Aber was in aller Welt, wenn es eine List ist
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Aber was in aller Welt, wenn es eine List ist
G3 TY3003 15 hp 2010-01-28 Tyska Handledare: Nina Johansson Examinator: Nina Johansson G2 G3 Avancerad nivå Aber was in aller Welt, wenn es eine List ist Analyse von Heinrich von Kleists Die Marquise von O…, der ambivalenten Erzählung einer Schwangerschaft Helene Karlsson Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung .........................................................................................................................3 2 Historischer Hintergrund: Frauen, Sexualität und Vergewaltigung um 1800..................4 3 Die Marquise von O…: Entstehungsgeschichte und Handlung .......................................5 4 Analyse.............................................................................................................................6 5 Schlussbemerkungen........................................................................................................21 6 Literaturverzeichnis..........................................................................................................23 2 1 Einleitung „Like the Marquise’s own family, readers of Die Marquise von O… have always found it hard to take the heroine’s protestation of innocence at face value.“ 1 Der Fall der Marquise in Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O…(1810) hat viele Menschen interessiert. Man bekommt keinmal in der Novelle eine richtige Erklärung für das, was eigentlich geschehen ist. Deshalb gibt es mehrere Deutungen dieser Novelle. Die meisten Wissenschaftler meinen, dass die Marquise vergewaltigt worden ist. 2 Es gibt aber auch Wissenschaftler, die meinen, dass die Marquise tatsächlich selbst diese Beziehung gewählt hat. 3 Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Ambivalenzen in der Novelle zu beschreiben und dadurch zu zeigen, dass die Vergewaltigungstheorie nicht so selbstverständlich ist. Ein weiteres Ziel ist zu zeigen, dass die Vergewaltigungstheorie nicht plausibel scheint, wenn man die historische Forschung kennt, die die Auffassung von Frauen und ihrer Sexualität um das Jahr 1800 beschreibt. Ich habe gerade diese Novelle gewählt, weil ich auf einmal darauf reagierte, als ich die Novelle zum ersten Mal las, dass die Novelle so zweideutig ist. Ich wollte selbst wissen, wie glaubwürdig es ist, dass die Marquise vergewaltigt worden ist. Es gibt zwar einige Studien, in denen die Vergewaltigungstheorie bestritten worden ist, aber es gibt immer noch viel darüber zu sagen. Eine weitere Untersuchung dieser anderen Perspektive ist meiner Meinung nach notwendig. Ich werde in meiner Analyse den Text von Anfang bis Ende durchgehen und alle ambivalenten Szenen diskutieren. Es gibt viele Stellen im Text, die zweideutig oder rätselhaft sind und die sich also für eine alternative Deutung öffnen. Gleichzeitig werde ich den Text vor dem Hintergrund einiger aktueller Studien, die Frauen und ihre Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert diskutieren, untersuchen. Ich werde in meiner Analyse auch frühere Forschungsarbeiten heranziehen, die diese Novelle aus verschiedenen Perspektiven behandeln, um meine Thesen zu stützen. Zuerst werde ich aber die historischen Untersuchungen, die als Grundlage meiner Analyse dienen, beschreiben, danach die Entstehungsgeschichte und die Handlung der Novelle. Nach der Analyse werde ich meine Ergebnisse zusammenfassen und einen Ausblick geben. 1 Allan 1997, S. 307. Z.B. Allan (1997), Mortimer (1994), Pfeiffer (1987), Politzer (1977), Schmidhäuser (1986), Smith (1985). 3 Z.B. Cohn (1975) und Harlos (1986). 2 3 2 Historischer Hintergrund: Frauen, Sexualität und Vergewaltigung um 1800 Um Informationen über den historischen Hintergrund zu bekommen, habe ich drei Studien benutzt: Women and Gender in Early Modern Europe von Merry E. Wiesner (2000), Weibliche Identität und Sexualität – Das Bild der Weiblichkeit im 19. Jahrhundert und in Sigmund Freud von Lilian Berna-Simons (1984) und Vergewaltigungslektüren: Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht von Christine Künzel (2003). Ich habe gerade diese Studien gewählt, weil sie übersichtlich sind und viele verschiedene Aspekte beschreiben. Künzel schreibt auch ausgehend von Die Marquise von O…, was für diese Arbeit vorteilhaft ist. Wiesner schreibt über die Rolle und die Situation der Frauen in der Frühen Neuzeit, sowohl rein körperlich als auch intellektuell und spirituell. Besprochen werden unter anderem die Notwendigkeit eines Sexuallebens und die Bedeutung der Ehe in dieser Zeitperiode. Wiesner definiert „Frühe Neuzeit“ als die Zeit zwischen 1500 und 1750, stützt sich aber zum Teil auf Studien, die die Zeit bis 1800 behandeln. Die Frühe Neuzeit wird auch oft als die Zeit zwischen 1500 und 1800 definiert. Man kann also davon ausgehen, dass die Ideen, die Wiesner beschreibt, immer noch ihre Bedeutung hatten als Die Marquise von O… geschrieben wurde. Berna-Simons Buch ist in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil untersucht sie „die Entstehung und Verfestigung des bürgerlichen Frauenbildes im Verlaufe des 19. Jahrhunderts.“ 4 Hier werden unter anderem der Unterschied zwischen Männern und Frauen und die Bedeutung der Schamhaftigkeit diskutiert. Der zweite Teil handelt von den Theorien Sigmund Freuds. Da ich in dieser Arbeit keine psycho-analytische Deutung der Novelle machen möchte, wird dieser Teil jedoch nicht herangezogen. Berna-Simons Quellen sind hauptsächlich medizinische und populärphilosophische Schriften. Künzel schreibt ausgehend von einer Lektüre der Marquise von O... über die literarische und juristische Codierung sexueller Gewalt und fokussiert auch darauf, wie Frauen und Vergewaltigungen in früheren Epochen betrachtet wurden. Besprochen werden mehrere Aspekte aus der Novelle, z.B. wie man zu dieser Zeit über Vergewaltigungen im Schlaf und über die Glaubwürdigkeit von 4 Berna-Simons 1984, Abstract. 4 Frauen diskutierte. Die Auffassung von Ohnmachten und Schwangerschaft wird auch behandelt. Diese Studien zeigen unter anderem, dass Frauen in dieser Zeit als sexuell unersättlicher betrachtet wurden als Männer, und dass es einen Diskurs über Vergewaltigungen gab, der nicht unbedingt mit dem Text übereinstimmt, wenn man ihn als eine Erzählung einer Vergewaltigung deuten möchte. Ich bespreche diese Theorien eingehender in der Analyse. 3 Die Marquise von O… : Entstehungsgeschichte und Handlung Die Marquise von O… erschien im Februar 1808 in Phöbus, einer von Heinrich von Kleist und Adam Heinrich Müller herausgegebene Literaturzeitschrift. Als Buchausgabe in überarbeiteter Fassung erschien die Novelle 1810 in Erzählungen (1. Band). Es wird vermutet, dass Heinrich von Kleist diese Novelle im Kriegsgefangenenlager Châlons-surMarne schrieb, wo er wegen angeblicher Spionage eingesperrt war. 5 Die Marquise von O… ist eine Erzählung über die verwitwete Marquise von O… Die Zitadelle ihres Vaters wird eine Nacht von Russen belagert. Während der Vater versucht, sich zu verteidigen, wird die Marquise von einigen Soldaten weggeführt. Sie wird aber gerettet von dem Grafen von F…, der sie in Sicherheit führt. Einige Tage später berichtet ein Bote, dass der Graf seinen Tod gefunden habe. Dies erweist sich aber als falsch. Der Graf kommt nämlich zurück und will die Marquise heiraten. Die Marquise hat aber versprochen, niemals wieder zu heiraten. Die Marquise fühlt sich nicht ganz wohl und bittet um einen Arzt. Der Arzt und auch eine Hebamme stellen fest, dass die Marquise schwanger ist. Ihr Vater wird wütend und verbietet der Marquise in seinem Haus weiterzuleben. Sie zieht in ihr Landhaus, wo sie eine Anzeige schreibt. In der Anzeige sucht sie den Vater des Kindes. Der Graf kommt von einer Geschäftsreise zurück und hat die Anzeige nicht gesehen. Er fährt zu dem Landsitz der Marquise und versucht dort noch einmal die Marquise davon zu überzeugen, dass er ein guter Gemahl ist. Die Marquise will nicht mit ihm sprechen. Er fährt zurück in die Stadt, wo er die Anzeige sieht. Eine Antwort auf die Anzeige erscheint. Jemand wünscht, die Marquise am 3., 11 Uhr morgens, im Haus ihres Vaters zu treffen. Die Mutter versucht herauszufinden, ob die Marquise wirklich nicht weiß, wer der Vater ist. Sie wird davon überzeugt, dass die Marquise unschuldig ist. Der Vater wird auch davon überzeugt und weint aus Reue. Am 3. 5 Wichmann 1988, S. 108-109 und S. 121. 5 zeigt es sich, dass der Graf derjenige ist, der auf die Anzeige geantwortet hat. Er will noch einmal die Marquise heiraten, aber sie sieht ihn wie einen Teufel und weigert sich. Es kommt aber zu einer Heirat und ein Jahr später auch zu einer zweiten, glücklichen Heirat. 4 Analyse Am Anfang der Novelle wird die Marquise als „eine Dame von vortrefflichem Ruf“ (DMvO, S. 3) 6 beschrieben, die seit drei Jahren in der größten Zurückgezogenheit lebt. Sie widmet sich seit dem Tode ihres Mannes ganz ihren Kindern und Eltern. Man muss also daran denken, dass die Marquise drei Jahre lang ohne Liebeskontakt zu Männern gelebt hat und sich vermutlich danach sehnt. Viele Menschen sahen in dieser Zeit Frauen als sexuell unersättlicher als die Männer 7 und diese Idee lebte im 20. Jahrhundert immer noch weiter. Otto Weininger, Verfasser von Geschlecht und Charakter: Eine prinzipielle Untersuchung (1903), behauptete sogar, dass die Frau nur aus Sexualität bestehe. 8 Ein starker Sexualtrieb wurde zur Zeit Kleists aber als abnorm betrachtet und man sollte am liebsten nichts davon zeigen. Sie konnten auch nicht ihren Sexualtrieb mit Onanie beruhigen. Onanie wurde als schädlich angesehen. Es wurde gesagt, man könnte davon sterben und es sei die größte Sünde aller Zeiten und Nationen. 9 Dass es aber notwendig ist, ein Sexualleben zu haben, wurde bereits im 16. Jahrhundert anerkannt. Wiesner schreibt: „Luther stressed the power of sexual feelings for both men and women, and thought women in particular needed intercourse in order to stay healthy.“ 10 Berna-Simons schreibt über das 19. Jahrhundert: „…der Geschlechtsgenuss sei für beide Geschlechter […] nötig, weil sonst die im Körper angestauten Säfte diesen vergiften.“ 11 Kleist war vermutlich von diesen Ideen beeinflusst, als er Die Marquise von O… schrieb, und es ist dementsprechend möglich, dass er davon ausgegangen ist, dass die Hauptfigur der Novelle sexuelle Befriedigung braucht. Hier tritt der Graf in die Handlung hinein. Die Marquise sieht in ihm „[einen] Engel des Himmels“ (DMvO, S. 4). Er rettet sie vor den Soldaten und führt sie in einen Flügel, wo sie jetzt allein sind (DMvO, S. 4). Hier wird oft behauptet, dass Kleist eine Vergewaltigung 6 Die Seitangaben in Klammern beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Kleist, Heinrich von (2007): Die Marquise von O… Husum/Nordsee. 7 Siehe hierzu Wiesner 2000, S. 57. 8 Berna-Simons 1984, S. 54. 9 Berna-Simons 1984, S. 99. 10 Wiesner 2000, S. 58. 11 Berna-Simons 1984, S. 48. 6 hinter einem Gedankenstrich versteckt hat. 12 Es gibt aber auch andere Deutungen. In Vergewaltigungslektüren beschreibt Künzel einige Studien, wo zum Beispiel „erotic act“ und „Erlebnis spontaner größter Liebe“ benutzt werden, um zu beschreiben, was hier geschieht. 13 Ich fokussiere lieber auf die sogenannte Ohnmacht als auf den Gedankenstrich. Künzel schreibt, dass „der literarische Diskurs […] auf die psychologische Dimension und damit auf die Funktion weiblicher Ohnmacht ab[hebt], indem er weibliche Ohnmacht als kalkulierte Inszenierung, als Verhaltensstrategie in moralisch zweifelhaften Situationen darstellt.“ 14 Sie schreibt später über Vergewaltigungen im Schlaf oder Ohnmacht vor Gericht: „Vorherrschend scheint – damals wie heute – die Vorstellung, dass eine Frau den Schlaf lediglich vortäusche, um sich der Verantwortung für sexuelle Handlungen zu entziehen.“ 15 Künzel erwähnt in ihrem Buch mehrere Beispiele dafür, dass man es in dieser Zeit für unmöglich hielt, im Schlaf oder in einer Ohnmacht vergewaltigt zu werden. 16 Frauen wurden laut Künzel auch allgemein als lügenhaft bezeichnet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Frau, Lüge und Hysterie als Synonyme betrachtet. 17 Die Marquise kann also diese Ohnmacht erfunden haben, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Künzel zitiert die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (1832), in der unter anderem steht, dass Ohnmachten „nach ungewohnten heftigen Körperbewegungen zumal in hoher Hitze, nach einer zu großen, plötzlichen Freude oder nach starken Gemüthserschütterungen“ entstehen können. 18 Die Marquise war sehr erschrocken als die Soldaten versuchten, sie zu vergewaltigen. Dann aber verliebte sie sich auf einmal in den Grafen. Sie hatten ein Liebestreffen und danach sinkt die Marquise in Ohnmacht, wegen der oben genannten Ursachen. Dies erklärt auch, dass die Marquise sich schnell aus dieser Ohnmacht erholt „ohne Beihülfe des Arztes, wie der russische Offizier vorher gesagt hatte“ (DMvO, S. 5) und dass sie schon weiß „dass er der Graf F.., Obristlieutenant vom t..n Jägerkorps, und Ritter eines Verdienst- und mehrerer anderen Orden war.“ (DMvO, S. 5) Ferner stellt sich heraus, dass auch der Graf nach diesem ersten Treffen ein bisschen über die Marquise weiß. Er kennt sogar ihren Namen, was gezeigt wird in seinen „letzten“ Worten: 12 Siehe z.B. Politzer (1977, S. 109), Smith (1985, S. 203), Mortimer (1994, S. 294), Allan (1997, S. 308), Schmidhäuser (1986, S. 158), Pfeiffer (1987, S. 37). 13 Künzel 2003, S. 26. 14 Künzel 2003, S. 44 Der literarische Diskurs, der hier gemeint ist, ist der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der aber „bis in die Vergewaltigungsdebatte des späten 20. Jahrhunderts hinein zu verfolgen“ ist. 15 Künzel 2003, S. 111. 16 Künzel 2003, S. 133-135. 17 Künzel 2003, S. 233. 18 Künzel 2003, S. 50. 7 „Julietta! Diese Kugel rächt dich!“ (DMvO, S. 6) Wenn die Marquise nur gerettet worden und danach in Ohnmacht gefallen wäre, hätten die beiden nichts übereinander gewusst. Nach dem vermeintlichen Tod des Grafen ist die Marquise untröstlich. Es ist unglaubwürdig, dass „mehrere Monden vergingen, ehe sie selbst ihn vergessen konnte“ (DMvO, S. 7), es sei denn sie hätten eine Beziehung gehabt. Die Marquise fühlt sich bald nicht wohl und erzählt ihrer Mutter von ihren Problemen. Mutter und Tochter scherzen über die ganze Situation und sogar über Vergewaltigungen im Schlaf: „Frau von G… sagte, sie würde vielleicht den Phantasus gebären, und lachte. Morpheus wenigstens, versetzte die Marquise“ (DMvO, S. 7). Phantasus und Morpheus sind die Söhne des Schlafgottes Somnus. 19 Diese Szene ist seltsam, denn die Marquise ahnt schon schwanger zu sein und wenn sie nicht den Vater kennt, muss sie ja schon an diese Möglichkeit gedacht haben, was es unmöglich macht, darüber zu scherzen und zu lachen. Wenn die Marquise tatsächlich glaubt, dass sie nicht schwanger ist, hätte sie niemals ihrer Mutter von ihren Ahnungen erzählt, denn es war sehr schändlich schwanger zu werden außerhalb der Ehe. 20 Dass sie ihre Mutter unnötigerweise beunruhigen würde, passt nicht zu dem Charakter der Marquise so wie sie im Text beschrieben wird. Der Graf kommt aber zurück und will jetzt die Marquise heiraten. Die große Frage ist, warum der Graf, der einen guten Ruf, viel Geld und alles, was gut im Leben ist, hat, plötzlich alles riskiert. „He is to risk losing all that he values: honour, reputation, career and, most importantly, the love of the woman he adores“, schreibt Seán Allan. 21 Es gibt eine Möglichkeit, dass er es einfach aus schlechtem Gewissen macht, aber ich finde es unglaubwürdig, dass er nur aus diesem Grund so viel riskieren würde. Der Graf riskiert tatsächlich auch die Liebe der Marquise. Sein sonderbares Benehmen ist vielleicht nicht das, was sie haben will. Es muss ja als ein sonderbares Benehmen gesehen werden, dass er sie so plötzlich heiraten will und eine so schnelle Antwort zu bekommen glaubt. Vielleicht hat die Marquise ihn durch ihre Handlungen davon überzeugt, dass sie sich eine Beziehung wünscht. Die Marquise aber erwartet nicht, dass der Graf auf diese Weise den Heiratsantrag stellen würde. Sie will, dass alles seine richtige Ordnung haben soll. Sie wird rot, weiß aber nicht, was sie sagen soll. Der Graf sagt dann, dass während seiner Krankheit „die Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre“ (DMvO, S. 8). Er ist ihr ja nichts schuldig, so warum denkt er nur an sie in seinen „letzten“ Stunden? Vielleicht hat er ihr etwas versprochen, zum 19 Worterklärungen zu Die Marquise von O… aus Kleist (2007, S. 40). Siehe hierzu Wiesner 2000, S. 60-61. 21 Allan 1997, S. 320. 20 8 Beispiel, dass sie zusammen sein werden. Die „notwendige Forderung seiner Seele“ (DMvO, S. 9) ist also die Forderung, mit der Marquise zusammen zu sein. Es muss schnell gehen, denn er merkt, dass die Marquise vermutlich schwanger ist, und er will nicht, dass jemand herausfindet, was die beiden vor der Heirat gemacht haben. Er sagt auch, er sei jetzt gezwungen, eine ungünstige Rolle zu spielen (DMvO, S. 10). In diesem Zusammenhang bedeutet dies, dass er nicht in der gewöhnlichen Art um sie werben kann. Die „einzige nichtswürdige Handlung, die er in seinem Leben begangen“ (DMvO, S. 10) hat, kann als eine außereheliche Beziehung gedeutet werden. Er ist nicht den Normen gefolgt, sondern er hat eine sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe mit der Marquise gehabt. Er wird ja als ehrlich, ehrenhaft und vortrefflich beschrieben. 22 Für einen solchen Mann muss es schamhaft sein, sich fesseln zu lassen. Er will jetzt alles gut machen, denn er wollte ja von Anfang an die Marquise heiraten. Der Eifer des Grafen, die Marquise zu heiraten, ist seltsam, wenn man davon ausgeht, dass er die Marquise vergewaltigt hat. Wenn er sie liebt, will er ja nicht den Übeltäter spielen. Wenn er so ehrenhaft ist, dass er nach der Vergewaltigung alles gut machen will, hätte er nicht einmal die Vergewaltigung durchgeführt. Ein Vergewaltiger kann sich m.E. nicht wirklich um sein Opfer kümmern, und es wird deutlich im Buch gezeigt, dass der Graf sich wirklich um die Marquise kümmert. Der Forstmeister sagt über das Benehmen des Grafen, dass sein Verhalten „einem völlig überlegten Schritt ähnlich sehe“ (DMvO, S. 12). Es ist möglich, dass er die Ehe schon seit der Nacht der Belagerung geplant hat, sogar zusammen mit der Marquise. Die bedeutendste Szene der Novelle ist die, wo der Graf über seine Fieberträume erzählt. Diese Szene wird oft als die Bestätigung für die Vergewaltigungstheorie gedeutet. 23 Hier wird also in den Text hineingelesen, dass der Graf die Marquise vergewaltigt hat, und dass er die Tat durch seinen Fiebertraum beschreibt: Hierauf erzählte er mehrere, durch seine Leidenschaft zur Marquise interessanten, Züge: wie sie beständig, während seiner Krankheit, an seinem Bette gesessen hätte; wie er die Vorstellung von ihr, in der Hitze des Wundfiebers, immer mit der Vorstellung eines Schwans verwechselt hätte, den er, als Knabe, auf seines Onkels Gütern gesehen; dass ihm besonders eine Erinnerung rührend gewesen wäre, da er diesen Schwan einst mit Kot beworfen, worauf dieser still untergetaucht, und rein aus der Flut wieder emporgekommen sei; dass sie immer auf feurigen 22 Viele Textstellen in der Novelle zeigen dies, z. B. S. 10, wo er berichtet, dass er nur eine einzige nichtswürdige Handlung in seinem Leben begangen hat, und S. 15, wo er völlig überzeugt ist, dass die Familie keine schlechten Erkundigungen über ihn einziehen kann. Auch der General sagt viel Gutes über den Grafen (S. 5-6). 23 Siehe z.B. Bentzel (1991, S. 296), Politzer (1977, S. 118-119), Allan (1997, S. 316). 9 Fluten umhergeschwommen wäre, und er Thinka gerufen hätte, welches der Name jenes Schwans gewesen, dass er aber nicht im Stande gewesen wäre, sie an sich zu locken, indem sie ihre Freude gehabt hätte, bloß am Rudern und In-die-Brust-sich-werfen. (DMvO, S. 13) Der Schwan kann zwar Unschuld bedeuten, aber es gibt auch mehrere andere Deutungen. Er kann mit romantischer Liebe verknüpft werden. 24 Der Graf benutzt in diesem Fall den Schwan, um die Marquise auf seine Liebe aufmerksam zu machen. Der Schwan ist laut der griechischen Mythologie der Bote des Todes, 25 und der Graf ist tatsächlich dem Tode nahe als er diesen Fiebertraum hat. Durch die Erzählung über Leda und den Schwan ist der Schwan auch mit unerlaubter Begierde verknüpft. 26 Die Marquise begehrt den Grafen, doch diese Begierde ist unerlaubt, weil sie gesagt hat, sie würde nie mehr heiraten, und da der Graf ein Feind des Vaters ist. Der Traum wird aber noch interessanter, als etwas mit dem Schwan geschieht: Er wird nämlich mit Kot beworfen. Der Kot wird meistens als Verschmutzung durch die Vergewaltigung gedeutet. Künzel schreibt: „Die metaphorische Umschreibung der Vergewaltigung als ‚Bewerfen mit Kot’ hat dagegen eher die Funktion einer Trivialisierung, indem sie Vergewaltigung als eine rein äußerliche, d.h. oberflächliche Form der Verletzung im Sinne einer Verunreinigung darstellt.“27 Wenn das Kotwerfen wirklich Vergewaltigung bedeutet, ist es trivialisierend, aber genau deshalb ist es vielleicht glaubwürdiger, dass etwas Anderes gemeint ist. Vielleicht will der Graf der Marquise sagen, dass sie sich nicht schämen soll. Die gesellschaftlichen Normen zur Zeit des Entstehens der Erzählung sahen sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe als verwerflich an. 28 Die Marquise sieht sich sicher als verschmutzt und befleckt an in der Wahrnehmung Anderer. Der Graf will ihr aber sagen, dass er sie als rein und schön ansieht, und dass sie eigentlich nichts Falsches gemacht hat. Bentzel vergleicht den Traum mit dem Schwan mit einem Gedicht, geschrieben von dem Greifswalder Professor Gotthard Ludwig Theobul Kosegarten (1758-1818), wo ein Schwan auch mit Kot beworfen wird. Er schreibt, dass in diesem Gedicht „the mud denotes lies and malicious gossip.“ 29 Wenn man dies bedenkt, kann der Traum auch so gedeutet werden. Der Graf weiß, dass viele Menschen über ihre Situation lügen und niederträchtige Sachen sagen werden. Er will deshalb der Marquise mitteilen, dass sie mit Kot beworfen werden wird, dass es aber nur 24 Politzer 1977, S. 119. De Huszar Allen 2001, S. 125. 26 De Huszar Allen 2001, S. 125. 27 Künzel 2003, S. 31. 28 Siehe hierzu Wiesner 2000, s. 58. 29 Bentzel 1991, S. 298. 25 10 eine Weile dauern und sie danach wieder genau so rein und schön wie früher emporkommen wird. Der Schwan taucht unter und kommt rein aus der Flut empor. Dies drückt aus, dass die Marquise sich selbst reinigen kann, und damit deutet diese Szene also nicht auf eine Vergewaltigung hin. Bentzel macht dies durch die folgende Frage deutlich: „Can a woman cleanse herself of having been raped in the same way that the swan washes off the mud in the vision?“ 30 Das ist m.E. nicht vorstellbar. Also finde ich die oben beschriebene Theorie glaubwürdiger. Der Graf versucht danach, den Schwan zu sich zu locken. Es geht aber nicht, denn der Schwan hat nur seine Freude am „Rudern und In-die-Brust-sich-werfen“ (DMvO, S. 13). Die Marquise verhält sich ja sehr kalt dem Grafen gegenüber als er zurückkommt. Er kann sie nicht länger zu sich locken. Er findet es seltsam und fühlt sich beleidigt. Deshalb deutet er an, dass ihre Freude nur am Rudern und Sich-in-die-Brust-werfen liegt. Das Spätere kann als spontane Liebesbeziehungen gedeutet werden. Er denkt, dass sie ihn vielleicht nicht liebt und ihn nur ausnutzt. Politzer beschreibt eine andere Bedeutung von Rudern: „Wenn in dem überaus bildkräftigen Wiener Dialekt jemand zu viel Aufhebens von sich und seiner Sache macht, sagt man von ihm: er rudert.“ 31 Wenn es keine Vergewaltigung war, sondern nur eine außereheliche Liebesbeziehung zeigt es sich ja auch später, dass die Marquise viel zu viel Aufhebens von sich und ihrer Sache macht. Dies bedeutet aber, dass der Traum keine vergangene Zeit anzeigt, sondern die Zukunft. Kleist und seine Zeitgenossen arbeiteten in einer literarischen Tradition, in welcher traumhafte Erlebnisse die Zukunft zeigen - nicht das, was schon geschehen ist. 32 Vieles deutet also darauf hin, dass der Traum vom Schwan keine Metapher für eine Vergewaltigung ist, sondern eine Vorahnung von dem, was kommen soll. Die Marquise will den Grafen nicht heiraten. Das kann als ein Zeichen ihrer Unschuld gesehen werden, aber es muss nicht so sein. Wenn die Marquise und der Graf wirklich einander lieben, können sie es nicht einfach sagen. Beide haben einen guten Ruf und werden als vortrefflich beschrieben. Die Marquise hat ihren Mann verloren und kann nicht ohne Weiteres jemanden, den sie nur einmal getroffen hat, heiraten. Wenn sie zusammen sein wollen, müssen sie also ein kleines Theaterspiel inszenieren. Die Marquise muss zuerst 30 Bentzel 1991, S. 298. Politzer 1977, S. 119 Der Graf spricht natürlich nicht Wiener Dialekt, aber Kleist war sich vielleicht dieses Ausdrucks bewusst und maskiert die eigentliche Bedeutung in dieser Weise. 32 Bentzel 1991, S. 299. 31 11 dagegen sein, um den Eltern vorzutäuschen, dass sie alles entscheiden. Es wird aber eilig, als der Graf merkt, dass die Marquise schwanger ist. Er sagt, es sei sein sehnlichster Wunsch, sich noch vor seiner Abreise mit ihr zu vermählen. Alle halten ihn für verrückt aber er sagt einfach: „…es würde ein Tag kommen, wo sie ihn verstehen würde“ (DMvO, S. 16). Dieser Tag ist der Tag, an dem man entdeckt, dass die Marquise schwanger ist. 33 Dieser Tag kommt auch bald und die Marquise durchläuft „gegen sich selbst misstrauisch, alle Momente des verflossenen Jahres, und hält sich für verrückt, wenn sie an den letzten dachte“ (DMvO, S. 17). Was denkt die Marquise? Denkt sie, dass vielleicht der Graf der Vater ist, und hält sich für verrückt, weil alle Pläne dann zerstört sind? Denkt sie, dass ihr eigener Vater vielleicht der Vater ist und hielt sich für verrückt, weil sie sich das einfach nicht vorstellen kann? Später in der Novelle wird eine inzestuöse Szene dargestellt. Diese Szene wird später in diesem Aufsatz diskutiert. Es ist jedenfalls klar, dass die Marquise unruhig ist. Ihr Gesicht glüht und sie zittert an allen Gliedern (DMvO, S. 19). „Was beunruhigt dich denn? Wenn dein Bewusstsein dich rein spricht…“(DMvO, S. 17), fragt die Mutter. Trotz ihres „reinen Bewusstseins“ will die Marquise eine Hebamme treffen. Die Hebamme kommt und repräsentiert im Buch eine Art „gesunder Menschenverstand“ für diese Zeit. Sie erklärt: „…die jungen Witwen, die in ihre Lage kämen, meinten alle auf wüsten Inseln gelebt zu haben […] der muntere Korsar, der zur Nachtzeit gelandet würde sich schon finden“ (DMvO, S. 20). Diese Szene zeigt, dass es nicht ungewöhnlich war, dass Witwen sexuelle Beziehungen hatten und danach nichts davon öffentlich werden lassen wollten. Für die Hebamme ist das natürlich. Die Mutter fragt dann: „…willst du den Vater mir nennen?“ und die Marquise antwortet „dass sie wahnsinnig werden würde“ (DMvO, S. 20). Sie antwortet nicht, dass es keinen Vater gibt, dass sie keine Ahnung hat, wer der Vater ist. Sie antwortet, dass ihre Mutter wahnsinnig werden würde. Sie weiß sicher, dass wenn ihre Mutter wüsste, was während des Brandes geschehen ist, würde sie wahnsinnig werden. Oder noch schlimmer, wenn die Mutter erfahren sollte, dass ihr eigener Mann der Vater sein könnte. Die Marquise sagt auch zu der Hebamme, dass sie „wissentlich empfangen“ habe (DMvO, S. 20). Warum sollte sie sich jetzt nicht verteidigen, wenn sie nichts gemacht hat? Sie macht es ja die ganze Novelle hindurch. 33 Siehe hierzu auch Schmidhäuser (1986, S. 168): „…er meint hier vielmehr nur die Eile, mit der er die Vermählung herbeiwünscht. Und so erklärt sich seine Bemerkung daraus, dass er ihren Zügen die Schwangerschaft schon ansieht und zugleich feststellen muss, dass sie so weit noch nicht denkt.“ 12 Ein wichtiger Punkt muss hier beschrieben werden. In dieser Zeit gab es eine Vorstellung, dass Schwangerschaft eine Folge des weiblichen Orgasmus war. Wiesner schreibt: „This idea was common throughout Europe in the early modern period, which was unfortunate for women who were raped, as pregnancy was widely viewed as proof that the woman had had an orgasm, signaling her enjoyment of the experience, which proved it wasn’t rape.“ 34 Kleist wollte vielleicht, dass die Leser und Leserinnen seiner Novelle sich darüber Gedanken machen sollten. Er wollte offensichtlich nicht verdeutlichen, ob es sich um eine Vergewaltigung handelt oder nicht, denn es steht nirgendwo in der Novelle. Wenn man bedenkt, dass Kleist vielleicht selber dachte, dass man durch eine Vergewaltigung nicht schwanger werden könnte, kann durchaus vermutet werden, dass er hier keine Vergewaltigung beschreiben wollte. Der Vater erfährt, dass die Marquise schwanger ist und verbietet ihr, in seinem Haus weiterzuleben. Die Marquise ist verzweifelt und geht zu den Gemächern ihres Vaters, wo sie ihre Unschuld beteuert: „Sie sank, als sie die Türe verschlossen fand, mit jammernder Stimme, alle Heiligen zu Zeugen ihrer Unschuld anrufend“ (DMvO, S. 21). Später in der Novelle, kurz vor der ersten Hochzeit, ruft die Marquise wieder „alle Engel und Heiligen zu Zeugen“ und versichert, „dass sie nicht heiraten würde“ (DMvO, S. 36). Sie heiratet aber bald darauf den Grafen, was bedeutet, dass man solche Aussagen nicht glauben kann. Man muss also auch daran zweifeln, ob die Marquise wirklich unschuldig ist. Die Marquise zieht zu ihrem Landsitz, wo sie jetzt die Aufforderung für die Intelligenzblätter schreibt. Aber warum schreibt sie eigentlich eine Anzeige? Ist es für sie notwendig? Schmidhäuser schreibt: Jede andere hätte – wenn sie schon in diese Lage gekommen wäre – das Licht der Öffentlichkeit unter den der Marquise gegebenen Möglichkeiten gemieden, die Entbindung an einen heimlichen Ort verlegt, das Kind in fremde Hände gegeben und wäre als die, die sie zuvor gewesen, wieder in die Gesellschaft zurückgekehrt (wobei immer noch möglich war, dass sie das Kind später von der Ziehmutter wieder an sich nähme und adoptierte). 35 Warum folgt die Marquise nicht den Normen? Auch Künzel schreibt über die Unwahrscheinlichkeit der Anzeige: „Genau genommen hätte die Marquise ihre uneheliche Schwangerschaft überhaupt nicht anzeigen müssen, sondern in aller Stille ihr Kind auf ihrem Landsitz gebären und aufziehen können.“ 36 Ihre außereheliche Schwangerschaft hat die Familie mit Schimpf und Schande bedeckt. Sie kann das nicht zurücknehmen, wenn sie nicht 34 Wiesner 2000, S. 57. Siehe auch Künzel 2003, S. 33-35. Schmidhäuser 1986, S. 157. 36 Künzel 2003, S. 37-38. 35 13 ihr Spiel zu Ende spielt. Zuerst muss die Anzeige auch Schimpf und Schande mit sich bringen, aber sie ist die einzige Möglichkeit, die Familie davon zu überzeugen, dass die Marquise nichts Falsches gemacht hat – dass sie vergewaltigt wurde. Die Marquise kann den Respekt der Eltern nicht riskieren und deshalb muss sie die Anzeige schreiben. Es kommt ja auch am Ende so weit, dass die Familie ganz und gar auf der Seite der Marquise steht. Es muss hervorgehoben werden, dass es auch in der Anzeige nicht ausdrücklich steht, dass eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Künzel schreibt hierzu: „…gesucht wird in der […] Anzeige nicht etwa ein ‚Notzüchtiger‘, sondern der ‚Vater zu dem Kinde‘, das sie gebären würde.“ 37 Der Graf weiß nichts von dem, was in M… geschehen ist während er in Neapel Geschäfte gemacht hat. Er erfährt von dem Bruder der Marquise, dass dessen Schwester schwanger ist und ist dann verzweifelt: „Warum legte man mir so viele Hindernisse in den Weg! rief er in der Vergessenheit seiner. Wenn die Vermählung erfolgt wäre: so wäre alle Schmach und jedes Unglück uns erspart!“ (DMvO, S. 23). Diese Reaktion des Grafen sagt viel aus. Er will ganz einfach das machen, was er für richtig hält. Er liebt die Marquise, und da die beiden eine sexuelle Beziehung gehabt haben, ist das Richtige jetzt zu heiraten. Aber es gibt so viele Hindernisse. Zum Beispiel ist die Kommunikation zwischen ihm und der Marquise ein Hindernis. Schmidhäuser schreibt: „Nie kann er – nach den Spielregeln der Gesellschaft – mit der Marquise allein ins Gespräch kommen“ und „Immer ist es nur der Obrist, einmal auch die Obristin, die hier in der Art der Formulierung mehr für die Marquise als für sich selbst sprechen.“ 38 Jetzt kommt das größte Hindernis – die Marquise ist schwanger und ihr Vater hat sie aus dem Haus vertrieben. Eigentlich sollte es einfach sein; zwei Menschen lieben einander. Die gesellschaftlichen Konventionen führen aber zu allen diesen Hindernissen. Er ruft „in der Vergessenheit seiner.“ Er vergisst, dass niemand von ihren Plänen etwas wissen darf. Das Benutzen von uns („so wäre alle Schmach und jedes Unglück uns erspart“) deutet auf eine Einheit hin. Die Marquise und der Graf sind schon eins. Der Graf fährt jetzt zu dem Landhaus der Marquise, wo ein Türsteher den Auftrag hat, niemanden hereinzulassen. Er sagt, er wisse von keiner Ausnahme, worauf er „auf eine zweideutige 39 Art hinzusetzte: ob er vielleicht der Graf F… wäre?“ (DMvO, S. 24). Die zweideutige Art muss bedeuten, dass wenn er der Graf ist, gilt etwas Besonderes. Vielleicht 37 Künzel 2003, S. 27. Schmidhäuser 1986, S. 166-167. 39 Meine Hervorhebung. 38 14 wäre er hereingelassen worden, wenn er nur das gesagt hätte. Es ist jedenfalls klar, dass der Türsteher von dem Grafen gehört hat. Die Marquise ist entweder auf den Grafen böse und will deshalb besonders, dass er nicht kommt, oder sie erlaubt nur ihm hereinzukommen. Der Graf tritt durch eine hintere Pforte hinein. Er sieht die Marquise „in ihrer lieblichen und geheimnisvollen Gestalt“ (DMvO, S. 24). Geheimnisvoll ist hier eine interessante Wortwahl. In wie fern ist die Marquise geheimnisvoll? Das Geheimnis kann nicht sein, dass sie vergewaltigt worden ist, denn davon versucht sie alle zu überzeugen. Das Geheimnis ist dann eher, dass sie freiwillig diese sexuelle Beziehung hatte. Der Graf setzt sich neben die Marquise und legt seinen Arm sanft um ihren Leib. Die Marquise versucht hier nicht einmal zu entfliehen. Sie sitzt ruhig in dieser Umarmung und rührt, wie schon Blankenagel bemerkte, noch kein Glied. 40 Dieses Benehmen des Grafen wirkt komisch, wenn man davon ausgeht, dass er sie vergewaltigt hat. Schmidhäuser schreibt: Ja, dass er die Marquise, die er in jener Nacht missbraucht hat und die ihm in den wenigen späteren Begegnungen noch kein Zeichen der Erlaubnis zu besonderer Nähe gegeben hat – dass er sie im Garten des Landguts nun einfach umarmt, einen Kuss auf ihre Brust drückt, den Arm der Entfliehenden zu erhaschen sucht, dies alles bekundet eine Anmasslichkeit, die nicht mit seinem sonstigen Verhalten übereinstimmt. 41 Der Graf ist in anderen Situationen so vortrefflich und deshalb wäre es sehr sonderbar, wenn er sich benimmt, als wenn nichts geschehen ist. Die beiden müssen ganz einfach das Erlebnis geteilt haben. Es kommt zu einer Diskussion und die Marquise will davongehen: „Ein einziges, heimliches, geflüstertes - ! sagte der Graf … - Ich will nichts wissen, versetzte die Marquise“ (DMvO, S. 25). Es hat in der Forschung viele Diskussionen über diese Szene gegeben. Pfeiffer schreibt über literaturpsychologische Anmerkungen von mehreren Wissenschaftlern und erwähnt unter anderem eine rhetorische Frage gestellt von Dorrit Cohn: „Can one refuse to know something one totally ignores? Does a refusal to know not indicate that somewhere in oneself one already knows what one does not want to know?“ 42 Smith schreibt über diese Szene: „Since the marquise does so as an act of will, she must know that something lies under the dash.“ 43 Dies deutet darauf hin, dass die Marquise weiß, wer der Vater ist. Das einzige, heimliche, geflüsterte Wort ist vielleicht etwas, was die Liebe des Grafen erklärt, z.B. Liebling. Die Marquise will aber nichts wissen, sie will nur, dass diese ganze Geschichte ein Ende 40 Siehe hierzu Blankenagel 1931, S. 371. Schmidhäuser 1986, S. 161. 42 Pfeiffer 1987, S. 38. 43 Smith 1985, S. 207. 41 15 bekommt, dass alles wieder gut wird. Schmidhäuser hat eine andere Theorie – dass der Graf ein Ja-Wort auf seinen Heiratsantrag wünscht: „So jedenfalls geht es ihm darum, wenigstens das einzige, heimliche, geflüsterte, das Ja-Wort von ihr zu erlangen.“ 44 Wenn die Marquise und der Graf Pläne haben und nur Theater spielen für die Umgebung, dann ist es begreiflich, dass er jetzt eine Versicherung haben will, dass die Marquise ihn immer noch heiraten möchte. Die Marquise scheint aber Zweifel zu haben, denn sie geht nur und will nichts davon wissen. Der Graf fährt zurück in die Stadt, wo er zum ersten Mal die Anzeige sieht: „Der Graf durchlief, indem ihm das Blut ins Gesicht schoss, die Schrift. Ein Wechsel von Gefühlen durchkreuzte ihn“ (DMvO, S. 25). Zunächst erschrickt er sicher, denn er versteht nicht warum die Marquise den Vater sucht. Er, der Vater des Kindes, war gerade bei ihr mit dem Wunsch sie zu heiraten. Dann versteht er aber, dass die Marquise diese Möglichkeit als ihre einzige sieht, weil sie dann keine Verantwortung übernehmen muss. Sie kann in dieser Weise ohne Schande aus der Situation herauskommen. „Nun ist es gut! Nun weiß ich, was ich zu tun habe!“ (DMvO, S. 25) sagt der Graf. Er ist jetzt glücklicher, denn er weiß, was die Marquise wünscht. Seine eigene Schande kümmert ihn nicht so viel. Es sieht es vermutlich als seinen Fehler – er hätte besser wissen sollen. Er sieht die Marquise als rein und schön und will nicht, dass jemand etwas Anderes denkt. Der Vater der Marquise sieht auch die Anzeige. Seine Reaktion zeigt deutlich, dass er nicht an Vergewaltigung im Schlaf glaubt: „Der Kommandant sagte, indem er fortschrieb: oh! sie ist unschuldig […] Sie hat es im Schlaf getan […], ohne aufzusehen […] Die Närrin!“ (DMvO, S. 26). Der Kommandant zeigt diese Einstellung, was auch zeigt, dass Kleist sich dieser Ideen, von denen oben berichtet worden ist, bewusst war. Er lässt sogar den Kommandanten daran denken, dass es vielleicht nur eine List der Marquise ist: „Zehnmal die Schamlosigkeit einer Hündin, mit zehnfacher List des Fuchses gepaart, reichen noch an die ihrige nicht!“ (DMvO, S. 27). Was sie damit bezweckt ist ganz einfach das Vertrauen ihrer Eltern und die Ehe, die sie sich wünscht. Das Buch endet tatsächlich glücklich, so hat ihre List, wenn es eine List ist, wirklich einen Zweck. Um herauszufinden, ob es eine List ist, „falls sie wirklich denjenigen, der ihr durch die Zeitungen, als ein Unbekannter, geantwortet, schon kenne“ (DMvO, S.28), hat die Mutter einen Plan. Sie fährt zu dem Landgut und soll hier der Marquise vortäuschen, dass der Vater 44 Schmidhäuser 1986, S. 170. 16 sich schon gemeldet hat. Die Marquise wird sehr neugierig: „Aber wer? wer? wer? versetzte die Marquise“ (DMvO, S. 29). Hier scheint die Marquise erwartungsvoll zu sein. Sie hofft vielleicht, dass der Graf ihre Eltern besucht hat. Doch als die Mutter ihr erzählt, dass es Leopardo der Jäger ist, ist sie verzweifelt. „Leopardo, der Jäger! rief die Marquise, und drückte ihre Hand, mit dem Ausdruck der Verzweiflung, vor die Stirn. Was erschreckt dich? fragte die Obristin. Hast du Gründe, daran zu zweifeln?“ (DMvO, S. 29). Wenn die Marquise tatsächlich nicht weiß, wer der Vater ist, muss sie irgendjemanden erwarten. Es ist also sonderbar, dass sie so verzweifelt ist. Zur Verblüffung der Mutter scheint die Tochter sich erinnern zu wollen: „Gott, mein Vater! rief die Marquise; ich war einst in der Mittagshitze eingeschlummert, und sah ihn von meinem Diwan gehen, als ich erwachte!“ (DMvO, S. 30). Sowohl Politzer als auch Schmidhäuser meinen, dass die Marquise hierdurch ihre Unschuld zeigt. Schmidhäuser schreibt: „Ihr Verhalten im Gespräch mit ihrer Mutter auf dem Landgut – ihre Äußerung, Leopardo habe sich nach dem Mittagsschlummer in verdächtiger Weise von ihr entfernt – ist so völlig ernsthaft und unverkrampft, dass an ihrem entscheidenden Nichtwissen nicht zu zweifeln ist.“ 45 Auch wenn die Marquise und der Graf eine Beziehung gehabt haben, ist es nicht unmöglich, dass Leopardo sie wirklich vergewaltigt hat. Natürlich erschrickt die Marquise, denn man wird nicht bei jedem Beischlaf schwanger. Sie denkt an diesen Mittagsschlummer und bekommt Angst, dass vielleicht der Graf nicht der Vater ist. Sie braucht aber nicht unschuldig zu sein, um hier verzweifelt zu werden. Eine andere Theorie ist, dass die Marquise ganz einfach ihr Spiel nur weiterspielt. Sie muss verzweifelt werden, so dass die Mutter nicht erfährt, dass sie schon den Vater kennt. Die Mutter und der Vater der Marquise glauben jetzt an die Vergewaltigung. Der Vater weint und ist untröstlich. Er hätte beinahe seine Tochter erschossen und jetzt stellt sich heraus, dass sie unschuldig ist. Der Vater und die Tochter werden in einem Zimmer allein gelassen. Die Mutter sieht durch das Schlüsselloch, dass die Marquise auf des Kommandanten Schoss sitzt (DMvO, S. 32). Sie sieht jetzt, wie der Vater „lange, heiße und lechzende Küsse auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! […] saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe […] da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war“ (DMvO, S. 33). Diese Szene deutet deutlich darauf hin, dass der Vater eine sehr seltsame Beziehung zu seiner Tochter hat. Die Tochter leistet auch keinen Widerstand. Wenn diese körperliche Annäherung tatsächlich zum ersten Mal geschieht, ist die Reaktion der Tochter sonderbar. Wenn der Vater sich aber früher an der Marquise vergangen 45 Schmidhäuser 1986, S. 165. Siehe auch Politzer 1977, S. 98. 17 hat, ist es begreiflich, dass sie in dieser Weise nur da liegt und sich ausnutzen lässt. Sie versteht dann, dass es sich nicht lohnt, Widerstand zu leisten. Viele Forscher sind sich darüber einig, dass die Szene jedenfalls aus einem Anlass da ist. Mortimer schreibt: „Some readers simply ignore it, but I am fully in agreement with Deborah Esch, who speaks of ‚the uneasiness produced by these passages‘.“ 46 Politzer erklärt wie speziell diese Szene ist: „…die sublime Schamlosigkeit der Szene ist ohne Vorbild, und selbst in seinem Werk ohne ihresgleichen.“ 47 Pfeiffer spricht auch davon: „Die inzestuöse Beziehung zwischen Vater und Tochter ist mit geradezu schamloser Deutlichkeit vor den Augen des Lesers ausgebreitet […] Von ‚suggestions of incest‘ zu sprechen, ist da eher eine höfliche Untertreibung.“ 48 Was diese Szene bedeuten soll, ist letztendlich schwierig zu verstehen, aber es ist ganz klar, dass sie eine Bedeutung hat. Eine mögliche Bedeutung wird im Folgenden beschrieben. Berna-Simons zitiert Dr. Buschs Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und therapeutischer Hinsicht (1839-43), wo erklärt wird, dass die Schamhaftigkeit „die notwendige Gegenkraft“ sei „welche die Natur der Frau eingepflanzt hat, damit sie nicht die natürlichen Grenzen überschreite, d.h. damit sie den Geschlechtsgenuss nur dort sucht, wo die Gesellschaft ihn erlaubt.“ 49 Wenn die Marquise freiwillig eine sexuelle Beziehung mit dem Grafen gehabt hat, mangelt ihr also laut Busch Schamgefühl. Woher dieser Mangel an Schamgefühl kommt, kann vielleicht dadurch erklärt werden, indem man die Kindheit der Marquise untersucht. Berna-Simons schreibt: „Wie sehr die Entwicklung des Schamgefühls von der sittlichen Erziehung abhängig ist, stellt auch Pastor Wagner (Die Sittlichkeit auf dem Lande 1896) fest, indem er aufzeigt, wie […] elterlichen Intimitäten […] dieses Gefühl gar nicht zustande kommen lassen.“ 50 Wenn der Vater sich früher an der Marquise vergangen hat, kann dies zu mangelndem Schamgefühl geführt haben und dadurch zu der sexuellen Beziehung zwischen der Marquise und dem Grafen. Eine Möglichkeit ist also, dass diese Erklärung beschreibt, warum die Szene überhaupt in der Novelle geschrieben ist. Diese Texte wurden erst einige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Novelle geschrieben, aber man kann vermuten, dass die Ideen schon früher existierten. 46 Mortimer 1994, S. 300. Politzer 1977, S. 114. 48 Pfeiffer 1987, S. 36-37. 49 Zitiert aus Berna-Simons 1984, S. 67. 50 Berna-Simons 1984, S. 69. 47 18 Die Familie sitzt am nächsten Tag und wartet auf den unbekannten Vater. Durch die Tür kommt der Graf ins Zimmer. Die Marquise reagiert sehr sonderbar: „Die Marquise rief: Verschließt die Türen! Wir sind für ihn nicht zu Hause […] Die Marquise wandte sich, und stürzte, beide Hände vor das Gesicht, auf den Sofa nieder.“ Die Mutter fragt: „Was fehlt dir? Was ist geschehn, worauf du nicht vorbereitet warst?“ (DMvO, S. 34). Wenn die Marquise nicht den Vater kennt, muss sie, wie oben schon erklärt, auf irgendjemanden vorbereitet sein. Der Graf ist nicht einmal ein schlechter Gemahl. Er passt ganz im Gegenteil sehr gut für eine Ehe. Mortimer beschreibt seine guten Eigenschaften: His undying passion makes him a lover well suited to rescuing the marquise from her secluded widowhood, and a husband matched to her station in life. His rectitude and honesty have further been proved by his very honorable treatment of the commandant; his manly virtue, by his prowess in battle and the approbiation of his general; and his moral character, by his refuse to disclose the perpetrators of the attack on the marquise, as well as by the fact that he behaves throughout with modesty and honor. As if this were not enough, he is master of a large fortune. 51 Warum ist die Marquise dann so ablehnend gegenüber dem Grafen? Sie sagt sogar: „…auf einen Lasterhaften war ich gefasst, aber auf keinen - - - Teufel!“ (DMvO, S. 35). Die Eltern und der Graf einigen sich darauf, dass eine Heirat stattfinden soll, aber die Marquise weigert sich immer noch. Erst als der Graf verspricht, dass er „auf alle Rechte eines Gemahls Verzicht tat, dagegen sich zu allen Pflichten, die man von ihm fordern würde, verstehen sollte“, ändert sie ihre Antwort (DMvO, S. 36). Es kann sein, dass sie nur ihr Spiel spielt und sich deshalb immer noch benimmt als ob der Graf der Vergewaltiger ist, damit die Eltern daran glauben sollen. Oder vielleicht kann das sonderbare Benehmen der Marquise so gedeutet werden, dass sie die Unterwerfung des Grafen wünscht. Sie will etwa eine Versicherung haben, dass die Ehe sich so gestalten wird, wie sie sich es vorgestellt hat. Der Graf unterwirft sich auch nach der Heirat. Er ist zurückgezogen, was die Marquise wünscht. Er kommt auch nach der Geburt des Kindes mit „eine[r] Schenkung von 20 000 Rubel an den Knaben, und […] ein[em] Testament […], in dem er die Mutter, falls er stürbe, zur Erbin seines ganzen Vermögens“ einsetzt (DMvO, S. 37). Nach dieser Schenkung ist er öfter im Haus eingeladen und er zeigt sich bald darin jeden Tag. Nach Verlauf eines Jahres, bekommt er ein zweites Ja-Wort von der Marquise und eine zweite Hochzeit wird gefeiert, „froher als die erste, nach deren Abschluss die ganze Familie nach V… hinauszog“ (DMvO, S. 37). Die zweite Ehe ist auch eine glückliche Ehe, was gezeigt wird durch das Ende: „Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem Ersten…“ (DMvO, S. 37). Warum ist die Marquise jetzt ganz plötzlich fröhlich und liebend dem Grafen gegenüber? 51 Mortimer 1994, S. 296. 19 Mortimer schreibt über „the impossible co-existence of rape and love“ und meint: „What is certain is that there is no compensatory mechanism that uses love to balance or cancel rape.“ 52 Auch Künzel findet diese Szene sehr sonderbar: „Eine Vergewaltigung ist und bleibt letztendlich eine Verletzung, die – mit den Worten des Textes – der ‚alten Ordnung der Dinge‘ nicht assimiliert werden kann.“ 53 Die Schädigung des Opfers ist viel schlimmer als das. Künzel schreibt dazu: „Die Schädigung des Opfers wird also als eine dem Tod ähnliche Verletzung verstanden, insofern ‚schlimmer‘ als tot, als das Opfer mit der schweren Verletzung leben muss.“ 54 Wenn die Marquise vergewaltigt worden ist, ist es also unglaubwürdig, dass sie ihren Übeltäter verzeihen und lieben kann. Auch hierzu schreibt Künzel: Wenn es tatsächlich bloß eine ‚Frage der Zeit‘ war, bis die Marquise ihren Vergewaltiger heiraten würde, dann muss ihre energische Abneigung gegenüber dem Grafen allerdings übertrieben und unglaubwürdig wirken. Zieht man die physischen und psychischen Belastungen in Betracht, denen die Marquise durch die Vergewaltigung ausgesetzt war, dann erstaunt es um so mehr, dass sie ihrem Vergewaltiger nicht nur verzeiht und ihn formal ehelicht, sondern dass sie sich ihm freiwillig zum Geschlechtsverkehr zur Verfügung stellt. 55 Kleist hat niemals in der Novelle entlarvt, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Man kann vermuten, dass er die Entlarvung am Ende haben will, und am Ende zeigt es sich, dass die Marquise sich gegenüber dem Grafen nicht wie gegenüber einem Vergewaltiger, sondern wie gegenüber einem Geliebten, benimmt. Wenn eine Vergewaltigung stattgefunden hat, hat die zweite Heirat überhaupt keine Funktion in der Novelle. Ich bin mir ganz sicher, dass es nicht Kleists Ziel war, Vergewaltigungen zu trivialisieren,56 doch das ist genau das, was die zweite Heirat in diesem Fall macht. Im Gegenteil, wenn es keine Vergewaltigung ist, dann hat die zweite Hochzeit eine wichtige Funktion. Sie zeigt, dass der Marquise und dem Grafen alles gelungen ist. Auch die Kinder der Marquise können uns etwas über die Situation sagen. Politzer erwähnt eine sehr interessante Theorie: Es ist eine ungezählte Reihe von Knaben, welche die Marquise dem Grafen beschert, während sie dem Marquis von O… zwei Töchter geboren hat. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kleist, der in der Geburtshelferin eine so griffige Figur vor den Leser gestellt hatte, auch den alten Ammenglauben gekannt hat, dem zufolge das Geschlecht eines ungeborenen Kindes sich nach jenem Elternteil vorhersagen ließe, der stärker in dem Ehebündnis engagiert 52 Mortimer 1994, S. 301. Künzel 2003, S. 89. 54 Künzel 2003, S. 261. 55 Künzel 2003, S. 81. 56 In Vergewaltigungslektüren (S. 24) schreibt Künzel, dass sexuelle Gewalt ein häufiges Thema in Kleists Texten ist. Es kann also vermutet werden, dass er dieses Problem ernst nahm. 53 20 sei, und zwar im Gegensinne: Dem liebenderen Vater würden Töchter, der liebenderen Mutter jedoch Söhne geschenkt. 57 Wir wissen nicht viel über den Marquis von O… Politzer fasst zusammen, was wir eigentlich wissen: Die Marquise war dem Marquis ‚auf das innigste und zärtlichste zugetan‘ gewesen; von Leidenschaft ist nicht die Rede […] Der Marquis von O… ist wohl ein älterer Herr gewesen; sein Tod in Paris war ein natürliches Ableben. Er mag dem Kommandanten, in dessen Geschäften er reiste, näher gestanden sein als der Marquise. 58 Die Marquise hätte vermutlich diese Ehe nicht selbst gewählt. Frauen bekamen aber ihre Bedeutung durch die Ehe. Sie wurden entweder als verheiratet oder bald verheiratet angesehen. 59 Sie konnte auch nicht eine Scheidung beantragen. Die einzige mögliche Befreiung von einer unbefriedigenden Ehe war der Tod des Ehemannes. 60 Es ist also durchaus möglich, dass die Marquise den Marquis von O… nicht liebte, und sie deshalb nur Töchter bekamen. Folgt man dieser Deutung, so muss sie den Grafen außerordentlich lieben, denn er liebt sie mit seinem ganzen Herzen und macht alles für sie. Trotzdem bekommen sie nur Söhne, was darauf hindeutet, dass die Marquise den Grafen ebenfalls sehr liebt. 5 Schlussbemerkungen Ziel des Aufsatzes war es, Ambivalenzen in der Novelle zu beschreiben und zu zeigen, dass die Vergewaltigungstheorie nicht plausibel ist, wenn man den historischen Hintergrund bedenkt. Das Resultat zeigt, dass es tatsächlich andere Möglichkeiten gibt. In meiner Analyse wird behauptet, dass die Marquise selbst die Beziehung mit dem Grafen gewählt hat. Als Zeichen dafür wird vor allem das Ende gedeutet. Ein solches „Happy-end“ wäre m.E. unmöglich gewesen, wenn der Graf die Marquise vergewaltigt hätte. Der historische Hintergrund zeigt, dass es in dieser Zeit mehrere Auffassungen über Frauen, Schwangerschaften, Ohnmachten usw. gab, die nicht mit der Vergewaltigungstheorie übereinstimmen. Es wurde behauptet, dass Schwangerschaft eine Folge des weiblichen Orgasmus sei. Laut dieser Vorstellung wäre es unmöglich, durch eine Vergewaltigung schwanger zu werden. Ohnmachten wurden als eine Verhaltensstrategie in moralisch zweifelhaften Situationen betrachtet. Es wäre also möglich, dass die Marquise die Ohnmacht 57 Politzer 1977, S. 126. Politzer 1977, S. 126-127. 59 Wiesner 2000, S. 51-52. 60 Wiesner 2000, S. 52. 58 21 nur erfunden hat. Frauen wurden tatsächlich auch als sexuell unersättlicher als die Männer betrachtet und es ist also nicht unglaubwürdig, dass Kleist hier eine Frau beschreiben wollte, die sich als Witwe nach sexueller Befriedigung sehnt. Nach dem alten Ammenglauben können auch die Kinder der Marquise eine Bedeutung in der Novelle haben. Söhne bedeuten dann, dass die Mutter stärker in dem Ehebündnis engagiert ist. In der Novelle selbst gibt es auch mehrere Ambivalenzen. Warum setzt der Graf seinen guten Ruf aufs Spiel? Warum schreibt die Marquise eigentlich eine Anzeige? Meine Annahme ist, dass die Marquise und der Graf alles geplant haben. Sie hatten eine Liebesbeziehung und machen danach alles, um heiraten zu können. Das Benehmen der beiden Hauptfiguren wirkt oft sonderbar, nicht so, als ob eine Vergewaltigung tatsächlich stattgefunden hat. Als Beispiel dafür wird in meiner Analyse unter anderem das Treffen am Landsitz benutzt. Hier wird eine sonderbare Annäherung des Grafen beschrieben, der sich die Marquise nicht verweigert. In meiner Analyse schlage ich auch eine alternative Interpretation zum Fiebertraum des Grafen vor. Hier wird der Traum nicht als eine Metapher der Vergewaltigung gedeutet, sondern als eine Art Zukunftserzählung. Diese Deutung stimmt auch besser mit der Schreibtradition Kleists und seiner Zeitgenossen überein. Eine alternative Interpretation der inzestuösen Szene zwischen der Marquise und ihrem Vater wird auch beschrieben. Hier wird behauptet, dass Schamgefühl der Marquise wegen elterlicher Intimitäten mangelt. Von mangelndem Schamgefühl wurde geglaubt, dass es die natürlichen Grenzen störe. Dies kann die freiwillige Beziehung zwischen der Marquise und dem Grafen erklären. Die Analyse hat deutlich gezeigt, dass es nicht so unglaubwürdig ist, dass die Marquise nicht vergewaltigt worden ist – dass es viele Stellen im Text gibt, die sich, besonders vor dem Hintergrund der historischen Forschung, eher für eine andere Deutung öffnen. Die meisten Literaturwissenschaftler meinen, dass die Marquise vergewaltigt worden ist. Meine Arbeit bietet eine andere Theorie an, und zwar bin ich sehr konsequent dieser Theorie gefolgt. Es gibt Ansätze zur Behauptung der Verantwortung der Marquise in anderen Texten, aber ich weiß von keiner Interpretation, die zeigt, dass diese Theorie für das ganze Buch stimmt. Im Rahmen dieses Aufsatzes war es nicht möglich, weitere Studien zum historischen Hintergrund zu lesen. Die historische Forschung enthält aber vermutlich mehr Ideen, die ich hätte benutzen können. Als ich die Novelle so eingehend las, entdeckte ich auch andere Deutungen. Wenn ich noch einen Aufsatz schreiben würde, würde ich auch gerne die Möglichkeit untersuchen, ob 22 vielleicht einer der Soldaten der Vater des Kindes sein könnte. Die Marquise wird tatsächlich von ihnen fortgeführt und sie muss unter schändliche Misshandlungen leiden. Der Graf sieht vielleicht das Ganze, denn er kommt und rettet die Marquise. Alle Soldaten werden erschossen und der Graf fühlt sich vermutlich daran schuldig, dass der Vater des Kindes tot ist. Deshalb übernimmt er die Rolle des Vaters. Die Marquise weiß, dass die Soldaten sie vergewaltigt haben und will deshalb nicht, dass der Graf eine Rolle übernimmt, die er nicht zu verantworten hat. Über das Kind wird auch in der Novelle nur gesagt, dass es ein Ruße ist. Die Soldaten waren russische Soldaten, was es nicht unmöglich macht, dass jemand von ihnen der Vater ist. 6 Literaturverzeichnis Primärliteratur Kleist, Heinrich von (2007) [1810]: Die Marquise von O… Husum/Nordsee. Sekundärliteratur Allan, Seán (1997): „…Auf einen Lasterhaften war ich gefasst, aber auf keinen --- Teufel – Heinrich von Kleist’s Die Marquise von O…“ In: German Life and Letters. 50; 3, S. 307-322. Bentzel, Curtis C. (1991): „Knowledge in Narrative – The Significance of the Swan in Kleist’s Die Marquise von O…“ In: The German Quarterly. 64; 3, S. 296-303. Berna-Simons, Lilian (1984): Weibliche Identität und Sexualität – Das Bild der Weiblichkeit im 19. Jahrhundert und in Sigmund Freud. Frankfurt. Blankenagel, J.C. 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