Zukunft Wohnen – e inblicke und Aussichten

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Zukunft Wohnen – e inblicke und Aussichten
Zukunft Wohnen – Einblicke und Aussichten
1909
2009
2109
3
1910
1911
1912
1913
1914
1915
1916
Inhalt
Ei nbl icke u nd Au ssichten
1909 – 1916
Die s i st kei ne Ch ron i k!
1919 – 1921
1 9 0 9 – 20 0 9 : Woh nge sch ichte
1922 – 1951
Te x t : D i e t r i c h z u r N e d d e n
Woh ner wa r tu ngen – Woh ner fa h r u ngen
1953 – 1980
I n t e r v i e w s u n d Te x t e: C a r s t e n En s
Zu k u n f t Woh nen!
Die i m Fi l m woh nen so
2015 – 2022
„ B ea m me up! “
2023 – 2031
Von Wä r m f l a schen u nd Esst i schen
2032 – 2043
Br uch stücke zu B au stei nen :
Ei n Rückbl ick au s 21 0 9!
1917
1981 – 2014
I n t e r v i e w s u n d Te x t e: B e r t S t r e b e
2044 – 2091
Te x t : D i e t r i c h z u r N e d d e n A n sicht ss achen
2092 – 2103
A n h a ng
2104 – 2109
. . . a u c h 2 1 0 9 b e g i n n t d e r Ta g m it d e m M o r g e n .
1918
Dies
ist keine
Chronik!
Bewohnt, gewohnt, ungewohnt: Wohnung, Wohnumfeld, Wohnsitz, Wohnrecht, Wohngeld, Wohnungseigentum, Wohnmedizin, Wohnverhalten,
Wohnungspolitik, Wohnungswirtschaft, Wohnungsdefizit, Wohnformen,
Wohndauer, Wohnwerte, Wohnleitbilder, Wohnsoziologie, Wohnungsbau,
Wohnalltag, Wohnungsfrage, Wohnraum, Wohnverhältnisse, Wohnquartier,
Wohnmilieus, Wohnungsmarkt, Wohnbedürfnisse!
Dieses Buch, das aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Verbandes
der Wohnungswirtschaft in Niedersachsen und Bremen e.V. entstanden ist,
nähert sich dem Thema Wohnen mit leichter Hand und auf verschiedenen
Wegen. Es gibt sich nicht damit zufrieden, Erlebtes aufzulisten, Erreichtes zu
würdigen und im Hier und Jetzt zu verweilen. „Zukunft Wohnen – Einblicke
und Aussichten“ hält Ausschau nach Möglichkeiten. Es geht darum, einen
frischen, zum Nachdenken und Weiterfragen anregenden Blick auf das Wohnen zu werfen. Es geht um Annahmen, Vermutungen, Visionen – über die sich
ohne Zweifel diskutieren und streiten lässt. Wird’s besser? Wird’s schlechter?
Niemand weiß es mit Sicherheit.
In ihrem Vorwort zur „Geschichte des Wohnens“ hat Ingeborg Flagge vorsorglich formuliert: „Das Thema Wohnen lockt zwar viele Fachleute auf den Plan,
dennoch entzieht es sich einer präzisen Beschreibung, die alle seine Aspekte abdeckt und alle befriedigt.“ Eigentlich verblüffend, denn jeder Mensch
wohnt, und jeder Mensch hat eine, nein, SEINE Wohngeschichte. Offensichtlich also eine alltägliche Begebenheit. So wie Essen und Trinken. Trotz dieses
unendlichen Erfahrungsschatzes, dieser unzähligen Augenzeugenberichte
will es offenbar nicht gelingen, Wohnen lückenlos zu erklären. Und das ist gut
so: Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, um mit dem Buch in der Hand
das Eigene zu ergänzen.
1919
1920
DAS Wohnen gibt es nicht. Jeder wohnt auf irgendeine Weise anders. Wohnmaschinen, die Tag für Tag das Gleiche produzieren? Fehlanzeige! Hinter jeder
Wohnungstür, in jedem Garten und in jeder Nachbarschaft herrscht – rein
wissenschaftlich gesehen – das absolute Chaos. Vorhersehbar ist praktisch
nichts. Wer unter 100 Deckenlampen, 100 Tapetenmustern und 100 Teppichvarianten auswählen kann, kommt eben nur in jedem einmillionsten Zimmer
zu dem exakt gleichen Dekor.
In historischer Perspektive potenziert sich die Komplexität und erst recht,
wenn man einen Blick voraus wagt. Angesichts der Aussichtslosigkeit auf Erfolg erhebt „Zukunft Wohnen“ keinen Anspruch darauf, richtige Antworten
zu geben. Die Frage, die diesem Buch zugrunde liegt, lautet nicht: Wie wird
sich das Wohnen entwickeln? Sondern die Frage lautet: Wie könnte sich das
Wohnen entwickeln? Die Messlatte ist also nicht Wahrheit, sondern das Vorstellungsvermögen.
Das Buch verfolgt den spektralen Ansatz, aus sehr unterschiedlichen
Perspektiven, in sehr unterschiedlicher Sprache und sehr unterschiedlichen
Bildern der „Zukunft Wohnen“ näher zu kommen. Dietrich zur Nedden baut
im ersten Teil das solide Fundament der „Zukunft Wohnen“ zusammen, indem er 100 Jahre Wohnen Revue passieren lässt und diese Entwicklung in
den Kontext stellt zu Ereignissen und Perioden in Staat und Gesellschaft. Aus
diesem „Wo kommen wir her?“ werden im Folgenden die Ideen zur „Zukunft
Wohnen“ entwickelt. Zu Wort kommen Politiker, Wohnungsunternehmer,
Designer, Architekten, Planer, Soziologen, Berater und elf Jubilare, die in diesem Jahr einen „runden“ Geburtstag feiern und von ihren Wohnerfahrungen
und Wohnerwartungen erzählen. Abgerundet wird „Zukunft Wohnen“ von
einem Rückblick aus dem Jahr 2109: Was könnte in den nächsten 100 Jahren
gewesen sein?
Ergänzt wird das Buch von Bildern, die Einblick in Alltägliches wie Visionäres geben, darunter zahlreiche Porträts von „Wohnenden“, die ihre Gedanken
zum Wohnen und zur Zukunft in Szene gesetzt haben.
Dann wäre da noch zu sprechen von dem, was fehlt. „Etwas ist immer“,
hat Kurt Tucholsky einst verdrossen festgestellt und hinzugefügt: „Tröste
Dich. Jedes Glück hat einen Stich.“ In dem Wissen von Unvollständigem und
Unpräzisem: Viel Spaß mit Ihren persönlichen Einblicken und Aussichten auf
die „Zukunft Wohnen“!
1921
Wohn
geschichte
Te x t : D i e t r i c h z u r N e d d e n ... scheibchenweise
1922
1909
bis
2009
Anfang des Jahres 1909
bricht die Zukunft an
1923
Anfang des Jahres 1909 bricht die Zukunft an auf der Titelseite
der französischen Tageszeitung „Le Figaro“. Am 20. Februar erscheint dort
das „Manifest des Futurismus“, verfasst von Fillipo Tommaso Marinetti.
Spektakulär wird eine Kunstbewegung aus der Taufe gehoben, die in alle
Lebensbereiche wirken soll. Die elf provozierenden Thesen des italienischen
Dichters verherrlichen „die Liebe zur Gefahr“ und den Krieg, „diese einzige Hygiene der Welt“. Marinetti besingt die Zerstörung der Museen, Bibliotheken und Akademien, „die Verachtung des Weibes“ und „die Schönheit der
Geschwindigkeit“.
Am selben Tag erblickt Heinz Erhardt in Riga das Licht der Welt. In den 50er
und 60er Jahren wird er zu den bekanntesten Komikern der Bundesrepublik
gehören. Einer seiner erfolgreichen Filme trägt den Titel „Natürlich die Autofahrer“.
Ge
näm
wie
Jah
in r
ges
Be
zuw
Stä
Eine weltgeschichtlich nebensächliche, blasse Notwendigkeit? Beleg einer
harmlosen, wenngleich gut gemeinten Sortierung von Verwaltungsakten?
Betrachten wir die Gründung zunächst als einen Anhaltspunkt der umwälzenden Veränderungen.
Gebaut wird nämlich 1909 wie seit etlichen Jahren schon in rasanter Eile,
geschuldet dem Bevölkerungszuwachs in den Städten. Zum Beispiel dem in
Hannover. Zählt die Residenzstadt 1811 lediglich 16 815 Einwohner, sind es
1861 bereits 60 120. Dazu tragen Eingemeindungen bei. Einige Jahre später
– 1875 – überschreitet die Einwohnerzahl Hannovers, inzwischen preußische
Provinzhauptstadt, die Grenze von 100 000, im Jahre 1901 werden 250 000 Einwohner errechnet, 1910 werden es 382 000 sein.
„Eine schlechte Wohnung
ma ch t b rave L eu te veräch tlich .“
Tatsächlich treibt die Geschwindigkeit im Jahre 1909 voran, so dynamisch wie
in den Jahrzehnten zuvor, mutet an wie rasend. Das Leben beschleunigt sich
in ungeahnten Dimensionen. Der Drang in die Ferne, ins Weite erobert sogar
den Himmel, zum Beispiel den über Frankfurt am Main, wo am 10. Juli die
erste Internationale Luftschifffahrt-Ausstellung eröffnet wird. Zu bestaunen
für die insgesamt 1,5 Millionen Besucher sind Flugzeuge, Ballone und eben
Luftschiffe, wie die von Ferdinand Graf von Zeppelin.
Höher hinauf streben in diesem Jahr auch die Staatsdiener. Auf dem ersten
Deutschen Beamtentag in Berlin fordern sie in einer Resolution eine Erhöhung
der Gehälter.
Dem Aufwärts überdies ein Extrem abgezwungen zu haben, nimmt der amerikanische Forscher Robert E. Peary für sich in Anspruch. Er habe nun als erster
Mensch den Nordpol berührt, so sein Bericht. Bald jedoch hegen Kenner der
klimatisch-geografischen Verhältnisse erhebliche Zweifel an der Richtigkeit
seiner Angaben.
Sehr viel solider, ja, solidarischer eine Meldung von anno 1909
aus der Provinz Hannover. In der Hauptstadt gründen nicht weniger
als 27 Baugenossenschaften einen Verband, um ihre Interessen zu bündeln,
um ihr Vorgehen und dessen Ergebnisse einer regelmäßigen Prüfung zu unterziehen.
1924
J ohan n Wo lfg a n g v o n G o e t h e
Die Industrielle Revolution hat bereits in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts damit begonnen, die Lebensumstände grundlegend, zugleich
in steigendem Maße zu wandeln. Sie gewinnt nochmals an Tempo mit der
umgreifenden Nutzung der Elektrizität. Große Teile der gesellschaftlichen
Basis, geprägt von Bauern und Handwerkern, von Tagelöhnern und Gesellen,
von Heimarbeitern, Knechten und Dienstboten, sind dazu genötigt, sich nach
und nach den neuen Produktionsverhältnissen zu unterwerfen. Es bildet sich
eine neue Bevölkerungsschicht, die Arbeiterklasse, das Proletariat. In der Folge
zerbricht im Dasein der weitaus meisten Menschen etwas Substantielles.
Hatte man bislang dort gewohnt, wo man arbeitete, reißt die Lohnarbeit diese Einheit auseinander, Wohnen und Arbeiten werden räumlich getrennt. Das
betrifft nicht allein diejenigen, die körperliche Arbeit verrichten, sondern
auch die „Arbeiter mit weißem Kragen“, die Angestellten, eine weitere neue
Bevölkerungsschicht.
Arbeitssuchende strömen massenhaft in die Städte, es mangelt an Wohnungen
und Unterkünften, ganze Stadtteile werden zu Slums – so ist die Ausgangslage nicht bloß in Hannover – auf einen lapidaren Punkt gebracht. Viel zu
viele Menschen sind eingepfercht auf viel zu engem Raum in viel zu alten,
heruntergekommenen Häusern. In den barackenartigen Quartieren herrschen
1925
ebaut wird
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w oh n en – d as Zeitwo rt stammt
¯ n, dem
v on alth o ch d eu tsch wo n e
die Bedeutung „zufrieden sein“
zugrunde liegt und so viel heißt
wie „(gewohnt) sein, bleiben, sich
Bedrängnis, Dunkelheit, Schmutz. Der Alltag aus Not, Elend und Ausbeutung
prägt die Lebenserfahrung, erzeugt Spannungen, die Risse in die Gesellschaft
treiben. Der desolate Befund, aus anderer Perspektive betrachtet, birgt sozialen
Sprengstoff. Dringend ist menschenwürdiger, erschwinglicher Wohnraum zu
schaffen – mehr Licht, mehr Luft, mehr Platz, mehr Wärme und Wasser, bessere
Hygieneverhältnisse. Längst hat sich die „Wohnungsfrage“ gestellt. Nicht zum
ersten Mal im Übrigen, was die 1872 von Friedrich Engels verfasste Artikelreihe
„Zur Wohnungsfrage“ belegt.
aufhalten“. Germanisch *wun ist,
w i e d as Etymo lo g isch e W ö rterbuch offenbart, Tiefstufe zu der
i ndo g erman isch en Wu rzel *u en
für „verlangen, lieben“, deren
Ableitungen unter „gewinnen“,
„gewöhnen“, „Wahn“, „Wonne“
und „Wu n sch “ b eh an d elt werd en .
Als einer der geistigen Väter des sozialen Wohnungsbaus und
In einer Genossenschaft schließen sich Menschen zusammen, deren Interessen und Probleme sich ähneln, die gleichberechtigt nach
Lösungen suchen und sie verwirklichen. Denn gemeinsam ist man stärker.
Der ursprünglich in England, dem Avantgardisten der Industriellen Revolution, realisierte Genossenschaftsgedanke hat längst im Deutschen Kaiserreich
an Bedeutung gewonnen. Nachdem sich zunächst Konsum- und Kreditgenossenschaften gebildet haben, sind es nun Wohnungsbaugenossenschaften, von
denen es 1889 bereits 38 gibt. Ihre Anzahl steigt auf 385 zur Jahrhundertwende
und weiter auf 1402 zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914.
Die Prinzipien, auf denen eine Genossenschaft beruht – Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung – bedürfen ständiger Begutachtung, Kontrolle,
Revision. Die Aufsicht möchte man jedoch nicht der Obrigkeit überlassen. Damit
der Staat nicht eingreift, richtet man also das genossenschaftliche Prüfungswesen ein. Im Zeitraum von 1900 bis 1912 entstehen in Deutschland insgesamt
14 Prüfungsverbände. Die erste Konferenz findet 1906 in Berlin statt.
Einer dieser Prüfungsverbände ist der in Hannover 1909 gegründete „Verband
der Baugenossenschaften von Niedersachsen“. Die Wahl des Namens irritiert,
sobald man bedenkt, dass das Land Niedersachsen erst 1949 gegründet wird.
Doch der geografisch wenig präzise Regionsname ist nach einigen Jahrhunderten in die Öffentlichkeit zurückgekehrt, ist beliebt, gleichsam als Protest
gegen die Zugehörigkeit zu Preußen seit 1866.
zugleich als ein Wegbereiter der Genossenschaftsbewegung in Deutschland
gilt Victor Aimé Huber (1800-1869). Von 1849 bis 1852 ist Huber im Vorstand der
Gemeinnützigen Berliner Baugesellschaft tätig. Angeregt von den „Cottage“Siedlungen in Manchester schlägt er ein genossenschaftlich organisiertes
Projekt mit Wohngebäuden aus höchstens vier Einheiten und Garten vor. Dem
Prinzip der „Selbsthülfe“ folgend gehört zu dem Konzept ein Ensemble von
Gemeinschaftsräumen. Zentral in einer solchen Siedlung von etwa 100 Häusern
würde ein Gebäude die Verwaltung beherbergen, eine Schule, einen Betsaal
selbstverständlich, Lesezimmer und Bibliothek, medizinische sowie Vorratsräume, ein Backhaus, ein Waschhaus und eine Badeanstalt.
Huber gelingt es zunächst, eine bescheidenere Version seiner Idee zu verwirklichen. Auf der Bremer Höhe in Berlin, damals vor den Toren der Stadt gelegen,
beginnen 1849 die Bauarbeiten. Die Grundstücke Schönhauser Allee 58/58a
werden mit sechs „Cottages“, also Kleinhäusern für 15 Familien bebaut, die
sich, wie es heißt, „einem rigiden Verhaltenskodex unterzuordnen hatten“. Das
Musterbeispiel nach Hubers Vorstellung wird nicht lange bestehen. 1888/89
werden die letzten, in der Zwischenzeit verwahrlosten Cottages abgerissen.
Währenddessen spricht sich in Windeseile ein Reformmodell aus Großbritannien in Deutschland herum, wird in ganz Europa begeistert aufgenommen und
weit darüber hinaus. Das Buch, das einem neuen Leitbild Konturen verleiht, erscheint 1898 und heißt „To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“, die zweite
Auflage 1902 „Garden Cities of To-Morrow“. Ersonnen hat der Genossenschaftssozialist Ebenezer Howard (1850–1928) sein Modell, um auf die miserablen
Wohn- und Lebensverhältnisse zu reagieren, um den Folgen des chaotischen
Wachstums in den Großstädten etwas Geordnetes entgegenzusetzen. In deren
1926
Umland, so seine Idee, sollten genossenschaftlich organisierte Gartenstädte
geschaffen werden, von Grüngürteln gegliederte Siedlungen.
3
J
1
Wenden wir uns nochmals der Provinzhauptstadt Hannover zu, wo eingangs
des 20. Jahrhunderts an mehreren Standorten „genossenschaftliche
Reforminseln“ gedeihen, so die Formulierung des Bauhistorikers Sid AufDer Begriff der Gartenstadt wird in zahllosen Formulierungen, oft missverständlich oder irreführend, die Debatten bis ins 21. Jahrhundert prägen: Eine
Struktur, für die ein nicht rechtwinklig geordneter Stadtraum mit gekrümmten
Straßen, geschlossenen Plätzen, großzügigen Grüngürteln charakteristisch ist.
Satellitenstädte wird man eine Variante nennen, oder suburbs, wie in den USA.
Der genossenschaftliche Impetus, den Howard betont, wird hingegen häufig
übersehen.
Um dem Grün als Elementarfarbe für die Verbindung von
Wohnen und Arbeiten nahe der Großstadt zur Geltung zu verhelfen,
gründet sich 1902 die „Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft“, ein halbes Jahrzehnt
bevor die Übersetzung der epochalen Schrift unter dem Titel „Gartenstädte in
Sicht“ erscheinen wird.
Von den sozialreformischen Vorstellungen durchdrungen, verwirklicht der
Möbelfabrikant Karl Schmidt-Hellerau vor den Toren Dresdens 1909 die Gartenstadtsiedlung Hellerau zusammen mit dem Neubau seiner „Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst“. Neben Richard Riemerschmid gehören Heinrich
Tessenow, Hermann Muthesius und Kurt Frick zu den renommierten Architekten und Gestaltern. Ihre Pläne entsprechen dem Anspruch des Auftraggebers, die Einheit von Wohnen und Arbeit, Kultur und Bildung in einem von
der Lebensreform geprägten Organismus zu verkörpern.
Ein weiteres Beispiel dieser hybriden Siedlungsform ist die Margarethenhöhe an der südlichen Peripherie Essens. Der Name der Siedlung ist Margarethe
Krupp gewidmet. Ihre Stiftung für Wohnungsfürsorge beauftragt 1909 den
Architekten Georg Metzendorf, Mitglied des Deutschen Werkbundes, eine
Siedlung für „minderbemittelte Klassen“ zu entwerfen. Da der Auftrag nicht mit
sozialreformerischen Ideen verflochten ist, beschränkt sich der Entwurf auf
die Gartenstadt als städtebauliches Vorbild. Im Gleichklang mit dem Pendant
in Dresden genießt die Margarethenhöhe dank eines Regierungserlasses die
Befreiung von Bauvorschriften.
farth. Unweit einer monarchischen Landschaftsperle, dem eleganten Gepräge
der Herrenhäuser Gärten, errichtet der 1885 gegründete Spar- und Bauverein
ein Ensemble, das den stärksten Eindruck hinterlässt: die von 1912 bis 1924
gebaute Siedlung „Schlosswender Hof“, der im Volksmund der Titel „Rote Burg“
verliehen und die 1947 nach dem Senator Heinrich Brüggemann umbenannt
werden wird. „Das Herz der Anlage“, so beschreibt es Auffarth, „wird von einem
weiten, durch Nebenhöfe differenzierten Dreieckshof gebildet, dessen Seiten
von mächtigen Geschossbauten gefasst wird. Der Zugang zu den Wohnungen
erfolgt ausschließlich über den Innenhof, der damit funktional wie symbolisch
als gemeinschaftlicher Raum dient.“ Für die damalige Zeit sind die Wohnungen
ungewöhnlich gut ausgestattet, einigen ist ein Balkon vorgesetzt.
„Ich verlange von einer Stadt,
in der ich leben soll: Asphalt,
Str aß en sp ü lu n g , Hau sto rsch lü ssel,
Luf t h eizu n g u n d Warmwasserl e i tu n g . G emü tlich b in ich selb st.“
K arl K r a u s in d e r F a c k e l Nr. 3 1 5 , 1 9 1 1
Nach dem Ersten Weltkrieg und der gescheiterten Novemberrevolution
wird am 31. Juli 1919 von der Nationalversammlung die Weimarer Verfassung
beschlossen, kurz darauf von Reichspräsident Friedrich Ebert unterzeichnet:
Es ist die erste demokratische Verfassung Deutschlands, die in Kraft tritt. Im
zweiten Hauptteil – „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ – findet
sich im fünften Abschnitt – „Wirtschaftsleben“ – der Artikel 155, der wie eine
honorige Absicht anmutet: „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von
Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele
zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende
Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern. Kriegsteilnehmer sind bei dem
zu schaffenden Heimstättenrecht besonders zu berücksichtigen.“
Aus der Zukunft rückwärts gewandt ist es allemal ein Leichtes, das Ergebnis
nachträglich zu prophezeien: Das Ziel, dem man „zustrebt“, wird verfehlt.
1927
31.
Juli
1919
Gegen die erbärmlichen Wohnverhältnisse, das dunkle Elend
und die enge Not vornehmlich in den Städten entwickeln gänzlich unterschiedliche Gruppen aus unterschiedlichen Beweggründen eine Fülle an
Konzepten und Projekten, von denen viele realisiert werden.
Um einen von zahllosen Gesichtspunkten herauszugreifen, widmen wir uns
kurz der „Zwischenkriegsblüte der Baugenossenschaftsbewegung von 1924 bis
1931“, die der Staat nicht nur finanziell zum Blühen bringt. Wie es in dem Buch
„Wohnkultur in gesellschaftlicher Verantwortung“ heißt: „Zwar blieben [im
Verband] die Genossenschaften zahlenmäßig mit weitem Abstand in der Mehrheit. Auf der anderen Seite entstanden aber nun viele große Wohnungs- und
Siedlungsgesellschaften, die die durchschnittliche Bauleistung der Genossenschaften um ein Vielfaches übertrafen.“ Der Hintergrund für diese Gewichtsverlagerung fügt sich zusammen aus den neuen, zumeist von den Kommunen
gegründeten Gesellschaften, „die in der Regel die Aktien- oder Anteilsmehrheit
behielten und sich auf diese Weise ein Instrument schufen, um den Kleinwohnungsbau vor Ort zu kontrollieren und gleichzeitig voranzutreiben.“
Eine Vielfalt an Möglichkeiten, Initiativen und Ideen, an Vorschlägen und Bewegungen, an exemplarischen Lösungsvorschlägen und
Erscheinungsformen eröffnet Perspektiven in den wenigen Jahren der
Weimarer Republik, konkrete wie geistige Anregungen treffen wie selbstverständlich auch in Stadtplanung, Architektur und Wohnungsbau aufeinander,
befruchten einander und verknüpfen interessante Projekte. Sie prägen wohl
nicht das Erscheinungsbild vieler Klein- und Großstädte, nehmen jedoch zumindest Einfluss auf die öffentlichen Debatten, bereiten sinnliche Erfahrungen, die Reflexionen im kollektiven Bewusstsein erschaffen. Freilich, nicht
ausnahmslos steckt Neues drin, wo neu drauf steht. Ohnehin fußt so manches,
das umgesetzt wird, auf redlich-gewissenhafter Entwicklung aus der Vergangenheit, auf Errungenschaften der Industriellen Revolution. Wie könnte es anders sein?
„Steinhäuser machen Steinherzen!
[…] Die großen Spinnen – die
Stä d te – sin d n u r n o ch Erin n erun gen aus einer Vorzeit, und
mi t ih n en d ie Staaten . […] An d ie
Zu einem Klischee geronnen ist das Emblem von den Goldenen Zwanziger
Jahren, dessen Zwilling die wilden Zwanziger aufruft. Gleichwohl birgt jedes
Klischee einen mehr oder minder großen Partikel der Wirklichkeit. Nach den
Erschütterungen der Nachkriegszeit – Hungersnot, Arbeitslosigkeit, Hyperinflation, Massenstreiks, Konflikte und Kämpfe zwischen den politischen Strömungen – setzt in der Weimarer Republik eine Phase der Beruhigung ein, indes im kulturellen Leben sich neue Kunstgattungen etablieren. Bis spät in die
Nacht flackern die „Lichter der Großstadt“, wie ein Film von Charles Chaplin
1931 heißt, auch in Deutschland, nicht allein in Berlin. Wessen Portemonnaie
ausreichend gefüllt ist, steht drängelnd in der Schlange vor dem Lichtspielhaus
oder stürmt ins Kabarett, lässt sich von einer Jazzband in Schwung versetzen
oder besucht das Theater, um begeistert oder entrüstet das aktuelle Stück von
Brecht oder Zuckmayer zu erleben.
„ M a n k a nn ei nen Mensch en
mit einer Wohnung gen a u s o t ö t e n
wie m it einer Axt.“
He inr ich Z i l l e ( 1 8 5 8 - 1 9 2 9 )
1928
Ste lle des Vaterlandes ist die
Hei mat getreten – und sie findet
je der ü b erall, wen n er arb eitet.“
D e r A rc h i t e k t B r u n o Ta u t i n s e i n e r S c h r i f t
„D i e Au flö s u n g d e r St ä d t e “ , 1 9 2 0
Neue Materialien wie Stahl und Beton, neue Techniken, neue Haus- und Siedlungsformen wecken die Bereitschaft für Experimente. Mit der Gründung des
Deutschen Werkbundes 1907 werden in Ausstellungen und Publikationen sowie nicht zuletzt in realisierten Bauten die Begriffe „Sachlichkeit“, „Zweckhaftigkeit“, „Reinheit“ und „Klarheit der Komposition“ in der Öffentlichkeit
wahrgenommen. Neben dem (Backstein-)Expressionismus, einer Richtung in
der Wohnungsbau-Architektur nach dem Ersten Weltkrieg, deren wuchtige
Formensprache kantige, raue Ornamente betont, setzen sich der spätere Bauhausstil, die Neue Sachlichkeit und die mit beiden eng verwandte Bewegung
des Neuen Bauens vielerorts durch. Natürlich spielen traditionalistische Auffassungen weiterhin eine erhebliche Rolle, wie beispielsweise die so genannte
Stuttgarter Schule. Und wer auf programmatische Grundsätze verzichtet, mag
unterschiedliche Ansätze als Impulse verstehen. Man bedient sich oder, um es
vornehmer zu sagen, lässt sich inspirieren.
Von Celle nach New York. – Wer hätte vermutet, dass die Kleinstadt Celle
neben Frankfurt am Main, Berlin, Karlsruhe und Magdeburg einst ein Zentrum
des Neuen Bauens war? Zu verdanken ist es dem Architekten Otto Haesler (18801962), heute weitgehend unbekannt, erst recht im Vergleich zu prominenten
Kollegen wie Walter Gropius oder Ludwig Mies van der Rohe. Haesler arbeitet
von 1906 bis 1934 vorwiegend in Celle und siedelt nach dem Zweiten Weltkrieg
in die DDR über, wo er zum Professor an der Deutschen Bauakademie berufen
werden wird.
1932 lädt das Museum of Modern Art in New York zu einer Ausstellung unter
dem Titel „The International Style: Architecture Since 1922“ ein. Nicht allein
der Titel prägt einen Begriff für die funktionalistische Architektur. Darüber
hinaus beeinflusst der Ausstellungskatalog die Ansichten und Debatten um
die Entwicklung der Architektur, zum Mindesten von heute aus gesehen. In
dem Buch würdigen die Autoren den Architekten aus Celle. Otto Haesler sei
„der bedeutendste Siedlungsarchitekt in Deutschland, vielleicht in der Welt,
seit Deutschland andere Nationen in der Lösung der Siedlungsprobleme weit
überholt hat.“
Retrospektiv formuliert es die Otto Haesler Stiftung bündig, „dass in Celle in den
20er Jahren städtebauliche Premieren stattgefunden haben.“ Haesler realisiert
1923/24 zusammen mit Karl Völker in Celle die erste farblich gestaltete Siedlung namens Italienischer Garten. Eine andere Uraufführung – zwischen Grünstreifen giebelständig zur Straße ausgerichtete Wohnzeilen – platziert Haesler
in der Siedlung Georgsgarten: „Die Vorteile sind so einleuchtend, dass man sich
erstaunt fragt, warum man noch nicht allgemein zu diesem Prinzip übergegangen ist“, schreibt der Designer und Kunsthistoriker Walter Dexel 1928
darüber. Die voluminösen Trabantensiedlungen der 1960er Jahre werden dies
in einem kaum erwartbaren Ausmaß variieren.
halten, dennoch unter den Maßgaben Licht, Luft, Sonne praktisches Wohnen
zu ermöglichen – bis in die Details einer Einbauküche. Ein Ausgangspunkt, der
bereits in dem erwähnten Katalog aus New York zur Sprache kommt: Haesler
„besteht darauf, dass auch die billigsten Bauwerke als Kunstwerke behandelt
werden“. Dass diesen Kunstwerken ein erzieherischer, fürsorglicher Gedanke
innewohnt, liegt auf der Hand.
Sobald man von einer
Einbauküche spricht, muss man einen kleinen
Exkurs zu dem Muster aller Einbauküchen einfügen, einen Schritt in die
„Frankfurter Küche“ setzen, entworfen 1926 von der Architektin Margarete
Schütte-Lihotzky im Auftrag des Frankfurter Stadtbaurats Ernst May. Sie arbeitet mit weiteren Mitarbeitern im Hochbauamt in der Abteilung T für Typisierung. Darum geht es: Auf den Prinzipien Rationalität und Funktionalität möglichst kurze, vorher mittels Stoppuhr ausgerechnete Abläufe zu schaffen, „die
Arbeit der Hausfrau rationeller zu gestalten“. Ein zweiter Grund entspricht
den damaligen Vorstellungen: Man möchte gleichsam Wohnen und (Küchen-)
Arbeit trennen, Quadratmeter gewinnen, um die engen Wohnverhältnisse
sinnvoll zu nutzen und gut auszustatten – einschließlich Bügelbrett. Mehr als
zehntausend Küchen werden in unterschiedlichen Varianten eingerichtet. Dass
damit die Wohnküche abgeschafft wird, ist nicht jedem recht.
„In Berlin kommen auf jede
Wohnung dreizehn Personen: drei,
die darin wohnen, und zehn, die
draußen darauf warten, dass sie
f rei wird . Zu d iesem Beh u fe – u n d
auch, damit die Beamten zu tun
haben und damit wir wissen, wie
e i ne Beh ö rd e au ssieh t, u n d ü b erhaupt –: zu diesem Behufe schuf
Go tt d ie Wo h n u n g sämter.“
Anschließend, von Mai 1930 an, wird die zweigeschossige Siedlung
Blum-
P et e r Pa n t e r a lia s K u r t Tu c h o ls k y,
läger Feld mit einem zentralen Wasch- und Badehaus geschaffen, in der
Haesler konsequent seine Vorstellungen umzusetzen vermag: neben der Stahlskelettbauweise und der Typisierung der Grundrisse tragen strikte Rationalisierung und Industrialisierung wesentlich dazu bei, die Kosten niedrig zu
1929
P ra g e r Ta g e b la t t , 1 7 . J u n i 1 9 2 3
Zurück nach Celle in die Siedlung Blumläger Feld. Auch hier führt die Generallinie, für die unteren Schichten tragbare Mieten zu ermöglichen, zu einem
umstrittenen Ergebnis. Um ein Beispiel auszuwählen: Ein Mitteleuropäer im
21. Jahrhundert dürfte zunächst so instinktiv wie empört den Kopf schütteln
bei der Vorstellung eines Kinderzimmers mit sechs Quadratmetern Grundfläche. Wir halten es für unzumutbar. Sobald wir uns jedoch eine Wohnungszählung in der Weimarer Republik aus dem Jahre 1927 in Erinnerung rufen,
die besagt, dass jede sechste Mietwohnung Untermieter hatte, dass über eine
Million Haushalte ohne eigene Wohnung waren, mildert sich das Unverständnis. Von einem Kinderzimmer war weithin keine Rede. Aus diesem Blickwinkel
gewinnen die Kleinstwohnungsprogramme eine gewisse Plausibilität.
Im Vorgriff des Projekts schreibt Haesler – in der charakteristischen, Entschiedenheit signalisierenden Kleinschreibung – am 13. Juni 1927 an den Regierungspräsidenten, er habe „seit einiger zeit ein siedlungsprojekt in arbeit, welches
die unterste grenze einer einwandfreien und doch zeitgemäßen billigsten
kleinstwohnung festzulegen versucht.“ Und der Celler Oberbürgermeister sekundiert ein Jahr später hinsichtlich der Frage, „wie man Armen, die nicht mehr
als 4-5 M Miete wöchentlich aufzubringen vermögen, hygienisch einwandfrei
und doch gemütvoll zu eigener Behausung verhelfen kann. […] Die Lösung, die
Haesler sucht, ist so verblüffend einfach, dass man sich vergeblich fragt, warum
man nicht selber auf die Gedanken gekommen ist.“
Mündlichen Berichten zufolge sei man damals von der Einschätzung ausgegangen, die Siedlung würde zwischen dreißig und fünfzig Jahre überdauern.
Insofern ist es am Ende des 20. Jahrhunderts höchste Zeit, eine sorgfältige Erneuerung und Sanierung in Angriff zu nehmen. Ein heftiger Streit entbrennt,
puristischer Erhaltungswillen versus kühl berechnende Wirtschaftlichkeit. In
Abstimmung mit der Denkmalbehörde restauriert die Städtische Wohnungsbau GmbH das Ensemble in drei Abschnitten von 1997 bis 2006. Die charakteristischen Merkmale bleiben weitgehend erhalten, gleichwohl sind nicht alle
Interessengruppen von dem Resultat angetan.
Grundbaustein das Element G bildet, ein Einfamilienhaus mit drei Zimmern.
Deren zweigeschossiger Kern ist einem drei mal drei Meter großen Wohnzimmer vorbehalten, das dreiseitig von eingeschossigen Raumzellen gefasst wird.
Sie sind aus einem Fundus von acht Varianten zu wählen. Von der geplanten
Bauhaus-Siedlung Am Horn in Weimar kommt das von Georg Muche entworfene Musterhaus zur Ausführung.
Die Spannweite der Vielzahl an Aktivitäten reicht von pragmatischen Vorhaben wie der von der Gemeinnützigen Osnabrücker Bauverein errichteten
Siedlung Wersener Straße mit schließlich 1 044 Wohnungen, entstanden zwischen 1918 und 1930, oder der Siedlung Liststadt in Hannover, für die zwei
Baumeister und zwei Architekten 1928 die Liststadt Wohnungsbau GmbH gegründet hatten, bis nach „Ugrino“. Letzteres sei stellvertretend genannt für eine
Facette der lebensreformerischen Bewegung nach einem experimentellen, ja,
spirituellen Konzept. Angeführt von dem Schriftsteller Hans Henny Jahnn ist
Ugrino „Glaubensgemeinde, Künstlervereinigung, Verlag, literarischer fiktionaler Ort sowie konkretes Bauvorhaben“ (Hilde Strobl, „Architektur, wie sie im
Buche steht“). Ein riesiges Grundstück in der Lüneburger Heide ist angekauft,
Pläne sind bis ins Detail angefertigt, doch kommt es nicht zur Ausführung.
Was die erwähnten Projekte illustrieren, fasst der Architekturkritiker Gert
Kähler in seinem Text „Wohnung und Moderne“ zusammen: „Und dennoch ist
eines bei einer Bewertung der zwanziger Jahre zu berücksichtigen, das die
kritischen Anmerkungen überragt: Wohnung und Wohnungsbau wurden mit
einer nie wieder erreichten Intensität und Bandbreite diskutiert und experimentell erprobt. Was in diesen zehn Jahren in dieser Hinsicht geleistet wurde,
ist bis heute nicht nur nicht wieder erreicht worden, sondern das, was damals
diskutiert und vorgeschlagen wurde, ist bis heute nicht einmal völlig aufgearbeitet.“
Statt das Schlaglicht auf Celle zu werfen, ließen sich weitere Beispiele für
„Ugrino“ kann als Stichwort dienen, zusammenfassend daran zu erinnern,
dass neben und mit der dominanten Gartenstadtbewegung zahlreiche
Spielarten des Wohnungsbaus in der Weimarer Republik vorstellen,
Manifeste, Kampfschriften, Theorien, Grundsatzprogramme
die hier lediglich angedeutet sein können.
Ein Projekt des „Neuen Bauens“ entwerfen Mitarbeiter von Walter Gropius.
Unter dem Postulat „Baukasten im Großen“ entwerfen sie Serienhäuser, deren
seit Beginn des 20. Jahrhunderts die offensichtlichen, spürbaren Konflikte
in Architektur und Städtebau zur Sprache bringen, auf sie reagieren und für
Lösungen argumentieren. Erlebt man die Städte als unübersichtliche Mixtur
1930
G
G
durch Kinder verschärft wird,
M e n sch en kräfte ü b ersteig t.“
G e o r g e B e r n h a rd S h a w,
„ We g w e i s e r f ü r d i e i n t e l l i g e n t e F r a u z u m
S oz i a lis m u s u n d K a p it a lis m u s “ , 1 9 2 8
aus Mietskasernen, Hinterhöfen, engen Straßen, wächst der Wunsch nach dem
Kontrast, nach einem Geflecht überschaubarer Strukturen und getrennter
Funktionen. Teils wirken die Thesen und Forderungen ins Geschehen ein, teils
werden sie in die Praxis umgesetzt, teils sind es immerhin Anstöße zu fruchtbaren Auseinandersetzungen.
Einen späterhin maßgeblichen Beitrag leistet
die 1928 gegründete
Gruppe CIAM, eine Vereinigung international angesehener Architekten
wie Walter Gropius, Gerrit Rietveld, Hannes Meyer und Mart Stam, unter
Federführung von Le Corbusier. Mitbegründer und Generalsekretär von 1928
bis 1956 ist der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion. In einer 1929
publizierten Schrift mit dem Titel „Befreites Wohnen. 86 Bilder“ formuliert er
programmatisch: „SCHÖN ist ein Haus, das unserem Lebensgefühl entspricht.
Dieses verlangt: LICHT, LUFT, BEWEGUNG, ÖFFNUNG.“
Die Weltwirtschaftskrise 1929/30 zeitigt binnen kürzester Frist nicht allein in
Deutschland dramatische Auswirkungen im Wohnungsbau. Er kommt nahezu
zum Erliegen. Der Mangel kulminiert wie bereits in den Jahren nach dem Ersten
Weltkrieg in einer akuten Wohnungsnot. Abermals wächst das Elend für viele
Familien.
Auf dem IV. Kongress der CIAM 1933 wird die „Charta
von Athen“ verabschiedet, das Ergebnis der Diskussionen unter Stadtplanern und Architekten
zu dem Thema „Die funktionelle Stadt“. Nach der Veröffentlichung während
des Zweiten Weltkriegs 1941 bleibt die (öffentliche) Wirkung der Vorschläge
marginal, um so schwerwiegender greift sie in die Nachkriegszeit ein. Sowohl
das Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ in den 1950er Jahren
als auch das im anschließenden Jahrzehnt dominierende Leitbild der „autogerechten Stadt“ werden – zustimmend oder ablehnend – in Verbindung gebracht
mit den Analysen, Forderungen und nun von Le Corbusier kommentierten Lehrsätzen der Charta von Athen. Die Charta, zumal nach der Veröffentlichung in
deutscher Sprache 1962, zählt zu den Bezugspunkten für das „Unbehagen an
der Moderne“.
„ Die Wahrheit ist eben d i e , d a s s
da s E he l eben in ei ner Ei n z i m m er-
„Blut und Boden“ – Mitnichten ist die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ein eklatanter Bruch in der Wohnungsbaugeschichte.
Im „Dritten Reich“ wird es weder eine einheitliche Wohnideologie noch eine
einheitliche Wohnungspolitik geben.
Während die NS-Ideologie seit langem mit dem Begriff des „zersetzenden Kulturbolschewismus“ auch gegen die sachlichen, kargen Erscheinungsformen moderner Architektur polemisiert, verwendet das Regime wesentliche Elemente
des Neuen Bauens – unmissverständlich im Dienste kriegerischer Zwecke und
unter rassistischen Vorzeichen, welche die Veränderungsprozesse biologistisch
deuten.
In Salzgitter und in Wolfsburg, vielmehr: in der „Hermann-GöringStadt“ und in der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“, werden zwischen
1938 und 1944 in unterschiedlichen Nuancen räumliche Modelle aus dem Boden
gestampft, die, wie Werner Durth zusammenfasst, „paradigmatisch die Überlagerung und Transformation der aus den Reformdebatten der zwanziger
Jahre selektiv übernommenen Stadtkonzepte“ zeigen.
Zunächst setzt die Reichsregierung – der eigenen Propaganda von der ideologisch verbrämten „Heimstätte“ gemäß – den Kleinsiedlungsbau in ländlichen
Gebieten und Vorstädten um, weil er „geeignet ist, den deutschen Arbeiter
wieder mit dem Heimatboden zu verbinden“. Vollmundig wird den Angehörigen der unteren Bevölkerungsschichten ein ‚kleines Häuschen‘ versprochen –
vorausgesetzt allerdings, man erfüllt die Persönlichkeitsprüfung zur Zufriedenheit, die „arische Abstammung“, die „Ehrbarkeit“, die „Erbgesundheit“ - Formeln
aus dem Wörterbuch des Schreckens. Diejenigen, die das NS-Regime als Juden
definiert und deren systematische Vernichtung sie vorsieht, werden enteignet, ghettoisiert, in Lager deportiert, ermordet. Die Verfolgung hinterlässt verfügbare, lukrative Wohnungen und Häuser, Fabriken, Handelsgeschäfte und
Praxen, gleichsam Sachwerte durch den „Horror des Holocaust“ (Hans-Ulrich
Wehler).
„Gleichschaltung“ – Während 1933/34 bei den Wohnungsgenossenschaften die Aufsichts- und Vorstandsgremien mit Gewährsleuten des
wohnung, selbst wenn e s n i c h t
1931
NS-Regimes besetzt werden, treten als Träger des nationalsozialistischen
Siedlungsprogramms die gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften auf,
die als „staatsnaher Wirtschaftszweig“ der Reichsregierung unterworfen und
zur Mitgliedschaft im Hauptverband der Deutschen Wohnungsunternehmen
verpflichtet worden sind. Unter der Kontrolle und Leitung des Reichsstättenamts erhalten sie den Auftrag, überwiegend jene Kleinwohnungen mit einer
Wohnfläche unter 75 Quadratmetern zu erstellen. Zugleich verwendet der ideologische Diskurs eine – selbstverständlich „völkisch“ ausgedeutete – Variante
des Modells der Gartenstadt.
Das Großprojekt einer „Mustersiedlung“ der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in
Braunschweig-Mascherode, zwischen 1936 und 1942 errichtet, verkörpert die
von Paul Schultze-Naumburg, einem Protagonisten der Heimatschutzbewegung, geforderte „Kunst aus Blut und Boden“: Kritik am Moloch Großstadt in
Gestalt einer für etwa 6 000 Bewohner konzipierten Siedlung, dominiert von
dem wuchtigen „NSDAP-Gemeinschaftshaus“. In unterschiedlichen Standards
für Vertreter aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Berufen sollen
die Wohnhäuser mit Putzfassade und steilem Satteldach ihren Beitrag zur
„Harmonisierung“ der Gesellschaft leisten.
Nach wenigen Jahren scheitert das Programm der Kleinsiedlungen nahezu
vollends. Im Zuge der Aufrüstungspolitik schwenkt das Regime stattdessen
um auf den Neubau von kleinen und billigen „Volkswohnungen“, zumeist am
Rande der Industrieanlagen.
„ Die Aufgabe heißt, die i n d e r
Durch einen „Führererlass“ wird im November 1940 Robert Ley,
Leiter der DAF, zum „Reichskommissar für den sozialen Wohnungsbau“
ernannt, eine Wortschöpfung, die in den nächsten Jahrzehnten zu einem
zentralen Begriff erhoben wird. Ley hat in der DAF seit 1934 viele Mitarbeiter aus der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und aus den im Mai 1933
zerschlagenen Gewerkschaften zusammengezogen. Nun wird das Wohnungsund Siedlungsbauwesen allein von der DAF aus angewiesen: Rationalisierung,
Typisierung, Normung, Standardisierung – so total wie der Krieg, der zum Endsieg führen soll. Der inneren Logik entsprechend zählt zu den Aufgaben der
DAF-Abteilung, den Wohnungsbau im Reich wie in den eroberten Ostgebieten
für die Zeit nach dem Sieg vorzubereiten, die Gründung ganzer Städte inklusive.
Unter dieser Prämisse bearbeiten ebenfalls diejenigen Planer, die der Heimatschutzbewegung zuzurechnen sind, Siedlungsaufgaben für die „kleinen Leute“,
verbinden also die neuen technischen Aufgaben eines seriellen Wohnungsbaus
mit traditionellem Anstrich. Die umgesetzten Pläne basieren auf historischen
Bautypen, auf der Methode des „typologischen Entwerfens“ und auf der vorgegebenen Vereinheitlichung des Siedlungsbildes. „Wichtig war ihnen die Nähe
zum Handwerk und die Vermeidung von Monotonie bei Wiederholung immer
gleicher Formen“, beschreibt Gerhard Fehl die Vorgehensweise: „Wegen der im
Siedlungsbau als bedeutsam erachteten Erziehungsaufgabe musste der verwendete Formenschatz auch bei fortgeschrittener Rationalisierung – Typisierung von Grundrissen, Normung von Bauteilen – historisch-landschaftlichvölkisch begründet bleiben.“
S tadt gegebene Häufun g v o n
Statt des Endsieges naht die militärische Niederlage, die bedingungslose
Kapitulation. Das nach dem Angriffskrieg weitgehend zerstörte Land wird
unter den Besatzungsmächten aufgeteilt, die Zukunft ist ungewisser denn
je. Doch entgegen der verbreiteten Ansicht schlägt keine „Stunde Null“. Der
Wiederaufbau wird sich maßgeblich auf Konzepte, Pläne, Vorstellungen
stützen, die in den Jahren zuvor erdacht und – aus welchen Gründen auch
immer – von offizieller Seite befürwortet, gefördert und teilweise realisiert
worden sind. Diese Kontinuitäten sagen natürlich nicht, all die Planer seien
– mehr oder weniger unterschwellig – mit der Nazi-Ideologie einverstanden
Menschen und Arbeitss t ä t t e n s o
z u gesta lten, daß die g e g e n d i e
S ta d t e rhobenen Vor wü r f e en tk räftet werden; das Le b e n d e s
S tädters muß wieder ge s u n d u n d
l ebenswert werden. De r G e d a n k e
d er Stad tlandschaft wi l l d i e s e
F o rd e rung er fül l en.“
W i l h e l m Wo r t i n d e r Z e i t s c h rift
„Rau mfor s c h u n g u n d R a u m ordn u n g “, 1 9 4 1
1932
gewesen. Mehr als eine These dürfte es sein, dass viele sich als Fachleute
verstanden haben, die sich technokratisch auf scheinbar objektive, wissenschaftlich verifizierte Kriterien berufen.
„ Asyl für Obdachlose. – W i e e s
mit dem Privatleben he u t e b e s t e l l t
i st, ze ig t sein Schaupl at z an . E i ge ntlic h kann man übe r h au pt n i ch t
Der tägliche Hunger wird durch die Vergabe von Lebensmittelmarken geregelt
und gelindert, aber nicht gestillt, während der Schwarzmarkt blüht, auf dem
getauscht wird oder bezahlt in der Zigarettenwährung. Hermann Glaser wirft in
seinem Buch „Deutsche Kultur 1945 – 2000“ einen Blick von oben: „Auch wenn
Luftaufnahmen zerstörter Städte kaum vermuten lassen, dass in den Kraterlandschaften und ausgebrannten Häuserzeilen noch Menschen lebten – sie
lebten dort, lebten wieder dort […].“
mehr wohnen. Die trad i t i o n e l l e n
Eine Statistik besagt, dass 50 Prozent aller Wohnungen mit zwei Haushalten
belegt sind. Wohnungen? Oft ist einzig der Keller bewohnbar. Eine halbwegs
taugliche Bleibe – Kategorie „Notwohnungen“ – mag in einem Behelfsheim
oder einer Baracke, in einem Bunker oder einer Wohnlaube, in einer Bretterbude oder in einem Wohnwagen zu finden sein. Oder man bekommt Unterkunft in einer jener Nissenhütten zugeteilt, ein Provisorium aus Wellblech mit
halbrundem Dach. Die Kategorie „Unterkünfte“ umfasst Lager, Fremdenheime,
Gasthäuser, Turnhallen. Wer das Glück hat, dass seine Wohnung erhalten geblieben ist, der trifft auf Fremde, die dort untergebracht worden sind.
Weitere Zahlen, welche die Not lediglich abstrakt und unzulänglich andeuten:
In der britischen Zone, bestehend aus den späteren Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hamburg, sind 1946 rund
ein Drittel der etwa 22 Millionen Einwohner Flüchtlinge und Vertriebene. Im
Rahmen der „Zwangswirtschaft für Wohnraum“ verfügt die Militärverwaltung,
dass alle Häuser, die nicht mehr als 60 Prozent zerstört sind, instandgesetzt
werden sollen.
Wo hnungen, i n denen w i r groß gewo rd e n sind, haben etw as
Unerträgliches angeno m m e n :
j eder Zug des Behagen s d a r i n i s t
mit Ve rrat an der Er kenn tn i s , j ed e Spur der Geborgenh e i t m i t d e r
muffigen Interessengem e i n s c h a f t
de r Fa m ilie bezahlt. Die n eu s ach l i chen, die tabula rasa g e m a c h t
h aben, sind von Sachve r s t ä n d i g e n
f ür Banausen angeferti g t e E t u i s ,
o der Fabrikstätten, die s i c h i n d i e
Ko ns um sphäre ver ir r t h aben , oh n e alle Beziehung zum B e w o h n e r :
n o c h d e r Sehnsucht na ch u n abh ä ng ig e r Exi stenz, die es oh n eh i n
n ic ht m ehr gi bt, schlag en s i e i n s
der Wiederaufbau wie eine
Lichtjahre entfernte Utopie. Einhundert Jahre werde es dauern, bis Deutschland wieder aufgebaut wird, meint Walter Gropius, der 1948 aus der Emigration
anreist. Was also ist zu tun? Wie sind die dringlichen Bedürfnisse zu stillen?
Scheinbar unversöhnlich, sind sich die traditionelle und die moderne Schule
unter den Stadtplanern und Architekten insoweit einig, dass sie die Gründerzeitstadt aus dem 19. Jahrhundert „mit ihren licht- und luftlosen Hinterhöfen“
ablehnen. Sie ist zum „Schreckensbild der Vergangenheit“ geworden und soll
„auf keinen Fall mehr auferstehen“, schreibt der Herausgeber Hans-Reiner
Müller-Raemisch in dem Vortragsband „Leitbilder und Mythen in der Stadt-
Unter diesen Umständen erscheint vielen
G e sic ht. […] Es gibt ke i n r i ch ti ges
L e b e n im fal schen.“
Th e o d o r W. A d o r n o , M i n i m a Moralia,
1 944/1951
Die Städte liegen in Trümmern, viele sind durch die Bombenangriffe zu weit mehr als der Hälfte zerstört, zahllose Tote sind zu beklagen. Die
Evakuierten kehren nun in Massen zurück, und auch die ersten Flüchtlinge
und Vertriebenen verschlägt es in die Städte, sowie die Soldaten, die nicht in
Gefangenschaft geraten sind.
1933
planung 1945 – 1985“. Doch schon bei der Frage
„Baublock oder Zeile“
trennen sich die Ansichten: „der Block mit der alten Korridorstraße war die
Sache der Traditionalisten, der Zeilenbau mit dem ‚fließenden Raum‘ die der
Modernen.“
Da die Verwirklichung lebenserfahrungsgemäß anders ausfällt als die Theorie es
sich wünscht, Geldmangel und Wohnungsnot dazu zwingen, auf Ideallösungen
zu verzichten, gestaltet sich auch die Epoche der Nachkriegszeit komplexer,
mit breiten Variationsspielräumen einerseits, andererseits herrscht auch in
dieser Phase die architektonische Gewohnheit: einfache Neubauten schließen
die zahlreichen Lücken und werden für das Stadtbild bestimmend. Und dass
die Besitzverhältnisse von Grund und Boden stets eine Gretchenfrage darstellen, im Großen wie im Kleinen Vorgaben oder Änderungszwänge erfordern,
ist obendrein gewiss. Dennoch lässt sich verallgemeinernd von einer parallel
verlaufenden Stadtplanung in der Bundesrepublik sprechen: die „Innenstädte
mit ihren festgefügten Parzellengrenzen und ihrem noch vorhandenen intakten Straßennetz für die ‚Traditionalisten‘, die großen Neubausiedlungen auf der
grünen Wiese für die neuen Formen der ‚Modernisten‘.“
„ Bauen und Denken sin d j e w e i l s
n ach ihrer Art für das Wo h n e n
u numgänglich. Beide s i n d a b e r
auc h unz ulänglich für d as Woh n en ,
s olange sie abgesonde r t d a s I h re
b etreiben, statt aufeina n d e r z u
h ören. D ies vermögen s i e , w e n n
be id e , B auen und Denk en , dem
Wohnen gehören, in ihre n G re n z e n
b leiben und wissen, da s s e i n e s
wie das andere aus der We r k s t a t t
e iner langen Erfahrung u n d
republik der Wohnungsbau einen steilen Anstieg. Die Wohnungsbaugeschichte in der DDR entwickelt sich unter abweichenden Ausgangslagen auf unterschiedliche Weise, sie zu schildern bedürfte einer gesonderten Darstellung.
Auf dem Territorium der BRD tritt das Erste Wohnungsbaugesetz am 24. April
1950 in Kraft, schon Mitte der 1950er Jahre werden – jährlich! – mehr als eine
halbe Million Wohnungen geschaffen, überwiegend im Rahmen des sozialen
Wohnungsbaus, der wiederum von gemeinnützigen und teils neu gegründeten
kommunalen Gesellschaften getragen wird. Dies ist noch nicht der Höhepunkt.
Als Konrad Adenauer, Bundeskanzler seit der Gründung, 1963 zurücktritt, werden es in dem Jahr mehr als 600 000 Wohnungen sein. Nunmehr wird der Wiederaufbau Westdeutschlands als nahezu abgeschlossen betrachtet. Das Bauen
unter dem Diktat des Mangels ist endgültig passé.
Bemerkenswert sind die Bedingungen
der staatlichen Objektförde-
rung, die der Bauherr einzuhalten hat, möchte er die angebotenen zinslosen
oder zinsgünstigen Darlehen für sein Vorhaben in Anspruch nehmen, wie dem
Band „Wohnkultur in gesellschaftlicher Verantwortung“ zu entnehmen ist: In
den Auflagen verlangt der Kreditgeber eine schlichte und funktionale Ausstattung, eine Wohnungsgröße zwischen 32 und 65 Quadratmetern und einen von
0,60 bis 1 Mark pro Quadratmeter betragenden Richtmietzins. Viertens dürfen
die Mieter ein bestimmtes Einkommenslimit nicht überschreiten, das unter der
Verdienstgrenze in der Angestelltenversicherung liegt. Fünftens üben die kommunalen Wohnungsämter ihren Einfluss auf die Vergabe der Sozialwohnungen
aus, indem sie Berechtigungslisten zusammenstellen, aus denen der Bauherr
seine Mieter auszusuchen hat. Sechstens schließlich erhalten die Mieter einen
besonderen Kündigungsschutz.
Obschon die Auflagen den Gestaltungsspielraum merklich einengen, erhöhen
sie gleichzeitig den Standard: Fernheizung, ein eigenes Bad und ein Kinderzimmer sind dazumal keineswegs selbstverständlich.
Ein
we
bis
wie
wir
u na b lä ssi gen Übung ko m m t . “
M ar tin H eid e g g e r, B a u e n Woh n en D en ken ,
1 951
Im Anschluss an die Währungsreform im Juni 1948 und nach
Gründung der beiden deutschen Staaten ein Jahr später nimmt in der Bundes-
1934
Ein Aspekt aus der Legislative: Während im erwähnten Ersten Wohnungsbaugesetz das Augenmerk auf „die Wohnraumbeschaffung für die Heimatvertriebenen und die übrigen Bevölkerungsgruppen“ gelegt wird, die ihre Wohnungen
„durch Kriegsfolgen verloren“ haben, formuliert 1956 das Zweite Wohnungs-
1935
„ D ie g a n ze Mater i e Stadt en t w i ckl ung seit dem Kriege is t l e i d e r s o
v erworren und komplex , d a s s m a n
da rüb e r gar nicht genug di s ku t i eren kann, um etwas Lic h t i n d i e
Ha n s - R e i n e r M ü l l e r- R a e m i s ch,
Wenig später steuert Reichow ein weiteres Standardwerk zu den herrschenden
Debatten bei: „Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Ver-
M är z 1989
kehrs-Chaos“ erscheint 1959. Zudem erhält das kommende Jahrzehnt
S a c he zu br i ngen [...]“
nhundert Jahre
erde es dauern,
s Deutschland
eder aufgebaut
rd.
baugesetz das Ziel, Wohnraum für „die breiten Schichten der Bevölkerung“ zu
schaffen und löst einen Bau-Boom für Eigenheime von Familien mit geringerem
Einkommen aus.
Das erste und einflussreiche Lehrbuch des Städtebaus in
der Bundesrepublik erscheint 1948 unter dem Titel „Organische
Stadt-baukunst“, dessen Ziel, eine Versöhnung von Stadt und Natur, mit dem
Unter-titel „Von der Großstadt zur Stadtlandschaft“ formuliert ist. Der Autor
Hans Bernhard Reichow ist 1940 durch sein städtebauliches Konzept für Stettin,
in dem er bereits den Plan einer „Stadtlandschaft“ entwickelt, in Fachkreisen
bekannt geworden.
Noch während der NS-Zeit hatte Konstanty Gutschow, mit der Neugestaltung
Hamburgs beauftragt, Reichow als Gutachter für die städtebaulichen Planungen
hinzugezogen: „Gemeinsam entwickeln sie dort das Konzept einer stadträumlichen Gliederung in einzelne Siedlungszellen fort, für deren Größenbemessung
die NS-Ortsgruppe zugrunde gelegt wird“, fasst Jan Lubitz auf der Web-Site architekten-portrait.de zusammen. Nach dem Krieg realisiert Reichow neben vielen
anderen Projekten von 1954 an bis in die frühen 1970er Jahre eine beispielhafte
Großsiedlung „auf der grünen Wiese“ für 30 000 Einwohner, die Sennestadt in
Bielefeld: Das Rathaus als Turmhaus am See, weitere Hochbauten korrespondieren mit der Landschaft und der Topografie. Als ein Merkmal erschließt ein kreuzungsarmes, mit Grünflächen durchzogenes System aus Stich- und Sammelstraßen die Siedlung, die Verkehrsflächen für Fußgänger, Radfahrer und Autos sind
voneinander getrennt – „organische Wachstumsgesetze“, auf die Stadtstruktur
übertragen. Bereits in der Planung werden zudem verschiedene Wohnformen
berücksichtigt, um eine gemischte Bevölkerungsstruktur zu erreichen.
In mikroskopischer Größe wird der Stadtplan von Sennestadt 1956 zusammen
mit fünf anderen auf der Briefmarke für den XXIII. Internationalen Kongress für
Wohnungswesen und Städtebau in Wien verewigt. Via Google Earth kann man
inzwischen den vorgeblich realistischen Blick aus der Vogelperspektive auf die
Siedlung werfen. Die geschwungenen Linien der Straßen, die bestimmenden
Grünanlagen, der hufeisenförmige See – Boten, Restbestände, Halluzinationen
einer das Organische nachahmenden Struktur.
damit ein schlagkräftiges Motto für die nächste Phase der bundesrepublikanischen Stadtentwicklung.
1956 sind in der Bundesrepublik etwa 1,3 Millionen PKW und etwa eine halbe
Million LKW zugelassen. Es werden über 12 000 Menschen im Straßenverkehr
getötet und mehr als 360 000 Menschen verletzt. Diese Zahlen bedeuten eine
viermal höhere Todesrate je Fahrzeug als die in den USA. Im Jahre 2008 – es sind
mehr als 40 Millionen PKW zugelassen – wird die Zahl der Verkehrstoten auf
etwa 4 600 gesunken sein.
Ein anderes Schlagwort liefert ein thematisch dem Erstling Reichows verwandtes, 1957 publiziertes Fachbuch im Nachhinein. Es trägt den Titel „Die
gegliederte und aufgelockerte Stadt“ und ist verfasst von Johannes
Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann, eine Arbeit, wie es im Geleitwort heißt, die „bereits im Zweiten Weltkrieg abgeschlossen war“. Einige Zeilen
aus dem Buch: „Ist der Stadtkörper durch und durch gesund, so werden auch
die in ihm lebenden und ihn bildenden Menschen gesunden Sinnes sein.“ Mithin sind wesentliche Züge der planerischen und architektonischen Diskussion
bis um 1960 längst vor dem Kriegsende vorbereitet worden, zugleich ist darin
gespiegelt die weiter oben erwähnte „Charta von Athen“ der Gruppe CIAM, stellvertretend für bestimmende Linien der Stadtplanung in einem Großteil der
westlichen Staaten.
„Die sogenannten ‚organischen‘
Systeme kö n n en sich n ich t an passen. Sie sind Verfestigungen
von Augenblickszuständen, die
de r Bewo h n ersch aft kein e Wah lmöglich keit o ffen lassen . Demgegenüber bieten Gebilde, die
w e it wen ig er ‚o rg an isch ‘ au ssehe n, ein e viel g rö ß ere Au stau sch und Verflech tu n g smö g lich keit.“
L. Bu rc k h a rd t , 1 9 6 2
1936
Mustergültiges präsentiert die Bauausstellung auch in puncto Inneneinrichtung. Einbauküchen und Einbauschränke für den sozialen Wohnungsbau
werden vorgestellt, Regalsysteme in zerlegbaren Elementen sowie Kunststoffe
im Wohnbereich. Leichte, kleinere Möbel zieren den Wohnraum, aus dem die
Deckenlampe verbannt und durch Steh- und Tischlampe ersetzt wird.
1957, im selben Jahr als das Buch erscheint, wird zur feierlichen Eröffnung der
Internationalen Bauausstellung in (West-)Berlin die Komposition „Perspek-
tiven I“ op. 55 für großes Orchester von Max Baumann zu Gehör
gebracht. Im Rahmen eines Wettbewerbs haben namhafte Architekten, darunter Alvar Aalto, Egon Eiermann, Le Corbusier, Oscar Niemeyer, Walter Gropius,
mit ihren Entwürfen das südliche Hansa-Viertel gestaltet – klare, ornamentlose
Architektur in gegliederten, aufgelockerten Raumkompositionen. Ausblicke
und Einblicke für die „Stadt von morgen“, lautet die Botschaft an die Zeitgenossen, die zugleich wie eine Antwort auf das aufwändige Projekt namens
Stalinallee im Osten der Stadt zu verstehen ist, als Symbol für die freiheitliche
westliche Gesellschaft. Wie in einer Leistungsschau werden die unterschiedlichen Wohnungsbautypen vorgeführt: hoch aufragende Punkthochhäuser,
acht- bis zehngeschossige Scheibenhochhäuser, Zeilenbauten, Mehrfamilienund Einfamilienwohnhäuser, rhythmisch eingeordnet in eine begrünte Landschaft, während Restaurants, Läden, Kino und U-Bahnstation in niedrigen
Flachbauten zentral untergebracht sind.
Leitbilder sind Mythen sind Entwicklungslinien sind Moden
sind ... Werden die 1950er Jahre des „Wirtschaftswunders“ retrospektiv in Enge und Muff porträtiert, in Biederkeit und Tristesse, entfaltet sich im Anschluss
allmählich eine Ära der Unruhe, des Umbruchs und Aufbruchs,
die späterhin in den zahllosen Facetten der 68er-Bewegung vielen geradezu
bedrohlich erscheint, zumal der Soundtrack mit Songs von den Beatles, den
Rolling Stones und Jimi Hendrix in den Ohren dröhnt.
Als Ende 1970 – der Krieg in Vietnam wird noch fünf Jahre dauern – im Frankfurter Westend erstmals Häuser besetzt werden, die trotz Wohnungsnot leer
stehen – ein Zustand, der nicht bloß für die Bodenspekulanten lukrativer ist
– rüttelt auch das an den Grundfesten der Republik.
Doch in weiten Teilen der Bevölkerung währt der Fortschrittsglaube und wird
einmal mehr bestätigt, als der Erdbewohner Neil Armstrong 1969 die ersten
Schritte auf dem Mond hüpft. Die unscharfen Live-Bilder, die zugleich den Sieg
des Westens im Wettlauf ins All propagieren, flimmern und rumpeln wie eine
beinahe schon rückwärtsgewandte Metapher für Planbarkeit des schier grenzenlosen Gelingens.
Neue Baustoffe wie Stahlbeton, neue Konstruktionsarten wie
Schotten- und Kastenbauweise ermöglichen es, die Außenhaut frei von konstruktiven Zwängen zu gestalten. Eines der Ergebnisse sind sparsame, dennoch
unkonventionelle Wohnungsgrundrisse.
In vielen Häusern reichen die Wohnungen über anderthalb oder zwei Stockwerke. Ein genauer Blick von außen entdeckt in den Fassaden mit ihren verspringenden Geschosshöhen, mit Balkonen unterschiedlicher Breite und Zuordnung, mit Laubengängen oder offenen Treppenhausabsätzen die komplexe
innere Struktur der meisten Wohngebäude.
Zwei Jahre zuvor hat Vizekanzler Willy Brandt während der Funkausstellung
in West-Berlin auf einen roten Knopf gedrückt: Nach und nach wird das Farbfernsehgerät zum Mittelpunkt im bundesdeutschen Wohnzimmer, zumal endgültig als Massenprodukt anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 1974, die der
Gastgeber trotz mancher Schwächen am Ball gewinnt.
Der finnische Architekt und Designer Alvar Aalto führt den „Allraum“ ein, ein
vielseitig nutzbarer Wohn-, Arbeits- und Spielbereich im Mittelpunkt der Wohnung – Flexibilität, Helligkeit, Leichtigkeit, Transparenz lauten die Schlüsselworte. Wenig später wird Aalto im Bremer Stadtteil Neue Vahr für die Neue
Heimat ein 65 Meter hohes Wohnhaus entwerfen, das zum Wahrzeichen der
Siedlung und 1998 unter Denkmalschutz gestellt wird.
Dem kollektiven Jubel war ein herber Schock vorausgegangen, der Boykott der Ölförderländer. An vier Sonntagen im November
und Dezember 1973 hatte die Bundesregierung ein Fahrverbot verhängt, weil
1937
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br
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nruhe,
es Umruchs
nd Aufruchs
die Erdöl exportierenden Länder ihre Lieferungen gedrosselt und somit den
Preis verteuert hatten. Die graue Ödnis auf dem Meer aus Schnellstraßen und
Autobahnen dient eher als moralische Geste als dass sie ökonomischer Notwendigkeit entspringt. Gleichwohl illustriert sie eine Zäsur, die kurz zuvor ein
„Bericht zur Lage der Menschheit“ des Club of Rome auf einen Nenner bringt: „Die
Grenzen des Wachstums“.
Quintessenz“ von Salins Überlegungen beschreibt Eisinger so: „Lebensweisen
und Mentalitäten können nicht einfach als Resultanten bestimmter baulicher
Konfigurationen verstanden werden, sondern verhalten sich dazu kontingent.
[…] Dichte und Durchmischung erhöhen zwar die Intensität und Häufigkeit von
Kontakten, können aber einzig die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltensweisen erhöhen, programmieren aber lassen sich diese nicht.“
Wo
bau
als
Fam
„ J a mach n u r ein en Plan / sei n u r
Doch zunächst die Rückblende und ein Schwenk in die Zunft der Architekten
und Stadtplaner. Zu Beginn der sechziger Jahre legen sie die Schlagwörter Gliederung und Auflockerung zu den Akten. Vehement lehnt der mehr oder minder
öffentliche Diskurs die Trennung der vier Funktionen Arbeiten, Wohnen, Erholung, Verkehr und die dadurch „hervorgerufenen Defizite an Erlebnismöglichkeiten“ ab (H.R. Müller-Raemisch). Stattdessen prägt den Zeitraum bis Mitte der
1970er Jahre das Label „Urbanität durch Dichte“.
Der schillernde Begriff findet Eingang in die Diskussionen um die Entwicklung
der Stadt, während der Bauboom weiterhin aufwärts zeigt. Unter dem Titel „Urbanität“ hält der Volkswirtschaftler und Soziologe Edgar Salin auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags 1960 einen Vortrag, der unter den versammelten Architekten, Planern und Politikern auf erhebliche Resonanz trifft.
Weshalb? Wie der Städtebauhistoriker Angelius Eisinger die Ausgangslage beschreibt, wird um 1960 in Fachkreisen „unumwunden zugegeben, mit den vorhandenen architektonischen und städtebaulichen Modellen der Komplexität
der gestellten Aufgabe nicht gerecht werden zu können.“ Endlich glaubt man
nun das fehlende Bindeglied zwischen Architektur und städtischer Gesellschaft
gefunden zu haben, endlich kursiert ein Stichwort für die ersehnte Vielfalt im
städtischen Leben, deren Mangel offenkundig ist. „Auf die griffige Formel von
der ‚Urbanität durch Dichte‘ gebracht, postulierte man eine Neuausrichtung
des städtebaulichen Denkens, das an die Stelle des formalen Schematismus
räumlich-funktionaler Trennung und simpler wohnsoziologischer Konzepte
Durchmischung und höhere bauliche Dichten setzte.“
Ein Missverständnis insofern, als Salin durchaus nicht für die bauliche Verdichtung per se votiert. Das Publikum habe „ein wesentliches Moment in Salins
Argument übersehen, das bis heute wenig beachtet“ werde. Die „fundamentale
1938
ein großes Licht / und mach dann
noc h ´ n en zweiten Plan / g eh ‘n tu n
si e beid e n ich t …“
B ert o lt Bre c h t , „ Ba lla d e v o n d e r
U nz ulä n g lic h k e it m e n s c h lic h e n St re b e n s “
Wagemutig streben die Planer und Architekten im Verbund mit der Bauindustrie
und der Wohnungswirtschaft erneut an den Rand der Städte, wo mancherorts
Siedlungen entstehen, deren schiere Größe einem beinahe
den Atem verschlägt. Bauherren sind häufig die gemeinnützigen und
kommunalen Wohnungsgesellschaften, denn sie sind es, die die Herausforderung zu bewältigen wissen.
Zwar sind die Hochhäuser – in Scheiben, in Stufen, als Punkte – rhythmisch
strukturiert und durchdacht gegliedert, im Wechsel mit Grünanlagen und unweit der vierspurigen Autobahn perfekt, effizient und praktisch, sozusagen
theoretisch und am Reißbrett einwandfrei, leider jedoch in Dimensionen, die
die vertrauten Maßstäbe sprengen. Unwillkürlich gerät eine Variante des herrschenden Schlagworts in den Sinn: „Rentabilität durch Dichte“.
Die Maßstabsvergrößerung, die baulichen Großformen, die Stapelung und
Verdichtung im Wohnungsbau der Industrie- und Schwellenländer sind aus
mancherlei Gründen zu empfehlen, heißt es. Ein Motiv für die Ausmaße wird
gespeist von den Prognosen: Die Einwohnerzahl wächst und wächst und
wächst. Erst nach 1965, nach dem „Pillenknick“, sinkt die Geburtenrate in der
BRD. Die Größe der Siedlungen beruht außerdem auf der simplen Berechnung,
dass die sogenannten Versorgungsinseln andernfalls weder konkurrenzfähig
noch lohnend seien – Ladenzentren, Kindergärten, Schulen, Post, eine Bücherei
beispielsweise. Auch der Anschluss an das Netz des öffentlichen Nahverkehrs
ohnungsupolitik gilt
s ein Teil der
milienpolitik.
sei nur dann zu verantworten. Um die Trendwende von der ökonomischen
Warte aus zu verallgemeinern: „Die anhaltende Konzentration von Kapital
bringt neue Wirtschafts-, Produktions- und Handelsformen hervor und verlangt
auch in der Stadtplanung die Einführung von baulichen und städtebaulichen
Großformen.“ (H.R. Müller-Raemisch)
Zu den Trabantenstädten, in der öffentlichen, mithin phrasenhaften Meinung
einige Jahre später gleichbedeutend mit Brennpunkten für Probleme und
Spannungen, gehören die Gropiusstadt in Berlin und Osterholz-Tenever in
Bremen. Ein weiteres, vergleichsweise harmloses Beispiel schildert Siegfried
Trogisch kenntnisreich in dem Buch „Ansichtssache“ zur Städtebaugeschichte
Wolfsburgs: Westhagen, ein Stadtteil direkt an der A39 mit knapp 9 000 Einwohnern, dem der Volksmund den Spitznamen „Unbehagen“ verpasst.
Gleichwohl, das miese Image der Großsiedlungen ist nicht lediglich den baulichen Fakten geschuldet, sondern auch der mangelhaften Mischung sozialer
Schichten ihrer Bewohner, leidet zudem darunter, dass Vorurteile sich gern
durch die mediale Übertragung bestätigen lassen: Ein Prozess, für den das Wort
von der Abwärtsspirale verwendet wird.
In die Zentren nicht nur der größten Städte drängen Kaufhäuser
und Bürotürme. Der aufstrebende tertiäre Sektor, worunter Verwaltung, Handel
und Dienstleistung zu verstehen sind, benötigt Flächen und trifft auf willige
Kommunen, die ihre Etats vorwiegend aus dem Gewerbesteuertopf schöpfen.
Teils wird flächendeckend abgerissen, was nicht mehr passt oder was dem Autoverkehr aus den Randgebieten im Wege steht. Die Kritiker, die häufiger Gehör
finden, sprechen von „Kahlschlagsanierungen“.
ihrem Plädoyer für das sogar zuweilen chaotische Geflecht der Funktionen
trifft sie die Unzufriedenheit und Enttäuschung vieler, die das Verschwinden
ganzer Viertel beklagen und als Verlust empfinden.
1963, im Jahr der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy, erfährt man
auch auf Deutsch vom „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ und es
sorgt für Furore. Wenig später veröffentlicht der Publizist Wolf Jobst Siedler
das Buch „Die gemordete Stadt: Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum“.
Das Quartett der maßgeblichen Veröffentlichungen komplettiert 1964 der
Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der bald als einer der geistigen Väter
der 68er-Generation gelten wird: „Die Unwirtlichkeit unserer Städte.
Anstiftung zum Unfrieden“.
In wechselnden Geschwindigkeiten sinken die Wohnungsbauleistungen der
gemeinnützigen Unternehmen bis fast in die Mitte der siebziger Jahre. Liegt
der Anteil bei den Neubauten insgesamt zwischen 1949 und 1959 noch bei etwa
einem Drittel, so wird er in den Jahren 1980 bis 1989 auf 8,5 Prozent fallen, vor
allem, weil die staatliche Förderung schwindet.
Wohnungsbaupolitik gilt als ein Teil der Familienpolitik. Was der oberste
Dienstherr Paul Lücke, Bundesbauminister von 1957 bis 1965, mit dem Begriff
Familie verknüpft, nimmt sich heute bizarr aus: „Sein Ideal“, so ist es dem Band
„Wohnkultur in gesellschaftlicher Verantwortung“ zu entnehmen, „war das
kleine Einfamilienhaus mit Garten, dem er das abschreckende Beispiel der
städtischen Mietskasernen gegenüberstellte, da die Mietwohnung seiner
Meinung nach den Willen zum Kind töte und zur Empfängnisverhütung, Abtreibung und Entsittlichung und damit zum ‚biologischen Volkstod‘ zwinge.“
Jenes
Die Reihe der Veröffentlichungen, die Einfluss auf den öffentlichen Diskurs
nicht allein unter den Fachleuten nehmen, beginnt 1961, im Jahr des Mauerbaus, mit dem Buch „Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum
Städtebau“ von Hans Paul Bahrdt. Im selben Jahr erscheint in den USA unter
dem Titel „The Death and Life of Great American Cities“ eine Streitschrift, mit
der die Autorin Jane Jacobs, eindringlich gegen die Flächensanierungspolitik
protestierend, sich für den Erhalt der gewachsenen Strukturen einsetzt. Mit
1939
Einfamilienhaus mit Garten können sich mehr und mehr Bür-
gerinnen und Bürger leisten, so dass einerseits „am Rande der Städte immer
größere, höhere, und dichtere Betongebirge und zugleich breiig auseinanderfließende Einfamilienhausgebiete“ entstehen, wie Tilman Harlander in Band
5 der „Geschichte des Wohnens“ die Entwicklung zusammenfasst. Für diejenigen, denen der individuelle Entwurf zu kostspielig ist, bietet sich in nächster
Zukunft das Fertighaus an. Für welches man sich entscheidet und inwieweit
das Modell anzupassen wäre, dafür zieht man den Katalog zurate und besucht
anschließend das Musterhaus.
1940
Anfang der sechziger Jahre verbessert sich der Wohnstandard, als Typus
entstehen vorwiegend 3- bis 4-Zimmer-Wohnungen. Betrachten wir die bescheidenere Version. Den beiden Kindern der Familie Mustermann wird gewöhnlich das kleinere Zimmer zugeteilt, in das etwas geräumigere ziehen sich die
Eltern zum Schlafen zurück – die Scheidungsrate spricht noch nicht von einer
bedrohten Idylle. Dazu das Wohnzimmer, „die gute Stube“, dessen Nutzung
in manchem Haushalt dem Sonntag vorbehalten ist, sowie eine funktionale
Küche. Immerhin. Allerdings mangelt es nach wie vor nicht selten an einer
Heizungsinstallation, die ohne Probleme funktioniert.
Zum Ende der 60er Jahre ziehen wir ein rechnerisches Fazit, dass nämlich der
Bedarf an Wohnungen fast gedeckt ist. Wohlgemerkt: rein rechnerisch.
„ D a s Auto hat die S täd t e z er s t ör t
u nd unbewohnbar gem a c h t , a b e r
d ie Zerstörung bewirkt e d i re k t e
die schwebenden und sich türmenden, gestapelten und gefrästen Radikalräume“ und vermisst, nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts, diesen „Erfindungsgeist, diese Raumdenkerfreude, das Aufregende, Bewegende, Grundlegende,
das Neugierige“, das ausnahmslos aus der Architektur und ihrer Theorie gewichen sei. Pars pro toto sei der Architekt Eckhard Schulze-Fielitz genannt, der
1954 im Wettbewerb um den Bau des niedersächsischen Landtags in Hannover
einen Preis erhalten hatte. Er entwirft seine „Raumstadt“ als „Mega-
struktur“ und verfasst dazu ein Manifest: „Die perfekte Planung der Stadt
ist in einer freien Gesellschaft weder möglich noch wünschenswert, sie bedeutet Festlegung auf Entwicklungen, die nicht vorhersehbar sind. Raumstadt
dagegen ist eine der Entwicklung folgende Agglomeration von verschiedenen
Raumstrukturen, der Duktus der Struktur lenkt die unvermeidliche Wucherung
in geordnete Bahnen, die Freiheit liegt in den unendlichen Möglichkeiten der
Kombination“, wodurch das grundsätzliche Dilemma „zwischen der Dynamik
des städtischen Lebens und der Statik des Gebauten“ gelöst werden könne.
u nd indirekte Arbeitsbe s c h a ff u n g
A us m a ß en. […] In der H au s ord-
Die architektonische Avantgarde umkreist drei Schlagworte, ohne die heute
kein Gespräch über das Wohnen geführt wird: Flexibilität, Mobilität,
n ung d e s Par adieses ( un s eres
Multifunktionalität. Michael Webb, ein Mitglied der Londoner Gruppe Ar-
Wirtsc haftswunder s) hat der
chigram, entwirft 1966 einen Wohnraum-Anzug namens „Cushicle“, aus dem er
einen Nachfolger entwickelt, den „Suitaloon“. Mit dem Slogan „comfort for two“
sieht man auf den Anschauungsblättern im Ergebnis ein pneumatisches Heim
für zwei. Angeschlossen an einen Motor auf Rädern, ist es sogar als Kraftwagen
zu verwenden.
Die Architektengruppe Coop Himmelb(l)au aus Wien, die vier Jahrzehnte später mit der spektakulären „BMW Welt“ in München einen Blickfang erschaffen
wird, packt 1968 ihre „Villa Rosa“ mit eingebautem Luftmatratzenbett in einen
Koffer. Ob in skizzierten Utopien oder in der Realität – der Begriff der Mobilität kann ausgesprochen Verschiedenartiges meinen, in diesem Fall Auto oder
Koffer.
v on ungeheuren, unübe r s e h b a re n
Mensch noch nie so ein s a m , s o
h ilflo s, so fr uchtlos, so n ach
alle n Se iten und Kante n i di ot i s ch
ge le b t.“
Go d y S u t e r, „ D i e g ro ß e n S t ädte. Was sie
zer s tör t u n d w a s si e re t t e n kan n “, 1 9 6 6
Parolen aus dem Vokabular der 68er-Bewegung lauten „Unter dem Pflaster liegt
der Strand“ und „Phantasie an die Macht“, Kunst und Kultur jener Zeit
tummeln sich in einem alliterierenden Dreieck aus Politik, Pop und psychedelischen Projekten, indes Stanley Kubrik für Andrang in den Kinos sorgt mit dem
Science Fiction-Epos „2001 – A Space Odyssey“.
Schauen wir uns einige der fantastischen Visionen des Bauens und Wohnens an.
In der Ausstellung „Megastructure Reloaded“ in Berlin, die sich 2008 mit jenen
visionären Stadtentwürfen befasst, sieht der Journalist Niklas Maak begeistert
ein „Reservoir an unrealistischen und poetischen und wahnwitzigen Ideen,
1941
In den Niederungen des Alltags gärt es indes an mehr und mehr Orten
und aus mehr und mehr Anlässen oder Gründen, als vom Beginn der 1970er
Jahre an gesellschaftliche Schwingungen angefacht werden von einer Vielzahl
sozialer Bewegungen. An Utopien, an Ideologien herrscht kein Mangel, nicht
1942
Ko
ke
Klo
minder aber auch an neuartigen Ansätzen und Aktionen, an praktischen und
produktiven Eingriffen. Anti-Atomkraftbewegung, Friedensbewegung, Frauen-,
Schwulen- und Lesbenbewegung, Bürgerinitiativbewegung, „Dritte Welt“Initiativen, Bewegung gegen Berufsverbote und Volkszählung, Jugendzentrumsbewegung, esoterische Bewegungen und so fort.
Um sich dem Wohn-Alltag zu widmen, greifen wir ein anderes Zeitdokument
aus dem Archiv, in diesem Fall eine 1974 publizierte Anthologie mit dem Titel:
„In den Häusern, von den Häusern und um die Häuser herum. Wohnen“.
Gleich in den ersten Sätzen des Vorworts möchte die Herausgeberin Gisela
Stelly effektvoll die Alarmbereitschaft der Leser aufrufen: „Bauskandale,
Mietskandale, Wohnen als Skandal, Architektur als Skandal – aber der
Bewegung von unten – In einem Aufsatz über die 1970er Jahre trifft
Skandal blieb aus, bleibt aus. Skandalös werden die Verhältnisse genannt, wie
ihre Wortmelodie bleibt diese Einsicht operettenhaft folgenlos.“Eine Sichtweise auf diese „Skandale“ spricht Jens Friedemann in seinem AnthologieBeitrag „Wohnungen, die keiner will“ an:
„Schockierende Tatsachen deckte kürzlich das Bonner Städtebauinstitut auf.
Zwei Drittel aller Bundesbürger leben zur Zeit in unzureichenden Wohnverhältnissen. Fünf Millionen Wohnungen – fast ein Viertel des gesamten Bestandes
– besitzen kein Bad, keine Sammelheizung und größtenteils noch nicht einmal
Innentoilette. Was in den Nachkriegsjahren in Notprogrammen aus dem Boden
gestampft wurde“ beklagt der Autor, sei „inzwischen teilweise baufällig oder
sanierungsbedürftig. Ganze Stadtteile – kaum 20 Jahre alt – müssten abgerissen
werden.“
Im selben Atemzug hätte man auch auf sanierungsbedürftige Alt-
Hans-Reiner Müller-Raemisch die grundlegende Veränderung jener Zeit: „Als
Antwort auf die rein technische und scheinbar unpolitische Zielsetzung der
Stadtplanung versuchte die neue außerparlamentarische Opposition, Hintergründe von Macht und Herrschaft aufzuzeigen und die Bürger zum Protest
dagegen aufzurufen.“ Gestaltungs- und Nutzungsfragen werden nunmehr nicht
von politischen Fragestellungen getrennt. Protest aus guten Gründen: Gegen
die Verdrängung der Wohnbevölkerung aus den Innenstädten, Protest gegen
das Verschwinden billigen Wohnraums, Protest gegen die großflächige Sanierung und den weiterhin wachsenden Autoverkehr, Protest gegen die Umweltverschmutzung einer „Wegwerfgesellschaft“ wider besseren Wissens.
„Der Traum von der ‚großen Form‘ muss deshalb scheitern, weil die Macht, die
solche Realisationen ermöglicht, nicht mehr legitim ist“ schreibt der Architekt Josef Lehmbrock im Katalog der Ausstellung „Profitopolis oder Der
Mensch braucht eine andere Stadt“, die er zusammen mit Wend
Fischer 1971 für die Weltausstellung in Montreal konzipiert. „Profitopolis“ wird
zu einer Wanderausstellung und an 140 Orten gezeigt. Die Ausstellung — „eloquent, visuell jedoch kaum prägnant“ — zwinge den Besucher zur „mühsamen
Lektüre ziemlich klein gedruckter Belege zum Elend unserer Städte“, wie ein
Artikel in der Zeit kritisiert.
Wohnung: Quartier, Beh a u s u n g ,
Unterkunft, Bleibe, Log i s , D a c h
ü b e r d e m Kopf, Zimme r f l u ch t ,
S uite, Appartement, Ap a r t m e n t ,
E inzimmerwohnung, Lo f t , F l a t ,
Ma nsa rdenwohnung, D ach w oh n ung , P enthouse, Domi z i l [ …]
A.M . Tex tor, „ S a g e s t re ff e n der“, 1 9 9 6
bauten verweisen können: Kohleheizung, kein Bad, Klo auf halber Treppe.
Was einem Studenten bis Mitte der achtziger Jahre die Chance eröffnet, als
„Restnutzer“ eine 3-Zimmer-Wohnung für umgerechnet 100 Euro zu mieten.
Den Bestand nur nach und nach instand zu halten und zu sanieren hat für die
gemeinnützigen Wohnungsunternehmen einen schlichten Grund: Es erfordert
beträchtliche Summen. Von 1965 bis 1977 steigen die Kosten dafür auf etwa ein
Drittel der Investitionskosten an.
Aus den Protestbewegungen heraus entstehen Bürgerinitiativen, darunter auch
solche mit dem Anliegen oder der Forderung – je nach Heftigkeit der Interessen
–, an der Stadtplanung zu partizipieren, die häufig eine Stadtteilplanung wird,
je konkreter, desto wirksamer: „Small is beautiful“. Gelinde gesagt stößt es unter
den Politikern und Verwaltungsbeamten nicht durchwegs auf Begeisterung,
schließlich versteht der Laie nichts davon, was den Fachmann sein Leben lang
beschäftigt, sonst wäre er ja kein Laie. Dennoch, weniger ironisch formuliert:
Manchen Bürgerinitiativen gelingt es, bestehende Pläne der Verwaltung zu
1943
Tre
ohleheizung,
„ Ic h b in d er Mein u n g , d ie Au fg a-
ein Bad,
ben stellt nicht der Fachmann,
sond er n immer d er L aie; d er F ach -
o auf halber
eppe
mann löst sie. Oder sagen wir
stat t Laie: die Gemeinschaft aller
korrigieren oder gar scheitern zu lassen. „Und es gab“, wie Hans-Reiner MüllerRaemisch hinzufügt, „auch von der Seite der Kommunen initiiert, eine große
Zahl von Versuchen, die Meinungen der Bürger zu erfragen und in die Planung
einzubeziehen.“ Die „Bürgerbeteiligung“ wird 1976 in das Bundesbaugesetz aufgenommen, eine Bestätigung des Wunsches nach einer effektiven Einflussnahme, die, wie sollte es anders sein, gleichwohl bisweilen aus fadenscheinigen
Gründen taktisch genutzt oder gar missbraucht wird.
Nicht nur in den größeren Städten, nicht nur auf Seiten der Bürgerinitiativen
wächst der Wunsch, Alternativplanungen aufzustellen und durchzusetzen, um die vorhandene Bausubstanz, die „Schönheit der alten Ensembles“
zu erhalten. An vielerlei Fronten drückt sich die Besinnung auf bewahrende
Maßnahmen, auf die Pflege oder Rekonstruktion historischer Strukturen aus.
Das wachsende Interesse am Denkmalschutz, an der Rücknahme des Autoverkehrs wenigstens in der Innenstadt oder die Wiederkehr der Passage sind als
Symptome zu werten für einen Rückgriff auf urbane Elemente des 19. Jahrhunderts, wobei es paradox anmutet, dass die alternative Szene mit der größten
Sympathie die Wohnviertel aus der Kaiserzeit verteidigt, reklamiert und bevorzugt. Die Abkehr von dem, was der Architekturhistoriker Heinrich Klotz „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ genannt hat, mag am Rande auch damit zu tun
haben, dass die Zimmerhöhe ein angenehmes, „freieres“ Wohnen evoziert.
Die „Verödung der Innenstädte“ und die „Stadtflucht“ sind zwei Seiten einer
Medaille, ein Wechselspiel dynamischer Prozesse, bedingen einander. Viele Familien sehnen sich nach dem Eigenheim im Grünen, nicht etwa
bloß, weil die Stadt „verödet“ oder sie es sich andernfalls finanziell verbieten
müssen. Übersichtlichkeit schätzen sie sowie die Nähe zur Natur, wie entfremdet sie auch sein mag. In manchen Dörfern kehren obendrein sonderbare
junge Menschen ein, Landkommunen und Wohngemeinschaften siedeln sich
auf dem Lande an – ein Phänomen der folgenden Jahre. Zugleich wird in der
Lehre und Forschung Mitte der siebziger Jahre der ländliche Raum, „Provinz“
und „Dorf“, wiederentdeckt und in einer Flut von Veröffentlichungen thematisiert: „Was man sah, schockierte und zeugte von einer weitgehend irreversiblen Entwicklung, der weite Teile der ländlichen historischen Bausubstanz
und zugleich auch der traditionellen Dorfkultur zum Opfer gefallen waren.“
(Tilman Harlander)
Laien, die Gesellschaft, die Polis.
Daher bin ich der Meinung:
Stä d teb au ist ein p o litisch es
Anl i eg en . Ein An lieg en d er Po lis.“
Max F r is c h , 1 9 5 4
In den mittlerweile zahlreichen Programmkinos der größeren Städte wird 1978
„Deutschland im Herbst“ gezeigt, eine Filmcollage von elf Regisseuren;
Ansichten und Interpretationen zu den eskalierenden Ereignissen, als die „Rote
Armee Fraktion“ den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer entführt
und ermordet. Die auch medial aufbereitete, manchmal geschürte Atmosphäre ist angespannt, erhitzt, hysterisch. In den Massenmedien passiert es sogar,
dass die Hausbesetzerszene summarisch zu „Sympathisanten“ des Terrorismus
gezählt wird. Schlichte wie heimtückische Gemüter sind auf beiden Seiten zu
finden.
Hier und da mit ohrenbetäubendem Punk orchestriert, weitet sich Ende der
1970er Jahre die Hausbesetzerszene in Westdeutschland aus. Manche
der Aktionen verstehen sich als Protestakt, gar als Widerstand gegen das
„Schweinesystem“. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei,
sei es im Verlauf von Demonstrationen, sei es aus Anlass einer Räumung, sind
nicht selten, schwellen gelegentlich zu dramatischen Straßenschlachten an:
„Häuserkampf“.
Warum stehen Wohnungen seit Jahren leer? In Kürze eine zugegebenermaßen
schematische Antwort: Die Wohnungen sind „entmietet“ und die Eigentümer
warten, bis der Einfachheit halber, mithin der Kosten wegen, der gesamte Block
abgerissen werden kann. Vorwiegend Studenten suchen aber eine billige Wohnung und nehmen die Häuser in Beschlag. Manche aus Spaß, viele mit der
ernsthaften Forderung, dass der preiswerte Wohnraum erhalten bleibe und sie
nach ihren Vorstellungen instandsetzen können. In Berlin sind 1980/81 etwa
160 Häuser besetzt.
„Selbst aussuchen – Selbst transportieren – Selbst aufbauen“:
Eching bei München
1974 wird in
die erste Ikea-Filiale eröffnet, das „unmögliche
Möbelhaus aus Schweden“. Gut drei Jahrzehnte später gibt es im vereinigten
Deutschland mehr als 40 Einrichtungshäuser dieser Kette. Einer der popu-
1944
lärsten Slogans zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautet: „Wohnst du noch oder
lebst du schon?“
Schwenken wir den Scheinwerfer, die vorbildhaften Sanierungsprozesse
Ostertor und Vegesack in Bremen überquerend, auf einen ehemaligen Arbeiterstadtteil in Hannover. Die Sanierung in Linden-Süd ist ein „Ergebnis
der Bürgerdiskussion, die typisch ist für den Wandel der Vorstellungen von
Stadt, der sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre vollzogen hat“, diagnostiziert
Hanns Adrian, von 1975 bis 1993 Stadtbaurat in Hannover.
Zu jenen Vorstellungen gehören das „Herausarbeiten der spezifischen Qualität
der Stadtteile, stadtteiltypische Architektur“ und die „Bemühung um Identifikation durch die Bürger“ dadurch, dass sie sich mit der Planung befassen.
Aus dieser Neuorientierung habe sich das Leitbild der Patchwork-City entwickelt, „einer Stadt, die aus verschiedenen Teilen mit verschiedener Qualität und
Charakteristik besteht und die den Ehrgeiz aufgegeben hat, alles unter eine
städtebauliche Vorstellung zu bringen.“
Zwei zentrale Begriffe schälen sich aus den 1970er Jahren heraus, tragen bis
heute Bezugspunkte im herrschenden Diskurs bei: Die „Beteiligung der
Bevölkerung“ ist genauso zu einer Selbstverständlichkeit geworden wie
das Schlagwort von der „Ökologischen Stadt“.
von Colin Rowe und Fred Koetter, in dem ein technikbesessener, puristischer
Modernismus von dem Modernismus unterschieden wird, der das Vorhandene als Grundlage für die Weiterentwicklung empfiehlt. Stadtplanung solle
die „puristische Abstraktion“ vermeiden, stattdessen sich vom „Zustrom
historischer Referenzen beeinflussen“ lassen.
Um das Jahr 1980 etabliert sich das geschmeidige Wort von der „Postmoderne“,
das sich auch in diversen architektonischen Strömungen entfaltet. Fragen des
Stils geraten in den Blick, vielmehr eine Vielfalt stilistischer Formen und deren
Mischung, letztlich kommt es zu „Komplexität und Widerspruch in
der Architekur“, wie ein Buch heißt, das der Architekt Robert Venturi 1966
veröffentlicht hatte. Es gilt neben dem 1977 publizierten Buch „The Language of
Post-Modern Architecture“ von Charles Jencks als einflussreiches Werk.
Kennzeichnend für den Paradigmenwechsel ist das ironische Spiel mit Zitaten
aus der Historie, eine Gegenwart der Vergangenheit. Dies berührt vorwiegend
die ästhetische Seite und wird, soziale und politische Probleme vernachlässigend, zu einer Architektursprache in ‚Erzählungen‘, in denen Kritiker überwiegend dekorative Ergebnisse lesen. Je nach Standpunkt handelt es sich um
Pluralität oder um Beliebigkeit. Kurzum: Der Einzelfall entscheidet. Denn offensichtlich ist die Moderne mit ihrem Anspruch an Einheitlichkeit und Deutlichkeit für immer verflogen. Stattdessen zeigen sich widersprüchliche Konturen,
wohin man auch schaut, in jeglicher Hinsicht.
Mit Schlagworten agieren naturgemäß auch Parteien, das gilt ebenso für eine
Partei, die sich als „Anti-Parteien-Partei“ versteht: Unter dem Slogan „sozial,
ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei“ gründet sich im Januar 1980 die
Bundespartei Die Grünen, die bei der Wahl im Oktober antritt und von knapp
700 000 BürgerInnen angekreuzt wird, was 1,5 Prozent der abgegebenen
Stimmen entspricht.
Der niederländische Architekt Rem Koolhaas, der 1975 zusammen mit Kollegen
das Architekturbüro Office for Metropolitan Architecture (OMA) gegründet hat,
das eine wichtige Rolle in der weltweiten Architekturdiskussion spielen wird,
veröffentlicht 1978 das einflussreiche Buch „Delirious New York: A Retroactive Manifesto of Manhattan“, in dem er die Widersprüchlichkeit als urbane
Qualität interpretiert. Im selben Jahr erscheint das Buch „Collage City“
1945
P
„ Ve n ed ig ist n ach u n seren
M
Bauordnungen absolut unzulässig.
Dagegen ist Wolfsburg perfekt.
De nn o ch g ib t es L eu te,
di e Ven ed ig lieb er mö g en .“
H ann s Ad r ia n , 1 9 9 0
Nicht nur unter dem Etikett der Postmoderne setzt ein Prozess der „Reurbanisierung“ ein, die ab Mitte der achtziger Jahre zu positiven Wanderungssalden
führt. Die „klassischen“ Viertel werden wiederentdeckt und umgewidmet, Altbauten werden renoviert, die Wohnungen in großer Zahl in Eigentumswohnungen umgewandelt. Daher können sich die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten den gestiegenen Mietzins nicht mehr leisten, ein Prozess,
den die Sozialwissenschaft „Gentrification“ nennt. Das „Aufpolieren des
D
N
Post
Mo
Der
Ne
Erscheinungsbildes der Innenstädte“ (Müller-Raemisch) erfüllt eine weitere
Funktion, da die Städte mittlerweile gegeneinander konkurrieren. Eine Stadt
braucht nun ein Image, Stadtplanung gerät in die Fänge des Stadtmarketing.
Am 8. Februar 1982 titelt der Spiegel: „Neue Heimat – Die dunklen Geschäfte
von Vietor und Genossen“ und eröffnet durch die exklusiv angekauften
Enthüllungen eine Affäre, die in der Boulevard-Presse und auf Seiten der
Opposition umgehend zu einem Skandal in den Dimensionen einer Großraumsiedlung ausgebaut wird. Das gewerkschaftseigene Unternehmen
Neue Heimat, Europas größter Wohnungsbaukonzern, bricht
zusammen, als bekannt wird, dass der Vorstandsvorsitzende Albert Vietor
und weitere Manager über Strohmänner Privatfirmen betreiben, die seit Jahren millionenschwere Geschäfte mit der Neuen Heimat gemacht haben. Das
Vertrauen in die gemeinnützige Wohnungswirtschaft ist schwer erschüttert.
In derselben Ausgabe des Spiegel wird eine US-Studie gemeldet, die zu dem
Schluss gelangt, dass „auch bei der Kommunikation über Computer, die bald
keit“ werde zwar überall beklagt, aber „sie prägt das Leben in der Republik so
nachhaltig wie der abrupte Wechsel von lieblos hingeklotztem Neuen und über
Jahrhunderte Gewachsenem.“ Für jedermann sei die „tägliche Erfahrung, dass
die Realität zerfällt in einander ausschließende, einander überschneidende,
einander in Frage stellende Wirklichkeiten.“
Sehr real wird die Neue Heimat vier Jahre später zwar zerschellen. Immerhin
entfalten sich daraufhin hier und da soziale und wirtschaftlich prosperierende
Unternehmen, wie die Gewoba in Bremen. Dieses Unternehmen mit mehr als
40 000 Wohnungen beweist, dass soziale Verantwortung und wirtschaftlicher
Erfolg in einer Gesellschaft vereinbar sind.
Mit der Losung von der „geistig-moralischen
Wende“ kommt im Okto-
ber 1982 Helmut Kohl an die Regierung. Zunächst behält die CDU/FDP-Koalition
die Gemeinnützigkeit als „Strukturprinzip der Wohnungswirtschaft“ bei, allmählich jedoch zieht sich der Staat aus der öffentlichen Förderung zurück.
so verbreitet sein wird wie das Telephonieren“, „angestammte Verhaltensweisen
des Menschen erhalten“ bleiben. Allerdings seien 20 Prozent der Testpersonen
„geradezu süchtig nach dem Computer-Gespräch“ geworden: „Vielen liefen,
weil sie sich vernachlässigt fühlten, die Frauen weg“. Einen Kommentar von
Friedrich Schiller dazu kann man im Grimm‘schen Wörterbuch nachschlagen:
„Fern dämmert schon in euerm Spiegel / das kommende Jahrhundert auf“.
„ Parad o xerweise b au ten d ie
Rebellen gegen Konvention und
Restriktion auf denselben
Pr ä missen au f, au f d en en d ie
M a ssen ko n su mg esellsch aft
be ru h t; zu min d est teilten sie
die psychologischen Motive, die
Obendrein erscheint in derselben Ausgabe die fünfte Folge einer umfangreichen
Serie: „Die deutsche Depression“, ein Bericht über die „Stimmungs-
lage der Nation“. Auf Forschungsreisen durch die Republik wie durch feine Beobachtung der Medien hat Reporter Jürgen Leinemann recherchiert: „Alltagsgespräche sind voll von Floskeln der Irritation und Ratlosigkeit über das,
was geschieht – nebeneinander, durcheinander, zu schnell hintereinander“, so
ein Ergebnis seiner Expedition, und er zitiert einen Reim aus der Berliner Szene:
„Die Wetter schlagen um, sie werden kälter, wer vorgestern noch für Aufstand
war, ist heute zwei Tage älter“. Krawalle in Berlin, die Friedensdemonstration
in Bonn, die „Schlacht um Brokdorf“ kontrastiert Leinemann mit allgemeiner
„Entfremdung und Desorientierung“, befördert durch eine „rigorose Stadtsanierung, Gebietsreformen, den Bau von Schlafsiedlungen“. „Teilnahmslosig-
1946
den Anbieter n von Konsumartikeln
und Dienstleistungen die besten
Ve r kau fsch an cen g aran tierten .“
E ri c Ho b s b a w m , 1 9 9 4
In einem knappen Satz bringt Margaret Thatcher, Premierministerin in Großbritannien von 1979 bis 1990 und Protagonistin neoliberaler Politik, eine Tendenz
jener Jahre auf den Punkt: „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur
Individuen“. Von anderer Warte spricht der Sozialhistoriker und Marxist Eric
Hobsbawm diese umwälzenden Veränderungen in seinem Werk „Das Zeitalter
der Extreme“ an, ausgiebig die „kulturelle Revolution“ des späten 20. Jahrhunderts analysierend, die man „am besten als den Triumph des Individuums über
die Gesellschaft betrachten“ könne: „Die Jugendkultur wurde zur Matrix der
kulturellen Revolution, im weiten Sinne einer Revolution der Verhaltensweisen
und Gewohnheiten, der Freizeitgestaltung und der kommerziellen Kunst, die
immer mehr die Atmosphäre prägte, in der die städtischen Menschen lebten.“
Und wie wohnt das Individuum? Blättern wir im Kalender ein Vierteljahrhundert nach vorne: Im Mikrozensus 2005 errechnet das Statistische Bundesamt,
dass rund 40 Prozent aller Haushalte in West- wie in Ostdeutschland Einpersonenhaushalte sind, in Städten wie Hannover liegt der Anteil sogar bei 55
Prozent. Nüchterne Zahlen allerdings sagen über die Motive und Ursachen bekanntlich nichts. Eine Etage über der siechen Rentnerin wohnt der umtriebige
Student der Kommunikationswissenschaften. Dennoch, die Zahlen dienen als
einer von vielen Anhaltspunkten, überdies „Individualisierung“ sich auch mit
„Vereinzelung“ übersetzen ließe. In der Soziologie verliert allmählich der Begriff der Bevölkerungsschichten an Bedeutung, wird ersetzt durch Begriffe wie
Gruppen, Identititäten, Profile, Milieus und Submilieus.
Am 8. Dezember 1985 schauen 3,5 Millionen im Fernsehen die
erste Folge
der „Lindenstraße“ an, eine von nun an sonntägliche Seifenoper über
das Leben unter dem Dach des Mietshauses Nummer 3 und in dessen Nachbarschaft.
das Torhaus […] oder das Eckhaus neu zu interpretieren suchten“ (Tilman
Harlander) finden auch organisatorisch-formale Experimente weithin Aufmerksamkeit. „Selbsthilfe, Mietermodernisierung und diverse Partizipationsmodelle, die allesamt davon ausgingen, dass nur der beteiligte Bewohner ein
aktiver Bewohner ist und humane Architektur nur mit den Menschen gemeinsam entstehen könne, gewannen an Bedeutung. Die IBA Berlin bot dafür ein
bis dato sowohl quantitativ wie qualitativ einzigartiges Versuchsgelände, mit
allen Problemen und Schwierigkeiten, die zu einem solchen Großexperiment
gehören. Aus alten Fabriken und soliden Gewerbebauten machten aktive neue
Stadtbewohner schmucke Pilotprojekte, die gleichzeitig demonstrierten, wie
die alte Mischung von Wohnen und Arbeiten neu interpretiert werden könne.“
(Michael Andritzky in „Geschichte des Wohnens“)
Beinahe im Verborgenen, in einem Stadtteil Hannovers, lebt im Mai 1983 die
Idee wieder auf, eine Baugenossenschaft zu gründen. Sie hat seit über 25 Jahren
im Raum Niedersachsen und Bremen geschlummert. Die „Selbsthilfe Linden eG“
lässt sich beim Amtsgericht in das Genossenschaftsregister eintragen.
Das Modell wird bundesweit als erfolgreiches Beispiel eines neuen Ansatzes
aufgefasst und den Genossenschaftsgedanken neu beleben.
1986 veröffentlicht der Sozialphilosoph Jürgen Habermas den fünften Band
seiner Kleinen Politischen Schriften: „Die neue Unübersichtlichkeit“,
„ Architekten verdienen i n d e r
Regel zwar besser als D i c h t e r,
s chwelenden Hass all d e r j e n i g e n
in der er die These vertritt, dass bewährte Denk- und Problemlösungsstrategien
nicht mehr funktionieren. Im selben Jahr publiziert Ulrich Beck das Buch „Die
v erfolgt, die gezwunge n s i n d , i n
Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“. Beide Titel
i hre n Wer ken zu hausen . “
werden zu Schlagworten bis in das nächste Jahrtausend hinein.
d afür werden sie aber a u c h v o m
„Je bedrohter das Leben, umso
Ha n s M agn u s E n z e n sb e r g e r, 1 9 8 7
1979 ist in Berlin die „Internationale
Bauausstellung 1984 GmbH“
blindwütiger wird gewohnt. […]
gegründet worden, die sich dem Thema „Wohnen in der Innenstadt“ widmet
und 1987 abgeschlossen ist. Bald nach der Gründung werden zwei Abteilungen
eingerichtet. Für den Schwerpunkt „Stadterneuerung“ ist Hardt-Waltherr
Hämer zuständig, dessen Konzept Behutsamkeit anmahnt, sowie Josef Paul
Kleihues für die Abteilung „Stadtreparatur“ oder – akademischer formuliert –
„Kritische Rekonstruktion“. Abgesehen von den „ambitionierten Bauten, die
den Typus des Baublocks und verschiedene Haustypen wie das Stadthaus,
1947
We d er ö ko n o misch e n o ch
ökologische Krisen tun dem Boom
ne uer ‚Wo h n ku ltu ren ‘ Ab b ru ch .
Im Gegenteil – so phantasievoll,
so frei, so aufwendig wie heute
w urd e n o ch n ie g ewo h n t.“
Gert Se lle , „ Die e ig e n e n v ie r W ä n d e “ , 1 9 9 3
1948
Mit der Volkszählung 1987 stellt sich heraus, dass über vier Millionen
Ausländer in der Bundesrepublik leben, überwiegend als Familien. Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland, eine Tatsache, die von einer Mehrheit der
Bevölkerung nicht akzeptiert wird. Noch im Februar 2009 wird der Soziologe
Heinz Bude in einem Interview befinden: „Wir wissen noch gar nicht, wie sich
das Land durch Migration gewandelt hat. Wir sind dabei, uns in einer offenen
Gesellschaft jenseits der ethnischen Homogenität zurechtzufinden. Darin
liegen keine Gefahren, aber doch ein paar Risiken.“
Am Abend des 9. November 1989 fällt die Berliner
Mauer – live übertragen
in Radio und TV. Wenig später wird die Parole der Massendemonstrationen
in der DDR – „Wir sind das Volk“ – durch eine Kleinigkeit umgekrempelt: „Wir
sind ein Volk“. – „Liebe Leute“, sagt Innenminister Wolfgang Schäuble während
der Verhandlungen um den Einigungsvertrag 1990, „es handelt sich um einen
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik […] Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich
willkommen. […] Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten
statt.“ Gleich im Sommer des Jahres wird die Nationalmannschaft des Landes,
dem die marode DDR beitritt, Fußballweltmeister unter der Regentschaft eines
„Kaisers“. Euphorie allüberall.
ventionsabbau“ wird das
Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz von
1940 aufgehoben. Vieles gerät im Bereich der Wohnungswirtschaft in Bewegung. Ein Beispiel? Die Fortress Investment Group LLC mit Sitz in New York
City erwirbt im September 2004 die GAGFAH mit 81 000 Wohnungen, im Juli
2005 die NILEG Immobilien Holding mit 28 500 Mietwohnungen, im März 2006
die WOBA Dresden mit 47 000 Wohnungen. Durch eine „Sozialcharta“ sichern
sich die Städte nur scheinbar Einfluss. Im Oktober 2006 geht die GAGFAH S.A.
an die Börse. Angesichts der renditeorientierten Fonds macht einmal mehr das
Schlagwort von den „Heuschrecken“ die Runde. Deren „Plage“ ist inzwischen
durch die internationale Krise an den Finanzmärkten wohl weitgehend
be-endigt.
„ Da s d o p p elt verg laste F en ster ist
der Tod der Eisblume, und ihr
Verschwinden fügt sich nahtlos
ein in die Bedürfnisgeschichte des
‚luxurierenden‘ Wesens Mensch.
[ …] I m Jan u ar h ab e ich n o ch ein mal eine echte Eisblume gesehen.
Sie war beeindruckend, glitzerte
pr ä ch tig , als d ie So n n e sie traf,
Da der Ostblock in sich zusammenfällt, der real existierende Sozialismus zugrunde geht, versteht der real existierende Kapitalismus dies als Bestätigung
und nutzt die Chance, den Markt als Allheilmittel zu betrachten. Bestandteile
der Therapie sind Deregulierung und Privatisierung im globalen Maßstab.
und war alsbald nur noch eine
Wasserlache auf der Fensterbank.
Die Einfachverglasung habe ich
mi r n ich t zu rü ckg ewü n sch t.“
J o a c h i m G ü n t n e r,
Zuversichtlich boomt die Börse, das Telefon wird bald mobil und nicht allein die
Medienwelt wird digitalisiert, die neue Kommunikationssphäre des Internet
dringt in den Alltag ein – in den neunziger Jahren öffnet ein neues Zeitalter seine Pforten, zu dessen Merkmalen gehören wird, dass man gleichsam jederzeit
allerorts erreichbar und von jeder Seite innerhalb einer zweidimensionalen
virtuellen Welt nur ein paar Klicks entfernt ist.
Schon vor den spektakulären Ereignissen nimmt eine wohnungspolitische Ära
ihr Ende. Der Bundestag in Bonn hat ein Gesetz beschlossen, das am 1. Januar
1990 in Kraft tritt. Im Rahmen einer „Steuerreform“ unter dem Motto „Sub-
N eue Z ü rc h e r Z e it u n g , 2 7 . M ä r z 2 0 0 3
Und was ist aus den Großsiedlungen geworden? Es ist nicht verwunderlich,
dass seit den achtziger Jahren so gut wie keine Großsiedlung realisiert worden
ist. Vielmehr versucht man, die offenkundigen Defizite in diesen „sozialen
Brennpunkten“ – ein Begriff, den der Deutsche Städtetag 1979 geprägt hat
– zu mindern, bauliche Mängel zu beseitigen. Zunächst steht im Vordergrund,
zu entzerren, zu lichten, zu sanieren, die Infrastruktur zu verbessern.
Dennoch und keineswegs nur jene Großsiedlungen betreffend erscheint 1994
ein „Manifest der Oberbürgermeister“, dessen Überschrift einem Notschrei
gleicht: „Rettet unsere Städte jetzt!“ angesichts der „allmählich ver-
1949
Einfamilienhausplantagen und Shopping Centers. Die Betriebskosten für diese
Zwischenstädte, wie Thomas Sieverts sie genannt hat, fallen umso höher aus,
je tiefer sie sich ins Land hinein ausbreiten. Suburbia kommt die Gesellschaft
teuer zu stehen.“ Dass Eigenheimzulage und Pendlerpauschale den Prozess
befördern, muss nicht ausdrücklich erwähnt werden.
Gewissermaßen parallel dazu wird seit Anfang des 21. Jahrhunderts von einer
„neuen Lust auf die Stadt“ gesprochen, die gemeinhin jedoch eher einer
„gefühlten“ Rückwanderung zu verdanken ist als einer zählbaren Steigerung
der Einwohnerzahlen.
fallenden Quartiere der desorganisierten Peripherie und citynahen Armutsnischen“, wie es Henning Voscherau, Erster Bürgermeister der Freien und
Hansestadt Hamburg, formuliert.
Die Einsicht in die Komplexität der Problemlage, ihrerseits ein Widerhall gesellschaftlicher Dissonanzen, mündet 1999 in das umfassendere Programm
„Soziale Stadt“. In den ersten acht Jahren werden Bund, Länder und
Kommunen für rund 500 Gebiete über zwei Milliarden Euro bereitstellen. Mit
einem „integrierten Ansatz der umfassenden Quartiersentwicklung“ reagiert
das Programm in „Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“ in den
Bereichen Städtebau und Umwelt, infrastrukturelle Ausstattung, lokale Ökonomie, Soziales, Integration und nachbarschaftliches Zusammenleben sowie
Imagebildung. Nun stehen „Quartiersmanager“ in enger Verbindung mit den
„Akteuren“, um die Bewohner zur Selbsthilfe anzuregen statt zu betreuen. Neue
Begriffe, neue Versuche, neue Taten.
„ K a pitu latio n ja,
Resignation nie.
Optimismus unger n,
Z uv ersich t immer.“
H ann s Die t e r Hü s c h
Wohnungsfachleute und Architekten befassen sich indes seit den neunziger
Jahren verstärkt mit den Veränderungen, die auf dem Terrain der Sozialwissenschaftler notiert werden. Antworten zu finden auf die zentrale Frage „Wer
Zwei Bund-Länder-Programme jüngeren Datums, als Instrument im Baugesetzbuch verankert, heißen „Stadtumbau Ost“ (seit 2002) und „Stadtumbau West“
(seit 2004), mit denen „die Anpassung der städtebaulichen Strukturen an die
Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft auf der Grundlage von städtebaulichen Entwicklungskonzepten“ unterstützt werden.
wohnt wo wie und warum?“ scheint stetig komplizierter zu werden.
Eine Auffächerung von Beziehungsformen, lose mit der Vielfalt an Lebensstilen
und Lebensformen verknüpft, die ihrerseits in einzelnen Biografien mehrmals
wechseln, spiegeln sich natürlich in der Vielfalt an Wohnformen und -typen,
die fallweise mit den Wohnwünschen nicht übereinstimmen, mit den Gewohnheiten schon gar nicht.
Das Image an der Peripherie der Städte wird jedoch weder von Großsiedlungen
oder „problematischen Quartieren“ geprägt, denn jene urbane Dichte, die sie
verkörpern, ist seit langem diskreditiert. Stattdessen zersiedeln seit langem
Einfamilienhäuser das Umland, sie charakterisieren, wie das Fachwort lautet,
die „suburbane Entwicklung“. Im November 2005 wirft der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt einen Rundblick in die verstädterte Landschaft der Bundesrepublik, wo „noch immer hundert Hektar Freiland in Bauland umgewidmet
werden – täglich! – und die Ausstreuung der Stadt uns alle zumindest
Kaum zufällig fällt die Ausstellung „Living in Motion“, 2002 vom Vitra Design
Museum in Weil am Rhein eingerichtet, auf reges Interesse und wandert auf
einer Tournee bis nach Boston/USA. „Flexibilität, Mobilität und Multifunktionalität waren schon immer wichtige Triebfedern für formale und technische
Innovationen“ heißt es im Katalog und weiter: „Heute suchen wir mehr denn
je nach Wohnmöglichkeiten, die sich von festgelegten Abläufen und auch von
vorgegebenen Standorten lösen, da sich Arbeits- und Privatleben immer weiter
durchdringen und eine mobile und unabhängige Lebensgestaltung an Bedeutung gewinnt.“
als Steuerzahler belastet. Denn die Infrastrukturen müssen natürlich auch für
diese endlosen Gemengelagen vorgehalten werden, die sich in Gestalt von Autobahnzufahrten und Ödland ins Land fressen, von Gewerbe- und Gartencentern,
Tankstellen und Disko-Schuppen, Firmenoutlets und Mülldeponien, Hochspannungsleitungen und Windrädern, Rotlicht-Etablissements und Baggerseen,
1950
Wohnen also scheint weniger denn je das Gleiche zu bedeuten wie Bleiben. Die
zunehmende Differenzierung des Wohnens korrespondiert mit der extremen
Beschleunigung durch die digitale Revolution, mit den tiefgreifenden Veränderungen unter ökonomischen, politischen, soziokulturellen Gesichtspunkten,
während die ökologischen Probleme wie der Klimawandel und die Folgen des
demografischen Wandels ebenso wenig zu übersehen sind. Umbrüche und Aufbrüche, Umwälzungen oder fließende Übergänge, Zäsuren wie die Anschläge
im September 2001 oder die Wirtschaftskrise, die ab September 2008 die Schlagzeilen täglich beherrscht – alles scheint miteinander verwoben und verflochten zu sein.
„ Flugverkehr und ande re F o r m e n
d er Kommunikation erw e c k e n
Zukunft Wohnen? Im Frühjahr 2009 wird der vergleichsweise kleine Film „Slumdog Millionär“ mit acht Oscars ausgezeichnet. Die Story des Films gleicht einem
Märchen, der sensationelle Triumph – sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum – nicht minder. Regisseur Danny Boyle „schwärmt“ in einem Interview von
der „unglaublichen Magie des Ortes“ Dharavi, ein Slum im indischen Mumbai,
wo die Dreharbeiten stattgefunden haben, und schließt mit einer Botschaft, wie
sie banaler nicht sein könnte: „Die Dinge sind nicht so schwarz-weiß, wie es zunächst den Anschein hat.“ Die jungen Darsteller, fügt die Autorin Verena Krebs
an, „ziehen nun vom Slum in schöne Wohnungen“ und ein Fonds für Kinder in
Dharavi werde eingerichtet: „Wird am Ende doch alles gut?“
Wer weiß. Man beachte Zwischentöne, Widersprüche, Schattierungen,
Nuancen. Auch in den nächsten hundert Jahren.
h e ute häufig den fal sch en E i n d ruck, die Welt sei in W i r k l i c h k e i t
n icht besonders groß. U n t e n a m
Bo d e n jedoch, wo die Wi s s en -
Wird
s chaftler arbeiten müss e n , i s t s i e
i n Wirklichkeit riesig – s o r i e s i g ,
d ass sie voller Überras c h u n g e n
am
s te c k t.“
Bi l l B r y s o n , „ E i n e k u r z e G e schichte von
f as t allem “ , 2 0 0 4
Ganz einfach. Ein profaner Schluss ist zu ziehen, der lächerlich klingen mag:
Man muss genau hinschauen, auf die zahllosen konkreten Projekte – gottlob
nichts Spektakuläres, sondern Steinchen, die vielerorts Kreise ziehen, Impulse
geben, von denen ausführlich zu erzählen wäre:
Ob das Projekt „Waller Dorf“ für Jugendliche in Bremen oder das Wohnquartier
Grenzstraße in Cuxhaven; ob das Gilde-Carré oder die Wohnsiedlungen „Vasati“
in Hannover; sei es das Referenzobjekt „Frauen planen und bauen für Frauen
und Familien“ in Oldenburg oder die „Scharnhorst-Residenz“ in Hameln; sei es
das Seniorenzentrum Tuckermannstraße und das Entwicklungskonzept Weststadt in Braunschweig oder seien es die Aktivitäten des Bauvereins in Leer an
der Evenburgallee – Etliches wird von Vielen gemeinsam erarbeitet, gestaltet,
zum Leben erweckt.
1951
Ende
doch
alles
gut?
Wohn
erwartungen
Wohn
erfahrungen
Te x t u n d I n t e r v i e w s : C a r s t e n E n s
Fo t o s : A x e l B o r n , J o h a n n G e i l s - H e i m , B e r n d Ku s b e r
. . . j e d e Z e it h a t i h r e G e s i c h t e r
1952
1953
Hans-Herman Rief
Worpswede
1909
2009
1954
Seit mehr als 60 Jahren lebt Hans-Herman Rief in Worpswede. Er ist Archivar
und Kunsthistoriker. Die Presse nennt ihn „Das Gedächtnis von Worpswede“.
Doch das Weihnachtsfest hat er dort noch nie verbracht. Stets zieht es ihn an
diesen Tagen nach Hennstedt in Schleswig-Holstein zurück. „Das ist meine
Heimat“, betont Rief. Auch seinen 100. Geburtstag hat er in seinem Geburtsort
gefeiert. 100 Jahre – was für eine Ära!
Die Aufgabe, der er sich verschreibt, ist verlockend. Er ordnet und archiviert
die Hinterlassenschaften von Heinrich Vogeler. Das Worpsweder Archiv im
Barkenhoff und die Vogeler-Sammlung im Haus im Schluh sind maßgeblich
Hans-Herman Rief zu verdanken.
Er initiiert gemeinsam mit Friedrich Netzel die erste Max Ernst-Ausstellung
nach dem Krieg in Deutschland. „Das war eine echte Sensation“, erinnert sich
Rief. Mehrfach reist er nach Frankreich, vor allem nach Paris. Er begegnet
Jean Cocteau, den er bewundert und dessen Bücher heute ein deckenhohes
Regal in seinem Wohnzimmer füllen. Einmal bleibt er für acht Monate, um
den Baedecker-Reiseführer zu überarbeiten. Er wohnt im Hotel du Dragon
und freundet sich mit der Hoteliersfamilie an. Noch immer, sagt Rief, würden
Worpsweder in Paris im „Dragon“ absteigen.
1909 verzichtet US-Präsident Theodore Roosevelt auf eine dritte Amtszeit. Im
Deutschen Reich feiert Kaiser Wilhelm II. seinen 50. Geburtstag. In London
wird für das Frauenwahlrecht protestiert. Auf einer Autorennstrecke wird
mit einem „Blitzen-Benz“ erstmals die Marke von 200 Stundenkilometern
übertroffen. In Berlin startet das erste Sechs-Tage-Rennen. Die Herausgeberin der „Zeit“, Marion Gräfin Dönhoff, der Historiker Golo Mann und „Tennisbaron“ Gottfried von Cramm werden geboren.
Hennstedt – Worpswede – Paris: Heimat – Zuhause – Inspiration! Vielleicht kann
sich der nunmehr 100-jährige Hans-Herman Rief diesem Dreiklang anschließen.
In jedem Fall ist für ihn in Worpswede ein (Wohn-)Traum in Erfüllung gegangen.
Inmitten von Künstlern, Kunst und Kunstliebhabern hat er den größten Teil
seines Lebens verbracht. Sein Wohnzimmer ist gleichsam zu einem Museum
geworden. Die Bücher, das Archiv und seine fulminante Sammlung an Flacons
sind seine Welt. Ein Fußballspiel hat Rief noch nie gesehen. Fernsehen spielt
für ihn keine Rolle.
Im Kreis Dithmarschen kommt Hans-Herman Rief als ältester Sohn einer Bauernfamilie zur Welt. Schon bald zeigt sich, dass er an der Landwirtschaft so gar
kein Interesse hat, was zum Zerwürfnis mit dem Vater führt. „Ich war dann
das Kind meiner Großeltern.“ Gedichte, Bücher, Bilder: Die schönen Künste
haben es dem Jungen angetan. In bewegten deutschen Zeiten ist es aber nicht
immer einfach für einen feinen Geist. Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer
Republik, Wirtschaftskrise, Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg – doch durch politische und gesellschaftliche Einflüsse lässt sich Rief nicht von seinem Weg abbringen.
Viel lieber sieht er im Haus im Schluh nach dem Rechten. Der „Weser Kurier“
schrieb: „Er lebt dort leise, aber sehr anwesend – wenn auch im Unruhestand,
noch immer der gute Geist.“ Er hat seine Zimmer im Erdgeschoss, steht sehr
zeitig auf und macht sich in der Küche das Frühstück. Später kommen die
Besucher aus den Gästezimmern – da will er nicht stören. Hin und wieder verkauft er noch Eintrittskarten fürs Museum. Und kürzlich gab es ihm zu Ehren
eine Ausstellung mit dem Titel „Ein langes Leben für die Kunst“. Andersherum
wäre es auch nicht falsch: „Die Kunst für ein langes Leben.“
Er studiert Kunstgeschichte in Kiel und begeistert sich bei einem Besuch in
der Hamburger Kunsthalle für Paula Modersohn. Anlass für einen folgenreichen Ausflug mit dem Fahrrad. 1936 macht Rief sich auf den Weg nach
Worpswede. Er besucht das Grab der großen Expressionistin, trifft Martha
Vogeler und schließt Freundschaft mit Clara Westhoff-Rilke. Zehn Jahre lang
pendelt er zwischen dem heimatlichen Bauernhof und der Künstlerkolonie,
ehe er sich im Teufelsmoor niederlässt. Das Haus im Schluh von Martha
Vogeler ist bis heute seine Adresse.
1955
Gerhard P. Hartmann
Bremen
1919
1956
2009
„New Yorker zieht nach Bremen!“ Eine Nachricht im Schlage von „Mann
beißt Hund!“ – nur verrückter. Der Mann aus Big Apple zieht nicht nach
Schwachhausen in eine großzügige Altbauwohnung oder in eine Villa nach
Oberneuland. Er zieht in die Neue Vahr. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon – 50
Quadratmeter. Im Gepäck: ein halbes Dutzend fast 50 Jahre alter Seekoffer und
4138 Bücher – jedes einzelne in einen Pappschuber verpackt. Zeugnisse eines
langen Lebens. Gerhard P. Hartmann ist bei seinem Umzug 87 Jahre alt.
Der Reihe nach: Geboren in Königsberg, folgt er gemeinsam mit seiner
Zwillingsschwester den Eltern durch ganz Deutschland. Immer der Arbeit
des Vaters hinterher, der Kaufmann ist: Berlin, Bayern, Sachsen. „Wir Kinder
haben es genommen, wie es gerade kam.“ In Dresden überleben Mutter und
Schwester die Bombennächte. Gerhard ist als Soldat irgendwo in Finnland
stationiert. Es bleibt ausreichend Zeit für ein Fernstudium der Architektur in
Berlin. Zurück in Dresden sammelt er Erfahrungen als Bühnenbildner unter
anderem an der Semperoper. Schon als Kind liebte er die Musik.
Doch die Zeit in Dresden ist nicht von Dauer. Die Familie zieht nach Westen. Grenzlager Friedland. Von dort nimmt Gerhard Hartmann den Zug nach
Hamburg, bleibt aber nur wenige Tage. Wiesbaden ist die nächste Station. Er
findet eine Anstellung als Grafiker und wechselt bald in die Werbung. Die
Kunden sitzen überall in Westeuropa. 1955 macht er sich selbstständig.
Die Schwester wandert 1956 in die USA aus. Zunächst geht es nach New
Orleans, dann nach New York – sie wird Sekretärin an der berühmten „Little
Church Around the Corner“. Die Mutter folgt zwei Jahre später. Hartmann
bricht 1962 seine Zelte in Wiesbaden ab. Zu dritt leben sie fortan in einem
Appartement im sechsten Stock mit Blick auf den Central Park.
46 Jahre danach kehrt Gerhard Hartmann nach Deutschland zurück. Seine
Schwester ist ein Jahr zuvor gestorben. Wohin soll er? Bremen ist eine zufällige Entscheidung. Die Spedition, die seine 261 Bücherpakete über den
Atlantik transportiert, nennt die Stadt an der Weser als Zielhafen. Das war’s.
Nun wohnt er also in der Vahr. Von 1957 bis 1962 ist dieser Stadtteil mit fast
12.000 Wohnungen und weiten Gartenflächen in Rekordtempo aus dem Boden
gestampft worden. Der „Spiegel“ erinnert 2001 an den Charme des sozialen
Wohnungsbaus der 1960er Jahre: „Die schönen neuen Wohnanlagen waren dabei vor allem eines: praktisch und funktional. Die wenig verwöhnten Mieter
freuten sich über zentrale Müllsammelsysteme, Fernheizung und komplett
verkabelte Wohnungen.“ Das Viertel hat gute und schlechte Zeiten hinter sich.
Im gleichen Beitrag verwendet der „Spiegel“ einen Ausspruch des früheren
GEWOBA-Vorstands Eberhard Kulenkampff zum 30. Geburtstag des Stadtteils:
„Die Vahr ist ein Denkmal edler Einfalt. Sie ist auf gute Weise nützlich, aber
Spaß macht sie nicht.“
Mittlerweile macht die Vahr längst wieder großen Spaß. Nicht nur den eingefleischten Vahraonen, die auf ihr Quartier ohnehin nichts kommen ließen,
sondern auch Neuankömmlingen wie Gerhard Hartmann. Die großflächigen
Sanierungen durch die GEWOBA haben an jeder Straße, in jeder Grünzone, auf
jedem Platz ihre Spuren hinterlassen.
Hartmann ist schon zum Fan geworden: „Wenn ich hier aus meinem Fenster ins
Grüne schaue, ist es wie der Blick in den Central Park.“ Nein, zurück in die Weltmetropole will er auf keinen Fall: „New York ist nur für Touristen interessant.
In Bremen ist es ruhiger und sauberer. Die Busse sind pünktlich. Die Menschen
grüßen auf der Straße.“ In New York wird Anonymität offenbar neu definiert.
Nach 46 Jahren verabschiedete sich Hartmann von genau einem Nachbarn. Bei
der Schlüsselübergabe erklärte der Gebäudemanager, er würde Hartmann überhaupt nicht kennen.
Der 88-Jährige beginnt jeden Tag mit 30 Liegestützen: „Wenn ich in der Wohnung
falle, möchte ich die Kraft haben, um wieder aufzustehen.“ Sein Bett steht im
Wohnzimmer und wird tagsüber zur Couch. An allen Wänden Bücherregale.
Auf einem kleinen Tisch liegen zwei kleine Ringbücher – voll mit berühmten
Librettos. Hartmann spricht italienisch, die Sprache der Opern.
Die Straße, in der er wohnt, wurde nach Friedrich Stampfer benannt, früher
Chefredakteur des Vorwärts und SPD-Vorstandsmitglied. 1933 emigrierte Stampfer nach Prag, floh 1939 über Paris in die USA und kehrte 1948 mit 74 Jahren in
seine deutsche Heimat zurück. Auch für Gerhard Hartmann ist Deutschland
stets Heimat geblieben: „Ob Wiesbaden oder Bremen oder sonst wo – das spielte
für mich in New York keine Rolle.“
1957
Sieghard Seehofer
Wolfsburg
1929
1958
2009
1959
Vermutlich war der „Käfer“ Schuld, dass in Westhagen nicht noch mehr
gebaut wurde. Er lief eben nicht mehr. Und ein Nachfolgemodell für das
Jahrhundertauto war nicht in Sicht. Dann drehten – verflixt noch mal – die
Scheichs 1973 auch noch den Ölhahn zu. VW rutschte aus und ganz Wolfsburg
ging am Stock.
1971 dann der erneute Umzug – diesmal nach Westhagen. „Wir waren praktisch
die ersten, die hier eingezogen sind“, erinnert sich Sieghard Seehofer. Der jungen Familie bot sich plötzlich ein völlig neues Wohngefühl: 100 Quadratmeter
auf zwei Etagen mit einer 30 Quadratmeter großen Dachterrasse – das war nicht
nur aus damaliger Sicht nah am Luxus.
Sieghard Seehofer war bereits drei Jahre zuvor in die Stadt gekommen.
Damals sah die Welt in Wolfsburg anders aus: Die Stadt platzte aus allen
Nähten. Die Automobilbranche brummte. Die Belegschaft bei VW wuchs
praktisch stündlich. Und die neuen Arbeitskräfte waren nicht allein – viele
hatten Frau und Kinder im Schlepptau. Bei manchen zog gleich die halbe
Verwandtschaft mit um.
Doch der gelernte Werkzeugmacher verdiente gut. In der Nähe pachtete die
Familie einen Schrebergarten hinzu. Noch heute fährt der nunmehr 80-Jährige
fast jeden Tag mit dem Fahrrad hinüber, um zwischen Laube und Beeten nach
dem Rechten zu sehen.
Am Reißbrett suchten die Planer in der noch jungen Stadt unweit der innerdeutschen Grenze händeringend nach Lösungen. Fündig wurden sie, wie auch
andernorts in dieser Zeit, an den Stadträndern. Die Charta von Athen, die eine
scharfe Funktionstrennung von Arbeiten, Wohnen und Erholen formuliert,
galt als städtebauliche Leitlinie.
Erster Baustein im zeittypischen Erschließungsmuster Wolfsburgs war
Detmerode. Wenig später folgte etwas nördlich mit Westhagen eine zweite
„Trabantensiedlung“, weil die Wohnungsnachfrage unerschöpflich erschien.
Moderner als Detmerode sollte es dort sein, und modern hieß für die Planer
„hoch und dicht“, wie Siegfried Trogisch in seinem Wolfsburg-Buch „Ansichtssache“ spitz formuliert. Ziel erreicht, möchte man hinzufügen, denn während
sich in Detmerode rund 4 500 Wohneinheiten auf 950 Häuser verteilen, sind
es in Westhagen 4300 Wohnungen in 420 Gebäuden. Es hätten viel mehr sein
sollen, doch die VW-Krise bereitete dem Bauboom ein abruptes Ende.
Von der schieren Größe des Stadtteils ziemlich unberührt, fühlt sich Sieghard
Seehofer in Westhagen seit fast 40 Jahren zu Hause. Der Konstrukteur war
zuvor bei den Karmann-Werken in Osnabrück beschäftigt. Für die dreimonatige Probezeit bei VW nahm er sich eine kleine Wohnung in Detmerode, in die
anschließend auch seine Frau Ursula mit den drei Söhnen einzog.
1961
Die Parzelle hat Bestand, aber ihre Wohnsituation haben die Seehofers bereits
Ende der achtziger Jahre ein weiteres Mal ihren persönlichen Ansprüchen angepasst. Nein, kein Haus in einem der zahlreichen Dörfer rund um Wolfsburg
herum, wo vor den Doppelgaragen die Autos aus dem großen VW-Konzern
stehen. Die Seehofers entschieden sich – mit Blick aufs Alter – in unmittelbarer Nähe erneut für eine Mietwohnung. 87 Quadratmeter auf einer Ebene.
Ein Wohnbereich, ein Schlafbereich. Direkt vor der Küchentür die „Essecke“
– um es der Hausfrau zu erleichtern, die Familie zu bedienen. Die Architekten
zeichneten nach, was die Gesellschaft vorgab.
Die Seehofers haben es hübsch am Südrand von Westhagen. Der Blick vom
Balkon geht ins Grüne. Unten rückt die Nachbarin ihrem Zierrasen mit dem
Elektromäher zu Leibe. 20 Quadratmeter – das geht ruckzuck. „Es ist ein ruhiges
Haus. So gute Leute. Man kann die Türen offen lassen, da passiert nichts.“ In
der Nachbarschaft hingegen vermisst der 80-Jährige mitunter „Ordnung und
Pflege“.
Seine Generation ist in diesem Punkt nicht selten rigoros. Die Flucht aus Ostpreußen, die Lehre in karger Nachkriegszeit, der berufliche Erfolg, die eigene
Familie – so etwas prägt. Seit mehr als 50 Jahren begleitet eine Schrankuhr
Sieghard Seehofer. Verlässlich und präzise – ein Symbol. „Regelmäßig muss ich
sie aufziehen bis zum Anschlag. Dann kann man sich drauf verlassen.“
1962
Gerhard Schar ner
Göttingen
1939
2009
1963
Nein, vor Verantwortung ist Gerhard Scharner nie davongelaufen. Zahlrei-che Ehrenämter hat der mittlerweile 70-Jährige immer noch inne: In
Göttingen ist er Vorsitzender des Partnerschaftsvereins und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Händel-Gesellschaft. Hinzu kommen
einige Aufgaben im Umfeld der Universität. Außerdem war er 16 Jahre lang
Vorsitzender der Deutschen Olympischen Gesellschaft für Südniedersachsen.
Und nicht zu vergessen: Den Aufsichtsrat der „Volksheimstätte eG“ führt er
ebenfalls seit Jahren. Niemand wäre prädestinierter für diesen Posten bei
der traditionsreichen Wohnungsgenossenschaft als Gerhard Scharner. Denn
neben der Leidenschaft, sich für andere einzusetzen, und dem nötigen wirtschaftlichen Fachwissen bringt der frühere Sparkassenvorstand auch allerlei
praktische Kenntnisse vom Wohnungsmarkt mit: Immerhin hat er bereits
14 Umzüge hinter sich! Am Rande notiert: Heinrich Rohde, der Großvater
seiner Frau Gisela, war als Bürgermeister der Gemeinde Geismar Mitbegründer der Genossenschaft.
Als einen der gesellschaftlichen „Mega-Trends“ haben Zukunftsforscher die
zunehmende Mobilität identifiziert. In entsprechenden Untersuchungen
heißt es dann: „Der Manager von heute weiß, dass er mobil sein muss.“ Oder:
„Wer Karriere machen will, der muss umziehen.“ Gerhard Scharner, mittlerweile ein graumelierter Herr, kann darüber nur schmunzeln. Er hat diese „Zukunft“ praktisch schon erlebt. Im westpreußischen Löbau verlor seine Familie
im Krieg Heimat und Eigentum. Über Berlin und Gera verschlug es ihn mit der
Mutter und zwei Geschwistern nur mit Koffern in der Hand in die Nähe von
Detmold. Nach dem Studium in Bonn landete er 1968 als Vorstandsassistent
bei der damaligen Kreissparkasse in Göttingen.
„Damals herrschte in der Stadt Wohnungsnot“, erinnert sich Scharner. Seine
erste Wohnung in der Stadt war ein hübscher Neubau der „Volksheimstätte“.
Zwei Jahre später, die Tochter war kurz zuvor zur Welt gekommen, kaufte sich
die junge Familie in unmittelbarer Nachbarschaft ein Reihenhaus. Es sollte
sich als prima Geldanlage erweisen. Mitte der 1970er Jahre mussten Scharners
Göttingen wieder verlassen. Er war zum Vorstandsvorsitzenden der Sparkasse
Hannoversch Münden berufen worden. Gerhard Scharner betont: „Wir sind sofort umgezogen.“ Wohnen, wo man arbeitet, lautet sein Prinzip. „Das ist auch
ein Bekenntnis zur örtlichen Kultur und Nachbarschaft. Man hat kurze Wege,
kennt sich besser aus und kann Vertrauen zu seinen Kunden aufbauen.“ Das
eigene Reihenhaus wurde zunächst vermietet, später dann verkauft. Der Preis
lag mehr als doppelt so hoch wie beim Kauf.
1988 dann die Rückkehr nach Göttingen. Erneut war der Beruf ausschlaggebend.
Scharner wurde Vorstand der Kreissparkasse Göttingen. Jetzt entschied er sich,
selbst zu bauen: „Ich verstehe das nicht als Statussymbol, sondern es ging darum, eigene Wünsche zu verwirklichen. Eigentum ist für mich das Wohnideal.“
Das Wohnen in einer Genossenschaft komme seinem persönlichen Ideal sehr
nahe, hebt Scharner hervor: „Es ist sicher, solide, sozial und zukunftsgerichtet. Deswegen entscheiden sich die Leute für eine Genossenschaftswohnung,
weniger wegen des genossenschaftlichen Gedankenguts von Solidarität und
Selbstverwaltung.“
Doch auf dem positiven Image dürfe sich eine Wohnungsgenossenschaft wie
die Volksheimstätte nicht ausruhen. Moderne Neubauten, die die Bedürfnisse
insbesondere von älteren Menschen und Familien berücksichtigen, müssten
ebenso entwickelt werden, wie abgeänderte Wohnungskonzepte im Bestand.
„Bestes Beispiel ist meine erste Wohnung bei der Volksheimstätte. In dem Haus
haben wir mittlerweile einen Fahrstuhl nachgerüstet, damit auch Senioren die
Wohnungen in den oberen Etagen gut erreichen können“, berichtet Scharner.
„Es ist doch der Wunsch von uns allen, so lange dort wohnen zu bleiben, wo
man sich wohlfühlt“, meint Gerhard Scharner. Wie weit das in seinem Haus
möglich ist, vermag er nicht zu sagen. Immerhin gibt es dort vier Treppen.
1964
Ber nd Hellwig
Bremerhaven
1949
1965
2009
Auf Parzelle 83 ist die Welt in Ordnung. Rasenkanten sind geschnitten, Ziersteine ordentlich verlegt und Blumenkübel prall gefüllt. Hinter der Laube, die
erst im vergangenen Jahr mit einem Vorbau nicht unwesentlich vergrößert
wurde, wächst und gedeiht es an diesem Sommertag nach allen Regeln der
Schrebergartenkunst. Im Vogelhäuschen oben im Giebel der Gartenhütte sorgt
Familie Fink für regen Betrieb. Selbstverständlich, mag man meinen, ist dieses
Fleckchen Erde von besonderer Pracht. Schließlich heißt der Pächter Bernd
Hellwig und ist immerhin seit 1982 der 1. Vorsitzende des Kleingärtnervereins
Geestemünde-Süd in Bremerhaven. „Nur noch ein Jahr, dann ist ein anderer
dran.“ Kein Ehrenamtlicher, der diesen Satz nicht mindestens hundert Mal
gedacht, gesagt, geschrieben und geflucht hat.
Dem 60-Jährigen liegt es fern, mit seinen Beeten und Stauden, dem Goldfischteich und dem Vereinsvorsitz anderen imponieren zu wollen. Der Garten ist
ein Stück Lebenselixier für ihn und ein Bekenntnis zu seiner Heimat. Das
Ehrenamt: selbstverständlich. Die Gemeinschaft der Gartenfreunde: unersetzlich schön. Die meisten wohnen nur wenige Meter entfernt und sind
wie Bernd Hellwig waschechte „Süder“.
Geboren und aufgewachsen ist Bernd Hellwig, wie schon seine Eltern und
seine Großeltern, in Geestemünde-Süd – oder kürzer: in „Süd“. Hier kennt jeder jeden – und zwar seit sechzig Jahren oder noch viel länger. Früher war es
ein Paradies für Kinder, und Bernd und seine Freunde sind über die Wege und
durch die Gärten getobt. Sie sind in „Süd“ gemeinsam alt geworden. Kinder gibt
es hier fast keine mehr. Generationenwandel, nennen das die Soziologen.
Der Stadtteil liegt in unmittelbarer Nähe zum Fischereihafen. Wer dort
arbeitete und anheuerte, wohnte in „Süd“. Die Straßen heißen „Am Skagerag“
oder „Am Lister Tief“. Viele Jungenträume von der großen, weiten Welt wurden
hier geträumt. Voller Sehnsucht haben sie vom Deich den Schiffen hinterhergeblickt. Auch Bernd Hellwig hatte nur einen Wunsch: Seemann wollte er
werden. Raus aus der Wohnung, die er sich mit drei Geschwistern und den
Eltern teilte. In der die Kinder zu zweit in einem Bett schliefen und Bernd erst
als er größer wurde auf die Couch im Wohnzimmer ausweichen durfte.
Schon während der Schulzeit unternahm Hellwig seine ersten Touren auf
hoher See. Später lernte er Elektriker, meldete sich zwei Jahre zur Marine und
blieb anschließend aus Liebe zu seiner Frau Anne auf dem Land. Auf der Werft
fand er eine Anstellung.
1966
Mit 20 Jahren zog er aus der elterlichen Wohnung einige Straßen weiter in eine
Mansardenwohnung besonderen Ausmaßes: „Wenn ich zur Toilette musste,
habe ich immer die Dachluke aufgemacht, damit ich richtig stehen konnte.“
Vermieterin war die Wohnungsgenossenschaft Bremerhaven, der die Hellwigs
bis heute treu geblieben sind und in der sie sich als Vertreter für das Wohl der
Nachbarschaft engagieren.
Nach zwei Jahren fand das junge Ehepaar eine neue Genossenschaftswohnung: drei Zimmer, Küche, Bad, 56 Quadratmeter. Zunächst mit Kohleofen,
dann mit Ölheizung. Die Gasheizung hat Bernd Hellwig später selbst nachgerüstet. 26 Jahre hat das Paar dort gewohnt und den gemeinsamen Sohn groß
gezogen.
Seit mittlerweile zwölf Jahren wohnen die Hellwigs nun in einem der ältesten
Genossenschaftshäuser in „Süd“. Ein Klinkerbau mit nur zwei Wohnungen und
einem Vorgärtchen. „Wir wollten uns vergrößern, um Platz zu haben für die
alten Möbel, die wir in den ganzen Jahren gesammelt haben.“ Außerdem gibt
es einen Balkon, ein großzügigeres Badezimmer und ein Arbeitszimmer, in dem
Bernd Hellwig die Geschicke des Kleingärtnervereins regelt. Kleiner Luxus auf
73 Quadratmetern. Oder einfach: „Wir können uns nicht beklagen.“
Dabei war es in den vergangenen Jahren nicht einfach für das Ehepaar. Eine
schwere Krankheit warf Bernd Hellwig aus der Bahn. Die Werft ging Pleite. Für
einen rekonvaleszenten Mittfünfziger findet sich plötzlich nicht mehr der richtige Platz. Hartz IV und die ARGEn-Bürokratie haben besondere Vorstellungen
von Wohnen im 21. Jahrhundert. Ein neuer Balkon, ein renoviertes Badezimmer,
ein Fahrradhaus, um den Älteren den Abstieg in den Keller zu ersparen – das
ist ja nicht gleich ein Wolkenkuckucksheim. Doch die Bestimmungen sind unerbittlich: Übersteigt die Miete den „Höchstbetrag“ muss der Mieter, so knapp
das Geld auch ist, „den Differenzbetrag zahlen“. 30 Euro im Monat, die richtig
wehtun können. „Noch drei Jahre müssen wir uns einschränken, dann wird es
hoffentlich besser.“ Statt Hartz IV gibt es dann Rente.
Anne und Bernd Hellwig wollen dann auch mal wieder verreisen. So wie früher.
Fast wäre er sogar Hotelmanager auf Rhodos geworden. Vermutlich hat es die
Heimatliebe verhindert: „Ich würde nie in einen anderen Stadtteil ziehen“, sagt
er. Und, mal ehrlich, Rhodos käme vermutlich nicht einmal in Frage, wenn es
neben Blexen auf der anderen Seite der Weser liegen würde. Der Blick auf „Süd“
würde den Hellwigs das Herz zerreißen.
1967
Arkadij Jungnickel
Lemwerder
1959
2009
1968
Als Familie Jungnickel in Lemwerder einzog, hat sie alle Mitbewohner im Haus
zur Begrüßung zum Essen eingeladen. Doch die Hausgemeinschaft war verkracht. „Nur eine Frau ist gekommen“, erzählt Nicole. „Ein Schock.“ Aus Russland und Usbekistan waren sie anderes gewohnt. „Die Nachbarschaft war eine
große Familie.“ Nicoles Familie lebte in einem zweistöckigen Gebäude, nicht
gerade die erste Adresse. Ihre Mutter war eine geborene Hollmann. Sie selbst
war im Deutschunterricht stets Klassenbeste. Nach der Schule arbeitete das
muslimische Mädchen bei der Telefonvermittlung. Dabei lernte sie Arkadij
kennen.
In Lemwerder ist die große, weite Welt mitunter fast greifbar. Auf der nahen
Weser ziehen große und kleine Frachtschiffe mit den exotischsten Flaggen
vorbei. Am Ufer sind prächtige Motoryachten vertäut, die in den ansässigen
Werften entwickelt werden. Könige, Showstars und Milliardäre jeglicher
Herkunft gehören zu den Abnehmern. Gegenüber, auf Bremer Seite, liegt seit
1996 der Großsegler „Schulschiff Deutschland“ als maritimes Denkmal.
Auf dem Weg zur Arbeit von Lemwerder nach Bremerhaven nutzt Arkadij
Jungnickel täglich die Weserfähre. Er sieht die Schiffe, aber er träumt nicht
von fernen Ländern. Er träumt auch nicht von Omsk, der Stadt, in der er groß
geworden ist. „Heimat?“ fragt der 50-Jährige. „Ich habe keine Zeit, darüber
nachzudenken.“ Und seine Frau, die aus Usbekistan stammt? Nicole sagt:
„Heimat ist, wo es mir gut geht.“
Der junge Mann war als Soldat 1980 für einige Monate in der Nähe ihres Heimatortes stationiert. Die sowjetische Armee rückte zu der Zeit über Usbekistan
nach Afghanistan vor. Geboren wurde Arkadij Jungnickel in einem Städtchen,
das irgendwann einmal Reinfeld hieß und zu einem der großen deutschen Siedlungsgebiete in Sibirien gehörte, deren Orte und Bezirke längst ihre Namen
verloren haben. „Meine Mutter hat immer Deutsch gesprochen.“ Ihr Mädchenname: Engel. Mit sieben Jahren zog die Familie nach Omsk. „Bis dahin konnte
ich kein Wort Russisch“, erinnert sich Jungnickel. Sie bezogen am Rand der
großen Stadt ein Haus mit Garten. „Es war ruhig, fast dörflich. Das Wasser mussten wir in Eimern holen.“
Jetzt ist es eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Wesermarsch. Seit Anfang der
neunziger Jahre leben sie hier. Zunächst hatten sie im Nachbarhaus eine
Wohnung im Parterre. Aber Irina wollte gerne im ersten Obergeschoss
wohnen. „Da fühle ich mich sicherer, und die Heizkosten sind auch geringer.“
Bei der ersten Gelegenheit griffen sie zu.
Kürzlich hat das Ehepaar das Wohnzimmer umgestaltet. Die neue Schrankwand – erweiterbar – bietet Platz für Gläser und Porzellan und Matrjoschkas
und den großen Flachbildschirm. „Wir dekorieren die Wohnung gemeinsam, denn wir mögen beide keinen Kitsch.“ Auf der Rückenlehne der blauen
Polstergarnitur sitzt zwischen Teddys mit kariertem Hemd und Lederhose
eine Sponge-Bob-Puppe. Laminat, Deckenfluter, Gardinen, Rauchglastisch –
alles sehr adrett. Nicole sagt: „Wir haben uns etwas geleistet.“ Arkadij sagt:
„Wir können uns das leisten.“
Aus Usbekistan rief Arkadij Jungnickel regelmäßig zu Hause an und kam mit
„dem Mädchen vom Amt“ ins Plaudern. Nicole bekommt immer noch leuchtende Augen, wenn sie an diese Zeit denkt: „Ich wusste es sofort: Er war mein
Traummann.“ Der Soldat konnte schon bald aus dem Krisengebiet nach Omsk
zurückkehren. Sie schrieben sich Briefe, und er versprach, sie zu sich zu holen.
Im Juli 1981 setzte sich Nicole in den Zug und fuhr 3000 Kilometer – das entspricht der Strecke Moskau-Barcelona.
1990 machten sie sich auf gen Westen. Die Eltern waren bereits in Deutschland.
Bis Lemwerder sind es mehr als 4000 Kilometer. In Omsk waren sie seitdem nur
noch ein Mal – 2004 für zwei Wochen. Der erneute Abschied ist ihr, der hinzugezogenen Usbekin, schwerer gefallen als ihm.
Das Ehepaar hat zwei Töchter. Beide arbeiten in Regensburg. „Sie haben kein
Heimweh nach Lemwerder“, weiß Nicole. Dabei sei es „so ein schönes Städtchen“. Am liebsten würde sie „bis zum Lebensende“ hier wohnen bleiben.
Ihren Mann zieht es eigentlich in die Berge: „Aber ich passe mich an.“ Schoßhund Pebbles mit dem Schleifchen im Haar lässt sich genüsslich kraulen.
1969
Claudia Beie-Wiedemann
Hannover
1969
1970
2009
Der „Spiegel“ widmete sich Ende 1966 dem Thema „Zukunft“ und zitierte dazu aus einer Modellstudie des US-amerikanischen Hudson-Instituts:
„Der Normalbürger des Jahres 2000 erwacht erquickt aus einem traumlosen, medikamentengesteuerten Schlaf. Er schluckt seine 200-KalorienFrühstückspille und schlüpft in einen frischen Wegwerf-Anzug. In seinem
Elektro-Auto flitzt er über unterirdische Autobahnen zur Arbeit.“ Nicht
ohne Amüsement liest man im Abstand von mehr als 40 Jahren, wie sich die
Futurologen-Zunft damals das Leben zur Jahrtausendwende ausgemalt hat.
Die Rede ist von einer hochtechnisierten Überflussgesellschaft, von Hyperschall-Flugzeugen, verlässlichen Wettervorhersagen und Raumschiffen,
von denen jedes rund 10.000 Menschen zu fernen Welteninseln befördern
kann. Wohlhabende würden sich einfrieren lassen und auf bessere Zeiten
hoffen. „Geschätzte Gefrierkosten: 34.000 Mark“, rechnete der „Spiegel“ vor.
Doch heute? Keine Raumschiffe, keine Pillen am Morgen. Dafür gibt es das
Frühstücksbrettchen noch. Welcher Futurologe 1966 hätte das für möglich
gehalten? Die Zukunft im Jahr 2009 kann jedenfalls ganz schön gewöhnlich
sein!
Ida und Mattes Wiedemann, Kinder des 21. Jahrhunderts, essen morgens am
liebsten Haferflocken mit Milch. Ihre Mutter Claudia wärmt nebenbei im
Kochtopf etwas Milch auf für einen Latte Macchiato. Rund um den Esstisch
Eames Armchairs im Design-Mix aus 1950er und 1970er Jahren. In der Ecke
liegt ein Geweih. „Ich habe mich mit meinem Mann noch nicht einigen können, ob und wo wir es aufhängen“, sagt Claudia Beie-Wiedemann. Sie wohnen
erst seit zwei Jahren hier. Ihr Haus, errichtet in Kettenbauweise 1968, ist eine
Reminiszenz ans Bauhaus. Eine Treppe führt vom Eingang hinunter in den
Wohnbereich mit Küche. Deckenhöhe bestimmt drei Meter. Hinter der breiten
Fensterfront liegt ein wenig Garten. Oben, eine Treppe vom Eingang hinauf,
sind Schlafräume und Dachterrasse.
„Wohnen ist wichtig für uns“, sagt die Hausherrin. Dafür falle auch schon einmal der Urlaub etwas sparsamer aus. Die 40-Jährige ist teilzeitbeschäftigt als
IT-Beraterin, ihr Mann ist selbstständig. Zuletzt haben sie in einer Eigentumswohnung über zwei Etagen im Zentrum Hannovers gewohnt. Nach der Arbeit
ging es mit den Kindern auf den Spielplatz. Jetzt toben die beiden entweder
im Garten oder auf der Straße, eine Sackgasse mit wenig Autoverkehr. „Das
ist für sie die ideale Umgebung und eine totale Erleichterung für mich“, meint
die Mutter. Sie macht kein Hehl daraus, dass die Entscheidung, das Haus zu
kaufen, ihren Kindern geschuldet war.
1971
Für die Erwachsenen hingegen ist es nicht immer ideal: „Mir fehlen die Kneipen, und unser Theater-Abo haben wir auch nicht mehr.“ Also kümmert man
sich ums Haus. „Als wir eingezogen sind, haben wir alles entkernt und Wände,
Decken und Fußböden gedämmt.“ Für das Wohnzimmer wählten sie einen
Linoleumbelag. Dieser Fehlgriff wurde wenig später korrigiert. Als die Parkettleger anrückten, zog die Familie für zwei Wochen zu ihren Eltern. Die
haben ein Reihenhaus im Speckgürtel der großen Stadt. „Ich wollte immer in
der Stadt wohnen. Oder wenn schon auf dem Land, dann in einem richtigen
Dorf“, erzählt Claudia Beie-Wiedemann.
Jetzt ist sie in der Stadt, aber nur so halb am Rande und nicht mittendrin.
Irgendwo zwischen Baum und Borke. In ihrer Straße sind Wiedemanns so
ziemlich die Jüngsten. Die Nachbarn sind miteinander alt geworden, seit sie
dort in den 1950er und 1960er Jahren ihre Häuser gebaut haben. „Sie sagen, die
Neubauten hätten ihnen die Sicht auf die Wiesen verstellt. Und damit meinen
sie tatsächlich unsere drei Reihenhäuser.“ 40 Jahre alte Neubauten – wie doch
die Zeit vergeht.
Erstaunliches hatte der „Spiegel“ damals über die Zukunft des Wohnens zusammengetragen: „Der Trend zum gepflegten Heim wird anhalten…Man muss
für drei Haushaltsgenerationen sorgen, dank längerer Lebensdauer und Vorverlegung der Heirat…Die Zeit der unproduktiven Pendelei wird vorbei sein…
Die Wohnung wird immer mehr Lebens- und Geselligkeitsraum…Man wird
mehr darauf sehen, wie einer wohnt, als darauf, wie viel Metall seinen Wagen
schmückt…Das Heim des Menschen der Zukunft wird eine Zufluchtstätte der
Geborgenheit und Ruhe sowie der inneren Besinnung sein…Man wird behaglich, bequem und schön wohnen wollen…Der gesundheitliche Gesichtspunkt
wird eine große Rolle spielen…“
Klingt zwar deutlich langweiliger als Vorhersagen über Unterwasserwelten
und Weltraumstationen, hat aber Hand und Fuß. Derzeit diskutiert die NASA
ganz ernsthaft über eine Renaissance der Mondflüge und die Besiedelung des
Mars’. Für Claudia Beie-Wiedemann, die mit einer Zeitmaschine ohnehin lieber
in die Vergangenheit als in die Zukunft reisen würde, ist das eine unvorstellbare Möglichkeit. Ihr nächstes Wohnprojekt ist ganz und gar irdisch, geradezu
archaisch: Im Garten wird ein Baumhaus gebaut. Nicht so ein Provisorium aus
Europalette und ein paar Nägeln. Sondern richtig zum Übernachten. Ida und
Mattes freuen sich schon.
Susan Wald
Nordstemmen
1979
2009
1972
1973
Die „Platte“ in Köthen (Sachsen-Anhalt), die Gated-Community in Atlanta
(Georgia), der Altbau in Hildesheim (Niedersachsen), die Reihenhaussiedlung
in Nordstemmen (Landkreis Hildesheim) – in der Wohnbiografie von Susan
Wald schimmert die Lebensplanung einer modernen jungen Frau durch, die
Karriere und Familie gleichermaßen im Blick hat. Jetzt lebt die 30-Jährige mit
ihrem Mann Nico und den beiden Söhnen Jonas (2006 geboren) und Jannes
(2008) in einem gemieteten Reihenendhaus in einer 2000-Einwohner-Gemeinde. Wohl einer dieser perfekten Kompromisse, zu dem Paare wie die Walds
immer wieder bereit sein müssen, um ihre Ziele zu erreichen.
mit Einbauküche und „dickem Teppichboden“ zahlen die jungen Deutschen
900 Dollar. Nico Wald arbeitet von morgens früh bis abends spät – wie seine
Nachbarn auch. Wenn seine Frau tagsüber am Pool für ihre Prüfungen lernt,
ist sie stets allein. Von Community keine Spur.
„Wir haben uns bewusst wieder für Deutschland entschieden“, sagt Susan
Wald. „Null soziale Absicherung in den USA“, wenn mal etwas schief laufen
sollte, das war den Eheleuten doch zu wenig. Also Hildesheim. Dem neuen
Job von Nico Wald hinterher. Die angehende Ärztin absolviert im Städtischen
Krankenhaus ihr Praktisches Jahr.
Nordstemmen ist buchstäblich der Mittelpunkt in ihrem privaten Kosmos.
Der Ort liegt mehr oder weniger exakt zwischen den Arbeitsplätzen – dem
Krankenhaus, in dem die promovierte Bio-Chemikerin Susan Wald als Neurologin tätig ist, und dem Elektronikkonzern, in dem der Ingenieur Nico Wald
Navigationssysteme programmiert. Nordstemmen hat eine Kindertagesstätte
ohne Warteliste, eine Grundschule und eine Kinderturngruppe. Es gibt nette
Nachbarn, viele Kinder, Rutschen und Klettergeräte hinter jedem Haus. Die
Walds haben zwei Autos.
Dann kommt das erste Kind. Die Wohnung im dritten Obergeschoss wird zur
Belastung. Nebenbei schließt die Medizinerin ihre Doktorarbeit ab. Als sich erneut Nachwuchs ankündigt, sucht die Familie im Internet nach einer neuen
Bleibe. Die Kriterien sind klar umrissen: möglichst in der Nähe ein Haus zum
Mieten. In Nordstemmen werden sie fündig. „Home is where I hang my hat.”
Vielleicht wird Nordstemmen eine Episode in ihrer Familienchronik, an die
sich bei den Walds in 50 oder 60 Jahren niemand mehr erinnert. Zumindest für
Jonas und Jannes könnte der Ort aber auch so etwas wie Heimat werden. Alles
ist möglich. Susan Wald wird sich vorerst nicht festlegen.
Susan Wald fühlt sich wohl in diesem Ort. Aber sie sagt: „Ich spüre keine Verbundenheit mit Nordstemmen.“ Es ist zur Zeit sehr praktisch. Doch sie könne
sich vorstellen, auch wieder wegzuziehen. „Auf einen Garten wollen wir dann
aber nicht mehr verzichten.“ Und kleiner dürfe die neue Wohnung auch nicht
sein. Sogar Nordstemmen hat also einige Maßstäbe im Orientierungsrahmen
der Walds verrückt. Anderes steht felsenfest: „Nie wieder nach Köthen. Alle
jungen Leute, die beruflich etwas erreichen wollten, sind fort.“ Auch sie und
Nico, den sie bereits seit ihrer Schulzeit kennt.
Noch ist alles auf die Kinder und die Arbeit ausrichtet. Der Tagesablauf,
das Haus, der Garten. Fein austariert. Ein Auszug wäre in wenigen Stunden
geschafft. Und wenig später schon stünden die Fotos von den Jungs auf dem
Sideboard in einem anderen Haus in einer anderen Stadt – und alles sähe aus
wie in Nordstemmen. Im Wohnzimmer gäbe es weiterhin keinen Tisch. „Meine
Eltern sagen immer, ihr braucht doch einen Tisch. Aber wir brauchen keinen.
Dann hätten die Kinder nicht mehr genug Platz zum Spielen.“ Jannes lacht
und zeigt seine ersten Zähnchen. Gleich kommt Jonas vom Kindergarten nach
Hause. Die Nachbarin bringt ihn mit. „Die guten Kontakte gibt es hier zur
Miete kostenlos dazu“, sagt Susan Wald – und für einen Moment könnte man
meinen, sie würde es wirklich vermissen, wenn sie mit der Familie wegzieht –
dem nächsten Job hinterher.
Noch während ihres Studiums in Magdeburg zieht ihr Mann nach Atlanta.
Susan Wald besucht ihn in den Semesterferien. Die Wohnanlage ist nur durch
ein großes Tor zu erreichen und wird von Mauer und Zäunen umgeben: Gated
Community. Hier wohnt, wer auf dem Weg nach oben ist. Sogar zur Wäscherei,
die zentral auf dem Gelände liegt, fährt man mit dem Auto. Man gönnt sich ja
sonst nichts. Komfort und Sicherheit haben ihren Preis. Für das Appartement
1974
Cäcilia Holtgreve
Braunschweig
1989
1975
2009
Der Weg zu Cäcilias Wohnung führt über den Hinterhof. Na ja, nicht gerade
eine Kuschelecke. Dieses Fleckchen ist zu grau, zu steinig, zu rostig. Cäcilia
Holtgreve, Design-Studentin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, klemmt ihr Fahrrad in den Ständer, zerrt die Post aus dem Kasten
und springt die Treppen hinauf.
Erst seit wenigen Wochen wohnt sie hier mit einer Kommilitonin. Cäcilia
ist 20, Jenny 27 Jahre alt. Beide hatten sich kurz vorher von ihren Freunden
getrennt und daraufhin ihre Sachen „zusammengeschmissen“, wie es so
schön heißt. Eine völlig zufällige Konstellation also, die zu dieser ZweiFrau-WG geführt hat. Aber keineswegs untypisch. Zu zweit ist es nur halb
so teuer. Und zum Kennenlernen bleibt noch genug Zeit.
Braunschweig ist Cäcilias erste „Station“ außerhalb des Elternhauses. Sie
stammt aus dem nordrhein-westfälischen Warburg, ziemlich genau in der
Mitte zwischen Paderborn und Kassel gelegen. Ihr Vater Alfons, ein erfolgreicher Grafikdesigner und Künstler, hatte ihr nach dem Abitur vorgeschlagen: Studier doch in Kassel! Frei übersetzt heißt das wohl: Bleib bei
uns!
Stattdessen zog es sie davon. Nach dem Abitur zunächst für drei Monate nach
Kroatien, wo ihre Mutter herstammt und ihre Schwester geboren wurde.
„Kroatien und Warburg sind meine Heimat“, sagt Cäcilia. Braunschweig
spielt in einer anderen Liga. Ob sie ihr Herz an diese Stadt verlieren wird?
Eher wird sie ihr Herz in dieser Stadt verlieren. „Braunschweig ist okay“,
meint die Studentin. Die Stadt Heinrichs des Löwen ist zehn Mal so groß
wie Warburg mit all seinen Ortsteilen und vom Elternhaus fünf Mal so weit
entfernt wie Kassel. Mit dem Fahrrad komme man überall hin. „Es ist der
Einstieg ins Stadtleben für mich.“ Die Großstadt sei immer ihr Ziel gewesen.
Nicht gerade Berlin. „Vor Berlin habe ich Respekt.“ Berlin ist Großstadt für
Profis. Braunschweig ist Großstadt für Anfänger. Cäcilia nennt es „Übergangsstadt“. Neugierig entdeckt sie Tag für Tag neues Terrain. „Es gibt so viele
Möglichkeiten – vor allem bei Kunst und Kultur.“
1976
In Warburg ist Cäcilia nie umgezogen. In Braunschweig hingegen wohnt sie
bereits in ihrer zweiten Wohnung – nach einem halben Jahr. Die Großstadt als
Umzugsstadt. „Unsere neue Wohnung ist ein Glücksgriff. Ein Angebot aus der
Zeitung, ganz altmodisch.“ Zwei Zimmer, eines mit Balkon, ein Bad und eine
große Küche. Kurzum: perfekt für zwei Studentinnen. Zumal auch der Preis
stimmt. Da war sogar noch ein Küchenschrank drin – weiß, günstig, passgenau.
Keine Stilikone, aber er erfüllt seinen Zweck.
Die Post liegt auf dem Küchentisch. Ein Brief des Vaters ist dabei. Unter der
Spüle stapeln sich leere Bierflaschen. Auf dem Flur stehen noch Umzugskartons.
Hier Werkzeuge, dort Pinsel. „Wohnen heißt, dass ich mich zu Hause fühle“, sagt
die junge Frau. „Meine Bilder helfen mir dabei.“ Die Wände in ihrem Zimmer
sind übervoll. Alfons Holtgreve hat mit seinem Brief eine kleine selbst gestaltete
Karte geschickt, die ebenfalls einen Platz finden wird.
In 20 Jahren sieht sich Cäcilia Holtgreve in einer großzügigen Altbauwohnung
zu Hause. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eine Altbauwohnung
im Jahre 2030 ist für die Studentin „eine Altbauwohnung wie heute“ – nur eben
20 Jahre älter. Hohe Räume, große Fenster, Holzfußboden. Die Wohnung wird
schlicht eingerichtet sein, und vermutlich werden an den Wänden, wie eine
Art Orientierungshilfe fürs Wohlfühlen, zahllose Holtgreve-Bilder hängen. „Eine
elitäre Vorstellung“, meint die 20-Jährige, die immer auch „die bescheidenen
Wohnverhältnisse“ der Verwandtschaft in Kroatien vor Augen hat.
Statt Wohnung ein Haus mit einem kleinen Garten und einer Familie? Diese
Idee erscheint ihr derzeit „einfach spießig“. Und nach Warburg zieht es sie
vorerst auch nicht zurück. „Ich bin weg und bleibe auch weg.“ Das klingt trotzig, aber keineswegs abwertend. Die angehende Designerin hat anderes im
Blick. Braunschweig ist Zwischenstation. Ein Semester möchte sie in Barcelona
studieren. Was danach kommt ... Fragezeichen!
Ihr Vater wird seine Briefe mal hier hin, mal dort hin schicken. Seine Tochter
wird ihm antworten. Ihre Briefe haben stets das gleiche Ziel: Warburg!
Felix Borchers
W ilhelmshaven
1999
2009
1974
1977
Wohnen kann so einfach sein. Vor allem für Felix Borchers und seine Altersgenossen. Als Zehnjähriger will man von Mieten, Krediten und Reparaturen
nichts wissen. Selbst die Organisation des Haushalts wird gerne den älteren
Mitbewohnern – sprich: den Eltern – überlassen. Hauptsache der Kühlschrank
ist voll! Das eigene Zimmer aufzuräumen, gilt gemeinhin als Höchststrafe
und wird nur erledigt, wenn sonst ein Fernsehverbot droht.
Felix wohnt zeit seines Lebens in einer Bauvereinssiedlung in Wilhelmshaven. „Auf Siebethsburg“, wie es in der Jadestadt heißt, ist seine Heimat.
Schon sein Vater Jochen ist hier aufgewachsen, und die Großeltern wohnen
auch noch im Quartier.
Die Wohnung – ursprünglich waren es zwei Wohnungen, die zu einer familientauglichen Größe zusammengelegt worden sind – teilt sich der Blondschopf
nicht nur mit seinen Eltern, sondern auch mit den älteren Zwillingsschwestern Julia und Romea. Nicht ohne Stolz vermeldet das Nesthäkchen: „Ich habe
das größte Zimmer!“ Allerdings ohne Internetzugang. „Den bekomme ich erst,
wenn ich zwölf bin.“
Das „größte Zimmer“ wäre sicherlich unter den Top Ten, wenn man Zehnjährige fragen würde: „Was ist Dir wichtig beim Wohnen?“ Dazu kommen
bei Felix – und wir nehmen einfach an, er sei repräsentativ – der Platz vor
dem Fernsehgerät, ein Hochbett mit einem Sofa darunter, die Freunde in der
Nachbarschaft und eine gute Gelegenheit, „um die Ecke“ Fußball zu spielen.
Momentan spielen Felix und seine Kumpel Karlo und Keno auf einer kleinen
Wiese direkt neben dem Hauseingang. Wohl dem, der so ein Plätzchen zur Verfügung hat. Bis vor kurzem gab es in der Nähe auch noch einen richtigen Bolzplatz. Der wird jedoch zu einem Parkplatz umgebaut. „Warum brauchen die
noch einen Parkplatz, die haben doch schon drei“, fragt Felix und ist ratlos.
Zur Schule fährt der Fünftklässler mit dem Fahrrad. „Das dauert weniger als
fünf Minuten.“ Von dort geht es ohne Umschweife zum Fußballtraining. Das
Abwehrtalent spielt für den FC Olympia in der E-Jugend. In seinem Zimmer
wird schnell klar, von welchem Verein Felix träumt: Poster von Franck Ribéry
und der Mannschaft von Bayern München kleben an Wänden, Schränken und
Türen. „Möchtest Du gerne in München wohnen?“ „In der Allianz-Arena, das
wäre cool.“
Auch andere Städte hat Felix Borchers schon ins Visier genommen. Hamburg
oder Berlin. „Aber da ist alles viel teurer als hier“, meint der Junge. Sogar
Schokolade würde in den großen Städten mehr als fünf Euro kosten. Dann
vielleicht Bremen? Felix zieht die Nase kraus und schüttelt den Kopf.
Wo sonst? „Im Weißen Haus.“ Ihm ist zwar klar, dass es als Wilhelmshavener
ziemlich aussichtslos ist, Präsident der USA zu werden. Doch die Aussicht ist
verlockend: „Da ist so viel Platz. Und im Garten kann man bestimmt gut Fußball
spielen.“
Bis die ganz großen Wohnträume verwirklicht werden, dauert es vermutlich
noch ein wenig. Aber dann muss es Schlag auf Schlag gehen. Denn Felix hat
viele Ideen: Der Garten auf der Drehscheibe zum Beispiel, damit man immer
in der Sonne sitzt. Große Kinderzimmer mit mindestens 30 Quadratmetern.
Die Zimmer sollten nur kleine Fenster haben, um größere Schränke darunter
rücken zu können. Aus Platzgründen (für noch mehr Schränke) dürften auch
die Heizkörper höchstens 20 Zentimeter groß sein. Und jeder Heizkörper würde
drei Räume beheizen.
Keller will Felix abschaffen. Stattdessen plädiert er für mehr Abstellfläche
in der Wohnung. Warum? „Ich muss jetzt immer die Getränke aus dem Keller
holen. Und Mama und Papa schicken mich, wenn der Krimi im Fernsehen
gerade so spannend ist.“ Na, wenn das kein Grund ist, Hausarchitektur ganz
neu zu überdenken.
Die Zimmer der Zukunft brauchen keine Lampen mehr. Felix plant das so:
„Das Licht kommt aus den Tapeten oder aus den Wänden.“ Für den Hausmüll
schlägt er einen Laserzerstörer vor. Ein Hausroboter macht sauber und räumt
auf. Treppenhäuser sind überflüssig. Zwischen den Stockwerken „beamen“ sich
die Menschen hin und her. „Aber wie schützt man sich dann vor Einbrechern?“
fragt sich Felix selbst. Man merkt: Er möchte Polizist werden.
Aber das dauert noch. Jetzt geht es erst einmal hinaus zum Spielen. Schuhe an,
Tür auf, schon ist Felix mittendrin in seiner Welt. Die Zukunft muss warten!
1978
Liam Garske
Hannover
2009
2009
1979
Wie wird das Wohnen sein in 100 Jahren? Das wissen wir natürlich nicht.
Viele von uns werden es auch nicht erfahren. Liam Garske aus Hannover
hingegen wird alle Chancen haben, sich auf das Leben im 22. Jahrhundert
vorzubereiten. Er wird Pläne schmieden und Ideen verwirklichen. Vielleicht
wird er im Jahr 2109 zu einem erdähnlichen Exoplaneten in der bewohnbaren
Weltallzone reisen, um sich pünktlich vor seinem 100. Geburtstag noch einmal im intergalaktischen Wellness-Zentrum aufzufrischen. Oder er blickt aus
dem Fenster seines Appartement-Moduls im 400. Stockwerk eines energetisch
völlig autarken Neubaus auf dem Grundstück des früheren hannoverschen
Flughafens und guckt den „Rocket-Ship-Races“ auf der nahen Nordsee zu.
Liam im Jahr 2009 denkt an solche Dinge nicht. Seine Welt ist in Ordnung bei
seiner Mama auf dem Arm oder in seinem Bettchen mit irgendeinem Spielzeug
in der Hand. Übers Wohnen können Simone Garske und ihr Lebensgefährte
Thomas Sikora ihrem ersten Kind später noch einiges erzählen. Die gemeinsame Genossenschaftswohnung mit dem eigenen Kinderzimmer symbolisiert
den vorläufigen Höhepunkt ihrer Beziehung. Bei ihnen war erst die Liebe,
dann der Umzug. Nicht selten wird die Wohnung auch als PartnerschaftsTeststrecke genutzt. Wer hält es aus, wenn die Zahnpastatube oben ausgedrückt wird, wenn rote Socken das weiße Lieblingshemd verfärbt haben
und das Essen letztlich doch nicht so schmeckt wie bei Muttern?
Thomas Sikora stammt aus Kattowitz: „Wir haben mit drei Generationen
in einer Wohnung gelebt. Mein Bruder und ich, unsere Eltern und die Großeltern. Sechs Personen in zwei Zimmern auf 48 Quadratmetern.“ Es gab
Vorteile: „Es war immer jemand da, mit dem man reden oder spielen konnte.“
Außerdem war die Miete günstig. „So fünf bis zehn Prozent vom Monatsverdienst“, schätzt Sikora. Es gab aber auch Nachteile: „Die Privatsphäre vor
allem für meine Eltern fehlte völlig.“ Schlimmer wurde es nach einem Umzug
in eine Ein-Zimmer-Werkswohnung der Firma, für die sein Vater arbeitete.
„Das war echt schäbig“, erinnert sich der mittlerweile 32-jährige Sikora. Zwei
Jahre dauerte dieses Wohnmartyrium. Dann zog die Familie in einen Neubau.
Neunter Stock. „Mein Bruder und ich hatten ein eigenes Zimmer, in dem wir
sogar Fußball spielen konnten.“
1980
1990 verabschiedeten sich Sikoras von der polnischen Heimat und zogen nach
Deutschland. Wohnungsmäßig ein absolutes Déjà-vu-Erlebnis. In Hannover-Vahrenheide lebten erneut drei Generationen der Familie unter einem Dach: Oma,
Tante, Eltern und die Kinder. Acht Monate lang schlief Thomas auf dem Fußboden. Im Rückspiegel betrachtet: „Eine anstrengende Zeit, aber schön und sehr
familiär.“ Seine Eltern haben sich mittlerweile ihren Traum vom Wohnen erfüllt:
Ein Reihenhaus am Rande Hannovers; zwei Etagen und ein kleiner Garten.
Bei Simone Garske, der gebürtigen Hannoveranerin, schließt sich mit der
Wohnung ihrer eigenen Familie ein Kreis. Nachdem sie mit ihren Eltern schon
„zwei-, drei Mal“ innerhalb der Stadt umgezogen war, verschlug es sie zeitweise
auch nach Bayern. Jetzt also mit Freund und Sohn wieder mitten in Hannover.
Thomas ist nach der Reihenhauszeit regelmäßig umgezogen: Kronsberg,
Kirchrode, Südstadt – auch auf diese Weise kann man eine HalbmillionenStadt wie Hannover kennenlernen. „Diese Umzüge empfinde ich wie eine Art
Identitätssuche“, sagt der diplomierte Sozialwissenschaftler.
Seinem Sohn wünscht er, „dass er besser Wurzeln schlagen kann.“ Ständige
Ortswechsel kosten Bekanntschaften. „Wie schön muss es dagegen sein, wenn
man Freunde aus dem Kindergarten ein Leben lang behalten darf.“ Was die
Wohnzukunft ihrem Kind bringen wird? Simone und Thomas sind überzeugt
davon, dass soziale Netzwerke („Dinge, die man greifen kann“) eher an Bedeutung gewinnen werden. Die virtuellen Internet-Verstricker von SchülerVZ,
Facebook und XING seien dafür kein Ersatz. Thomas ahnt, dass es die Sehnsucht
der Menschen nach persönlichen Kontakten ist, trotz oder gerade wegen der
zunehmenden Anzahl von Ein-Personen-Haushalten: „Kürzlich auf dem Weg
von der Bushaltestelle nach Hause habe ich eine ältere Frau bemerkt, die ein
Kissen aufs Fensterbrett gelegt hatte und auf die Straße schaute. Ich habe sie
freundlich gegrüßt. Und sie hat sich sehr darüber gefreut.“
Wann haben Sie zuletzt aus dem Fenster geguckt? Nicht nur mal kurz in den
Garten oder auf die Straße, sondern um zu beobachten, um zu genießen und um
am Leben draußen teilzunehmen. Ob Liam in 100 Jahren wirklich die Nordsee
von Hannover aus sehen kann, ist jetzt nicht wichtig. Schön wäre es, wenn er
Spaß daran hätte, aus dem Fenster zu sehen.
Zukunft
Wohnen!
Experten
thesen
Te x t u n d I n t e r v i e w s : B e r t S t r e b e
. . .v o n j e d e m e t w a s .
1981
1982
e
„ Wo h n e n a u f d e m Wa s s e r h a t P o t e nz ia l! “
S a sc ha Akker mann
Sc hrein er, Ol d e n b u r g
Das Bedürfnis, den Elementen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, ist
so alt wie die Menschheit. Deswegen brauchen wir Häuser. Aber fast genauso
groß ist das Bedürfnis, den Elementen dennoch nahe zu sein. Deswegen brauchen wir Balkone und Terrassen, Gärten und Wintergärten, Wohnhäuser am
Wasser.
Oder: Wohnhäuser auf dem Wasser. Sascha Akkermann ist Schreiner und
Designer in Oldenburg und hat sich schon immer ein Hausboot gewünscht.
Und da es keins gab, das einerseits seinen Ansprüchen genügte und andererseits bezahlbar war, hat er eben selbst eins gebaut. Der „Silberfisch“, wie
Akkermann und seine Kollegen Flo Florian und Bernhard Urich ihre Kreation
genannt haben, ist im Oldenburger Stadthafen zu bewundern. Und sie ist
wirklich bewunderungswürdig.
Akkermann hat das Tischlerhandwerk noch auf der traditionsreichen Oldenburger Brand-Werft gelernt, die Mitte der neunziger Jahre in die Insolvenz ging.
Heute beheimatet das alte Werftgelände viele kleine Firmen – auch Akkermanns
Schreinermeisterei. Zusammen mit der Designerin Flo Florian gründete Akkermann 2002 das Label confused direction mit dem Schwerpunkt Möbeldesign.
Die beiden stellen beispielsweise edle, schmiegsame Liegen und Sofas, witzige
Regale und verschrobene (aber wunderschöne) Tische her. Und nun auch Hausboote. Jedenfalls haben sie erst mal den „Silberfisch“ gebaut und bieten ihn jetzt
zum Verkauf, um sich zu refinanzieren – wer 150.000 Euro übrig hat, kann ihn
haben. Dann sollen weitere Hausboote folgen, und Akkermann will auf jeden
Fall irgendwann auf einem wohnen. Derzeit ist das noch nicht so einfach.
Sascha Akkermann ist der festen Überzeugung, dass das Wohnen auf dem Wasser ein großes Zukunftspotenzial hat. In Oldenburg, das von der Hunte durchflossen wird, sowieso, aber auch in anderen Städten wie Hamburg, Kiel, Berlin,
Duisburg – Wohnraum ist knapp, Büroraum ist knapp. Das Vorbild der nahen
Niederlande, wo Hausboote und Wohnschiffe zum Alltagsbild gehören, wirkt
nach und nach. Aber auch in Brandenburg, wo der geflutete Braunkohleabbau
Seenlandschaften entstehen ließ, oder in der Lausitz gibt es Bemühungen, das
Hausbootwesen nicht nur in den Uferbereichen der Gewässer, sondern auch in
den Köpfen von Planern und Behördenchefs zu verankern.
1983
Das Problem ist, dass man sein Boot nicht einfach irgendwo vertäuen kann.
Man braucht eine genehmigte Infrastruktur – Steg, Versorgungsleitungen, Entsorgung. „Wenn es mehr Liegeplätze gäbe“, sagt Akkermann, „hätten wir schon
ein paar Hausboote verkauft.“ So aber liegt der „Silberfisch“ immer noch als
Unikat und provisorisch im Oldenburger Hafen. Akkermann hofft, dass sich
das Manko mit dem geplanten Hafenumbau erledigen wird. Aber das dauert
noch ein paar Jahre.
Interesse am „Silberfisch“ gibt es zuhauf. Bei offiziellen Besichtigungsterminen
wurde das Boot fast gestürmt, und auch außerhalb davon kommt alle naselang
jemand vorbei und inspiziert das ebenso elegante wie im Sinne des Wortes
schräge Objekt. „Die Leute springen einfach über den Zaun“, sagt Akkermann.
Der Fisch ist etwas mehr als 14 Meter lang und vier Meter breit und wiegt 13,6
Tonnen. Er bietet eine Wohnfläche von 40 Quadratmetern (plus eine eingezogene Schlafebene von 5,5 Quadratmetern), außen stehen 33 Quadratmeter Fläche zur Verfügung, 17 davon gehören zur begrünten Dachterrasse. Bio-Toilette,
Bad mit Dusche und Waschmaschine, eine komplett eingerichtete Küche und
ein bulliger Holzofen komplettieren die Grundausstattung. Dass die Bücher
schimmelig oder die Bettdecken klamm werden, braucht man nicht zu befürchten: Die Fassade aus silbrig schimmernden Resopalplatten ist hinterlüftet, die
Balkenkonstruktion mit Hanf und Holzfasern isoliert. Im übrigen ist das Objekt
mit den exquisiten Möbeln von confused direction bestückt. Man kommt sich
also wie in einer Designer-Villa vor – mit dem Unterschied, dass es von unten her gluckst und das Glitzern der Sonne auf dem Wasser durch die Fenster
scheint. „Ist schon was anderes, wenn der Kormoran direkt vor der Tür taucht“,
sagt Sascha Akkermann.
Der „Silberfisch“ sollte „ein wertiges Heim“ werden, „das eine ausgewogene
Mischung aus Design und maritimer Romantik darstellt“. Ist er geworden.
«
X
„ M e hr e r re i c he n mi t we ni ge r M i tt eln !“
M a rgi tta B uc he r t
P rof es s ori n, H annov er
1984
Sportbekleidung kaufen kann, die auf die Körpertemperatur reagiert, könne es
bald auch Gebäude geben, die auf unterschiedliche Faktoren reagierten, sagt
Margitta Buchert. Ganz neue Gebäudequalitäten also – oder wieder ganz alte
könnten in Mode kommen. Das Verständnis für so genannte alte Konzepte kann
verändert werden und dazu ermutigen neue zu entwerfen. „Vergangenheit“,
hat Margitta Buchert in einem Aufsatz zum Thema „Zukunft“ geschrieben, sei
„nicht nur inaktives Bildungsgut im Sinne gespeicherten Wissens und nicht
nur als Rückversicherung zu verstehen, um Positionen zu erhalten oder zu erhärten, die sich bewährt haben.“ Geschichtlichkeit zeige sich eher als „Möglichkeit, die Enge vertrauter Muster und individueller Subjektivität sowie des
unmittelbaren Wahrnehmungs- und Erfahrungsraums zu überschreiten, als
Angebot, eigene Denk- und Gestaltungsweisen in andere Relationen zu setzen“. Und weiter: „Nicht zuletzt erwächst daraus die Möglichkeit, gleichermaßen begründbare wie unerschrockene Erwartungen an die Zukunft zu richten.
Wesentlich erscheint die Reflexivität als Strategie, die den Bedingungen des
eigenen Deutens und Handelns Aufmerksamkeit schenkt. Erinnerung ist dafür
ein Rohstoff.“
Das Wort „wohnen“, sagt Margitta Buchert, bedeute nach seinen althochdeutschen Wurzeln „sich aufhalten“, „bleiben“ oder „sein“ – auch im Sinne von
„zufrieden sein“. Es bedeute, zu einem vertrauten Umfeld zugehörig zu sein und
einen Rückzugsraum zu haben.
Das brauche sie, sagt sie. Das Umfeld, den Rückzugsraum, Ruhe, Grün, Weite
auch. Sie lebt an einem der urbansten Orte mitten in der Stadt, mitten in Hannover. Aber „mit Grünbezug“. Und die Stadt werde sie wohl weiterhin bevorzugen,
sagt Margitta Buchert, die Urbanität, die Dichte, die Mischung verschiedener
Menschen und Kulturen.
Margitta Buchert ist Professorin an der Fakultät für Architektur und Landschaft
der Leibniz Universität Hannover. Sie interessiert sich für Zukunft. Auch für die
des Wohnens. Aber sie redet nicht von Virtualitätsvisionen, in denen wir uns
alle nur noch in künstlichen digitalen Welten austauschen und die Kühlschränke selbsttätig die zur Neige gehende Milch nachbestellen. Denn Vergangenheit
und Gegenwart seien immer auch Bestandteil der Zukunft, sagt Margitta Buchert. Und virtuelle Raumvorstellungen seien ja auch nichts Neues, die habe es
schon immer gegeben, in der Mathematik, der Literatur, der Architektur.
Vor 20 Jahren konnten wir uns nicht vorstellen, dass einmal nahezu jeder
westliche Weltbewohner eine Box am Schreibtisch stehen haben würde, die
Informationen aus aller Welt in Sekundenschnelle bereitstellt, oder dass die
Menschen keine Telefonzellen mehr bräuchten, weil sie die Telefone mit sich
herumtragen. „Was wir uns von der Zukunft vorstellen können“, sagt Margitta
Buchert, „das sind viele verschiedene Möglichkeitsräume, die es kreativ zu entwickeln gilt“. Wichtig sei aber auch das, was in der Vergangenheit Bedeutung
hatte. „Das, was bleibt: Haus und Umgebung, eine Tür, ein Fenster, eine Treppe,
die Wand. Das Reservoir des `Bleibens´, des Nahen sollte neu bedacht werden.
Es kann zur Betonung sinnlicher und sozialer Präsenz beitragen.“
Wir könnten uns beispielsweise an existenzielle raumbezogene Grunderfahrungen erinnern, in denen die Qualität und die Atmosphäre eines Raums, eines
Hauses, einer Straßenzeile, eines Viertels noch Bedeutung hatten – und die,
wie es sich Margitta Buchert wünscht, wieder Bedeutung bekommen sollten.
„Einfach Lebensqualität“, sagt sie, „vermittelt durch qualitätvoll gebaute Umwelt. Der Bezug zu Dingen und zu natürlichen Elementen wird auch in Zukunft
wertvoll sein.“ Bei leerstehenden Gebäuden etwa könne man ganze Geschosse
rausnehmen für mehr Licht und Luft oder Begrünung und Freiraum. Der holländische Pavillon auf der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover sei ein „Denkmodell“ in diese Richtung gewesen. Ein Haus habe nicht nur eine Schutzfunktion in technischer Hinsicht. Viel wichtiger sei die Lebensqualität. Mit offener
Orientierung hin zum noch nicht Bekannten gelte es, diese zu entwickeln.
Dabei entwickeln sich die Erfahrungen und Möglichkeiten. „Das Thema Ökologie wird fortgeschrieben, das Denken in Systemen der Relation von Architektur und Umwelt bedeutender“, sagt die Professorin. Wie man inzwischen
Margitta Buchert ist Optimistin. Sie ist zuversichtlich, dass die Völkerverständigung, die Durchmischung der Kulturen zunehmen, dass die Gesellschaft Benachteiligte mehr einbeziehen wird. Dass Wohnensembles künftig nicht nur
1985
Wohngebäude sein werden, sondern auch Raum für Kollektivaufgaben bereithalten, Platz für Kinder und Jugendliche, für die Begegnung der Generationen,
für Bildung und Kultur. Die Aufmerksamkeit für qualitätsvolle architektonische
Gestaltung kann dies unterstützen.
„Mehr für weniger“, sagt Margitta Buchert. „Mehr erreichen mit weniger Mitteln, weniger Verbrauch. Besser erkennen, was überflüssig ist.“ Wohnen heißt
für sie, dass die Dinge und die Menschen anwesend sind und Wohn-Orte schaffen. Dies wäre für sie eine gelingende Zukunftsgestaltung.
«
P
„ Sch afft ro b u ste G ru n d risse!“
J e ns. S. Da ngsc ha t
P rof es s or, W i en
1986
„Neue Unübersichtlichkeit“ lautet das Schlagwort. Klar, sagt Jens
S. Dangschat, in Wiesbaden geborener Professor für Siedlungssoziologie und
Demografie und Leiter des Fachbe­reichs Soziologie in der Fakultät für Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien, natürlich gebe es
die bekannten Trends des de­mografischen Wandels, der Individuali­sierung, der
Ausdifferenzierung der Wohnformen. Aber was heiße das denn? Architekten
und Wohnungswirt­schaft beschäftigten sich jetzt zwar dau­ernd mit flexiblen
Grundrissen. Doch die meisten Mieter passten sich immer noch den bestehenden Wohnungen mit dem geläufigen Schema Wohnzimmer/ Schlafzimmer/
Kinderzimer an. Und das, obwohl lediglich noch etwa ein Viertel der Haushalte
in Großstädten Familien­haushalte seien.
Die Architektur, meint der 61-jährige Professor, reagiere zu extrem. Alle plä­
dierten jetzt für Wohnungen mit zu­schaltbaren Räumen oder versetzbaren
Wänden oder gar keinen Wänden. Doch Dangschat wird misstrauisch, wenn
sich alle einig sind. Natürlich seien solche Angebote an sich sinnvoll. Aber: Nur
etwa ein Prozent der Woh­nungen am Markt entstehe pro Jahr neu. Demnach
werde es lange dauern, das ganze Angebot zu flexibilisieren. „Schafft lieber
robuste Grundrisse“, empfiehlt Dangschat den Architekten, „mit guter Typologie.“
Wohnungen also, in die ein Paar, ob verheiratet oder nicht, ohne Kinder ein­
ziehen und drin bleiben kann, wenn dann doch eines kommt. Wobei es heute
eine Illusion sei, wenn Architek­ten glaubten, jemand ziehe in eine Wohnung
und bleibe da dann die näch­sten 40 Jahre. Wie es Lebensab­schnittspartner gebe, solle es auch Lebensabschnittswohnungen geben. Etwa zehn Prozent aller
Stadtbewohner zögen jedes Jahr um. Und diese Ent­wicklung werde in Deutschland nur des­wegen gebremst, weil die Umzugs­kosten so horrend seien. Ganz zu
schweigen von dem Aufwand, wenn der Bewohner eine Wohnung nicht bloß
gemietet, sondern gekauft hat. Notar, Grundbucheintrag, Grundsteuer, Makler –
das sei hier alles überteuert. Da solle sich Deutschland mal ein Beispiel an den
USA oder Großbritannien nehmen.
„Katastrophal“ nennt Jens Dangschat das Marketing der Immobilienwirtschaft
– sie habe halt die Erfahrung gemacht, dass jede Wohnung genommen wird, sie
1987
habe sich nur so viel wie nötig be­wegt. Erst in jüngster Zeit beginne sie, sich
für die Milieus ihrer Mieter zu inter­essieren. Diese Mieter wiederum wüss­ten
oft gar nicht, was sie alles erreichen könnten bei den Wohnungsunterneh­men
– wenn sie es nur einfordern wür­den. Und so lebten sie denn 50 Jahre in irgendwelchen „Schuhschachteln“. Erst, wenn es ihnen doch irgendwann zuviel
werde und sie auszögen und es zu Leerstand komme, erst dann reagiere auch
die Wohnungswirtschaft.
Der Wohlstand in den Städten nimmt zu, ebenso die Armut. Die Zahl der Migranten steigt, und Deutschland braucht sie auch. Feste Jobs werden seltener,
die Zahl der Leute, die zu Hause arbeiten und sich dabei von Pro­jekt zu Projekt
hangeln, wächst. Aber, sagt Dangschat: Auch im Jahr 2020 werde sich für viele
Menschen nur we­nig verändert haben. Sie leben in ihrer Kleinfamilie, gehen
ihrer Erwerbsarbeit nach, verfügen über ein niedriges, aber berechenbares
Einkommen. Nicht im­mer und überall bestimmen die Trend­setter den Markt,
und auch für die an­deren, gewöhnlichen Kunden müsse es Angebote geben.
In Manchester etwa hat sich der Soziologe Experimente mit dem „minimalen
Wohnen“ angeschaut. Kleine Grundrisse, die jedoch großzü­gig wirken, weil es
beispielsweise keine abgeschlossene Küche in der Wohnung gibt, sondern nur
eine Küchenzeile.
Generell, meint der Wiener Professor, müssten sich Architekten und Woh­
nungswirtschaft auf die Differenzierun­gen des Marktes oder der Märkte ein­
stellen und sich beispielsweise für die Mitsprache der Bewohner in neuen
Quartieren, Wohngruppen oder Klein­genossenschaften beim Thema Außenund Innenraumgestaltung öffnen. Sie müssten sich stärker als Dienstleister
begreifen – und wer sage, dass ein Wohnungsunternehmen nur Wohnun­gen
anbieten darf? Warum nicht auch gleich den Pflegedienst für die älteren Kunden? Damit ließe sich ein neues Geschäftsfeld eröffnen.
Apropos ältere Kunden: Die seien heu­te viel gesünder und agiler als die Se­nioren
vergangener Jahrzehnte („Sie sind 60, sehen aus wie 50 und konsu­mieren wie
40“), und altersgerechte Wohnung heiße nicht notwendigerwei­se rollstuhlgerechte Wohnung. Aber man könne eine Wohnung ja von vorn­herein so planen,
dass der Eingang auf derselben Ebene wie der Fahrstuhl lie­ge und die Tür breit
1988
genug für den Rollstuhl oder auch für einen Kinder­wagen sei, sagt Dangschat.
Man müs­se mit den Menschen eben reden. Wenn sie mitgestalten könnten, bei­
spielsweise bei Aussehen und Einrich­tung von Gemeinschaftsräumen, nutz­ten
sie sie auch. Und sorgten dafür, dass sie erhalten bleiben.
Die Mehrzahl der Wohnungsunterneh­men, klagt der Professor, „dumpft“ in
diesen Fragen „noch vor sich hin“. Aber das werde sich irgendwann ändern,
ändern müssen. In den Niederlanden beispielsweise sei man da weiter. Oder:
experimentierfreudiger.
Jens Dangschat selbst lebt in Wien in­nenstadtnah in einem Gründerzeithaus,
das keinem Unternehmen, sondern ei­ner Familie gehört. Seine Wohnung liegt
im Dachgeschoss, ist mit 110 Quadratmetern großzügig und verfügt über eine
große Dachterrasse mit Blick über die Stadt. Dangschat wohnt dort allein –
seine Le­bensgefährtin hat ihre eigene Woh­nung. Auch schön groß, auch Dachge­schoss, sagt er. Aber ohne Blick über Wien.
«
E
„ Z uk unf t Wohnungsge nosse nsc haft!“
K l a us Ha be r ma nn- Ni e ße
S t adt pl aner, H annov er
1989
verwendet. Somit haben sie im Gegensatz zu privaten Wohnungsunternehmen
keine nutzerfremden Kapitalinteressen. Genossenschaftliches Wohnen hat in
Deutschland als dritte Wohnform zwischen individuellem Wohneigentum und
dem Wohnen zur Miete eine bedeutende Position eingenommen.
„Das Wohnen ist etwas Persönliches, was u. a. heißt, dass man zuhause im
eigenen Wohn-Raum keine Maske aufzusetzen braucht. Die Wohnung ist der
eigene Bereich, der Ort wo man bei sich und man selbst ist, wo man seine
persönlichen Sachen aufbewahrt, gleichgültig ob man alleine lebt oder die
Wohnung mit anderen „teilt“, ob sie einem gehört, ob man zur Miete oder zur
Untermiete wohnt, - sogar in einem Hotel kann man „wohnen“, wenn auch eine bloße Übernachtung noch kein Wohnen ist. Auch Nomaden wohnen. Selbst
Obdachlose, die unter freiem Himmel schlafen, können irgendwo wohnen, unter einer Brücke, auf einer Parkbank.“ (Guzzoni, 1999:20).
Dennoch sieht der Genossenschaftsexperte Nachholbedarf: „Wohnungsgenossenschaften mit ihrem Versprechen auf Preisstabilität und Wohnsicherheit
hatten in Zeiten normierter Arbeitsverhältnisse ihre Berechtigung. Sie werden
beweisen müssen, wie sie mobilitätsangepasste und lebensabschnittsbezogene Wohnangebote schaffen. Sie haben die wirtschaftlichen Voraussetzungen
hierzu, aber die soziokulturelle Anpassung steht aus.“
„Auch in diesem Jahrhundert wird das Wohnen im Sinne von Uta
Guzzoni ein ‚sich Einrichten‘ sein“, erwartet der hannoversche Stadtplaner und Architekt Klaus Habermann-Nieße. Dabei scheinen sich die Vorstellungen vom Wohnen im Zeitalter der Informationsgesellschaft immer schneller zu verändern. Ebenso wie sich Familienstrukturen und Arbeitsverhältnisse
stetig wandeln. Werte, Lebensvorstellungen und -modelle differenzieren sich
immer stärker aus. Heute lassen sich zwei scheinbar gegensätzliche Trends
beschreiben: eine hohe, oft berufsbedingte Mobilität einerseits sowie der verstärkte Wunsch danach, sich in selbst gewählten Nachbarschaften einzurichten - manchmal auch nur für eine begrenzte Zeit.
In einer Gesellschaft der zunehmenden Mobilität macht sich eine Genossenschaft mit dem Angebot des dauerhaften Wohnrechts wie eine Insel aus. Die
Grundfesten des genossenschaftlichen Wohnens stammen aus Zeiten der Industrialisierung. Genossenschaftlicher Wohnungsbau wurde verstanden als
Antwort auf die Spekulation mit der „Ware Wohnen“. Die genossenschaftlichen
Prinzipien stehen für Stabilität und Gemeinschaftlichkeit sowie für Selbsthilfe
und Engagement ihrer Mitglieder.
Können die Genossenschaften diese Rolle im gesellschaftlichen Wandel einnehmen und sich an neue gesellschaftliche Entwicklungen anpassen? Sind Genossenschaften darauf vorbereitet, der sich abzeichnenden Vielfalt und dem
Wandel der Wohnwünsche Raum zu bieten?
Habermann-Nieße vermutet, dass Wohnwünsche immer stärker von unterschiedlichen Lebensabschnitten und der Stellung im Berufsleben geprägt sein
werden. Angesichts eines zunehmend entspannten Wohnungsmarktes erhöht
sich die Chance zur eigenständigen Wohnstandortwahl und damit zum individuellen „sich Einrichten“.
Habermann-Nieße ist vorsichtig optimistisch: „In einer Gesellschaft sich verringernder Haushaltsgrößen, steigender Mobilitätsanforderungen und zunehmender Individualisierung ist eine Gleichzeitigkeit von hoher Kommunikationsdichte und erheblicher Kontaktarmut zu beobachten. Einerseits wird es
notwendig, gesellschaftliche Kontakte aufzubauen und aufrechtzuerhalten,
die in traditionellen Familienstrukturen und gewachsenen Nachbarschaften
eher selbstverständlich gegeben waren, andererseits führt die Intensität und
die Vielfalt des urbanen Lebens zu immer stärkeren Rückzugstendenzen. Kriterien für Wohnzufriedenheit werden Abgeschiedenheit, Sicherheit und Reizarmut. Soziale Nachbarschaft und Kontakte erhöhen nicht die Lebensqualität,
Die Wohnungsgenossenschaften sind nach Ansicht von Habermann-Nieße prädestiniert, genau auf diese Nachfragewünsche einzugehen. In Deutschland gibt
es zurzeit rund 2000 Wohnungsgenossenschaften mit fast 2,9 Millionen Mitgliedern. Bei ca. 2,2 Millionen eigenen und für Dritte verwalteten Wohnungen umfasst ihr Bestand 10 Prozent aller Mietwohnungen in der Bundesrepublik. Das
von der Wohnungsgenossenschaft erwirtschaftete Kapital wird ausschließlich
für die Aufrechterhaltung des Unternehmens und für die Mitgliederförderung
1990
sondern bringen zusätzliche Anforderungen mit sich. In dieser Abgrenzung
liegt zugleich eine Ursache für die erhöhte Nachfrage gesellschaftlicher Gruppen nach einer neuen, nachbarschaftlichen Orientierung. Die Nachbarschaften
sind nun nicht mehr zufällig, sondern selbst gewählt und basieren auf einer
gewissen sozialen Homogenität.“
Der Wunsch nach Wohnen in Nachbarschaften wird somit zu einem Entscheidungskriterium. Neben traditionellen „Wohnvorstellungen“ tritt eine Nachfrage nach nachbarschaftsorientierten und integrativen Wohnformen - sei es in
gemeinschaftlichen Wohnprojekten, in Wohnungseigentümergemeinschaften,
in Baugemeinschaften, in neuen Genossenschaften und in Service-Wohn-Projekten für das Wohnen im Alter. Habermann-Nieße hat festgestellt: „Gefragt
sind Alternativen zwischen dem klassischen Eigenheim und dem Wohnen zur
Miete. Sie sollen nachbarschaftliche Qualitäten, gemeinsame Verfügungsrechte
bis zum Gemeinschaftseigentum und besondere Formen des Zusammenlebens
aufweisen.“
Allen Projekten ist gemeinsam, mehr aus dem Wohnen machen zu wollen, als
es bisher am Wohnungsmarkt der Fall ist. Das Wohnen in der Nachbarschaft
soll dabei weniger Gemeinschaft verordnen als Möglichkeiten zur Gemeinschaft eröffnen. Damit wird das genossenschaftliche Wohnmodell zu einem
starken Modell für Lebensabschnitte, die eine höhere Kommunikation und Organisation erfordern und für die die Gesellschaft zu wenige Angebote bereitstellt. „Insbesondere Familien sind bereit, in einer Genossenschaft viel Energie
aufzuwenden, um ihre Wohnwünsche zu realisieren und in funktionierenden
Nachbarschaften zusammenzuleben.“
„Zukunft Wohnungsgenossenschaft“ funktioniert nach Ansicht des Experten,
wenn der Weg aus einem oft als verstaubt angesehenen Geschäftsmodell, durch
ein sehr viel flexibleres wohnungswirtschaftliches Handlungsmodell ersetzt
wird. „Genossenschaften sind in hohem Maße bestandsorientiert – meine Vision setzt auf eine besondere soziale und wirtschaftliche Verantwortung gegenüber den Nutzern. Außerdem hoffe ich auf mehr Kreativität beim Gewinnen
neuer, mobilerer Nachfragegruppen. Dazu haben die Genossenschaften viele
Potenziale“, meint Habermann-Nieße.
«
1991
R
„ Die Stad t ist im Ko mmen !“
Fr a nz- J ose f Höi ng
S enat s baudi rek t or, B remen
Er kommt aus einer eher kleinen Stadt. Franz-Josef Höing wurde 1965 in
Gescher bei Münster geboren, da hatte der Ort nur wenig mehr als 10.000 Einwohner. Trotzdem ist Höing jetzt jemand, der für das Leben in der Großstadt
wirbt. Aber es sind ja ohnehin meist die Zugezogenen, die die besseren Lokalpatrioten abgeben.
„Das Thema ‚Wohnen in der Stadt‘ hat immer seine Aufs und Abs gehabt“, sagt
Franz-Josef Höing. „Mal redet man hektisch darüber, weil gerade Wohnungen
fehlen, dann haben wieder andere Themen Konjunktur. Ich würde mir ein bisschen mehr Kontinuität wünschen.“
Was er selbst dazu beitragen kann, trägt er bei: Höing ist seit Herbst 2008 Senatsbaudirektor der Freien Hansestadt Bremen. Und zuvor hat er in Dortmund
Raumplanung studiert, hatte in Wien und Aachen Lehraufträge inne, zeichnete
im Hamburger Amt für Stadtentwicklung unter anderem verantwortlich für das
Projekt HafenCity und war schließlich Professor für Städtebau an der Architekturfakultät Münster. Bis ihn der Ruf nach Bremen ereilte.
Dort hat er bald nach Amtsantritt untersuchen lassen, wie es mit dem Wohnungsbedarf in der Stadt bis zum Jahr 2020 aussieht. Nicht nur mengenmäßig – es ging auch darum zu erfahren, was in welcher Qualität wo gefragt ist.
Welche Stadtteile kommen gut an, welche weniger. Und siehe da: Die Zahl der
Haushalte, so ein Ergebnis der Studie, wird ansteigen. „Die Planer behaupten
ja schon seit 15 Jahren, dass es einen Trend zurück zur Stadt gibt“, sagt Höing.
„Aber das passierte nur in homöopathischen Dosen, und meist hatte man den
Eindruck, dass die Leute eher wegziehen.“ Nun weiß er: In Bremen ist der Trend
messbar angekommen, es gibt sogar schon so etwas wie eine „versteckte Wohnungsnot“, 7000 Wohnungen fehlen. Für wen und wo? Höing sagt, es seien vor
allem die Gruppen, die man im neuen Marketingdeutsch als „Best Ager“ (also:
jenseits der 50) und „Young Urbans“ (jung, aufstrebend, vielseitig interessiert)
bezeichne. Die wollten in zentralen Lagen in der Stadt wohnen.
Nun ist Bremen, was das Wohnen angeht, ein spezieller Fall. 35 Prozent der
Wohnhäuser sind Wohneigentum, das ist ein hoher Wert für eine Stadt, und es
liegt an der Art dieser Bauten: Es sind die berühmten Bremer (Reihen-) Häuser,
schmal, mit kleinen Gärten hinten und zwei, drei oder auch vier Etagen, wenn
1992
man das Souterrain mitrechnet. Diese Häuser stehen meist in Gründerzeitquartieren – Höing als Neubremer bezeichnet diese Ecken der Stadt schlicht als „fantastisch“. Sie seien es, sagt er, die Bremen neben der Weser für Stadtbewohner
„sehr markant“ machten. Schon jetzt sei klar: Von derartigen Häusern gebe es zu
wenig in den gefragten Wohngebieten um den Bürgerpark, in der Bremer Neustadt und im so genannten „Viertel“, dem Künstler-Akademiker-AlternativenWohngebiet an der Grenze zwischen den Stadtteilen Ostertor und Steintor.
Franz-Josef Höing kann sich auch eine behutsame Neuinterpretation des Bremer Hauses vorstellen – ausgebautes Souterrain, gestapelte Maisonetten. Die
kleinteiligen Parzellen würden aber in jedem Fall beibehalten.
Apropos Neuinterpretation: Besonderes Interesse hat Höing an der Überseestadt, einem Stadtentwicklungsprojekt zur Erschließung der ehemaligen bremischen Hafengebiete. Hochwertiges Gewerbe und Dienstleistungen sollen
hier angesiedelt werden, aber auch Wohnbauten. „Neue Nachbarschaft“, nennt
Höing das, und er wünscht sich dafür attraktiven Geschosswohnungsbau und
zeitgenössische Bremer Häuser: „Kopenhagen, Amsterdam, Berlin – überall
taucht das Stadthaus wieder auf.“
Schon in seiner Hamburger Zeit habe er gespürt, dass die Stadt wieder im Kommen sei, sagt Höing – und nicht nur bezogen auf die „üblichen Verdächtigen“,
die Doppelverdiener ohne Kinder, die sich in Gebieten „mit der Patina alter
Industrieanlagen“ ansiedelten. Inzwischen ziehe ein breites Spektrum an Leuten wieder aus den Vororten fort – und das sei „eine unglaubliche Chance für
die Großstädte“. Aber man müsse auch was dafür tun, das passende Angebot
bereithalten und „Lust auf Stadt“ machen. Und dabei sei eine Stadt gut beraten,
nicht nur auf die Besserverdienenden zu setzen. Es müsse auch Wohnungen im
preiswerten Segment geben.
Franz-Josef Höing (der übrigens keiner Partei angehört und sagt, er sei von der
„Stadt-Partei“) wohnt selbst zentral – natürlich, möchte man fast sagen. Er muss
morgens oft früh raus und kommt abends oft spät zurück und möchte möglichst zu Fuß gehen. Die Wohnung ist nur eine kleine Zweizimmerwohnung,
auch in Münster hat er schon so gewohnt. Er sagt, ganz Senatsbaudirektor: „Die
Wohnung selbst ist für mich nicht ganz so wichtig. Sondern wo sie liegt.“
«
T
S ig rid Ma ie r- K n a p p - H e rb s t
Prä sid e ntin d e r Kloste rka mme r, Ha nnove r
icht schutzlos au xxx
hutzlos au xx
„S i cher fühle n i m Woh n u m f el d! “
1993
Vor einiger Zeit hat Sigrid Maier-Knapp-Herbst mal wieder eine Tour durch
den hannoverschen Stadtteil Vahrenheide unternommen. Die nach dem Krieg
auf einem alten Flugplatz hochgezogenen Quartiere trugen lange das Stigma,
Brennpunkte zu sein. Hochhäuser, Wohnmaschinen, karges Grün, verwechselbare Architektur – und eine gewisse Konzentration von sozial eher ausgegrenzten Bewohnern. Erst zu Beginn dieses Jahrzehnts begann man, sich mehr
um die Problemlage zu kümmern. Inzwischen sind manche der unwirtlichen
Bauten sogar abgerissen worden, das Umfeld hat sich verbessert. „Hannover
hat da viel getan“, sagt Sigrid Maier-Knapp-Herbst anerkennend.
Sie hat immer wieder erlebt, wie gravierend die Auswirkungen des Lebensumfelds auf die Psyche der Menschen sind. Sigrid Maier-Knapp-Herbst ist seit 2004
Präsidentin der Klosterkammer Hannover, die diverse Klöster in Niedersachsen verwaltet und unterhält, aber auch Baugebiete entwickelt – mit günstigen
Grundstücken, denn sie werden auf dem Wege des Erbbaurechts vergeben. Zuvor war Sigrid Maier-Knapp-Herbst in Celle Stadträtin für Jugend, Soziales und
Schule und sie hat noch früher auch als Lehrerin gearbeitet und außerdem
etliche Semester Architektur studiert. Seit 1995 ist sie obendrein Vorsitzende
des niedersächsischen Landespräventionsrates.
Sie weiß also, was sie sagt, wenn sie erläutert, wodurch sich ein Mensch in
seinem Wohngebiet sicher und geborgen fühlt. Scheinwerfer, Kameras, Zäune,
Wachpersonal? Nichts davon: „Freundlichkeit, Helligkeit, Schönheit, Übersichtlichkeit“, sagt Sigrid Maier-Knapp-Herbst. Die sichere Stadt, das sichere Wohnumfeld sei vor allem eine „lebendige Mischung von Öffentlichem und Privatem,
von Sehen und Gesehenwerden, von Neugier und Verschwiegenheit“. Nicht zu
vergessen: Es muss gepflegt aussehen dort. An einem pfleglosen Ort, in einem
ästhetisch verwahrlosten Raum, könne sich ein Mensch nicht angenommen,
wertgeschätzt und somit heimisch und sicher fühlen. In einem gepflegten Umfeld aber übernimmt man Verantwortung für sich und den Nachbarn. „Eine
sichere Stadt ist also ein liebevoll gestalteter Raum, ein unverwechselbarer
Ort, den man lieben kann, wo man sich wohl und sicher fühlen kann, auf den
man gerne achtet und wo sich Zerstörung verbietet“, sagt Sigrid Maier-KnappHerbst.
1994
Wie leicht es zu Problemen in schlampig geplanten oder verwalteten Wohnquartieren kommen kann, hat Sigrid Maier-Knapp-Herbst schon früh erlebt.
Da arbeitete sie als Nachhilfelehrerin und kam unter anderem zu Kindern von
Sozialhilfeempfängern nach Hause – hässliche Siedlungen, kleine Wohnungen,
benachteiligte, traurige Menschen. „Diese Kinder“, sagt sie, „konnten nur innerlich eng aufwachsen.“ Welch ein Gegensatz zu dem Vermögen der Klosterkammer, das sie nun verwaltet: gebaute Schönheit, erhabene Ästhetik. Gerade
Kinder hätten ein besonderes Gespür dafür, hat Sigrid Maier-Knapp-Herbst beobachtet: „Sie bewegen sich in diesen Mauern völlig anders als draußen. Sie
merken, welche Kraft in der Schönheit liegt.“
Auf derlei zu achten, wenn man Häuser oder gar ganze Quartiere plant, das sieht
die Klosterkammerpräsidentin Maier-Knapp-Herbst als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Und die Präventionsratsvorsitzende Maier-Knapp-Herbst unterstreicht das noch einmal: „Nicht hinterher strafen, wenn jemand kriminell
geworden ist. Vorher Bedingungen schaffen, dass er nicht kriminell wird.“
Über solche Dinge redet der Präventionsrat, in dem sich auch die Wohnungswirtschaft engagiert, schon lange. Allein: Es gibt natürlich bereits eine ganze
Reihe von Wohnblocks, die vor allem kostengünstig und renditeträchtig sein
sollen. Das Ergebnis ist dann aber meist kostenintensiv. Denn Jugendliche, die
zwischen ununterscheidbaren Treppenaufgängen aufwachsen, bemalen oder
besprayen oder beschädigen sie, um sie erkennbar zu machen. „Außerdem langweilen sie sich meist und wollen schließlich noch provozieren“, sagt Sigrid
Maier-Knapp-Herbst. Das beste Rezept dagegen – außer gut gestaltetem Wohnumfeld – ist in den Augen der Präsidentin Beschäftigung. „Es wär‘ schon wunderbar, wenn die Väter mit ihren zehnjährigen Jungs mal auf einen Berg stiegen,
eine Nachtwanderung machten oder irgendwo zum Zelten gingen. Dann lernen
die Kinder: Ich kann was. Sie können Neugier entwickeln. Aggressivität kommt
vom lateinischen ‚aggredere‘. Es heißt nicht nur ‚angreifen‘, es heißt auch ‚auf
etwas zugehen‘. Die Aggressivität zu kultivieren, produktiv umzuwandeln – das
ist die große Kunst.“
Und wie wird sich die Stadt in Zukunft sonst noch verändern müssen? Sigrid
Maier-Knapp-Herbst schmunzelt: „Nun, zunächst brauchen wir breitere Bürgersteige. Weil wir dann wegen der demografischen Entwicklung alle da mit unseren Rollatoren herumlaufen.“ Aber das meint sie nicht bloß scherzhaft. Angesichts der zunehmenden Gebrechlichkeit der Gesellschaft stelle sich durchaus
die Frage, wie begehbar historisches Kopfsteinpflaster sei. Aber am wichtigsten
ist ihr immer noch die Schaffung eines Umfeldes, in dem Menschen sich aufhalten möchten: Wasser, Plätze, Bäume, Qualität. Die Kammer entwickelt gerade
ein paar Baugebiete, die so aussehen sollen, mit Hilfe eines städtebaulichen
Wettbewerbs. Ziel ist eine gestalterische Aufwertung, ohne dass die einzelnen
Häuser teurer werden. In aller Regel nämlich zahlt sich so etwas sogar aus, auch
für Wohnungsunternehmen. Wenn das Umfeld stimmt, sind die Bewohner zufrieden, es gibt wenig Fluktuation, kaum Zerstörung, höheres Prestige – und
dann auch höhere Mieten. „Wir brauchen Städte, die es möglich machen, dass
jeder seinen Platz findet“, sagt Sigrid Maier-Knapp-Herbst, und sie schließt die
Punks und die Bettler da durchaus mit ein.
Sie selbst hat ihren Platz gefunden. Sie lebt mit ihrem Mann in Celle in einem
Reihenhaus. Sie ist dort bei sich und trotzdem mittendrin. Und, betont sie: Sie
kann da alles zu Fuß erledigen. Nur ins Büro muss sie fahren. Zu Fuß nach Hannover – das wäre dann doch ein bisschen weit.
«
1995
e
icht schutzlos au xxx
Fragen wir doch jemanden, der sich damit auskennt. Wie bewältigen
wir die wohnungswirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft? Welche
Herausforderungen sind das überhaupt? Welche verlässlichen Prognosen gibt
es?
hutzlos au xx
Friederike Müller-Friemauth lacht. Prognosen? Noch dazu verlässliche? Dafür
ist sie nicht zu haben. Prognosen, das sind Berechnungen aus der Vergangenheit, die in die Zukunft projiziert werden. „Zukunft im Rückspiegel“, nennt sie
das. Nein, mit so was befasst sie sich nicht.
Friederike Müller-Friemauth leitet die Abteilung Trendforschung bei der Sinus
Sociovision GmbH in Heidelberg, einer Unternehmensberatung, die – nun ja:
die Zukunft vorhersagt. Eine mögliche Zukunft jedenfalls. Oder mehrere mögliche Zukünfte. Wobei der Begriff Trendforschung etwas missverständlich ist.
„Ob die Handtaschen in der nächsten Saison lila oder gelb sind, erfahren Sie bei
mir nicht“, sagt die Forscherin.
„ D ie K und e n w e rd e n s e lb s t b e w u s s t e r! “
F rie d e rik e Mül l er-Fr i em au th
U n ter n eh me n s b e r a t e r i n , H e i d el berg
Sinus Sociovision erkundet, was Menschen umtreibt. Milieuforschung nennt
man das, und es umfasst nicht nur Konsumverhalten und Lebensstil, sondern
auch Werte, Träume, Sehnsüchte. Eine Riesenmenge empirischer Daten wird
zusammengetragen, „Ethnologie des Alltags“ heißt das in der Firma, und daraus
destilliert Friederike Müller-Friemauth Strömungen. „Wir konstruieren Zukünfte“, erläutert sie. „Und wir sagen ehrlich dazu: Keiner weiß, ob es so kommt.
Aber es könnte so oder so ähnlich kommen. ‚Denken auf Vorrat‘ nenne ich das
immer.“
Vor einiger Zeit hat Sinus Sociovision drei Szenarien zu der Frage entworfen,
welche Wertorientierungen, die heute schon existieren, künftig – im Deutschland des Jahres 2020 – die Gesellschaft bestimmen könnten. Drei Hauptströmungen haben sich aus den Daten herausgeschält. Die erste nennt sich „Free
is fair“ und entspricht einem Paradies für Wirtschaftsliberale: Dominanz der
freien Märkte, Leistung, Erfolgsstreben, Globalisierung. Nur Resultate zählen.
Das zweite Szenario namens „Shared Destiny“ klingt eher nach rot-grüner
Kuschelecke: Die infolge der Globalisierung größer werdende Kluft zwischen
1996
Wie bei der arbeitenden Bevölkerung auch. Es werde vermutlich normal werden, dass man alle vier, fünf Jahre für den Job das Bundesland wechselt, sagt
Friederike Müller-Friemauth. Junge Leute bewerteten solche lockerer werdenden Bindungen an Besitz, Heimat und Umfeld nicht unbedingt negativ: Man
könne doch ein Haus nur für ein paar Jahre kaufen. Oder bloß ein Zimmer. Oder
einen Wohnungstausch organisieren. Auch die Qualität der Gebäude werde sich
wandeln: High-Tech-Häuser, bewachte Wohnkomplexe. Ein Modell mit Zukunft
ist die Alten-WG. Aber die passt nicht in eine gängige Dreizimmerküchebadwohnung. Wohnbürohotels – warum, fragt die Trendforscherin, gebe es dergleichen
hier noch nicht?
Arm und Reich führt zu Protesten und zu einer politischen Umorientierung in
Deutschland. Es herrschen fortan Harmonie, Gleichgewicht, Gerechtigkeit und
soziale Verantwortung. Schließlich Szenario Nummer drei: „Metamorphosis“.
Die Stichworte dazu sind Informations- und Wissensgesellschaft. Jedes Individuum begreift sich als solches und ist für sich selbst verantwortlich. Jeder sucht
sich seinen Weg, muss sich ständig anpassen, neu orientieren, neu erfinden.
Und alle sind selbstredend weitläufig miteinander vernetzt. Man versteht sich
als Bewohner einer digitalen Welt.
Dieses dritte Szenario hält Friederike Müller-Friemauth persönlich für das wahrscheinlichste. Und natürlich, sagt sie, habe eine solche Gesellschaft von lauter
„Digital Natives“ ein anderes Verhältnis zu Konsum, Arbeit, Leben und Wohnen,
als wir es heute noch vielfach kennen. Eigenheim, gebaut für die Ewigkeit?
Warum? Besitz, erläutert Müller-Friemauth, könne sich zu etwas wandeln, das
eine Art zeitweiliger Zugang zu einem Gut sei. Kunden würden lästig, denn sie
seien extrem selbstbewusst. Darauf müsse sich die Wirtschaft, auch die Wohnungswirtschaft, einstellen.
Ein Wohnbürohotel – das wäre auch für Friederike Müller-Friemauth ganz passend. Ihr Mann arbeitet in Köln, die beiden wohnen im Bergischen Land, Friederike Müller-Friemauth pendelt nach Heidelberg. Jetzt suchen sie aber ein Haus
im Heidelberger Speckgürtel. Mitten in der Stadt wohnen möchten sie nicht:
Es soll ruhig sein, grün. Friederike Müller-Friemauth schmunzelt: „Mit 22 hätte
mich keiner da hingekriegt.“ Aber Stadtnähe ist schon wichtig: „Ich finde es beruhigend, wenn die nächste Cocktailbar nur acht Minuten entfernt liegt.“
«
Ein weiterer Punkt dabei: Sinus Sociovision hat herausgearbeitet, dass die soziale Mitte als die bislang stabilste Säule der Wohnungswirtschaft bei weitem
nicht mehr so stabil wie früher ist. Es ist eine schrumpfende, sich ausdifferenzierende Schicht geworden, in der nicht mehr das alte Prinzip „Ordnung ist das
halbe Leben“ zählt, sondern Individualisierung, Genuss und Selbstverwirklichung eine Rolle spielen, mitunter gar Experimentierlust. Die traditionelle bürgerliche Mittelschicht ist verunsichert, durch die Finanzkrise hat sich das noch
mal verstärkt. Da halte man Manager nicht nur für raffgierig, sondern auch für
inkompetent, sagt Friederike Müller-Friemauth, glaube, alle wollten einem nur
ans Geld, und ziehe sich auf sich selbst zurück: 48 Prozent der Mittelschichtler
meinen, sie hätten genug eigene Sorgen und könnten sich nicht auch noch um
andere kümmern. Sicherheit im Wohnviertel rangiert ganz oben, und wenn
die soziale Mitte das Gefühl hat, nicht mehr in eben dieser sozialen Mitte zu
leben – wenn es Anzeichen von Verwahrlosung gibt, steigende Kriminalität –,
dann zieht sie weg. Entwicklungen, auf die die Wohnungswirtschaft reagieren
muss. Flexibilität ist gefragt.
1997
N
„Von A l t bau t en le r ne n ! “
Wolfg a ng S chnei der
Prä s i d e n t de r A rc h i t e k t e n k a mmer
Ni ed er s achse n , H a n n o v e r
icht schutzlos au xxx
Wie wir künftig wohnen werden? Wolfgang Schneider ist sich ganz sicher:
So, wie er jetzt wohnt. Urban, flexibel, umweltschonend. „Ich wage die These“,
sagt Schneider, „dass die Zukunft nicht mehr in den Vorstädten liegt. Dort zu
leben ist aufwändig und kostet Zeit.“
hutzlos au xx
1998
Wolfgang Schneider weiß das aus eigener Erfahrung. Der Mitinhaber des hannoverschen Architekturbüros ASP Schneider Meyer Partner und Präsident der
Architektenkammer Niedersachsen hat lange Jahre außerhalb von Hannover
auf dem Lande gelebt: „Morgens 30 Kilometer hin, abends 30 Kilometer zurück.“
Er hat das Landleben durchaus genossen. Aber dann waren die Kinder groß, das
Haus wurde leer. 2008 sind Wolfgang Schneider und seine Frau Christiane in die
Stadt zurückgekehrt, in eine Altbauwohnung in Hannover-Kleefeld.
Die Stadt ist wieder im Kommen, Wohnungsbau ist wieder Thema. Das zeigt
auch die Fülle der Bauprojekte, die derzeit ausgeschrieben werden und an denen sich Schneiders Büro beteiligt. Er greift eines heraus, das beweist: Die Investoren rechnen mit Zulauf. Und mit gehobenen Ansprüchen der Bewohner.
Vier Stilrichtungen sollten die zu bauenden Wohnungen in Schneiders Beispiel
erfüllen. Erstens: Extravaganz, Lifestyle. Zweitens: Nachhaltig, ökologisch, gesund. Drittens: Komfortabel. Viertens: Entspannung, Wellnesswohnen. Genaue
Zielgruppenvorstellungen haben die Bauherren auch – sie wenden sich an
betuchte Singels, gesettelte Berufstätige, Familien oder pensionierte 55-plusStadtbewohner. Interessanterweise ist die teuerste Wohnung die aus der Abteilung Lifestyle, die billigste die mit der Bezeichnung Komfort. Vor dreißig Jahren
waren die Komfortwohnungen noch die teuersten. Jedenfalls: Da entsteht die
Zukunft. Denn in den Gebäuden, die jetzt ausgeschrieben, geplant und hochgezogen werden, wohnen wir in 50 Jahren noch.
„Die moderne Wohnung“, sagt Schneider, „muss originell, funktional und flexibel sein, die Flächen frei bespielbar und zusammenschaltbar.“ Was bedeutet das
genau? Es bedeute, erläutert Schneider, dass die Funktionen eines Raums nicht
festgelegt sind, wie das beispielsweise in vielen Komplexen des sozialen Wohnungsbaus der Fall war. Da konnte man das Wohnzimmer nur als Wohnzimmer
nutzen, das Schlafzimmer nur als Schlafzimmer – Flächen, Zuschnitt, sogar die
Verteilung der Steckdosen ließ kaum etwas anderes zu. „Solche Spezifikationen
gibt es bei den Gründerzeitwohnungen nicht“, sagt Schneider. „Da kann ich ein
Zimmer zum Schlafen oder zum Arbeiten oder zu beidem nutzen. Die Räume
sind neutral.“ Er lächelt: „Das Wohnen muss also nicht neu erfunden werden.
Es ist alles schon mal ausprobiert worden. Aber was wir brauchen, sind intelligente Grundrisse. Und da können wir von den Altbauten viel lernen. Betrachtet
man die alten Haustypen weniger retrospektiv, sondern analytisch, dann empfiehlt sich eine Transformation. Das Erkennen struktureller Eigenarten und
Eigenschaften und ihre prinzipielle Übertragung auf heutige Standards.“
Was das konkret bedeutet, kann man sich beispielsweise bei den Neubauten
am Warmbüchenkamp in Hannover für die Versicherungsgruppe VGH ansehen – ein Gebäudeensemble mit einer Komposition aus drei Solitärbaukörpern
auf einem Natursteinplateau – die Schneider gemeinsam mit seinem Partner
Wilhelm Meyer entworfen und realisiert hat. Ein großzügiger, tageslichtdurchfluteter Komplex mit Büroarbeitsplätzen, Tagungs- und Schulungsräumen und
auch hochwertigen Wohnungen mit Loggien und Terrassen, teilweise als Maisonetten ausgebildet. Die Wohnungen sind zwischen 120 und 180 Quadratmeter
groß, die Treppenhäuser sind farbig gestaltet, die Aufzüge führen direkt in die
Wohnungen. „Entstanden ist ein sozialer Kosmos mit ausreichend Raum und
Freiraum für komfortables Arbeiten, Lernen und Wohnen in innerstädtischer
Verdichtung in bester Lage“, sagt Schneider, „mit spannenden Raumfolgen und
vielfältigen Blickbeziehungen, sowohl außen als auch im inneren Gefüge“.
Ohnehin ändere sich gerade manches im urbanen Leben. Die Verbindung von
Wohnen und Arbeiten werde wichtiger, prognostiziert der Architekt, künftig
werde in Wohnungen mehr für den Job als für den Haushalt gearbeitet werden.
Und: Die Städte würden sich zu Dienstleistungszentren entwickeln. In New
York könne man heute schon rund um die Uhr alles bestellen, was man wolle,
und bekomme es auch prompt geliefert, und sei es mitten in der Nacht. Das
werde es bald auch hier geben.
Die Stadt, meint Wolfgang Schneider, sei der ideale Ort für die zweite Lebenshälfte. Aber auch für junge Familien könnten die Innenstädte attraktiv sein.
Dass gerade diese Kundschaft noch in die Vororte strebe, werde sich schlagartig
ändern, wenn immer mehr neue, hochwertige Wohnquartiere entstünden. Und
sie entstünden in jedem Fall – denn die Nachfrage nach Wohnraum steige, auch
bei sinkender Bevölkerungszahl.
„Und schließlich ist die Stadt viel kommunikativer“, sagt Schneider. Jetzt geht
er, wenn er nach Feierabend aus dem Büro gekommen ist, auch mal wieder
zurück in die Innenstadt, ins Kino, ins Theater. „Die Vielfalt der Stadt“, sagt er,
„erlaubt auch eine Vielfalt an Lebensmöglichkeiten, ein Stück mehr Lebensqualität.“
«
Dass mittlerweile das Thema Ökologie zum Standard gehört, muss Schneider
nicht eigens erwähnen. Umwelt- und gesundheitsverträgliche, recyclebare
Baustoffe, energieschonende Bauweise, natürliche Belüftung, Tageslicht, Wärmeschutz – ohne dergleichen ist heute kein Neubau mehr denkbar. Zu einem
gelungenen Wohnhaus gehört für ihn auch eine qualitätvolle Freiraumplanung, eine klare Abgrenzung der öffentlichen und der privaten Flächen, ein
Vermeiden jener Fehler, die in den sechziger und siebziger Jahren gern gemacht
wurden: „Keine anonymen, unpersönlichen Bauten mit dunklen Winkeln“, sagt
er. „Der Erschließung kommt eine besondere Bedeutung zu. Treppenhäuser und
Fahrstühle sollten hell und freundlich sein. Wir brauchen Großzügigkeit.“
1999
2000
T
K la us S e lle
Profe ssor, Aa c he n
„D ie Entwicklungen s i n d w i der s pr ü ch l i ch ! “
Alles neu? Hochtechnisierte Wohnungen mit flexiblen Grundrissen, in jedem
Raum alle Funktionen verfügbar, denkende Häuser? Werden wir so in Zukunft
wohnen? Klaus Selle überlegt einen kurzen Moment, dann sagt er, er habe eine
eher ernüchternde Botschaft. Sie lautet: „So viel wird sich nicht ändern.“
Klaus Selle ist vor ein paar Jahren beruflich wieder da angelangt, wo er angefangen hat. 1969 nahm er das Studium der Architektur mit Schwerpunkt Städtebau
an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen auf. Dann war
er lange in Dortmund tätig, von 1987 bis 2000 lehrte er in Hannover. Seit April
2001 ist Selle wieder an der RWTH Aachen – nun aber als Professor für Planungstheorie und Stadtentwicklung.
Als solcher beobachtet Klaus Selle derzeit zwei gegenläufige Entwicklungen.
Ja, es gebe den Trend zur Individualisierung, der mit der Industrialisierung begann und auch nach 150 Jahren noch nicht abgeschlossen sei. Auf der anderen
Seite steige seit einiger Zeit das Interesse an traditionellen wie neuen Formen
sozialer Zusammenschlüsse.
Was er damit meint, ist: Junge Leute heiraten heutzutage wieder eher, es gibt
eine Art Rückkehr des Leitbilds Familie, und außerdem ist ein gewisser Trend
zu selbst gewählten Nachbarschaften erkennbar. Das kann die Alten-WG sein,
muss aber nicht. Eine Wohnanlage mit Treffpunkten und Räumen für Geselligkeit tut’s auch.
„Die Entwicklungen“, sagt Klaus Selle, „sind ein bisschen widersprüchlich.“ Das
gelte auch für die so genannte Reurbanisierung: Junge Menschen zieht es wie
eh und je in die Städte. Neuerdings seien auch wohlhabende Ältere hinzugekommen. Aber der Drang an den Stadtrand bleibe, etwa bei Familien mit kleinen Kindern, ungebrochen. Von einem Ende der Suburbanisierung, wie in den
Medien bereits lautstark verkündet, könne also keine Rede sein.
Vielleicht, überlegt Selle, hänge die Wahrnehmung, dass der Trend zurück zur
Stadt gehe, auch mit der oft zu beobachtenden Orientierung der Stadtpolitik
an Besserverdienenden zusammen. Während früher zum Beispiel soziale Wohnungsversorgung ein wichtiges Thema gewesen sei, rede darüber heute kaum
2001
jemand. Dabei entstünden gerade im Teilmarkt preiswerten Wohnraums neue
Probleme. Private Vermieter mit vergleichsweise geringen Wohnungsbeständen stellen mehr als 60 Prozent der Mietwohnungen. Sie müssen investieren,
um ihre Gebäude zu erhalten oder um sie energetisch auf den Stand zu bringen.
Aber dazu fehlt es ihnen oft an Kapital, und die Mieten können sie in den meisten deutschen Regionen auch nicht erhöhen, weil ihre Kunden das nicht bezahlen können. „Bis zu 40 Prozent der kleineren Hauseigentümer haben schon
jetzt mit einer Unterdeckung zu kämpfen“, sagt der Professor. „Und es stellt sich
die Frage, wie es mit diesen Wohnungen weitergehen soll.“
Von großartigen Modernisierungen mit Mieterbeteiligung und dergleichen
muss man da gar nicht mehr anfangen. Klaus Selle ist Spezialist für solche Fragen der Beteiligung – unterscheidet aber erst einmal zwischen Bürger- und
Kundenbeteiligung.
Bürgerbeteiligung, das ist das, was die Politiker in Sonntagsreden verkünden
– im Alltag dann aber gern wieder vergessen. Wenn es um politisch und wirtschaftlich brisante Themen gehe, etwa die Ansiedlung von Unternehmen, dann
werde das meist immer noch im kleinen Kreis ausgekungelt. Selle zitiert in
seinen Vorträgen gern einen ironischen Zeitungsartikel, in dem es hieß: „Wenn
alles entschieden ist, werden alle beteiligt.“ „Aber es gibt natürlich auch positive Beispiele“, betont Selle. „Gerade in den Quartieren, bei den Menschen vor
Ort, finden oft gute Beteiligungsprozesse statt.“
Ein Zukunftspotenzial sieht der Professor in so genannten Wohngruppen oder
Baugemeinschaften. Genossenschaftlich organisiert oder auf der Grundlage
von Wohneigentum finden sich dort Haushalte zusammen, um ihre Siedlungen
gemeinsam zu planen und in den selbst gewählten Nachbarschaften zu wohnen. Inzwischen hätten viele Städte dieses Modell entdeckt und unterstützen
es – ergänzend zu den üblichen Einfamilienhausförderungen.
Er selbst lebt auch in so einer Gemeinschaft. Allerdings ist sie nicht durch Planung, sondern durch Zufall entstanden, und genießen kann er sie auch nur am
Wochenende. Die Woche über wohnt Klaus Selle in einer „kleinen, praktischen
Wohnung“ in Aachen, nur ein paar Minuten von der Universität entfernt. Am
Wochenende aber zieht er sich dann auf einen Bauernhof bei Schwerte zurück. In dem Herrenhaus von 1807 leben inzwischen acht Parteien und können
abends über die Ruhrauen schauen. „Allerdings“, sagt Selle, „gehören die Bewohner fast alle zu den üblichen Verdächtigen.“ Wieso verdächtig? Selle lacht:
„Nun: Architekten, Planer, Lehrer, Professoren.“
Aber das muss ja nicht von Schaden sein.
Kundenbeteiligung dagegen ist nach Selles Beobachtung ein Thema für die
„klügeren“ Unternehmen der Wohnungswirtschaft. Da habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man mehr wissen müsse über die eigenen Mieter, über
ihre Wünsche und Bedürfnisse, etwa durch regelmäßige Befragungen. Und
wenn die Firmen darauf eingingen, sei es bei den Service-Angeboten oder in
der Freiraumplanung, dann könnten sie auch eine höhere Zufriedenheit ihrer
Kunden feststellen. Das hebt das Image. Und kann man dann auch die Mieten
raufsetzen? „Vielleicht in München oder Hamburg“, sagt Selle, in vielen anderen
Orten sei allein die Mieterbindung schon ein ökonomischer Erfolg.
2002
«
H
icht schutzlos au xxx
hutzlos au xx
L oth ar Sch öpe
In f o rm ati ker, D o rtm u nd
„Kom f o rt s t e ig e ru n g d u rc h Te c hnik ! “
2003
Das Thema wird gerade wie verrückt gehypet, wie man neudeutsch
sagt. „Ambient Assisted Living“ heißt es dementsprechend auf Englisch. Und
meint nichts anderes, als dass man nach Konzepten, Ideen und (technischen)
Lösungen sucht, um das Leben vor allem älterer Menschen in ihren eigenen vier
Wänden komfortabler und sicherer zu machen. Ein vorrangiges Forschungsthema in der Bundesrepublik und europaweit. Kein Wunder in einer alternden
Gesellschaft.
Lothar Schöpe hat seinen Arbeitsschwerpunkt in diesem Bereich. Nicht erst
neuerdings, und als der Diplominformatiker am Dortmunder Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST) damit anfing, hieß es auch noch
nicht „Ambient Assisted Living“, sondern „Smart Living“. Aber es geht in dieselbe Richtung: Computerbasierte Technik soll helfen, dass sich ältere Menschen
besser zurechtfinden, nicht den Herd anlassen und ohne größeren Aufwand
auch mal eine Pizza bestellen können, wenn die Schwiegertochter krank wird
und sie nicht bekochen kann. Wobei Schöpe nicht die älteren Leute berät. Sondern die Wohnungsunternehmen, deren Kunden diese Menschen sind.
Es gebe zwei Strömungen, erläutert Lothar Schöpe. Die eine sei die rein haustechnische: Da kann man beispielsweise dafür sorgen, dass sich der Herd automatisch abschaltet, wenn der Bewohner die Wohnungstür hinter sich zuzieht.
Oder am Ausgang ein Display installieren, das anzeigt, welche Fenster noch
offen stehen. Oder das Radio so vernetzen, dass es in jedem Raum zu hören
ist. Das alles dient dem Komfort und der Sicherheit. Und ist vor allem eines:
teuer. Wohnungsbaugesellschaften, die standardisierte Wohnungen anbieten,
können sich das nicht leisten.
Etwas anderes ist es beispielsweise bei einem Träger, der eine Wohngruppe
mit Demenzkranken betreibt. Da kann es unter Umständen sogar kostengünstiger sein, verschiedene Sensoren in der Wohnung unterzubringen, die melden, wenn jemand die Klospülung vergessen hat, wenn sich ein Patient der
Haustür nähert, ob alle genügend trinken und sich nicht die Finger verbrannt
haben. „Aber bei hundert Wohneinheiten läuft das aus dem Preisrahmen“, sagt
Lothar Schöpe. „Da muss man sich andere Gedanken machen.“ Und die macht
sich das Fraunhofer-ISST.
Beispiel Hannover-Vahrenwald. Der Spar- und Bauverein hat für seine Wohnungen dort eine Concierge-Lösung entwickelt, um die Mieter in ihren Bedürfnissen zu unterstützen. Jemand braucht eine begleitete Fahrt zum Arzt? Oder
ein Mittagessen für den nächsten Tag? Oder Kontakt zu einer Schuldnerberatung? Bitte schön: Einfach anrufen. Von 10 bis 14 Uhr ist das Büro besetzt und
hilft.
Nur: Was ist außerhalb dieser Zeiten und am Wochenende? Hier kommt das
ISST ins Spiel. In praktisch jeder Wohnung steht heute ein Fernseher. Und das
Institut kann diese Apparate mit dem Internet verbinden. Mittels einer simplen
Taste auf der Fernbedienung – die können auch Menschen bedienen, die sich
an Computer nicht mehr herantrauen – wird ein Service-Portal geöffnet. Und
dieses Service-Portal bietet, das ist der Clou, nicht die Überfülle an Informationen aus dem World Wide Web. Sondern alles aus der direkten Umgebung. Das
örtliche Veranstaltungsprogramm, Notrufnummern, Müllkalender, Fahrpläne.
Pizzabringdienst, Frisör, Blumenstrauß-Lieferant. Außerdem ermöglicht es die
Technik, dass die Mieter auch untereinander kommunizieren können.
„In den dreißiger Jahren war es das fließende Kaltwasser, das in die Wohnungen
einzog“, sagt Schöpe. „Dann Warmwasser, Zentralheizung, Antennenanschluss.
Heute ist es das Internet. Die Wohnungen erfahren eine Komfortsteigerung
durch Technik.“
Das Institut hat diese Ideen in einem Projekt etwa vier Jahre lang in Hattingen
bei Dortmund getestet und arbeitet damit jetzt bereits in Mettmann (NordrheinWestfalen) und Hennigsdorf (Brandenburg). Nun soll der „Smart Living Manager“ auch – neben anderen Orten – nach Hannover kommen. Es werden jeweils
50 bis 100 Wohnungen ausgerüstet, und es wird dann auch überprüft, wie oft
und wie überhaupt das System genutzt wird und ob es beispielsweise dazu
beiträgt, dass so ausgestattete Wohnungen schneller zu vermieten sind.
Wobei der Internet-Zugang zu den Angeboten des Quartiers nicht nur was für
ältere Bewohner ist. „Man muss das Portfolio der Umgebung anpassen“, sagt
Lothar Schöpe. In manchen Gebieten ist es eben wichtig, Krankenfahrten zum
Arzt und zurück anzubieten. Anderswo vielleicht Feng-Shui-Beratung, Fitness-
2004
studiokurse und Jeanspartys. Die Technik als solche gibt das alles her. „Ich sage
immer: Es ist für jeden. Aber auch für Ältere.“ Und dann erzählt Schöpe, was
ein großer Drogeriediscounter über seinen Lieferservice am häufigsten in die
Wohnungen karrt – nämlich keine Kukidentpackungen, sondern Babywindelkartons.
Technisch ist in puncto Komfort und Sicherheit und Alter natürlich noch viel
mehr möglich. Ein Badezimmerspiegel, der einblendet, dass jetzt das Zähneputzen dran ist, Sensoren am Körper, die dem Pflegedienst melden, ob jemand
gerade eine Treppe hinauf- oder hinabsteigt und was das mit dem Blutdruck anstellt. „Im Mietwohnungsbau ist das derzeit aber nicht tragbar“, sagt Schöpe.
In hundert Jahren vielleicht? „In hundert Jahren wird es in dieser Richtung viel
mehr geben, quer durch die Bank“, prognostiziert der Informatiker. Licht, das
automatisch angeht, wenn man die Tür öffnet. Oder noch besser: Die Tür öffnet
sich von selbst, wenn man mit zwei Einkaufstüten davor steht, und es schaltet
sich auch das Licht wie von Geisterhand ein. Aber das ist Zukunftsmusik.
Lothar Schöpe selbst hat all diese Technik trotz seines Berufs noch nicht zu
Hause installiert. Er lebt mit seiner Familie in einer Eigentumswohnung, und
im Zuge einer Modernisierung hat er Internetanschlüsse in jeden Raum gelegt.
Und elektrisch betriebene Rolläden an die Fenster angebaut. „Es muss immer
bezahlbar bleiben“, sagt er. Kurz hat er erwogen, auch die Lichtschalter auszutauschen, gegen Exemplare, die man nicht mal mehr berühren muss. Sie hätten aber pro Stück 150 Euro gekostet. „Ich hab‘ das dann gelassen“, sagt Schöpe
trocken.
«
e
icht schutzlos au xxx
hutzlos au xx
„ Wir ü b e rs t ra p a z ie re n d a s K lim a ! “
K l a us T ö pfer
Bun d es m ini st e r a . D . , H ö xt e r
2005
Man merkt sofort: Der Mann kennt sich aus. Wie wir in Zukunft wohnen
werden? Die Antwort kommt ohne langes Nachdenken, präzise und druckreif
formuliert: „Wir werden weniger, wir werden älter, wir werden bunter. Die Verstädterung nimmt zu, die Familiengröße nimmt ab, und wir überstrapazieren
das Klima. Die Städte müssen sich verändern, wir müssen uns verändern.“
Der das sagt, kennt sich mit all dem aus wie kein Zweiter. Klaus Töpfer, 1938 in
Schlesien geboren, war Bundesumweltminister und Bundesminister für Städtebau, er hat auf verschiedenen Posten für die Vereinten Nationen gearbeitet, unter anderem als Exekutivdirektor des UN-Umweltprogramms UNEP. Vor kurzem
erst ist er Gründungsdirektor des Instituts für Klimawandel, Erdsystem und
Nachhaltigkeit in Potsdam geworden.
Wenn es um das Thema Wohnen geht, denkt Klaus Töpfer nicht in erster Linie
an Ohrensessel, Designersofas oder Kaminabende. Auch mit mehr als 70 Jahren
hat der CDU-Politiker und Professor (er war Direktor des Instituts für Landesplanung und Raumforschung an der Universität Hannover und in seiner Vita häufen sich die Ehrenprofessuren und Ehrendoktorwürden eher das große Ganze
und die Verantwortung dafür im Blick.
Die Stadtbilder, sagt Töpfer, müssten konzentrierter werden. All die Einkaufsmalls auf der grünen Wiese, die nur mit dem Auto erreichbar sind und somit
Energie verschleudern, seien nicht mehr zeitgemäß, mehr noch: nicht mehr
tragbar. „Wir werden einen Re-Import der Dienstleistungen in die Städte bekommen“, prognostiziert er. Nach Beispielen für gelungene Stadtsanierungen
gefragt, geht sein Blick nach Osten: Wismar nennt er, Greifswald. Dort seien die
Städte als Städte wieder attraktiv.
Attraktiv heißt auch: kurze Wege. Eine Stadtplanung, die das Fahrradfahren, das
Zufußgehen mit einbezieht. Bauliche Verdichtung. Und: soziale Vermischung.
Ein Land wie Deutschland mit seiner hohen Zahl an Einwanderern, meint der
ehemalige Bundesminister, könne es sich nicht leisten, „ghettoartige Strukturen“ entstehen zu lassen, denn die stellten irgendwann den gesellschaftlichen Frieden in Frage. Also müssten die Planer sich gerade bei Siedlungen
2006
S
Ur sul a v on de r Le ye n
B undes mi ni s t eri n, B erl i n
mit vielen Migrantenfamilien sehr genau um die Gestaltung des Wohnumfelds
kümmern.
Im Übrigen ist sich Klaus Töpfer sicher, dass die Wohnungen in Zukunft
flexibler in Bezug auf die Nutzung (Wohnen, Arbeiten, Freizeit) sein, dass die
Häuser keine Energie mehr verbrauchen, sondern produzieren werden.
Die außerordentlich hohe Identifikation gerade der Deutschen mit dem eigenen Haus, das lebenslang oder gar über Generationen genutzt werden soll und
deswegen für die Ewigkeit gebaut ist, sieht der Professor im Übrigen schwinden – bei Jüngeren, sagt er, gebe es diese „Vorstadtatmosphäre“ kaum noch.
Töpfer und seine Frau – sie sind seit 40 Jahren verheiratet und haben drei Kinder
– verfügen selbst sowohl über ein großstädtisches als auch ein kleinstädtisches
Zuhause, eine Wohnung in Berlin und ein Haus im westfälischen Höxter. Sie
kennen also die Hauptstadt- ebenso wie die Vorstadtatmosphäre, wobei das
Haus in Höxter der Mittelpunkt der Familie ist, „immer noch die Heimat der
Kinder“, sagt Töpfer. Aber auch dieses Haus, noch von Töpfers Schwiegervater
gebaut, geht mit der Zeit, passt sich der Zukunft an. Seit kurzem trägt es Solarpaneelen auf dem Dach, derzeit plant die Familie Töpfer eine „Optimierung des
Heizsystems“.
Und der umtriebige Nochlangenichtpensionär, ständig unterwegs von Berlin
bis Saarbrücken bis New York und zurück, schätzt neben den Annehmlichkeiten des Heims die Tatsache, dass direkt vor seiner Tür jede Stunde ein Bus
verkehrt. „Und zwar nicht, weil der Töpfer da wohnt“, schmunzelt Töpfer, sondern weil die Leute den Bus brauchen. Wann immer es geht, lässt auch er selbst
den Wagen stehen und nimmt den Nahverkehr. Nicht demonstrativ, wie das
Politiker manchmal tun, nicht aus kokettem Understatement. Sondern einfach
aus Überzeugung.
«
2007
„ Al l e si nd ge f orde r t!“
2008
Vom Wohnen im Alter zum Wohnen für alle
„Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen.“ Dieses Zitat stammt zwar nicht
von Ursula von der Leyen, sondern vom berühmten Architekt der Moderne, Le
Corbusier. Dennoch ist dieser provozierende Gedanke ein Orientierungspunkt
für die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, wenn sie
sich mit dem Thema Wohnen befasst: „Leider sehen viele Häuser heute auch
wie Wohnmaschinen aus. Ein Zuhause ist jedoch viel mehr. Die vier Wände, in
denen uns alles vertraut ist, in denen wir uns sicher und geborgen fühlen, sind
Räume zum Erholen und Krafttanken. Wohnen ist Lebensqualität und Anker.
Im Wohnen spiegelt sich unser Leben, Erinnerungen ebenso wie die Dinge, die
uns etwas bedeuten. Und natürlich die Menschen: Die Wohnung und ihr Umfeld ist gelebte Beziehung mit anderen – mit Familienangehörigen, Nachbarn
und Freunden.
Wenn man alt wird, nimmt die Bedeutung des Wohnens eher noch zu. Vielleicht
verbringt man mehr Zeit in der eigenen Wohnung; in jedem Fall hängt man an
der vertrauten Umgebung, wenn die Kräfte nachlassen. Was mindestens genau
so wichtig ist: In einer Wohnung hinterlässt das ganze Leben seine Spuren.
Wir erinnern uns an Etappen, Stationen und Ereignisse. In Möbeln, Bildern,
Einrichtungsgegenständen spiegeln sich unsere Lebenserfahrung und unsere
Persönlichkeit – in einem langen Leben sammelt sich einiges an! Vor diesem
Hintergrund ist der Wunsch der Menschen, möglichst lange – selbst wenn sie
pflegebedürftig sind – in der vertrauten Wohnumgebung zu leben, nur zu verständlich.
Dieses Bedürfnis müssen wir im Blick haben, wenn wir heute darüber sprechen, was Wohnen bedeutet. Im Zuge des demografischen Wandels wird es
immer mehr ältere Menschen in Deutschland geben. Schon heute leben rund 16
Millionen Menschen in unserem Land, die 65 Jahre oder älter sind. Im Jahr 2040
werden 24 Millionen Menschen zu dieser Altersgruppe gehören – das ist dann
jeder Dritte. Die Zahl der 80-Jährigen und älteren wird sich in diesem Zeitraum
sogar auf etwa zehn Millionen mehr als verdoppeln.
Diese Entwicklung wird auch die Entwicklung des Wohnens prägen. Aufgabe
und Verpflichtung der Politik für ältere Menschen ist es daher, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Menschen Teilhabe, Zufriedenheit und Eigenständigkeit auch beim Wohnen ermöglichen.“
Mit ihrem Ministerium setzt sich von der Leyen für die Entwicklung einer
durch Qualität gekennzeichneten, auf Mitwirkung und Teilhabe der Menschen
basierenden Wohnkultur ein. Dazu zählen der Einsatz von mobilen Wohnberatungsteams, die Gründung einer Informationsplattform mit Hinweisen rund
um neue und gemeinschaftliche Wohnformen, die Zertifizierung von Gesundheitsdienstleistern im Handwerk zur Unterstützung älterer Menschen, die
nach einem Klinikaufenthalt in die Wohnung zurückziehen und das Projekt
„Wohnen Plus“ mit einem Versorgungsverbund für ältere Menschen, Alleinerziehende und Kinder.
Ob eine Küchen- und Sanitärausstattung, die Verletzungen vorbeugt, oder eine
Energie sparende Gebäudetechnik: „Viele technische Innovationen sind nicht
nur etwas für ältere Menschen, sondern können Vorbild für alle Wohnungen
sein“, meint die Ministerin.
Zum Wohnen gehört ihrer Ansicht nach auch das Wohnumfeld, die Nachbarschaft, die lokale Umgebung. „Wenn man im Alter einmal nicht mehr so beweglich ist, wird es umso wichtiger, Angebote, Kontakte und Treffpunkte ganz
in der Nähe zu haben. In den 500 Mehrgenerationenhäusern, die es überall in
Deutschland gibt, wohnt man nicht. Sie sind Orte der Begegnung, des Engagements und der gegenseitigen Hilfe, die in ihre Umgebung ausstrahlen.“
Es gibt genügend Ansätze und Potenziale, um aus den Herausforderungen, die
mit einer älter werdenden Gesellschaft verbunden sind, eine Chance zu machen. „Alle sind gefordert: Sozial- und Stadtplanung, Nachbarschaftsinitiativen,
Architektur, Städtebau, Wohnungswirtschaft und Politik. Arbeiten wir gemeinsam weiter daran, eine Lebensumwelt zu schaffen, die allen Generationen zugute kommt!“
«
2009
e
icht schutzlos au xxx
Grenzenlose Mobilität. Ist das nicht das, was die Wirtschaft immer
fordert? Nun, es gibt sie. Allerdings oft eine Spur außerhalb des Berufslebens.
Die Rede ist von „der großen Freiheit auf Rädern“, wie Stefan Weidenfeld das
nennt. Von den Leuten, die, wenn sie sich auf den Weg sonstwohin machen, ihr
Bett, ihr halbes Zuhause mitnehmen. „Und wenn sie morgens die Tür öffnen,
stehen sie im Idealfall in der freien Natur“, sagt Weidenfeld.
hutzlos au xx
Stefan Weidenfeld ist Chefredakteur der Zeitschrift „Caravaning“, die ihren Redaktionssitz in Leonberg bei Stuttgart hat. Das Heft richtet sich an Menschen,
die im Urlaub ihren Wohnwagen an den Haken hängen – wobei man heutzutage nicht mehr Wohnwagen sagt, sondern Caravan. „Wohnwagen klingt
etwas muffig“, sagt Stefan Weidenfeld. Und die rollenden Behausungen, die
keine extra Zugmaschine brauchen, heißen auch nicht Wohnmobil, sondern
Reisemobil. Obwohl man drin wohnen kann. Aber eben auch – und zwar vornehmlich – reisen.
„ D ie g ro ß e Fre ih e it a uf R ä d e r n! “
S t e fa n Weidenfeld
Ch efred ak te u r, L e o n b e r g
Stefan Weidenfeld blättert in ein paar Fachberichten und sagt dann, in Deutschland gebe es nach der letzten Erhebung durch das Kraftfahrtbundesamt 326.374
Reisemobile. Die Branche schätze die tatsächliche Zahl aber wesentlich höher,
denn man muss sein Reisemobil nicht als Reisemobil zulassen. Möglich ist auch
eine Registrierung als Pkw, als Lkw oder als Büromobil. Deswegen seien es wohl
eher 445.000. Und dazu kommen dann noch mal 950.000 Wohnwagen – pardon:
Caravans.
Was treibt Leute dazu, ihren Hausstand auf Reisen mitzunehmen? Ebendies,
sagt Weidenfeld: „Es hat einen gewissen Charme, in die Fremde zu fahren und
das Eigene trotzdem immer dabei zu haben. Sie liegen jeden Abend in Ihrem
Bett.“ Obendrein verspricht Caravaning, dass man nach Lust und Laune einsteigen und losfahren und anhalten und bleiben kann – dort, wo die Gegend schön
ist oder das Wetter, wo Freunde sind. Freie Natur ringsum, Ruhe, aber abends
steht man am eigenen Herd.
Theoretisch zumindest. „Man muss schon ein wenig zwischen Traum und Realität unterscheiden“, sagt Weidenfeld: Verhältnisse wie im Westen der USA, wo
auf dem Campingplatz der nächste Nachbar sein Lagerfeuer allenfalls in Ruf2010
Aber irgendwann wird sich das wieder einpendeln. Denn der Zielgruppe geht es
im Grunde nicht schlecht – und sie wird weiter wachsen. Der durchschnittliche
Leser von Weidenfelds Zeitschrift und damit der durchschnittliche Reisemobiloder Caravan-Kunde ist um die 50 Jahre alt, hat ein bisschen Geld auf der hohen
Kante und nicht die Absicht, es dort zu lassen. Wie er ja auch nicht dort bleiben
will, wo er ist, sondern in die Welt hinaus. Typische Kunden sind auch frischgebackene Pensionäre, bei denen die Lebensversicherung fällig geworden ist.
weite angezündet hat, sind in Europa kaum anzutreffen. Und einfach irgendwo
anzuhalten und sein mobiles Zuhause am Waldrand auszupacken, das ist weder
in den USA noch in Europa erlaubt. In Deutschland darf man mit WohnwagenGespann oder Reisemobil überall dort parken, wo Parken erlaubt ist, und da
auch übernachten – aber nur, wenn es „der Wiederherstellung der Fahrtüchtigkeit“ dient. Grill, Campingstühle und Sonnenliege müssen im Stauraum bleiben.
Ansonsten gibt es in Europa rund 25.000 Campingplätze; hinzu kommen mehr
als 10.000 speziell ausgewiesene Reisemobil-Stellplätze – da findet man überall
eine angenehme und legale Übernachtungsmöglichkeit.
Auf den Campingplätzen geht der Trend auf jeden Fall hin zu mehr Luxus. „Immer ausgebucht sind die richtig teuren Plätze“, weiß Stefan Weidenfeld. Da
gibt es erlesene Sanitäranlagen, Schwimmbad und Wellness, Kabelfernsehen
und drahtloses Computernetzwerk. Wobei man sich da nicht ansiedelt, sondern
eine Weile bleibt und dann mit dem fahrbaren Haus weiterzieht. Die Dauercamper mit Vorgarten und Gartenzwerg und Gelsenkirchener Barock im Innern des
eigentlich unverrückbaren Wohnwagens haben mit Reisemobilisten und aktiven Caravanern wenig gemein. Sie werden ohnehin seltener. Die inzwischen
überall durchgestylten, mitunter sogar edlen Interieurs der modernen mobilen
Heime sind einfach nicht nach ihrem Geschmack.
Die Reisemobil- und Caravanbranche hat einen unglaublichen Boom hinter sich, entsprechend hat sich deutschlandweit auch das Angebot an speziellen Caravaning-Stellplätzen verbessert, mitunter sogar mit der kompletten
Infrastruktur für Frischwasserver- und Abwasserentsorgung. Der Trend geht
ohnehin zu mehr Komfort, und das, sagt Weidenfeld, trage schon ein wenig
Widersprüchliches in sich: Einerseits geht man auf große Fahrt und will sich
nicht mit allzuviel belasten. Andererseits werden die Fahrzeuge immer größer und teurer. Caravans bewegen sich in der Preisklasse zwischen 10.000 und
30.000 Euro, bei Reisemobilen beginnen die Preise bei etwas unter 30.000 Euro;
Neuwagenkäufer geben durchschnittlich um die 50.000 Euro aus, doch nach
oben gibt es keine Grenzen: „Sie können da ohne weiteres eine Million ausgeben. Sie können Reisemobile mit einer Talsperre an Bord – sprich: mit einem
1000-Liter-Frischwassertank kaufen, Sie können auch Modelle mit integrierter
Garage für einen kleinen Porsche erstehen.“ Das sind natürlich seltene Exoten.
Allerdings beoachtet Weidenfeld derzeit wieder etwas bescheidenere Ansätze, kompaktere und preisgünstigere Fahrzeuge werden mehr nachgefragt. Das
kann aber auch an der derzeitigen wirtschaftlichen Situation liegen.
Wenn die Krise überwunden ist, werde der Markt weiter wachsen. Da ist sich
Stefan Weidenfeld sicher. Allerdings vor allem der Markt für Reisemobile. Denn
die Autos werden leichter, sollen Sprit sparen und kleinere Motoren haben. Da
ist das Ziehen eines schweren Caravans dann nicht mehr so angesagt. Spannend wird es, ob die Branche es schafft, bezahlbare Leichtbaulösungen auf die
Räder zu stellen.
Vielleicht gibt es genau deswegen seit einiger Zeit auf immer mehr Campingplätzen so genannte „Mobile Homes“. Das sind Häuschen, die eher pro forma
(weil an den Standorten von Campingplätzen häufig keine Genehmigungen für
feste Bauten zu erlangen sind) noch Räder haben und die man mieten kann.
Wobei man dann doch nicht mehr im eigenen Bett schläft.
Krise eben. Und es passt zur Krise der Branche. Denn die Reisemobil- und Caravanhersteller haben zwar einen Boom erlebt, aber der wiederum erlebt derzeit
eine empfindliche Delle. Nicht wegen der schwankenden Banken. Die Krise sei
„eher hausgemacht“, sagt Weidenfeld. Zehn Jahre lang ging es immer bergauf,
die Zuwachsraten waren teilweise zweistellig, und das hat die Firmen übermütig gemacht: Hohe Stückzahlen, gewaltige Kapazitäten. Und jetzt stehen die
Händlerhöfe voll.
Stefan Weidenfeld selbst probiert im Urlaub gern man dies und gern mal jenes
aus und ist manchmal auch nur mit dem Zelt unterwegs. Und wie wohnt er
sonst? „Ganz normal“, sagt er. Er und seine Frau haben eine Wohnung. Allerdings mit Terrasse und Garten. „Ein bisschen Natur brauche ich um mich herum.
Auch im Alltag.“
«
2011
N
„Was i s t das den n , S t a d t ? “
M ic ha e l Zobel
I nselv ogt, S t e i n h u d e
icht schutzlos au xxx
hutzlos au xx
2012
Soso, die Stadt erlebt eine Renaissance? Soll sie, sagt Michael Zobel. Aber
bitte ohne ihn. „Was ist das denn, Stadt?“, sagt er. „Lärm und Stress.“
Vor etwas mehr als fünf Jahren saß Michael Zobel gerade mit seiner Frau
Heidrun am Frühstückstisch, als sie aus der Zeitung aufschaute und fragte, ob
er sich mit ihr ein Leben auf einer einsamen Insel vorstellen könne. Sie hatte
eine Stellenausschreibung der Fürstlichen Hofkammer zu Bückeburg gefunden, gesucht wurde ein Verwalterehepaar für die Inselfestung Wilhelmstein im
Steinhuder Meer. Michael und Heidrun Zobel – er Handwerker und Kommunikationsorganisator, sie mit einer kaufmännischen Ausbildung – bewarben sich.
Und wurden aus 140 Mitbewerberpaaren ausgewählt.
Die Festung Wilhelmstein war im 18. Jahrhundert vom Grafen Wilhelm zu
Schaumburg-Lippe auf einer künstlichen Insel im Steinhuder Meer errichtet
worden. Das wurde damals ein bisschen belächelt – bis 1787 die Hessen die
Grafschaft besetzten, aber den Wilhelmstein nicht einnehmen konnten. Heute
ist die Festung ein beliebtes Ausflugsziel. 60.000 Besucher kommen während
der Saison, besichtigen die alten Gemäuer, stärken sich im Restaurant, können
auf der Insel inzwischen auch übernachten, Seminare abhalten, die Ehe schließen. Sieben Monate lang, vom 1. April bis zum 31. Oktober, haben Heidrun und
Michael Zobel fast rund um die Uhr alle Hände voll zu tun. Dann wird es still.
Vom 1. November bis zum 31. März besteht auf dem Steinhuder Meer ein Winterfahrverbot. Die Zobels haben natürlich eine Ausnahmegenehmigung. Aber auch
im Winter müssen die technischen Anlagen, die Heizung, die Wasserleitungen
beaufsichtigt werden. Ein bisschen Urlaub ist schon drin, doch meistens sind
Heidrun und Michael Zobel auf ihrer Insel.
Woanders spricht man davon, dass Wohnen und Arbeiten wieder mehr zusammenwachsen. Bei den Zobels ist das schon seit fünf Jahren so, „das geht nahtlos
ineinander über“. Eines der historischen Gebäude auf der Insel dient den Verwaltern als Wohnhaus. Knapp 90 Quadratmeter, kleine, niedrige Räume, mehr
als einen halben Meter dicke Backsteinwände. Es ist gemütlich bei ihnen, die
Küche ist im Landhausstil eingerichtet, das Bad ist modern, im Wohnzimmer
dominiert das blaue Ledersofa. Aber es gibt auch kalte Ecken im Haus. Doch es
habe seinen eigenen Reiz, in so einem Gemäuer zu wohnen, sagt Zobel. Und
er kennt keinen Stau, kein U-Bahn-Gedränge, keinen hastigen Coffee-to-go. Er
muss nur vor die Tür treten, dann ist er schon an seinem Arbeitsplatz. Von neun
bis fünf im Büro – das war sowieso nie sein Ding.
Die Zahl der Freunde der Zobels hat sich reduziert. Wenn nicht mehr jeder eben
mal so vorbeikommen kann, zeigt sich, welche Beziehung Bestand hat. Neue
Freunde gibt es aber auch, etwa die Segler, die die Verwalter abends zum Grillen
einladen. Und dann, wenn die Saison vorbei ist, werden Heidrun und Michael
Zobel auf sich selbst zurückgeworfen. Alles ist grau, der Himmel, die Bäume, das
Wasser. Die Natur zeigt, dass sie hart sein kann. Manchmal wird Michael Zobel
gefragt, ob ihm das nicht doch zu einsam sei auf der Insel. Er sagt dann: „Leute,
die Einsamkeit als unangenehme Auseinandersetzung mit der eigenen Person
empfinden, sind hier fehl am Platz.“
Nach einer Weile trug das Eis, Heidrun Zobel konnte ihren Mann besuchen –
aber sie ließen es dabei, dass die Frau noch ein paar Wochen bei der Tochter
blieb und Michael Zobel allein auf der Insel arbeitete. „Man sieht Dinge, die man
sonst nicht sieht“, sagte Zobel. „In der Natur, in sich.“ Er sagt: „Wenn man aus
der Stadt zu einem Spaziergang in den Wald fährt, kennt man den Wald nicht.
Den kennt man nur, wenn man drin lebt. Mit der Stadt ist es andersherum. Da
kann man aus der Abgeschiedenheit hinfahren und dann auch wieder weg,
weil man das ja kennt. Den Lärm. Den Stress.“
Wie lange die Zobels auf dem Wilhelmstein bleiben, wissen sie nicht. Wenn sie
bis zur Rente bleiben, brechen sie den Rekord der Verwalterpaare. Wenn nicht:
In die Stadt will Michael Zobel nicht zurück. Erst hat er in Hannover gelebt,
dann in dem Dorf am Deister, nun auf der Insel. „Wenn wieder was anderes
ansteht“, sagt er, „tendiere ich zur Almhütte.“
«
Im Winter 2008/2009 hatte Michael Zobel besonders viel Gelegenheit, sich mit
der eigenen Person auseinanderzusetzen. Seine Frau besuchte gerade die Tochter, die das Haus der Zobels in einem Dorf am Deister bewohnt. Michael Zobel wollte nachkommen, aber er wartete eine Nacht zu lang. Das Steinhuder
Meer war am nächsten Morgen zugefroren. Die Eisschicht betrug nur zwei, drei
Zentimeter. Aber das ist zuviel, um noch mit dem Boot fahren zu können, und
zuwenig, um das Eis zu betreten. Zobel dachte: Wird ein paar Tage dauern. Es
wurden neun Wochen.
„Da kann man dann schon mal einen Inselkoller bekommen“, sagt Michael Zobel – aber richtig ernst ist es bei ihm damit nie geworden. „Man kann seine
Grenzen erforschen: Eines Tages habe ich ausprobiert, wie es ist, wenn man allein ist und dann auch den Fernseher und das Radio auslässt. Irgendwann habe
ich gemerkt, dass ich mich mit den Dingen unterhalte. Dass ich die Schippkarre
frage, wieso sie da immer noch rumsteht, dass ich der Abendbrotscheibe sage,
wie schön sie aussieht. Da habe ich diesen Teil des Experiments dann doch
abgebrochen.“
2013
2014
So wohnen
die
im Film
Fo t o s : d e s i g n a g e n t e n
... Stück für Stück.
2015
Lichter der Vorstadt, 2006
Regie: Aki Kaurismäki
Text: Mar tina Jung
Wo die Schwermut wohnt
Ein Paar sitzt auf dem Sofa, der Tisch ist sorgfältig gedeckt, rührend altmodisch wie bei einer alten Dame,
mit bestickter Tischdecke und Likör (hier vermutlich
eher Wodka), einer Schale mit Gebäck und sogar einer
Vase (d.h. einer zur Vase umfunktionierten leeren Flasche) mit Blumen. Doch bei näherem Hinsehen wirkt
das Interieur beklemmend und klaustrophobisch mit
seinem Polstersofa in trübem Blau und seinen gestrichenen Ziegelwänden mit dem roten Wandbehang.
Die Farben sind ohne Leuchtkraft, stattdessen stumpf
und bedrückend. Elektrisches Licht erhellt die Szene,
Tageslicht dringt nur spärlich hinein, denn bei der
Wohnung handelt es sich euphemistisch ausgedrückt
um eine Souterrainwohnung, genau genommen um
einen zur Wohnung ausgebauten Kellerraum. In einer Szene sind die durchlaufenden Installationsrohre
deutlich zu erkennen. Licht Luft Sonne – Fremdwörter in dieser Innenraumwelt, die der Finne Kaurismäki ausmalt. Ein trauriges Paar. Die Protagonisten
scheinen in der gezeigten Einstellung mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Bluse und strenge Jacke
der weiblichen Darstellerin wiederholen die Farben
der Ausstattung und unterstreichen das Gefühl der
Aussichtslosigkeit, das die Szenerie vermittelt. Diese
Wohnung ist eine Höhle, aus der es kein Entrinnen
gibt, so wie es für den männlichen „Helden“ des Films
keinen Ausweg aus der sozialen Abwärtsspirale gibt,
in die er durch Verrat hineingerät. Die Wohnung hält
ihre Insassen gefangen in Fremdheit und herzzerreißender Tristesse.
Die roten Nelken auf dem Tisch erscheinen als matte
Reverenz an ein Tête-à-tête, das die Situation wohl
sein will, als matte Reverenz auch an das traute Heim,
das Glück allein verheißt. Zukunftsforscher sagen voraus, dass der Trend zum Singlewohnen deutlich zunehmen wird. Aki Kaurismäki entwirft ein Szenario
von Einsamkeit, sozialer Desintegration und Kälte,
das einen frösteln lässt.
Wo, bitte, geht es hier zur Tür?
2016
Blade Runner, 1982
Regie: Ridley Scott
Text: Mar tina Scheitenberger
Erinnerung an die Zukunft der Küche
Der Kopfgeldjäger Blade Runner Deckard bereitet
der Replikantin Rachael in der Küche einen Drink.
Wie in dem apokalyptischen Endzeit-Film mit seiner
finsteren Stadtlandschaft zu erwarten, ist die Küche
eng, ohne Tageslicht, wirkt angesichts der Spuren
auf den Oberflächen der Schränke abgenutzt, irgendwie anders als bei uns real existierenden Wesen im
Jahr 2009. Schließlich spielt der Film im Jahr 2019,
also in der Zukunft, und verheißt nichts Gutes, mag
man dem Film Glauben schenken! Von Licht, Luft,
Sonne und Hygiene keine Spur. Diese Art von Bilderbuchküchen aus Innenarchitekturzeitschriften, mit
überdimensionierten Glasfronten, Inselküchen mit
glänzenden Edelstahloberflächen sind eher in neueren zukunftsvisionären Filmen zu finden, so etwa
in „Die Insel“ mit Scarlett Johansson (Regie: Michael
Bay).
Wie Blade Runner Deckard sich so über die Spüle
neigt, erscheint doch der Griff zum Wasserhahn
auch sehr vertraut. Beim Standbild wird offenbar,
was bei laufenden Bildern nicht fassbar ist und eher
unterbewusst gespeichert wird. In der Küche stehen
nämlich die uns so vertrauten Dinge wie Toaster,
Kaffeemaschine, Abtropfsieb und Safter auf der Küchenplatte. Selbst ein kleiner spießig anmutender
Blumentopf mit einem nicht zu entzifferndem Kraut
ist auf einem Oberschrank zu entdecken. Der Safter
ist übrigens ziemlich praktisch, - ich habe ihn auch,
genau das gleiche Modell.
Die Küchenblenden sind aus reliefartigen Platten,
die stark an antike Muster erinnern, also auch auf
den zweiten Blick nicht futuristisch anmuten. Alles
ist also nicht neu, nur die Kombination der Details
ist es und macht die Interieurs so interessant und
spannend. Der Blick in die Wohnung von Sebastian,
der in einer klassizistisch anmutenden Wohnung
quasi wie in einem Museum kleine selbst konstruierte künstliche Gnome sammelt, erhärtet den Verdacht, dass hier Stile zitiert und keine neuen erfunden werden. War nicht in den 1980er Jahren gerade
die Postmoderne ganz en vogue, neue Kombinationen von historischen Stilelementen, ein wilder Mix
aus Säulen, geometrischen Formen? Aber die Kücheninszenierung nur als Zeitdokument zu sehen,
die Stilmoden der 1980er Jahre aufnimmt, ist doch
zu kurz gegriffen. Also anders: Man könnte auch sagen, hier geht’s um Versatzstücke, aus lauter Dingen,
mit denen wir etwas verbinden, an die wir uns erinnern. Und da steckt vermutlich mehr dahinter. Indem der Film in die Welt der Zukunft führt und uns
gleichzeitig erinnern lässt, hält er uns den Spiegel
vor: Menschen sind von Maschinen und Maschinen
von Menschen kaum noch zu unterscheiden. Ein
sich selbst vergewissern, die Erinnerung und die
Sehnsucht sind die Merkmale, die uns noch von den
künstlichen Wesen unterscheiden, oder nicht? Es ist
eine Frage der Zeit, bis die Grenzen vollends aufgelöst sind. Das klingt nach moralischem Zeigefinger
und ist wahrscheinlich auch so gemeint.
Und was tragen der Toaster, die Kaffeemaschine und
der Safter zu allem bei? Es wird alles anders und doch
bleibt es wie es ist, wenn man genauer hinsieht. In
die Zukunft schauen, heißt erinnern?
2017
Help, 1965
Regie: Richard Lester
Text: Mar tina Gr ünwa ld
Eine typische Vorortidylle. Alles ist in bester Ordnung. Die Häuser sind gepflegt, die Vorgärten gehegt. Und da kommen auch schon die Nachbarn.
Vier junge Herren in gebügelten Anzügen, geputzten Schuhen und mit ordentlichen Haarschnitten
Offensichtlich ist man sich sympathisch und grüßt
freundlich in die Runde.
Draußen bleibt alles gleich. Innen wird gelebt und
ausgelebt. Was vor Jahren als Wohnform nur für jüngere Leute vorstellbar war, hat längst die Generationengrenzen übersprungen.
Es lebe die WG – heute wie morgen.
Dann verschwinden die vier in ihren jeweiligen
Häusern. Vier Treppen, vier Türen, vier Schlösser –
auf und wieder zu. Schon sind sie verschwunden in
– man staune – eine große gemeinsame Wohnung,
die sich hinter den Mauern verborgen hatte.
Was sich hinter der Backsteinfassade abspielt – nicht
nur die Hausmusik aus der Hammondorgel begleitet
von Flötentönen des Gärtners – macht Lust. Lust auf
Austausch, auf Auseinandersetzung, auf Verwirklichung gemeinsamer Ideen, aber auch Lust nach Andersartigkeit. Kurz: Die Bilder machen Lust auf
gemeinsames Leben und Wohnen.
Hier verschmelzen nicht nur die einzelnen Vorlieben und Lebensstile, sondern auch das Drinnen und
das Draußen. Hier wächst der Rasen unter Jacobsens
Egg-Chair, da bieten Wandautomaten kalte Getränke und Snacks, selbst die frischen Orangen kommen
wie fliegende Tennisbälle aus einem Automatenspender. Das im Boden versenkte Bett vermittelt
Geborgenheit und Individualität. Keine Küche, kein
Schlafraum, kein Flur.
2018
2019
Das fünfte Element, 1997
Regie: Luc Besson
Text: A xel Born
Von unten nach oben und um die Ecke!
Ich habe eine Verabredung bei McDonald’s an der
Ecke Lancaster Avenue/Garibaldi Graben. In drei Minuten. Eigentlich kein Problem, denn die Lancaster
Avenue ist gleich vor mir. Allerdings: Ich lenke meinen Straßengleiter auf der vierten Ebene durch die
Häuserschluchten – doch das „Fly through“ liegt in
der 26.
Luc Besson öffnet in seiner Science-Fiction-Persiflage einen spannenden Blick auf die Stadt der Zukunft. Die schräge Weltrettungs-Geschichte spielt
im Jahr 2259, also exakt in einem Vierteljahrhundert.
Das Wohnen hat sich zu dem Zeitpunkt sehr gewandelt. Und der innerstädtische Verkehr ist in die dritte
Dimension vorgedrungen. Links, rechts, geradeaus –
das ist heute. Oben und unten – das ist Zukunft.
Doch eigentlich würde ich mein Gefährt gerne wieder einmal selbst lenken. So wie anfangs des 21.
Jahrhunderts, als ich mein Auto – ein zugegeben
lächerlich langsames, sperriges, unbequemes und
dreckiges Blechding – an einem Drehrad horizontal
über asphaltierte Straßen lenkte. Abends kam das
Automobil in ein eigenes Häuschen. Von dort musste
man dann zu Fuß bis in die Wohnung gehen. Zu Fuß,
ich fasse es nicht, wenn ich daran zurückdenke.
Hey, Zukunft ist gar nicht so schlecht.
Wer überwindet dieses Chaos? Wie komme ich heile in einem solchen Schwarm rasender Flugmobile
verdammt noch mal von der vierten auf die 26. Ebene? Habe ich einen sechsten Sinn wie Fische oder
Fledermäuse? Oder gibt es so etwas wie ein „Superintelligentes Navigationssystem (SiNs)“, in das sich
alle Verkehrsteilnehmer vor dem Start einloggen
müssen. Die vollständige Kontrolle über den dreidimensionalen Verkehrsfluss übernimmt danach
der Hochleistungscomputer. Stress? Unfallgefahr?
Nichts davon.
2020
007 – Der Spion, der mich liebte, 1977
Regie: Lewis Gilbert
Text: Carsten Ens
Verrückt, aber absolut cool!
Ja, wo sind sie denn, die ganzen Unterwasserstädte,
die uns seit Jahrzehnten in Aussicht gestellt werden?
Es war doch eigentlich alles sonnenklar: Spätestens
seit den 1950er Jahren waren Zukunftsforscher stets
zu dem Schluss gekommen, die Menschen würden
sehr, sehr bald auf dem Meeresgrund und natürlich
auch auf Mond und Mars wohnen. Vielleicht haben
sie einfach zu viel Jules Verne gelesen oder die tollen
Filme gesehen über Kapitän Nemo, der mit seinem
atemberaubenden Unterseeboot Nautilus „20.000
Meilen unter dem Meer“ gefahren ist.
Grauer Alltag, der im Strombergschen Unterwasserpalast nichts zu suchen hat: prunkvoller Speisesaal, eine Art Luxus-Wohnzimmer über zwei Etagen,
Fenster, durch die man die exotischsten Fische beobachten kann, dazu eine unvorstellbare Technik,
die alles wie einen Eishauch umweht. Strombergs
Krakenhaus „Atlantis“ ist einfach ungeschlagen
cool! Wie gerne hätten wir einen Blick ins Schlafzimmer geworfen. Und in die Kinderzimmer. Und in
den Wellnessbereich. Und in die Bibliothek. Und in
die Küche. Und in den Keller.
Einer hat sich den Traum von Wohnen im Wasser
in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erfüllt. Er ist
zwar ein Schurke und sicherlich ein Verrückter. Und
vor unseren Augen ist er schon Dutzende Filmtode
gestorben. Aber rein wohnungsmäßig gesehen, gibt
es niemanden, der es so weit – ach, so tief gebracht
hat wie Carl Stromberg.
Nicht einmal der japanische Geschäftsmann Hidekatzu Tanaka, kein Schurke, sondern ein guter
Freund des deutschen Meeresforschers Hans Hass.
Ihm zur Freude gab Tanaka 1975 – am Rande der
„Meeresweltausstellung“ in Osaka – ein Fest in seiner weltweit einzigartigen Unterwasser-Villa südlich von Tokyo. 16 Männer und Frauen aßen, tanzten
und schliefen unter Wasser. Fasziniert stellte Hass
fest: „Unter dem erhöhten Druck schäumt das Bier
nicht, und eine gewisse Bewusstseinsveränderung
findet statt.“ Und wie ging die Party zu Ende? „Das
Geschirr wurde abgewaschen, die Möbel geputzt
und die Unterwasser-Reinemachfrau säuberte mit
einem Staubsauger die Spannteppiche.“
Selbst James Bond hat so etwas in seiner Karriere
noch nicht gesehen. Dabei ist der weltgewandte Tausendsassa wahrlich weit herum gekommen. Beim
Besuch der Tiefseebehausung versucht 007 sichtlich
beeindruckt, dieser Art des Wohnens auf den Grund
zu gehen. Wir hören und staunen: Stromberg kommt
gleich zur Sache: „Warum versuchen wir den Weltraum zu erobern, wenn sieben Zehntel unseres Planeten noch unerforscht sind? Die Welt des Meeres.“
„Sie scheinen in der Lage zu sein, diese Zahlen zu
korrigieren. Sie leben hier völlig unabhängig von der
Außenwelt.“ „Ja, ich bin so etwas wie ein Einsiedler.
Ich bin immer bestrebt, mein Leben auf meine Weise
zu leben und in einer Umgebung, mit der ich mich
identifizieren kann. Das ist ein Privileg des Reichtums.“
„Vermissen Sie nicht die Außenwelt?“ „Für mich ist
das hier die ganze Welt.“
Wie schon gesagt: Ein bisschen verrückt!
Aber ziemlich cool!
2021
Soylent Green, USA 1973
Regie: Richard Fleischer
Gemäß einer Prophezeiung aus Hollywood von 1973
werden im Jahre 2022 rund 40 Millionen Menschen
in New York leben, die Hälfte von ihnen ohne Job.
Leben? Abgesehen von ein paar Führungskräften
sowie deren Schurken und Schergen vegetiert die
Menschheit in der neblig-trüben Metropole elendiglich dahin. Jahreszeiten? Unentwegt brütende Hitze.
Aufs Land flüchten? Verboten. Die Farmen gleichen
Festungen. Und ein Glas Erdbeermarmelade kostet
150 Dollar.
An Essbarem verteilt die Obrigkeit lediglich ein
knappes Erzeugnis, die Soylent-Kekse in Rot oder
Gelb, neuerdings manchmal die nahrhafteren in
Grün – „geruchloser Mist ohne Geschmack“, wie der
greise Edward G. Robinson wutentbrannt schimpft,
hausend in einem düsteren Loch zusammen mit
Charlton Heston, der einen sarkastischen Polizisten
mimt. Spärliches Wackellicht erkurbelt man sich mit
dem Stehfahrrad. Ohnehin haben die beiden Glück,
sind geradezu privilegiert. Die Wehklagenden, denen keine Bleibe zusteht, bevölkern das Treppenhaus, greinen, sobald man zwischen ihren Leibern
die Stufen entlang klettert.
Als es eines Tages gänzlich an Keksen mangelt, bricht
auf den Straßen ein Tumult aus. Protestierende werden wahllos mittels Schaufelbaggern auf LKW geladen und abtransportiert.
Heston muss einen ominösen Mordfall untersuchen.
Einem Vorstandsmitglied der Soylent Corporation,
dem Nahrungsmittel-Monopolisten, wurde in seiner
Luxus-Suite der Schädel eingeschlagen. Der coole
Bulle inspiziert das prachtvolle Badezimmer und reagiert wie ein Kind vor dem Gabentisch. „Seife! Richtiges Papier!!“ Die hauseigene Konkubine schlägt
vor, ein Bad zu nehmen, solange er Lust habe. „Was?
Es gibt warmes Wasser hier? Sogar heißes??“
Unterdessen enthüllt Robinson gemeinsam mit anderen Senioren, dass „Soylent Green“ keineswegs
wie propagiert aus Plankton gewonnen wird. Verzagt, vollends niedergeschmettert entscheidet er
sich dafür, sich in einem der Euthanasie-Zentren
einschläfern zu lassen, begleitet von symphonischen Klängen und Landschaftsbildern nach Wahl.
Heston, dem väterlichen Freund nachschleichend,
verfolgt niedergeschlagen, doch zäh den Transport
der Leichen vom Sterbeort in eine Fabrik. Das Grauen raubt einem schier den Verstand: „Soylent Green
ist Menschenfleisch!“
In verfinsterten Augenblicken beschleicht den heutigen Betrachter dieses frühen Öko-Thrillers die Befürchtung, das atmosphärische Szenario wäre, die
Schlusspointe ausgenommen!, mitnichten so futuristisch-phantastisch, zumindest für Gebiete außerhalb der raren Wohlstandsinseln auf diesem Globus.
Gleichwohl, wider derlei Schreckensvisionen wäre
mit einer Strophe des Chansonniers Funny van Dannen zu schließen: „Manche meinen, man solle leben,
als wär‘s der letzte Tag / Das klingt nach Intensivstation, na ja, wer so was mag / Dabei würde ich mich
nicht mal einen Optimisten nennen / Aber Pessimismus, Baby, muss man sich leisten können“.
2022
beam
me
up!
Fo t o s : C l a u s U h l e n d o r f
...auf und davon .
2023
„Wenn’s mal wieder länger dauert: einfach beamen“
Über die Zeit gebeamt,
im Raum und mit Ideen gelandet.
Eine Erwartungsreise
A
Der Autor Mathias Schönhoff beschäftigte sich unter dem gleichlautenden
Titel mit dem Phänomen der sogenannten Teleportation, die eben nicht immer
reibungslos vonstatten ging, wenn man sich einige Szenen von Raumschiff
Enterprise und anderen berühmten Raumschiff-Krimis vor Augen führt. Ein
weithin bekannter Informationsdienst im Internet hat sich des Phänomens
angenommen und es folgendermaßen definiert: „Teleportation bezeichnet
den Transport einer Person oder eines Gegenstandes von einem Ort zu einem
anderen, ohne dass das Objekt dabei physisch den dazwischen liegenden
Raum durchquert.“ Das klingt so real, als sei Beamen gängige Praxis. Schon
im 19. Jahrhundert kursierten in der Literatur Phantasien über spektakuläre
Materieübertragungen. Tatsächlich ist es australischen Forschern kürzlich
gelungen, Atome über eine Glasfaserleitung zu teleportieren. Der Leiter des
Experiments, Dr. Murray Olsen, verglich sein geglücktes Experiment mit dem
„Beamen“. Allerdings, so schränkt Murray Olsen ein, kann er nicht dafür garantieren, dass auch Menschen mit der neu entwickelten Methode lautlos und
spurlos von einem zum anderen Ort gebeamt werden können. Warten wir’s ab,
ob diese umweltschonende Transportweise Zukunft hat.
Kasimir, Annefei
u n d Emilia (mit grünem Schal)
2024
2025
„In 100 Jahren wird
es auf den Straßen
keine Autos mehr
geben. Alle fahren
mit dem Skateboard
zur Arbeit.“
Wann und wie haben Sie in Ihrer ersten
eigenen Wohnung gelebt?
1 9 6 3 i n ei n e r 2 9 m 2 g r o ß e n J u n g g e s e l l e n w o h n u n g .
In welcher Etage würden Sie im höchsten
Hochhaus der Welt am liebsten wohnen?
I n d e r 1 00 s t e n .
J
W a s v e r m is s e n S i e s e h r i n I h r e r W o h n u n g ?
Phillip (mit Skateboard),
Meine Frau, wenn sie zur Arbeit ist.
Thomas
Gerh ard, 7 2 , Ga rb se n a . d . Horst
I h r L i e b li n g s p l a t z i n d e r W o h n u n g ?
Die Stube.
A n w a s e ri n n e r n S i e s i c h i n d e r W o h n u n g I h r e r E ltern?
An die Enge mit sechs Kindern.
Gretch en , 7 6 , L üne b urg
W a s w e r d en S i e s e h e n , w e n n S i e i m J a h r e 2 1 0 9
a u s d e m Fe n s t e r s c h a u e n ?
A u s d e m Hi m m e l f e n s t e r h o f f e n t l i c h
d e n b l a u en P l a n e t e n E r d e .
D a s W o h n en i m J a h r 2 1 0 9 . . .
s o l l t e a u c h f ü r s o z i a l S c h w ä c h e r e e i n V e r g n ü g e n sein.
Jo ach i m , 5 7 , Celle
2026
Tsung Mei,
„In 100 Jahren:
Zurück zur Natur. Die Familie
lebt im Garten und baut ihr
eigenes Gemüse an. Für eine
schönere Welt und für ein
besseres Achten aller Lebewesen sind alle Vegetarier.“
Tim, Katja (in karierter Bluse),
T h o m m i ( im grasgrünem Hemd),
Stina D
Ihr „Traum“-Wohnort:
Gartenlaube.
W a n n u n d w i e h a b e n S i e i n I h r e r e r s t e n W o h n u n g g elebt?
I m W i n t e r 1 9 6 3 . I c h e r i n n e r e m i c h a n d i e E i s b l u men
i m F e n s t e r , u n d d a s G l a s W a s s e r i m S c h l a f z i m m e r war
ü b e r N a c ht e i n g e f r o r e n .
Lydi a, 6 8 , L ü n eb urg
I h r „ T r a um “ - W o h n o r t :
Hausboot.
W a s v e r m is s e n S i e s e h r i n I h r e r W o h n u n g ?
Multimediaraum, Staubsaugerroboter.
A n dreas , 4 4 , Wolfsb urg
2027
Ihr Lieblingshaus aus einem Film?
Die Ponderosa-Ranch mit Hop Sing als Koch.
Was vermissen Sie sehr in Ihrer Wohnung?
O r dn u n g u n d e i n e g r o ß e C o u c h .
Ch ri stof, Fre d e b urg
Vielleicht sprechen wir alle
die gleiche Sprache,
kreuzen auf fliegenden
Teppichen durch die
großen Städte und erfreuen
uns weiter des Lebens.
Alles zu seiner Zeit.
Ihr Lieblingsplatz in der Wohnung?
Die Badewanne.
Alexander mit
Was vermissen Sie sehr in Ihrer Wohnung?
J u l e ( m ac ht Mä nn ch e n ) D
Einen fliegenden Teppich.
F ranz, 59, Göttinge n
An was erinnern Sie sich in der Wohnung
I h re r E l t e r n o d e r G r o ß e l t e r n ?
Kuckucksuhr aus dem Schwarzwald.
W a s m u s s f ü r d a s W o h n e n n o c h e r f u n d e n w e r den?
Die Kultur des Wohnens.
Hei ke , 45, Göttinge n- Frie d la nd
2028
Wir haben gerade ein Haus
gebaut und die Fragen
des Zusammenlebens für
heute zunächst geklärt.
Doch wie sieht Wohnen in
100 Jahren aus? Wo wird
man sich dann treffen? In
der Küche? Auf dem Sofa?
Bestimmt wird es andere
Möglichkeiten geben.
Wir blicken jedenfalls
gespannt in die Zukunft.
Fritzi, Ferdinand,
Dagi, Alex mit
Pauline auf dem Arm
und Lilly D
I n welchem M o m e n t f ü h l e n S i e s ic h w i r k l i c h z u H a u s e ?
20:00 Uhr Na c h r i c h t e n .
D as Wohnen i m J a h r 2 1 0 9 . . .
w ird zu 100% c o m p u t e r g e s t e u e r t s e i n .
R e n a t e , 5 5 , B re m e n
W as in Ihrer W o h n u n g i s t u n v e r z i c h t b a r ?
A bstellkamm e r ! D a s t e h t d i e T i ef k ü h l t r u h e d r i n u n d d i e
Kammer hat P l a t z f ü r a l l d i e S a c h e n , m i t d e n e n m a n s o n s t
nicht weiß, w o m a n s i e h i n t u n s o l l .
W as vermisse n S i e s e h r i n I h r e r W o h n u n g ?
E ine Bar auf d e m B a l k o n .
Ka t h a r i n a , 2 3 , R o sen g arten
I ch würde ge r n e a u f d e m M o n d l e b e n .
D as Wohnen i m J a h r 2 1 0 9 . . . i s t u n v o r s t e l l b a r .
F in j a , 2 4 , L ü n e b u r g
2029
2030
Der Klimawandel wird das
Leben verändern. Der Wasserspiegel der Ozeane und See
wird kräftig ansteigen. Darauf
müssen sich die Menschen
vorbereiten. Natürlich baden
und tauchen wir gerne. Aber
xx xxx
Skifahren in den Alpen wird
wohl nicht mehr möglich sein.
Schade!
xx xxx
G o t t f ri ed , A nk e,
C i a r a , F lo re nt in ,
L i l l y (m it Ta uc he r f l o s s e n ) D
W a s werden Sie s e h e n , w e n n S i e i m J a h r e 2 1 0 9
a u s dem Fenster s c h a u e n ?
Hochhäuser, fli e g e n d e F a h r z e u g e ,
F u ß g änger mit Ta u c h e r g l o c k e .
W a s in Ihrer Woh n u n g i s t u n v e r z i c h t b a r ?
M e i n grüner Sess e l .
Dan iela, 3 7 , L e e r
I c h würde gerne. . .
a u f dem Meeresgr u n d l e b e n !
J ür gen , 4 5 , S c h w a n e w e d e
I h r Lieblingshau s ?
D i e „Neverland-R a n c h “ v o n M i c h a e l J a c k s o n .
D i e Wohnung im J a h r 2 1 0 9 . . .
s o l l te billiger w e r d e n .
Dan iela, 3 4 , L ü n e b u r g
2031
von
Wärmflaschen
und
Esstischen
Fo t o s : C l a u s Uh l e n d o r f
. . . d a s k o m m t m it i n d i e T ü t e .
2032
Was muss für das Wohnen noch erfunden werden?
Das Dach zum Aufschieben.
I v o, 45, H amburg
Das ungewöhnlichste Detail in Ihrer Wohnung?
Meine Frau.
Was vermissen Sie sehr in Ihrer Wohnung?
Einen Tresor mit mehreren Millionen Euro.
Was muss für das Wohnen noch erfunden werden?
Ein Arbeitsbett.
B er nd, 47, Twenge
Wann und wie haben Sie in Ihrer ersten
eigenen Wohnung gelebt?
Mit Ofenheizung und ohne Bad.
In welchem Moment fühlen Sie sich wirklich zu Hause?
Morgens, wenn die Vögel vor dem Balkon zwitschern!
Gabri el e, 52, H annov er
J
Joachim
„Die Welt wird nur schön und gesund sein, wenn viele Pflanzen auf ihr wachsen.
Deshalb nehme ich meinen Garten Eden mit, um in der Zukunft weiter Blumen zu
züchten und viele Menschen glücklich zu machen.“
2034
An was erinnern Sie sich in der Wohnung
I h r e r E l t er n ?
An meinen kleinen, manchmal nervigen Bruder.
D an i el , 2 3 , Han n ove r
I h r L i e b l in g s p l a t z i n d e r W o h n u n g ?
Auf dem Sofa vor dem Ofen.
Iri s , 4 6 , Ei n beck
H e n ni ng D
„1972 hab ich den Seelöwen im Andenkenladen der Uno in NY gekauft.
Seitdem begleitet er mich, steht oft auf dem Bücherregal oder ich trage ihn
mit mir rum. Ich würde ihn mit auf meine Zeitreise nehmen, weil ich nicht weiß,
was mich erwartet. Er wirkt ungemein beruhigend und ist so ausgeglichen.
Mein Handschmeichler eben.“
2035
2036
J
Johanna (im Blumenkleid),
Imke, Henriette
xx xxx
xx xxx
„...wir nehmen unseren großen Küchentisch mit.
Alle unsere Feiern,
Entscheidungen,
Planungen und Familiengeschichten wurden hier
geschrieben. Und da wir
dies auch in 100 Jahren genauso machen wollen, muß
einfach genau
dieser Tisch mit.“
W a s muss für da s W o h n e n
n o c h erfunden w e r d e n ?
Nette, aufgesc h l o s s e n e
Nachbarn.
D i e schönste
W G - E rfahrung?
Spontane Feier n !
R enate, 4 9 , H a m b u r g
2037
I h r L i e b l in g s p l a t z i n d e r W o h n u n g ?
Im Bad, unter der Dusche mit Blick ins Grüne.
Ich würde gerne...
a u f d e m M on d l e b e n !
D i e W o h n u ng i m J a h r 2 1 0 9 . . .
J
Henry,
J
Oskar,
J
Victor (mit Kaulquappe)
wird immer noch 4 Wände haben.
Peter, 4 9 , Ham burg
An was erinnern Sie sich
i n d e r W o hn u n g I h r e r E l t e r n ?
3 Zimmer mit 54m2 für 6 Personen – 3 Generationen
Jo n as , 6 8 , Han n ove r
„Traum“-Wohnort:
Venedig.
Was werden Sie sehen, wenn Sie im Jahre 2109
a u s d e m F en s t e r s c h a u e n ?
„...wir packen unseren
Koffer mit dem
Fußball, der Püppi und
einer Kaulquappe.
Die brauchen wir
unbedingt in 100 Jahren
– macht ja keinen Spaß
sonst!“
D e n M a r k u sp l a t z .
Haral d, 5 4 , Ham burg
„Traum“-Wohnort:
Las Vegas und Paris.
An was erinnern Sie sich in der Wohnung
I h r e r E l t er n ?
An Mutters Kochkunst!
To bi as , 2 3 , Wo l f s b urg
2038
xx xxx
xx xxx
Wie haben Sie in Ihrer ersten
eigenen Wohnung gelebt?
Mit einer Apfelsinenkiste als Nachttisch.
Was vermissen Sie in Ihrer Wohnung?
Den selbstauffüllenden Kühlschrank.
N i col e, 30, N i enburg
Das ungewöhnlichste Detail in Ihrer Wohnung?
Ein Spaten von einem Happening im Teufelsmoor.
Was muss für das Wohnen noch erfunden werden?
Tucholskys „Ideal“ – ein Gedicht.
Wendel i n, 65, B onn
J
Dieter
„Ich nehme auf jeden Fall meinen Stuhl mit. Denn darauf sitze ich am liebsten,
wenn ich über die Zukunft nachdenke. Er ist einer der wenigen Gegenstände, der
bei allen Umzügen mitgewandert ist. So soll es auch in die Zukunft sein.“
2039
xx
„
T r xxx
aum“-Wohnort:
Mongolei.
An was erinnern Sie sich in der Wohnung
I h r e r E l t er n ?
A
n d
e n i m me r v o l l g e f ü l l t e n K ü h l s c h r a n k .
xx
xxx
Jen n i f er, 2 1 , Han nove r
K at ja D
„Seit 15 Jahren gehe ich jeden Abend mit dieser Wärmeflasche
ins Bett. Sicherlich wird es in 100 Jahren auf der Erde viel kälter
werden, da brauch ich natürlich meine warme Flasche.
Und mit kalten Füßen kann ich nun wirklich nicht einschlafen.“
D a s u n g e w öh n l i c h s t e D e t a i l i n I h r e r W o h n u n g ?
Viele Treppen, 3 Balkone.
Das Wohnen im Jahr 2109...
i s t ö k o l o gi s c h v e r a n t w o r t b a r , g e n e r a t i o n e n f l e x i b el.
D ag m ar, 5 1 , Gö ttinge n
„Traum“-Wohnort:
New York.
W a s v e r m i ss e n S i e i n I h r e r W o h n u n g ?
E i n e n B a l ko n .
Kath ri n , 2 7 , Han nove r
2040
Was muss für das Wohnen noch erfunden werden?
xx xxx
Abschaltbare Nachbarn.
An was erinnern Sie sich in der Wohnung
Ihrer Großeltern?
Bei meinen Großeltern hat es immer nach „alt“ gerochen!
xx xxx
K ari n, 46, B ars i nghaus en
Was vermissen Sie in Ihrer Wohnung?
Platz, da wir zu fünft wohnen.
H ol ger, 41, H i l des hei m
In welchem Moment fühlen Sie sich wirklich zu Hause?
Wenn die Tür in das Schloss fällt.
D i rk , 42, Wuns t orf /H el ms t edt
J
Nicolaus, 20
„...meinen Hockerschläger. Er hat mir seit vielen Spielzeiten viel Glück und Spaß
gebracht und ist mir so richtig an Herz gewachsen.“
2041
2042
An was erin n e r n S i e sxx
i c hxxx
in der Wohnung
I hrer Großel t e r n ?
A n die Toile t t e ü b e r d e n H o f .
D as ungewöhn l i c h s t e D e t a i l i n Ih r e r W o h n u n g ?
D ie Dachpfan n e n v o n 1xx
8 8 8xxx
.
W as muss für d a s W o h n e n n o c h e r f u n d e n w e r d e n ?
Der geräusch l o s e , u n s i c h t b a r e u n d p e r m a n e n t z u m A r b e i t e n
b ereite Bode n r e i n i g e r .
Ulr i c h , 7 2 , H a n n o v e r
M i ke un d T an ja D
„Ohne unsere Kameras würden wir nicht auf Zeitreise gehen.
Zum einen, um uns ein Bild von „dort“ mitzunehmen, aber auch
um dort ein Bild vom „hier“ zu zeigen. Früher waren das die
Abzüge oder Polaroids, heute sind es die Displays an den Kameras.
Unsere Form der Verständigung eben.“
W as werden S i e s e h e n , w e n n S i e i m J a h r e 2 1 0 9
a us dem Fens t e r s c h a u e n ?
V iel Wasser, w e n i g M e n s c h e n .
W as muss für d a s W o h n e n n o c h e r f u n d e n w e r d e n ?
D ie Wohnung m ü s s t e s i c h v o n s e l b s t s a u b e r m a c h e n ,
a uf Knopfdru c k !
Ralf, 40, Hamburg
2043
Ein
Rückblick
aus 2109
Te x t : D i e t r i c h z u r N e d d e n , Fo t o s : A x e l B o r n Man nehme...
2044
Bruchstücke,
die zu
Bausteinen
wurden
Grabungen aus der Zukunft des Wohnens vor einhundert
Jahren Die Tatsache, dass Billionen von spektralen Tönen, Bildern, Klängen, Worten, Farben Tag für Tag in den Äther ausgestrahlt werden und nicht
etwa spurlos dahinschwinden; die Tatsache, dass sie strömen wie das Licht;
dass auch das menschliche Gehirn elektrische Impulse ausstrahlt, sogar bis in
die ent-legendsten und schwärzesten der schwarzen Löcher; die Tatsache, dass
die Gehirnwellen früher oder später auf interstellaren Raumzeitkrümmungen zur Erde zurückfinden, dass also all die Gedanken und Ideen, all die Taten, Träume und Erinnerungen mittels der kosmischen elektromagnetischen
Welle irgendwann wiederkehren, voller Sehnsucht nach dem Planeten, von
dem sich die Menschen, ihre Träger, selbst verjagt haben – all diese Tatsachen
waren fast wörtlich, jedoch halbwegs maskiert als fantasiereich-fiktive Konsequenz einer Theorie, dem Epilog eines Bestsellers zu entnehmen, Alan Weismans
Buch „Die Welt ohne uns – Reise über eine unbevölkerte Erde“ aus dem Jahre
2007.
Nun stellen wir Notizen einer Rückkehr vor. Der Anlass, um diese Retrospektive zum Status Quo im Jahre 2009 interstellar zu teleportieren, ist die Feier
zum 200. Geburtstag des Verbandes der Wohnungswirtschaft NiedersachsenBremen, der, wie galaxienweit wohlbekannt, gleich einem Generalbass weiterhin existiert inmitten der sphärischen Melodien.
Erstaunliches zeichnete sich bei der Vorbereitung ab: Außerordentlich viele
Menschen aus den unterschiedlichsten Disziplinen und vorwiegend aus dem
damals zum prekären Freilichtmuseum sich wandelnden Europa richteten
ihr Augenmerk auf das, was sie Zukunft nannten. Verbunden in Überschneidungen und Verzweigungen veröffentlichen wir nun Schlüsselthemen, Szenarien, Lesarten, Markierungen, Prognosen und Prophezeiungen des Wohnens;
lassen Trendforscher, Zukunftsforscher, Freizeitforscher, Stadtplaner, Architekten, Marketingexperten, Soziologen und nicht zuletzt einige nomadische
Eremiten in einem seismografisch hochkomplexen Gebilde zu Wort kommen.
Der Einfachheit halber schildern wir diese Fragmente in einer lediglich vierdimensionalen Auswahl von zehn der inzwischen 999 Kapitel, um den Hauch
einer leisen Ahnung zu gewinnen, welche Vorstellungen die Menschen mit
dem Begriff Wohnen verknüpften, welche Modelle sie umzusetzen anstrebten
und welche sie umsetzten.
2045
001
Digitalisierung
des Wohnens
der
Computer
raum
2046
2047
Eine Epoche der schieren Intelligenz schien anzubrechen eingangs des
21. Jahrhunderts: Intelligente Technik, intelligente Raum- und Gebäudesysteme, intelligente Häuser, intelligentes Wohnen lauteten zentrale Begriffe,
hoch im Kurs auf Modellinseln, Experimentierfeldern und in Zukunftsszenarien. Gemeint war damit der Umstand, dass das „Paradigma des Einzelgeräts, das
ein Jahrhundert lang die Haushaltstechnisierung bestimmt hatte“, endete und
abgelöst wurde „vom Leitbild des ‚intelligent home‘“. So heißt es in einem Buch
aus dem Jahr 2001, dessen Titel „wohn:wandel“ überdies typografisch die Sache
auf den Punktbrachte, auf zwei sogar.
Die Digitalisierung berührte, vielmehr: erfasste den Alltag, machte natürlich vor
der Wohnung nicht halt. Längst hatte sie die Maschinerie im Haushalt verändert, doch nun setzte der nächste logische Schritt ein, den die Digitalisierung
ermöglichte. Wenn nämlich so gut wie jedes Gerät digital arbeitete, das heißt
also, jedes Gerät in der gleichen Sprache aus den Ziffern Eins und Null agierte
und reagierte, lag es nahe, sie miteinander zu verbinden, oder, wie man zu
sagen pflegte: zu vernetzen.
Eine erste Technisierung hatte die privaten Haushalte in den Industrieländern
des 20. Jahrhunderts geprägt. Nachdem es sich im ersten Viertel in wohlhabenden Kreisen bereits abgezeichnet hatte, war es für breite Schichten dann
nach dem Zweiten Weltkrieg spürbar geworden, und dehnte sich aus: Staubsauger, Waschmaschine, Kühlschrank zunächst, später TV und Telefon, Geschirrspülmaschine, elektrischer Herd, Trockner. Zum Ende des Jahrhunderts zogen
der Computer und das Internet ein und mit ihnen das ganz und gar neuartige
Bezugssystem, eben jene digitale Vernetzung. Das „Leitbild“, das damit einherging, bestand darin, „alle Geräte und Systeme einer Wohnung […] zentral oder
dezentral von technischer Intelligenz“ steuern zu lassen. In Aussicht gestellt,
ja versprochen wurde etwas, das manche Skeptiker an eine „eierlegende Wollmilchsau“ erinnerte, ein derweil unbekanntes Tier, das damals aber als Metapher diente für etwas, das die Erfüllung zahlreicher Bedürfnisse verheißt: Mit
dem „intelligent home“ sollte „die Leistungsfähigkeit in den Dimensionen Ökonomie, Ökologie, Sicherheit und Komfort gesteigert werden.“
Wo sonst als in der Hauptstadt des 20. Jahrhunderts, nämlich in New York, hatte
Bill Gates, damals einer der reichsten Menschen auf Erden, ein Haus eingerichtet, das zeigte, wie „die Wohnzukunft des Normalbürgers aussehen könnte“:
das Microsoft Home. Reichtum hatte Gates erworben, indem er eine von ihm
und seinem Kollegen Paul Allen entwickelte Software zum Marktführer in der
Computertechnologie durchsetzte.
Bevor Gates in der New Yorker 159th Avenue das Microsoft Home schuf, hatte
er ein privates Anwesen am Lake Washington in Seattle bauen lassen. Darüber
lässt sich in Ursula Muschelers Buch „Haus ohne Augenbrauen. Architekturgeschichten aus dem 20. Jahrhundert“ nachlesen. In Gates‘ Domizil nahmen
Sensoren die Ortsveränderungen der Anwesenden wahr. Deren Vorlieben und
Neigungen speicherte ein Chip, mit dem sie ausgerüstet waren.: „Beim Betreten
eines Zimmers ändern sich Raumtemperatur, Licht, die eingespielte Musik und
die digitalen Wandkunstwerke: Flachbildschirme mit aus dem Netz geholten
digitalen Abbildungen berühmter Gemälde.“
Die Fernbedienung, deren Archetyp seit den 1980er Jahren die Mühsal des Fußmarschs zum täglich notwendigeren Fernsehgerät linderte, wurde zum Zauberstab: Auf „dem Weg nach Hause kann er sich sein Badewasser per Fernsteuerung selbst einlaufen lassen, mit gewünschter Füllhöhe und Temperatur.“ Wer
der Begierde nach Zeitersparnis verfallen war, dürfte selig geworden sein.
In der Metropole nun benötigte man zum Betreten des Microsoft Home keinen Schlüssel, sondern ein Iris-Scanner identifizierte den Berechtigten und im
selben Augenblick „weiß das Haus, Sie sind da“, im „Haus der Zukunft“, das ein
„von innen wie außen steuerbares, elektronisch und mechanisch geschütztes
Haus“ war, „dessen Intelligenz auf lernender Software beruht.“ Ein Knopfdruck
mobilisierte das Hauswesen in jeglicher Richtung: „Herde verhindern das Anbrennen von Speisen, Tischdecken halten das Essen warm. Rasenmäher mähen
auf Wunsch den Rasen, Messgeräte überwachen die Körperfunktionen und benachrichtigen im Bedarfsfall den Arzt. Glasscheiben bewegen sich wie Segel im
Wind und wechseln von opak zu klar. Außenwände verdicken sich selbsttätig,
sobald ungewöhnliche Windlasten dies erfordern.“ Der haptische Sinn, das Er-
2048
fühlen wurde weitestgehend verschmäht, „Greifen, Drücken, Ziehen und Schieben“ wurden ersetzt durch die Fernbedienung und die Stimme der Benutzer,
„der neuen Herren über das häusliche Geschehen und den Maschinenpark“.
Gleichwohl assoziierten kritische Köpfe mit dieser Digitalisierung dämonische
Bilder, Beklemmendes, Gespensterhaftes, wie der Philosoph Paul Virilio, auf den
die Autorin verwies. Der Titel eines seiner Bücher war nachgerade zu einem
geflügelten Wort geworden: „Rasender Stillstand“. Darin schrieb er von der „Leichenstarre einer interaktiven Wohnung“, ein Raum, „der einer Pilotenkanzel
gleicht“, ein Cockpit, „das mit umfangreichen Instrumententafeln und Steuerungstools bestückt ist“. Der Pilot werde das Cockpit niemals mehr verlassen:
„Der Raum des auf Dauer Sesshaften schrumpft, da er sich immer weniger in
der physischen Welt und immer mehr in der virtuellen Welt bewegt.“
Begeben wir uns nun zu einem stählernen Kubus in der Schweiz, auf den Campus der Hochschule Luzern, wo das iHomeLab beheimatet war, „Denkfabrik und
Forschungslabor für Intelligentes Wohnen und Gebäudeautomation“. Auch hier
waren „Energieeffizienz, Komfort und Sicherheit“ die „Schlüsselthemen“. Ein
Artikel in Applica, dazumal die Fachzeitschrift des schweizerischen Maler- und
Gipsergewerbes, skizzierte im Jahr 2009 die Projektziele so: „Unserer heutigen
Mobilität und dem modernen Kommunikationsverhalten kommt es entgegen,
wenn wir unterwegs per SMS oder E-Mail informiert werden, sobald der Briefkasten voll ist oder die Kühlschranktür offen steht.“
Einem Nachgeborenen schießt die Frage durch den Kopf, wie häufig der Briefkasten wohl überfüllt gewesen war und ob nicht ein Nachbar hätte behilflich
sein können. Oder wie hoch die Wahrscheinlichkeit, dass das Schließen der
Kühlschranktür versäumt wurde. Statt um Antworten zu ringen, lesen wir ein
wenig weiter: „Die neuen Technologien können auch die Phase der Selbstständigkeit älterer Menschen verlängern: Spezielle Funksensoren informieren beispielsweise, wenn ein Bewohner gestürzt ist, oder warnen, wenn Geräte ausfallen beziehungsweise unbeaufsichtigt in Betrieb sind.“
Die Fraunhofer-Gesellschaft, seinerzeit die größte Organisation für angewandte
Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen in Europa, hatte in Duisburg
das inHaus-Zentrum eingerichtet. Um den Ansatz und das Ziel zu verdeutlichen,
sprach die dafür eingerichtete Internetseite für sich selbst: „Im Fraunhofer inHaus-Zentrum bündelt die Fraunhofer-Gesellschaft die Potenziale von neun
Fraunhofer-Instituten und über 80 Wirtschaftspartnern für neue Technologie-,
Produkt- und Anwendungslösungen in Wohn- und Nutzimmobilien. Hauptziele
sind neue Marktchancen für die Wirtschaftspartner, Mehrwerte für Investoren
und Anwender und übergreifender Nutzen wie Energieeffizienz, Sicherheit
und Umweltschutz.“
Das Zentrum bestand zum einen aus dem im Jahre 2001 eröffneten inHaus1, wo
„neue Technologie- und Anwendungslösungen für private Wohnhäuser aller
Art und für unterschiedliche Immobilien der Wohnungswirtschaft“ erforscht
und umgesetzt wurden. Es ging darum, die Betriebskosten und den Energieverbrauch zu senken, die Umwelt zu schonen, die „Sicherheit zu erhöhen“, Senioren länger ein eigenständiges Leben zu ermöglichen, aber auch den „Komfort
zu steigern“.
Im Jahre 2009 warb die Gesellschaft mit dem Erfolg, binnen sechs Jahren „über
100 Lösungen im Markt realisiert“ zu haben: „Darunter befinden sich neben
hochwertigen Privathäusern auch Seniorenwohnanlagen und mittelwertige
Objekte der Wohnungswirtschaft.“
Das inHaus2 war als „Innovationswerkstatt für Nutzimmobilien“ eingerichtet
worden: „Die Grundidee ist, dass ein Partnernetzwerk aus Forschung und Wirtschaft gemeinsam an der ganzheitlichen Entwicklung und Optimierung von
Komponenten und Systemen für Räume und Gebäude der nächsten Generation arbeitet.“ „Anwendungslabore“ waren realisiert: Das nextHotelLab für den
Hotel- und Veranstaltungsbereich; das nextHealth&CareLab für den Hospitalund Pflegeheimbereich; das nextOfficeLab für den Büro- und Servicebereich.
Der Ausgangspunkt eines Fragenkatalogs für das Gesamtwerk war die Feststellung, dass „trotz grenzenloser Datenkommunikation über das Internet (…) alle
Informationswege meist spätestens im Heimcomputer oder im Telefon (enden).
Es ist durchaus normal, sich die Wetterdaten aus Honolulu mal eben auf den
Bildschirm zu holen, während es meist keine Möglichkeit gibt, sich die Ver-
2049
brauchsdaten der eigenen Heizung auf dem Bildschirm des Fernsehers oder
des PCs zu vergegenwärtigen.“ Was wäre, so eine Frage, die sich daraus ergab,
wenn das Internet sich im eigenen Wohnhaus fortsetzen würde als Intranet?
„Wenn gar Komponenten und Geräte wie Heizung, Wettersensoren, Anwesenheitssensoren und Geschirrspüler Informationen miteinander und auch mit
dem Internet austauschen könnten, um Energie zu sparen, den Komfort zu
erhöhen oder auch die Sicherheit zu erhöhen? Ist das überhaupt machbar, sinnvoll, bezahlbar und bedienbar?“
Der „überragende Vorteil“ des inHaus-Projektes gegenüber anderen Projekten
sei „der umfassende Ansatz, der Wohnen und Arbeiten integriert, in Haus,
Garten, Büro, Werkstatt, Fahrzeug, die hierzu adäquate hochflexible inHausAnlage, aber ganz besonders das weltweit einmalige Partnerkonsortium.“
Für andere Projekte bleibt leider wenig Raum. Immerhin erwähnt sei ein „Leitprojekt“ in der „Übermorgenstadt“ Oldenburg, eine mittlere Großstadt im Niedersächsischen. Ein „Schlaues Haus“ stand 2009 am Schlossplatz in der Gestalt
einer „Wissenschaftsbox“, in der eine Auswahl technischer Visionen im Bereich
Energie und Wohnen vorgestellt wurden: „Von den Ideen aus dem ‚Schlauen
Haus‘ könnte vor allem die ältere Generation profitieren.“ Ein Exponat nannte
sich „Hearing at Home“, mit dem „der Besucher eindrucksvoll am eigenen Leib“
erlebte, wie sich „Schwerhörigkeit auf Knopfdruck mit einem ‚intelligenten
Fernseher‘ deutlich mindern“ ließ. Der „Fokus“ des Leitprojekts liege „neben
der Unterstützung des Menschen im täglichen Leben auf der Optimierung des
Energieverbrauches. Wie können wir über raffinierte Steuerungen Energie
effizient nutzen und CO2 einsparen?“
Im Rückblick werden wir gewahr: Entscheidende Fragen wurden gleichzeitig und zumeist in Netzwerken und Kooperationen an vielen Orten gestellt,
und häufig waren die Akteure darauf angewiesen, das knapper werdende Gut
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
2050
Das Übermorgen aus der Vergangenheit ist ja wenigstens das Gestern von heute
aus betrachtet, nicht etwa das Vorgestern. Und überhaupt streute sich unmerklich Einsteins Erkenntnis aus, in welch relativen Geschwindigkeiten die Zeit
verstreicht. Oldenburg existiert ja nach wie vor. Denn gewissermaßen, das ist
mittlerweile kein Geheimnis, gilt Hier und Jetzt für immer.
002
Mobiles und
temporäres Wohnen
das
Wohn
Mobil
2051
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war es offenkundig, dass viele Menschen das Wohnen, mithin: das Domizil, die Bleibe verknüpften mit dem Anliegen oder der Notwendigkeit, regelmäßig weite Strecken zurückzulegen oder zu
pendeln, unterwegs oder auf dem Sprung zu sein.
In einem Buch von 2006 mit dem kurios-treffenden Titel „Baracken, Pavillons,
Container“ wurde an eine Ausstellung im Jahre 1932 erinnert, die „Das wachsende Haus“ hieß und Häuser vorstellte, die an einem Tag aufgestellt und in
derselben Zeit auch wieder demontiert werden konnten. „Der Wunsch, Wohnen und Mobilität zu kombinieren“ zöge sich „wie ein roter Faden durch die
Architekturmoderne“, so der Kommentar, und weiter: Inzwischen torpediere
„der Imperativ der Flexibilität jede langfristige Perspektive.“ Das Leben mancher Zeitgenossen sei ein „Leben auf Abruf also, für das ein Laptop bereits ein
Büro und ein Handy eine feste Adresse bedeutet“ und vor allem verbunden sei
mit „widersprüchlichen Anforderungen und zunehmenden Ungewissheiten
und Unsicherheitszuständen“.
Der Container sei zu einem „Fetisch der Moderne“ geworden, heißt es an anderer Stelle, wo der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme zitiert
wird: „Dauer hat allein die auf Dauer gestellte Umwälzung, Mobilität, Veränderung“.
In einer Tageszeitung namens tageszeitung war wenige Jahre zuvor über einen
Kongress zu lesen, der sich mit einem „Emblem der Globalisierung“ befasst
hatte, mit dem „Kasten, der die Welt bewegt“: „Er ist überall. Und alles Mögliche
war und ist in ihm drin. Im Container. Elektronik, Klamotten, Jürgen und Zlatko,
Südfrüchte, pakistanische Kleinwaffen, pakistanische Flüchtlinge, der Bauleiter vom Potsdamer Platz, sein Auto – in Teilen, am Stück, der Schrott wird selbst
Container. In kaum einem Objekt ist die globalisierte Welt, dieser gigantische
Terminal für verschobene Ware, verlagerte Arbeitsplätze und entsprechend
zwangsmobiles Personal, so eingespannt wie in den 8 Fuß breiten und 20 oder
auch 40 Fuß langen ISO-Container.“
2052
2053
Wenn man den Dokumenten im Archiv Glauben schenken darf – nichts spricht
dagegen –, prägten Unsicherheiten, Widersprüche, Ungewissheiten im Gefolge
der allenthalben tonangebenden Gebote der Flexibilität und Eigenverantwortung den Hintergrund vieler Debatten, Diskussionen und der Konversation.
Kein Wunder, dass dieses Phänomen in eine Vielzahl an Projekten mündete,
zwischen Vision und Praxis interdisziplinär vorangetrieben von Wissenschaft
und Forschung.
Um den Wandel möglichst treffend zu beschreiben, suchte man zudem nach
Fachbegriffen, um nicht zu sagen: zauberte sie aus dem Hut. Greifen wir ein
Beispiel heraus: So riefen Fakultäten in Zürich, Wien und Chemnitz im Oktober 2007 zu einer Tagung unter dem Titel „Multilokales Wohnen – Multilokale
Haushalte“. Dem Programm ist zu entnehmen, dass zwar des öfteren „die multilokalen Arrangements erwerbsbedingt“ seien, dies „jedoch nicht zwingend
für ein umfassendes Konzept des multilokalen Wohnens“ sei: „Die mobilen
Menschen verbinden in ihrer Multilokalität die Möglichkeiten und Eignungen
unterschiedlicher Orte für ihren Lebensalltag und arrangieren ihr eigenes,
möglichst glückliches Leben“ und „transferieren unterschiedliche Ressourcen
zwischen den Räumen und schaffen damit Verbindungen und Ausgleich.“ Beweglich, flexibel, geschmeidig – so lebten viele.
Zu jener Zeit gehörte Tokio zu den Megastädten auf der Erdkugel. Demzufolge
gab es dort bereits seit längerem zahlreiche Wohnformen, die einem multilokalen Leben Rechnung zollten. In dem Sammelband „Kursbuch Stadt. Stadtleben
und Stadtkultur an der Jahrtausendwende“ von 1999 meinte der Autor Wilhelm
Klausner, das „nomadische Verhalten“ sei „Merkmal jeder Großstadt geworden“.
In Tokio habe es dazu geführt, dass „sich Gebäudetypen entwickelt haben, die
auf die Bedürfnisse des Nomaden zugeschnitten sind. Es sind Rastplätze auf
dem Weg durch die Stadt, die eine Vielfalt von Reizen abdecken müssen, die
ein Leben in ständiger Bewegung abhanden kommen läßt.“
So seien Gebäudetypen entstanden „wie Restaurant-Turm, Indoor-Skipiste,
mechanisches Pferderennen, Lovehotel, Ressortoffice und Karaoke-Bar. Sie bezeichnen Orte sozialen Zusammenkommens, die gegen die Vereinzelung der
Bewegung errichtet wurden.“
Wie der Nomade fortwährend in Bewegung war, so veränderbar, so abseits
von der in Europa zugrundeliegenden „Idee der Endgültigkeit“ sah der Autor
auch eine Fülle von Gebäuden, „die neu erfunden wurden. Sie entstehen über
Nacht und verschwinden genauso schnell. Sie sind Modeströmungen und Jahreszeiten unterworfen, wie ein Stück Kleidung. Das Material ist billig, das Ereignis eine Sensation.“
Wir nehmen uns nun konkrete Projekte zur Hand, gebaute Wirklichkeit der
damaligen Gegenwart, vorausschickend, dass die sogenannten Visionen von
mobilem Wohnen teils auch angetrieben wurden von dem Wunsch, „Ballast
abzuwerfen“, sich auf „Wesentliches“ zu konzentrieren statt auf „Konsum“ und
Besitz, sozusagen aus prekären Situationen Besseres, womöglich das Beste zu
machen.
Oder von dem Ansinnen, der Enge der Stadt zu entfliehen, der „Natur“ näher zu
sein. Als Vorbild oder Prototyp des mobilen Wohnens diente der Wohnwagen
beziehungsweise das Wohnmobil – verschnaufend auf einem Campingplatz
oder anderswo. Wörtlich sprachen diese „Tradition“ junge Architekten an in
einer Ausstellungsbroschüre „Wie wir wohnen werden“ im Jahre 2005: „Wer
würde nicht gerne in seiner Lieblingslandschaft leben? Die städtische Strategie des Campingplatzes wird zur Strategie für Wohngebiete. Wohnen wird in
Zukunft zur bewussten persönlichen Aneignung von Landschaft.“
Wir wechseln die Landschaft und scrollen zunächst in ein beschauliches Städtchen zwischen Ulm und Friedrichshafen. Ein Projekt mit dem Titel Raum.27
realisierten Studierende der Architektur an der Hochschule Biberach an der
Ritz. Sie entwickelten Wohnwürfel mit einem maximalen Außenmaß von drei
mal drei mal drei Metern, gleichsam „Studentenbuden“ mit Toilette und Kochgelegenheit.
Die drei Prototypen sollten zeigen, „wie intelligente und überraschende
Konstruktionsideen aus dem vorwiegenden Baumaterial Holz das Leben auf
engstem Raum ermöglichen, ohne dabei auf den gewohnten Lebensstandard zu
verzichten.“ Und sie zeigten es. Dank einer Landesgartenschau in Neu-Ulm – ja,
so etwas fand regelmäßig statt – wurden die „Minimalräume“ ausgestellt. Wäh-
2054
rend der Schau überprüften verschiedene Bewohner im Alter zwischen 17 und
60 Jahren die Boxen jeweils vier Wochen lang auf ihre „Gebrauchstauglichkeit“.
Abschließend wurden die Erkenntnisse und Erfahrungen der Nutzer unter dem
Titel „können wir auf 7qm leben“ dokumentiert.
mostatgeregelte Warmluftheizung, Klimaanlage und Warmwasserbereitung,
Rauchmelder und Feueralarm. Man sieht, an alles war gedacht. Der Richtpreis
lag zwischen 25.000 bis 34.000 Euro, worin allerdings nicht enthalten waren
Lieferung, Aufbau und Anschluss an das öffentliche Strom- und Wassernetz
sowie Beratungskosten und Steuern. In summa betrug der Richt-Komplettpreis
um die 50.000 Euro.
Eines Tages im Jahre 2008 stand ein eigentümlicher Kasten vor dem Museum
of Modern Art in New York: ein Exemplar des micro compact home, kurz m-ch,
dessen Slogan lautete: „Smart living for a short stay“.
Ein anderes Projekt, das in Serie ging, hieß Nomadhome, dessen Name vielleicht nicht nur mit dem englischen Wort nomad, sondern auch mit dem Wort
mad spielte, ein Projekt, das unmissverständlich aber das „neue Zuhause für
innovative Weltenbummler“ verkörpern wollte, wie der Einstieg auf der Internetseite warb: „Eine Lebensphilosophie im Wandel der Zeiten. Oder ein Ort, an
dem Design durch Raum, Zeit und Emotion definiert wird.“ Die Botschaft beziehungsweise „Story“ rief ebenfalls die typischen Schlagwörter auf, die dazumal dem Diskurs über das Wohnen Ausdruck verliehen: „Das Heute ist geprägt
von Veränderung. Flexibilität steht in allen Lebensbereichen an oberster Stelle und Sesshaftmachen verlangt gegenwärtig oft nach temporären Lösungen.
Menschen entwickeln sich zu modernen Nomaden.“ Wohnen bedeute „nicht
einfach nur Leben, sondern ist vielmehr der Ausdruck einer individuellen Lebensphilosophie“.
Die Vorgeschichte reichte zurück bis ins Jahr 2001, als Richard Horden, Architekturprofessor an der Technischen Universität München, mit einem Team aus
Studenten und Assistenten das i-home entwickelte, einen 2 Meter 60 großen
Kubus.
Bald bewies das Modell die Tauglichkeit für den praktischen Einsatz, als 2005
ein erstes „Studentendorf“ in München entstand. Architekt Horden verwies
auf die tiefe Befriedigung, hervorgerufen durch die reduzierten Ausmaße, die
zugleich einen reduzierten Konsum bedeuteten. Er hob die bereichernde Erfahrung hervor, sich von allem herkömmlichen Gerümpel zu trennen: „Express
yourself with the least material you can use ... The m-ch contains everything
you need.“
Erfunden hatte „das Heim für moderne Nomaden“ der österreichische Architekt
Gerold Peham, der selbst in einem solchen lebte, wie man aus einer Ausgabe
des Wirtschaftsmagazin brandeins filtern kann, die für den Leitgedanken „Die
Zukunft kommt näher“ reserviert war. Darin stand, dass ein Nomadhome in der
Basisversion, angelegt auf 40 bis 50 Jahre Nutzung, „mit einem Quadratmeterpreis von zirka 1800 Euro nicht teurer als der Durchschnittspreis im sozialen
Wohnungsbau“ war.
Tatsächlich war das Mikrohaus zu kaufen, wurde gekauft, europaweit angeliefert und binnen nicht mehr als zwei Stunden installiert. Zudem ließ sich das
m-ch in kleinen Gruppen zusammenfügen, stapeln, um eine Achse mit Aufzug
gruppieren und vieles mehr an möglichen Kompositionen. Um darzustellen,
wie der Handel betrieben wurde, zitieren wir aus der Datei mit häufig gestellten Fragen: „Aufgrund seines geringen Gewichtes kann das m-ch via Kran bis
zu 40 Meter weit vom Lastwagen über Bäume oder anderes Gelände hinweg
transportiert werden. In besonderen Fällen ist auch eine Lieferung per Hubschrauber möglich.“
Eine Version des Nomadhome – gefertigt aus „ökologisch hochwertigen Baumaterialien der neuesten Generation“ –, war zusammengefügt aus mindestens
zwei 11 Quadratmeter großen Modulen und ausgestattet mit Bad, WC, Küche
sowie Wohn- und Schlafbereich. Die Module wurden mit einem üblichen LKW
transportiert, für den Auf- und Abbau benötigte man wenige Tage.
Zur Innenausstattung gehörten zwei Doppelbetten, ein Stauraum, ein Schiebetisch, an dem bis zu fünf Personen Platz fanden, ein Flachbildschirm-Fernseher,
eine Dusch- und Toilettenkabine, eine Küchenzeile mit Stromanschlüssen, ther-
2055
Baracken oder Pavillons, Container oder Module und Mikrohäuser, Lebensphilosophie oder schlichte Notwendigkeit – der Bedarf wuchs allerorten. Denn
die damalige „Flüchtige Moderne“, um den Titel eines Essaybandes des Soziologen Zygmunt Bauman zu bemühen, schien laufend flüchtiger zu werden.
Oder war das Ungewisse essentiell als ein Moment der Freiheit zu verstehen?
Mit leichtem Gepäck komme man schneller voran, hieß es in jenem Buch. Daran
besteht kein Zweifel, doch der strittige Punkt mochte sich anhören wie: „Voran?
Wohin?“
2056
003
Individualisierte
Massenfertigung des
Wohnens
die
Sonnen
TerRasse
2057
2058
Gemeinhin wähnte man damals, Massenfertigung sei ausnahmslos gleichbedeutend mit Standardisierung, ihre Vorzüge wären mit dem individuellen
Empfinden nicht zu vereinbaren. Es gelang, diesen vermeintlichen Widerspruch unter dem Begriffskonstrukt „mass customization“ aufzulösen, gewissermaßen eine Synthese zu bilden, die ins Deutsche übertragen „individualisierte Massenfertigung“ genannt wurde. Ja, es stellte sich heraus, dass die
technischen Innovationen sogar wachsende Chancen eröffneten, zumindest
solange man die Frage beiseite schob, wie Individualität zu definieren wäre
oder ob der Begriff des Individuums, wie er noch im postbürgerlichen Zeitalter
vorherrschte, weiterhin tauglich wäre.
Stöbern wir in den wenigen erhaltenen Digitaldateien des ersten Jahrzehnts,
glücklicherweise auf Papier gedruckt, stoßen wir auf Anhaltspunkte für seinerzeit aktuelle Fragestellungen.
Das Grazer Architektur Magazin widmete 2009 eine Ausgabe dem Thema „Nonstandard Structures“. Vorab sprach man von jenen zwei „scheinbar“ gegensätzlichen Tendenzen der Entwicklung, „die wir gemeinhin als Globalisierung bezeichnen.“ Zum einen sei da „die Tendenz zur intensivierten Konkurrenz auf
wachsenden Märkten durch vereinheitlichte, weltweit gültige Standards und
Kundenerwartungen.“ Die andere, nicht weniger intensive Tendenz sei die der
fortschreitenden Individualisierung. „Im immer größer werdenden Markt finden sich auch immer größere Nischen: kein Problem ist zu speziell, kein Interesse zu ausgefallen, als dass sich im globalen Dorf nicht eine eigene Gemeinschaft
von Freaks finden würde, die sich genau damit beschäftigen.“
So gehe die „Dampfwalze der globalen Nivellierung durch gleiche Standards paradoxerweise einher mit der Förderung des Exzentrischen und Randständigen.“
Bislang, so heißt es dann, wurden computergestützte Planungsverfahren vor
allem für so genannte „Leuchtturmprojekte“ wie das Guggenheim-Museum in
Bilbao angewandt. Nun sei „der Bilbao Effekt nicht mehr der letzte Schrei und
die Nonstandard Bauten und die technikfaszinierte Rhetorik, die in seinem
Fahrwasser entstanden, sind nachgerade selbst zum Standard geworden.“
Gerade das gebe der Frage nach der Relevanz von „Nonstandard Structures“ neuen Auftrieb und führe zu der Fragestellung: „Inwieweit können ‚Nonstandard
Structures‘ in der Architektur wieder zum Normalfall werden?“ Man erinnerte
an die Zeiten vor der Industriellen Revolution, als „jedes Gebäude ein handwerklich hergestelltes Unikat“ gewesen war: „Kein Säulenkapitell und kein
Türbeschlag glich dem anderen. Natürlich war deren Produktion auch ohne
Fabriken im handwerklichen Sinne standardisiert. Aber jene handwerklichen
Standards waren weit elastischer und anpassungsfähiger als die der industriellen Fertigung: lokale Ausnahmen waren jederzeit möglich.“
Die Bauaufgaben des 20. Jahrhunderts, die Rasterfassaden, die nur mit industriell gefertigten Elementen erstellt werden konnten, hätten mit diesem Denken
dann aufgeräumt. Neben dem Zeitgeist sei der Kostendruck hierfür der Auslöser
gewesen. Mit diesem Ansatz schlug die Redaktion eine Brücke ins 21. Jahrhundert, als „die wegweisenden Bauten […] nicht mehr der Logik der industriellen,
sondern der informationsgesteuerten Herstellung“ folgten. „Diese bringt das
(bisher nicht eingelöste) Versprechen der Mass Customization mit sich: für eine
digital gesteuerte Maschine sind 1000 ungleiche Teile nicht teurer zu fertigen
als 1000 gleiche.“
Schließlich Fragen, die daraus folgten: „Sind wir in der Tat an der Schwelle zu einer Zeit, wo ‚Nonstandard Structures‘ zur Norm werden, wo eine neue, digitale
Handwerklichkeit zu einer variantenreicheren, raffinierteren, komplexeren
und ressourceneffizienteren Architektur führen wird?“
Um die Aussicht zu variieren, beamt uns der Selektionsmodus nach Zürich, in
die Schweiz, der einzige Staat weltweit, der bis heute in derselben Gestalt wie
vor hundert Jahren existiert. Dort hatte die HIG Immobilien Anlage Stiftung im
Jahre 2005 eine Studie zu dem Thema „Anderes Wohnen“ in Gang gebracht, aus
der ein Buch entstand. Die Autoren Marc Gilg und Werner Schaeppi zogen ein
Fazit dieser „Suche nach zeitgemäßem Wohnen“, nämlich „dass es die ‚ideale
Wohnform‘ als allgemeingültiges Rezept und perfekte Lösung nicht gibt. Die
Erwartungen und Vorstellungen an das Wohnen sind so vielfältig wie die Menschen selbst.“
2059
Das scheint eine verblüffende Feststellung gewesen zu sein, aus der gefolgert
wurde: „Architektur kann – im günstigsten Fall – gewünschte Entwicklungen
fördern oder sie wenigstens nicht behindern. Sie aber wirklich herzustellen, ist
Sache der Menschen, die in einem Haus, einer Siedlung oder einem Quartier leben.“ Nachdrücklich betonend, dass „besonders Genossenschaften in einem viel
größeren Maß bereit sind, in innovative und bewohnerfreundliche Lösungen
zu investieren als die Privatwirtschaft“, wiesen die Autoren auf einen Trend
hin, der zum Greifen nah lag: „Es ist denkbar“, heißt es dort, „dass das Angebot
an traditionellen Wohnungstypen sein Marktpotential de facto ausgereizt hat.
[…] Was fehlt, sind ungewöhnliche Lösungen am Rande des Spektrums.“
Ungewöhnliche Lösungen realisierte offenkundig das Büro Delugan Meissl Associated Architects in Wien, wie im September 2008 der Wochenzeitung Die
Zeit unter der Überschrift „Häuser, die zum Himmel fliegen“ zu entnehmen
war: „Vor allem die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft ist für
Delugan Meissl ein wichtiger Gestaltungsimpuls. Sie haben den Ehrgeiz, selbst
im engen Rahmen des geförderten Wohnungsbaus zahlreiche Raumvarianten
für die verschiedenen Lebensgewohnheiten der Bewohner zu schaffen. Simple
Additionen von immer gleichen Räumen sind ihnen zuwider.“ Als Beispiel wird
das „City Loft“ in Wien genannt, eine Stadt, wie ein Bonmot es pointierte, deren Einwohnern nichts so verdächtig sei wie eine Sache, die sich selbst ernst
nimmt.
Die Südseite des Wohnriegels dominierte ein schwarzes Glasband, das über
neun Geschosse mit einer Raumhöhe von 3,38 Meter rhythmisch mäanderte.
Im Norden hingegen zählte man elf Geschosse für die Schlafräume mit einer
Raumhöhe von 2 Meter 38 und Fenstern „wie Tetris-Spielbausteine“: Durch die
unterschiedliche Höhe und Breite entstand eine Vielzahl ineinander geschachtelter unterschiedlicher Wohnungs-Varianten, insgesamt 47 Typen: „Offenheit
und Weite in den repräsentativeren Bereichen, Geschlossenheit in den privaten
Zonen“.
Unterschiedliche Wohn-Strukturen anzubieten – die eine Möglichkeit. Eine andere fußte auf Entwürfen „nutzungsoffener Räume“, die der Bewohner sich aneignete. „Idealerweise können Grundrisse zukünftig mit sich wandelnden Be-
dürfnissen der BewohnerInnen wachsen oder schrumpfen“, heißt es in einem
Aktenvermerk einer Ausstellungsagentur aus jener Zeit. Wohnungen sollten
als „Gestaltungsspielräume“ verstanden werden, schrieb der Garten- und Landschaftsarchitekt Reiner Schmidt, da der Bedeutung des Wohnungsumfeldes „gerade in Zeiten des Wohnwandels besondere Aufmerksamkeit zuteil“ geworden
sei als „privater Ruhepol, Ort der Identifikation, Entfaltungsraum und ‚Experimentierfeld‘“.
Schmidt verwendete „Grundmuster aus dem Bereich des Einfamilienhauses“
für seine Vorschläge. Da böte sich die Metapher von der „Bank vor der Haustür“ an, die den öffentlichen mit dem privaten Raum verschränkt; und auf der
anderen Seite das „Zimmer im Grünen“, also einen Rückzugsraum, „bei dem die
Öffentlichkeit ausgesperrt bleibt.“
Aus einer anderen Quelle, der Broschüre mit dem Titel „Wie wir wohnen werden“ aus dem Jahr 2005, fischen wir in dieser Hinsicht zweierlei. Zum einen
prophezeite Juan Pablo Molestina von der Peter Behrens School of Architecture Düsseldorf, der „Gestaltungsschwerpunkt in Sachen Wohnqualität“ werde
„sich von der Schaffung perfekter, visionärer und bereits fertiger Räume auf die
Schaffung des größtmöglichen Raums verlagern“, der „so neutral wie möglich
gehalten“ werde. Es handele sich „um preiswerte, praktische ‚Roh-Räume‘ (mit
Glück in guter Lage), die man sich persönlich aneignen kann. Der in seiner
Funktion fest gelegte Raum verschwindet.“
Analog dazu wollten auch Uli Seher und Nicolas Tixier sich mit dem Wohnen befassen, indem sie nicht mehr die Funktion, sondern die Nutzung und den Nutzer zur Orientierung nahmen, ein Konzept, das „die Interpretation des Raumes
den Bewohnern überlässt“.
Aufs Neue geraten wir in Kontakt mit der Schweiz. In der Architekturzeitschrift
Archithese war 2002 in einer Ausgabe unter dem Titel „Vorfabrikation“ ein Beitrag über „Bauen mit Computern“ zu lesen und darin von dem niederländischen
Architekten Kas Oosterhuis. Er hatte sich ein IT-Serienproduktionssystem für
Häuser ausgedacht: Über ein Internetportal hatten potenzielle Käufer die Möglichkeit, sich in das fertige Projekt einzuklicken und darin Änderungen vorzu-
2060
nehmen, anders gesagt, „ein bestimmtes Haus innerhalb einer bereits geplanten
Siedlungsstruktur zu konfigurieren. […] Durch dieses Vorgehen wird eine für
den Architekten kalkulierbare Beeinflussung durch den Bauherrn initiiert und
das Ergebnis trägt die spezifische Handschrift von Kas Oosterhuis.“
Abschließend ein Sprung auf einen anderen Kontinent, genauer: in die vor etlichen Jahrhunderten vom „Abendland“ Europa aus entdeckte „Neue Welt“ Amerika, noch genauer: nach New Orleans. Einige Stadtviertel waren 2005 einem
Hurricane namens Katrina zum Opfer gefallen. Ein Jahr zuvor hatte ein Team
vom Massachusetts Institute of Technology unter der Leitung von Lawrence
Sass das „Instant House“ entwickelt. Ausgangspunkt des Projekts war die Absicht, Schnelligkeit und Präzision von Laserschneidern für den Wohnungsbau
zu nutzen. Die Computerdaten für die Bauten wurden an einen Laserschneider weitergeleitet und ermöglichten dadurch eine sehr günstige Produktion
der einzelnen Bauteile, die mit geringem Aufwand zu Bauten zusammengefügt
wurden. Nach jener Sturmkatastrophe erhielt die Idee „aktuelle Brisanz“. Sass
und sein Team pixelten Prototypen für historische Viertel in New Orleans, die
typische Merkmale des dortigen Baustils trugen. Auch diese wurden vollständig
am Laserschneider erzeugt. Das Beispiel demonstrierte, wie anpassungsfähig
dieses „digitally fabricated housing“ war, mitnichten konzipiert, um architektonische Positionen zu artikulieren, sondern um auf das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Schutz zu reagieren: „For Sass, a house at its most elemental level is shelter.“ Mehr war, mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.
2061
004
Energetisch
optimiertes Wohnen
das
Dach
2062
Einem Parforce-Ritt gleicht allein der Versuch, eine skizzierende Auswahl aus
den unzähligen Projekten zu treffen, die sich konkret mit der Nachhaltigkeit beschäftigten; damit, den Energieverbrauch zu drosseln, Vergeudung zu mindern,
Verschwendung zu tilgen, nicht nur der klimatisch bedrohlichen Probleme wegen. Allerdings begannen die Polkappen bereits abzuschmelzen, woraus ein
einziger Schluss zu ziehen war: Es müsse gehandelt werden.
„Rettet die Welt!“ war am 18. September 2008 ein Artikel in der Wochenzeitung
Die Zeit überschrieben: „Jedes Haus ist ein Stück Umweltverschmutzung. Damit
der Mensch nicht zugrunde geht, muss er anders bauen.“ Der ganzseitige Artikel stellte die Architektur-Biennale in Venedig vor, gewidmet der „Architektur
jenseits des Bauens“.
In einem Vortrag erkannte der Ökonom Jeremy Rifkin als Hauptverursacher
des Klimawandels „Gebäude, Gebäude und noch mal Gebäude“. Häuser verbrauchten – vor der Fleischproduktion an zweiter und dem Transport an dritter Stelle – die meiste Energie und seien für 30 bis 40 Prozent des weltweiten
Kohlendioxidausstoßes verantwortlich. In seinem Plädoyer für die „Dritte Industrielle Revolution“ verlangte Rifkin, jedes Haus „solle in Zukunft als kleines
Kraftwerk funktionieren und mit Hilfe von Sonne, Wind oder Abfall Energie
gewinnen.“ Die Energie werde also „demokratisiert, ihre Verteilung dezentralisiert und ihr Verbrauch besser kontrolliert.“ Denn der Strom, so Rifkin, werde
in Zukunft nicht mehr mechanisch, sondern digital verteilt: Jeder Kühlschrank
bekomme nur noch so viel, wie er gerade brauche.
Den Biennale-Beitrag im deutschen Pavillon – wir werden dort des Öfteren eintreten – hatten als sogenannte „Generalkommissare“ die Architekten Matthias
Böttger und Friedrich von Borries unter dem Titel „Updating Germany – Projekte für eine bessere Zukunft“ geschaffen. Sie zeigten 20 der insgesamt 100 ausgewählten Projekte von Architekten, Designern, Ingenieuren und Künstlern:
„Architektur und Städtebau können die Welt nicht retten – aber einen Beitrag
leisten und tun es auch“, so die Kuratoren. Es werde zwar gespart, gedämmt und
optimiert, doch damit seien die Möglichkeiten des Entwerfens und räumlichen
Intervenierens noch lange nicht erschöpft. „Uns interessiert das, was über den
neuesten Stand der Technik hinausgeht.“ Nicht etwa gebaute Architektur, son-
2063
dern „Forschungsarbeiten, Gestaltungsexperimente und Pilotvorhaben“ stünden „im Fokus […] neue Konzepte, Denkweisen, Strategien: Updates unserer
Welt.“
Was sie unter dem Wort Update verstanden? „Updates kennen wir von Computerprogrammen: Bestehendes wird schrittweise weiterentwickelt, soweit sinnvoll, verbessert, Nichtfunktionales durch Neues ersetzt. Manchmal schleichen
sich auch neue Fehler ein. Ein Update ist ein verzweigter Entwicklungspfad
mit Sackgassen und Umwegen, der aber zu großen Veränderungen führen kann.
Folglich verstanden die Kuratoren ihren Beitrag als „Suchbewegung“: „‘Wie
wollen wir leben?‘, ‚Was können wir tun?‘“
Zwei der Projekte seien hier angerissen. Hinter der Updating-Ordnungsnummer 083 steckte ein verblüffend simples Verfahren, mit dem die Eidgenössisch
Technische Hochschule Zürich wie auf Kommando den von Rifkin gewünschten Kühlschrank angeliefert zu haben schien. Die Forscher hatten einen integrierten Hochvoltchip entwickelt, mit dem sich elektrische Geräte über die
hauseigenen Leitungen vernetzen ließen. Mit dem digitalSTROM-Chip konnten
über herkömmliche Steckdosen bis zu 200 Stromabnehmer unabhängig voneinander gesteuert werden und miteinander kommunizieren, „und agieren so
nicht mehr als Einzelinstrumente, sondern als Orchester“, wie es auf der Internetseite der Non-Profit-Organisation hieß.
Der Chip senkte den Standby-Verbrauch von herkömmlichen 3 bis 5 auf unter
0,3 Watt. Geräte verbrauchten nur dann Strom, wenn es wirklich notwendig
war. Gleichzeitig wurde der Stromverbrauch der einzelnen Geräte sichtbar vermerkt, ein rotes Lämpchen wies auf unerwünschten Betrieb oder auf defekte
Geräte hin. Eine abgenutzte Kühlschrankdichtung wurde damit so rasch erkannt wie sich bislang ein tropfender Wasserhahn bemerkbar gemacht hatte.
Man versicherte, dass der volle Datenschutz des Kunden gewährleistet war.
Unter Index-Nummer 001 hinterließ ein „Energiebunker“ mächtigen Eindruck.
Im Rahmen und in Vorbereitung der Internationalen Bauausstellung in Hamburg 2013 wurde ein 40 Meter hoher ehemaliger Flakbunker in eine regenerative
Energiequelle umgewandelt. Durch die Installation von 4.000 Quadratmetern
2064
Sonnenkollektoren und eines Heizsystems mit Gas und Holzhackschnitzeln
würde das umgebende Stadtgebiet mit Energie versorgt werden, erklärten die
Kuratoren. Für kulturelle Veranstaltungen waren weitere 48.000 Kubikmeter
Raum vorgesehen. Und weiter: „Das Projekt markiert eine Verlagerung von der
Nutzung soziokultureller Programme als alleinige Instrumente der Stadtsanierung zu Konzepten, bei denen eine Mischung von Kultur und ökologischer
Technologie angestrebt wird.“
Nicht ganz in der Mitte zwischen Hamburg und Venedig lag Darmstadt samt
einer Technischen Universität. Eine Arbeitsgruppe vom Fachgebiet „Entwerfen und Energieeffizientes Bauen“ hatte auf Einladung ihren Beitrag zu einem
speziellen Zehnkampf, zum Solar Decathlon 2007 eingereicht, ein von der USRegierung ausgelobter Wettbewerb, der den Prototypen eines ausschließlich
mit Sonnenenergie versorgten Gebäudes verlangte. Das Team aus Deutschland
gewann den Wettbewerb unter 20 Universitäten, und damit nicht genug: im
Jahr darauf erhielt es den Bauweltpreis 2009 in der Kategorie „Prototypen“ sowie den Detailpreis 2009 in der Kategorie „Sonderpreis Studenten“ als „das weltweit beste Solarhaus“.
die Decke, darin integriert das Beleuchtungssystem, war als Kühldecke ausgeführt. Dank der Rahmenbauweise war das Haus stabil und doch so leicht,
dass es auch für mobiles Wohnen geeignet war, mithin auch in Abschnitt 002
Platz finden würde.
Gleichfalls ausgezeichnet, nämlich mit dem österreichischen Staatspreis für
Nachhaltigkeit und Architektur, wurde im Jahre 2007 ein 1957 erbautes Mietshaus in Linz, das zum Passivhaus umgerüstet worden war. Das Gebäude mit
50 Wohnungen hatte eine Gapsolarfassade erhalten. Kernstück dieses Fassadensystems, nachzuschlagen in der Anthologie „Standards der Zukunft“, war
„eine spezielle Zellulose-Wabe, welche als verglastes Paneel an der Außenwand
montiert wird.“ Der Energieverbrauch wurde von 180 Kilowattstunden je Quadratmeter auf 14,4 reduziert, die Energiekosteneinsparung betrug 89 Prozent
im Jahr.
Die anderen teilnehmenden Universitäten hatten sich darum bemüht, tunlichst
so viel Energie zu produzieren, wie benötigt werden würde. Der Entwurf aus
Darmstadt vollzog die Umkehr, reduzierte den Energiebedarf, ohne an Komfort
einzubüßen.
In Freiburg, der südlichsten Großstadt in Deutschland, hatte den verbliebenen
Unterlagen nach der Architekt Rolf Disch sein Plusenergiehaus mitsamt geschütztem Warenzeichen geschaffen, ein Haus, das mehr Energie erzeugte als
es verbrauchte: „Das Plusenergiehaus® ist ein Gebäude mit positiver Energiebilanz – weltweit zum ersten Mal.“ Es generierte Solarenergie und verwendete
sie „mit höchster Effizienz“, aktiv zur Gewinnung von Strom und Wärme, passiv
durch Ausrichtung des Gebäudes und durch seine großflächige und hochgradig
lichtdurchlässige Fassade.
Schauen wir uns das Projekt ein wenig näher an und nutzen dazu Auszüge aus
der Leitidee des Konzepts für das als Passivhaus klassifizierte Gebäude. Es war
in drei Schichten aufgebaut. Eichenholzlamellen als äußerste Schicht waren,
ebenso wie das Dach, mit Photovoltaik bestückt und dienten sowohl der Stromgewinnung als auch dem Schutz vor Überhitzung, Einblick und Einbruch. Die
zweite Schicht – hocheffizientes Glas und Vakuumisolationspaneele – diente
der thermischen Trennung zwischen Innen und Außen. Die dritte Schicht mit
Plexiglaswänden bildete das Zentrum, das Bad, Küche und einen Teil der Haustechnik aufnahm. Alle Gebäudeteile leisteten weitaus mehr: Im doppelten
Boden befanden sich Sitzkuhle, Bett und Technik; die Wände speicherten
Wärme und boten zudem Stauraum und integrierte Unterhaltungselektronik;
Neben dem Heliotrop in Freiburg-Merzhausen wurde unter Dischs Leitung eine
Solarsiedlung am Schlierberg errichtet: „Das Haus der Zukunft ist keine Utopie
mehr, sondern jetzt realisierbar.“ Sowohl im Baukonzept, in der Auswahl der
Baumaterialien als auch in Wasser- und Energiesystemen würden die natürlichen Ressourcen berücksichtigt: „Gestaltung und Ästhetik fördern die Kreativität der Bewohner, die reduzierten Nebenkosten und Aufwendungen schonen
deren Geldbeutel, während die gute Anbindung an das öffentliche Verkehrs-,
wie auch Fuß- und Radwegenetz umweltfreundliche Mobilität gewährleistet.“
Mit insgesamt 58 Plusenergiehäusern und einem Wohn- und Geschäftshaus,
dem „Sonnenschiff“, galt die Solarsiedlung nach eigener Einschätzung „als modernstes solares Wohnbauprojekt Europas.“
2065
An Superlativen mangelte es ebensowenig, wenn über das gigantische Projekt
in den der Vereinigten Arabischen Emiraten gesprochen wurde. Vor den Toren
Abu Dhabis schickten sich seit 2007 die dortigen Öl-Scheichs an, Masdar City zu
errichten, eine Öko-Kapitale für rund 50.000 Bewohner, zu denen sich tagsüber
„Bei solchen Problemen stellt sich schnell die Frage: Macht Masdar City tatsächlich Sinn? Eine Stadt, entworfen auf dem Reißbrett, mit Ideen, die kaum
auf schon bestehende Städte übertragbar sind?“ Wie erwähnt, rechneten die
kühnen Planer mit allein 40.000 Pendlern, die regelmäßig in Abu Dhabi ihre
Geschäfte tätigen und wieder verschwinden: „Praktisch, dass der Flughafen
gleich ums Eck liegt.“ Und der Stadtplaner Seelig ergänzte zukunftsszenarisch:
„Wohlhabende Westler werden einfliegen und mit dem Taxi nach Masdar
fahren – das alles führt die CO2-Ziele natürlich ad absurdum.“ Doch gänzlich
„verteufeln“ wolle er das Projekt nicht. Bei Masdar gehe es um Hochtechnologie,
„solche innovativen Projekte braucht man, um die Entwicklung voranzubringen.“
40.000 Pendler gesellen würden.
Prädikate in höchsten Graden überbringen verschiedene Archiv-Quellen: Die
erste kohlendioxid- und abfallfreie Stadt der Erde sei hiermit gegründet, die
Hauptstadt der Energierevolution, das künftige Weltzentrum für Nachhaltigkeit, das Silicon Valley für grüne Technologien: „Kein geringerer als der Londoner Stararchitekt Norman Foster durfte sie entwickeln“, schrieb Marlis Uken
im April 2009 unter der Überschrift „Öko-Traum Masdar im Praxistest“ in der
Wochenzeitung Die Zeit, bald nach Ausbruch einer fundamentalen Wirtschaftskrise, wie sie seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht zu vermelden gewesen war.
Unter umgekehrten Vorzeichen erinnert das Projekt heute an die Bestrebungen
der 1960er und 1970er Jahre in Europa, wo der unumstößliche Glauben an die
technische Lösung, das Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung alles für
machbar hielt, unterschwellig oder explizit einen Fortschritt suggerierte, dessen Schubkräfte schier unbegrenzt sein würden. Jetzt war Nachhaltigkeit die
Basis, ein chronisch verwendetes, unvermeidliches, oft missbrauchtes Wort
in sämtlichen Diskursen. Manchmal klang der massenhafte Gebrauch wie das
Resultat eines magischen Wunschdenkens. Manchmal aber bezog man sich darauf um der Vernunft willen: „Vernunft für die Welt“ nannte sich ein „Manifest
der Architekten, Ingenieure und Stadtplaner für eine zukunftsfähige Architektur und Ingenieurbaukunst“ in Deutschland, das, als es im März 2009 erschien,
auf außergewöhnliche Resonanz stieß.
Die Reporterin geht auf die Stadtstruktur ein: „Die Grundfläche von Masdar
wird von einer Mauer umschlossen und gerade einmal sechs Quadratkilometer
groß sein. Enge Gassen und die kompakte Ansiedlung verhindern Energieverschwendung und garantieren kurze Wege. Dazu kommt ein ehrgeiziges Transportsystem mit Elektrofahrzeugen, die Bus und Auto überflüssig machen sollen.“ Bis jetzt sei alles jedoch „nur eine Großbaustelle in der Wüste.“
Zurzeit werde „wild gerechnet: Wie viel Solarstrom braucht Masdar tatsächlich?
Schwer zu sagen, das merken die Macher inzwischen.“ Es hatte sich herausgestellt, dass man noch mehr Fläche für die Solarzellen brauchen würde als
bislang eingeplant, kommentierte der Stadt- und Regionalplaner Sebastian Seelig, der sich mit der Entwicklung von Ökostädten beschäftigte. Zurzeit werde
sogar darüber nachgedacht, außerhalb der Stadtfläche weitere Solaranlagen
aufzustellen. Andere Umschichtungen dieser Art wurden erwähnt, woraufhin
die Autorin schlussfolgerte:
2066
005
Innovative
Materialien
die
Fassade
2067
Packt man in ein Wort zwei oder mehr Bedeutungen aus Wortstücken ein, entspringt daraus ein „Portemanteau“, ein Kofferwort – ein Begriff, den Lewis Carroll, der Schöpfer von „Alice im Wunderland“, in seinem Handkoffer entdeckt
hatte. Aus seltsam und Samstag beispielsweise wird ein Seltsamstag, Demokratie und Diktatur werden zur Demokratur geflochten oder – und dies betrifft
nun unser Thema – Biologie und Technik zu der Kreation Bionik, ein Begriff,
der seit den 1960er Jahren kursierte für eine interdisziplinäre Wissenschaft, die
Konstruktionsprinzipien der Natur für die Technik zunutze machte.
In der Architektur gewann die Bionik an Bedeutung, zumal dank technischer
Innovationen die natürlichen Vorbilder nachzuahmen oftmals in winzigsten
Komponenten möglich war. Um die Vorgänge ein wenig zu beleuchten, graben wir aus dem Baulinks-Archiv einen Artikel: „Bionik-Gebäude kommen in
Bewegung“ sagte die Überschrift. Zunächst jedoch bewegte sich die Bestandsaufnahme um die Fassade herum. Die Fassadentechnik machte sich einen
Effekt zunutze, der der Lotusblüte abgeschaut ist. „Deren raue Oberfläche ist
von einer Schicht feinster, dicht stehender Härchen überzogen, die die Blüte
vor Schmutz schützt. Wassertropfen perlen rasch von den Blütenblättern ab
und reißen dabei Schmutzpartikel mit.“ Die Oberfläche reinigte sich demnach
selbst und das Prinzip wirkte an so manchen Fassaden, Dächern, Glasflächen
und auch an Zeltkonstruktionen, gehörte gleichwohl in der Baubranche noch
nicht zum Standard. Doch das würde sich bald ändern, verkündete Stefan Schäfer, Professor im Institut für Massivbau an der TU Darmstadt. Der Gedanke der
Nachhaltigkeit gewänne immer mehr an Bedeutung und damit auch die Einbeziehung der Kosten, die ein Gebäude „im Laufe seines gesamten Lebenszyklus“
verursache. Da „bionische Oberflächen deutlich seltener gereinigt und gepflegt
werden“ müssten, amortisierten sich die Kosten schon nach kurzer Zeit: „In den
nächsten Jahren wird sich diese Einsicht zunehmend verbreiten.“
Von der Lotusblüte zu den Blättern der Riesen-Seerose und zu einem Prinzip,
Leichtes zu bauen. Die Blätter der Victoria amazonica können Gewichte bis zu
60 Kilogramm tragen. Ihre „Verzweigungsstrukturen sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Versteifungsmaterialien nur dort eingesetzt werden, wo sie
zwingend notwendig sind“, so der Professor. An Eleganz gewönnen die Gebäude, dagegen würden die Baukosten, Energie und Baumaterial eingespart.
2068
2069
Weltweit Anerkennung für den Leichtbau hatte sich die Universität in Stuttgart
erworben, wo zu Beginn des 21. Jahrhunderts Werner Sobek als Nachfolger von
Frei Otto und Jörg Schlaich das punktgenau so genannte „Institut für Leichtbau
Entwerfen und Konstruieren“ (ILEK) leitete. Nicht nur das. Sobek, der, wie seiner
Internetseite zu entnehmen war, „weltweit für Engineering, Design und Nachhaltigkeit“ stand, führte eine Firmengruppe mit Niederlassungen in Stuttgart,
Dubai, Frankfurt, Kairo, Khartum, Moskau und New York an.
Das Institut befasste sich im Rahmen einer Forschungsarbeit mit den Grundlagen und der Entwicklung multifunktionaler Systeme. Das Ziel war es, „Gebäudehüllen mit adaptiven physikalischen Eigenschaften zu entwickeln, die in neue
Bereiche der energetischen Optimierung und des verbesserten Nutzerkomforts
vorstoßen.“ Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit bestand in der „zu erwartenden
neuen Architektursprache“ und die Aufgabe der selbsttätigen oder gesteuerten
Komponenten darin, „neben dem Raumabschluss und der Schutzfunktion Einfluss zu nehmen auf die Lichtdurchlässigkeit, den Energiehaushalt (Absorption,
Reflexion, Speicherung), das Innenraumklima, die Lüftungs-, Akustik- und auch
Farbeigenschaften, um so ein veränderbares und anpassungsfähiges Ganzes
zu bilden.“
Ein weiteres Mal wenden wir uns nach Venedig zu Updating Germany, denn
das dortige Projekt-Nr. 060 – „Tissue Engineering“ – kam ans Licht ebenfalls
aus dem ILEK, in Kooperation mit dem Tübinger Zentrum für Regenerationsbiologie und regenerative Medizin ZRM. Gemeinsam generierte man mit der
– ins Deutsche übersetzt – „Gewebetechnik“ dreidimensionale statisch und
mechanisch wirksame Zellgewebe. Sie konnten die Heilung von beschädigtem
organischem Zellmaterial unterstützen oder es sogar ersetzen. „Durchgeführt
werden die Projektversuche mit einem neuartigen Bioreaktor, in dem ein
Ultraschallzerstäuber dreidimensionale Gewebe auf einer Matrix aus Rinderkollagen aufbaut.“ Anwendungen in größerem Maßstab, hieß es, könnten in Zukunft für Leichtbaustrukturen durch die Nutzung von Bakterien, Pilzkulturen
oder pflanzlichen Zellgeweben wertvolle Ansätze liefern.
Wir könnten nun ein weiteres Projekt im deutschen Pavillon vorstellen, nämlich das Fotokatalytische Modulsystem für umweltverschmutzte Stadträume,
entwickelt von Elegant Embellishments. Es vermochte die von Verbrennungsmotoren erzeugten Schadstoffe aus der Luft herauszufiltern und damit einen
Beitrag zur Luftqualität in stark befahrenen Innenstadtquartieren zu leisten.
Die Module besaßen eine Beschichtung aus Titanoxid, das unter Sonneneinstrahlung als Katalysator für die Umwandlung von Stickoxiden in Kohlendioxid
und Wasser wirkte. Das System wurde schon unter dem Namen Prosolve 370
E vermarktet.
Oder wir könnten von Venedig aus die paar Kilometer nach Salzburg reisen, zu
dem Wohnbaukomplex Oasis. Die Decken und Wände zwischen den einzelnen
Wohnungen bestanden hier aus Stahlbetonfertigteilen – so die Darstellung in
jenem Buch über die „Standards der Zukunft“ – die nicht tragenden Fassaden
wiederum aus vorgefertigten, mit Glaswolle gedämmten Holztafelelementen,
über die zum Schutz vor Feuchtigkeit eine Haut aus Kunststoff gezogen war.
„Die über Rundanker gespannten und PVC-beschichteten Membrane aus PES“
weckten „Assoziationen mit großbürgerlicher Behaglichkeit, dem ‚grand comfort‘, den Polstermöbel bieten.“
Grand Comfort in einer Oase – Innovationen, wie man sie sich verlockender
nicht wünschen kann.
2070
006
Global Cities,
Megacities, Edge Cities
das
Gäste
zimmer
2071
Je nach geografischer Lage, abhängig von demografischen und ökonomischen
Entwicklungslinien schrumpften Städte zu jener Zeit, wir werden darauf nochmals zu sprechen kommen. Andere Städte wuchsen, manche „explosionsartig“.
Um den Hintergrund zu verstehen, warum man vielerorts von Explosionen
sprach, genügt vorläufig ein lapidarer Blick auf die nüchternen Zahlen. Dafür klicken wir die im digitalen Archiv eingefrorene Datenbank der „Stiftung
Weltbevölkerung“ eines schönen Apriltages im Jahre 2009 an: Pro Monat, heißt
es dort, kamen 6.828.167 Menschen hinzu, so dass man für das Jahr 2050 gut
9.000.000.000 auf der Welt erwartete.
Gleichgültig, ob eine Stadt sich in diese oder jene Richtung entwickelte, neigten
viele Menschen dazu, es als Bedrohung, als Gefahr oder Schlimmeres zu betrachten. Umwälzungen – ob auszurechnen oder nicht und egal in welchem
Terrain – hysterische, alarmierende oder skandalisierende Aufmerksamkeit zu
widmen und somit dramatische wie zugleich lähmende Effekte anzustiften,
gehörte mutmaßlich wohl zum Einmaleins der Massenmedien. Doch in diesem
Fall war eine Siedlungstendenz nicht zu übersehen.
Hatte es im Jahre 1950 auf der Welt zwei Städte mit mehr als 10 Millionen EinwohnerInnen gegeben, Tokio und New York, und hatte sich erst 1975 eine weitere Megastadt – Mexiko-City – dazugesellt, kam es danach zu einem „wahren
Boom an Megastädten – fast ausschließlich in sich entwickelnden Regionen“,
entnehmen wir der Einführung in ein Dossier, das 2007 die Bundeszentrale für
politische Bildung in Bonn herausgab.
Der Autor Rüdiger Korff vom Lehrstuhl für Südostasienkunde (Festland) an der
Universität Passau fügte hinzu: „2005 zählten die Vereinten Nationen erstmals
20 Megastädte, 15 davon in Schwellen- und Entwicklungsländern“.
Ein Grund für das rapide Wachstum seien zum einen „globale Dynamiken“ wie
in den sich rasant entwickelnden Regionen in China und Indien gewesen. Andernteils wuchsen Megastädte, weil das Leben auf dem Land unerträglich geworden war – zunehmende Überbevölkerung und Landknappheit, Bürgerkrieg,
2072
Dürre oder Überflutung. Für viele Megastädte Afrikas galt dies als Ursache der
Verstädterung.
So oder so, die Infrastruktur in den Städten war natürlich vollends überfordert:
Wohnen, Wasser, Energie, Lebensmittel, Abwasser – wie sollte das zur Verfügung gestellt, wie geregelt oder ermöglicht werden, da selbst bei einem allmählichen Wachstum von 1 bis 3 Prozent zu einer Megastadt jährlich weitere
100.000 bis 300.000 Menschen stießen? „Mit anderen Worten: Jährlich wird eine
weitere Großstadt zur Megastadt hinzugefügt. […] Wer einen Platz im Slum findet, ist schon privilegiert.“
Im Anschluss erwähnt Korff den Autor Mike Davis, weithin bekannt geworden durch sein 1990 veröffentlichtes Buch „City of Quartz. Ausgrabungen der
Zukunft in Los Angeles“. Es galt rasch als „Klassiker der Stadtsoziologie“, ja,
wurde zum einflussreichen „Kultbuch“ des Genres. Sechs Jahre später erschien
Davis‘ Buch „Planet of Slums“ und erregte ebenfalls große Aufmerksamkeit und
lebhafte Diskussionen. Korff dazu: „Die teils apokalyptische und leider auch
gut begründete Sichtweise von Davis, nach der das ‚kommende Zeitalter‘ keine Realisierung der Utopien menschlicher Zivilisationen sein wird, findet sich
in vielen anderen Arbeiten zur Urbanisierung wieder.“ Dabei werde zu leicht
vergessen, „dass die Städte – auch gerade die Megastädte – zentrale Probleme
der Menschheit in der Gegenwart lösen bzw. abmildern. Wie sähe die Umwelt
aus, wenn der Bevölkerungsdruck nicht durch Konzentration abgemildert würde?“
Gegen jene apokalyptischen Szenarien plädierte Korff im Sinne eines Arrangements „des Alltagslebens in einer höchst komplexen und heterogenen Umwelt“,
zu dessen Merkmalen die „soziale Kreativität der Stadtbewohnerinnen und -bewohner“ gehöre, „neue Formen von Lokalität und Kooperation zu entwickeln
und neue Formen wirtschaftlicher Beziehungen aufzubauen, die vom informellen Sektor, über selbstorganisierte Unternehmen bis hin zur Entstehung
immer neuer Subkulturen reicht.“
Wühlen wir weiter in dem Wust aus Artikeln, die insbesondere anlässlich des
Jahres 2006 erschienen, als auf der Erde erstmals mehr Menschen in Städten als
auf dem Land lebten – wobei dahingestellt sei, auf welcher Definition die Zählung basierte. Mike Davis hatte diesen Moment als „Wasserscheide der Menschheitsgeschichte“ bezeichnet, vergleichbar der industriellen Revolution, wie der
Autor Jochen Becker in der tageszeitung vom 24. Dezember 2006 zitierte: „Die
Leute vom Land müssen nicht mehr in die Stadt wandern, vielmehr wandert
diese ihnen entgegen.“ Nicht mehr „Glas und Stahl“, so referierte Becker, werde das Bild von Stadt prägen, sondern „Plastikplanen, Holzlatten, rohe Ziegel
und Wellblech.“ Die Slums bildeten sich „entlang von Verkehrsschneisen und
Abfallhalden, auf Friedhöfen, Sümpfen, von Ungeziefer befallenen Arealen oder
kontaminierten Industriebrachen, auf Fußgängerwegen oder Dächern anderer
Häuser, in Parks oder an errosionsgefährdeten Hängen – Orten also, die eigentlich nicht vermietbar sind.“
Im Slum zu wohnen hieß jedoch nicht, kostenlos zu wohnen: „Meist muss eine
Nutzungsgebühr gezahlt oder es müssen Polizisten und Politiker geschmiert
werden. Das Besetzen von Land kommt letztlich nicht billiger als der Landkauf.“ Und eine „Hilfe zur Selbsthilfe“, die nun statt der klassischen Fürsorge
das Programm der Vereinten Nationen charakterisierte, bleibe zudem ein „Eingeständnis des Scheiterns.“ Die Offensive von Seiten großer Nichtregierungsorganisationen hätte sich umgewandelt „in Projekt-Abwicklung“ und „einen
neuen Klientelismus“ etabliert.
Auch Becker erhob Einwände gegen Davis‘ Sichtweise, aus der sich zwar eine
„globale Perspektive der Faktenlage“ ergebe, doch: „War er denn dort überall?
Wie lässt sich das Material vergleichen?“ Seine Leseerfahrung fasste Becker
so zusammen: „Hier ist‘s schlimm, dort ganz übel, aber woanders noch katastrophaler.“ Dabei male Davis „nur zu gerne ein ‚danteskes‘ Szenario aus und
zementiert so den Opferdiskurs.“ Demgegenüber setzte Becker den Hinweis auf
Untersuchungen zu Brazzaville und Kinshasa, publiziert von der Jan-van-EyckAkademie unter dem Titel „Brakin“, die sich innerhalb des städtischen Terrains
bewegten und staunenswerte Lebensmodelle aus dem Alltag versammelt hätten. Dies als Andeutung für das gewichtige Argument, genauer hinzuschauen.
Auf andere aufschlussreiche Darstellungen stoßen wir in dem Sammelband
„Kursbuch Stadt“, in dem Phänomene damaliger Stadtentwicklung diskutiert
2073
und am Beispiel von Städten auf verschiedenen Kontinenten vorgestellt wurden. Eingangs ein schmuckloser, umso treffenderer Satz, einem Motto gleich:
„Die globale Stadt ist kein Ort, sondern ein Prozess.“
In der Rubrik „Die vernetzte Stadt“ beschrieb Karl Schlögel „Berlin und das Städtenetz im neuen Europa“ und wie sich der Mensch darin bewegte: „Wer abends
nach Hause fährt, kommt an turmhohen Silos und an Container-Städten vorbei,
die am Vormittag noch nicht montiert waren. Man gewöhnt sich an die Veränderung in Permanenz, so dass man sie schon nicht mehr zur Kenntnis nimmt,
bis man nach kürzerer Abwesenheit feststellt: wir kommen nie mehr dort an,
wo wir losgefahren sind.“
Wenige Seiten weiter stellte Schlögel einen Vergleich unterschiedlicher Auffassungen an, gleichsam unseren Abschnitt 002 widerspiegelnd: „Das ganze
östliche Europa hat etwas bewältigt, was dem Westen noch bevorsteht: […] im
Provisorium leben zu können, ohne dass dies als Weltuntergang empfunden
würde.“
In dem Beitrag „Space Flow – der Raum der Ströme“ verwies der Soziologe Manuel Castells unter anderem auf das „metropolitane Regionalsystem“ Hongkong
– Shenzhen – Kanton – Perlfluß-Delta – Macao – Zhuhai, das mit seinen dazumal
40 bis 50 Millionen Einwohnern „eines der bestimmenden industriellen, kulturellen und Geschäftszentren des 21. Jahrhunderts“ sein werde.
Die zwar erst im Entstehen begriffene südchinesische „Metropolis“ repräsentiere eine „neue räumliche Form“. Es herrschten beträchtliche räumliche
Diskontinuitäten, da unterentwickelte Landstriche und ländliche Siedlungen
fortbestehen. „Die interne Zusammenschaltung der einzelnen Gebiete und die
unumgängliche Anbindung an das gesamte System der globalen Ökonomie mittels vielfältiger Kommunikationsverbindungen bilden das eigentliche Rückgrat
dieser neuen räumlichen Entität. […] Innerhalb jeder Stadt, innerhalb jeder Gegend finden Segregations- und Segmentierungsprozesse statt, die unendlich
vielen unterschiedlichen Mustern gehorchen. Aber eine derart segmentierte
Vielfalt hängt von einer funktionalen Einheit ab, die sich durch gigantische,
technologieintensive Infrastrukturen auszeichnet“.
2074
Wenige Ausschnitte aus den „Stadtbesichtigungen“ – so ist der zweite Teil des
Buches überschrieben – seien hier angetippt. Zunächst betrachten wir Los Angeles, eine „Hauptstadt des Vergessens“ und „ein Frontalangriff auf das Gedächtnis“, wie sie der Dichter Durs Grünbein nennt, der eingangs eine kalifornische
Redensart zum besten gibt – „History is five years old“ – , was bei uns ein leicht
überhebliches Schmunzeln heraufbeschwören mag. In der Tat ist Geschichte,
story oder history, manchmal fünf Jahre alt, manchmal jedoch nicht mehr als
fünf Sekunden oder Stunden, manchmal fünf Jahrtausende.
Grünbein fährt fort: „Es gibt hier sowenig Straßenzüge, wie es im Album einer
Modelagentur Gesichtszüge gibt. Die Stadt besteht hauptsächlich aus Bungalows, die manchmal Geräteschuppen, manchmal den Häuschen von Badeanstalten ähneln. Gleitet man nachts mit dem Auto ziellos an diesen windigen
Flachbaracken vorbei, die irgendein Witzbold houses oder buildings genannt
hat, dann kommt man sich leicht wie ein Geisterfahrer in einer rauschenden
Nekropole vor.“
Von der nordamerikanischen Pazifikküste an die südamerikanische Atlantikküste, nach Sao Paulo, das der Autor Armin Medosch ausdeutete als ein „Laboratorium für einen neuen Typ von Gesellschaft, deren Schicksal beinahe ausschließlich von der Ökonomie bestimmt wird. Ihr dynamisches Wachstum im
20. Jahrhundert übersteigt alle für Europäer vorstellbaren Dimensionen und
lässt die Stadt in gewissem Sinn als geschichtslos erscheinen.“
Das Faszinierende an der Stadt sei „nicht die Stadt an sich, das unüberblickbare Häusermeer manchmal graziler, oft plumper Hochhäuser, zerfurcht von
holprigen Stadtautobahnen, über die sich der Verkehr in ewigem Stau quält,
sondern die Tatsache, dass es in dieser Stadt überhaupt möglich ist, zu leben
und dabei auch noch Spaß zu haben, was den Paulistas offensichtlich gelingt.
Wenn mit Leben eine bestimmte vitale Qualität bezeichnet wird, dann leben
die Leute nicht in, sondern gegen die Stadt. Es ist faszinierend, hier zu sein, weil
es so absurd ist. Selbst erfahrene Paulistas erleben ihre Stadt als eine groteske
Unmöglichkeit, mit der man sich irgendwie abzufinden habe.“
2075
Kurz vor Schluss kam Medosch auf das „ausgesprochen komplexe“ soziale Leben zu sprechen, wofür er ein sehr anmutiges Beispiel anfügte: „Angeblich existieren 200 verschiedene Arten, sich zu umarmen, und jede davon signalisiert
den Umstehenden, welches besondere Verhältnis die Umarmenden zueinander haben.“ Ein Fazit: „Das soziale Leben ist sehr schnell und kennt viel mehr
Übergänge zwischen Härte und Herzlichkeit, als sich Bewohner der alten Welt
vorstellen können.“
Nach Shanghai hatte sich Thomas Medicus aufgemacht und rang zunächst, wie
er selbst es nennt, „um Erklärungsversuche“, die „Hilfskonstruktionen“ glichen.
Hier eine: „Inmitten der Shanghaier Menschenmassen kann der westliche Besucher in einer Art Zeitsturz noch einmal am eigenen Leib überprüfen, wie
die Physiologie des Großstädters nach Meinung berühmter Stadtsoziologen vor
hundert Jahren entstanden ist: durch ein von urbaner Dynamik entfesseltes
Dauerfeuer an Schocks, gegen die als Distanzierungsmittel nur kalte Verstandestätigkeit hilft.“
Bemerkenswertes aus dem Untergrund New Yorks und anderer historisch gewachsener Megastädte erfahren wir aus der Süddeutschen Zeitung vom 20.
Juli 2007. „Die Zukunft verfault“ heißt der Artikel, in dem die Autoren Andrian
Kreye und Petra Steinberger darüber berichteten, wie die technische Infrastruktur in diesen Megastädten zunehmend in die Jahre gekommen war und
den Kommunen Investitionen in Milliardenhöhe bevorstanden, um diese zu
sanieren. Da die Wasser- und Stromleitungen, U-Bahn-Linien und vieles mehr
seit Jahrzehnten, teils bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts unter die Erde
gelegt wurden, war eine umfassende Modernisierung mit zahlreichen Hürden
und enormen Kosten verbunden: „Über unseren Köpfen, im Untergrund, in den
Wänden eines jeden Gebäudes: Millionen Kilometer Leitungen und Kabel und
Rohre schlängeln sich durch jeden Quadratmeter der Städte. Für jedes moderne Glasfaserkabel gibt es hunderte andere unsichtbare Drähte und Leitungen,
die brüchig sind und rosten. Dieses Versorgungssystem ist weder sexy noch
spektakulär, wir bemerken es meist nicht einmal. Aber wir erwarten selbstverständlich, dass es funktioniert. Doch dieses System ist hochkomplex und macht
es erst möglich, die Wäsche in der Maschine zu waschen und nicht im nächsten
Fluss; dieses System erlaubt es, dass virtuelle Nachrichten, Informationen und
Bilder in Nanosekunden von einer Seite der Erde auf die andere geschickt werden können – und dass die Toiletten nicht überlaufen.“
Gänzlich ohne einen Besuch in universitären Gefilden abzustatten kann auch
dieser Abschnitt nicht dem provisorischen Ende entgegenstreifen. Navigieren
wir also – Zeitziel April 2009 – für einen Moment zum Forschungsverbund urban
land scape des Instituts für Entwerfen Stadt und Landschaft in der Architekturfakultät der Technischen Universität München, die dafür mit etlichen Partnern
kooperierte. Auf der Internetseite wurde Umberto Eco zitiert, ein bedeutender
Semiotiker, Philosoph, Medienwissenschaftler und Schriftsteller: „Architektur
ist die Kunst Räume zu artikulieren“. Schlagartig war Eco berühmt geworden
mit seinem historischen Roman „Der Name der Rose“, einer Kriminalgeschichte, die – deshalb auch sei es erwähnt – in einer Benediktinerabtei des Spätmittelalters spielte, eine Epoche, die den übernächsten Abschnitt eröffnen wird.
Die Ausgangslage für den Forschungsgegenstand „urban land scape“ war wie
folgt zusammengefasst: „Weltweit wandeln sich die Gegensätze von Stadt und
Land in hybride Kontinua aus Siedlung und Landschaft. Was in den USA ‚urban sprawl‘ und ‚Edge City‘ genannt wird, lässt sich in Europa treffender als
‚Zwischenstadt‘, ‚Metropolregion‘ oder ‚urbane Landschaft‘ bezeichnen – für die
asiatischen, afrikanischen und arabischen städtischen Kulturen deuten sich
passende Begriffe erst an.“
Allerhand deutete sich an, brodelte im Ungewissen, als sei die Welt aus den
Fugen geraten. Um es feinsinniger auszudrücken: etliche heterogene Umwälzungsprozesse nahm man wahr. Und dennoch und gerade deshalb sei angemerkt, was der Kultur- und Literaturwissenschafter Hartmut Böhme 1999
schrieb: „Die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Wandlungen nimmt in
fast allen Sektoren der Gesellschaft zu; das ist eine Trivialität. Vermutlich aber
sind Umbrüche schon immer als Akzeleration erfahren worden. Wenn Reiche
kollabieren, Revolutionen das Alte niederreißen und die Gesellschaft in ein
unbekanntes Neues stürzt, wenn große Kriege ausbrechen oder dramatische
Krisen herrschen, dann läuft die Zeit, für alle Beteiligten, schneller.“
2076
007
Die Stadt
als Themenpark
und Marke©
die
Adresse
2077
Eine betagte Metapher für die Großstadt war der Dschungel , was ein undurchdringliches Dickicht meinte. Die Einführung zu einer Anthologie von 2002 mit
dem Titel „Boulevard Ecke Dschungel. StadtProtokolle“ entwarf die These, Stadt
heiße „heute Event City: dynamisch und profitabel, Show und Shopping rund
um die Uhr, Urbanität als Nonstop-Theater. Auf den Bühnen, im Parkett, auf den
Rängen und Logen Kunden, Klienten, Konsumenten.“ Sicher solle die Stadt sein.
Vor jenen insbesondere, denen „das Geld zum Mitspielen“ fehle. Ohne Widersprüche aber sei eine Stadt nicht zu haben, doch dieses „Lebensprinzip“ sehe
sich bedroht. Inszeniert und gefeiert werde der Boulevard. „Die Abgehängten
und Verlorenen – Gelegenheitsarbeiter, illegal Beschäftigte, Langzeitarbeitslose,
Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus, diejenigen also, denen der Markt
signalisiert, daß er sie je länger je weniger braucht – versuchen im Dschungel
der Stadt zu überleben.“
Inzwischen grassierte die Absicht, die Stadt zu inszenieren, sie mittels eines
branding – wörtlich übersetzt: Brandmarke – auf dem Markt zu etablieren. Dazu
erläutert ein Forschungsprojekt der Fakultät für Architektur an der Technischen
Universität München: „Branding heißt, einen Kontext zu produzieren, herstellen, erfinden.“ Stadtmarketing und Regionalmarketing könne jedoch nicht eine Aura erfinden, „die nur noch lose mit dem Gebrauchswert verknüpft“ sei
und in dem diese „virtuelle Aura das eigentlich zu vermarktende Produkt wird.
Braucht das branding von Räumen tatsächliche räumliche Qualitäten oder wird
hier die story, die darüber liegt, zum entscheidenden Faktor?“
Alljährlich fanden in Luzern „Architekturgespräche“ statt, im Mai 2008 mit dem
Titel „Architektur und Branding – oder auf der Suche nach dem Garten Eden“.
In einem Referat veranschaulichte Kerstin Höger vom Institut für Städtebau in
Zürich unter der Überschrift „Marken bauen Städte – eine urbane Perspektive?“
am Beispiel so genannter Brandhubs – die Autostadt Wolfsburg, die Sony World
in Berlin –, ob durch diese „Verräumlichung von Markenwerten“ revitalisierende Impulse für Städte zu erwarten seien. Die Frage gab laut dem Schlussbericht
aus Luzern „Anlass zu Kontroversen“. Hiermit schalten wir um zu einem Abschnitt diesseits und jenseits des Zauns.
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008
Gated Cities,
gated Communities,
Dörfer in der Stadt
der
Zaun
2079
2080
Umgürtet von einer Mauer war die Stadt des Mittelalters und der frühen Neuzeit gewappnet – Schutz vor äußeren Gefahren, Sicherung gegen Angreifer, Kontrolle der Ankömmlinge. Inmitten der Stadtmauern lebte man vergleichsweise
autonom, ungeachtet der Standesunterschiede und Zunftzwänge: „Stadtluft
macht frei“. Ein Rechtsgrundsatz, der letztlich die Vielfalt und Unterschiedlichkeit als Prinzip des Urbanen durchsetzte.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts brach sich eine gewissermaßen neue Form der
Angst Bahn. Das Bedürfnis nach Schutz vor realer oder imaginierter Bedrohung,
vor Einbruch, Raub und Gewalt, wirkte sich – akademisch formuliert – auf die
stadträumlichen Strukturen aus. „Die Verhältnisse kehren sich um“, schrieb der
Politikwissenschaftler Eike Hennig in seinem Aufsatz „Einmauern. Die Zitadellengesellschaft und ihre ‚gated communities‘“ von 2001: „Unsicherheit und
Unübersichtlichkeit, Ängste um die Sicherheit etc. kommen nun nicht mehr
von außen und branden an die Stadtmauern an, sondern solche Gefahren kommen aus dem Inneren der Stadt selbst, erwachsen der Produktion [sic] sozialer
Räume und Interaktionen.“
Hier und da wurden geschlossene Wohnkomplexe errichtet, überwacht von
privaten Sicherheitsdiensten und Videokameras, zugänglich durch ein Tor,
das mit einer Codekarte zu bedienen war. Trotz des Ursprungs in den Vereinigten Staaten – das entnehmen wir einer Ausgabe der tageszeitung im März
2002 – waren gated communities „längst ein globales Phänomen: Nicht nur in
Großbritannien und Südafrika. Im Großraum Buenos Aires leben beispielsweise
Schätzungen zufolge 20.000 Menschen in 300 geschlossenen Wohnsiedlungen.
In Ägypten gibt es 200 geschlossene Siedlungen mit jeweils bis zu 2.000 Wohneinheiten“. In Deutschland hatte ein Bauunternehmen 1998 in Potsdam die geschlossene und bewachte Apartmentanlage „Arkadien“ fertiggestellt, entworfen von einem kalifornischen Büro.
Nach Kalifornien also. Um dorthin zu gelangen, greifen wir abermals zum Sammelband „Kursbuch Stadt“ von 1999. Darin findet sich der Beitrag „Los Angeles:
Ökologie der Angst“, verfasst von dem bereits erwähnten Soziologen Mike Davis, der eine vielgepriesene „Renaissance von Downtown L.A.“ mit der Zunahme
an sicherheitstechnischen Vorkehrungen in der Stadt in Verbindung brachte.
Hochhäuser würden mit Sensoren und „tödlicher Schusskraft vollgestopft.“ Das
sensorische System eines durchschnittlichen Bürogebäudes umfasse bereits
„panoptische Sicht, Geruchs-, Temperatur- und Feuchtigkeitssensoren, Bewegungsdetektoren und in manchen Fällen ein ‚Gehör‘.“ Manche Architekten, so
Davis, kündigten den Tag an, an dem „das mit Künstlicher Intelligenz ausgestattete Computersystem eines Gebäudes imstande sein wird, automatisch dessen
menschliche Bevölkerung über Bildschirm zu erfassen und zu identifizieren
sowie auf ihre emotionalen Zustände (Angst, Panik etc.) zu reagieren.“
Tatsächlich erreichte die Kontrollgesellschaft technologisch einst ungeahnte
Höhen, dennoch sei am Rande der irreführende, befremdlich anmutende Begriff
von der Künstlichen Intelligenz erläutert: Von ihr war seit den späten 1950er
Jahren im Glücksversprechen eines technokratischen Furors die Rede gewesen.
Die visionäre Vorstellung, einen Rechner wie ein Gehirn modulieren zu können,
hegte geradezu irrsinnige Visionen. Doch wuchs allmählich die Einsicht, dass
die komplexen, recht eigentlich nicht nachvollziehbaren Eigentümlichkeiten
des menschlichen Gehirns und dessen neuronale Netze weder auf einen regelbasierten Intelligenz-Begriff noch auf irgendetwas anderes reduzierbar sind.
Auf den Buchhändlertagen 1996 sprach der Kybernetiker Oswald Wiener in seinem Vortrag von dem „angesichts der investierten Mittel grotesken Mißerfolg
der bisherigen Künstlichen Intelligenz.“ Die Groteske setzte sich fort.
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA, denen sich
weitere Untaten anschlossen, griff die Angst um sich, wurde mehr oder minder absichtlich zu einer Hysterie umgebildet, zu einem permanenten Gefühl
von Bedrohung. „Architektur der Angst“ war am 10. April 2007 ein Artikel in
der Süddeutschen Zeitung betitelt, der sich mit „unterirdischen Häusern und
unsichtbaren Städten“ befasste. Der Autor Benedict Sarreiter verwies auf das
Heimatschutzministerium der USA, das unter dem Motte „Don‘t be afraid ... be
ready!“ die Bevölkerung „in eine ständige Hab-Acht-Haltung drängen“ wolle.
„‘Ein Terroranschlag kann immer und überall geschehen‘, lautete die Botschaft
des Ministeriums für Angstvermittlung. Auch deshalb werden in Beverly Hills
und Bel Air Villen mit Panic Rooms bestückt […] Doch kann man sich angemessen auf eine Bedrohung vorbereiten, die diffus ist, die kein Schlachtfeld mehr
kennt und deren berechenbarste Eigenschaft die Unberechenbarkeit ist?“
2081
Zweifellos eine rhetorische Frage, aus der der Autor Schlüsse zieht: „So werden immer mehr Gebäude als moderne Festungen errichtet. Eigentlich sollen
sie uns die Angst nehmen – aber sie bewirken das Gegenteil. Die verstärkten,
schmuck- und fensterlosen Stahlbetonwände sowie die Überwachungskameras in den Städten erinnern uns ständig an die Gefahr. Ob real oder nicht.“
Einige Male haben wir schon auf „Updating Germany“ hingewiesen, den Beitrag zur Architekturbiennale 2009 in Venedig. Anlässlich der Ausstellung publizierten die deutschen Kuratoren einen Gesprächsband mit dem Titel „Bessere
Zukunft? Auf der Suche nach den Räumen von Morgen“. Darin ein Gespräch mit
dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk, der für diesen Abschnitt einen beachtlichen Bogen schlägt. Im Lauf des 20. Jahrhunderts, meinte
er, habe man sich „an Mikrokapseln wie z.B. die Einraumwohnung gewöhnt.
Wir haben die zellulare Bauweise der Einraumwohnung, des Appartements, als
die Anthropologie des architektonischen Individualismus so sehr verinnerlicht,
dass wir sie inzwischen für eine Naturkonstante halten: ein Mensch, ein Raum,
eine Zentralverriegelung. Mit diesen Mikroisolationen haben wir keine Schwierigkeiten. Unsere Schwierigkeiten beginnen erst, wenn wir z.B. das Phänomen
der Gated Communities diskutieren, denn hier wird der moralische Skandal der
Makro-Einkapselung auch in seiner sozialen Obszönität sichtbar.“
Indes ließe sich der Umgang mit Rahmen, Grenzen, Zäunen und Mauern auch
aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Unter der Überschrift „Villagizing
the City“ schilderte Christa Reicher in dem Buch „StadtPerspektiven“ wie „das
Dorf in der Stadt Einzug hält“. Am Beispiel des erfolgreichen Townhouse-Quartiers „Prenzlauer Garten“ in Berlin diskutierte die Autorin die Möglichkeiten
innerstädtischen Wohnens, das an dörflichen Strukturen orientiert war, die
– wie ideologisch verklärt es auch sein mochte – sowohl in ihrem sozialen
Gefüge (‚jeder kennt jeden‘) als auch in ihren räumlichen Merkmalen wie dem
engen Bezug von Innenraum und Freiraum als erstrebenswert galten. Da nun
ein Trend zurück in die Stadt unverkennbar geworden war, reagierten die Kommunen in dem Bestreben, innerstädtisches Wohnen aufzuwerten und entsprechende Bauvorhaben zu unterstützen. Dabei sei zu beobachten, so die Autorin,
dass sich Haushalte in den Städten „zunehmend einerseits nach ähnlichen Normen, Werten, Habitus und Geschmäckern und andererseits nach Raumtypen“
verteilten: „Stadtstruktur wird sich mehr und mehr zu einem Patchwork kleiner
‚Welten‘ wandeln.“
Betrachtete man „noch größere Einheiten“, dann habe man „den Fluchtpunkt
einer solchen makrosphärischen Interieurskonstruktion“ konkret vor Augen:
„Ich bin davon überzeugt, dass eine Tendenz im Realen darauf hinausläuft, solche geschützten Sphären zu erzeugen. Wenn man Europa als latent architektonisches Projekt ansieht, so besteht sein makro-architektonisches Verhalten
darin, einen Kristallpalast im kontinentalen Ausmaß zu errichten.“ Gemeint
war eine Abschottung der Wohlstandsländer gegen die arbeitssuchenden Menschen vorwiegend aus Afrika, die per Seelenverkäufer über das Mittelmeer Europa zu erreichen suchten.
Das Modell „Dorf in der Stadt“ wurde geschätzt und eingeschätzt „als Gegenmittel zur so genannten ‚Brasilianisierung‘ ganzer Stadtteile“. Eine Wortschöpfung
für eine Entwicklung, wo Teile der Gesellschaft immer weiter auseinanderdrifteten und der Zerfall extreme Formen annahm. (…) Die Strategie der ‚überschaubaren Siedlungsräume‘ oder auch der ‚verinselten Räume‘ hat in der Stadtentwicklung Hochkonjunktur.“ Das Märkische Viertel in Berlin, über Jahre hinweg
als soziales Problemquartier thematisiert, sei „inzwischen mit großem Erfolg
in kleine Siedlungsräume ‚zerschlagen‘ worden. Kleine Ökosiedlungen liegen
nun neben Genossenschaftssiedlungen, alternative Wohnprojekte neben autofreien Stadträumen.“ Der Ansatz der „Verdorfung“ sei demnach mehr als eine Art
Stadtreparatur. Der menschliche Maßstab im Stadtraum und in der Architektur
erführe wieder Beachtung.
Ob denn der europäische Kontinent seine Grenzen baulich, mit architektonischen Mitteln sichern werde, wurde der Philosoph gefragt. „Sicher nicht in
allernächster Zeit. Die Mittel der Grenzsicherung sind Zoll, Polizei, juristische
Grenzwachen und dergleichen. Politik wird dabei zum Außenhautmanagement
des virtuellen und realen Kristallpalastes.“
Andere verwendeten für die Vorgänge das kritische Schlagwort von der „Festung Europa“, gewollt oder ungewollt anspielend auf ein militärisches Konzept aus der NS-Zeit. Wie dem auch sei, wir haben über global passende Umwege den Kreis geschlossen, zurück in das Mittelalter.
2082
009
Umnutzung, Konversion,
„Upgrading“
Der
Balkon
2083
Von den überwiegend in Afrika, Asien und Südamerika aufgespürten Mega Cities oder Megacities haben wir erzählt, deren Einwohnerzahlen stetig nach
oben kletterten. In den Gebieten, wo die Städte schrumpften, in den Shrinking
Cities – diese Wendung wurde bevorzugt – setzte man sich allmählich mit den
Effekten für die stetig dünner besiedelten Kommunen auseinander, mit dem
Brachfallen ganzer Stadtquartiere und Industriegebiete. Eine interdisziplinäre
Herangehensweise war ratsam, ja erforderlich und – gefragt.
Ob in Großbritannien, Deutschland oder Belgien, in Finnland, Italien, Russland,
Kasachstan oder China: überall schrumpften Städte. Während in urbanistischen
Debatten das Augenmerk meist auf das Wachstum der Megalopolen gerichtet
gewesen war, bildeten sich „parallel dazu Zonen der Schrumpfung“, gekennzeichnet von Bevölkerungsverlusten und hoher Arbeitslosigkeit. Die Globalisierung hatte diesen Prozess, der in den Industrieländern mit der Suburbanisierung bereits früher eingesetzt hatte, noch beschleunigt. Das entnehmen
wir einem 736 Seiten dicken Buch aus dem Jahre 2004, ein Ausstellungskatalog
herausgegeben im Auftrag der Kulturstiftung des Bundes, das den Titel trägt:
„Schrumpfende Städte: Städtischer Wandel im Zeichen von Postfordismus und
Globalisierung“.
Greifen wir zu der 896 Seiten dicken Fortsetzung von 2005 – „Schrumpfende
Städte 2: Handlungskonzepte“ –, erfahren wir, dass „klassische Stadtplanung
und Städtebau an ihre Grenzen“ geraten seien. Angesichts der Herausforderungen würden nun neue Wege beschritten: „Neben die hard tools baulicher
Interventionen treten soft tools kultureller, sozialer, politischer und kommunikativer Interventionen.“ Das Buch gewährte einen Überblick über „experimentelle Handlungskonzepte“ aus den Bereichen Architektur, Landschaftsarchitektur, Städtebau, Medien, Performance und Kunst.
Diese Shrinking Cities legen wir für einen Moment behutsam frei, um einige
Konzepte für die Umnutzung, die Konversion, das „Upgrading“ anzuschneiden.
Ein Beispiel entstammt französischen Gefilden, wo im Jahre 2008 Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal mit dem „Grand Prix national de l’Architecture“
2084
ausgezeichnet wurden. In einer Studie namens „plus“ befassten sie sich mit
der Revitalisierung und Modernisierung im Sozialen Wohnungsbau. Anhand
der Wohntürme aus den 1960er und 1970er Jahren erarbeiteten sie eine Strategie ohne radikalen Abriss der Gebäude. Durch Anbau von umgreifenden Loggien werteten sie mit geringem Materialeinsatz die Grundrisse auf, schafften
insgesamt Transparenz und räumliche Großzügigkeit der Wohnungen wie des
öffentlichen Raums, um die Unzulänglichkeiten der ursprünglichen Planung
zu korrigieren. In der typischen Architektensprache war es so erläutert: „Im
respektvollen Umgang mit dem Erbe der Moderne nutzen die Architekten das
Potential der Türme, anstatt sie zu stigmatisieren – Transformation statt Sprengung ist die Prämisse, mit der sie die Moderne weiterbauen.“ Vor allem aber,
so das Konzept, entstand die Belebung ‚von innen aus‘, in Gesprächen mit den
BewohnerInnen, um herauszufinden, womit diese sich identifizierten. Vom
entlegenen Standpunkt aus, sagte Vassal in einem Gespräch, würde man von
den Quartieren lediglich sehen, sie seien hässlich, und man meine deshalb, sie
würden die sozialen Probleme schaffen. Deren Wurzeln jedoch wolle man nicht
wahrnehmen.
Ein weiterer Aspekt betraf die Umnutzung. In der Bankenmetropole Frankfurt
am Main zum Beispiel standen im Jahre 2007 über zwei Millionen Quadratmeter
Büronutzflächen leer. Es blieb umstritten, wie wir aus dem Band „Standards
der Zukunft“ erfahren, ob es sich dabei um den „Ausdruck einer zyklisch auftretenden, konjunkturell bedingten Nachfrageschwäche“ handelte oder um die
„Folge einer strukturellen Krise“. So oder so, es handelte sich um Phänomene
des globalen Kapitalismus, darum, dass auch Architektur und Städtebau, um es
in der Sprache des historischen Materialismus zu formulieren, als Ergebnis der
ökonomischen Strukturen begriffen werden können.
Zunehmend erkannten Architekten und Stadtplaner, dass es nachhaltiger sein
könnte, Gebäude und Quartiere zu planen, die nicht nur für eine einzige Nutzung taugen. Ein detaillierter Beitrag in jenem Band zog die Bilanz, dass die
Umnutzung eine städtebauliche Chance sei, ein neues Leben entfalten könne,
und in vielen Fällen eine wirtschaftliche Notwendigkeit, indes die Realisierung
vielen Hemmnissen begegne. Aus anderer Warte werden wir in der „010 Experimentierküche“ das Thema verhandeln.
2085
Ein geradewegs spektakuläres Projekt aus der Hansestadt Hamburg etwa 2009.
Nah, sehr nah am Wasser war Einblick zu nehmen in die „größte innenstädtische Baustelle Europas“, genannt HafenCity, ermöglicht durch die rasante Entwicklung der Containertechnologie, die die Schifffahrt vollkommen gewandelt
hatte. (Über die Container als „Fetisch der Moderne“ und „Emblem der Globalisierung“ sprachen wir eingangs im Abschnitt 002.)
Wo einst die Hafenarbeiter malochten, entstand ein „Modell für die Entwicklung
der europäischen Stadt des 21. Jahrhunderts“, die es städtebaulich und architektonisch zu definieren gelte, hieß es in einer Broschüre. Auf 157 Hektar würden
zwei Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche bebaut und dadurch 5 500
Wohnungen für 12.000 Einwohner entstehen sowie Dienstleistungsflächen mit
mehr als 40.000 Arbeitsplätzen. Nebst Gastronomie, Kultur- und Freizeitangeboten, Einzelhandelsflächen, Parks, Plätzen und Promenaden ergebe sich ein „lebendiger innenstädtischer Raum mit einer feinkörnigen Nutzungsmischung“.
Weiteres mithilfe einer Collage aus etlichen Presseberichten: Denn die Namen
der Planer lasen sich wie das „Who is Who“ der prominentesten Architekten.
„Stars“ wie Jacques Herzog und Pierre de Meuron oder Rem Koolhaas realisierten „ihre kühnen Ideen“. Und als „Leuchtturm“ und „neues Wahrzeichen“ der
Hafencity bauten die „Superstars der Architektur“, Jacques Herzog und Pierre
de Meuron, den gegenüber dem Sandtorkai liegenden Kakaospeicher in ein
Konzerthaus, die Elbphilharmonie, um. Andere schrieben von einem „babylonischen Formengewirr an international gebräuchlichen Entwurfsideen“ oder
von einer „High-Price-Version des üblichen Fußgängerzonenelends“, die ersten
Eigentümer und Mieter wiederum waren „berauscht von Elbblick und Edelwohnung“. Tendenziöse, wohlfeile Ansichten?
Eine Kaltmiete von 9,50 Euro pro Quadratmeter entrichtete jedenfalls laut eines
Artikels im Journal des Hamburger Mietervereins im Februar 2007 das Rentnerehepaar F., und zwar von Herzen: „Wäre ich weiter im lauenburgischen Büchen
geblieben,“, wurde Herr F. zitiert, „hätte ich nichts mehr erlebt. Wenn hier alles
fertig ist, werde ich in einem Paradies leben.“
Die hätten ein Schnäppchen gemacht, kommentierte ein Vorstandsmitglied
der Hamburger Architektenkammer, der Architekt Joachim Reinig: „Im Angebot
sind 140 Quadratmeter große Genossenschaftswohnungen, die bis zu 3000 Euro
Miete kosten. Das ist doch absurd.“ Es entstünde „tatsächlich Urbanität. Auch
wenn alles sehr stark kommerzialisiert sein wird.“
Auf die Frage, wie man in 50 Jahren über die HafenCity reden werde, erwiderte Reinig, man könne „einen großen Fehler bemängeln, nämlich den katastrophalen energetischen Standard, und sagen: ‚Die haben wie im Mittelalter
gebaut. Wie konnte das nur passieren?‘“ – „Ist es so schlimm?“ lautete die ängstliche Nachfrage: „Ja. Heute werden, auf den Ölverbrauch umgerechnet, schon
Zwei-Liter-Häuser gebaut. In der HafenCity liegen viele Gebäude zwischen 100
und 300 Liter. Da wird unheimlich viel Energie verplempert fürs Heizen im Winter und Kühlen im Sommer – das ist der Preis für die riesigen Glasfassaden.“
Außerdem seien die Raum-Akustiker „schon heute gut damit beschäftigt, die
verglasten Besprechungsräume zu sanieren. In vielen Büros sei eine normale
Kommunikation kaum möglich. „Was das Problem verstärkt: Zur Wasserseite
stört der Industrielärm und die oft heftigen Winde und auf der anderen Seite
rauscht der Verkehr, der noch zunehmen wird.“
Der Wind, der Wind, das himmlische Kind ... Eine Assoziation wie diese mochte
den Interviewer Volker Stahl auf die abschließende Bemerkung gebracht haben: „An vielen Stellen ist es ja auch sehr zugig“. – „So ist es“, bestätigte Reinig:
„Wenn Eltern in der HafenCity wohnen, dann heißt der Spruch zu ihren Kindern: Setz’ die Mütze auf und fall’ nicht ins Wasser!“
Sich mit Rettungsringen zu versorgen, dieses Bedürfnis beschlich Menschen
seinerzeit, vorwiegend gleichnishaft gemeint – nicht allein in jener Örtlichkeit.
2086
010
Stadt neu denken –
Zwischenstadt, hybride
Räume
die
experimentier
küche
2087
Auf Zwischenstädte stießen wir schon im „Gästezimmer“. Sofern man nämlich
an Stadtgrenzen glaubte fern der juristischen Ebene, führte eine Addition der
Einwohnerzahlen, um Megacities kenntlich zu machen, in die Irre. Die zunehmende Verstädterung, dieser „Triumph des Urbanen“ richtete die Urbanität zu
Grunde, das jedenfalls, was man bislang im Allgemeinen darunter verstand. Ein
Paradox, das, wie der Architekt Rem Koolhaas 1999 meinte, einen „neuen Urbanismus“ verlangte, der sich „nicht auf die Zwillingsphantasien von Ordnung
und Omnipotenz stützen“ würde.
Der Architekturkritiker Martin Pawley hatte 1996 ausführlicher seine radikale
Ansicht über die „Auflösung der Stadt“ vertreten. Seit den späten 1970er Jahren,
schrieb er – wohlgemerkt – in Vergangenheitsform, „begann sich das ganze
ländliche Europa in einem großen Band von London im Norden bis zum südlichen Italien in eine neue ökonomische Landschaft zu verwandeln. Anstatt
von städtischen und innerstädtischen Geschäften wurden Millionen Quadratmeter an Bodenfläche für Warenlager und Distributionszentren mit einer
halsbrecherischen Geschwindigkeit überbaut. Außerhalb der alten Städte und
Großstädte schossen an Tausenden von Autobahnabfahrten und -kreuzungen,
entlang einer Straßenstrecke von über 50.000 Kilometern, eine Million neuer
Geschäftskomplexe ohne jeden Bezug auf einen urbanen Kontext oder die Vorherrschaft der Kunstgeschichte hervor.“
Es würden nun „hektische Anstrengungen unternommen, um diesen Trend
umzukehren. Doch das führt zu nichts, denn das sind keine ‚intelligenten‘, sondern schnelle Bauwerke.“ Sie seien Bestandteil des „unsentimentalen, computergenerierten Gesichts der elektronischen Entstädterung, eine Erscheinung
der abstrakten digitalen Kommunikation“, welche die Staaten in einem „grenzenlosen Netz von Konsumfilialen verbindet, die durch Häfen und Flugplätze,
automatisierte Gefrierlager, klimatisierte Warenhäuser, riesige Fuhrparks und
vorübergehende Schlafplätze in beweglichen Heimen versorgt werden. Das
ist die Architektur der neuen Medien: der Urbanismus des nicht-urbanen Netzwerks des Konsums, das die Welt einhüllt.“
2088
Um dies auf einen Begriff zu bringen, wählte Pawley den Terminus des „abstrakten Urbanismus“, der von Architekten, Stadtplanern, Historikern und
Kritikern nicht beachtet werde, obwohl er in ökonomischer Hinsicht bereits
wichtiger sei „als all die kunstgeschichtliche Architektur, die jemals gebaut
wurde.“
Nachdem Pawley zahllose Erwerbstätige in zahllosen unterschiedlichen Tätigkeiten an diesen Unorten Revue passieren lässt und die Frage stellt, ob dies
die „prototypischen, nicht-städtischen Menschen der Zukunft“ seien: „Wenn
sie es sind, dann wird in unserer Zukunft Zentralität ein unbekannter Begriff
sein. Die Architektur und der Urbanismus von heute werden als Abkömmlinge
der alten Städte der Vergangenheit vergessen sein. Das Vergessen hat bereits
begonnen.“
Kurios genug, dass der Schriftsteller Italo Calvino bereits 1972 in dem Buch
„Le città invisibili“, auf Deutsch „Die unsichtbaren Städte“, davon erzählte, und
zwar von der „fortdauernden Stadt“ Trude: „Es war das erste Mal, dass ich nach
Trude kam, aber schon kannte ich das Hotel, in das ich geriet; meine Gespräche
mit Käufern und Verkäufern von Schrott hatte ich bereits gehört und gesagt;
schon andere ganz gleiche Tage waren mit Blick durch die gleichen Trinkgläser
auf die gleichen wabbelnden Bäuche zu Ende gegangen. Warum überhaupt
nach Trude kommen? Fragte ich mich. Und wollte schon wieder abreisen. ‚Du
kannst abfliegen, wann du willst‘, wurde mir gesagt, ‚aber du wirst zu einem
anderen Trude kommen, das Punkt für Punkt gleich ist, die Welt ist überdeckt
von einem einzigen Trude, das nicht anfängt und nicht aufhört, nur am Flughafen seinen Namen wechselt.‘“
Gesammelte Reflexionen, Vorschläge und Trends, die sich implizit auch mit
diesem urbanen Phänomen befassten, veröffentlichte im Jahre 2006 das bundesrepublikanische Amt für Bauwesen und Raumordnung: „Future Landscapes
– Perspektiven der Kulturlandschaft“. Das Projekt war als eine Reaktion zu verstehen auf den „Nutzungswandel industrieller und landwirtschaftlicher Räume
einerseits und die fortschreitende Zersiedelung andererseits“. Damit nicht genug. Hinzu komme, dass die Globalisierung „in zunehmendem Maße eine Nivellierung von Kulturlandschaftsnutzungen“ bewirkte. Nicht nur „konzeptionelle
Bilder“ wollte man in der Broschüre vorstellen, sondern ebenso „widersprüchliche Bilder“. Voraussetzung für die anstehende Diskussion sei ein „integratives
und vernetztes Denken“, Zukunftsbilder, Szenarien und Handlungsspielräume
erkundend für „das Morgen im Jahre 2030“.
An der Jahrtausendwende entspross dem interdisziplinären Wohn- und StadtDiskurs der Begriff der „hybriden Räume“, Räume im Spannungsfeld sich überlagernder Nutzungen und Funktionen, unabhängig von den Eigentumsstrukturen; Räume, in denen sich die allgemeine Ungewissheit und Komplexität
widerspiegelten, wie der Landschaftsarchitekt Klaus Overmeyer auf einer
Werkstatttagung im Mai 2005 skizzierte: „Ob Stadtstrände an Industriekanälen,
Raves in Hafengebieten, Ponyhaltung auf Grundstücken mit ungeklärten Eigentumsverhältnissen oder temporäre Sportevents auf dem Stadtring, gerade der
undefinierte, nicht eindeutig mit Nutzungen belegte Raum rückt in den Fokus
einer neuen urbanen Spezies, die den Stadtraum als möglichst ungezähmtes
Territorium entdecken, erobern, bezwingen und ausprobieren will.“
mit den medialen Netzwerken und Systemen zu entwickeln.“ Medialisierung
modifizierte die „Raum-Hierarchien“, gleichzeitig verringerte sie den „Bedarf
an gebautem Raum.“
In schrumpfenden Regionen könnten mediale Dienste, flexibel und mobil konzipiert, bestimmte öffentliche Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen
gewährleisten. Als Beispiele wurden Rufbusse, Videounterricht und mediale
Expertenunterstützung bei schwierigen Operationen in abgelegenen Regionen
genannt. Schließlich stellten die Autoren eine Reihe von weiteren Projekten
vor, mit denen sie ihre Ideen zu vermarkten suchten.
Nach „Raum für soziale Experimente – zum Angehen gesellschaftlicher Probleme“ suchte im Jahre 2008 die Schader-Stiftung. Genauer gesagt: Sie forderte
Studenten unterschiedlicher Fachdisziplinen auf, an einem Wettbewerb zu diesem Thema teilzunehmen. Zwei der fünf ausgezeichneten Arbeiten seien hier,
destilliert aus den Begründungen, vorgestellt.
Eine Akzentverschiebung in der Bezeichnung „hybride Räume“ war der Anthologie „StadtPerspektiven“ zu entnehmen, etwa dem Beitrag „Soft Urbanism. Erfahrungen aus Deutschland“ der Autoren Elisabeth Sikiardi und Frans Vogelaar.
Sie verstanden darunter „das Zusammenspiel von medialen und physischen
Räumen.“ Beispiele solcher hybriden Räume seien überall im Alltag zu finden,
„in den Kommunikationsräumen der Mobiltelephonie, die private Inseln im öffentlichen Raum schafft, in dem städtischen Raum, der mit Hilfe von Monitoren
kontrolliert wird, oder bei der Immobilie, die ähnlich dem Auto (connected car)
zur Schnittstelle zwischen realem Raum und virtuellen Netzen wird.“
Das Projekt „Urbane Spielfelder“ befasste sich mit einem 24 Hektar großen, weithin brachliegenden Gebiet in Cottbus, das durch Baulücken, unzureichend genutzte Gebäude, Leerstände und vernachlässigte Freiräume „negativ“ auf die
Stadt „ausstrahlte“. Die VerfasserInnen teilten das Gebiet in elf „Spielfelder“ auf,
durch Bauzäune abgegrenzt und gekennzeichnet. Diese „Spielfelder“ sollten
nicht fest vergeben werden, sondern der gesamten Stadtbürgerschaft mit ihren Gruppen, Vereinen, Verbänden, Institutionen und Initiativen zur Verfügung
stehen. Gedacht war an temporäre oder dauernde Nutzungen jeglicher Art –
Ausstellungen, Obdachlosennotunterkünfte, experimentelles Wohnen, Künstlerwerkstätten, Universitätsversuchsgelände, Camping, Sport, Kleingewerbe,
Handel, Gastronomie und so fort. Eine grobe Vorsortierung sollte allzu gegensätzliche Nutzungen ausschließen. Die Freiflächen zwischen den „Spielfeldern“
wurden durch 15 Meter breite „Baumpakete“ gegliedert.
Nicht zum ersten Mal vernehmen wir den Befund, dass „Medialisierung und
somit auch Globalisierung […] gravierende Auswirkungen auf die zeitgenössischen urban-architektonischen Entwicklungen“ hatten. „Mit Hilfe einer ganzheitlichen Betrachtung – die des hybriden Raumes – ist es möglich, physische
Objekte und urban-architektonische Räume im Kontext und im Zusammenspiel
In Anbetracht des seit unvordenklichen Zeiten formelhaft verwendeten Ausdrucks von den „leeren Kassen der Kommunen“ dürften Studenten aus Hamburg einen Volltreffer gelandet haben: Unter der Überschrift „Null Euro Urbanismus“ hatten sie einen Katalog von „Good Practice-Beispielen“ komponiert,
gemeint einerseits als Anstoß zum Wissenstransfer von Ideen, Projekten und
Dass die Besitzer eines Tages womöglich eingriffen, oder die polizeilichen Ordnungskräfte zum Einsatz alarmiert wurden, ergänzen wir nur am Rande.
2089
Verfahren, andererseits aber auch als Beitrag zu einer „zivilgesellschaftlich
flankierten Flexibilisierung und Modernisierung des Verwaltungshandelns“.
Dabei wurden die „jeweiligen Akteurskonstellationen präzise beschrieben
und Rückschlüsse auf die Übertragbarkeit gezogen.“ Erfolgreiche Projekte, so
die Verfasser, nutzten neue Konstellationen, entwickelten eine gute „Balance zwischen Verbindlichkeit und Freiheit“ und fanden einen pragmatischen,
„ergebnisorientierten Planungsansatz“, der den besonderen Bedingungen und
planerischen Kontexten Rechnung trüge.
und Kommentare. In Anbetracht der Fülle an Schwingungen und Sphären, Strömungen und Umbrüchen mag es genügen. Die beinahe zufällige Auswahl zu
treffen, hat seine Vorteile, wie wir wissen, besser jedenfalls, gleichwohl nicht
besserwisserisch wissen als die Menschheit vor hundert Jahren.
Das Zeit-Raum-Gefüge mahnt uns, die Tür zur Experimentierküche hinter uns
zu schließen. Gern würden wir ausführlicher vom Projekt Sproutbau in Bremen-Tenever erzählen, das einen Monat des Jahres 2007 lang ein Abrisshochhaus zum „Schauplatz eines lebendigen, bunten, ungewöhnlichen Wohn- und
Kooperationsexperiments“ verwandelte: „Künstler, Kreative und Querdenker
nutzten den unbegrenzten Spielraum der Großwohnsiedlung für die freie Umsetzung ihrer Träume und Utopien.“ Dazu erschien später eine Dokumentation,
darin diese Pressestimme: „Fast fühlte man sich an den Expo-Pavillon der Niederlande erinnert, einer der eindrucksvollsten Bauten der Weltausstellung in
Hannover. […] Doch hier […] war eine ungleich größere Vielfalt und Verdichtung
von Kunst und Lebenswelten zu bestaunen.“
Genauso gern würden wir weitschweifiger den Ansatz der Ausstellung „Instant Urbanism“ erläutern, die „Spuren der Situationistischen Internationale
in zeitgenössischer Architektur und Urbanismus“ eingerichtet hatte. Die Situationisten hätten in den 1950er und 1960er Jahren demonstriert, wie durch
konstruierte Situationen Städte „als Orte des Spiels, der Sportification und der
Approbiation“ umdefiniert werden könnten, basierend auf einer „Strategie des
Umherschweifens“ in der Stadt, um mittels Desorientierung und Intuition die
zunehmend „fragmentierte Landschaft des urbanen Raumes“ zu erkunden.
Apropos Intuition und Fragment – Gelegenheit, unsere Ausgrabungen aus der
damaligen Zukunft vorläufig abzuschließen, im Ergebnis wenig mehr als eine
Unzahl an Fragmenten, miteinander verwoben, doch keineswegs in Einklang
gebracht, wenig mehr als eine vielstimmige Kollektion heterogener Befunde
2090
2091
Ansichts
Sachen
Fo t o s : A x e l B o r n , M a r t i n a G r ü nw a l d , B e r n d Ku s b e r,
R a l f O r l ow s k i , C l a u s Uh l e n d o r f
. . .v o n a l l e n S e it e n .
2092
v o n R a l f O r l ow s k i
2093
2094
2095
von Johann Geils-Heim
2096
2097
Stil
ikonen
von Clau s Uhlendor f
2098
v o n d e n d e s i g n a g e n t e n A x e l B o r n , L u i s B o r n u n d M a r t i n a G r ü nw a l d
2099
2096
2100
2101
2102
2103
anhang
. . . z u m S c h lu s s u n d o b e n d r a u f.
2104
2105
we
wa
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E nt werf en adapt i v er S y s t e m e
Impressum
– He ra usge be r:
Verband der Wohnungswirtschaft
in Nie d e rsa c hse n und Bre me n e . V.
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d e sign a ge nte n, Ha nnove r
– R e c he rc he n und Le k tora t:
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– Fotogra fie :
Axe l Bor n, Joha nn Ge ils- He im,
Ma rtina Grünwa l, Ra lf Orlowski, p hotoc a se , Cla us Uhle ndorf
– Druc k :
gute nb e rg b e uys, Ha nnove r
ge d ruc kt a uf: FSC- PAPI ER
W ir bedanken uns bei allen, die bei der Erstellung dieses B u c h e s
mitge wirkt ha b e n. I nsb e sond e re d a nke n wir d e n „ Wohne xpert en“, den
„Jubilaren“, den „Fotomodellen“ und denjenigen, die den F r a g e b o g e n
zur „ Z ukunft Wohne n“ a usge füllt ha b e n.
Ke in Te il d ie se s We rke s d a rf ohne sc hriftlic he Einwilligung des H eraus geb e rs in irge nd e ine r Form re p rod uzie rt, ve rvie lfä ltigt od e r ve rbrei t et werden.
Die se s Buc h (a lle Se ite n ne b e ne ina nd e r a usge le gt) sind 17 , 32 m 2.
Pla tz für e in B e tt, zwe i Stühle , e ine n T isc h und e ine n Sc hra nk .
1. Aufla ge Se p te mb e r 2009
I SBN 978- 3- 87292- 330- 1
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