wie schon
lange nicht mehr. Aus Gesprächen im Karawanen-Team spüre ich, dass sie nichts von
meinen Plänen, nach Marokko weiter zu ziehen, wissen. Lamana hat also nichts von
unserem gemeinsamen Weiterweg erzählt. Warum?
Heute wieder um 3 Uhr morgens gestartet laufe ich wie die letzten zwei Tage bis es um 6
Uhr zu dämmern beginnt immer etwa 100 Meter der Karawane voraus. Und das - zur
Verblüffung meiner Nachfolger - immer in die richtige Richtung. Den richtigen Weg ohne
GPS zu gehen, stellt für mich keine Schwierigkeit dar, verschafft mir aber grossen
Respekt bei meinen Begleitern. Die fragen mich erstaunt, warum ich wüsste, wo der Weg
entlang führe. Ich zeige Ihnen den Polarstern, der genau über dem Nordpol liegt. Läufst
du diesem entgegen, läufst du genau nach Norden. Unsere Strecke Timbuktu-Taoudenni
liegt genau auf der Achse Süd-Nord. Auch sie laufen - wenn es möglich ist - nach diesem
Stern, doch sind sie erstaunt, dass ein Europäer das auch weiss.
Ich studiere täglich neu die Logik der Karawanies. Sie ist für mich immer noch voller
Geheimnisse. Manchmal fühle ich mich mittendrin und doch daneben. Das erste
Tageslicht zeigt sich am Horizont. Auf dem letzten Kamel unserer Karawane sitzt
Immermuth , ein negroider Tuareg-Mischling. Mit dem Einsetzen der Dämmerung fängt
er an zu singen. Der untergehende Mond wird von der Sonne abgelöst. Dazwischen die
151 Kamele, der Gesang, die Gestalten in der skurrilen Landschaft und die wechselnden
Stimmungen mit ihren Farben. Einmalige Szenarien - man vergisst jeden Schmerz.
Eindrücke, die auf dem besten Dokumentarfilm nicht zu sehen sind. Angezogen sind
meine Karawanies eher wie Vagabunden als wie die Tuareg im Bilderbuch, was mich
irgendwie freut. Klischee-Denken und -Bilder stossen mich ab.
Heute messe ich 38° C. Ich denke: war auch schon heisser! Nehme solche
Wahrnehmungen immer lockerer. Tägliches Gehen bis 40° C ist erträglich, Temperaturen
darüber unmenschlich.
Es ist Abend geworden, schon dunkel. 19 Uhr, Zeit für das Nachtlager. Ich möchte meine
Schuhe ausziehen, aber es geht nicht. Meine blutigen Füsse kleben an den Socken und
die Socken an der Schuhsohle. Ich leere Wasser in die Schuhe, dann geht’s. Der
Lederschuh ist ab. Morgen also wieder mit Sandalen. Sollte eigentlich funktionieren, da
den ganzen Tag Hammada (Steinwüste) auf dem Programm steht.
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Heute hier, morgen fort. Kaum sind wir da, sind wir dort. Und wir schauen was es tut,
um zu tun was getan werden muss. Ich bin ein Nomade geworden. Heimat ist für einen
Nomaden immer gerade dort, wo er ist. Was für eine starke Erdverbundenheit haben
diese Menschen noch. Ja, diese Verbundenheit mit der Mutter Erde freut mich. Es ist
schon so - oder sollte eben so sein: Der Mensch gehört zur Erde und nicht die Erde zum
Menschen. Die fortschreitende Ausbeutung der Erde hat sie in Schieflage gebracht. Wo
bleiben die dringend benötigten, visionären Führer von Morgen? Oder müsste nicht jeder
ein Führer in sich sein, und nachdenken über das, was er kauft und tut? Dann würde sich
das Konsumverhalten zu Gunsten der Erde und somit zu Gunsten der Menschheit zum
Besseren wenden. Ich erlebe hier die Karawanies und Nomaden als in sich ruhende und
zufriedene Menschen. Ihr Leben ist von einfachster Art geprägt. Komfort und Luxus
machen nur im Moment glücklich und verlangen immer nach mehr. Die Erde braucht
Führer, die nicht mit Macht und Gier glücklich sind. Dann würden ganz andere Entscheide
gefällt. Ich denke an die ganz Grossen, die es schon gegeben hat und die die Welt
mitgeprägt haben.
Meine Gedanken fokussiere ich nun wieder auf das Hier und Jetzt und möchte Vergleiche
ziehen und bei allem ein aufmerksamer Beobachter sein, um dann in kühleren Zeiten
meine Gedanken zu strukturieren und zu Ende denken.
Seit ich meine Flüssigkeits-Ration erhöhen musste, habe ich nicht mehr das Gefühl, nur
auf drei Zylindern zu laufen. Inzwischen konnte ich den Tagesbedarf während des
Gehens von 1,7 auf 1,2 Liter reduzieren. Ich bin sehr froh darüber. Denn dies ist für die
noch vor mir liegenden, noch schwierigeren Abschnitte von grösster Wichtigkeit. Tritt die
schlimmste Variante ein, was ich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden
suche, müsste ich - wenn ich bei meinen jetzigen zweiten Versuch nicht wieder aufgeben
will - gewisse Passagen solo begehen. In den vergangenen zwei Wochen konnte ich das
ganze Karawanen-Team aus nächster Nähe kennen lernen und beobachten. Drei meiner
zehn Begleiter machen einen extrem starken Eindruck auf mich. Lamana, mein
wichtigster, gehört auch dazu. Hat er aber jemals gelernt über seine Grenzen hinaus zu
gehen und an ihnen zu wachsen? Wer immer nur das tut, was er kann, bleibt immer das,
was er ist. Sein Selbstbewusstsein gehört, glaube ich, nicht zu seinen ganz starken
Eigenschaften. Er wirkt auch dort stark, aber nicht absolut souverän. Ein Teil seiner
Darstellungen könnte Maske sein. Ein Grenzgang erfordert ein genaues Kennen seiner
eigenen Fähigkeiten und eine genaue Beurteilung der Situation. Nach all den in Mali
gemachten Erfahrungen meldet mein Bauchgefühl gewisse Zweifel an. Im Moment bleibt
mir nur zu hoffen, dass meine Gefühle irren. Vielleicht würde Beten helfen. Nadina
meinte schon ein paar Mal mit einer Geste, ich solle doch auch mit Ihnen nach Mekka
gerichtet beten. Er spricht arabisch, ich nicht. Mit einer Handbewegung auf mein Kreuz
deute ich Schmerzen an, dass ich die Gebetsbewegungen nicht ausführen könne.
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Es ist kühler geworden. Für Mali fast winterliche Verhältnisse: 36° C, 2 bis 4 Grad
weniger ist viel in diesem Bereich. Nun - eingebettet in die Karawanengemeinschaft fühle ich mich manchmal einsam, aber durch sie nie vereinsamt. Einsamkeit stärkt,
Vereinsamung bedrückt.
Die Tuareg haben andere Begriffe von Zeit und Raum. Die Zeit existiert nicht. Und der
Raum ist uferlos. Brennende Sonne, Leere, Stille, Schweigen, Schritt für Schritt, flüchtige
Gedanken an ein Frappé und Salatteller, dann wird alles erschlagen von der Mittagshitze.
Mein Hirn ist wieder ausgebrannt. Ich bin wieder der gehende Roboter von gestern Schritt für Schritt bis nach Marrakesch.
Wettlauf über den Hitzepol der Erde. Läuft er einen Tag vor mir? Ist er mir auf den
Fersen? Oder hat er schon aufgegeben? Der Amerikaner, den ich in Timbuktu getroffen
habe, geht mir durch den Kopf. Auch er hat - wie viele andere - die gleichen Pläne wie
ich, quer durch die Sahara zu wandern mit dem Endziel Marokko. Es ist sein erster
Versuch. Seine Erfahrung reicht kaum bis nach Marokko. Viel Kredit gebe ich ihm nicht.
Da sind aber noch die anderen, die in meinem Büro ein grosses Dossier hinterlassen
haben. Zum Beispiel Herr De Baroid aus Irland, der mich ein paar Mal angerufen und
viele Briefe geschrieben hat und einige Referenzschreiben von verschiedensten
Direktoren aus aller Welt mir zukommen liess. Sie alle bestätigten, dass Herr De Baroid
genau der richtige Partner für mich wäre, weil er schon ganz grosse Sachen gemacht
hätte, über die er auch Bücher geschrieben habe. Er wollte mich unbedingt in der
Schweiz besuchen kommen. Zwei Tage vor dem vereinbarten Treffen in Luzern sagte er
ab, mit der Begründung, er wolle die Durchquerung selber machen.
Dann war da der mir sehr reich scheinende Australier, der mir aus Sydney Mails schrieb
und mich bat, ihn doch mitzunehmen. Auch an den Franzosen Regis Belleville denke ich,
mit dem ich vor zwei Jahren vor meinem ersten Versuch zusammen in Timbuktu Silvester
gefeiert habe. Er gilt als einer der grössten und profundesten Wüstenbegeher weltweit.
Ihm verliehen die Franzosen einen grossen Preis vor vier Jahren, weil er die Route von
Chingetti (Mauretanien) nach Timbuktu mit einem Führer und drei Kamelen begangen
hatte. Damals startete er einen Versuch, auf der gleichen Route wie ich jetzt, die Wüste
zu durchqueren. 250 Kilometer nördlich von Timbuktu wurden er und sein
Expeditionspartner dann von einer Kalaschnikow bedroht. Sein Partner reagierte mit der
Faust, schlug sie dem Gegenüber ins Gesicht. Das tragische Ergebnis war voraussehbar:
Er wurde kurzerhand erschossen.
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Da ich inzwischen dejenige mit der grössten Erfahrung auf diesem Gebiet bin, fragte
mich auch Regis, ob wir es nicht zusammen probieren wollten. Auch der bekannte
italienische Wüstenprofi Walter Bagliarini träumt von dieser Trans-Sahara-Expedition.
Durch Zufall trafen wir uns vor vier Jahren wenige Minuten mitten in der Zentralsahara.
Er erzählte mir von seinem Vorhaben, an dem ich meinerseits schon lange am Planen
war. Und er erzählte mir, dass er diese Expedition zusammen mit Reinhold Messner
machen wolle. Oder ob ich eventuell dazu bereit wäre. Ich sagte ihm damals nur kurz,
dass ich das eine sehr interessante Idee fände und wir später in Europa mal darüber
sprechen könnten, dass Reinhold Messner bestimmt dabei sei und so was für ihn einen
krönenden Karriere-Abschluss darstellen würde. Später erfuhr ich von Walter Bagliarini,
dass Reinhold zugesagt habe. Noch später erfuhr ich, dass Messner im deutschen
Fernsehen die Süd-Nord-Durchquerung (ohne sie konkret zu nennen) angekündigt und
bereits in der Tenere-Wüste trainiert hatte, seine Ankündigung aber später wieder
zurückgezogen hat und gesagt haben soll: Die ganz grossen Sachen müsse er heute den
Jüngeren überlassen. Das spricht für ihn und seine Weisheit. Denn zwei von drei
Grenzgängern leben nicht mehr.
Reinhold ist wie ich vom Sternzeichen Jungfrau. Jungfrauen sind vorsichtige
Perfektionisten - darum überleben sie vielleicht. Ich lasse mich auf keinen Wettlauf ein.
Ich gehe einfach meinen Weg und meinen Rhythmus der heutigen Zeit angepasst. Nun
bin ich nur noch der Hoffnung verpflichtet, dass mich meine Füsse bis nach Marrakesch
tragen mögen. Inschallah - so Gott will.
«Entscheiden, mit der Karawane los zu ziehen, ist wie in den Krieg zu ziehen: Es gibt
kein Zurück.» Karawanenführer Hndina spricht nachdenklich ruhig und schaut gleichzeitig
mit seinen lebendigen schönen Augen in das lodernde Feuer. Heute Abend steht eine
Überraschung auf dem Menu. Quasi eine Neukreation aus afrikanischer und europäischer
Küche: Ich mische ihrem eintönigen Reis ohne Sauce und Beilage all meine FertigröstiPackungen bei. Alle freuen sich und sind gespannt auf die soeben erfunden “Sahara-ReisRösti” (Rezept: Mischverhältnis 1:1). Alle greifen voller Appetit mit ihrer rechten Hand in
den zum Essen vom Feuer genommenen Topf. Allen schmeckt’s bestens. Eine
willkommene Abwechslung. Ist auch nicht eine allzu grosse Kunst, nach einem 14Stünder-Tag (reine Laufzeit) etwas zu kochen, das Absatz findet. Oder eben doch?
Heute, einen Tag darauf, will ich noch einen drauf setzen. Alle freuen sich wieder. Auf
meine Frage, ob das Essen gut sei - es gibt Stocki à la Migros - nicken die meisten,
machen aber dabei ein etwas ungewohntes Gesicht. Die Folge kommt postwendend: Zwei
erbrechen und alle haben Durchfall. Sie vertragen keine Chemie, nur natürliche Zutaten.
Die vielen beigemischten „E’s“ haben ihnen zugesetzt.
Vom Platz her ist Durchfall kein Problem. Ich denke, die Sahara ist die grösste Toilette
der Welt. Und jedes Mal, wenn man sie benutzt, ein Erlebnis. Aber es ist nicht die Toilette
für Leute, die auf dem WC gern allein sein wollen.
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Ich überlege mit gerade: Was ist schlimmer Durchfall oder Verstopfung? Sie denken jetzt
vielleicht, das sei völlig uninteressant. Da täuschen Sie sich aber! Schliesslich plage ich
mich täglich mit solchen Dingen herum. Es mögen wohl nur Details sein, aber wichtige.
Sie entscheiden mit, ob ich durchkomme oder nicht. Habe ich zuviel Durchfall, verliere
ich zuviel Flüssigkeit und trockne innerlich aus. Wir wissen ja: 2 Prozent
Flüssigkeitsverlust bedeutet 20 Prozent Leistungsabfall. Ist Verstopfung angesagt, kann
es passieren, dass du - wenn du hinter der Karawane zu lange herumhockst (und drückst) - die weiter ziehende Karawane plötzlich aus den Augen verlierst und du danach
alleine in die falsche Richtung ins Nichts hinausläufst. Übrigens: kein einziger Mensch auf
der Erde hat zwei genau gleich lange Beine. Somit läuft auch jeder Mensch, der nicht
gelernt hat sich in dieser Grenzenlosigkeit zu orientieren, früher oder später im Kreis.
Was für eine Szenerie! Wahnsinn! Einfach überwältigend! Ich laufe wieder dem ganzen
Tross voraus. Es ist helle Nacht. Vollmond. Das Licht ist sanft und stark zugleich.
Traumtemperatur. Traumhaft zum Gehen. Lautlos. 11 Menschen und 152 Kamele. Einer
Prozession gleich ziehen wir immer in die gleiche Richtung, dem Nordpol entgegen. Ich
lasse mich zurückfallen und laufe neben der Spitze des Zuges. Die Karawane anführend
reitet über mir Induna, neben ihm Lamana und neben ihm wiederum Hajou. Jeder mit
einer Decke über den Kopf gezogen sind sie nur als schwarze rhythmische Dreiecke auf
ihren Kamelen erkennbar. Einem Bild, reitender Nonnen gleich. Ein bewegender
Scherenschnitt vor der Mondlichtkulisse - Sahara pur.
Unerwartet wird es dunkler und dunkler. Der Mond ist immer noch über uns, doch von
3.15 Uhr bis 4.15 Uhr umgibt uns stockfinstere Nacht. Eine Mondfinsternis beglückt uns,
macht mir aber gleichzeitig das Leben schwer. Ich kann nicht gehen, kann mich kaum
satt sehen am Mond-Spektakel. Jedes geschriebene Wort erscheint mir flau,
abgedroschen und nicht würdig der realen Szenerie gegenüber. Jeder Versuch so etwas
zu beschreiben, endet in Enttäuschung.
Durch die Mondfinsternis ist meine Konzentration aufs Vollste gefordert. Ich laufe über
scharfkantige, spitzige, abgestufte Kalkplatten, die abwechselnd in kleinen Sandfeldern
eingebettet sind. Ich laufe Gefahr, bei einem Sturz das Gesicht oder die Knie zu
zerschlagen. Mehr als Respekt fühle ich bei diesem Gehen. Angst schwingt mit. Ich sehe
die Folgen bei einem Sturz über eine nicht erahnte Stufe und die Folge der Folgen: Ein
Abbruch wäre angesagt. Lieber ohne mich. Gott behüte mich. Nichts ist mir auf meinem
Weiterweg sicherer als das: Auf meinem Weg durch Mali, Algerien und schliesslich nach
Marokko, werde ich wohl einige Schutzengel auf meiner Seite haben müssen. Gibt es
solche Schutzengel, die solchen verwegenen Spinnern wie mir beistehen?
Der Berg von Taoudenni ist in Sicht! Nach dieser spektakulären Mondnacht laufen wir an
diesem Morgen um 8.20 Uhr in Taoudenni, der Endstation der Salzkarawane ein.
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«Bleich siehst du aus, Orion, neben dem Fast-Vollmond. Leidest du mit mir?» Seit ich
Magenprobleme habe, leidet anscheinend auch mein Hund Baly in der Schweiz unter
Durchfall. Er hat sonst kaum solche Probleme. In der Schweiz meinen Sie, dass Baly
mein Unwohlsein spüre und mit mir mitleide.
Mich hat es kalt erwischt. Ohne Warnung. Mache gerade die Erfahrung, dass mehrtägiger
Durchfall und wiederholtes Erbrechen recht schmerzhaft sein können. Begonnen hat die
ganze Misere zwei Stunden nach Ankunft in Taoudenni. Abdy zeigt mir seine Mine hinter
der Hütte. Beeindruckt von der Präszisionsarbeit mit einfachsten Mitteln, hebe ich einen
Kristall auf. Er ist etwa daumengross und stellt für mich einen Bergkristall dar, und nicht
Salz. Um das zu überprüfen, lecke ich zweimal kurz mit der Zunge daran. Abdy sieht es
leider nicht. Sonst wäre die darauf folgende Magengeschichte wohl nicht passiert. 10
Minuten später geht das Theater los mit fürchterlichen Magenkrämpfen, Durchfall und in
der Nacht noch Erbrechen.
Von Timbuktu nach Taoudenni brauchten wir für die 850 Kilometer 18 Tage. Ein enormes
Tempo. Dabei war ich nur 5 Mal auf der Toilette. Jetzt - nach dem Salztest – bin ich 5 Mal
am Tag gewesen. Eine etwas ver- rückte Welt. Abdy sagt mir nachher, dass alle, die hier
im Oktober zu arbeiten anfangen, zunächst einmal von dem stark Salz haltigen
Taoudenni-Wasser einen Monat lang Magenkrämpfe haben.
Das zweite Elend: Lamana will nicht mehr weiter und mich begleiten. Er meint, ob ich
wisse, wo die nächste Wasserstelle sei, und so weiter. Eine altbekannte Platte. Muss gar
nicht mehr diskutieren, der Fall ist klar. Er hat mir gegeben, was er konnte, mehr liegt
nicht drin. Jede Taktik, die ich verfolge, beinhaltet auch immer den Gedanken: «Rechne
immer auch mit dem Schlimmsten, dann schockt dich nichts.»
Abdy drängt mich in eine Mine hinunter, die ich gar nicht sehen will. Von irgendwoher
hört man ein Geländefahrzeug. Nun kommt auch die Erklärung zu Abdys Drängen: «Man
weiss ja nie, was da für Leute in diesem Fahrzeug sitzen. Und da unten sehen sie dich
nicht.»
Danach kocht er vor seiner Hütte etwas zum Nachtessen. Daneben liege ich von
Krämpfen gekrümmt auf einer Decke. Trotzdem springen am helllichten Tag Mäuse
meine Beine hoch oder über meinen Bauch hinweg, und das nicht nur einmal. Um meine
ausgetrockneten Lippen schwirren unzählige Fliegen. Taoudenni könnte man auch den
Ort der tausend Mäuse und hunderttausend Fliegen nennen.
Ab jetzt beschäftigen mich vor allem zwei existentielle Fragen für das Weiterkommen:
Die Gesundheit und wie weiter. Ist das das Aus?
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Früher wurde Taoudenni von den Machthabern als Verbannungsort für Dissidenten
genutzt. Heute arbeiten hier freie Arbeiter, die Salz in grossen Platten aus dem Boden
holen. Diese tauschen sie mit den Karawanenhändlern gegen Wasser, Nahrung und
Werkzeug. Von Händlern wird das in Timbuktu und Gao eingetroffene Salz weiter auf die
Märkte im Süden verteilt. Ein grosses Ziel ist erreicht, aber nicht das Hauptziel. Ich bin in
Taoudenni gut aufgehoben. In einer 1,8 auf 2,8 Meter breiten und 1,8 Meter hohen, aus
Salzsteinen gebauten Hütte, die mit flachgedrückten Blechfässern als Dach und diese
wiederum mit Erde bedeckt sind, um den Innenraum kühler zu halten. Abdy ist
Gastgeber. Er kommt aus Arouane, ist der Sohn der Schwester von Lamana und arbeitet
seit vier Jahren hier in den Salzminen von Taoudenni. Er teilt die Hütte mit seinem Vater,
der schon seit 23 Jahren jährlich hierher arbeiten kommt. Abdy macht auf mich einen
recht offenen, wachen Eindruck im Gegensatz zum Dritten, mit dem sein Vater und er die
Hütte und die Minenarbeit teilen. Sein Kumpel wirkt abgelöscht, mit einer
Hoffnungslosigkeit im Gesicht, wie man sie nur ganz selten sieht. Ich würde sogar sagen,
er ist repräsentativ für Taoudenni mit einem typischen Taoudenni-Ausdruck im Gesicht.
Die meisten Miniers, wie sich hier nennen, drücken etwas Melancholisches, Trauriges und
Hoffnungsloses in ihrem Gesicht aus. Irgendwie sagt mir das: «Ich schäme mich, hier
arbeiten zu müssen. Aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich nicht verhungern will.
Oder zwangsläufig kriminell werden muss und mich all den Schmugglern, Banditen oder
Al Kaidas anschliesse.» Existentielle Armut fördert die Kriminalität. Welche Perspektiven
haben wir diesbezüglich in der Schweiz, wenn wir wissen, dass die Schere zwischen Arm
und Reich immer mehr auseinander klafft?
Die Hütten der Wohlhabenden hier sind mit einem Bastteppich auf dem Boden und mit
einem Blech vor dem 1,5 Meter hohen Eingang ausgestattet. Der Rest der Hütten ist
türlos und ohne Bast am Boden. Sie gleichen mehr handgemachten Höhlen. In jeder von
ihnen wohnen 1 bis 7 Männer. Diese haben je ihre eigene Mine, die sie zusammen
bearbeiten. Härteste körperliche Arbeit, die das Leben ihnen abverlangt: das
Herausschlagen der Salzplatten drei, vier Meter unter der Erdoberfläche. Eine für den
Abtransport fertige Platte ist 35 Kilo schwer und hat ein Mass von 1,2 Meter Länge, 70
Zentimeter Breite und 4 Zentimeter Dicke. Drei Qualitäten sind zu haben. Die eine ist
gräulich und für die Tiere gedacht. Sie kostet zwei Franken. Die zweite weisslich teils mit
schwarzen, unreinen Adern durchzogen und kostet 5, 20 Franken. Die beste
Salzplattenqualität ist schneeweiss und gilt als das beste Salz im ganzen Land. Ein
ausgewachsenes Kamel trägt vier Platten zurück nach Timbuktu. Zwei- und dreijährige
tragen zwei Platten.
Frauen gibt es in Taoudenni keine einzige. Frauen haben hier nichts zu suchen. Frauen
sind hier “verboten”. Sie würden “Unruhe in die Arbeitsgemeinschaft bringen”, heisst es
hier. Wenn es Orte gibt, die das Prädikat “Am Ende der Welt” tragen, dann gehört
Taoudenni ohne Zweifel dazu. Abdy sagt, 400 Leute würden hier arbeiten. Mehr als acht
sind aber nie zu sehen. Ein kulturelles Leben existiert hier nicht. Trostloser geht’s nicht.
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Jedes Minenteam hat neben seiner Mine seine eigene Moschee, die aus
zusammengelegten Steinen besteht. Der Glaube hilft zu überleben. Verdient wird gut das doppelte als in Timbuktu. Doch die Entbehrungen sind enorm. Die Arbeiter sind
Saisoniers, schuften von Oktober bis April. Dazwischen ist es zu heiss. Gearbeitet wird 7
Tage die Woche. Gegessen wird vorwiegend Reis (auf einem Reissack las ich die
Aufschrift “Hundefutter”). Als Sonntagsmenüs mag es manchmal Couscous oder
Spaghetti geben. Gekocht wird vor den Hütten und die alten Minen dienen als Toiletten.
Das einzige neben Reis, Tee und Taoudenni-Salzwasser ist ein Satelliten-Telefon, das
teuer zu haben ist.
Ich werde zum Tee eingeladen. Das Teezeremoniell ist weit verbreitet in der Sahara.
Jeder bekommt drei kleine Gläser voll Tee. Der Löffel steckt beinahe im Glas, so viel
Zucker ist im Teewasser. Das Teekraut selbst besteht aus einer chinesischen Mischung
aus Grün- und Schwarztee. Zwischen den einzelnen Gläsern wird der Tee immer weiter
gebraut und gemischt. Es heisst das erste Glas sei “bitter wie das Leben”, das zweite
“süss wie die Liebe” und das dritte “sanft wie der Tod”. Ein Tee, süss wie die Liebe, an
einem Ort ohne Frauen…
Ein Grenzgänger fängt dort an, wo die anderen aufhören. Jetzt hätten wir so eine
Situation: Ich habe entschieden. Ich gehe weiter. Solo. Wie im Mittelalter auf
historischen Pfaden. Nach intensivem Abwägen dafür oder dagegen, will ich es wagen.
Bald ohne Kamele und ohne Begleiter. Alleine. Tugendhaftes Handeln hat nichts
Anrüchiges an sich. Diese Tugend hat mich zum Weitermachen bewegt. Ich kann nicht
anders, nein, ich kann nicht aus meiner Haut. Ich will zu etwas stehen, bis am Schluss.
Ich will auch kein Fähnchen im Wind sein und umdrehen, wenn es Schwierigkeiten gibt.
Zu dieser Sorte möchte ich mich nicht zählen.
Leichtsinnig möchte ich auch nicht sein. Aber ich glaube die Möglichkeiten sind
geschaffen, um durchzukommen. Zwei Nahrungsmittel-Depots sind organisiert und eine
algerische Karawane, die mir 200 Kilometer südwärts entgegenkommt. Ich verlasse mich
nochmals auf fremde Unterstützung. Dieses Mal muss es klappen! Sonst wird es bitter.
Ein Mensch mit einer grossen Absicht, den muss man ziehen lassen. Denn er wird all
seine Kraft mobilisieren um weiterzukommen. Ich weiss, es spricht vieles dagegen. Doch
ich glaube daran. Nach den Gesetzen der Aerodynamik könnte die Hummel nicht fliegen.
Viel zu schwer und zu dick ist ihr Körper, und die Flügel sind zu klein. Die Hummel weiss
es aber nicht, und fliegt trotzdem. Ein echtes Abenteuer lebt auch vom Restrisiko. Einer,
der nie ein Risiko eingeht, gewinnt nicht. Einer, der schwer erreichbare Ziele setzt, muss
dafür kämpfen und darf nie aufgeben.
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Hajda wird mich mit drei Kamelen die nächste vier Tage begleiten, dann kehrt er um. Er
war in unserer Karawane immer zu hinterst, unauffällig, aber stark und sehr zuverlässig.
Er kennt als einziger den vor uns liegenden Routenabschnitt, hat ihn schon zweimal
begangen und arbeitete früher zwei Jahre in Taoudenni. Hajda begleitete unsere
Karawane, um seinen kranken Bruder, der hier in Taoudenni arbeitet und ins Spital nach
Timbuktu muss, abzulösen. Hajda meint, er kenne mich jetzt, habe mich auf der
Karawane von hinten immer beobachtet und dabei schätzen gelernt. Und übrigens habe
ich ihm auch einmal als “Doktor” geholfen. Jetzt möchte er mir helfen.
Apropos ”Doktor”: Heute Abend habe ich wieder “Sprechstunde”. Die fünfte seit ich
unterwegs bin. Drei Patienten haben sich angemeldet. Der eine leidet an seinen
Extremitäten, hat unter anderem ein geschwollenes Handgelenk. Dafür gibt’s EchofenacSalbe mit Verband. Und am Ellenbogen hat er etwas Ekzemartiges. Da gibt’s FucidinSalbe und irgendetwas darüber. Der Zweite leidet unter Zahnweh (kein Wunder, bei
diesem Tee). Dagegen gibt’s Ponstan. Und der Dritte? Mal sehen, vielleicht hat er
Liebeskummer. Ich bin ein schlechter Doktor. Zum Glück wissen sie es nicht und glauben
an mich. Falls noch einer mit einer Erkältung auftaucht, verschreibe ich ihm die
schottische Ulktherapie. Von dieser las ich kurz vor meiner Abreise und sie überzeugte
mich am meisten: Man nehme einen Hut und eine Flasche Whiskey und lege sich ins Bett
und den Hut auf die Bettdecke. Dann trinkt man Whiskey, bis der Hut doppelt zu sehen
ist. Ob diese Therapie nützt, schreibt der Arzt, wisse er nicht. Aber überzeugt habe sie
ihn. Er habe bis jetzt bei keiner anderen Therapie mehr fröhliche Patienten gesehen als
bei dieser.
Humor ist auf meiner Reise ein steter Begleiter. Ohne ihn hätte ich schon längst
aufgegeben. Wie in der Wirtschaft sind auch auf Grenzgängen die so genannt weichen
Faktoren nicht zu unterschätzen. Humor ist einer davon.
In den nächsten 14 Tagen werde ich nur sehr beschränkt schreiben können. Klare
Priorität gebe ich dem Durchkommen. Vielleicht gibt es Menschen, die mir die Daumen
drücken. Das kann ich gut gebrauchen.
Der zweite historische Salzminen-Ort ist Terahzza 150 Kilometer von Taoudenni. Wird
das mein nächstes Ziel sein?!
Hajda und ich verabschieden uns, umarmen uns gegenseitig und wünschen einander viel
Glück. Er hat etwas Trauriges in seinem Blick. Vielleicht wäre er gerne mit mir weiter
nach Europa gezogen? Seine Heimat ist Mali. In Europa wäre er wohl kaum glücklich.
Mein erster Partner Abdou wurde einmal von einem französischen Ehepaar nach Paris
eingeladen. Er erzählte mir: «Dort haben alle Leute immer geraucht.» Er meinte den
Kältehauch. «So eine Stadt ist ein Chaos. Ich habe mich nicht orientieren können. Nach
10 Tagen bin ich wieder zurück in meine Sahara gereist.“
©Andrea Vogel
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Im Moment kann ich aus verschiedenen Gründen auf wohl gern gelesene Informationen
nicht eingehen. Es scheint mir zum jetzigen Zeitpunkt alles viel zu viel: das Tragen
wegen der Magenkrämpfe, das Schreiben unnötig und das Denken überflüssig. Ich
möchte nur überleben, weiterleben. Ein ewiges Leben - warum nicht? Menschen die sich
im Grenzbereich «Todeszone» aufhalten, hängen am Leben wie nie zuvor. Ich kenne
niemanden, der sich in so einer Phase selber das Leben genommen hat. Je mehr man
sich dem Tod nähert, umso näher kommt man dem Leben.
War heute Nacht zum ersten Mal ganz alleine unterwegs. Wenn ich nachdenklich leise
das Wort «Solo» vor mich her sage, schwingt irgendwie etwas Befreiendes mit. Wäre da
nicht das notwendige Vertrauen in die Technik und das GPS, das mir auf dem Weiterweg
den Weg zeigen soll. Mein Vertrauen in den Menschen ist angeschlagen. Und Technik
bleibt Technik, ist nie hundertprozentig. Wenn es wirklich nur auf mich ankäme, wäre ich
um Vieles gelöster. Aber diese Abhängigkeit macht mich halb wahnsinnig, zehrt an
meiner Substanz. Da holt mich niemand raus, wenn es nicht klappt. Ich will nicht, dass
sich jemand wegen mir in Gefahr begibt. Den Weg zum anderen Ufer muss ich schon
selber finden. Ich will nicht zu jenen gehören, die mal zum Gipfel loslaufen und wenn es
klappt, ist’s gut, wenn nicht, winken sie dem Helikopter.
Ich laufe schnell, aber langsam genug, um mich nicht zu verausgaben. Die Hitze am
Anfang nördlich von Timbuktu ist es nicht mehr. Doch 35° zeigt das Thermometer immer
noch an. Heute empfinde ich es als heiss. Hitze kann dich zerbrechen, wie ein Zündholz.
Und Flüssigkeitsmangel regt den Geist an, begrenzt und erschöpft ihn aber auch
gleichzeitig.
Mein Boubou biegt sich flatternd im Wind. Gehen, soweit die Füsse dich tragen. Stehe
schon wieder 50 Kilometer nördlicher. Ein Tag wie jeder. Oder doch nicht? Die Anzahl
Kilometer sind gleich geblieben. Ich stehe und geniesse das Stehen und Schauen; dann
sitze ich und geniesse das Sitzen und Ruhen; dann liege ich und geniesse das Liegen und
Sein. Jetzt lebe ich meinen Traum. Dann schlafe ich ein und lasse mich von einem Traum
durch meine gelebten Träume führen
Schaue mich um für einen Schlafplatz. Zwei Schakale umkreisen mich auf 200 Meter
Distanz. Später drehen die beiden 60 Meter vor mir vorsichtig neugierig ihre Runden um
mich.
Allein im absoluten Nichts, hunderte von Kilometern, das zehrt täglich an meinen
Kräften. Bin bald nur noch Haut und Knochen. Bin zu müde zum Sterben und zu schwach
zum Leben. Eine plötzlich auftauchende, unentdeckte Oase wäre die Lösung. Dort unter
den Schatten werfenden Blättern einer Palme liegen, genüsslich mit offenem Mund
dösen, bis eine frische Dattel in den Mund fällt. Und erst danach gestärkt und ausgeruht
weiterziehen.
©Andrea Vogel
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So lange ich solo gehe, halte ich den Tagesrhythmus wie folgt: Von 22 Uhr bis 12/13 Uhr
kontinuierlich gehen. Dann die Phasen des Reflektierens, des einfach Seins, des
Nachdenkens und zuletzt werden 6 Stunden geschlafen. Gegangen wird also vorwiegend
in der Nacht. Wie unheimlich stark können doch Gefühle sein. Sie zeigen der betroffenen
Person, dass sie lebt, dass sie nicht einfach abgestumpft ist und nicht zu denen gehört,
denen man das Etikett «mit 20 gestorben, mit 60 begraben» anhängen könnte. Die
letzten vier Tage war ich alleine in der grössten und vielleicht beeindruckendsten Wüste
der Welt unterwegs. Mutterseelenallein. Umgeben von Grössen, die zuerst verarbeitet
werden müssen. So ein Stück Wüste alleine da; überwältigen dich die Gefühle und fahren
ein, wie ein Droge. In den eigentlichen Sandregionen soll es einige Stellen geben, die
noch nie ein Mensch gesehen hat. Mehr noch als in der Antarktis oder auf den
Weltmeeren. Der Sand und seine Formen - eine Augenweide. Der Wind formt ihn immer
wieder neu. Wellen, Rücken, Täler, Spitzen. Eine Aneinanderreihung von makelloser
Schönheit. Jetzt durchschreite ich den so genannten Hitzepol der Erde. Hier soll die
höchste Temperatur gemessen worden sein. Die dunklen Felsen hier strahlen mehr Hitze
ab als der Sand. Der Ort macht seinem Namen alle Ehre: 41° Celsius. Ich bin glücklich
und sehr, sehr froh: Nach 200 Kilometern alleine treffe ich Marapier und Sayeb mit ihrem
Geländefahrzeug. Ich bin 100 Kilo leichter - erleichtert. Essen und Trinken stehen an.
Das nächste und letzte Depot wird nach 150 Kilometern sein in Bordy Fly Ste. Marie.
Eine besondere Wirkung strahlt diese Landschaft aus. Je nach Tageszeit und Licht, klar
und hart, sanft und weich, beeindruckend auf jeden Fall. Leicht beängstigend, diese
unermessliche Weite. Daneben diese Begrenztheit durch Millionen von Dünen und
Felsformationen. Farben und Formen bestechen durch ihre Einfachheit. Alles Edle ist von
einfacher Art. Filigrane Miniaturfelsnadeln, zerbrechlich wie ein Porzellan-Tässli im
Schrank einer wohlhabenden, englischen Dame. Und diese absolute Stille und dieses
totale Ausgesetztsein. Beides hört man förmlich knistern. Beides fordert heraus auf allen
Ebenen - geistig, seelisch, körperlich. Du musst dich allem stellen. du kannst nicht
davonlaufen und wegschauen. Himmlisch diese Farbkombinationen, dieses
kompromisslose Licht. Dann der Glutofen Sahara. Urplötzlich ist er da, dörrt dich aus wie
eine Pflaume im Dörrofen. Und dann kommt noch die Sonne und zeigt ihre Muskeln. und
brennt dir ein Loch in den Rücken. An den Wind mit seinen Sandstürmen denke ich nur
flüchtig. Ich will sie nicht herbei beschwören. Zu brutal können sie werden. Sie schneiden
dir die Luft ab, füllen dir die Lunge mit Sand, sandstrahlen deinen ganzen Körper und
machen dich blind. Und dann ist einfach noch das schlichte Alleinsein, mit dem man
umzugehen hat. Und das Chancen in sich trägt, die es zu erkennen und nutzen gilt.
Und auf einmal sind sie wieder vor dir, diese wundervollen Sandformationen, weiblich,
voller Erotik. Frauengeschichten kommen hoch. Sie töten die Angst und den Schmerz in
dir. Das ist gut so. Kleine Ängste stimulieren, machen dich vorsichtiger. Grosse Ängste
sind gefährlich, lähmen dich. Mit Ängsten umgehen zu können, ist eine Eigenschaft, die
ein Grenzgänger beherrschen muss. Wie der Schreiner den Hobel. Und da sind noch die
Sterne mit ihrer kosmischen, absoluten Grenzenlosigkeit. Sie gehören zur Wüste wie der
Tag zur Nacht. Unendlich weit, über alle Dimensionen der Wüste stehend.
©Andrea Vogel
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Orion-Tour 2008
Die Zeit zieht ihre Runden unter dem Sonnenbogen. Tag für Tag. Und die Zeitlosigkeit
lässt die Sterne sprechen. Nacht für Nacht. Mit meinem Blick möchte ich das kosmische
nächtliche Funkeln erfassen und ergründen. Hoffnungslos. Es scheint mir, als ob ich
kaum die Oberfläche unseres grössten Raums aller Räume berühre. 21.30 Uhr, bald 22
Uhr - Zeit zum Losziehen. Ich ertappe mich, wie ich mit «meinen» Sternen im Dialog
stehe.
«Wisst ihr Sterne, dass mich der Mensch in die Wüste getrieben hat. Um zu Leiden, um
zu sehen was ist. Habt keine Angst, ihr seid so unendlich weit weg und unendlich viel
grösser als der Mensch. Menschen geben sich nur gross, sind es aber nicht. Was ist schon
das Glitzern eines Diamantencolliers neben dem Funkeln eines einzelnen von euch über
Lichtjahre hinweg. Wie froh bin ich doch, euch in meiner Nähe zu wissen. Ohne euch
wäre ich wohl der Aufforderung Wüste nicht gefolgt. Was würde ich alles geben, um
näher bei euch zu sein? Alles. Ihr seid mein Paradies: Eine Wohnung bei euch mit
grenzenlosem Raum zum Sein, ewiger Zeit zum Atmen und unendlicher Zeit zum
Denken. Mein Herz hätte das Ziel meiner Träume gefunden. Die Augen sind für vieles
blind. Wer mit dem Herzen sieht, wird zufriedener sterben. Danke für euer ewiges
Leuchten. Danke für euer Dasein.»
«Auch wir Sterne begrüssen dich und werden wie immer auch den vor dir liegenden
Dünen, Felsen und Gassen Konturen geben, so dass du vorwärts schreiten kannst in
deinem Leben.»
©Andrea Vogel
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Orion-Tour 2008
«Sterne, lasst mich Vergleiche ziehen mit euch und den Menschen. Ich sehe keinen
Unterschied bei David und Goliath, wenn ich den Vergleich mit euch und den Menschen
anstelle. Es ist sinnlos. Sagt mir: Was ist der Mensch von dem, was er zu sein glaubt.
Was weiss ich schon? Je mehr ich weiss, umso mehr weiss ich, wie wenig ich weiss.
Freiheit ist Wunschdenken. Wirklich frei können nur Gedanken sein. Frei ist nur, wer frei
wagt zu denken und danach zu handeln. Trotzdem fühle ich mich frei, wie nie zuvor. Und
dennoch zwingt mir die Sonne ihren Rhythmus auf, das Wasser seinen Standort und die
Landschaft ihre Formen.»
Ich schäme mich, Mensch zu sein. Ich falle in Demut und laufe jetzt los. Einmal mehr.
Täglich laufe ich 52 Kilometer im weglosen Gelände - 10 Kilometer mehr als ein
Marathon. Mit den Fingern grüble ich während des Gehens aus dem grossen
tiefgeschnittenen Sacks meines Boubou-Überhangs mein Thermometer heraus. Kurzer
Kontrollblick: 37° Celsius, 20 % Luftfeuchtigkeit um 13 Uhr mittags. Die nächtlichen
Temperaturen haben sich bei angenehmen 18° Celsius eingependelt.
Für die ersten vier Tagen solo auf algerischen Territorium waren genau 10 Kilo Gepäck
beisammen: 7,2 Liter Wasser, 400 g Biomüesli, 300 g Darvida, 350 g Schmelzkäsli, 820
gPowerriegel (18 Stk.), 250 g Milch-/Ovopulver, 100 g Sturmjacke, 24 Echinafort, 570 g
Rucksack. Fotoapparat und Schlafsack fanden keinen Platz. Geschlafen wird in den
Kleidern im Sand. Mein Turban dient als Kopfkissen. Duschen und Dessert müssen
warten.
100 Kilometer west-nordwestlich liegt das Erg Iduidi. Ich erahne es, sehen kann ich das
Sandmeer nicht. Die durch den Wind aufgewirbelte, sandschwangere Luft verunmöglicht
das Sehen solcher Distanzen. 2 bis 4 Kilometer - zu mehr reicht es heute nicht.
Heute Mittag sollte ich bei meinem zweiten Depot-Platz eintreffen und Sayeb und
Marapier antreffen. Wir hatten soeben miteinander über Satellitentelefon Kontakt. Zu
meiner Überraschung erfahre ich in diesem Telefongespräch, dass Sayeb und Marapier
gar nicht Sayeb und Marapier sind, sondern Mustafa und Ali. Mustafa meinte, Marapier
hatte ihm diese grosse Reise in das Erg Chech anvertraut. Als es darum ging, die Reise
anzutreten, erschien sie Sayeb plötzlich zu gross. Er hatte Angst. «Ich und Ali wollten
schon lange zu so einer spannenden Reise aufbrechen.» Mussa, ein Schmuggler-Führer,
und sein Chauffeur holten mein Gepäck in Taoudenni ab und brachten die Sachen inklusiv
Taoudenni-Salzplatte zum malisch-algerischen Grenzübergang Bordj Mokhtar, von wo es
Sayeb abholt und nach Tabelbala zu Mustafa und Ali brachte. Auf dieser Reise hat der
betreffende Wüstenabschnitt Sayeb zu grossen Respekt eingeflösst. Nach dem zweiten
und letzten Depot-Treffen heute Mittag fahren Mustafa und Ali wieder zurück in die
Zivilisation.
Mustafa bringt mir meine Kamera, damit ich diesen historischen Ort mit seinem Fort
fotografieren kann.
©Andrea Vogel
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Der Traum ist ausgeträumt ich habe ihn gelebt und erlebt auf intensivste Art. Stehe
mitten im Innenhof des verlassenen und halb verfallenen Fort «Bordj Flay Ste. Marie».
Einmal im Leben dort sein, dort wo ich jetzt bin. Immer wieder habe ich daran gedacht,
einmal hier zu verweilen. Bubarnous, wie dieser Platz auch auf Arabisch genannt wird.
Ein Ort auf sicher, nur für sich allein, voller Besonderheiten. Ein Ort voller Mystik,
Geschichten und Geheimnisse. Oft verliert so ein Ort aber ein Teil seiner Mystik, wenn
man ihn besucht. Da kann man nicht einfach hingehen möchte. Zu schwierig und zu
abgelegen ist dieser Fleck Erde. Dazu liegt er mitten in einem militärischen Sperrgebiet
der algerischen Armee. Um dennoch einmal hier zu sein, braucht es eine
Sondergenehmigung des algerischen Verteidigungsminsteriums. Die wurde mir offiziell
zugesprochen. Sie beinhaltet aber auch ein Stillschweigen über gewisse Sachen.
Vielleicht verstehen Sie jetzt auch, warum ich mich während ich mich auf algerischem
Territorium befinde mit gewissen Informationen und Details zurückhalte.
Das Ganze hat mit dem militärischen Sperrgebiet, meiner Sicherheit und der politischen
Situation zu tun. Der algerischen Behörde liegt meine Sicherheit sehr am Herzen. Dafür
bin ich ihr sehr dankbar und möchte sie dabei unterstützen und mit irgendwelchen
Informationen gegen aussen zusätzliche Risiken schüren. Der algerischen Staat sieht sich
zur Zeit immer wieder mit terroristischen Kräften konfrontiert. In Ländern wie Algerien
kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen verschwinden. In unseren Breitengraden
sind solche Tatsachen unverständlich und kaum durchschaubar. Hoffen wir dass diese
Zeit der Unruhen und Gewalt baldmöglichst zu Ende geht. Die Bevölkerung von diesem
wunderschönen Land hätte ein harmonisches Zusammenleben längstens verdient.
Da zogen also in vergangenen Zeiten die grossen Karawanen mit Tausenden von
Kamelen mit ihren Gütern wie Waffen, Werkzeugen, Salzplatten, Büchern, Schmuck und
Sklaven von Timbuktu kommend über Taoudenni, Bordj Fly Ste. Marie, Tabelbala, Zagora
bis nach Marakesch. Es gab Zeiten, da war der Marktwert von einer Salzplatte höher als
derjenige von einem Sklaven. Und in Timbuktu zahlten die Interessenten für ein Buch bis
zu 1 Kilo Gold. Es sieht so aus, als ob das Wissen für diese Leute das oberste aller
Freunden war. Timbuktu - ein Ort mit grosser Geschichte, nicht zuletzt, weil Timbuktu als
erste Universitätsstadt der Welt gilt.
Timbuktu habe ich jetzt genau vor 33 Tagen verlassen und bin jetzt alles zu Fuss auf
dieser historischen Route in Bordj Fly Ste. Marie angekommen. Schlicht ein
wunderschöner Ort, umgeben von Licht und Farbe, wie es nur selten anzutreffen ist. Eine
grosse, quadratische, gut erhaltene Fortmauer umgibt mich. Rundherum sind die zum
Teil verfallenen Zimmer, nordseitig ein grosser Torbogen mit einem grossen
Festungsturm zu beiden Seiten. Und an der gegenüberliegenden Südseite steht auf der
Tormauer der Beobachtungsturm mit aufgesetzter Kuppel. Der winzige Kuppelinnenraum
hat ein Renard zu seinem Zuhause gemacht. Überall liegen Reste von Beutetieren herum.
Mein Ruf im Innenhof hallt. Das Fort steht mitten in einem Dünental, auf zwei
gegenüberliegenden Seiten stehen 100 bis 300 Meter hohe Dünenzüge, je nach Licht in
einer Färbung von beige bis orange. Diese Züge mit ihrer Aneinanderreihung von Dünen
haben beide eine Länge von je über 100 Kilometern. 300 Meter hinter dem Fort liegt ein
funktionstüchtiger Brunnen mit erstklassigem Wasser nur anderthalb Meter unter der
Erdoberfläche. Daneben stehen stolz zwei einsame formschöne Dattelpalmen. Der
Talboden ist grau, braun bis weiss gefärbt.
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Kurz bevor ich hier eintraf kreuzte ich sechs wilde Kamele. Zwischen den Kamelen und
Bordj Fly hatte ich noch eine seltsame Begegnung: Ein Katzenkopf ragte aus dem
Sandboden heraus. Tot, seit vermutlich längerer Zeit. Viele Fragen kommen mir in den
Sinn: Wie kommt eine Katze in den abgelegensten Ort der Abgeschiedenheit? Was hat
sie für eine Geschichte? Immer wieder stosse ich auf Leichen von Tieren. Menschen habe
ich noch keine angetroffen. Auch sie gibt es bestimmt: Verirrte, verdurstete, erkrankte
oder einfach altershalber verstorbene Nomaden. Der Katzenkopf geht mir nicht aus den
Sinn. War das eine Tat des Menschen? Könnte sie mit Schmugglern hergekommen sein.
Denn ich begehe die nächsten 120 Kilometer das Mittelstück einer grossen, bekannten
Schmugglerroute, die von Libyen kommend hier durch nach Mauretanien führt.
Ich liege seit elf Tagen wieder einmal auf dem Rücken in meinem «Schlafzimmer», das
seit Wochen nur aus einem guten Schlafsack besteht. Meine Nase wie immer zum Orion
gerichtet. Für mich ist das alte ausgediente Fort zum Hotel der Tausend Sterne
geworden. Kein Kronleuchter kann meiner Hotelbeleuchtung das Wasser reichen.
Es wird immer besser. Hat Sie schon einmal am Morgen früh eine Kuh angelacht? Und
das mitten in der Sahara? Ich laufe mit der Dämmerung in den Tag hinein und ziehe
während dem Gehen aus meinem alten Rucksack ein Päckli Darvida und eine Schachtel
Käsli. Und da strahlt mich doch lächelnd vom Deckel eine rote Kuh an. Eigentlich
verständlich: Die Käsli heissen «La vache qui rit».
Letzte Nacht über schritt ich zwei grosse Dünenzüge, um in das dahinter liegende
Dünental zu gelangen. Diesem Tal folge ich nun 120 Kilometer lang. Mein GPS werde ich
in den nächsten Tagen gar nie in die Hände nehmen. Jetzt ist die Routenführung klar
gegeben. Danach treffe ich auf die algerische Karawane, die den Weiterweg für die
nächsten 450 Kilometer kennt. Auch die Tage davor brauchte ich mein GPS nie mehr als
dreimal im Tag - nur zur Überprüfung meines momentanen Standortes. Die immense
praktische Erfahrung, die ich auf meiner zweimaligen Salzkarawanen-Begleitung machen
konnte, hilft mir jetzt enorm. Ich laufe um unzählige kleine Tafelberge, über Dünenpässe,
überschreite viele Täler und laufe diesen auch oft entlang. Laufe in der Nacht nach den
Sternen und dem Wind und am Tag nach Sonne, Wind und Sandstrukturen. Dazu
kommen die mir angeeigneten Kenntnisse der Landschaftsformen der 950 Kilometer
langen Strecke der algerischen Sahara. Dieses Wissen holte ich mir durch vorgängiges
immer wieder tagelanges Studieren der 23 grossen, extra für mein Projekt von der Uni
Bern angefertigten, hochpräzisen und schönen Satellitenkarten. Jede ein Juwel für sich.
Mit der Zeit bekommt man auch das Gespür für Distanzen bei jeden Lichtverhältnissen.
Was auch jetzt noch nicht ganz einfach ist.
©Andrea Vogel
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Seit ich eingelaufen bin, den Salzkarawanen-Rhythmus nicht mehr aufgezwungen
bekomme und alles ausser dem Bauch zu meiner Zufriedenheit bestens funktioniert, und
ich es weiss, dass ich alleine in dieser Grenzenlosigkeit zurechtkomme, kann ich voll und
ganz meinem eigenen Rhythmus nachgehen. Dies bringt mich optimal voran und
ermöglicht einen Freiraum zum Denken. Das geniesse ich. Schon bald einmal haben mich
meine Füsse 2000 Kilometer weit getragen. Was für ein Geschenk eine eiserne
Konstitution zu haben. Die tägliche Sonnenbrillen-Tragezeit habe ich auf mittlerweile 8
Stunden erhöht. Seit Beginn überdenke ich jeden Tag neu den Härtefaktor. Das ist eine
Eigenerfindung, die aussagt, wie hart das Gehen im jeweiligen Gelände ist im Vergleich
zu leichtem Wandern bei uns in den Alpen. Mit täglich festgelegten Werten je nach
begangenem Gelände komme ich jetzt auf einen Durchschnittswert von 1,5. Das heisst,
ich schätze das Gehen hier in der Wüste 1,5 Mal anstrengender ein als auf einem
Wanderweg. So gesehen käme ich mit meinen täglichen 52 Kilometern 78
Leistungskilometer zusammen, ohne mit Einbezug der Dünenüberquerungen.
Schon verschiedene frühere Wasserstellen habe ich traversiert, die einfach ausgetrocknet
oder versandet sind. Im Mittelalter und früher wurden dieser Karawanen-Handelsweg
regelmässig begangen. So konnten alle Wasserstellen in Stand gehalten werden. Auch
die damals noch oft vorhanden Oase mit ihren frischen Datteln und dem benötigten
Kamelfutter waren bekannt und wurden als Zwischenstationen angelaufen und genutzt.
Die allermeisten damaligen Oasen sind heute von der Sahara verschlungen, existieren
nicht mehr. Von den Wasserstellen ist heute nur noch jede dritte erhalten. Diese
Tatsache machte heute eine Begehung äusserst schwierig. Das ist auch wohl einer der
Gründe, warum seit 160 Jahre keine Begehung mehr durchgeführt wurde und erfolgreich
war. Die Sahara wächst jährlich um die Fläche der Schweiz.
Jeden Tag schreibe ich zwei Stunden. Das ergibt vier Stunden für einen Artikel. Schreiben
empfinde ich als klare Zusatzanstrengung, die mich aber auch bereichert und wirklich
zwingt nachzudenken. Meine Gedanken eilen voraus und bleiben am Gipfel des Jebel
Toubkal hängen. Mit seinen 4167 Metern ist er der höchste Berg Nordafrikas und er liegt
auf meiner Route. Falls ich soweit kommen sollte: Wer möchte mich im hohen Atlas zu
diesem höchsten Punkt Marokkos begleiten? [email protected].
Ein abgedörrter Schakal liegt am Boden und lässt grüssen. Ja, der Tod ist omnipräsent.
Ich frage mich, wie gross ist die Chance, dass ich auf meiner Reise sterbe. Ein Stolpern in
der Nacht auf scharfkantigem Fels - Ergebnis: Schädelbruch, in kriminellen Händen, ein
Schlangenbiss, ein Skorpionstich, ein Zusammenbruch, Depot/Karawane nicht finden,
Sehprobleme durch Sand/Sonne, ein Sandsturm der mich aufhält - Ergebnis:
Verdursten… Nichts ist sicher im Leben und auf ewig, nur der Tod. Alles Irdische ist
vergänglich. Vielleicht hält nur das Unsichtbare wie der Glaube, die Seele, die Gedanken
der Ewigkeit stand.
In diesem Zusammenhang denke ich an einen Bekannten, der sich vor drei Jahren das
Leben genommen hat und über den danach ein Buch veröffentlicht wurde. Emil galt als
Luzerner Stadtoriginal. Mir gefällt was auf der Rückseite seines Grabsteins steht: «Habe
Betriebsferien» Wenn ich auf meinem Weg nach Marakesch sterben sollte, gebe es dann
vielleicht auch einen Grabstein für mich, auf dem auf der Vorderseite stehen würde:
«Meine Visionen sind ausgeträumt.» Und auf der Rückseite «Bin auf Reisen.»
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Hat die Sahara kein Ende? Ich gehe einem Tief entgegen. Ich spüre es förmlich. Mein
Nacken, das Kreuz, die Füsse, die müden Augenlider - vieles macht sich bemerkbar. Alle
ausser die Lunge, die jauchzt vor lauter reiner Luft, und die Augen, die sich kaum
sattsehen können, verbünden sich gegen meinen Willen, der alles in mir unaufhörlich
vorantreibt. Auch die grosse Müdigkeit gesellt sich zu den Gegnern meines Willens.
Müdigkeit ist ein Dieb, nimmt mir die klaren Gedanken zum Schreiben. Sie gibt mir einen
Schmerz, der aus ihr heraus entsteht. Ich nenne ihn Erschöpfungsschmerz. Wie schon oft
lässt die Müdigkeit meine Augenlider zur Hälfte herunterfallen. Die Wimpern wirken dabei
wie ein Vorhang. Der Rest des Blickfeldes genügt, um zu sehen, wohin der nächste
Schritt getan werden muss. Ein Gehen im Energiesparmodus. Dabei werden die Augen
zusätzlich vor dem intensiven Sonnenlicht geschützt. Ein Gehen fast wie in Trance.
Ich denke nicht, es denkt mit mir. Unerwartete Gedanken fliessen durch mich hindurch.
Manchmal kommt es mir vor, als würden ganze Gedankengänge von aussen geführt. Da
komme ich mir vor wie ein Medium, wie ein Werkzeug als Mittel zum Zweck. Ich habe
noch nie im Leben «richtig» geschrieben. Habe Schreiben auch nirgends gelernt. Oder
eben: Es schreibt mit mir, trotz der Anstrengung und Müdigkeit. Macht das die Wüste
möglich? Oder schenkt sie mir zumindest den Freiraum dazu? Ich staune über mich
selber. Was bringt dich im Leben weiter? Es sind nicht die Dinge, die du konsumierst via
Medien, Bücher, Shows; es sind die Dinge die du selber erlebst, fühlst und empfindest.
Von Bordj Fly Ste. Marie bis zum Treffen der algerischen Karawane bin ich nur drei Tage
solo unterwegs. Das bedeutet zwei Kilo weniger Gepäck. Dafür habe ich wieder einmal
die Fotokamera im Rucksack. Ein Skorpion bringt weitere Abwechslung in den Tag. In
Mali existiert keine einzige wirklich gefährliche Skorpionart. Hier in Algerien sieht es
diesbezüglich etwas anders aus. Die kleinen sollen ziemlich harmlos bis ungefährlich. Die
mittelgrossen, rötlichen sind dann nicht mehr als harmlos einzustufen. Und da sind noch
die grossen schwarzen, die in bestimmten Gebieten anzutreffen sind. Sie gelten als sehr
giftig und somit sehr gefährlich. Zu welcher der vor mir krabbelnde zu zählen ist, bin ich
mir nicht ganz sicher. Er ist mittelgross, trägt vorne zwei kräftige Zangen und über seiner
Rückenschale hält er einen beeindruckenden Stachel bereit. Seine Farbe ist glasig
hellbraun. Ich unterlasse das Streicheln. Ein Spital ist nicht gerade in Sicht. Wenn ich es
recht im Kopf habe, existieren 28 Arten von Skorpionen. Davon sollen sieben giftig sein,
aber nur eine davon sehr giftig. Dieser sollte bei Erwachsenen im Normalfall nicht tödlich
sein, bei einem Stich aber zwei Tage lang extreme Schmerzen verursachen. So einen
einmal im Leben zu Gesicht zu bekommen, wäre sicher als aussergewöhnlicher Glücksfall
zu werten.
Inklusive eines gewissen Respekts freue ich mich über das Skorpiontreffen. Ruhig und
gelassen setze ich mich neben den Skorpion und beobachte ein paar Minuten sein
Verhalten. Lasse es aber bleiben, ihn in meine Hand zu nehmen. Dafür fülle ich meine
Hand mit Sand, lasse ihn durch die Fingern rieseln und frage mich: Gibt es einen
Unterschied zwischen dem Sand, einem Skorpion und dem Menschen. Heute vielleicht,
aber morgen?
©Andrea Vogel
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Nebelfetzen hängen an der Milchstrasse. Oder ist es einfach nur Klarheit, die mich
unvermittelt trifft. Ich laufe und laufe. Nebelfetzen oder leuchtende Klarheit? Bleibe
stehen, schaue hoch und bin mir immer noch nicht sicher, welches von beiden es nun
wirklich ist. Nebel in der Wüste? Eine einzigartige Szenerie von fast surreal wirkender,
ergreifender Schönheit. Taghell, ein tischplattenflacher Horizont. Da vorne, hinter dem
vorne, unten, da muss doch endlich ein See, ein Meer oder ein Hotel kommen. Wie viele
Millionen Seen gibt es auf der Welt? Oder eine Dusche. Eine einzige Dusche. Wie viele
Milliarden Duschen gibt es? Hebe den Kopf laufend, weiterlaufen, aber nichts rührt sich.
Nur ein Flirren über einem Spiegel ohne Wasser. Fata Morgana. Pechschwarze Nacht. Die
Stirnlampe am Kopf und die Wasserflasche in der Hand. Ein Käfer klettert gemütlich
Zentimeter um Zentimeter mein Hosenbein hoch. Gleichzeitig fliegt eine Sternschnuppe
in einem Sekundenbruchteil in meinem Augenwinkel Tausende Kilometer durchs All. Was
für beeindruckende Unterschiede hält die Welt für uns bereit.
Es denkt mit mir und ich denke mit. Viele, viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf.
Kann bis am Ende der Tagesetappe nicht alles behalten. Einzelne Stichworte bleiben an
einem Fresszettel hängen. Der Rest verpufft. Eine Sekretärin sollte neben mir herlaufen.
Dann wäre ich der Einsamkeit entronnen und alles Gedachte würde niedergeschrieben.
Sie könnte sich die Sekretärin mit dem grössten Büro der Welt nennen. Auch wäre sie
bestimmt die erste wandernde Wüstensekretärin. Mit einer Schreibmaschine an einem
Tragegurt um den Hals hängend am Bauch abgestützt würden wir nebeneinander von
Düne zu Düne wandern. Ich würde das sagen, was es in mir denkt. Und sie würde
schreiben, was ich sage. Ein Manuskript könnte sie tippen. Für ein Buch (das niemand
liest). Dies alles wird wohl alles mein phantasievolles Wunschdenken bleiben.
Der Brunnen Hassi Kord Myriem ist zu sehen. Hassi heisst Brunnen und Kord Hügel.
Hassi Kord Myriem ist der Ort mit dem Brunnen vor dem Hügel der Mutter Myriem vom
Propheten Assi. Der Brunnen ist 55 Meter tief und ausgetrocknet. Links davon am
Dünenrand entdecke ich fünf Kamele, neben denen zwei Personen zu erkennen sind. Es
sind Kadour und Cherif von meiner algerischen Karawane, die mich von hier 450
Kilometer bis zur marokkanischen Grenze begleiten wird. Kadour und Cherif staunen, als
sie mich sehen. Da kommt doch tatsächlich ein Weisser alleine aus der Richtung von
einem der grössten und beeindruckendsten Sandmeere der Erde. Mustafa erzählte mir
schon vor drei Tagen in Bordj Fly Ste. Marie, dass er die Karawanenleute im Voraus
bezahlen musste, da sie kaum glauben konnten, dass da einer alleine zu Fuss aus dem
Erg Chech kommen sollte. Kaum da fragen mir Kadour und Cherif Löcher in den Bauch.
Sie zeigen sehr grosses Interesse an dem, was ich alles erlebt haben muss. Ich selber
hätte lieber zugehört und mehr über sie erfahren. Am Schluss möchte ich doch noch
gerne die Nachnamen von ihnen wissen. Kadour erzählt mir, er sei Nomade und heisse
Kadour Mohammed Kadour und habe keinen Nachnamen. Dies sei nicht unüblich bei
Nomaden. Kadour sei sein Kindername, Mohammed der Name seines Vaters und
nochmals Kadour der Name des Grossvaters.
©Andrea Vogel
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Manchmal glaube ich ja, was auf dem Papier steht. Heute will ich es glauben: «Yogi
Wohlfühl-Tee» steht auf dem Teebeutel. Ich freue mich auf einen wohlfühlenden Tag.
Nach 5 Stunden Schlaf krieche ich recht zerknittert aus meinem pflatschnassen
Schlafsack. Anscheinend gelang es mir doch nicht, die grosse Last von zu Hause ganz
abzuschütteln. Oder ist es der Projektdruck, der während des Schlafs in mir
weiterdrückt? Zu dritt gehen wir mit unseren Kamelen unseren Trott. Kadour und Cherif
sind Nomaden, keine Salzkarawanies oder Grenzgänger. Nach 35 bis 40 Kilometern ist
bei den beiden Schluss. Ich geniesse die neue Geborgenheit und das “gemütliche”
Gehen. Es ist wohltuend, einfach zu gehen, ohne es zu müssen oder zu wollen. Gehen:
das Ziel. Seit dem Zusammentreffen vor zwei Tagen ist unser nächstes vereinbarte Ziel,
in fünf Tagen nach 190 Kilometern die erste grosse Oase Tabelballa zu erreichen. Kadour
und Cherif kommen aus der Region Tabelballa. Dort möchte ich sehnlichst eine Pause
einlegen. Danach wollen wir noch gemeinsam 260 Kilometer bis zur marokkanischen
Grenze ziehen.
Kamele gehören für mich zu den zähesten und eigenartigsten Tieren überhaupt. Sie
halten Sandstürmen stand, können tagelang schwere Lasten von 150 Kilogramm tragen,
ohne einen einzigen Schluck Wasser zu trinken. Aber wie können sie doch wehleidig
jammern, wenn sie beladen werden. Haben sie einmal ihren Trott gefunden, kommt nur
noch selten ein Murren oder - ihre Spezialität - ein Gurgeln über ihre Lippen. Kamele sind
gutmütige aber ängstliche Tiere, die - wenn man sich ihnen von der falschen Seite
nähert, mit steifen Hinterbein ausschlagen und in äusserst seltenen Fällen einen Arm
abbeissen können. Kamele zu verstehen ist etwa gleich schwierig, wie für die Männer
Frauen zu verstehen und umgekehrt. Es ist schön mit Tieren unterwegs zu sein.
Ich möchte mich für ein höheres Ziel hingeben und kämpfen, wofür es sich lohnt. Ich
sehe mein Ziel noch nicht klar. Das hinter dem Nasenspitz interessiert mich. Vielleicht
liegt mein Ziel über dem Irdischen. In der vielfach gelebten ausgeschlafenen
Halbherzigkeit darf mein Ziel nicht zu suchen sein. 2000 Kilometer Wüstenklärung liegen
hinter mir. Ich bin immer noch ein Suchender geblieben. Suchen ist ein Ziel für sich,
nach dem es sich lohnt nachzugehen. Nur das Machbare anzustreben genügt mir heute
nicht mehr. Diese Sehnsucht nach der Utopie ist mein Motor und kurbelt meinen Willen
an. Dazu gesellt sich auch noch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit und
Sein und nicht nach Schein. Echtheit zieht mich an. Die tägliche Oberflächlichkeit der
Gesellschaft stösst mich ab. Was aber ist schon echt? Ist ein echter gelebter Schein voller
Äusserlichkeiten nicht auch echt? Da spüre ich jetzt die Grenzen meines Wissens. Um in
meinem eigenen Denken weiterzukommen und die Schale meiner eigenen Begrenztheit
weiter öffnen zu können, braucht es vielleicht einen weiteren Grenzgang? Aber bitte nicht
heute morgen. Stecke ja noch mittendrin in meinem Sahara-Projekt. Oder das nächste
Mal geht vielleicht jemand anderes für mich und erzählt mir davon. Da wären wir aber
wieder beim Konsumieren aus dritter Hand. Und wir wissen ja: Gewisse Dinge muss man
selber erfahren.
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Bei den Gedanken “Neuland” betreten spüre ich ein unsichtbares Vibrieren im Körper.
Mein Herz schlägt schneller. Ich deute dies als der Weg meines Herzens. Diesem gebe ich
Priorität vor allen anderen Wegweisern. Grenzgänger lieben das Tummelfeld der erweitert
gesteckten Grenzen; denn das absolut Grenzenlose: Gibt es das? Allein das
Aneinanderreihen von Kilometern oder das Sammeln von Höhenmetern macht keinen
Sinn, lohnt sich nicht. Dabei ein schon vielfach begangener grosser Name als Ziel
anzugehen ist eine Eroberung des Nutzlosen. Bringt weder dem Begeher noch unserer
Gesellschaft etwas von Dauer, es bleibt beim reinen Unterhaltungswert. Gehen auf den
Spuren anderer fordert mich nicht heraus, ist phantasielos, unattraktiv und langweilig.
Wiederholungen färben sich ab. Ich möchte eine neue eigene Spur, meinen eigenen Weg
gehen. Alles andere sind Kopien, bleiben im besten Fall zweitklassig. Wie oft wurde ich
schon kopiert. Auch das ist ein Wegweiser. Es zeigt einem. dass man Erfolg hat und auf
dem richtigen Weg ist. Im weiteren Sinne nach den Worten von Oscar Wilde: «Ich bin
wenig zufrieden, ich will nur das Beste.»
Kann die Sonne eine Seele haben? Warum nicht. Diese Frage beschäftigt mich kurz beim
Gehen und Auftauchen der glühenden Kugel am Horizont. Stellen vielleicht die
Unvorstellbarkeit und Begrenztheit des Menschen solche Sachen in Frage? Oder ist es
sein Wissen, dass solche Fragen hinterfrägt. Wenn ich das wüsste! Aber eins weiss ich:
260 Kilometer vor mir im Norden liegt Marokko und in diesem Land liegt Marakesch.
Dort, in diesem magischen Wort, liegt die Erlösung, die ich suche. Ich nenne die Sonne
meine «treue Seele». Darum zu Beginn diese Frage. Ohne Sonne hätten wir kein Leben,
kaum Licht, keine Wärme, eisige Kälte und Finsternis. «Sonne, Sonne, wie schätze ich
dich. Wie oft hast du mir schon meine kalten Hände gewärmt? Zu guten Bildern
verholfen? Mir den Weg gezeigt? Lebensenergie geschenkt? Mir einfach durch dein Dasein
Freude gemacht? Was wäre ich ohne dich? Was würde ich machen ohne dein Strahlen
und Leuchten? Was bekommst du von mir für deine Taten? Für meinen Dank an dich
finde ich keine Worte, die dir würdig werden. Ich schätze dich über alles, das will ich dir
einfach sagen. Dies sage ich dir jetzt, auf dieser Reise, auf der ich dich manchmal
loshaben wollte. dich irgendwohin wünschte. Vielleicht kann ich mit dem jetzigen
Zeitpunkt, meiner Wertschätzung einen höheren Stellenwert verleihen. Ich wünsche es
mir. Wer von den unzähligen Sternen hätte einen Dank mehr verdient als du?
O Sonne, strahle weiter, bleibe wie du bist. Nein, ich will mich nicht einschmeicheln bei
dir. Einfach was ich denke, möchte ich dir mitteilen. Aber idealisieren möchte ich dich
auch nicht. Manchmal habe ich auf meiner laufenden Expedition das Gefühl, du willst mir
Löcher in meinen Körper brennen, mich alt erscheinen lassen oder mich sogar verdursten
lassen. Du hast dich in meinem ganzen Leben noch nie richtig anschauen lassen. Hätte
ich das versucht, hättest du in Sekundenschnelle mein Augenlicht geraubt. So brutal
kannst du sein. Du markierst unmissverständlich deine Grenzen.
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Es heisst, nach 4 Milliarden Jahren werde dir langsam aber sicher die Energie ausgehen.
Da wird wohl dem einem oder anderen Menschen schon früher der Schnauf wegbleiben.
Wo reihen wir am besten die Menschheitsgeschichte in der Ewigkeit ein? Du bist die
Königin deiner Trabanten und bildest mit ihnen ein Himmelsgestirn der Extraklasse.
Nichts und niemand kann dich in punkto Wichtigkeit, Schönheit und Kraft
konkurrenzieren. Allein stehst du da als Herrin in deinem System. Gross und mächtig,
schicksalsträchtig und doch: Auch du Sonne bist nur ein übersehbarer Lichtpunkt im
Ganzen. Weisst du, dass es um unser gemeinsames System weitere 1,2 Milliarden
Sonnensysteme geben soll? Und die meisten von ihnen sind noch grösser als du. Du bist
ein heisser Tropfen in der Endlosigkeit. Ein Fingerabdruck in der Schöpfung. Klein und
nichtig, aber wichtig für uns. Was ist schon das Mass einer Grösse? Alles ist relativ. Yin
und Yang. Vieles vergänglich. Sonne, für mich bist du der Stern aller Sterne. Lass uns
noch viele Wege gemeinsam gehen. Ich freue mich darauf. Dein Freund und Verehrer»
Alles ist mir endgültig zu viel. Meine selbstgestellte Aufgabe weiter- und
durchzukommen, frisst mich auf. Zu viele Details sind im Hintergrund täglich zu
bewältigen. Ich fühle mich ausgepowert. Das grosse befürchtete Sandmeer Chech liegt
Gott sei Dank hinter mir. Ein grosses Gebirge ist von mir gefallen. Der Schub ist draussen
und der Magen rumort. Trotzdem: ich muss jetzt weiter, Fuss um Fuss. Die
Unabdingbarkeit wartet bestimmt schon da vorne, auf der marokkanischen Grenze.
Die Gedanken an die Sonne haben mir geholfen. Ein Tag voller Wohlgefühl geht zu Ende.
Danke Yogi.
Unsere Kommunikation ist zum Lachen. Man könnte auch schreiben: Unsere
Kommunikation ist katastrophal. Gelacht wird in unserem algerisch-schweizerischen
Karawanenteam meistens, wenn nicht in den Tag hinein geschwiegen wird. Diese
Landschaften laden zum Schweigen ein. Das Gehen an und für sich wirkt meditativ
befruchtend, regt meinen Geist täglich neu an, ausser die Müdigkeit, die ihn dauernd
verdrängt.
Katastrophal ist wohl das falsche Wort als Bezeichnung für unsere Kommunikation. Wir
kommen untereinander mit wenigen Worten aus. Gestikulieren hilft uns bei der
gegenseitigen Verständigung mehr. Jeder versteht vom Gegenüber kaum etwas von
seinen Worten. Kadour und Cherif und ich lachen oft - nicht über den Inhalt, vielmehr
über das Nichtverstehen und das Gefühl zu haben, dass unsere bescheidendste
Verständigung trotzdem klappt. Wir verstehen uns bestens ohne viel Worte. Der eine
sagt etwas und der andere denkt das Richtige weiter. Irgendwie so funktionierts. Jeder
von uns versteht diese Art Sprache. Lachen ist wie Musik eine Art Weltsprache.
Südöstlich von uns liegt das wasserlose Erg El Atachane, gegenüber streifen wir den
wasserreichen Erg er-Raoui entlang, das ich genau bis zur Hauptstrasse zwischen Bechar
und Pindus zieht. René Caillié, der Franzose, war der erste der vor 160 Jahren diese
Handelskarawanenroute begangen hat.
©Andrea Vogel
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Hänge immer noch mit den Gedanken bei unserer gelebten Kommunikation. Auch das ist
eine Art kleiner Grenzgang, der im Lachen endet. Die Worte, die ich über die
verschiedenen Arten von Grenzgängen bei meinen Vorträgen manchmal brauche,
beschäftigen mich. Ich sehe Mitmenschen vor mir, die sich mit einer schweren Bürde
vom Schicksal würdevoll durchs Leben bringen. Ich sehe vor mir auch meine Nachbarin,
die sich mit ihrem Velo und ihrem Kind im Anhänger einen steilen, langen Stutz die
Strasse hochkämpft, um ihr Kind zur richtigen Zeit im Kindergarten übergeben zu
können. Auch das sind für mich Grenzgänge, alltägliche Grenzgänge, die mich immer
sehr beeindrucken. Von vielen Grenzgängern hört man nichts, viele hätten es verdient,
gehört zu werden.
Ich lege mein Happy-Bett Model «Transa Schlafsack» zum Schlafen bereit und sitze mit
meinen zwei ruhigen Wüstenbewohnern zum Tee zusammen. Was huscht denn da durch
die Gegend? Ein Igel verirrte sich fast in meinen Schlafsack. Tabelballa, die erste grosse
Oase, und das Dorf sind schon bald in Sichtweite.
Kadour, Cherif und ich haben wieder einen normalen Tagesrhythmus eingeführt: 6 Uhr
aufstehen, 7 Uhr bis 13 Uhr laufen, dann eine Pause und dann nochmals 3 Stunden mit
der Karawane durch das Land ziehen.
Einen Kilometer vor Erreichen des grossen Oasen-Dorfes Tabelballa regnet es urplötzlich,
wie noch nie erlebt, fast waagrecht, schnurartig. Der Regen erscheint mir in seinem Guss
wie ein Wasserfall. Nichts bleibt an uns trocken. Nur ein Teil des gut verpackten Gepäcks,
Wie drei Plölker erreichen wir in der Dunkelheit Tabelballa. Dort sind alle überrascht von
unserer Geschichte vom Wasserfall, der vom Himmel fiel. Tabelballa blieb trocken. Ich
lief auf Tabelballa zu, als ob es weiss Gott was etwas Bedeutendes wäre. So wie ein
Pilger ein Heiligtum oder einen Wallfahrtsort anläuft. Tabelballa ist wie ein Ufer der
Zivilisation. Ein Ufer, das keines ist. Eher eine Insel im Nichts. Uferlos geht es weiter.
Kadour will mir unbedingt seine Familie vorstellen, wobei mir auch ein Sklave vorgestellt
wird. Tabelballa ist wie ein verbotenes Paradies. Hierher darf man nur mit Führer reisen.
Es ist allgemeine algerische Militärzone.
Mein Magen meldet sich wieder… Alle bitten mich in das anscheinend vorhandene kleine
Dorfspital zu gehen. Am nächsten Morgen zwingen mich meine anhaltenden
Bauchkrämpfe zum Einwilligen. Nach genauerer Untersuchung vom Spital-Chef lässt er
noch ein Röntgen-Bild machen und lässt mich dann schön behütet von den drei
Krankenschwestern für drei Tage in eines der sechs Spitalbetten stecken - mit Infusion
und unzähligen Medikamenten. Diagnose: dehydriert und von verschiedensten Parasiten
verseucht. Von allen Seiten werde ich sehr umsorgt und fühle mich bestens aufgehoben.
Nach zwei Tagen werde ich wesentlich gesünder entlassen.
©Andrea Vogel
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Orion-Tour 2008
Da noch Verhandlungen zum bevorstehenden Grenzübertritt laufen, beschliesse ich noch
zwei Tage in Tabelballa zu bleiben. Daira, der Chef der ganzen Region, kam mich im
Spital besuchen und lädt mich jetzt zum Nachtessen ein. Auch der Chef vom Spital lädt
mich zu sich nach Hause. Zum Essen wird unter anderem Trüffel serviert. Fast kiloweise.
Mir wird erklärt, dass Tabelballa der Ort mit den besten Trüffeln von ganz Algerien sei.
Ich esse zum erstem Mal Trüffel: Trüffelsuppe, Trüffelomelette, Trüffel mit Reis und
Gemüse - alle Varianten werden mir serviert. Mit Layachi und Laid machen wir uns auf,
Trüffel zu suchen. Ein Kilo Trüffel kostet hier 7.40 Franken. In der Schweiz die beste
Qualität (also die gleiche) 1700 Franken.
Man erfährt viel, wenn man den Menschen aufmerksam zuhört. Hörst du dem Gegenüber
gut zu, dann weisst du, was er denkt und wer er ist.
Hier kommt in der Familienhierarchie zuerst die Mutter, dann der Vater, danach die Frau
und am Schluss die Kinder. Gegessen wird separat: Sohn mit Vater und Frau mit Mutter
und Kindern. Das sei aber nur hier so. Im nördlichen Bechar sei das wieder ganz anders.
Und ganz im Norden Algeriens nochmals anders (europäischer).
Ein Coiffeur schneidet mir gratis den Bart. Mustafa erzählt mir, dass er jährlich über 50
Schlangen in seinem Garten erschlägt. Am äussersten Rande der Zivilisation
angekommen fliegen mir schon bei Wind Plastiksäcke um die Ohren. Das Problem mit
dem Abfall ist wie so oft im ärmlichen Afrika ist auch hier noch nicht gelöst. Vieles wird
einfach weggeworfen. Die Sahara läuft Gefahr, die grösste Müllhalde der Welt zu werden.
Menschen, die nicht sorgsam mit der Erde umzugehen wissen, haben das Menschsein
nicht verdient.
Fortsetzung folgt!
©Andrea Vogel
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