Wladimir Putin

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Wladimir Putin
Wladimir Putin
Wohin steuert er Russland?
Autor: Boris Reitschuster
Herausgegeben von Andreas Umland
Erschienen: 01.2004 im Verlag Rowohlt Berlin
ISBN: 3-87134-487-7
Seitenzahl: 335
Sprache(n): Deutsch
Kurzbeschreibung: Wer ist Wladimir Putin? Auch nach vier Jahren an der
Macht bleibt der russische Präsident eine rätselhafte Figur. Er regiert sein
Land in Zarenmanier, lässt in Tschetschenien einen grausamen Krieg führen
und unterdrückt jeden Widerspruch. Und doch ist seine Popularität in
Russland ungebrochen. Auch im Westen wird er als verlässlicher Partner und
Garant der Stabilität geschätzt. Es gibt kaum Zweifel, dass Putin auch über
das Jahr 2004 hinaus Präsident bleiben wird. Doch wohin steuert er
Russland?
Inhalt:
Vorwort
Der Gegenreformator
Sturm auf dem Gipfel
Der gute Zar
Der Einfall
Die Familie
Putins Auftritt
Operation Nachfolge
Kompromat
Das Leitmotiv
Die Rjasaner Spur
Puting
Wahl ohne Qual
Nord-Ost
Sekt an der Front
Momentaufnahme aus der Hölle
Nord-Ost
Die Medien
Opfer oder Täter?
Der Latex-Präsident
Der Fernsehputsch
Deutsche im Visier
Potemkinsche Demokratie
Die doppelte Kranzniederlegung
Geisterstimmen
Petersburger Fassaden
Die gesteuerte Demokratie
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Parteien aus der Retorte
Der Drang nach Westen
Die harte Hand
Geheime Dienste
Die Kastration der Provinzfürsten
Handzahme Duma
Putin in Bronze
Wolodja als Führer
Zar und Zauderer
Kursk
Das Geheimnis auf dem Meeresboden
Faust auf dem Tisch
Krake Korruption
Mafia
Die Macht der Kader
Der Drahtseil-Akt
Countdown im Zeitraffer
Ausblick
Danksagung
Weiterführende Literatur
Zeittafel
Personenregister
Anhang
Karten
Themen- und Buchbesprechung
Ein kalter Schauer läuft einem bei der Lektüre dieses Buches über die Schultern. Man
fühlt sich in ferne dunkle totalitäre Zeiten zurück versetzt und sieht sich mit einer schaurigen
Zukunft konfrontiert, ungefähr so wie sie Wladimir Woinowitsch in den Achtzigerjahren mit
seiner bizarren Science-Fiction-Satire "Moskau 2042" prophezeit hatte.
Da ist es einem marginalen (?) KGB-Agenten auf wundersame Weise tatsächlich
gelungen, aus den beschaulichen Niederungen einer sich am Ende ihrer Existenz befindlichen
Altkommunismus-Provinz namens DDR, an der Glasnost und Perestrojka mehr oder weniger
unbemerkt vorübergehen konnten, dank der Förderung durch den Sankt Petersburger
Gouverneurs Sobtschak in die Höhen der nationalen und internationalen Politik Russlands
katapultiert zu werden, urplötzlich und eher zufällig. Jetzt hat Boris Reitschuster, Leiter des
Moskauer Büros des Nachrichtenmagazins "Focus", ein spannendes, journalistisch aufbereitetes
Sachbuch dazu geschrieben.
Die 1990er Jahre gingen in Russland als das Jahrzehnt des Raubkapitalismus in die
Geschichte ein, wo schlaue und unverfrorene Ex-Nomenklaturisten, skrupellose
Geschäftemacher und die erbarmungslose Russenmafia mit dem Segen eines ebenso ruchlosen
Staatspräsidenten namens Jelzin unter ungehemmter Umgehung der geltenden Gesetze landauf
landab plündern konnten, um die lukrativsten Teile, sprich vormaliges Staatseigentum, zu
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privatisieren und auf diese Weise zu unermesslichem Reichtum zu gelangen. Dem Westen
wurde dies als Demokratie und Marktwirtschaft verkauft. Beresowskij, Gusinksij,
Abramowitsch, Chodorkowskij, übrigens alles Russen jüdischer Herkunft, sind nur die
schillerndsten Namen einer langen Liste von Oligarchen und wohl die Spitze des Eisbergs.
Natürlich hatte das Volk das Nachsehen; am Ende verlor es bei der Rubelkrise von 1998 - nicht
zum ersten und wohl auch nicht zum letzten Mal - sogar noch sein mühsam erspartes
Vermögen. Seit her ist in Russland der Ausdruck "Reform" zum allseits meistgehassten Unwort
avanciert.
Um die Macht und ihren Reichtum nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, musste der
Jelzin-Clan, in dem die Tochter Tatjana Djatschenko, die im Charakter ihres unberechenbaren
Vaters nicht nachsteht und immer mehr Einfluss erlangte, von den Neureichen umworben
werden. Trotz eines schweren Herzinfarktes - diese Nachricht wurden den Wählern und
Wählerinnen ebenfalls vorenthalten - gelang 1996 die Wiederwahl des senilen und
zunehmenden verhassten Schwerstalkoholikers zum Präsidenten Russlands, der das Land fortan
nur noch per Ukas lenken sollte.
Reitschuster, der 1990 nach Moskau kam und über Insiderwissen verfügt, beschreibt
die Rolle einer ganzen Reihe von Kreml-Akteuren: von skurrilen Beamten wie Borodin,
Skuratow, Bordjuscha, Woloschin, über Politiker, die auch im Westen ernst genommen wurden
wie Kowaljow, Tschubais, Javlinskij, Selesjnov, Kirijenko, Stepaschin und Primakov bis eben
zu den Mitgliedern des legendären Clans von "Zar Boris" und den Oligarchen. Irgendwo
dazwischen kommt auch noch der verstaubte Kommunistenführer Sjuganow vor. Und natürlich
Putin, der Mann den niemand kannte.
Unter Putin, der nach der Meinung Vieler in- und ausserhalb Russlands mit Demokratie
und Menschenrechten offenbar wenig anzufangen weiss, treibt die allmächtige russische
Bürokratie wieder ihre Blüten, das Ausländerrecht wurde drastisch verschärft, kritische Fragen
zum Tschetschenienkrieg sind verpönt - da pflegt der coole Wladimir gewöhnlich mit
unerwartet groben Ausfällen auszurasten; den Ganovenjargon scheint er bestens zu
beherrschen. Reitschuster reiht Putin hemmungslos in die Ahnengalerie der finsteren Gestalten
der Gegenreformer, zu denen auch Alexander III., Stalin und Andropow zu zählen seien, im
Gegensatz zu den "Lichtgestalten" Alexander II., Chruschtschow, Gorbatschow. Letztere
wurden bekanntlich entweder ermordet oder sonst gewaltsam entmachtet.
Putin hat es sich höchstpersönlich zum Ziel genommen, das Oligarchengeschwür in
seinem Riesenreich auszuschalten - die einen befinden sich ja im Exil und die anderen im
Gefängnis. Mit dem entschiedenen Willen den Terrorismus auszurotten, möchte sich der
Präsident Russlands gleichzeitig für gute Beziehungen mit dem Westen einsetzen, davon
überzeugt ist er wahrscheinlich selbst nicht, und trotz Tschetschenienkrieg, der Putin an die
Macht brachte und auf dem der Westen noch immer herumhackt, weil dort Menschenrechte
missachtet werden. Ein russischer Staatspräsident neuen Typs, der aufs Ganze setzt? Putin ist
einer der unheimlichsten Politiker Russlands, bis vor Kurzem wusste man wenig über ihn,
vielleicht gibt es auch wenig Wissenswertes, eine mehrbändige Hofbiographie ist jedenfalls im
Entstehen - Putins Geschichte scheint eine weitgehend langweilige zu sein. Dennoch hat sich
die Informationslage verbessert. Inzwischen weiss man, dass der schmächtige Putin in seinen
Jugendjahren als Halbstarker in den Petersburger Hinterhöfen sich mit Rivalen ständig prügeln
musste um sich zu behaupten und dass er erst mit Verspätung in die Pionierorganisation
aufgenommen wurde. Seine DDR-Zeit als KGB-Offizier galt bisher als weisser Fleck in seiner
geheimnisvollen Biographie. Die Welt wartet mit Sehnsucht auf neue Enthüllungen.
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Bis heute ist öffentlich unklar, warum Jelzin sich plötzlich zum Rücktritt drängte und
welche die Umstände der Inthronisierung des Kronprinzen Putins gewesen waren. Auf jeden
Fall erliess Putin einen Ukas, wonach Jelzin und seiner Familie zahlreiche Privilegien gewährt
und lebenslange Straffreiheit, die auch für mögliche künftige Straftaten gelten, zugesichert
wurden. Hatte Jelzin etwas zu verbergen? Putin, der als KGB-Mann eine eiserne Loyalität
bewiesen hatte, schien der richtige Nachfolger zu sein. So Leute wie Kirijenko und Stepaschin,
die man auf dem Sitz des Ministerpräsidenten ebenfalls als mögliche Nachfolgekandidaten
verschleuderte, kamen offenbar nicht mehr in Frage.
Unter Ministerpräsident Putin, der zuvor als FSB-Chef eine Leiter in seiner Karriere
weiter nach oben gerückt war, passierten verschiedene Zwischenfälle, die bis heute nicht
enträtselt sind. Es wurden sogar Stimmen laut, nicht zuletzt aus der Ecke Beresovskijs, der sich
mit Putin endgültig verkracht hatte, die wiederholten Sprengstoffattentaten in Moskau und
verschiedenen Gegenden Russlands, bei denen Häuser zusammenfielen und zahlreiche
Menschen umkamen, seien als bewusste Provokationen vom FSB organisiert worden, um Putin
erpressbar zu machen und um einen Grund zu haben, gegen Tschetschenien militärisch
vorgehen zu können. Um Aufklärung all dieser Merkwürdigkeiten ist in Russland offenbar
niemand wirklich bemüht, am wenigstens die Mächtigen selbst. Traditionell gilt in Russland das
Gesetz des Schweigens als beste Antwort auf kritische Fragen, wie Reitschuster bemerkt.
Welches auch immer die Hintergründe dieser Zerstörungswelle gewesen war, in einer
"Operation Nachfolge" musste in aller Eile ein neuer Präsident aus dem Boden gestampft
werden, und man entschied sich für Putin, denn man war überzeugt, dass er der Richtige ist.
Durch seine künstlich aufgebauschte Allgegenwart in TV, Radio und Medien waren damals
nicht nur neue Putinwitze entstanden, sondern es wurde dafür gesorgt, dass der JelzinNachfolger landesweit auch durchkommt, was dann auch gelang. Wie weit diesem positiven
Wahlausgang manuell nachgeholfen wurde, ist bis heute wie so viel anderes ebenfalls unklar. In
Russland ist eben alles möglich, wie ein altes Sprichwort bestätigt. Nur das Eine sollte man
unterlassen: sich gegen den Kreml stemmen, will man es vermeiden, in das politische Nichts
verstossen zu werden.
Das gilt auch für die Medien, in noch verstärkter Weise vor allem seit dem Geiseldrama
im Theater Nord-West, ein weiterer höchst peinlicher Fall für Präsident Putin. Wahrscheinlich
sind dort 100 Personen umsonst gestorben, weil man mit den vergasten Opfern unprofessionell
umging. Während die russische TV-Berichterstattung jetzt erneut den Stil des Sowjetfernsehens
angenommen hat, werden die Zeitungsredaktionen von Geheimdienstlern visitiert und schwer
schickaniert. Die Medienschlacht hat bereits auch schon die zwischenstaatliche Ebene erreicht,
wenn die Russen in geharnischten Beschwerdebriefen etwa der ARD zum Verstehen geben,
dass ihre (einseitigen?) Tschetschenien-Sendungen eigentlich nur die Sache der Separatisten
und Terroristen unterstütze und mit Konsequenzen aus Moskau drohen. Dank seinen guten
Deutschkenntnissen bekommt Putin so ziemlich alles mit. Auch viele einfache Menschen in
Russland können nicht begreifen, wieso das Westpublikum an im TV zur Schau gestellten toten,
verstümmelten Leichen von tschetschenischen Terroristen kein Gefallen findet - offenbar
unterscheidet sich das Verständnis von Menschenrechten in Ost und West. Leider denken viele
Russen und Russinnen in Russland über westliche Politiker so wie sie ihre eigenen russischen
wahrnehmen, und zwar weitgehend negativ. So herrscht in den russischen Medien seit Putin
wieder ein Klima der Verunsicherung und der Angst vor. Da Russland nicht mehr wie zu
Sowjetzeiten hermetisch gegen aussen abgeriegelt ist, dringen die Nachrichten ins Ausland, was
den Geheimdienstlern, allen voran Putin selbst, ganz und gar nicht behagt. Es ist davon
auszugehen, dass Putin die Deutschen nicht (mehr) liebt (ausser in der Bierkneipe), und die
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Deutschen Putin nicht gemocht haben, und zwar von Anfang an. Aber die Diplomatie kennt
andere Regeln.
Reitschuster findet kaum etwas Positives an Putin. Mit seinen zweifelhaften Methoden
und mit seiner Intransparenz hat sich der russländische Präsident in zu viele Probleme verstrickt.
Im Westen scheint sich allmählich die Meinung durchzusetzen, dass unter Putin die Demokratie
in Russland ins Abseits gelenkt wird (OE DGO 1/2004), der mit demokratischen Mitteln
versucht, Formen der Diktatur, wie man sie aus von früher kennt, wieder herzustellen (OE DGO
S. 1255). Dies wäre für Russland, für Europa und für die ganze Welt fatal und für die
Freiheitsentwicklung in Russland als äusserst schädlich zu bezeichnen.
Andreas Künzli, Januar 2004
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