dreizehn - Schulkino Dresden
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dreizehn - Schulkino Dresden
DREIZEHN Ein Film von Catherine Hardwicke Filmbegleitheft von Andreas Rost Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus Impressum Gesamtverantwortung: Elisabeth Wicki-Endriss / Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V. Leitung der Jugendkinotage: Steffi Stadelmann, Marianne Falck Koordination im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Dr. Ernst Wagner Redaktion dieses Filmbegleitheftes: Dr. Andreas Rost Lektorat: Steffi Stadelmann, Marianne Falck Autor dieses Filmbegleitheftes: Dr. Andreas Rost Bildnachweis: Twentieth Century Fox of Germany (alle Rechte vorbehalten) Layout und Satz: Wolfgang Perez Druck: Verband Druck und Medien Bayern 1. Auflage, München 2005 Printed in Germany ISSN 1860-1294 Vertrieb Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V. Pagodenburgstr. 2, 81247 München Tel.: 089 / 811 52 67, Fax: 089 / 81 08 93 45 E-Mail: [email protected] Homepage: www.bernhardwicki.de „Ich habe immer versucht, nicht Theorien und Leitsätze zu verkaufen, sondern Leben, weil ich glaube, dass das der einzige Weg ist, an Menschen heranzukommen, wenn sie sich in einem Stück Leben wiedererkennen.“ Bernhard Wicki DREIZEHN Editorial »Jugendkinotage – Die Brücke« und Jugendfilmclubs Grenzen zu überwinden, eine gemeinsame Sprache zu sprechen, vor der Besorgnis erregenden Eskalation der Gewalt zu warnen, ist Bernhard Wickis Vermächtnis und Ziel des Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V. In unserer multinationalen und multikulturellen Gesellschaft, in der Ausgrenzungen an der Tagesordnung sind, will er Wegbegleiter für Heranwachsende sein, für deren Identitätsbildung und Willensentscheidung gegen jegliche Art von Gewalt und Verfolgung von Menschen anderer geistiger Prägung. »Film kann die Welt nicht verändern oder verbessern, er kann aber Stimmung schaffen.« (Bernhard Wicki) Das Medium Film besitzt eine enorme emotionale und suggestive Kraft. Vor allem junge Menschen können über das gemeinsame Erlebnis Film besonders unmittelbar erreicht werden. Deshalb hat der Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V. unter der Schirmherrschaft von Staatssekretär Karl Freller in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus die »Jugendkinotage – Die Brücke« ins Leben gerufen. Gemeinsam initiieren und unterstützen der Fonds und seine Partner darüber hinaus die Gründung von Jugendfilmclubs. Schüler aller Schultypen können im Rahmen der Jugendkinotage Filme im Kino sehen, die in unterschiedlichster Form, sowohl historisch als auch vor aktuellem Hintergrund, inhaltlich stimmige Geschichten erzählen und den Umgang mit Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung thematisieren. Die Filmvorführungen werden von Filmemachern und Schauspielern begleitet. Schülersymposien und Filmgespräche mit Darstellern, Regisseuren und Filmexperten sollen die tiefere Auseinandersetzung mit den Filmen und ihren Themen sowie den Austausch zwischen den Jugendlichen anregen. In den Jugendfilmclubs schließen sich Schüler – betreut von einem Lehrer – zu eigenverantwortlichen Gemeinschaften zusammen, um sich anhand künstlerisch und thematisch herausragender Filme mit jugendrelevanten Themen auseinander zu setzen. In so einer Gemeinschaft erwerben Schüler wesentliche soziale Kompetenzen. Sie lernen, selbst Lösungen für Konflikte in der Gruppe zu finden, als Vermittler aufzutreten und Eskalation zu vermeiden. 2003 wurden die Jugendkinotage erstmals in München und Nürnberg veranstaltet. 2004 kam als dritter Ort Oberstdorf hinzu. 3.500 Schüler aller Schularten – von der Förderschule, über Haupt- und Realschule bis hin zu Gymnasien und Berufsschulen – haben sich letztes Jahr mit Filmen wie DIE BRÜCKE, ALASKA.DE und DER NEUNTE TAG auseinander gesetzt. 2005 gehen die Jugendkinotage in die dritte Runde, in Oberstdorf gibt es den ersten Jugendfilmclub, weitere werden derzeit in München und Nürnberg aufgebaut. Auf dem Programm stehen neben DIE BRÜCKE die Filme DREIZEHN, DIE BLINDGÄNGER und NAPOLA. Die Jugendfilmclubs werden in die Gestaltung der Jugendkinotage einbezogen und übernehmen die Moderation der Schülersymposien. Als Basis sowohl für die Vorbereitung als auch für die spätere Auseinandersetzung mit den Filmen und den daraus resultierenden Themenbereichen erhalten die Mitglieder der Jugendfilmclubs und die Lehrer der an den Jugendkinotagen teilnehmenden Klassen umfangreiche Materialien (Filmbegleithefte). 2 DREIZEHN Editorial Über das gemeinsame Erlebnis Film sowohl auf den Jugendkinotagen als auch in den Jugendfilmclubs soll Neugierde für den anderen geweckt werden. »Wenn ich Dich nicht kenne, kann zwischen uns kein Frieden herrschen« – und – »Kinder müssen miteinander reden, nicht nur Politiker«. Das sind Aussagen eines israelischen Jungen und eines palästinensischen Mädchens, die Gültigkeit haben gerade auch in unserem Land. Die Jugendkinotage und die Jugendfilmclubs sollen hierfür die Basis schaffen und zum Forum aktiver, lebendiger Kommunikation werden. Die Heranwachsenden sind die Zukunft unseres Landes. Sie gestalten eines Tages sein geistiges, soziales und politisches Klima. Was gibt es Wichtigeres, als sie hinzuführen zu einem besseren Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat. Elisabeth Wicki-Endriss München 2005 3 DREIZEHN Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Credits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Stellenwert des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Sequenzprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Handlungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Figureninventar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Themen und Detailanalysen Pubertät und Identitäsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Showdown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Tracys Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Drogenrausch und harte Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Filmstil Kadrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Verkantete Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Farbdramaturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Lichtführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ton und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Bearbeitungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 – Einsatzmöglichkeiten im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 – Erschließungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 – Arbeitsblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Mediografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4 DREIZEHN Credits Credits Land / Jahr Laufzeit Bild Ton FSK Altersempfehlung Jugendkinotage Kinostart (D) Verleih USA / GB 2003 ca. 100 min. (Kino); ca. 96 min. (DVD) 35 mm; 1:1,85; Farbe (gedreht auf Super16) Dolby Digital Freigegeben ab 12 Jahren ab 14 Jahren 13.11.2003 (USA 20.08.2003) Twentieth Century Fox of Germany Produktionsstab Produktion Produzenten Co-Produzentin Ausführende Produzenten Drehbuch Regie Kamera Schnitt Musik Musik Supervision Production Design Kostüme Sound Design und Supervision Art Director Michael London Productions & Working Title mit Antidote Films Jeffrey Levy-Hinte (Antidote Films), Michael London (M. London Productions) Rosemary Marks Tim Bevan, Eric Fellner, Liza Chasin, Holly Hunter Catherine Hardwicke, Nikki Reed Catherine Hardwicke Elliot Davis Nancy Richardson Mark Mothersbaugh Amy Rosen, Michelle Norrell Carol Strober Cindy Evans Frank Gaeta Johnny Jos Besetzung Tracy Louise Freeland Evie Zamora Melanie Freeland Mason Freeland Brady (Melanies Freund) Travis (Melanies Ex-Mann) Luke (Nachbar) Noel Astrid Brooke LaLaine Carol (Birdie in der OF) Cynthia Javi Energie-Projekt-Lehrer Evan Rachel Wood Nikki Reed Holly Hunter Brady Corbet Jeremy Sisto D.W. Moffett Kip Pardue Vanessa Anne Hudgens Jenicka Carey Deborah Kara Unger Sarah Clarke Cynthia Ettinger Charles Duckworth Jamison Yang Auszeichnungen Gewinner Sundance Filmfestival – Beste Regie: Catherine Hardwicke Silberner Leopard 56. Filmfestspiele Locarno – Bestes Erstlings- oder Zweitwerk Bronze Leopard 56. Filmfestspiele Locarno – Beste Darstellerin: Holly Hunter 5 DREIZEHN Inhalt / Stellenwert des Films Inhalt Die 13-jährige Tracy lebt mit ihrem Bruder Mason bei ihrer alleinerziehenden Mutter Mel, die sich mit Gelegenheitsarbeiten (z.B. als Friseuse) mehr schlecht als recht durchschlägt. Zu Schuljahresbeginn muss Tracy erleben, wie sie bei ihren Schulkameraden abgemeldet ist, weil deren Aufmerksamkeit von der gleichaltrigen Evie vollends aufgesogen wird, die – nach neuester Mode gestylt – sich sexy in Szene zu setzen weiß. Mittels eines Geldbörsendiebstahls gelingt es Tracy, sich bei der von nun an als modellhaft empfundenen Evie im wahrsten Sinn des Wortes »einzukaufen« und Geltung zu verschaffen: Evie und deren Freundin kommen dank Tracy in den Genuss einer kostenlosen Shopping-Tour. Von nun an ist Tracy in Evies Clique aufgenommen, die außer der Bekanntschaft mit Jungen auch die mit Alkohol und Drogen zu bieten hat. Tracy, die anfangs ihre Mutter und Lehrer durch selbstverfasste Gedichte zu beeindrucken wusste, macht eine tiefgreifende Veränderung durch. Dies manifestiert sich zum einen äußerlich durch den von nun an gepflegten Lebens- und Kleidungsstil (u.a. mit Hüfthosen, String-Tangas und Piercings), zum anderen macht es sich als Fehlen und Nachlassen in der Schule bemerkbar. Evie, die weder Vater noch Mutter besitzt und bei einem Vormund lebt, wohnt und schläft immer häufiger bei Tracy im Zimmer und arbeitet darauf hin, von deren Mutter gänzlich adoptiert zu werden, was diese jedoch letztlich ablehnt, nachdem sie Evies negativen Einfluss auf Tracy erkennt. Nachdem Tracys Mutter die Adoption abgelehnt hat, rächt sich Evie, indem sie ihre in Tracys Zimmer versteckten Drogen als Tracys Bestände ausgibt. Nach wüsten Beleidigungen und haltlosen Vorwürfen durch Evie und deren Vormund gegenüber Tracy und deren Mutter wirft diese die beiden erstgenannten aus ihrem Haus und nimmt – nach Offenbarung von Tracys selbstbeigebrachten Schnittverletzungen – ihre in Tränen aufgelöste Tochter versöhnlich in die Arme. Stellenwert des Films Wenn der Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds sich als »Wegbegleiter für Heranwachsende« versteht und »deren Identitätsbildung und Willensentscheidung gegen jegliche Art von Gewalt und Verfolgung von Menschen anderer geistiger Prägung« unterstützt, so hat dieser Vorsatz im Film DREIZEHN – ES PASSIERT SO SCHNELL seinen Dreh- und Angelpunkt vor allem im Prozess der Identitätsbildung. Diese bringt gerade in unserer so freien kapitalistischen Gesellschaft unter dem Diktat von Gruppennormen Jugendlicher ›Zwangsjacken der Konformität‹ hervor, die Andersartigkeit schnell mit Ächtung bzw. Abgemeldet-Sein bestrafen. Identitätsbildung wird im kritischen Alter der Pubertät heutzutage – trotz redlicher Bemühungen – immer weniger von Eltern und Schule beeinflusst als vielmehr von anderen, sozusagen »verdinglichten Lehrern« geleitet, die ihre Identifikationsangebote über allgegenwärtige Leitbilder in Filmen, Fernsehen und Werbekampagnen ausstreuen. Kurz, in der Waren- und Konsumgesellschaft und erst recht in der Informationsgesellschaft sind die »Dinge« – Produkte, Sachzwänge, Netzzugänge, Daten – zu den alles dominierenden Lehrern geworden. ... Wenn nun aber ...die Dinge zu den wichtigsten Lehrern geworden sind, und wenn sich diese »Dinge« weiterhin in der uns bekannten Rasanz fortentwickeln, verändern, dann droht ... der pädagogische Dialog zwischen den Generationen zu zerbrechen. Damit aber stünde Bildung, ob sie sich nun in der Erziehung, in der Schule, in der Ausbildung, im Studium oder im Beruf ereignet..., grundsätzlich zur Disposition. (Daniel Goeudevert: Der Horizont hat Flügel; München: Econ Ullstein, 2002; S. 84 – 86) Ein Slogan, den der besagte Film als Signum unserer Zeit aufgreift, in der Figuren wie Paris Hilton die leidenschaftliche Bewunderung von Zwölfjährigen genießen, lautet: »Beauty Is Truth« und spielt auf die medial ventilierte Oberflächlichkeit an, mit der man heutzutage Eindruck und Karriere macht. In den USA ist das Phänomen unter dem Stichwort »Girl Culture« seit geraumer Zeit bekannt: Mädchen, die mit Model-Make-up jeden Tag so bestreiten, als ob sie auf ein Film- oder Werbe-Casting gingen und beim Schminken vor dem Spiegel täglich mehr Zeit als mit den Hausaufgaben verbringen, die – und so formuliert es das exzellente Presseheft des Fox-Filmverleihs – 6 DREIZEHN Stellenwert des Films ... stolz zeigen, was ihnen Natur und Geldbeutel gegeben haben, die auf der Überholspur leben, lange bevor sie 18 werden. ... Aber wieso wenden Mädchen genau in diesem Alter, wenn sie am verletzlichsten sind, wenn sie zum ersten Mal hart erkämpftes Selbstvertrauen entwickeln und sich noch sehr zerbrechliche Identitäten ausbilden, Unmengen von Energie und Geld dafür auf, einem abstrakten Ideal nachzueifern, um hip, cool, schlank, sexy und bereit für alles sein zu können? Viele Soziologen und Familientherapeuten warnen vor der Girl Culture und den Auswirkungen auf Jugendliche, die plötzlich in eine gnadenlose Welt hineingeworfen werden, in der es nur um Konsum, Sex, Drogen und Aggressionen geht. Teenager, die Extreme ausgelebt haben, gab es schon immer. Jetzt aber ist das Extrem zur Normalität geworden, und selbst die aufgewecktesten und besterzogenen Kids werden von diesem Irrsinn angesteckt, im Image-fixierten Mikrokosmos der Junior High School kein Außenseiter sein zu wollen. (Presseheft des Filmverleihs, 2003; S. 7) Der Film unterscheidet sich durch seinen Ausgangspunkt im wirklichen Leben der damals 13-jährigen Nikki Reed, die mit 14 Jahren zusammen mit der Regisseurin Catherine Hardwicke das Drehbuch geschrieben hat (und die Rolle der Evie spielt, obwohl sie in Wirklichkeit die Rolle der Tracy erlitten hat), wohltuend von den Teenie-Komödien, die gewöhnlich die Kinoleinwände überschwemmen und auf das Weg-Lachen aller ernsthaften Probleme der Jugendlichen und Heranwachsenden ausgerichtet sind. DREIZEHN – ES PASSIERT SO SCHNELL ist ein Film für Jugendliche und Erwachsene, der sich mit den realen Gefahren des Erwachsenwerdens, den prekären Durchgangsstadien einer brüchigen, unter dem Eindruck fragwürdiger Normen ausgeprägten Identität befasst. Heutzutage, wo tradierte Wertvorstellungen und Leitbilder der Erwachsenen ihre bindende Funktion stark eingebüßt haben, ist Identitätsbildung mehr denn je zu einem Wagnis geworden. Der Film versucht die Kluft zu verringern, die sich zusehends zwischen schulischer, intentionaler Erziehung einerseits und funktionaler Erziehung, d.h. Beeinflussung durch außerschulische Angebote andererseits auftut. Bei der Auswahl des Films hat uns nicht zuletzt auch dessen positive Rezensierung durch Jugendliche, wie diese sie z.B. auf den Seiten von amazon.de formulieren haben, bestärkt. Deshalb hier zum Abschluss unserer Auswahlbegründung einige Zitate aus den Kritiken dieser jugendlichen Zuschauer: »Dieser Film öffnet einem in vielem die Augen, und ich finde, dass auch Erwachsene ihn sehen sollten. Auch um ihre Kinder besser verstehen zu können.« »Der Film ist nicht weit von der Realität entfernt, denn wenn man jung ist, hat man die verrücktesten Sachen im Kopf und testet alles aus. Ein Film weit weg von den üblichen US-Teenkomödien-Klischees. Bewegend und tragisch zugleich.« [Ich] »kenne ... keinen Film dieser Art, der realistischer und beklemmender ist.« »Die letzten 15 – 20 Minuten des Films gehen einem wirklich verdammt nahe...« »Eins kann ich euch versprechen: Nach diesem Film werdet ihr erst mal ein bisschen fertig sein und über euer eigenes Leben nachdenken.« »Es ist kein Film, den man sich anguckt und am Ende sagt: ›Mann, war das ein toller Film!‹. Sondern wenn man diesen Film gesehen hat, dann ist man einfach nur sprachlos und muss wirklich nachdenken!!! Erst dann sagt man, wie toll dieser Film war!« »Für mich persönlich das Kinohighlight des Jahres 2003.« »Großartiges Charakterkino, dass man so schnell nicht vergessen wird! Ansehen, staunen, nachdenken!« Was wir den jugendlichen Kritikern jedoch auch mehrmals entnehmen konnten, ist die Empfehlung, dass der Film »nicht unter 14 Jahren angeschaut werden« sollte. Wenngleich er von der FSK in Deutschland ab 12 Jahren freigegeben wurde – in Dänemark und Schweden sogar ab 11 –, so sind in anderen Ländern Eingangshürden ab 15 (Finnland, Norwegen), ab 16 (Brasilien, Frankreich, Niederlande), ab 17 (USA) oder gar ab 18 (GB, Spanien) errichtet. Die letztgenannten Nationen bewegen sich jedoch nicht nur deshalb auf absurdem Grund, weil sie die Altersgruppe, die der Film behandelt und angeht, davon ausschließen, sondern auch dadurch, dass selbst die 14-jährige Co-Autorin Nikki Reed »ihren« Film in diesen Ländern nicht hätte anschauen dürfen. 7 DREIZEHN Sequenzprotokoll Sequenzprotokoll Die Gliederung orientiert sich an den 28 unbetitelten Kapiteln der DVD von ca. 96 Minuten Länge. Unterkapitel sind aus Gründen der Übersichtlichkeit eingefügt worden. Kursivierte Dialogsätze zitieren wortwörtlich die DVD-Tonspur in ihrer deutschen Synchronfassung. Bei der Nummerierung der Bilder bezeugen Buchstabenzusätze wie 1a, 1b, 1c etc., dass diese Abbildungen zu ein und derselben fortlaufenden Einstellung gehören, also kein Schnitt zwischen diesen Bildern erfolgt ist. 1a 1b 1c 2 1.Time Code 0:00:00 – In Tracys Zimmer: »Schlag mich!« 1.1 Vorspann. Inserts von Verleih und Produktionsfirmen. {Harte, hektische Musik mit Schlagzeug, Bass, Gitarre aus dem Off} Aufblende: Naheinstellung einer 13-Jährigen [Tracy] (setzt als Standbild ein und läuft einige Sekunden in Zeitlupe ab). Sie blickt mit Staunen und Verwunderung in die Kamera und damit den Zuschauer scheinbar direkt an. Das Mädchen streichelt sich tranceartig über Kinn und Wange [1a]. Der leicht unscharfe Hintergrund zeigt eine mit (Reklame-)Fotos bedeckte Wand: links ein nackter, sehr muskulöser männlicher Oberkörper, rechts steht ein Teddybär. Die 13-Jährige, die unablässig in die Kamera schaut, fordert: »Schlag mich!« und bekräftigt: »Ich mein’s ernst. Ich spür’ noch gar nichts. Schlag mich!« Eine Ohrfeige von einer bis dahin nicht sichtbaren Person trifft sie [1b]. Das Mädchen ist darüber jedoch belustigt und will nochmals kräftiger geschlagen werden. Es erhält eine zweite, noch heftigere Ohrfeige, die es abermals zum Lachen bringt [1c]. Erst nach ca. 40 Sekunden, mit Beginn der zweiten Einstellung, die in einer Halbtotalen zwei Mädchen im Profil zeigt [2], wird dem Zuschauer das ›Rätsel‹ dieser Ohrfeige aufgelöst und der Handlungsort etabliert. Es ist das Zimmer eines Teenagers, das mit Regalen, (Reklame-)Fotos und Postern bestückt ist: Die Geohrfeigte [Tracy] sitzt ihrer Freundin [Evie] gegenüber auf dem Bett. Beide haben sich durch Inhalieren eines Stoffs aus einer Flasche in einen Rauschzustand – und gleichzeitig einen Zustand der örtlichen Betäubung – ›geschnüffelt‹. Das »Schlag mich«-Spiel steigert sich zu einem wechselseitigen Schlagabtausch, in dessen Folge Tracy vom Bett kippt und sich an einer Kommode die Lippen aufschlägt [3]. Tracys Ring verletzt beim Gegenschlag Evie [4], was diese mit noch größerem Gelächter und einem exaltierten Schrei beantwortet, wobei die Kamera auf ihren Mund zoomt, dessen Zunge ein Piercing erkennen lässt [5]. Zum Abschluss des Vorspanns erfolgt ein Schnitt auf die lachende Tracy, deren Bild zum Standbild gefriert, analog zum Beginn des Vorspanns [6]. Abblende zu Schwarz. 3 4 8 5 6 DREIZEHN Sequenzprotokoll 7 8 9 1.2 TC 0:02:25 – Titeleinblendung {Sanfte Gitarren-Musik} Aufblende: Der Filmtitel der Originalfassung »thirteen« erscheint in Kleinbuchstaben auf schwarzem Grund. 2.TC 0:02:30 – Aufbruch zur Schule 2.1 In der Nähe von Tracys Haus. {Die sanfte Gitarren-Musik setzt sich fort} Aufblende: Das Insert: »four months earlier...« (vier Monate früher) liegt über dem Bild eines Boxerhundes namens Henry, den Tracy an der Leine ausführt. Eine etwas kleinere und kindlicher wirkende Freundin [Noel] folgt ihr durch eine grüne Parklandschaft der Vorstadt [7]. 2.2 Vor dem Haus. Detailaufnahme: Ein in Sandale gekleideter Fuß, dessen Zehen verschiedenfarbig lackiert sind, tritt eine Zigarette aus, deren Stummel anschließend in der Hosentasche der Raucherin versteckt wird. Die Kamera schwenkt im Zuge dieses Vorgangs nach oben und enthüllt eine ca. 40-jährige Frau [Melanie, Tracys Mutter, im folgenden auch nur Mel genannt], die noch eine Kaffeetasse in der Hand hält [8]. Sie wird von Tracy, die mit Noel und Hund vom Spaziergang heimkommt, zur Eile getrieben, weil sie die Kinder in die Schule fahren soll. Die Mutter legt noch Hand an Tracys Schlüpfer [9] mit der Bemerkung: »Den steck’ ich dir lieber rein, bevor dir einer deinen Slip zwischen die Pobacken klemmt«. Noel bringt noch schnell den Hund weg, Tracys älterer Bruder Mason wird herbeigerufen, der sichtlich verschlafen zum Auto kommt [10]. Schließlich gelangen alle in Mels großem, doch etwas älterem Volvo noch rechtzeitig zur Schule [11]. 2.3 Auf dem Schulgelände: Abgeschmettert! Diverse Schülergruppen werden gezeigt. Man sieht weiße wie farbige Schülerinnen und Schüler unter einem Laubengang. Die Kamera begleitet Tracy und Noel, indem sie vor ihnen herfährt. Sie treffen auf Mason mit Schulkameraden. Tracy bittet ihn, sie bei seinen Freunden vorzustellen [12]. Dem Wunsch kommt Mason jedoch nur sehr flüchtig nach, denn plötzlich gilt sein Blick und der seiner Freunde [13] einzig und allein Evie Zamora [14], wie Tracy schockiert feststellen muss [15]. Denn Evie kann sich dank ihrer körperlichen Entwicklung, modischer Kleidung und einer Gefolgschaft aus gleichgesinnten Freundinnen, mit denen sie in breiter Front aufmarschiert, gesteigerter Aufmerksamkeit seitens der Jungen erfreuen, die ihnen 10 11 12 13 14 15 9 DREIZEHN Sequenzprotokoll anerkennend »Knackärsche« nachrufen [16]. Tracy bleibt perplex zurück und hat gegenüber der attraktiveren Evie [17] im wahrsten Sinne des Wortes nur noch das Nachsehen [18] in einer Situation, die sie einzig mit dem Wort »shit« zu kommentieren weiß. 16 17 18 19 3.TC 0:04:11 – Tracys Zuhause: Frisiersalon & Lyrikkabinett Mel ruft nach Haargel, das ihr Tracy, von einer Kamerafahrt begleitet, bringt. Dadurch wird dem Zuschauer die Raumfolge in Tracys Zuhause erschlossen. Ein Reklame-Poster der Firma Sibül in Tracys Zimmer, das ein weiß geschminktes Gesicht zeigt, fällt hierbei erstmals auf [19 – siehe Kreis]. Man sieht Mel bei ihrer ›Erwerbsarbeit‹ [20]: Sie hat gerade Schnitt und Haarfärbung eines kleinen Jungen beendet und stöhnt anschließend über zwei Dollar Trinkgeld, was Tracy Gelegenheit bietet, sowohl die Großzügigkeit ihrer Mutter anzuprangern als auch nachzufragen, ob ihr Vater schon den monatlich fälligen Scheck geschickt habe. Mason entschuldigt einen Zahlungsverzug seines Vaters mit Verweis auf dessen neuen Job. Tracy macht den Versuch, ihrer Mutter ein selbst verfasstes Gedicht vorzulesen, das so beginnt: »Er war verkrüppelt, aber nur sein Körper war gebrochen...« [21]. Dann platzt Mels Freundin Carol mit Tochter Kayla herein. Tracy setzt erneut an und liest das ganze Gedicht vor1. Mel ist sowohl beeindruckt als auch beängstigt; doch sie verschiebt ein Gespräch darüber auf später [22]. Carol will sich an einem Kuchen vergreifen, den Mel jedoch als Jubiläumsgeschenk für einen Freund namens Mario gebacken hat, der seit 12 Jahren ›trocken‹ sei. Carol ist gekommen, um mit Mel zu einem Meeting zu gehen. Derweil soll Tracy deren Tochter hüten, obwohl sie wegen der Hausaufgaben eigentlich keine Zeit dazu hat [23]. Mel und Carol reden ihr gut zu nach dem Motto: »Du kannst es schaffen, wenn du es willst«. 4.TC 0:07:15 – Von den Socken 4.1 Auf dem Schulgelände. Tracy diskutiert mit Noel und einer Freundin asiatischer Herkunft über Evies Haut und merkt kritisch an, dass sie nicht »Wonder Woman« sei. Schulkameradinnen, unter ihnen die blonde Astrid aus Evies Clique, machen sich über Tracys Socken lustig [24] und lassen die spöttische Bemerkung fallen: »Wer hat denn die aus dem Laufstall gelassen?« 20 21 22 10 1 Das Gedicht lautet im Original: He was crippled But only his body was cracked. It’s not simple Nor is it an easy matter to explain. »Let’s just leave it at that,« she says And closes the holy book of lies She covers her eyes Denying to herself What she thought happened. Mel kommentiert das Gedicht in der OF mit: »That’s really heavy. And it scares me a little bit. It’s beautiful.« Das Gedicht lautet in der deutsch synchronisierten Verleihfassung: Er war verkrüppelt, Aber nur sein Körper war gebrochen. Es ist nicht einfach Und lässt sich auch nicht leicht erklären. »Belassen wir’s dabei,« sagte sie. Dann schloss sie die Heilige Schrift der Lügen, Bedeckte ihre Augen Und wollte nicht wahrhaben Was geschehen war. Der hier zitierte mündliche Vortrag weicht an mehreren Stellen von den deutschen Untertiteln ab. 23 24 DREIZEHN Sequenzprotokoll 25 26 27 4.2 Bei Tracy daheim. Von der Bemerkung ihrer Mitschülerinnen arg getroffen, befreit Tracy nicht nur ihre Garderobe von den kindlichen Socken, sondern auch das Bett von ihren Stofftieren [25]. Mel unterstützt den Veränderungswunsch ihrer Tochter mit einer Autofahrt zu einer fliegenden Händlerin in einem VW-Bus an der Strandpromenade, um dort billig neue Klamotten zu kaufen. 5.TC 0:09:14 – Tracy erkämpft sich Evies Beachtung 5.1 Schule. {Gitarren, Synthesizer; Bass- und Percussion-Musik} Noel, deren asiatische Freundin und Tracy diskutieren ein Projekt, wobei es um JLo [Jeniffer Lopez] und Usher geht. Tracy folgt Evie auf dem Weg zum Klo [26]. Diese lässt beiläufig gegenüber Tracy fallen: »cooles shirt«; Tracy erwidert das Kompliment mit einer anerkennenden Bemerkung über Evies Gürtel. Diese dreht sich vor einem Gitterzaun um [27]. Es beginnt ein »Showdown«, ein Abgleich der Insignien des In-Seins. In kurzen Detaileinstellungen mit akzentuierender und lauter werdender Musik zeigen die Mädchen ihr »Arsenal der Waffen«, um Eindruck zu schinden, wobei der Film im Prozess des Abcheckens der einzelnen Accessoires immer wieder zu Standbildern gerinnt [vgl. »Showdown«, S. 34]: Man sieht Tracys noch etwas kindlich bemalte Turnschuhe [28], ihre Armbänder, ihren fragenden und unsicheren Blick [29], der Evies Augen trifft, die glitzerndes Make-up ziert [30], Evies mit Lipgloss geschminkten Mund, ihr umgehängtes Kreuz, ihren gepiercten Bauchnabel, ihre Armreifen. Schließlich schlägt sie Tracy vor, mit ihr zum »Shoppen« zu gehen, und notiert zu dem Zweck ihre Mobilnummer. Evie entschwindet als Schattenriss vor dem Hintergrund des schon eingangs der Szene gezeigten Gitterzauns, wobei die Kamera nach rechts mitschwenkt [vgl. »Showdown«, S. 35] und auf Evie zoomt. Tracy kann sich vor Freude kaum beherrschen [31]. 5.2.TC 0:10:19 – Von der Schule nach Hause: Angeschmiert! Tracy verabschiedet sich von Noel und ihrer asiatischen Freundin in deren Wohnsiedlung mit der Ausrede, sie habe noch Gymnastik. Mason, mit dem Nachbarsjungen Luke an dessen Auto beschäftigt, {Einsatz von Percussion-Musik} ruft Tracy nach, dass sie ihre Mutter bitte, das Zimmer vor deren Rückkehr aufzuräumen. Im Haus angekommen, hat Tracy es jedoch nur darauf abgesehen, voller Ungeduld Evies Nummer zu wählen. Sie muss aber feststellen, dass sie eine nicht aktivierte Nummer erhalten hat. {Einsatz von Gitarren-Musik} Vor lauter Wut gibt sie dem Müllsack einen Fußtritt, so dass die eintretenden Mason und Luke über den auf dem Fußboden verstreuten Inhalt steigen müssen [32]. Masons Aufforderung, den Dreck wieder wegzuräumen, kommt Tracy nicht nach, sondern steckt sich trotzig eine Zigarette an [33], die sie allerdings nach zwei Zügen wieder austritt, da sich das Auto ihrer Mutter nähert. Tracy stiehlt sich von allen unbemerkt aus dem Haus. 28 29 30 31 32 33 11 DREIZEHN Sequenzprotokoll 34 35 36 6.TC 0:12:03 – Shoppingtour & Geldbörsendiebstahl 6.1 Im Bus. Mit anfänglich zusammengekniffenen Lippen sitzt Tracy im Bus zur Melrose Avenue und fiebert dem Shopping-Erlebnis entgegen, wobei nach Auftauchen der ersten Werbetafel eine innere Schieflage – quasi ein Aus-dem-Lot-Sein – durch eine verkantete Kameraperspektive Ausdruck findet [34 - vgl. »Verkantete Bilder«, S. 48]. Doch Tracy überkommt Vorfreude, die von großen, in den USA üblichen Reklametafeln beiderseits der Straße angefacht wird [35]. 6.2 Downtown. Beim Aussteigen wird sie von dem großen Reklameschild der Kosmetikfirma »Sibül« mit dem Slogan »BEAUTY IS TRUTH« empfangen [36], dessen Bildmotiv wir schon anfangs in Tracys Zimmer entdecken konnten. In einer Boutique trifft Tracy auf Evie und deren Freundin Astrid. Unbemerkt vom Verkaufspersonal lässt Evie Schlüpfer und Feuerzeug in ihrer Handtasche verschwinden [37]. Tracy, die als Zeugin des Ladendiebstahls sichtlich um Fassung ringt, entfernt sich mit der Ausrede, dass sie jetzt einen Schluck Wasser brauche. Sie setzt sich am Straßenrand auf eine Bank neben eine Frau, die genervt ein Telefongespräch führt, und stiehlt unbemerkt deren Brieftasche [38]. Damit eilt sie zu Evie und Astrid zurück. Nach Entdeckung des reichlichen Inhalts an Geldscheinen und Scheckkarten beschließen die drei Mädchen, sich die Gelegenheit zu einem Großeinkauf von Schuhen nicht entgehen zu lassen [39]. 6.3 Zu Hause. Tracy versucht ihre Freude über die Akzeptanz durch Evie noch zu steigern, indem sie ihren Bruder zunächst fragt, wer die »heißeste Braut« an der Schule sei [40], wobei als Antwort erwartungsgemäß der Name »Evie Zamora« fällt. Sie lässt ihn dann raten, mit wem sie heute Nachmittag wohl zusammen gewesen sei, worauf er aber zu ihrer Enttäuschung nicht kommt. 37 38 7. TC 0:15:16 – Tracys Heim: Brady kehrt vom Entzug zurück Der Essenstisch ist für vier Personen gedeckt und Tracys Mutter festlich gekleidet. Tracy erfährt, dass Melanies langjähriger Freund Brady von der Entzugstherapie zurückkehren wird. Sie fürchtet, dass dadurch das Familienleben gestört werden könnte. Entsprechend distanziert verhält sich Tracy bei Bradys Ankunft, den sie im Gegensatz zu ihrer Mutter beim Eintreten nicht begrüßt [41], vielmehr verharrt sie mit verschränkten Armen im Inneren des Hauses in Abwehrhaltung. Sie lässt auch beim Abendessen, das in orangegelbem Licht eine warme Atmosphäre ausstrahlt, die Gelegenheit zum Sticheln nicht aus. So fragt sie Brady nach seinen Erlebnissen beim Entzug, jedoch weniger aus Mitgefühl, sondern um ihn bloßzustellen. Brady durchschaut ihre Absicht und antwortet deshalb, es sei wie beim letzten Mal gewesen [42]. 39 40 12 41 42 DREIZEHN Sequenzprotokoll 43 44 45 8.TC 0:16:37 – In die Melrose Avenue zum Kleiderkauf 8.1 An der Schule. Evie und Tracy gehen in sichtlicher Eintracht, was die Kleidung betrifft [43], an der kaum mehr beachteten Noel und ihrer asiatischen Freundin vorbei [44] und lassen sich von Tracys Mutter, die Evie vielmehr wie Tracys »scharfe, große« Schwester vorkommt, in die Melrose Avenue zum Einkaufen chauffieren. 8.2 Im Auto. Die Mädchen wollen ihre Einkäufe jedoch allein und nicht im Beisein von Mel machen. Diese möchte diesen Plan allerdings zunächst mit Brooke, Evies vermeintlicher Mutter, besprechen. Doch Evie stellt klar, dass es sich bei Brooke nur um ihren Vormund handle, und steigt als erste aus dem Wagen. Noch bevor Mel anrufen kann, unterbindet Tracy dies mit dem Satz: »Mom, bitte, tu’ mir das nicht an. Das ist der beste Tag meines Lebens. Ich bring’ mich um, wenn du mich jetzt blamierst!« [45] 2. Mel fragt dennoch bei Brooke nach, die Mels Anwesenheit beim Einkauf auf der Melrose Avenue wünscht. 8.3 Im Kleiderladen. Sie begleitet die Mädchen in eine Boutique {Popmusik mit dem Refrain »Bounce, Baby, bounce«}, dreht dort rasch einige mit »I love cocks« beschriftete T-Shirts um, bevor die Mädchen sie entdecken können, und bewundert ihre Tochter in den neuen Klamotten [46], muss aber vom Kauf angesichts des Preises von 75 $ für eine Jeans Abstand nehmen. Dennoch genehmigt sie das Geld für ein preisgünstiges Shirt. 9.TC 0:19:51 – Tracys Heim und »Hof«:Testlauf bei Jungen Zuhause treffen Evie und Tracy im neuen Outfit auf Mason, der sich mit Freunden ein Video anschaut und vom erstmaligen Auftritt Evies in seinem Zimmer besonders beeindruckt ist [47]. Das Videogucken wird vom geselligen Miteinander der Jungen, von denen einige Skateboards dabeihaben, und der beiden Mädchen auf der Wiese vor den Häusern abgelöst [48]. Die Jungen entfernen sich und machen damit Platz für Noel, von deren Erscheinen Tracy sichtlich angeödet ist [49]. Zum Glück kommen ein paar farbige Jungen vorbei, die Evie wohl kennen und mit Handzeichen auffordern, ihnen zu folgen. Tracy entschuldigt sich im Aufstehen bei Noel mit den Worten, dass sie doch wohl noch nicht in den Park dürfe, worauf diese antwortet, dass dies für Tracy bei Dunkelheit auch nicht mehr erlaubt sei. Auf dem Weg dahin schließt Evie noch schnell einen Drogendeal ab [50], gibt das Geld allerdings Tracy zur Aufbewahrung. 46 47 48 49 50 10.TC 0:20:23 – Im Park: »Having fun« im Drogenrausch Die beiden Mädchen treffen wiederum andere Jungen im Park, denen Evie »Shit« [Haschisch] verkauft [51]. Es bleibt nicht beim Handel, sondern man geht wenig später im Kreise von älter wirkenden 2 In der Originalfassung sagt Tracy zu ihrer Mutter: »I’ll kill you if you embarass me.« 51 13 DREIZEHN Sequenzprotokoll 52 53 54 55 farbigen Jungen zum Konsum über, wobei es sich – wie der Zuschauer erst in Kapitel 11 erfährt – u.a. auch um LSD handelt. {Der beginnende Drogenrausch wird durch den Einsatz von Musik markiert, die der ganzen restlichen Szene unterlegt ist.} Männer auf der Ladefläche eines Kleinlasters reichen Evie und Tracy orangefarbene Leuchtwesten, die die Mädchen sich überziehen. Mit grellem Farbkontrast zwischen orange getönten Bildern, in denen die Mädchen wie auf einem Karussell erscheinen und von Annäherungsversuchen der Jungen heimgesucht werden – was Evie genießt [52] und Tracy eher abwehrt [vgl. Abb. F2, S. 50] – und mit Bildern in kaltem Blau, die sowohl ein Abklingen des High-Seins als auch das Einbrechen der Nacht anzeigen, werden Evie und Tracy in einem Wechselbad exaltierter Gefühle gezeigt [53]. Die euphorische Stimmung kommt zu einem neuen Höhepunkt, als sich die Rasensprinkler einschalten und die zunächst im Gras lagernde Gruppe der Jugendlichen nach und nach zu wilden Tanzeinlagen animieren [54]. Dem Treiben wird ein Ende gesetzt, als Mason erscheint und Tracy zuruft, dass ihre Mutter sie zu Hause erwarte. 11.TC 0:22:10 – Tracys Heim: Noch immer auf dem Trip 11.1 Im Wohnzimmer. Evie folgt Tracy zu ihrem Haus. Dort angekommen, glaubt Brady Tracy mit der Beschaffung eines seit langem begehrten Spiels zu beglücken, doch sie ist noch gänzlich auf dem Trip »Ich bin ein Löwe« [55] und wirft die Bestandteile des Spiels in die Luft. In Tracys Zimmer. Die beiden Mädchen ziehen sich in Tracys Zimmer zurück, wo Evie in ihrem neuen Leoparden-Shirt [56] ungläubig feststellt, dass Tracy sogar LSD »geschmissen« habe. Mel will sich Tracys Verhalten nicht bieten lassen, öffnet deshalb ihre Zimmertür [57] und droht ihr wegen des unerlaubten Park-Aufenthalts Stubenarrest an. Tracy ziert sich, beim Umkleiden von ihrer Mutter angeschaut zu werden und verwehrt ihr, sie künftig nackt sehen zu dürfen. 11.2 Brady und Mel kommen sich im Wohnzimmer näher [58], in das Tracy – hinter der Jalousie ihres Fensters versteckt – blicken kann [59]. Diese Wahrnehmung der Wiederbelebung der Beziehung zwischen Brady und Mel löst in Tracy eine sehr schmerzhafte Erinnerung aus [vgl. »Tracys Trauma«, S. 38]: 56 Im Flash-back, der auch durchs Tracy Drogenkonsum begünstigt worden sein mag, sieht sie Brady vor sich, wie er im Badezimmer Rauschgift mit Hilfe einer dafür präparierten Dose raucht [60]. Kurz darauf bricht er zusammen, so dass Tracy aufgeregt nach ihrer Mutter schreit [Ende des Flash-back]. 57 58 14 59 60 DREIZEHN Sequenzprotokoll 61 62 11.3 Im Bad. Nach dieser verstörenden Erinnerung tritt Tracy vom Jalousie-Fenster zurück und geht ins Badezimmer, wo sie ein psychopathologisches Ritual mit körperlicher Selbstkasteiung beginnt: Dazu entnimmt sie dem Spiegelschränkchen im Badezimmer eine Schere und pausiert – die Schere in der Hand – vor dem Spiegel, wobei sie ihr Spiegelbild anblickt... [61] Abblende zu Schwarz [TC: 0:24:30] 12.TC 0:24:33 – Der Morgen danach 12.1 Tracys Heim und Garten. Aufblende: Mel bereitet Frühstück am Herd zu. Evie, die bei Tracy übernachtet hat, schaut durch die offene Badezimmertür Brady in Boxershorts beim Zähneputzen zu und lobt seinen Hintern, was Tracy anwidert [62]. Ihrer Mutter gegenüber, die sie bei dieser Gelegenheit »Rabenmutter« nennt, beklagt Tracy sich, dass sie dringend auf das Klo müsse [63], worauf Evie ihr rät, doch im Garten zu pinkeln. Diesen Ausflug in den Garten nutzt Evie dazu, Mason hinter dem Fenster durch Hüftschwünge [64] und ihr gelüftetes T-Shirt zu beeindrucken, während Tracy den Hund streichelt. Auf die Anmache ihres Bruders reagiert sie mit Abscheu. Evie kontert damit, dass sie vielleicht eines Tages in Tracys Familie einheirate. 12.2 In der Schule. {rhythmische Musik mit Schlagzeug, Synthesizer und (Bass-)Gitarre} Im Gleichschritt marschieren Astrid, Tracy und Evie unter einem Laubengang auf das Schulgelände [65]. Tracy erscheint zu spät im Unterricht [66] und antwortet dem Lehrer, der mit einem Sticker »Bush is a loser« behaftet über Energiehaushalt unterrichtet [67], auf die Frage nach den Gründen ihrer Verspätung, ob Mädchen denn nicht mehr auf die Toilette dürften. 13.TC 0:26:17 – Am Strand: Zungen-Piercing 13.1 Strandpromenade. {Musik mit spanischem Gesang} Im Laufschritt biegen Evie und Tracy um eine Hausecke, wo ein Streifenwagen parkt [68], auf die Strandpromenade ein, wo zotige T-Shirts [vgl. »Werbung«, Abb. W10, S. 36] und Piercings angeboten werden. Wiederum ist die Reklame-Tafel »BEAUTY IS TRUTH« auffällig ins Bild gerückt [Hier ist das Motiv zum dritten Mal zu sehen]. 13.2 Im »Ocean Front Piercing«-Shop.Tracy belügt ihre Mutter am Telefon, dass sie in der Bibliothek recherchiere, während Evie dem Shop-Inhaber, einem Latino, versichert, dass Tracy schon 18 sei. Mit einer Zigarette in der Hand schaut Evie vergnügt zu [69], wie Tracy ihr Piercing erhält, die aufgrund der Schmerzen das Gesicht verzieht. 63 64 65 66 67 68 69 15 DREIZEHN Sequenzprotokoll Bevor Mel beide Mädchen am vereinbarten Treffpunkt vor der Schule abholt, fragt Tracy Evie, ob diese etwa eine Affäre mit dem »verkrusteten Tattoo-Heini« gehabt habe. Evie antwortet im Scherz (?), dass er ihr »nur die Muschi geleckt« habe, was Tracy in dem Moment aber für wahr und beschämend hält [70]. 70 71 72 73 14.TC 0:28:36 – Im Strudel der Zersetzung 14.1 Wohnküche und Tracys Zimmer. Mel und Cynthia, eine Kundin, unterhalten sich über das stets zu knappe Geld, als Tracy und Evie mit einer Vorführung zurechtgeschnittener T-Shirts [71] die Erstgenannten überraschen [72]. Wenig später droht Tracy mit zähneknirschender Wut: »Mom, drei strikes und du bist draußen« [Baseball-Regel, die bei dreimaligem Verfehlen des vom Pitcher geworfenen Balles den Batter ausscheiden lässt]. Sie hält ihr vorwurfsvoll Bradys Kleidungsstücke unter die Nase [73], weil er das angebliche Versprechen, hier nicht mehr zu wohnen, gebrochen habe. Cynthia sucht zum Bezahlen der Haarfärbung nach ihrer Handtasche, die Evie an sich genommen und um ein Bündel ›Zwanziger‹ beraubt hat [74]. 14.2 In Mels Zimmer und im Garten. Nach der Verabschiedung von Cynthia will Mel »Tracy Louise Freeland« wegen ihres unmöglichen Auftritts vor einer Kundin zur Rede stellen, doch ihr Vater am Telefon, der »jetzt ein Baby« habe, erzwingt ein Innehalten [75]. Mel ›verdaut‹ die Nachricht mit einer Zigarette in ihrem Zimmer, als Evie eintritt und sie fragt, ob alles OK sei. Mel verneint und will Evie nach Hause schicken, die allerdings wegen Brookes Abwesenheit – sie sei angeblich auf einem Kongress – ein Verbleiben erwirkt. Auf Mels Frage nach ihrer Mutter gibt Evie an, dass sie gestorben sei. Dies bewirkt Mitleid bei Mel, weil auch sie in jenem Alter schon ohne Mutter habe auskommen müssen. Mel umarmt Evie mütterlich [76], als Tracy hereinkommt, da Daddy am Telefon nun mit Mel sprechen wolle [77]. Während sie weitertelefoniert, erfährt sie auf dem Weg in den Garten zum Hundezwinger von einer neuen Wohnung ihres Ex-Mannes. Zudem informiert er Mel, dass er die Kinder am Wochenende doch nicht nehmen könne. Tracy ist darüber erzürnt und fragt sich, was das für ein Vater sei [78]. 74 75 76 16 77 78 DREIZEHN Sequenzprotokoll 79 80 15.TC 0:33:45 – Evie hat bei Tracy ein neues Zuhause 15.1 Tracys Zimmer am Tage. {leise Pop-Musik} Tracy versucht, Evie vom Rauchen abzuhalten, weil Mel das nicht erlaube [79]. Mit dem Hinweis, dass Mel ja selbst rauche, steckt sich Evie erneut eine Zigarette an. Tracy zeigt Evie einen im Piercing-Shop geklauten Bauchnabel-Sticker, den sie von Evie angebracht haben will. Den Schmerzensschrei dämpft Tracy mit einem ihrer Stofftiere [80]. Doch das Piercing [81] gelingt nicht ohne Verletzung, weshalb Evie einen Verband aus Mels Zimmer holt, worüber diese sich wundert. 15.2 Tracys Zimmer am Abend. Evie liegt neben Tracy im Bett und findet es toll, dass diese keine Angst vor Nadeln habe, weil damit der Weg zu Tattoos und weiteren Piercings geebnet sei. Mel kommt stolz mit Tracys Jeans herein, auf die sie ein Leopardenfell genäht hat [82]. Tracy findet es im Gegensatz zu Evie nicht gelungen und verweigert Mel den Gute-Nacht-Kuss, den ihr allerdings zu Tracys Erstaunen Evie gibt [83]. Daraufhin fängt Tracy an, sich bei Mel über deren eigenmächtiges Vorgehen bei der Jeans-Verzierung zu beschweren, was Mel jedoch als »Ersatzhandlung« zu begreifen scheint, denn sie schließt ganz ungerührt die Zimmertür vor den Ausfälligkeiten ihrer Tochter. Diese steht nachdenklich und irritiert durch die Entwicklungen vor der geschlossenen Tür [84]. Hierbei betont die Inszenierung in der Raumtiefe einen Abstand zwischen Tracy und Evie, die sich mit der von Mel verzierten Jeans beschäftigt, so dass hier erstmals eine ideelle Differenz und ein Misstrauen zwischen den Freundinnen anklingt. 16. TC 0:36:30 – Tracys Heim (in nahtloser Fortsetzung der Einstellung mit Tracy in ihrem Zimmer vor der Tür abends) 16.1 Tracys Zimmer. Tracy macht sich Luft, indem sie ihrer Mutter durch die geschlossene Tür »blöde Kuh« nachruft. Anschließend legt sie sich neben Evie ins Bett. Diese hat jedoch mit Kaykay eine Verabredung, die sie ganz allein wahrnehmen will, steigt aus dem Fenster, landet direkt in seinen Armen und verabschiedet sich von Tracy mit ausgestrecktem Mittelfinger [85]. Tracy wälzt sich unruhig im Bett, steht auf und geht ins Bad. 16.2 Im Bad. Ähnlich wie in Sequenz 11 erscheint sie im Spiegel, zögert vor dem Öffnen des Schränkchens; aus dem Spiegel trifft ihr Blick kurz den des Zuschauers. Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, sie öffnet die Tür, räumt eine »Bandage«-Packung beiseite und entnimmt die Schere, um sich die Haut des Unterarms aufzuritzen [86]. Danach sitzt Tracy auf dem Boden [87], was eine verkantete Kamera festhält [vgl. »Tracys Trauma«, S. 38 und »Verkantete Bilder«, S. 48]. Abblende zu Schwarz. 81 82 83 84 85 86 87 17 DREIZEHN Sequenzprotokoll 16.3 In Tracys Zimmer, nachts. {Grillenzirpen} Evie kehrt vom Rendezvous zurück und legt sich neben die schlafende Tracy ins Bett. Sie entdeckt Tracys Schnitte [88] und flüstert ihr ins Ohr: »Ich hab’ dich lieb, Tracy!«, worauf diese die Augen öffnet. 88 89 90 91 92 93 94 18 16.4 Morgens. Im Detail sieht man Blutflecken auf Tracys Ärmel. Sie ruft beim Erwachen nach Evie und sieht ihren leeren Platz im Bett. Tracy wechselt ihren Pullover und findet Evie in der Küche – in die Familie integriert – mit Mel, Brady und Mason am Frühstückstisch. Tracy bleibt abseits stehen, widersetzt sich Mels Aufforderung, neben ihr Platz zu nehmen [89], um etwas zu essen, was Brady und Mason ebenfalls vorschlagen. Tracy reagiert stinkig und verlangt von Evie, mit ihr zu gehen. Mel will Tracy noch kurz allein sprechen und fragt, ob Brooke einen festen Freund habe [90]. Tracy sagt, dass diese mit ihm vor einer Woche Schluss gemacht habe. 17.TC 0:40:19 – Ein erstes Date 17.1 Auf dem Schulgelände. Verabredung {Musikuntermalung} Javi, von Marcus gefolgt, will mit Tracy ein Date verabreden, doch Evie drängt sich dazwischen und schreibt ihre Mobil-Nummer auf, weil sie beide sowieso unzertrennlich seien [91] {Musik-Ende}. Vor dem Schultor wird als Treffpunkt Brookes Haus vereinbart, wohin Evie jedoch nur eine Person mitnehmen dürfe, was zum Ausschluss Astrids führt [92]. 17.2 Brookes Haus, am Tag. {Rockmusik} Evie stellt Tracy ihrer Cousine Brooke LaLaine vor [93], die ihr Vormund und von Beruf Model und Schauspielerin ist, doch ebenfalls als Barkeeperin arbeitet. Sie fragt Evie, »Süsse, holst du mir ’n Bier?« und erlaubt den Mädchen auch je eines. Tracy wird in die Küche und Evies Zimmer geführt, wo sie ein Poster von Christina Ricci küsst. {Rockmusik verstummt} Brooke erscheint in roter Perücke, um nach ihrem zweiten BH-Polster zu fragen, das sich bei Evie findet. Javi ruft wegen des Dates mit Tracy an. Da Brooke zur Arbeit muss, bestellen die Mädchen ihn samt Freund zu sich ins Haus. Beide sind wegen ihres DoubleDates völlig aus dem Häuschen [94]. Evie zweifelt an Tracys Kusskünsten, die diese sogleich an Evie demonstriert [95]. 17.3 Am Abend. {Musik} Nach Eintreffen von Javi und dessen Freund wird gekifft und Alkohol getrunken. Evie ergreift die Initiative, setzt sich auf des Freundes Schoß und zieht ihr Oberteil aus. Tracy macht es ihr mit Javi nach [96]. Der Reißverschluss einer Jeans wird geöffnet. Die Augen eines Jungen im Detail. Abblende zu Schwarz. {Sanfte Gitarrenmusik} Tracy liegt im Kerzenlicht: »Wir sind füreinander gemacht, ehrlich. Wenn alle Menschen jemanden aus einer anderen Rasse heiraten würden, dann gäbe es auch keine Vorurteile mehr.« 95 96 DREIZEHN Sequenzprotokoll 97 98 18. TC 0:47:02 – Verführung Lukes und Beschwichtigung einer besorgten Mutter 18.1 Bei Luke im Nachbarhaus. Mel fährt zum Einkauf. Evie und Tracy lagern vor dem Haus. Evie liest eine Zeitschrift, worin die Anzeige von Sibül: »BEAUTY IS TRUTH« zu erkennen ist [das Motiv taucht hier zum vierten Mal prominent auf]. Beim Eincremen von Evies Rücken sieht Tracy eine große Narbe [97]. Als Luke, der Nachbarjunge, heimkommt, geht Evie mit Tracy zu ihm, {Musikuntermalung in seinem Haus} um ein Bier zu erbetteln und an ihm den eigenen Verführungscharme zu testen. Tracy bleibt anfangs zögerlich im Abseits stehen, doch schließlich machen sich beide Mädchen, die auffällig ähnlich mit lila Shirt und blauen Jeans gekleidet sind, an Luke heran. Zunächst geht er auf das Spiel, beide wechselseitig zu küssen, ein [98], doch als sie ihm an die Hose wollen, schmeißt er beide raus, wodurch er deren wüste Beschimpfungen auf sich zieht [99]. 99 100 101 18.2 Bei Tracy. Mel ist vom Einkauf zurück, entlädt das Auto und bittet die von Luke kommenden Mädchen, ihr die Einkaufstüten abzunehmen [100], was Tracy mit dem Satz quittiert: »Mom, ich bin hier nicht deine verdammte Sklavin.« Erbost über diese Antwort folgt Mel den flüchtenden Mädchen, die vor ihr ihre Alkoholfahne verbergen wollen, ins Haus. Auf Mels Feststellung: »Also, so habe ich dich nicht erzogen!« kontert Tracy [101]: »Und ich erwarte, dass du mit deinem beschissenen Freund aus meinem Leben verschwindest!« Der eskalierende Streit, den Mason anfacht, indem er Tracy als »nur noch beim Saufen« schilt, wird durch Carols Eintreffen mit Tochter Kayla unterbunden, die ein paar Tage bei Mel Unterschlupf sucht, bis ihr Geld komme [102]. 18.3 In Tracys Zimmer. Mel überrascht die Mädchen beim Verstecken von neuen (wahrscheinlich geklauten) Klamotten. Auf ihre Frage, wo der »ganze Plunder« [103] herkomme, bekommt sie – in ein Hemd mit Kreuz gekleidet – von Tracy zu hören, dass ihr Brooke die Sachen geschenkt habe. Evie, die mit Kayla auf dem Bett hüpft, wobei das Sibül-Poster [das fünfte Mal auffällig inszeniert] von ihnen ›eingerahmt‹ wird [104], erklärt die Schenkung als Dank für ihre Unterbringung. Doch Mel bleibt argwöhnisch und verlangt, mit Tracy ernsthaft zu reden, was ihre Tochter mit dem Verweis auf noch zu erledigende Hausaufgaben ausschlägt. 18.4 Am Abend. Mel sucht unter Tränen telefonischen Rat bei einem »Chairman«, weil ihre Tochter ihr Angst mache und sie wolle, dass das endlich vorbei sei. Dabei kommt Tracy, wieder mit verschränkten Armen, hinter dem Fensterkreuz ins Bild [105]. Mel wiederholt mehrmals, auf den für den Zuschauer unhörbaren Rat des Chairmans hin, zunächst zögerlich: »Ich werd’ es versuchen!« 102 103 104 105 19 DREIZEHN Sequenzprotokoll 19.TC 0:53:06 – L.A. bei Nacht: Geteiltes Vergnügen 19.1 In Tracys Heim. Brady erheitert die um Evie vergrößerte ›Familie‹ inklusive Tracy mit einem Huhn, das bei jeder Bewegung den Kopf konstant hält und deshalb von Brady »Zen-Huhn« getauft wird. 106 107 108 109 110 111 112 20 19.2 Downtown-Kino. {Techno-ähnliche Musik} Brady, Mel, Tracy und Evie sind auf dem Weg ins Kino, wobei die Erwachsenen in einen Kriegsfilm [106], die Kinder zum Schein in einen »Jack-BlackFilm« wollen. Nach Verschwinden der Erwachsenen tauchen sie jedoch wieder im Foyer auf, versenken ihr Knabberzeug im Abfalleimer, um unbeschwert ins Straßenleben abzutauchen [107]. 19.3 Rap am Straßenrand. {Rap} Bei einer Gruppe von Rappern schließt Evie einen Drogen-Deal ab. Aus der Gruppe tritt Javi hervor, der Tracy zur Begrüßung küsst [108] und von Evie umarmt wird. Während er eine Strophe Rap singt, schickt Evie Tracy zur Besorgung von Getränken los. Im Getränkeladen spricht sie, ohne sie von hinten identifizieren zu können [109], ihr Bruder Mason an: »Hey, Süße komm, zeig uns mal deinen Arsch!« Als sie sich umdreht, ist er erschrocken, in der frivol Angesprochenen seine Schwester zu erkennen [110]. 19.4 Tracy sucht im Drogenrausch nach Evie. Als Tracy zu den Rappern zurückkehrt, ist Evie verschwunden. Aus der Gruppe gibt der Käufer von Evies Drogen Tracy aus einer Flasche »Voodoo-Juice« zu trinken, worauf sie in einen Drogenrausch gerät [111] {Ende des Rap}, der die Welt in Schieflage versetzt, was sich bereits am SibülLeuchtschild abzeichnet [hier zum sechsten Mal ins Bild gerückt, aber unter Aussparung des Slogans »BEAUTY IS TRUTH«]. {Gitarre, Schlagzeug} Für Tracy beginnt sich die Welt in Farben und verschwommene Formen aufzulösen [112]. Dennoch versucht sie mit dem Jungen den Verbleib Evies ausfindig zu machen [113]. Schließlich entdeckt sie Evie in einem Shop, wie sie aus einer Kabine mit Javi kommt [114], dem sie angeblich die auf die Hose verschüttete Cola zu entfernen geholfen habe. An der rechten Seite fallen Totenkopfmotive und das Wort »alienation« auf. Tracy ist auf Evie wütend, da sie aufgrund der Suche das zeitlich vereinbarte Treffen mit Mel und Brady nach Filmende verpasst haben. 20.TC 0:58:00 – Daheim: Die Fundamente brechen auf 20.1 Mason gegen Tracy. Die Mädchen kehren mit Mel und Brady nach Hause zurück und entschuldigen ihr Weggehen vom Kino damit, dass ihr Film früher zuende gewesen sei, was Mel jedoch widerlegen kann. Mason, der neben Carol auf dem Sofa wartet, will Mel unter »vier Augen« sprechen und droht seiner Schwester an, dass sie Ärger bekommen werde, wenn man ihre von Drogenkonsum gezeichneten Pupillen sehe. Tracy geht sofort zum Gegenangriff über, sowohl verbal – denn sie weiß von Masons Kiffen – als 113 114 DREIZEHN Sequenzprotokoll 115 116 auch real, indem sie auf Mason mit einem Eishockeyschläger losgeht. Die Kamera erzeugt durch Rollen / Drehung in der Objektivachse eine Neigung des Fußbodens zunächst nach links [115 – vgl. »Verkantete Bilder«, S. 49]. Mason schiebt seine Schwester zurück – was die Kamera wieder durch entgegengesetzte Neigung unterstreicht – und nennt Tracy eine »Nutte«, worauf sie ganz nach Art der körperlich unterlegenen, aber behüteten kleinen Schwester nach ihrer Mutter ruft. Mel und Brady versuchen die Streithähne zu trennen, was einen neuerlichen Wutausbruch Tracys gegen Mel auslöst, die ihre Haare in Ruhe lassen solle. 20.2 Tracy gegen Mel. Auf Nachfrage Mels, ob Tracy überhaupt schon etwas gegessen habe, dreht diese völlig durch und charakterisiert Mels Essen als »Schlangenfraß«. Erzürnt merkt Mel an, dass sie ja dann auch keine zwei Kunden mehr täglich brauche, tritt gegen den Couchtisch und flüchtet in die Küche, wo sie auf dem Boden ausrutscht [116], anschließend Cornflakes auf dem Linoleumboden verstreut, um diesen danach aufzureißen, weil sie ihn angeblich nicht mehr ausstehen könne [117]. Brady, der als einziger die Fassung bewahrt, nimmt Mel tröstend in die Arme; Mason wird im Hintergrund Zeuge [118]. 20.3. Tracy gegen Brady. Als sich Tracy mit Evie in ihr Zimmer zurückzieht, entdeckt sie Kayla mit dem Boxerhund Henry in ihrem Bett, das zudem vollgepinkelt wurde [119]. Tracy bekommt einen neuerlichen hysterischen Anfall, schreit nach ihrer Mutter und beschimpft Brady, der sich anschickt, für Tracy das Bettlaken zu wechseln und sie bittet, nicht auf ihrer Mutter herumzuhacken, als »blöden Kokser« und »Scheiß Loser«, der ihr gar nichts zu sagen habe. Darauf nimmt er von seiner Hilfe Abstand und verlässt das Zimmer [120]. 117 118 119 120 121 20.4 Brady verlässt Mel. Wie zur Beruhigung nach allem Aufruhr hilft Brady Mel, die vor sich hinstammelt, dass sie es nicht mehr aushalte, beim Entkleiden, um sie unter die Dusche zu stellen. Als Mel beim Duschen zur Besinnung kommt [121], gewahrt sie diese Fürsorge als Täuschungsmanöver, damit Brady ungestört seine Sachen packen und sich davonstehlen kann. Als Mel ihm zuvorkommt, sagt er »Ich krieg’ hier allmählich ‘ne Macke« und dass er sich am liebsten »zudröhnen« wolle [122]. Er küsst Mel zum Abschied und geht. 122 21.TC 1:03:11 – Tracys Heim:Total verkokst und verkorkst 21.1 Im Haus. Beide Mädchen sind erstmals beim »Koksen« zu sehen [123]. Sie treffen danach in der Küche auf Cynthia, die – mit mehreren Büchern bewaffnet – Mel bei der Lösung ihrer FamilienProbleme helfen will. Tracy, die wie Evie unter Kokaineinfluss steht, hantiert mit einer Flasche Bleichmittel und fragt, wie viel davon nötig sei, um sich zu 123 21 DREIZEHN Sequenzprotokoll 124 125 126 127 128 129 130 22 töten [124]. [Nach der Kokain-Einnahme sind die Farben des Films auffällig ausgeblichen, und es dominieren weiße, graue, blaue Töne.] Da Brookes Telefon gesperrt ist, schlägt Cynthia vor, dass Evie – die in dieser Szene zugibt, ihre Mutter sei eine »Crack-Hure« gewesen – bei einer Freundin Unterschlupf suchen solle, weil die Familie eine Auszeit brauche. Evie protestiert gegen diesen Vorschlag mit dem Argument, dass sie es schließlich sei, die hier das Schlimmste zu verhindern helfe [125]. Tracy, sichtbar unter Drogeneinfluss, wird euphorisch über einen Anruf Conrads, während Evie sezierend kühl nach der TherapieBerechtigung Cynthias fragt, die sich daraufhin beleidigt verabschiedet [126]. Nach Vorführung von Tracys neuem G-String entdeckt Mel mit Schrecken auch den Nabel-Sticker an ihrer Tochter. Tracy führt, angesichts der ›langen Leitung‹ Mels, die Veränderung an ihr zu erkennen, einen Tanz auf [127] (»Ich bin eine Mumie«) und bringt mit dem {zu sphärischen, unheimlichen Klängen} mehrmals wiederholten Bekenntnis »Kein BH, kein Höschen« ihre Mutter, die auch hierbei das Hemd mit Kreuzzeichen trägt, in Bedrängnis. 21.2 Im Garten. Als Mel sich bei einer Zigarette vor dem Haus erholt, tritt erstmals ihr Ex-Mann, Tracys Vater Travis, ins gekippte Bild [128], was von Anbeginn seinen Auftritt desavouiert. Mels Bitte, dass er Tracy zu sich nehme, kann er wegen geschäftlicher Verpflichtungen, die ihn anschließend im Gespräch mit Tracy durch sein Mobiltelefon ebenso ablenken [129], nicht erfüllen. Tracy, zwischen Enttäuschung (»Dad, weißt du eigentlich, wann wir das letzte Mal was zusammen gemacht haben?«) und Verständnis (»Jetzt geh’ schon ran!« [ans Handy]) changierend, entlässt ihren Vater, der geschäftlich wieder »auf die Beine zu kommen« versucht, zu seinem Termin {sphärische Klänge}. Mason, der sein Auto lobt (Vater: »Naja, die Kunden erwarten das«), erhält Aussicht auf einen gemeinsamen Surf-Ausflug. Er mahnt Dad, dass Tracy echt Hilfe brauche. Der Vater versteigt sich zu Theatralik und will »in aller Kürze« wissen, wo das Problem liege. Sein Sohn winkt nur noch ab und geht [130]. Brady kommt barfuß daher und lobt im Vorübergehen ebenfalls den schönen Wagen von Tracys Vater. Brady erheitert Mel mit einem Spielzeug, einem beweglichen Esel [131]. Abblende zu Schwarz [TC 1:09:50]. 22.TC 1:09:52 – Tracys Heim und Schule: Asyl-Antrag 22.1 Bei Tracy. Aufblende: Evie und Tracy unterhalten sich mit »Dada-Didi«- Sprache. Sie gehen zu Mel, die noch mit Brady im Bett liegt [132]. Tracy macht ihnen den Vorschlag, dass es allen besser gehen würde, wenn Evie dauerhaft einzöge. Brooke zahle auch dafür. Außerdem sei Evie mit neun von ihrem Onkel vergewaltigt worden, der sie obendrein ins Feuer gestoßen habe [vgl. Narbe auf 131 132 DREIZEHN Sequenzprotokoll 133 134 135 Evies Rücken, Abb. 97, S. 19]. Mel verspricht, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. 22.2 Vor der Schule. Mel beschwert sich, wie Tracy sie vor Evie mit dem Vorschlag ihres dauerhaften Einzugs so in Verlegenheit habe bringen können [133]. Schließlich könne sie in Gegenwart Evies nicht »Nein« Sagen. Tracy gesteht, es eben genau deshalb so eingefädelt zu haben. 136 22.3 Im Klassenzimmer. {Klingelzeichen} Nach Herausgabe einer Schulaufgabe wird Tracy von Mitschülerinnen nach ihrer Note gefragt. Diese ist schlecht ausgefallen, was Tracy völlig gleichgültig ist [134]. 23.TC 1:11:33 – Heim und Schule: Betäubt und abgelehnt 23.1 Tracys Zimmer. Die Filmhandlung holt hier die Szene des Vorspanns ein. Alle Bilder sind in kühlen, blassen Farben gehalten {harte Musik Schlagzeug, Bass, Gitarre}: Außer Fokus sieht man Tracy inhalieren. Sie fordert von Evie, geschlagen zu werden, weil sie noch mehr bluten wolle. Ihr Wunsch wird erfüllt [135], und sie fällt leichenblass vom Bett [136]. Erschrocken beugt sich Evie über sie und hilft ihr auf. Beide Mädchen überschminken ihre Blessuren, wobei sich Evie einen Schmetterlingssticker aufklebt. 137 138 23.2 Im Garten beim Essen. Mel hält einen Zeitungsausschnitt im Beisein Carols, Masons und Kaylas in der Hand. Darin wird über die Verurteilung von Evies Onkel zu sieben Jahren Haft berichtet. Mel hat den Entschluss gefasst, Evie Unterschlupf zu gewähren, da sie von allen missbraucht worden sei, die sich um sie hätten kümmern sollen. Carol will mit Kayla im Zelt schlafen. Tracy mit roter Perücke und Evie mit Feder-Stola treten in völlig ausgeflippter Aufmachung aus dem Haus [137] und präsentieren sich [138]. 23.3 In der Schule. Tracy kommt zu spät in den Unterricht und hat den Abgabetermin für das Energie-Projekt verpasst [139]. Als Entschuldigung nennt sie den Tod ihrer Großmutter, doch der Lehrer empfiehlt ihr das Aufsuchen des Schulpsychologen. Stattdessen geht sie auf die Toilette, wo sie Astrid vorm Spiegel trifft [140]. Tracys Vorschlag, mit ihr am Strand ein bisschen »Shit verticken« zu gehen, lehnt Astrid ab, weil sie gleich im MeeresbiologieUnterricht in einem Spiel als Meerjungfrau auftreten müsse [141]. [Siehe weitere Abbildungen auf S. 55.] 139 140 24.TC 1:14:53 – Nach der Schule: Absage an Evies Adoption 24.1.Auf dem Schulklo. (Forts. von 23.3) {leise Gitarrenmusik} Nach Astrids Fortgang versucht Tracy die aufgeschlagene Lippe zu überschminken und wird dabei ihres jämmerlichen Anblicks wie Zustandes inne, was die Bild-Schieflage Tracys vor dem Spiegel betont 141 23 DREIZEHN Sequenzprotokoll [142]. Nach Schulschluss im Auto gesteht sie ihrer Mutter, dass sie nicht mal mehr wisse, wie man »Fotograf« schreibe. 142 143 144 145 146 24.2 Rückkehr von und zu Brooke. Mel chauffiert beide Mädchen zu Brooke [143]. Obwohl sie seit zwei Wochen zuhause ist, hat sie sich nicht gemeldet, weil sie, wie sie Mel nun erzählt, nach einer Schönheitsoperation an Schmerzen und entstelltem Aussehen leide [144]. Da sie nichtsdestotrotz wieder für Evie da sein kann, will Mel deren Sachen am Nachmittag zu ihr bringen, woraus Evie folgert, dass aus ihrem Traum der Adoption nichts mehr wird [145]. Untröstlich darüber, flüchtet sie hinter das Haus und weint in einer Ecke [146], wobei sie sich noch einmal enttäuscht zu Tracy umdreht {Gitarrenmusik ab TC 1:18:26}. 25.TC 1:18:41 – Die Schule des Lebens und des Herzens 25.1 Schulgelände. {leise Gitarrenmusik aus 24.2 setzt sich fort} Drei Überblendungen zeigen Tracy auf dem Laubengang, wie sie viele Mitschüler grüßt und gegrüßt wird [147] {Musik Ende}. Vor dem Schultor trifft sie Astrid und Freundinnen, die sie begrüßt, die aber keine Notiz von ihr nehmen, sondern mit Evie und Jungen in einem offenen Jeep mit Rap-Musik und Gejohle davonfahren. Vor dem Hintergrund einer Tankstelle will Tracy am Telefon von Evie wissen, was der Auftritt von eben sollte, aber es scheint, als wüßte Evie gar nicht mehr, wer Tracy ist. Enttäuscht legt sie auf, in der Hand die Schnapsflasche, neben sich das »BEAUTY IS TRUTH«-Schild [das siebte Mal], diesmal mit Graffiti überschmiert [148]. 25.2 Daheim. Tracy drängt darauf, dass Mason das Bad verlässt. Dieser bemerkt beim Hinausgehen, dass er froh sei, wenn sie zu Dad ziehe, was er bei einem Telefonat seiner Mutter mit Vater gehört haben will. Tracy ist darüber erschrocken wie bekümmert {Hundegebell}, so dass ihr eine kleine Träne im Auge steht. {leise Gitarrenmusik} Im Bad will sie ihr Ritz-Ritual beginnen, doch ist der Schrankinhalt verändert. In Ermangelung einer Schere ritzt sie sich mit einer Rasierklinge [149], bis Blut auf den Boden tropft. Mel ruft nach ihr, als sie sich den Arm abtupft {Musik am Schluss leicht verzerrt klingend}. Abblende zu Schwarz [TC 1:20:43]. 25.3 In der Schule. Im Sportunterricht schubsen zwei farbige Mädchen Tracy gegen den Gitterzaun der Schule, weil sie sich mit ihrem Freund Conrad eingelassen habe, was sie von Evie erfahren hätten [150]. Die Lehrerin eröffnet ihr, dass sie wahrscheinlich die 7. Klasse wiederholen müsse, weil sie auf Fünf3 stehe. Sie sei Gegenstand der Lehrerkonferenz gewesen. Außerdem habe es noch ihren Betrugsversuch in der letzten Mathe-Arbeit gegeben. 147 3 In der OF wird nach dem amerikanischen Notensystem, das aus den fünf Beurteilungsstufen A (=1), B (=2), C (=3), D (=4) und F (mangelhaft wie ungenügend) besteht, die Note F genannt. 148 149 24 150 DREIZEHN Sequenzprotokoll 151 152 26.TC 1:21:55 – Tracy kehrt heim:Tag der Abrechnung 26.1 Auf dem Weg nach Hause. Tracy streift mit einem Stock an einem Maschendrahtzaun entlang, als Brady überraschend mit dem Auto auftaucht, um Tracy heimzufahren [151]. Lukes Haus ist zu vermieten, eine Nachbarin bei der Gartenarbeit erwidert Tracys Winken nicht. Brady verbreitet vor dem Aussteigen Zuversicht: »Das wird schon wieder!« Die Farben des Films sind jetzt ganz zu metallisch kaltem Blau-Silber reduziert [vgl. »Farbdramaturgie«, S. 50f]. 26.2 Im Wohnzimmer bei Mel. Brooke mit Evie und Mel warten im Wohnzimmer auf Tracy, die mit einem Gang zum Klo aus dessen Fenster flüchten will, das sie nicht zu öffnen vermag. Evie umarmt Tracy, beteuert ihre Freundschaft und gesteht zugleich, dass sie alles habe verraten müssen [152]. Brooke schüttet aus einem Karton eine Vielzahl Drogenpäckchen, eine Schnapsflasche und sonstige Utensilien auf den Tisch [153]. Tracy sagt, dass ihr das Zeug nicht gehöre, was Brooke dadurch zu widerlegen glaubt, weil man alles in Tracys Zimmer versteckt gefunden habe. Der Film greift hier zu einer Rückblende, indem in fünf kurzen Detail-Einstellungen Drogen in ihrem Versteck gezeigt werden [154]. Tracy, bis dahin neben Evie sitzend, steht auf und weicht zurück, weil sie erkennt, dass sie von ihr hereingelegt worden ist [155]. Tracy wirft den beiden Frauen vor, dass sie in ihrem Zimmer geschnüffelt hätten. Doch als ihre Mutter auf die 860 $, die man ebenfalls bei ihr fand, zu sprechen kommt, gesteht sie [156], »Wir haben’s geklaut, ok! Du bist ständig nur pleite. Von dir hab’ ich nichts zu erwarten.« Und fügt später hinzu: »Kein Wunder, dass Dad nicht bei dir bleiben wollte, du hast ja nicht mal die High School beendet.« [157] Mel gibt zu, knapp an Geld zu sein, das Leben aber dennoch zu bewältigen. Als Brooke ihren Umzug ankündigt, damit Tracy Evie nicht mehr wiedersehen werde, weil ihrer Meinung nach die »böse« Tracy den schlechten Einfluss auf Evie ausgeübt habe [158], verteidigt Mel ihre Tochter damit, dass sie noch mit Barbie-Puppen gespielt habe, bevor sie Evie traf. 26.3 In der Küche. Brooke kontert, dass Tracy Evie geschlagen habe und entblößt ihr den geritzten Arm, was Mel fassungslos macht und Übelkeit auszulösen scheint, während bei Tracy gesteigerte Wut ausbricht: »Geht dich überhaupt nichts an, du Monster von Frankenstein«, kocht es Brooke gegenüber hoch, worauf diese Tracy »durchtriebenes Luder« nennt. Das übersteigt Mels Toleranzgrenze. Sie verweist beide Gäste des Hauses und wendet sich Tracy zu [159]. Beim Hinausgehen erdreistet sich Evie noch zu sagen: »Wer würde freiwillig in diesem Drecksloch bleiben wollen!« 153 154 155 156 157 158 159 25 DREIZEHN Sequenzprotokoll 160 161 162 163a 163b 164 165 26 27.TC 1:27:32 – In Tracys Heim: Festhaltetherapie 27.1 In der Küche. Als Brooke mit Evie gegangen ist, umarmt Mel ihre Tochter, die sich vehement dagegen wehrt: »Lass mich in Ruhe! Ich hasse dich!«, schreit sie. Mel bleibt unbeirrt und schafft es, der am Boden zerstörten Tracy beizustehen: »Ich liebe dich und deinen Bruder mehr als alles auf der Welt. Ich würde für dich sterben, aber ich werde dich jetzt nicht allein lassen!« [160]. Tracy glaubt dem nicht, weil sie von Mason gehört hat, dass sie zu Dad ziehen solle, und stößt ihre Mutter von sich. Mel aber hält mit ihrer ganzen körperlichen Stärke die sich wehrende Tracy fest [161] und erklärt: »Ich will nur, dass du mit deinem Vater zusammen bist. Und ich möchte, dass du hier bei mir bist. Du bist mein Herz. Es wird alles wieder gut.« Tracy besteht nach wie vor darauf, losgelassen zu werden, was Mel nicht befolgt. Beide gleiten auf den Küchenboden [162]. Die Kamera blickt von oben auf sie. Mel streift Tracys Ärmel zurück und fängt an, ihre Schnittwunden zu küssen [163a]. In einem Schwenk von Mel in Nahaufnahme zu Tracys Gesicht, das erste Spuren der Erleichterung zeigt [163b], wobei sie noch weinerlich zwischen Schluchzen mehrmals die Wörter »Mom« fallen lässt, wird die Wiedervereinigung von Mutter und Tochter formal vollzogen. Auch die Kamera hat sich jetzt in Bodennähe begeben und fängt somit die beiden an ihrem Tiefpunkt wieder auf [164]. 27.2 Auf Tracys Bett. Mel hat sich neben Tracy gelegt [165]. Eine Detailaufnahme zeigt Mels von Arbeit gezeichnete Hand mit schmutzigen Fingernägeln, wie sie Tracys umfasst [166] {Musik ab TC 1:26:40: Gitarre bis Schluss}. Beide sind jetzt friedlich in dem in Totale gezeigten Raum vereint [vgl. »Farbdramaturgie« und »Lichtführung«, S. 51f.]. Ein Licht streift durch das Zimmer und gleitet über beide Körper. In mehreren Überblendungen, die die Gestalten in wechselnder Körperhaltung zeigen, kehrt Abend ein und bricht der Tag wieder an. In den letzten Einstellungen erhält der Film seine Vielfarbigkeit zurück. Das Sibül-Poster an der Wand [hier zum achten Mal gezeigt] bleibt links im Hintergrund klein über dem Bett sichtbar. Tracy richtet sich auf und schaut auf ihre schlafende Mutter. Anschließend dreht sie sich nach rechts (vom Zuschauer aus gesehen) und lässt ihren Blick in unbestimmte Ferne schweifen [167]. Das Bild erstarrt zum Standbild und schließt damit formal an den Filmanfang an. Abblende zu Schwarz. 28.TC 1:30:49 – Abspann, Stand- und Rolltitel Tracy erscheint noch einmal in mehreren kurzen Einstellungen auf einem sich drehenden (Spielplatz-)Karussell; sie entlässt abschließend einen Schrei und friert zum Standbild ein. Es folgen die Standtitel der Beteiligten auf schwarzem Grund, danach setzen die Rolltitel des Abspanns ein. [Ende TC 1:35:40] 166 167 DREIZEHN Handlungsmodell Handlungsmodell: Entwicklung und Abwicklung einer Freundschaft Ausgangssituation 1: die kindlich Verbliebene Hauptfigur: Tracy (Trace) Louise Freeland Merkmale: Scheidungskind, eingebunden in Familie; introvertiert: schreibt Gedichte, die Mutter und Lehrer begeistern, trägt noch kindliche Kleidung; ist materiell benachteiligt. Zugeordnete Figuren: Mutter Melanie (Mel); Bruder Mason und kindliche Freundinnen wie Noel, Mels Freund Brady, Mels Ex = Tracys Vater Travis Ausgangsposition 2: die jugendlich Fortgeschrittene Hauptfigur: Evie Zamora Merkmale: Waisenkind, eingebunden in die Clique; extrovertiert: verdreht Mitschülern den Kopf durch betonte Körperlichkeit mittels modischer Accessoires und Klamotten; ist materiell begünstigt durch Drogendeals und Diebstahl. Zugeordnete Figuren: Vormund Brooke LaLaine; Clique von »Knackärschen« mit Astrid und anderen Mädchen sowie eine Reihe farbiger Jungenbekanntschaften Konfliktinitiierende und Veränderung auslösende Momente Tracy wird in der Schule von den Jungen zugunsten Evie Zamoras und ihrer Clique der »Knackärsche« übersehen. Sie wird wegen ihrer kindlichen Socken mit der Bemerkung: »Wer hat denn die aus dem Laufstall gelassen?!« verspottet. Veränderungsmoment 1 bei Tracy Sie entsorgt ihre kindliche Kleidung und ihre Stofftiere; Mel kauft ihr neue Klamotten. Veränderungsmoment 1 bei Evie Evie nimmt die neu eingekleidete Tracy wahr, lobt ihr »cooles shirt« und schlägt gemeinsames Shopping vor. Konfliktraum 1 infolge der Aufnahme Tracys in Evies Clique Tracy stiehlt sich von Zuhause davon, um Evie und Astrid auf der Melrose Av. beim Shoppen zu treffen. Sie wird von Evie und Astrid abermals verspottet und entdeckt konsterniert deren Ladendiebstähle. Tracy erwirkt durch Diebstahl einer Brieftasche und anschließenden Großeinkauf die Anerkennung beider. Sie wird Teil einer Clique, zu der neben dem Umgang mit Jungen auch Alkohol, Drogen und Diebstahl gehören. Beginn der Freundschaft Veränderungsmoment 2 bei Tracy Tracy ist in Evies Clique aufgenommen und hat ihr erstes Date mit einem Jungen [Javi]. Tracy gerät zunehmend in Streit mit ihrer Mutter, lässt Noel links liegen und sackt in der Schule ab. Veränderungsmoment 2 bei Evie Evie hat in Tracy eine enge Freundin gewonnen und lebt mehr und mehr bei Tracy zu Hause. Evie schätzt zunehmend die Fürsorge von Tracys Mutter und erprobt ihre Anziehungskraft an Mason und Luke. Konfliktraum 2 infolge der Aufnahme Evies in Tracys Haus Tracy behandelt ihre Mutter immer verächtlicher; Mel entdeckt die geklauten Klamotten. Evie bestiehlt Mels Kunden, besorgt Drogen für Tracy und deponiert heimlich welche in ihrem Zimmer. Evie sucht Mutterersatz in Mel und wünscht sich die Adoption durch diese. Mel setzt die Entscheidung darüber aus. Konflikteskalation und –lösung: Ende der Freundschaft Evie wird zu ihrer großen Enttäuschung von Mel zu ihrem Vormund Brooke zurückgefahren. Evie schließt Tracy aus ihrer Clique aus und Astrid wieder ein und fährt mit einigen Jungen davon. Tracy wird in der Schule tätlich angegriffen und droht wegen schlechter Leistungen nicht versetzt zu werden. Evie kommt mit Brooke zu Mel, hat Geld- und Drogenverstecke ausgehoben und als Tracys Eigentum unterstellt. Brooke beschuldigt Tracy, schlechten Einfluss auf Evie ausgeübt zu haben, und offenbart die Schnittwunden an Tracy. Mel wirft beide nach den Beschuldigungen aus dem Haus und nimmt sich der weinenden Tracy zärtlich an. Endsituation 1 Mel küsst Tracys Schnittwunden, offenbart ihre Liebe und rückt eng mit Tracy auf deren Bett zusammen. Endsituation 2 Brooke will mit Evie in eine andere Stadt ziehen, um sie vom Kontakt mit Tracy abzuhalten. Offene Fragen zur (Nach-)Geschichte: Welche Lehren werden Tracy, Mel und Evie aus dieser Episode ziehen? Wie wird Tracy ihr Leben wieder in den Griff kriegen? Wie hätte der ganze ›Absturz‹ vermieden werden können? Worin bestand die wechselseitige Täuschung über die Hintergrundmotive dieser Freundschaft? 27 DREIZEHN Figureninventar Figureninventar Tracy Louise Freeland, dargestellt von Evan Rachel Wood, ist die 13-jährige Protagonistin des Films. Er beginnt mit ihrem Bild als Drogenberauschte und endet im Abspann [Sequenz 28] mit mehreren kurzen Einstellungen von ihr, wie sie auf einem Karussell (wie man es auf Kinderspielplätzen findet) eine schnelle Rotationsbewegung macht [P1, P2]. Tracy bringt im Verlauf des Films nicht nur sich, sondern auch ihre Mitmenschen zum »Rotieren«. An ihrer Figur wird eine jugendliche Entwicklungsgeschichte aufgehängt, die viele Teenager in einer pubertären Suchbewegung nach ihrer Identität – Wer bin ich, wer will ich sein und was will ich werden? – durchmachen. Wie wir aus dem Presseheft erfahren, geht die Geschichte auf wirkliche Erlebnisse von Nikki Reed zurück, die Evie Zamora spielt und die erlebt hat, was uns Evan Rachel Wood vorspielt. (Nikki war der Regisseurin als Tochter ihres Freundes bekannt und wurde als Co-Autorin für das Drehbuch engagiert). Nach deutschem Gesetz (JGG § 1, Abs. 1.2) ist ein Jugendlicher, wer »vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt« ist. Demnach wäre Tracy mit dreizehn noch ein Kind, das sich allerdings auf dem Sprung zum Jugendlichen befindet. Ihr Zimmer spiegelt in der ersten Einstellung diese nahende Schwellenüberschreitung, indem es neben Stofftieren ebenso Teenager-Idole auf Postern aufweist und somit eine Zwitterstellung zwischen Kind und Jugendlichem ausdrückt. Dass Tracy in der Entwicklung zum Jugendlichen Evie noch hinterherhinkt, geht nicht nur aus ihrer anfangs kindlichen Kleidung hervor, sondern auch aus ihrem Verhalten: Während Evie die Annäherung des Jungen in der ersten Drogenszene im Park auskostet, windet sich Tracy bei ihrem Partner noch in Verlegenheit [Sequenz 10, Abb. 52]. Während Evie darauf erpicht ist, Tracys Bruder Mason hinter dem Fenster ihren Busen durch Hochziehen des Pullis zu zeigen, streichelt Tracy den Hund [Sequenz 12.1, Abb. 64]. Während Evie die Initiative ergreift, den Nachbarjungen Luke zu verführen, bleibt Tracy zuerst zurückhaltend im Abseits stehen [Sequenz 18.1, P3]. Tracy als Protagonistin verkörpert all die Widersprüche, in denen sich Jugendliche ihres Alters verfangen. Sie will einerseits von ihrer Mutter selbstverständlich geachtet, in ihren Wünschen bedient und respektiert werden, zeigt andererseits die größte Missachtung gegenüber dem Bemühen ihrer Mutter, den gesteigerten Bedürfnissen Tracys nachzukommen. Das Leopardenfell, das Mel auf die Jeans genäht hat, ist eine Art mütterlicher Zuwendung, die bei Tracy nicht ankommt: Statt sich zu bedanken, was Evie dann ersatzweise tut, ergeht sie sich in Vorwürfen und ruft ihrer Mutter noch »blöde Kuh« nach. Dass sich Mel täglich abrackert, um das nötige Geld zur Versorgung ihrer Familie zu verdienen, kommentiert Tracy mit dem bitteren Vorwurf, dass sie ständig nur pleite und von ihr nichts zu erwarten sei [Sequenz 26.2], und setzt noch oben drauf, dass sie ja nicht mal die High School abgeschlossen habe, weshalb sogar der Auszug ihres Vaters verständlich sei. Kurz: Tracy steht im Verlauf des Films nicht mehr zu ihrer Herkunftsfamilie, empfindet diese als beschämend, da sie ihre Ansprüche an das Leben – insbesondere ihre Ansprüche einer von der Konsumindustrie gesteuerten Verbraucherin, die vom Gruppenzwang ihrer Mitschülerinnen das Maß aller Dinge hautnah aufgedrückt bekommt – nicht erfüllen kann. Das Grundübel jedoch, an dem Tracy leidet, ist die Trennung ihrer Mutter von ihrem Vater, der neu liiert eine neue Wohnung bezogen und eine neue Familie gegründet hat. Wie man weiß, hegen viele Scheidungskinder bis ins Erwachsenenalter hinein den sehnlichen Wunsch, dass ihre Eltern wieder zusammenkommen mögen. Insofern scheint es verständlich, dass Tracy in Mels neuem Freund und Liebhaber Brady den Stein des Anstoßes sieht, was vordergründig zwar von seinem einstigen Drogenproblem legitimiert scheint, doch hintergründig die Sehnsucht nach einer wiedervereinten Familie ausdrückt. P1 28 P2 P3 DREIZEHN Figureninventar Tracys Name trägt vier von fünf Buchstaben des Wortes »trace« in sich (ihr Bruder Mason und Evie nennen sie manchmal Trace statt Tracy), was zu deutsch als Substantiv »Spur« im Sinne von Fährte, aber auch Spur im Sinne von einer geringen Menge bedeutet, und als Verb die Bedeutungen »folgen«, »nachgehen, nachspüren«, doch ebenfalls »aufspüren, ausfindig machen« als auch »zeichnen, nachzeichnen, durchpausen« umfasst. Damit wird Tracy als eine Suchende, eine in Gefolgschaft einer anderen sich bewegende Figur angelegt. Auch die Tatsache, dass sie sich mit einem Gedicht einbringt [Sequenz 3], auf das ihre Lehrerin bei Eröffnung ihres schulischen Scheiterns gegen Ende nochmals zurückkommt [Sequenz 25.3], lässt Tracy als ein sensibles, tiefgründiges Mädchen erscheinen. Der Beginn ihres Gedichts mit dem Vers: »Er war verkrüppelt, aber nur sein Körper war gebrochen«, desavouiert jegliche Ideologie, wonach nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohne. Man kann diesen Satz als Korrektiv gegen die den Weg Tracys begleitenden Reklame-Schilder mit ihrem »BEAUTY IS TRUTH«Slogan anführen und sogar den Umkehrschluss wagen, der in etwa lauten würde: Sie war von schönem Wuchs, aber nur ihr Körper war perfekt«, womit wir nicht nur die Schattenseite Tracys bei ihrer Selbstverstümmelungspraxis des Ritzens streifen, sondern auch bei Evie als trügerisch leuchtendem Vorbild angelangt wären. Evie Zamora, gleichaltrig und als »heißeste Braut« an der Junior High School gehandelt, steht als Katalysator für einen Entwicklungsschub Tracys, den diese wahrscheinlich später ohnehin durchgemacht hätte mit Hilfe anderer Jugendlicher aus der sog. peer group. Evie schart einen eigenen Hofstaat gleichgesinnter Freundinnen um sich, die ihre Ausstrahlung wie Macht potenzieren und als Summierung von »Knackärschen« die Jungen auf sich aufmerksam machen. Evie wird durch ihren Namen als Leitfigur für eine gefährliche Entwicklung eingeführt: ihr Vorname lässt einerseits Eva, die Verführerin aus dem Paradies, anklingen, unterscheidet sich andererseits nur durch einen Buchstaben von evil; ihr Nachname wiederum kommt in seinen letzten zwei Silben dem biblischen Gomorra sehr nahe. Sie ist an der Schule das für US-Verhältnisse typische »popular girl«, dem alle nachschauen und das mit dem Flair des Verruchten die Fantasien der pubertären Jungen nährt. Sie ist die Kehrseite einer in den USA wegen der puritanischen Vergangenheit noch virulenten Doppelmoral, die einerseits jegliche sexuelle Freizügigkeit mit schärfsten Sanktionen belegt (Das Baden »oben ohne« wird polizeilich verfolgt), andererseits die Gesellschaft in einem permanenten Zustand sexueller Erregung durch die Surrogate der Werbe- und Filmindustrie hält. Die so glamouröse Evie ist jedoch ein Geschöpf aus der ›Gosse‹, deren Mutter – wie Evie unbedacht nach der Einnahme von Kokain kundgibt [Sequenz 21.1, P4] – eine drogenabhängige Hure gewesen ist. Sie lebt mit ihrem Vormund, ihrer Cousine Brooke, zusammen, die durch ihren Beruf als Schauspielerin und Model das Leitbild der permanenten Jugend und des Sex Appeal abgibt, das aber durch ihre BHEinlagen [Sequenz 17.2] und ihre Schönheits-OP [Sequenz 24.2] als Trugbild demontiert wird. Evie ist als weitgehend Unbeaufsichtigte jetzt schon auf der schiefen Bahn: Sie stiehlt in Boutiquen Kleidung und stiehlt Geld aus der Handtasche von Mels Kundin. Sie verkauft Drogen und gibt sich sexuellen Abenteuern hin, ist damit eine Inkarnation von »sex & crime«, sozusagen eine Antagonistin gegenüber dem offiziellen moralischen Wertmaßstab (nicht nur) der US-Gesellschaft. Als Erklärung für ihr Verhalten wird eine schwere Kindheit ins Feld geführt, die im sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel gipfelte, der sie auch ins Feuer gestoßen habe, woraus ihre Narbe auf dem Rücken herrühre, die man nur einmal sieht [Abb. 97, S.19] und die im Gegensatz zu ihrer scheinbar makellosen Körperlichkeit eine innere, seelische Verkrüppelung ahnen lässt (vgl. die Umkehr von Tracys Gedicht). Was Evie zunehmend an Tracy und deren Zuhause bindet, ist nicht so sehr die Freundschaft zu ihr, sondern die mütterliche Fürsorge Mels, die Evie im Unterschied zu Tracy sehr wohl gewahrt und zu schätzen weiß und die schließlich in ihr den Wunsch einer Adoption wachruft. Erst als diese Hoffnung verlischt und sie darüber in Tränen ausbricht [Sequenz 24.2], wendet sich Evie von Tracy ab und belastet diese noch durch das offenbarte Versteck ihrer Drogen in Tracys Zimmer. Über die Ausdrücke, die ihr beim Abschied aus dem Haus, dessen Gastfreundschaft sie so lange genossen hatte, entschlüpfen, wird sie wieder von der Gosse eingeholt, der sie durch die Freundschaft zu Tracy so sehnlichst entfliehen wollte. P4 29 DREIZEHN Figureninventar Als hintergründiges Motiv in der Freundschaft der beiden 13-Jährigen lässt sich ein Schema erkennen, das als wechselseitiges Einander-Brauchen für den Beziehungsverlauf ausschlaggebend ist: Tracy sucht Evies Freundschaft, weil sie in ihr eine Wegbereiterin zur eigenen Anerkennung, Aufwertung und Entwicklung sieht, wobei die Zugehörigkeit zu Evies Clique ihr Selbstwertgefühl steigert. Dass Tracy mit Evie shoppen war, adelt jene und erfüllt sie mit Stolz [Sequenz 6.3] und zeigt, dass sie für ihr Selbstwertgefühl eine äußerliche Stütze braucht, die, wenn sie wegbricht – wie das Rendezvous Evies mit Kaykay im Park zeigt –, sofort ihren Absturz in Selbstverstümmelungspraktiken zur Folge hat und damit ihren fehlenden inneren Halt demonstriert. Evie lässt sich mit Tracy ein, nachdem diese ihre »Eintrittskarte« mit der Mutprobe des Geldbörsendiebstahls und dem Geschenk des Großeinkaufs abgeliefert hat. Sie vergrößert damit Evies Fangemeinde und erweist sich als nützliches Mitglied ihrer Clique. Doch allmählich beginnt Evie an Tracy eine andere Qualität zu begehren, die nicht mehr in ihrer Person liegt: ihr behütetes Zuhause mit einer fürsorglichen Mutter, einem attraktiven Bruder und Nachbarjungen, ordentlichen Malzeiten etc... Was Tracy der Freundschaft wert macht, ist also weniger ihre einzigartige Persönlichkeit als solche (Gefolgsleute in Evies Clique sind, wie Tracy später merkt [Sequenz 25.1], austauschbar), sondern ihr familiäres Umfeld, in dessen Geborgenheit Evie gern eintauchen möchte. Auch sie offenbart damit den fehlenden inneren Halt und das Angewiesensein auf eine äußere Stütze, die sie in ihrer Kindheit stets vermisst hat und in Brooke nur unzureichend vorfindet. Und auch Evie bricht zusammen, als die Perspektive einer erhofften Adoption wegbricht. Mason, Tracys etwas älterer Bruder, der auf dieselbe Schule geht, dient vor allem Evie als Reibungsfläche, um sich ihres Sex Appeals zu vergewissern. Schließlich war er es, der in der Schule zuallererst in ihren Bann geriet und dabei seine Schwester mit Missachtung strafte. Wenn Evies ›Anmache‹ gegenüber Mason seiner Schwester eher peinlich ist, so lässt Evie sich nicht davon abhalten, ihm ihre sinnlichen Reize zu demonstrieren. Mason ist zumindest in seinen kurzen Auftritten weniger Problemkind als vielmehr Vollzugsorgan eines mütterlichen Willens, wenn er z.B. Tracy deren Botschaft weiterreicht, dass sie ihr Zimmer aufräumen solle, sie nächtens aus dem Park heimholt oder ihr nach deren Kinoausflug Vorhaltungen wegen ihres Drogenkonsums macht. Insoweit ersetzt er ein wenig die väterliche Autorität, wenngleich er selbst kifft und auch für die Reize seiner Schwester, als er sie von hinten nicht erkannte, empfänglich ist. Er verliert bis auf eine Ausnahme nicht die Beherrschung und zeigt ein gehöriges Maß an Verantwortung für den gemeinsamen Haushalt. Melanie, Tracys alleinerziehende Mutter, auch kurz Mel genannt, ist eine attraktive Frau zwischen 35 und 40, die Evie bei der ersten Vorstellung mehr als ältere Schwester Tracys denn als deren Mutter erscheint. Holly Hunter, die einst für ihre Rolle in Jane Campions THE PIANO (1992) den Oscar bekam, verkörpert diese Figur, die zwischen geschwisterlicher Intimität und mütterlicher Autorität versucht, sowohl das Vertrauen ihrer Kinder zu erhalten als auch das Vorbild einer respektablen Lebensführung darzustellen. Neben spärlichen und anscheinend unregelmäßigen Unterhaltszahlungen ihres geschiedenen Mannes ernährt Mel sich und ihre Kinder von Frisier-Jobs in ihrer Wohnung, von denen sie zwei am Tag braucht, um über die Runden zu kommen. Wie wir von Tracys Vorwürfen aus Sequenz 26.2 wissen, hat es Mel zu keinem High School Abschluss gebracht und ist von daher in den Augen ihrer Tochter mit einem Makel belegt. Doch auch die erste Einstellung, die Mel zeigt, deutet auf eine Schwachstelle bzw. eine ihren Kindern gegenüber mühsam aufrecht erhaltene Fassade hin: Ihr Fuß tritt eine Zigarette aus [P5], deren Stummel sie schnellstens in ihrer Hosentasche verschwinden lässt, um dieses Laster vor ihren Kindern zu verbergen. Sei es aus Gründen dieses Kontakts mit dem Erdreich oder als Sinnbild für ihr tägliches Arbeitspensum, das auch Gartenpflege beinhaltet – jedenfalls fallen in mehreren Detaileinstellungen Mels schmutzige Fingernägel auf [vgl. Abb. 166, S. 26], die in merkwürdigem Kontrast zu ihren gepflegten Zehennägeln stehen, die eine polychrome Bemalung tragen. Auch ist Mels Haushalt trotz der Turbulenzen, in die sie wegen ihrer Tochter gerät, nicht das stinkende, schmutzige Loch, das Evie ihr beim Abschied ankreidet. 30 DREIZEHN Figureninventar Mel ist gegenüber ihren Kindern sehr einfühlsam und liebevoll, die selbst dann noch einigermaßen ruhig bleibt, nachdem ihre Tochter sich die eine oder andere Frechheit erlaubt hat. Was an ihrer Kleidung in Kontrast zu der immer frivoler werdenden Tracy auffällt, ist ein rotes Kreuz auf der Brust, das ein dunkelblaues Hemd ziert. Insofern steht sie für eine gewisse Tugendhaftigkeit selbst in dem etwas ›lockeren‹ oder ›ausgeflippteren‹ Lebensstil Los Angeles’. Brady, ihr Lebenspartner, der von einer Entzugstherapie zurückkehrt, verkörpert schon eher die mit Kalifornien assoziierte Lebenshaltung einer noch nicht ganz verpufften, non-konformistischen HippieFlower-Power-Bewegung. Wenn er nach seinem vorübergehenden Auszug barfuß zurückkehrt und den Wagen von Mels Ex-Mann lobt [P6], ist man unsicher, ob im Lob nicht ein ironischer Unterton mitschwingt. Bei allen Vorwürfen, mit denen Tracy ihn traktiert, kann man von Brady behaupten, dass er noch den größten Überblick bewahrt und in den Auseinandersetzungen zwischen den Familienmitgliedern fast als ruhender Pol wirkt. Er ist es, der die gesamte Familie mit dem »Zen-Huhn« zum Lachen bringt. Er ist es, der Tracy davon abhält, mit dem Eishockeyschläger auf Mason, ihren Bruder, einzudreschen. Er ist es, der das Malheur des vollgepinkelten Betttuchs beseitigen will. Und er ist es, der nach seinem – aus Gründen des Selbstschutzes – vollzogenen Auszug mit einem kleinen Geschenk eines Steh-auf-Eselchens zurückkehrt, um Mel in ihrem Leben zu bestärken und ihr ein Lächeln abzugewinnen. Mels Ex-Ehemann, der Vater Masons und Tracys, taucht im Verlauf des Films nur einmal am Telefon und einmal leibhaftig auf. Am Telefon hat er von der Geburt eines Babys und dem Bezug einer neuen Wohnung berichtet und davon, dass er am Wochenende nicht wie geplant die Kinder zu sich nehmen könne. Als sich die Lage zuspitzt und Mel ihn bittet, sich ihrer und vor allem Tracys anzunehmen, ist er aufgrund des Mobiltelefons, das ihn immer wieder zu seiner Arbeit zurückruft, nicht in der Lage, sich auf die Probleme seiner Kinder einzulassen. Nach dem Motto eines Möchte-gern-Managers, will er in aller Kürze über das Problem gebrieft werden, und sein ganzer Habitus verrät dabei, dass er am liebsten gar nichts mit diesen familiären Problemen zu tun haben möchte, weil ihm sein Wiedereintritt ins Berufsleben genug Probleme bereitet. Eigentlich wirkt der Mann bei seinem Auftritt weniger wie ein Vater als vielmehr eine Karikatur des harten amerikanischen Geschäftslebens, der – von seinem eigenen möglichen Versagen und virtuellen wie reellen Konkurrenten getrieben – das Leben eines gehetzten DarwinismusOpfers führt, das mit aller Macht »wieder auf die Beine kommen« will. Brooke, Evies Cousine und Vormund, ist ähnlich und gar zweifach arm dran: Nicht nur fehlt ihr trotz ihres »Traumjobs« als Schauspielerin und Fotomodell das nötige Finanzpolster, so dass sie gezwungen ist, sich als Bardame zu verdingen, sie ist auch ein Opfer des Schönheitsideals einer unvergänglichen Jugend, dem sie durch wiederholte Schönheitsoperationen zu ihrem eigenen Leidwesen Tribut zollen muss, um den Hauch einer Chance zu haben, wieder ins Geschäft zu kommen [P7]. Jugendliche, mit denen Tracy und Evie verkehren, lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Zum einen Tracys noch kindliche Gefolgschaft bestehend aus Schulkameradinnen wie Noel und ihrer asiatischen Freundin, die ihr zusehends lästig werden, zum anderen Gruppen, zu denen sie zunehmend aufschließen will und in denen Evie schon länger verkehrt: Dazu gehören Mädchen wie Astrid in der Schule oder Jungen wie Javi, Marco, Kaykay; aber auch der »Rettungsschwimmer« Luke (in der dt. Fassung »Bademeister« genannt) aus der Nachbarschaft hat es ihr angetan. Evie pflegt zusätzlich noch Umgang mit einem Kundenstamm von Drogenabnehmern, die partiell zur Rap-Szene gehören. P5 P6 P7 31 DREIZEHN Pubertät und Identitätsbildung Pubertät und Identitätsbildung Der Filmtitel markiert ein Lebensalter, dass generell mit der Pubertät und der Suche nach der eigenen Identität in Verbindung gebracht wird. Mit dreizehn ist für viele – ob Mädchen oder Jungen – ein Bewusstsein vom Ende oder vom Zuende-Gehen der Kindheit unausweichlich, was zunächst eine große Verunsicherung bedeutet. Dieses Ende bedingt zugleich einen Abnabelungsprozess vom Hort der Familie oder einer familiären Bindung bei der Suche nach dem eigenen Platz und der eigenen Rolle im gesellschaftlichen Geflecht der Erwachsenen-Welt. Dieses Herauswachsen aus der Familie gelingt jedoch um so leichter, je mehr diese ein Hort oder Ort der Erfüllung war, d.h. das Kind mit einem hinreichenden Sättigungsgrad an familiärer Geborgenheit und Fürsorge entlassen wird. Hier tut sich das erste Defizit in unserer modernen Gesellschaft mit ihren Kern- und Rumpf-Familien auf, das der Film in Form einer alleinerziehenden Mutter thematisiert, die sich zwischen nicht gerade einträglicher Erwerbsarbeit als Friseuse mit permanenten Geldsorgen und der Sorge wie Fürsorge für bzw. um ihre Kinder ›zerreißt‹. Neben dem Bruch der traditionellen Familienbande und den daraus entstehenden psychischen und ökonomischen Nöten, bedeutet ein Leben in der »Risikogesellschaft«, die der Soziologe Ulrich Beck in seinem vielbeachteten Buch1 als Signum unserer modernen Zeiten umreißt, für die meisten ein Leben unter dem Damokles-Schwert einer ständig drohenden Verarmung. Die schon unter der Politik Ronald Reagans in den USA erwirkte Senkung der Mindestlöhne mit der Folge, dass viele Amerikaner nur auf Grundlage zweier Jobs (und zweier Wochen Urlaub im Jahr!) über die Runden kommen, hat die Beanspruchung der erwerbstätigen Mütter und Väter – und auch das zeigt der Film deutlich an der Figur von Tracys Vater, der das Surfen mit seinem Sohn immer wieder aufschieben muss – auf die Spitze getrieben. Insofern ist die Geborgenheit, die Kinder bräuchten, schon von der ökonomischen Basis her korrumpiert, was Tracy am Filmende im Vorwurf an ihre Mutter zusammenfasst: »Du bist ständig nur pleite. Von dir hab’ ich nichts zu erwarten.« Doch dieser Vorwurf ist von Tracy vor dem Hintergrund eines eigenen Lebensentwurfs formuliert, in dem Leitbilder und Ich-Ideale von einem glamouröseren Leben unablässig auf Kinder und Jugendliche einwirken. Identitätsbildung vollzieht sich somit in dem Zwiespalt zwischen einer real empfundenen Minderwertigkeit psychischer (zerbrochene Familie) wie ökonomischer Art (Geldmangel) auf der einen und einer ideal begehrten Andersartigkeit auf der anderen Seite, die ständig durch die ventilierten Bilder der in Reichtum schwelgenden »happy few« (siehe Paris Hilton!) genährt wird. Was Sendungen von MTV, in denen die Lebensgewohnheiten der Popstars ausgebreitet werden, in Jugendlichen als Ich-Ideal und einem »Bild von Jugend« schlechthin festsetzen2, kann gemessen an deren realen Möglichkeiten zur Verzweiflung oder zur »Selbsthilfe« der Art führen, wie Tracy und Evie sie mit 860 geklauten Dollar vorzuweisen haben. Eine psychoanalytische Auffassung der Identitätsentwicklung Unter den Psychologen hat sich Erik H. Erikson seit Mitte des 20. Jahrhunderts sehr eingehend mit den Phasen der Identitätsbildung befasst, die erstaunlicherweise ein halbes Jahrhundert später noch weitgehend ihre Gültigkeit besitzen. Schon in »Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel« (1946) merkt Erikson an, dass das von biologischem Es und soziologischen Massen eingekreiste »Ich, dieses individuelle Zentrum organisierter Erfahrung und vernünftigen Planens«3 unter der Obhut eines Ich-Ideals oder Über-Ichs, wie Freud es sich noch dachte, nicht mehr den gewünschten Halt finden kann. Wenn Erikson dagegen von einem Ich-Modell, an welchem sich die eigene Identität emporrankt, sprechen wird, so tut er das in dem Bewusstsein, dass jenes in unserer Gesellschaft keinen allgemein verbindlichen Charakter hat: 1 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1986 (= es 1365) 2 »The 12-year-old might not be able to buy the goods but she is very able to consume the images. She is quite familiar with the world of consumer goods which is now addressing her with greater respect from all sides.« (Angela McRobbie: »You should be so lucky«, New Statesman, 9.9.1988, S. 47; hier zit. nach Simon Frith: »Youth / Music / Television« (1988), in: Simon Frith / Andrew Goodwin / Lawrence Grossberg (ed.): Sound and Vision. The Music Video Reader. London / New York: Routledge, 1993; S. 75) »MTV Europe represents a youth lifestyle, and Levi-Strauss the clothing for that lifestyle.« (John Ankeny, von Levi-Strauss zitiert in MTV Press Release August 1988 – zitiert in Simon Frith: »Youth / Music / Television« (1988), in: a.a.O.; S. 71) »For the mid-1980s’ alliance of the new television, the music industry and global advertisers, ›youth‹ was constituted as a pop audience, a social group with an identity – a lifestyle – expressed through rock sounds and stars and styles.« (Simon Frith: »Youth / Music / Television« (1988), in: a.a.O., S. 72) 3 Erik H. Erikson: »Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel« (1946), in: ders., Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973 (= stw 16); S. 13. 32 DREIZEHN Pubertät und Identitätsbildung Die Expansionstendenz unserer Zivilisation zusammen mit ihrer Schichtenbildung und Spezialisierung zwingt das Kind, sein Ich-Modell auf wechselnde, nur einen Ausschnitt der Welt repräsentierende und dazu noch widerspruchsvolle Prototypen zu gründen4. Das »bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen« beruht zunächst auf »zwei gleichzeitigen Beobachtungen«: a) der »Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit« und b) »der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen«5. Diese Kontinuität der eigenen Sich-Selbst-Gleichheit in der Zeit ist jedoch einer steten Herausforderung und einem sukzessiven Veränderungszwang unterworfen, sowohl aufgrund der eigenen biologischen Veränderungen als auch aufgrund der wechselnden Erwartungen unterschiedlicher Gruppen und gesellschaftlich vermittelten Ich-Modelle. Für den Begriff der Identität heißt das: Er »drückt also ... sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen«6 aus. Daraus ergibt sich das Spannungsfeld, sowohl sich selbst gegenüber treu bleiben zu wollen als auch einer Gruppennorm zwecks eigener Anerkennung gehorchen zu müssen. Identitätsentwicklung ist Erikson zufolge einem Phasenmodell unterworfen, dessen Fundament im Säuglingsalter als »Urvertrauen« gelegt sein sollte, um später zur »Autonomie« und »Initiative« fortschreiten zu können. Sollte im Babyalter der plötzliche Verlust der gewohnten Mutterzuwendung eingetreten sein, so könne das später zu Depressionen und chronischem Trauergefühl führen und in einen in der Terminologie der Psychoanalyse »oralen Charakter« münden, bei dem »infantile Ängste, wie die, ›leergelassen‹ oder gar ›verlassen zu werden‹, aber auch die, in seinem Reizhunger ungestillt zu bleiben...«7, die Oberhand gewinnen. Bei Tracy sind es stets Momente des Verlassen-Seins oder -Werdens, die zum Ritzritual führen [vgl. »Tracys Trauma«, S. 38ff]. Im Zuge der Pubertät finde nun eine »Integration...in der Form der Ich-Identität« statt, die als das Gefühl »einer innere[n] Einheitlichkeit und Kontinuität« definiert wird, sofern im Phasenmodell an dieser Stelle die Infragestellungen aller »Identifizierungen und alle[r] Sicherungen, auf die man sich früher verlassen konnte«8, einigermaßen unbeschadet überwunden bzw. durch adäquatere Identifizierungen ersetzt werden. Was Erikson im Unterschied zu psychoanalytischen Invariantenlehren interessant macht, ist seine Reflexion der spezifisch gesellschaftlichen »Standardisierungen der Individualität und der Intoleranz gegenüber ›Abweichungen‹«, die für amerikanische Jugendliche ein »spezifischer Schock« sei und deren verzweifelte Suche »nach einem sie befriedigenden Gefühl der Zugehörigkeit..., sei es in Cliquen oder Banden...«9, begründe. Wichtigste Aufgabe des Jugendlichen in der Pubertät ist es nun, angesichts der physischen Revolution in ihm (...), seine soziale Rolle zu festigen. Er ist in manchmal krankhafter, oft absonderlicher Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er, im Vergleich zu seinem eigenen Selbstgefühl, in den Augen anderer erscheint und wie er seine früher aufgebauten Rollen und Fertigkeiten mit den gerade modernen Idealen und Leitbildern verknüpfen kann10. Wenn diese Verknüpfung misslingt, können zwei gegensätzliche Verhaltensweisen einkehren: eine mehr introvertierte mit Flucht- und Rückzugsverhalten, wobei Jugendliche »sich in ausgefallene und unzugängliche Stimmungen verkriechen«, oder eine mehr extrovertierte der Überidentifizierung »mit den Helden von Cliquen und Massen« zu dem Zweck, »sich selbst zusammenzuhalten«11. Während Evie eher die letztgenannte ›Lösung‹ vorlebt, sehen wir an Tracy ein Oszillieren zwischen beiden Verhaltensweisen, einen Rückzug ins Badezimmer zu Selbstverstümmelungspraktiken einerseits und eine Unterwerfung unter Evies Gruppennormen andererseits. Trotz dieser Regression ist Tracy progressiv darin, dass sie aus dem Hort der Familie entschlüpfen will, um ihren Platz unter den Jugendlichen zu finden, während Evie darin regressiv ist, dass sie in eine mütterliche Symbiose zurückkehren möchte. Es ergibt sich damit ein gegenläufiges Schema unterschwelliger Motive in der Freundschaft zwischen Tracy und Evie: Tracy sucht in Evies Gefolgschaft die Beachtung und den Zugang zu Jungen. Evie sucht in Tracys Gefolgschaft Unterschlupf und Geborgenheit in ihrer Familie. 4 a.a.O., S. 16f. 5 Alle Zitate, a.a.O., S. 18. 6 Erik H. Erikson: »Das Problem der Ich-Identität« (1956); in ders.: Identität und Lebenszyklus. a.a.O., S. 124. 7 ders.: »Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit« (1950), in: a.a.O., S. 70. 8 ebd., S. 106f. 9 ebd., S. 109. Er bemerkt eine »unerbittliche Standardisierung der amerikanischen Jugend« (S.110). 10 ebd., S. 106. 11 ebd. S. 110. 33 DREIZEHN Showdown Showdown: Die Waffen der Frauen S1 S2 S3 S4 S5 S6 S7 34 Gitarren-, Synthesizer-, Bass- und Percussion-Musik bilden für diese Szene einen ausgelegten ›Klangteppich‹, auf dem die Handlung zu einem ersten Höhepunkt der freundschaftlichen Verwicklung Tracys mit Evie voranschreitet. Sowohl die rhythmische Schnittfolge der Einstellungen als auch die Kamerabewegung und graphischen Eigenheiten eines im Bild sichtbaren Kleidungsstücks – wie Evies zum Bauchnabel hin geschnürtes Oberteil – finden sich musikalisch / akustisch untermalt, was dieser kurzen Szene eine besonderen ›Knalleffekt‹ verleiht, der im Kino regelmäßig für Erheiterung sorgt. Hier treffen sich zwei Teenager zu einem Abgleich ihres Hip-Seins, wobei in diesem Fall jedoch eine klare Hierarchie zwischen beiden Kontrahentinnen etabliert wird. Evie bleibt ganz unangefochten die »leading lady«: Sie ist und geht Tracy voraus, diese folgt ihr, was zum einen ganz topographisch als Hinterherlaufen Tracys gilt, zum anderen auf einer tieferen Ebene auch Tracys Gefolgschaft Evie gegenüber in Kleidungsstil und Verhalten begründet (to trace = folgen, nachgehen, nachspüren; nachzeichnen, durchpausen). Die Aufforderung Evies, mit ihr auf der Melrose Avenue zum Shoppen zu gehen, kann Tracy gar nicht schnell genug befolgen, denn kaum zu Hause angekommen, greift sie zum Telefon, um Evies – allerdings falsch – notierte Nummer zu wählen. In dieser Gemeinheit Evies, zwar die Einladung ausgesprochen, sie aber durch falsche Mobil-Nummernangabe gleichzeitig vereitelt zu haben, drückt sich noch das Moment der Herablassung Evies gegenüber der neuen Gefährtin aus, die sich erst mal ihre vollständige Anerkennung als Ebenbürtige verdienen muss (diese Herablassung wiederholt sich zu Beginn der Boutiquen-Szene in Sequenz 6). Wie sehr sich die beiden Mädchen rein äußerlich in puncto des modischen Up-to-date-Seins noch unterscheiden, bringt der Showdown, der Accessoire-Vergleich in aller Deutlichkeit zum Vorschein: Tracy springt mitten aus der Diskussion eines Projekts mit ihren beiden Schulfreundinnen auf, um Evie auf deren Weg zum Klo zu folgen [S1]. Diese lässt, vor Tracy hergehend, ganz beiläufig, d.h. ohne sich umzudrehen, die zwei Wörter: »cooles shirt« fallen (in der OF: »cute shirt«). Tracy erwidert das Kompliment mit einer anerkennenden Bemerkung über Evies Gürtel (in der OF: »cute belt«), wodurch diese stehen bleibt und sich vor einem Gitterzaun zu Tracy umwendet [S2], so dass sich die beiden Mädchen jetzt sozusagen auf »Augenhöhe« begegnen und der »Showdown« als Abgleich der Insignien des In-Seins beginnen kann. In kurzen Detaileinstellungen {mit akzentuierender und lauter werdender Musik} wird ein Duell zwischen beiden Mädchen mit den ›Waffen der Frauen‹ ausgefochten, wobei der Film im Prozess des ›Schlagabtauschs‹ vermittels einzelner Accessoires die Einstellungen immer wieder zu Standbildern gerinnen lässt. Zuerst werden Tracys noch etwas kindlich wirkende mit »Smilies« bemalte Sneakers vorgeführt [S3], danach ihre etwas mickrigen Armbänder [S4] und ihr fragender wie unsicherer Blick [S5], der Kontakt zu Evies Augen sucht, die nun bildfüllend gezeigt werden und einerseits ihr glitzerndes Make-up offenbaren [S6], andererseits die filmgeschichtliche Tradition des Western-Genres durch diese Detaildarstellung eines fixierenden Blicks aufleben lassen, der im Western häufig dem Ziehen eines Revolvers vorausgeht. Evies Rüstzeug für dieses Mode-Duell sind jedoch ihr mit Lipgloss geschminkter Mund [S7], ihr DREIZEHN Showdown / Werbung S8 S9 Kreuz-Anhänger um den Hals [S8], ihr gepiercter Bauchnabel [S9] und ihre Armreifen rechts [S10] und links [S11], womit ihr modisches Arsenal als wesentlich reichhaltiger erkennbar wird. Vielleicht aus dem Triumphgefühl einer nicht anfechtbaren Überlegenheit fasst Evie für Tracy einen ›Nachrüstungsbeschluss‹, indem sie dieser vorschlägt, mit ihr zum »Shoppen« zu gehen. Man kann es als Zeichen einer Korrektur dieses Entschlusses oder als abgefeimtes Spielchen mit der um Anerkennung buhlenden Tracy begreifen, dass Evie ihre Mobilnummer falsch notiert [S12]. Evie, obwohl sie zuerst nach links geht, entschwindet mit einem Gang nach rechts als Schattenriss vor dem Hintergrund des schon eingangs der Szene gezeigten Gitterzauns, wobei die Kamera nach rechts mitschwenkt [S13] und auf Evie zoomt. Mit dem Shopping-Angebot wähnt Tracy, zum hottest girl in school Anschluss gefunden zu haben, und kann ihrer Freude kaum Einhalt gebieten [S14]. S10 S11 S12 Doch dieser Erfolg ist ein zweifelhafter – nicht nur wegen der falsch notierten Nummer – sondern mehr noch: ein ganz obskurer. Der Zuschauer fragt sich: Warum kommt dieser merkwürdige Hintergrund eines Gitterzaunes hier zweimal zum Vorschein, warum wird er zu Beginn der Szene und nochmals abschließend bei Evies Abgang so auffällig ins Bild gesetzt, wobei Evies Figur, im Dunkel parallel zu den Gitterstäben schreitend, ganz schemenhaft gezeigt wird? S13 Gitterstäbe lassen bei uns die Assoziation von einem Käfig oder Gefängnis aufkommen und der Film gibt uns an dieser Stelle ein »Denkmoment« mit auf den Weg, was diese erste Annäherung Tracys an Evie mit einem Gang in einen Käfig, eine Falle oder ein Gefängnis vergleichbar sein lässt. Darauf geben zwar erst die späteren Ereignisse / Szenen eine Antwort. Doch ist hier durch die Inszenierungstechnik dieser Begegnung Tracys mit ihrem scheinbar leuchtenden Vorbild schon ein Schattenreich angedeutet, das seinen gefährlichen Sog erst in der Folgezeit entfalten wird. S14 Werbung Den Film durchzieht ein roter Faden der Reklameschilder, der von Tracys Werdegang her betrachtet auch als roter Teppich der Verführung durch Reklame bezeichnet werden kann, die in DREIZEHN einen eigenen Diskurs der zeichenhaften Behauptungen bildet. Dieser Diskurs fängt ganz klein und unscheinbar mit einem Poster in Tracys Zimmer an, einem Gesicht, dessen Augen und Mund hervorstechen, das keiner bestimmten Person gehört, doch wegen seiner weißen Farbe als auffälliges Rechteck im Sammelsurium der Abbildungen über Tracys Bett heraussticht [W1]. Es wird sich später zeigen, dass in diesem kleinen Rechteck eine Keimform schlummert, W1 35 DREIZEHN Werbung die zu einer immensen Ausstrahlungskraft anwächst, da sie über den ganzen Film ihre Parzellen verstreut hat, die dieser Werbung damit eine Ubiquität wie Unausweichlichkeit verleihen. W2 W3 W4 W5 W6 W7 W8 36 Tracys Busfahrt in die Stadt wird als ›Spießrutenlauf‹ durch einen Reklamedekor inszeniert, wobei ein erstes Schild »Skyyblue« die Behauptungen der Reklamewelt auf den Punkt bringt [W2]: Mann und Frau haben sich in einer Umarmung gefunden, deren Bindemittel im jeweils hinter dem Rücken des Partner versteckten blauen Fläschchen als Erfolgsrezept behauptet wird. Und genau nach dieser Einstellung fällt erstmals der Kamerablick auf Tracy als schräger, aus dem Lot geratener auf [W3]: ein Stilmittel, das uns den ganzen Film mit zunehmender Häufigkeit begleiten wird. Es folgen andere Werbeschilder von »Armani« [W4], »Calvin Klein« [W5] und einem »Gentelmen’s Club« [W6], bis Tracy beglückt aus dem Bus steigt [W7] und in der direkt anschließenden Einstellung [W8] die geballte Macht des ehemals kleinen weißen Rechtecks erscheint. Das Gesicht ist mit »BEAUTY IS TRUTH« unterschrieben und greift damit einen Gedanken der abendländischen Philosophie auf, der auf Platon zurückgeht, bis G.W.F. Hegel Bestand hatte und sich noch im Artikel 131 in der Bayerischen Verfassung wiederfindet: In einem Atemzug wird darin die Empfänglichkeit für »das Wahre, Gute, Schöne« entsprechend der klassischen Philosophie, die eine Noologie [Geistlehre] ist, als ein Bildungsziel deklariert. Die Zusammenstellung eines philosophischen, ethischen und ästhetischen Begriffs geht von einem inneren Zusammenhang aus, der von Platons Umfahrung des himmlischen Ortes bis zu Hegel von einer göttlichen absoluten Idee getragen war. In Hegels Ästhetik, die er als »Lehre vom Schönen« definiert, wird das Schöne, wie es sich im Kunstideal niederschlägt, als sinnliches Scheinen der Idee ausgegeben, hat damit trotz seiner materiellen Existenz als Kunstform ein ideelles Substrat göttlichen Ursprungs zu vergegenwärtigen. Der Reklamespruch »BEAUTY IS TRUTH« zehrt von diesem einstigen klassischen Topos, wenn er als »Firmenphilosophie« einer Kosmetikfirma namens Sibül zurückkehrt. Jedoch ist nicht nur die Philosophie als Firmenphilosophie degradiert, sondern auch der Begriff der Ästhetik, der im allgemeinen Verständnis heutzutage nur mehr die Welt des schönen Scheins ohne ideelle Verankerung meint. Wenn unter solcher Veräußerlichung des Ästhetischen/Schönen der Umkehrschluss, dass Schönheit mit Wahrheit im Bunde stehe, vorgebracht wird, wird jeglicher makellos gestylten Oberfläche eine wahre Tiefe oder tiefe Wahrheit unterstellt, die nicht mehr als eine dreiste Behauptung ist. Wer solcher »Philosophie« zufolge – deren Schönheitsideale nebenbei bemerkt einem historischen Wandel, einem Wechsel der Mode unterworfen sind – das Geld hat, sich alle Makel wegzuschminken oder wegoperieren zu lassen, hätte damit W9 W10 DREIZEHN Werbung W11 W12 W13 einen Anspruch auf Wahrheit, dessen Brüchigkeit man an der x-fach gebrochenen Nase von Michael Jackson ablesen kann. Entsprechend der kritischen Haltung des Films wird der Reklamediskurs mit seiner Zuspitzung auf »BEAUTY IS TRUTH« über mehrere Stationen ad absurdum geführt. Wenn Tracy und Evie unter den Augen der Sibül-Frau [W9] dem Piercing-Shop zueilen [Sequenz 13.1], so ist ein stiller Kommentar auf einer T-Shirt-Auswahl zusammengestellt, die von »Porn Star« bis »God is busy, can I help you« [sagt der Teufel] reicht [W10], wonach die erste Handlung Tracys eine Lüge gegenüber ihrer Mutter am Telefon ist, der sie sagt, sie habe sich in die Bibliothek zum Recherchieren begeben [Sequenz 13.2]. Aus Evies Lektüre einer Illustrierten mit einer Anzeige des Sibül-Motivs [W11] folgt auf Evies Vorschlag hin der Besuch beider Mädchen beim Nachbarjungen Luke [Sequenz 18.1], den sie zu verführen suchen. Nach dem Rausschmiss beider eskaliert der Konflikt mit Mel, die das Ergebnis ihrer Erziehung beklagt [Sequenz 18.2]. Im Streit über die Anschaffung der vielen neuen Klamotten wird bei Evies und Kaylas Tanz auf dem Bett das Poster wie ein »goldenes Kalb« in deren Mitte umrahmt [W12], während Mel mit einem Kreuz auf ihrem Shirt dem Abdriften ihrer Tochter Einhalt zu gebieten versucht. Dieses Abdriften wird in der nächsten Drogenszene augenfällig, die von Neon-Reklame mit dem Namen »Hollywood«1 eingeleitet [W13 / W14] zu dem Leuchtschild »BEAUTY IS TRUTH« führt, als Tracy nach Genuss des ihr angebotenen »Voodoo Juice« [Sequenz 19.4] Schwindel und Taumel befällt, der durch die Schieflage des besagten Reklameschildes einen sichtbaren Ausdruck erhält [W15a/b]. Die Sibül-Augen bekommen dank der inneren Leuchtkraft etwas Magisches, in dessen Bann Tracy zu leben scheint. W14 W15a W15b W16 Doch mit der Abkehr Evies nach versagter Adoption [Sequenz 25.1] setzt die Demontage der Verheißungen des Lebens auf der Überholspur ein, was ein neuerliches Auftauchen des Sibül-Schildes, jetzt unbeleuchtet und beschmiert, sinnfällig werden lässt [W16]. Ganz am Schluss des Filmes ist das Sibül-Motiv wieder zum anfänglichen Format zurückgeschrumpft. Teilweise vom Bildrand abgeschnitten hat es seinen Bann, unter dem Tracy lang genug bis zur Selbstzerstörung gelebt hat, eingebüßt [W17]. W17 1 Dass der Name »Hollywood« im Kontext dieser Verführung durch Reklame und als Vorstufe einer Drogenerfahrung hier zweimal auftaucht, kommt nicht von ungefähr. Hollywood steht für ein Kino, das durch seine Stars bestimmte Schönheitsideale, durch deren Kleidung bestimmte Kleidungsstile, durch deren Wohnungen bestimmte Einrichtungs- und Lebensstile propagiert. Sinnfälliger Ausdruck dafür ist das product placement als versteckte Werbung für bestimmt Artikel, die bei manchen Filmen über die Hälfte der Produktionskosten finanziert. 37 DREIZEHN Tracys Trauma Tracys Trauma: Verlustängste und deren Bannung durch körperliche Selbstverletzung A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 38 Dreimal findet sich Tracy im Film vor dem Spiegelschränkchen im Badezimmer ein und sucht darin eine Schere, mit der sie sich die Haut an den Armen aufritzen kann. Die folgende Detailanalyse will versuchen, die Dramaturgie dieser Inszenierungsform näher zu beleuchten, und nach Erklärungsmöglichkeiten Ausschau halten, die der Film zur Begründung dieser schmerzlichen Form der Selbstverletzung anführt. Das erste Mal, dass Tracy sich ritzt, geschieht im Anschluss an eine intime Szene, die sich zwischen ihrer Mutter Melanie und deren Freund Brady anbahnt, als er Mel eigentlich nur »Gute Nacht« sagen will [Sequenz 11.2], daraus allerdings mehr als ein »Gute-NachtKuss« wird. Während die erste Einstellung im Zimmer einen hörbaren Dialog und leise Musikuntermalung enthält [A1], ist die zweite schon distanziert aus einer Beobachterposition heraus ›geschossen‹: Man sieht durch einen Fensterrahmen ins Zimmer [A2], hört keinen Dialog, nur leise Musik und Hundegebell, ohne dass wir zunächst wissen, wem dieser Blick zuzuordnen ist. Doch die dritte Einstellung enthüllt, dass Tracy durch die Jalousie (dieses französische Wort bedeutet übersetzt »Eifersucht«) ihres Fensters [A3] in Mels Zimmer blickt, das – so scheint es – in einem einsehbaren Seitenflügel des Hauses liegt. Zunächst ganz unvermittelt für den Zuschauer – und vermutlich ebenso für die noch unter Nachwirkung der Drogen stehende Tracy – taucht als Spiegelbild im o.g. Badezimmerschränkchen Brady auf: Er ist mit geneigtem Kopf weniger als eine Sekunde lang lediglich als Detail mit beiden Augen und seiner oberen Gesichtspartie zu sehen, sein Spiegelbild betrachtend [A4]. Der Spiegelrahmen schneidet von der Nase aus die untere Gesichtshälfte ab. Dazu hören wir ein Inhaliergeräusch. Es folgt eine Groß-Einstellung Tracys [A5], deren untere Gesichtshälfte ähnlich verdeckt bzw. überschattet ist, so dass die Augenpartie betont und dadurch eine gewisse formale Angleichung wie Verbindung zu Bradys vorheriger Einstellung hergestellt wird. Ferner wird mit dieser Groß-Einstellung ganz konventionell der Übergang zu Tracys Erinnerungen eingeleitet, was in vielen Filmen durch ein Heranrücken der Kamera an den Kopf des Protagonisten geschieht, in dessen Gedankenwelt der Kamerablick gleichsam einzudringen versucht. Was in Tracy nun als Erinnerung oder Flash-back vor ihrem geistigen Auge innerhalb von sieben Sekunden vorüberzieht, ist eine sehr schnelle Montage von zum Teil unscharfen und dunklen Bildern: Zum A8 A9 DREIZEHN Tracys Trauma A10a A10b A10c Inhaliergeräusch ist Brady im Bruchteil einer Sekunde im verlorenen Profil groß zu sehen, wie er mit dem Feuerzeug ein Opiat in einer Dose entzündet [A6], wobei die linke Bildhälfte abgeschattet ist, was den Eindruck vermittelt, die Szene werde durch einen Türspalt beobachtet. [TC 0:23:58] Tatsächlich wird der Türspaltblick im Folgenden durch ein Knarren auf der Tonspur und durch Einstellungen mit einer sich öffnenden Tür offenbar: In einer Halbtotalen sehen wir Brady in Boxershorts im Badezimmer auf Knien seine Droge rauchen, derweil Tracy die Szene von der Tür aus beobachtet [A7]. Ihr Entsetzen wird nun durch einige Zooms auf Brady unterstrichen, wobei ein Schnitt zwischen [A8] und [A9] die Kohärenz der Wahrnehmung unterbricht. Vor allem der schnelle Zoom-in [A10a-c] auf den zusammenbrechenden Brady fängt die Dramatik des Augenblicks ein. Wir hören dabei das Scheppern der Dose, als Brady vornüber kippt. Der Zoom-out in Einstellung [A11] auf den niedersinkenden Brady leitet schon Tracys gedanklichen Rückzug vom Schauplatz des Schreckens ein, obwohl im folgenden Zoom-out Tracy dem zu Boden stürzenden Brady noch zu Hilfe eilt [A12a/b]. Doch die Helfende wird mit Brady allein nicht fertig, weshalb wir sie [A13a/b] – wiederum als Zoomout aufgenommen – dem Bad enteilen sehen, um zusätzliche Hilfe zu holen; gleichzeitig ertönt der Ruf nach »Mom«. A11 A12a A12b Wir sehen noch einmal den keuchenden Brady am Boden [A14] und hernach eine Frauengestalt, die von Dunkelheit überschattet sowohl Tracy als auch Mel sein könnte und vor dem Betrachter der Szene die Badezimmertür zuschlägt [A15a/b], wobei dieser Vorgang im Zeitraffer, also beschleunigt gezeigt wird, was sowohl die Hektik im Vorgang als auch den Versuch unterstreicht, dieses schmerzhafte Erinnerungsbild schnell zu verbannen. [TC 0:24:05] A13a Tracy, wieder in Großaufnahme [A16 wie A 5], schlägt die Augen nieder und verlässt – angewidert sowohl vom Anblick ihrer Mutter, über die sich Brady hermacht [A17], als auch vom Flash-back der Erinnerung – ihren Fensterplatz [A18] und betritt das Bad in einer halbnahen Einstellung [A19a], die jedoch die sich öffnende Badezimmertür im Spiegel des Arzneimittelschränkchens zeigt. Tracy geht nun – das Ganze wird in einer längeren Einstellung von ca. 17 Sekunden gezeigt [A19a-g] – als Reaktion auf das äußerlich wie innerlich Geschaute zu ihrem Selbstverletzungsritual über. Wir sehen sie dabei zunächst nur als Spiegelbild, wodurch sich eine Parallele zum Flash-back auf Brady während seines Drogentrips ergibt, da im ersten Erinnerungsbild Tracys auch er nur als Spiegelbild auftauchte. A13b A14 39 DREIZEHN Tracys Trauma A15a A15b A16 A17 A18 Die Verwendung von Spiegelbildern in Entscheidungssituationen, wenn sozusagen eine Persönlichkeit unschlüssig ist, welchen Weg sie verfolgen soll oder wenn sie von einem anderen bis dato verborgenen Teil ihrer selbst bedroht und das Individuum in einer Zerreißprobe zum Di-viduum wird, hat in der Filmgeschichte eine lange bis in die Stummfilmzeit zurückreichende Tradition, die von der Regisseurin hier sehr elegant aufgegriffen wird. Wir sehen Tracy, wie sie sich dem Spiegel nähert und einen Moment vor dem Spiegelschränkchen innehält. Die ganze Szene ist mit einem ganz leisen Polizeisirenengeräusch atmosphärisch unterlegt, was einen Moment der Gefährdung signalisiert. Tracy schaut sich im Spiegel an und zögert [A19b], bevor sie dann von links realiter ins Bild tritt und nun als gedoppelte Erscheinung [A19c] oder – wenn man es symbolisch verstehen will – als in sich gespaltene Figur manifest wird. Im Moment des Öffnens der Tür wird ihr Spiegelbild weggeklappt und unser Blick auf den Inhalt des Schränkchens gelenkt. Als gut lesbare Packungsbeschriftungen fallen zwei Wörter auf: »Bandage« und »Baby« [A19d]. Wie um diese Worteinsprengsel zu betonen, muss Tracy die »Bandage«-Packung herausnehmen, um an die Schere zu gelangen, so dass durch ihre Handbewegung ein zusätzlicher Fingerzeig bzw. unsere Blicksteuerung auf das Wort »Baby« fällt [A19e], das nun, aller Bandagen (oder Pflaster) entledigt, entblößt dasteht. Wollte man darin einen Verweis auf den inneren psychischen Vorgang sehen, so könnte man annehmen, dass Tracy in einen kleinkindlichen Zustand mit all seiner Verletzlichkeit zurückversetzt wird (Stichwort: Regression). Wenn Tracy später [Sequenz 16.2] zum zweiten Mal den Spiegelschrank aufsucht, als Evie sie wegen eines Rendezvous mit dem Jungen Kaykay verlässt, kann man Verlassenheitsängste annehmen, die Tracy mit körperlichem Schmerz zu bewältigen versucht. Auch in Folge der intimen Szene zwischen Mel und Brady fühlt sich Tracy verlassen, denn wenn Brady tatsächlich noch immer oder wieder der drogenabhängige »Lover« ist, wird er Mels Fürsorge in weit stärkerem Maße beanspruchen, als es ihrer Tochter recht sein kann. Tracy schließt die Tür und wird damit wieder im Spiegel sichtbar, der zeigt, wie sie die Schere fest umklammert [A19f]. Wir sehen in dieser ersten Szene nicht, was sie mit der Schere vorhat, sondern wiederum ihr Zögern und die Selbstbetrachtung im Spiegelbild [A19g]. Doch alles, was sich hier durch die Inszenierungsweise atmosphärisch einstellt – die dunkle Ausleuchtung, die bedrohliche Tonspur, die Farbdramaturgie von kalten Tönen (blaue Tür, grüner Pullover) und warmem Orange für Tracys Gesicht und die in Form des Spiegelbildes gespaltene Tracy – lässt nichts Gutes erahnen... [TC 0:24:28] A19a A19b 40 A19c A19d DREIZEHN Tracys Trauma A19e A19f In Sequenz 16, {von leiser Gitarrenmusik untermalt} als Tracy zum zweiten Mal das Bad besucht, erscheint sie zunächst wieder im Spiegel [B1a] wie in Sequenz 11, doch bevor sie das Schränkchen öffnet, trifft ihr Blick aus dem Spiegel heraus kurz den Zuschauer [B1b]. Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, sie öffnet die Tür, man sieht das schon vom ersten Mal bekannte Inventar [B1c], nur diesmal in engerem Ausschnitt dank des Zooms vergrößert. Sie räumt die schon bekannte »Bandage«-Packung beiseite [B1d], um die Schere zu nehmen [B1e]. Diesmal ist die Schachtel mit dem Wort »Baby« größer und damit deutlicher als zuvor zu sehen. Tracy schließt das Schränkchen [B1f] und schaut sich noch einmal im Spiegel an [B1g], wobei wiederum ein Zoom ihr Gesicht vergrößert [B1h]. Sie holt aus der Schublade einen Lappen oder ein kleines Handtuch [B2], setzt sich, wobei die sehr bewegliche Handkamera nochmals ihr Gesicht erfasst, und macht ihren linken Unterarm frei, auf dem man die verschorften Schnittverletzungen vom letzten Mal erkennt [B3]. Die Kamera erfasst groß Tracys Gesicht, dessen Wange eine Träne schwach erkennbar benetzt [B4a]. Als wollte die Kamera in einer Geste des Mitleids, der Empathie Tracys Gefühlslage nachempfinden, verschwimmt auch der Kamerablick auf Tracy in Unschärfe, so als ob das Kamera-Auge sich selbst mit einer Träne gefüllt hätte [B4b]. {Hier endet die leise Musikuntermalung.} Vor dem Hintergrund dieses weichen, außer Fokus gedrehten Bildes wirkt das folgende, gestochen scharfe Bild, das das Ritzen der Schere in Tracy Arm zeigt [B5a] um so härter und brutaler. {Auf der Tonspur tauchen leise Geräusche auf, die schließlich auch wieder die Polizeisirenen enthalten.} Die Kamera kann dem Eindruck nicht lange standhalten und schwenkt abrupt zu Tracys Gesicht [B5b]. Eine Detailaufnahme zeigt Tracys Hand, die die Schere zu Boden fallen lässt [B6a], die Kamera schwenkt nochmals auf Tracys Gesicht, bevor sie zum Unterarm gleitet, den Tracy abtupft [B6b]. Danach sehen wir in einer Halbtotalen von oben Tracy auf dem Badezimmerboden sitzend [B7], wobei die Kamera dieses Bild in eine extreme Schräglage rückt, womit es zum einen die aus dem Lot geratene Befindlichkeit Tracys kommuniziert und zum anderen formal mit dem ersten »schrägen Bild« des Films korrespondiert, das Tracy im Bus in freudiger Erwartung ihres Einkaufbummels zeigte [vgl. Abb. 34, S.12]. Die zweite schräge Aufnahme [B7] rückt Tracy allerdings in eine dunkle Bildecke, die mit dem Orange des Waschbeckenbereichs kontrastiert. Die Aufsicht der Kamera lässt Tracy wie »ein Häschen in der Grube« erscheinen und begünstigt die Empfindung von Mitleid. A19g B1a B1b B1c B1d B1e In Sequenz 25.2 wird die dritte Ritz-Szene dadurch eingeleitet, dass sich Tracy zweifach verlassen fühlt: Zum einen geben ihr Astrid und Evie das Nachsehen, die zusammen im Jeep mit den Jungen wegfahren. Was Tracy noch für einen Streich hält, erhärtet sich mit ihrem Anruf neben dem beschmierten »BEAUTY IS TRUTH«-Schild zur B1f 41 DREIZEHN Tracys Trauma bitteren Erkenntnis, dass sie bei ihren Freundinnen von nun an abgemeldet ist [Sequenz 25.1]. Zum anderen erfährt sie von Mason, als er das Bad freigibt, dass Mutter und Vater sich darüber unterhalten hätten, dass sie zum Vater ziehen solle, so dass sie sich – zumindest in ihrem Erleben – von der Mutter verbannt fühlt. An ihren unteren Augenrändern sieht man daraufhin den Ansatz einer Träne [C1]. B1g B1h B2 B3 B4a [TC 1:20:05] {leise Gitarrenmusik} Tracy betritt, in einer ähnlichen Einstellung wie beide Male zuvor, aus dem Spiegel heraus gefilmt, das Bad [C2a], doch beim Öffnen des Schrankes sieht man eine Veränderung: Die Baby-Packung ist verschwunden und Tracy vermisst die Schere [C2b]. Die Kamera übernimmt nun den hektisch suchenden Blick und die fahrigen Handbewegungen Tracys, die Packungen aus dem Schrank ins Waschbecken plumpsen lässt, durch eigene schnelle Schwenks. Das Zuschlagen der Tür offenbart in Tracys Gesichtsausdruck – wiederum als Spiegelbild – etwas ganz Irres, das in einen Horrorfilm passen würde [C2c]. Die Hektik setzt sich im schnellen Schwenk bei der Suche einer Rasierklinge fort, die Tracy in einer Muschelschachtel findet [C3]. Hier verstärkt ein Schnitt auf die etwas nähere Einstellung mit der Klinge [C4] und ein erneuter auf die Entnahme des Lappens [C5] die Unrast, die sich mit dem Hinsetzen [C6] – man erkennt Mond und Sterne auf einem dunkelblauen Stoff – und dem eigentlichen Schnitt in die Haut [C7a] zu kurzzeitiger Ruhe in einer stabilen Einstellung wandelt. Ein rascher Schwenk zu Tracys Gesicht lässt dieses zwischen Erleichterung und Schmerz changieren [C7b]. Wenngleich Tracy nur ritzt, so wird der Zuschauer an dieser Stelle für einen Moment in dem Glauben belassen, Tracy wolle sich die Pulsadern aufschneiden. Denn als nächstes sieht er nur Blut auf den Fußboden tropfen, wo wenig später auch die Rasierklinge landet [C8], was das Schlimmste befürchten lässt. Doch mit einem wiederum hektischen Reißschwenk auf Tracy, als die Mutter an der Tür klopft und ruft [C9], kehrt für ihn die Gewissheit ihres Überlebens ein. Sie nimmt den Lappen zum Abtupfen [C10] und in einer Abblende verlöscht ihr Gesicht [C11] in einem schwarzen Abgrund [TC 1:20:52]. Fazit: Dramaturgisch bewirkt die dreifache Inszenierung eines ähnlichen Vorgangs eine Steigerung. Beim ersten Mal sieht man Tracy nur nachdenklich mit der Schere vor dem Spiegel verweilen; beim zweiten Mal den tatsächlichen Vorgang des Ritzens; beim dritten Mal ist es eine Rasierklinge, deren Schnitt und Resultat als tropfendes Blut auf dem Fußboden ins Bild gerückt wird. Zudem entsteht kurzzeitig der Eindruck eines geplanten Selbstmords, was auch im Kinosaal häufig durch das spürbar unruhige Durchatmen der Zuschauer vernehmbar wird. B4b B5a 42 B5b B6a DREIZEHN Tracys Trauma B6b B7 Diese Steigerung der Inszenierung hat ihren Grund in einer Steigerung der jeweils vorausgehenden Kränkungen Tracys. Beim ersten Mal ist es nur die befürchtete Rückkehr Bradys und die Drohung seines Rückfalls in die Drogenabhängigkeit. Bei zweiten Mal ist es die Busenfreundin Evie, zu der sie inzwischen die engste Beziehung geknüpft hat, die ihr Bett verlässt für einen Jungen. Das dritte Mal kommen deren endgültiges Entschwinden und Masons Andeutung von Tracys »Abschiebung« zum Vater, also eine doppelte Kränkung, zusammen, die konsequenterweise zu einer verschärften Inszenierungsform des Ritz-Rituals führt. Dieses letzte Ritzen setzt sich farblich warm [vgl. C7a mit dem Gelb der Klinge] gegen die vorausgehenden und folgenden Szenen in kühlem Blau deutlich ab, so dass hier das Ritual im Bad wie ein erlösendes Refugium erscheint. Doch liefert diese dreimalige Folge auch eine tiefergehende Erklärung für Tracys Verhalten? Verbal wird dieses Verhalten nie kommentiert oder expliziert, es bleibt der Mutter bis zur 26. Sequenz kurz vor Ende des Films außerdem verborgen. Nur Evie weiß davon, spricht es im hör- und sichtbaren Teil des Films, dem Plot, jedoch nie an. Indizien für eine Erklärung bietet der Film allerdings visuell: Das Aufklappen der Spiegeltür, womit Tracys Gesicht einem Regal mit Arzneipackungen und anderem weicht, kommt einer Innenansicht der zuvor äußerlich Abgebildeten gleich. Zwei beim ersten Mal schon lesbare Wörter: »Bandage« und »Baby« springen ins Auge, die beim zweiten Mal noch vergrößert erscheinen. Beide Male wird die »Bandage«-Packung entfernt, um an die Schere zu gelangen, so dass das »Baby«-Päckchen »unbandagiert« übrig bleibt, in all seiner Verletzlichkeit. Wenn wir bedenken, dass kein Baby mehr in diesem Haushalt lebt, kommt die auffällige Inszenierung dieses Wortes einem visuellen Fingerzeig gleich, dass Tracy in diesem Momenten zu einem frühkindlichen Zustand regrediert und eine äußerst brüchige Identität aufweist, wie sie auch schon in der Doppelung durch ihr Spiegelbild anklingt. Es dürfte ein psychisches Trauma vorliegen, dessen Schmerz zu fühlen mehr Angst macht als die Form der Selbstverstümmelung, die vom psychsichen Schmerz ablenkt. Dieser körperlich schmerzhafte Vorgang dient – so paradox es klingen mag – der Abwehr, Abfuhr oder Erleichterung von psychischen Schmerzen, die durch Verlustängste und die Erinnerung an ein Trauma auftauchen. Tracy als Scheidungskind hat Familiengeborgenheit nur ansatzweise erlebt, mag sich sogar schuldig an der Trennung ihrer Eltern fühlen und findet im Ritus des Einritzens der Haut eine Art Selbstbestrafungs- wie Entlastungsventil für den psychischen Druck, der sich in bestimmten Situationen verstärkt aufbaut. C1 C2a C2b C2c C3 C4 Eine Psychotherapie hat als ein erklärtes Ziel, sich selbst eine gute Mutter sein zu können, also in den eigenen Verhaltensweisen die eigene Person mit ihren Bedürfnissen zuvorkommend zu behandeln. C5 43 DREIZEHN Tracys Trauma / Drogenrausch und harte Tatsachen C6 Dieses Ziel hat Tracy bis zum Ende des Films nicht erreicht, doch sie hat eine andere Gewissheit erlangt: Dass ihre Mutter sie selbst dann nicht verlässt und vielmehr zu ihr hält, wenn Tracy sie mit allen möglichen Hasstiraden überzieht. Aus dieser Verlässlichkeit ist eine Kraft zu ziehen, die für die Zukunft Gutes verheißt. Insofern hat die Rückkehr der Farbe am Schluss des Films eine durchaus berechtigte Hoffnung auf Besserung zu bedeuten. Drogenrausch und harte Tatsachen C7a C7b C8 C9 Ein entscheidender Grund für die Klassifizierung des Films mit R = restricted in den USA, was eine Altersfreigabe ab 17 zur Folge hat (sofern keine Eltern oder Erzieher mitgehen) und ab 18 in Großbritannien, liegt im Thema des Drogenkonsums. Ein weiterer hat mit der sog. »strong language« zu tun1, die auch sexuelle Sachverhalte anspricht, die in den beiden puritanisch geprägten Ländern schon immer ein ›heißes Eisen‹ waren2. Wir wissen spätestens seit »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, dass diese Abstürze im frühen Jugendalter auch hierzulande vorkommen, wobei in diesem Fall freilich ein unterschiedlicher Ausgangspunkt der Verwahrlosung zu verzeichnen war3. Oder doch nicht, wenn wir es mit Evie vergleichen? Evie ist diejenige, die die Drogen in diese Freundschaft einschmuggelt. Von ihrem familiären Hintergrund erfahren wir nur bruchstückhaft, dass ihre Mutter eine Crack-Hure war und sie ihr Onkel im Alter von neun sexuell missbraucht und auch noch ins Feuer gestoßen hat – also ein schwerer Fall von Kindesmissbrauch, den die Mutter (wenn sie überhaupt je präsent und dann auch noch drogenfrei war) nicht zu verhindern wusste. Dass die Geschichte keine Zwecklüge ist, um die Adoption zu befördern, macht der Film durch einen von der Verurteilung des Onkels handelnden Zeitungsausschnitt, den Mel in Händen hält, deutlich. Was Evie mit Sicherheit in ihrer Kindheit gefehlt hat und damit auch ihren Adoptionswunsch erklärt, ist ein behütetes und verlässliches Zuhause. Jeder, der sich um sie habe kümmern sollen, habe sich an ihr vergangen, resümiert Mel. Vor diesem Hintergrund ist die Flucht in eine vermittels Drogen halluzinierte, bessere Welt eine große Versuchung, der zu widerstehen anderweitige Angebote, z.B. auch therapeutische, nötig gewesen wären. Selbst wenn sich Mel als Ersatzmutter ihrer angenommen hätte, wäre die für die frühe Kindheit notwendige und jetzt noch ersehnte Geborgenheit nicht mehr nachzuholen gewesen. Obwohl des längeren in Tracys Familie lebend, hat Evie von ihren Obsessionen nicht lassen können, sondern sie auf Tracy ausgedehnt. C10 C11 44 1 »First of all, you probably know this but if you say the ›F‹ word twice in a movie, it’s rated R. If an underaged kid takes one sip of alcohol, it’s rated R. But you can kill people if you want and it’s rated PG-13. How fair is that?« – [PG = parental guidance, d.h. ab 13 Jahren in Begleitung der Eltern frei] Catherine Hardwicke im Interview mit Rebecca Murray in www.movies.about.com/cs/thirteen/a/thirteenhardwic.html 2 »Rated R for drug use, self destructive violence, language and sexuality - all involving young teens.« – steht auf der Internet-Seite der MPAA (Motion Pictures Association of America). Man vergleiche die landesweite Empörung bei Janet Jacksons im Fernsehen enthüllten Busen mit der vergleichsweise spärlichen Kritik an George W. Bushs Lügenpolitik zur Legitimation des Irak-Krieges. 3 Alice Miller hat ihr in Am Anfang war Erziehung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980 ein eigenes Kapitel unter der Überschrift »Selbstsuche und Selbstzerstörung in der Droge« gewidmet (S. 133 – 153) DREIZEHN Drogenrausch und harte Tatsachen Gerade Evies Sehnsucht nach einer heilen Familie spricht das unwiederbringlich Verlorene aus, das in der Drogensucht zunächst ein Surrogat findet, um den betrüblichen Gegenwartsstatus vorübergehend zu verlassen. In Kris Kristoffersons Lied Billy Dee aus dem Jahre 1971, in dem es auch um einen Drogenabhängigen geht, drücken die Zeilen: »But he had to try to satisfy a thirst he couldn’t name / Driven towards the darkness by the devil in his veins«, das vage, unbestimmbare Ziel dieser Weltflucht aus, die eher einer Rückkehr in den Mutterschoß mit der Auflösung aller festen Konturen gleicht. Der Film bringt visuell und auditiv drei unterschiedliche Drogenerfahrungen zum Ausdruck, die Evie nur zweimal mit Tracy teilt (am Anfang mit Haschisch und LSD im Park, am Schluss mit Kokain). Dazwischen liegt ein Trip Tracys, nachdem sie den »Voodoo Juice« zu sich genommen hat, den sie ohne Evie – allerdings auf der Suche nach ihr – in L.A. durchmacht. In allen drei Fällen bemüht sich der Film, obwohl er von außen die Protagonistinnen zeigt, mit einer ›subjektiven‹ Ansicht der Welt, wie sie unter Drogen stehenden Menschen erscheinen mag, den Zustand für den Zuschauer nachempfindbar zu machen. Tracys psychedelischer Drogentrip bringt dabei dramaturgisch die ausgefeilteste Bilderfolge hervor, die die Verlaufskurve vom Anstacheln zur Drogeneinnahme über deren Wirkung bis zur Ernüchterung im Abklingen dieser Wirkung anschaulich werden lässt. Die Drogeneinnahme [D1a – e] wird von Blitzlichtern und dem skeptischen Blick eines Passanten im Hintergrund begleitet. Die erste Wirkung zeigt sich als ›Überbelichtung‹ [D2] mit dem Verlust der plastischen Gesichtsform, ihrer haptischen Qualitäten, also des taktil Greifbaren, zugunsten einer weißen Scheibe mit geschlossenen Augen. Mit der Sibül-Reklame-Tafel [D3a – c] setzt sich diese Flächigkeit fort. Durch das Augen-Motiv kommt eine hypnotische, magische Komponente hinzu, ferner durch das verkantete Bild das Schwindelgefühl eines scheinbar schwankenden Bodens. Die folgenden Einstellungen bringen die Auflösung sämtlicher scharfen Konturen [D4], Unschärfen im Blick auf das Paar [D5a / D5b] im Wechsel D1a D1b D1c D1d D1e D2 D3a D3b D3c D4 D5a D5b 45 DREIZEHN Drogenrausch und harte Tatsachen D6 D7 D8 D9 D10 D11 D12 D13 D14 D15 D16 D17 mit reinem Lichter-Zauber eines ›objektlosen Drangs‹ [D6 – D8, D12], der zu einer Klimax der Halluzinationen führt, die gelegentlich mit flüchtigen Impressionen [D9], Reiß-Zooms [D10] und Blicken aus der Galerie der Hollywood-Größen [D11] durchmischt werden. Danach tritt eine Abkühlung im Farbspektrum ein [D13 / D14], schließlich eine Entfärbung der Welt [D15 / D16] und deren ›Erstarrung‹ in einem frostigen Blau [D17], womit der Boden der harten Tatsachen wieder erreicht wäre: Am Ende dieser Reise muss Tracy entdecken, dass Evie sich währenddessen an Javi herangemacht hat. 46 DREIZEHN Kadrierung Kadrierung: Off-center-framing Im klassischen Hollywood-Kino sind beim Schuss-Gegenschuss-Verfahren, also der alternierenden Abbildung von Figuren, die bei einem Dialog wechselweise gezeigt werden, im allgemeinen leicht aus der Mittelachse des Bildes verschobene oder dezentrierte Kadrierungen der Darsteller gebräuchlich. Das will besagen, dass z.B. bei einem Aufnahmewinkel einer Person von schräg vorn bei einem Winkel von 45° im Verhältnis zur Handlungsachse auf Seiten der Blickrichtung ein etwas größerer Freiraum gelassen wird. Blickt die Figur nach rechts aus dem Bild, ist sie innerhalb desselben leicht nach links verschoben, um die Leerfläche rechts von ihr als Blickrichtung zu betonen. Diese Leere antizipiert das Umschneiden auf den Gesprächpartner, der dann entsprechend nach links blickt und leicht zum rechten Bildrand hin platziert ist. Dieses Inszenierungsverfahren gehört als sogenanntes »eyeline match« zu den Standards der Hollywood-Filmproduktion, wobei der Zuschauer die beiden getrennten Einstellungen zweier Figuren im Geiste zu einem homogenen Handlungsraum zusammenfügt, nachdem die Blickrichtung einer Figur auf eine andere oder einen Gegenstand außerhalb des Bildfensters hindeutet. Diese aus der Mittelachse verschobene Position einer Person kann jedoch graduell gesteigert werden, indem die gezeigte Figur noch weiter an den Rand gerückt und damit die Leerfläche zu einer Seite hin vergrößert wird und schließlich gar Überhand gewinnt, wie es beim Cinemascope-Bildformat, das ein Seitenverhältnis von 1:2,35 hat, möglich ist. Extremfälle solcher Verschiebung, wobei sogar ein Teil des Gesichts außerhalb des Bildfensters gerückt ist, finden sich z.B. in ALASKA.DE (D 2000) [siehe dazu das Begleitheft des Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V., S. 46, Abb. 12.3]. Aber auch beim amerikanischen Breitwandformat mit einem Seitenverhältnis von 1:1,85, wie wir es bei DREIZEHN haben, ist schon ein auffälliger Gestaltungsfreiraum gegeben, wie die gezeigten Abbildungen aus dem Film belegen. Wenn wir Mel in einer Einstellung [K1] weit an den linken Bildrand gerückt sehen und uns erinnern, dass sie soeben in der Küche ausgerutscht ist, Cornflakes auf dem Fußboden verstreut und anschließend dessen Linoleum aufgerissen hat, so ist dieses Verhalten kein alltägliches, sondern stellt eine Ausnahmesituation dar und kommt einer Verzweiflungstat gleich. Es entspricht damit der Befindlichkeit der gezeigten Figur, wenn diese sowohl aus der Bildmitte als auch das Bild mit einer abschüssigen Neigung nach links aus der stabilen senkrechten Aufnahmeposition gerückt ist. Hier ist jemand aus dem Lot – der schräge Türrahmen betont dies – und hat auch im übertragenen Sinn seine Mitte eingebüßt. Ferner wird die Figur als einzelne isoliert im Bild gezeigt, wobei der Hintergrund, auf der rechten Bildhälfte das schwarze Loch der Türöffnung mit einem Teil des verhassten Linoleumbodens, auf der linken Hälfte die kahle Wand und hinter Mel noch eine Ecke von einem Gitter, den Eindruck der Isolation noch verstärkt. David Bordwell, ein renommierter US-Filmwissenschaftler, hat für diese Gestaltungsoption der Kamera den Terminus »same-frame heuristic« geprägt, wonach innerhalb einer Einstellung durch Isolation einer Figur vor einem bestimmten, ihre Gefühlslage charakterisierenden Hintergrund (und damit nicht erst durch die Montage), ein Gestaltungspotential des Films zur Wirkung gelangt, aufgrund dessen wir unsere Deutungen, was jeweils der Fall ist, vornehmen können. Die Kadrierung in dieser Form gibt uns ein ›Denkmoment‹ mit auf den Weg, um das Innere, die Gefühlslage der nur äußerlich sichtbaren Figur zu begreifen. Vgl. dagegen das ›Tröstende‹ in der Bildkomposition, die der Einstellung kurz darauf innewohnt, worin Brady und Mason Mel zu Hilfe eilen [K2]. Ebenfalls aus dem inneren Gleichgewicht – und vom Gefühl für die äußere Realität verlassen – wird uns Tracy in Abb. [K3] vor einem schwarzen Hintergrund präsentiert, als sie auf Brady mit Ausdrücken wie »blöder Kokser« und »Scheiß Loser« einhackt, der nach dem Kino-Ausflug in die Stadt und Tracys Drogenkonsum, Zielscheibe ihrer Aggressionen wird, obwohl er ihr gerade beim Überziehen des Bettzeugs behilflich ist. K1 K2 K3 47 DREIZEHN Kadrierung / Verkantete Bilder K4 K5 K6 Ähnlich ›daneben‹ liegt Evie [K4], die nach dem Koksen vor dem Kühlschrank ganz am rechten Bildrand gezeigt wird. Wenig später wird sie auf Cynthias Vorschlag, zeitweise woanders zu wohnen, arroganterweise behaupten, dass sie ja schließlich in dieser Familie das Schlimmste zu verhindern helfe. Mel gerät ein weiteres Mal – vor Schreck – an den äußeren Bildrand [K5], nachdem sie den Nabel-Sticker an ihrer Tochter entdeckt hat. Was wir angesichts der großen Endabrechnung von Evies Vormund Brooke zu halten haben, wenn diese behauptet, dass ihrem Mündel Evie rein gar nichts vorzuwerfen sei, sondern der schlechte Einfluss Tracys sie verdorben habe, macht die Kameraarbeit deutlich [K6]: In leichter Untersicht und in metallisch blauem Gegenlicht wird ihre Überheblichkeit durch ihr abgeschattetes Gesicht am rechten Bildrand ausgedrückt, wobei noch ein besonders gewitztes Gestaltungsmoment hinzukommt – denn die im Hintergrund bilddominante Jalousie heißt im Amerikanischen oder Englischen: »(venetian) blind«. Subtiler kann die Demontage einer Figur durch die Bildgestaltung mittels Lichtführung, Set Design und Kamera kaum ausfallen. Verkantete Bilder: Eine Welt aus dem Lot Aufgrund der ›fetzigen‹ Kameraführung von Musikfernsehsendern oder auch der unsteten Kamera einer von Dogma inspirierten ›Filmschule‹ sind wir es inzwischen gewöhnt, verkantete Bilder, in der uns sowohl senkrechte als auch waagerechte Linien nur mehr diagonal erscheinen, als etwas Gewöhnliches anzunehmen. In einem Film jedoch, der ansonsten trotz nahezu durchgehenden Gebrauchs einer Handkamera (also ohne Stativ) die lotrechten Aufnahmepositionen wahrt, treten solche Einstellungen als etwas Bedeutungsträchtiges hervor, die die Welt in eine Schräglage versetzen. Dieses Mittel fand schon im klassischen Hollywood-Film oder europäischen Kino in Ausnahmefällen Anwendung, wenn existentielle Gefährdungen anstanden, z.B. eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn ›auf Biegen und Brechen‹ in Elia Kazans EAST OF EDEN (USA 1955) oder ein intendierter Selbstmord in David Leans BRIEF ENCOUNTER (GB 1945). In Catherine Hardwickes Film erscheint dieses Stilmittel anfangs ganz beiläufig und scheinbar unbedeutend, wenn Tracy sich zum Shopping in den Bus setzt und nach der Einstellung einer ersten Reklametafel von »Skyyblue« [V1], die zwangsläufig aus der Untersicht aus dem vorbeifahrenden Bus in eine Diagonale versetzt wird, direkt anschließend schräg ins Bild gesetzt erscheint, was man zunächst nur als formales Gegengewicht zur vorherigen Schräge auslegen mag [V2]. Doch auch dass Tracy sich in der Scheibe spiegelt und damit ein Doppelgängermotiv sich abzuzeichnen beginnt, könnte uns aufmerken lassen. Unübersehbar wird die aus dem Lot geratene Welt, wenn Tracy im Badezimmer nach dem zweiten Ritzvorgang wie ein Häufchen Unglück auf dem Boden sitzt [V3]. Des weiteren wird die Schräglage beim Date mit Javi manifest, als sich Tracy nach dem Haschisch-Konsum an Evie ein Beispiel nimmt und sämt- V1 48 V2 V3 DREIZEHN Verkantete Bilder V4 V5 V6 V7a V7b V7c V8 V9 V10 V11 V12 V13 liche Verführungskünste nachahmt [V4]. Auch beim nächsten Schrägbild, der Rapper-Gruppe [V5] sind Drogen nicht weit entfernt, die Tracy mit einem »Voodoo«-Getränk wenig später zu sich nimmt, wonach sie beinah aus dem Bild zu kippen droht [vgl. Abb. D3c, S. 45 und »Werbung«, Abb. W15a/b, S. 37]. Die Suche unter Drogeneinfluss nach Evie findet ebenfalls in Schräglage statt [V6]. Der häusliche Boden gerät wie bei einem Schiff ins Rollen, als sich Tracy nach dem Kinobesuch eine handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrem Bruder liefert, die erst durch Mels und Bradys Dazwischentreten geschlichtet werden kann [V7a – c]. Mels Ausrasten danach in der Küche [V8] erfährt dieselbe formale Behandlung wie die nächste Stufe im Kokainkonsum der beiden Mädchen [V9]. Danach erscheint die Welt immer häufiger in Schräglage, was weder der Besuch von Mels »Ex« und Tracys Vater [V10] noch Evie [V11], noch die Lehrerin in der Schule, die Tracy das Vorrücken verwehren will, zurechtrücken können. Erst nach dem »Final Countdown«, zu dem Brady Tracy im Auto abholt [V12] und der noch einmal alle Sicherungen durchbrennen lässt, kann durch Mels beherztes Eingreifen [V13] Tracys Welt wieder in eine stabile Gleichgewichtslage versetzt werden, die durch die abschließend vom Stativ gedrehte Bettszene ganz besonders gefestigt wirkt. 49 DREIZEHN Farbdramaturgie Farbdramaturgie Den Film DREIZEHN durchzieht ein auffälliges Farbschema, bei dem sich vier große Bereiche voneinander unterscheiden lassen: 1) Als die Welt noch in Ordnung war, mit Einsetzen der Rückblende unter dem Insert »four months earlier« [Sequenz 2.1], sind die Farben des Films ihrem ›natürlichen‹ Erscheinungsbild bei normalem Tageslicht weitgehend angeglichen. Die Palette der Farbtöne, wenngleich in einem leicht gedeckten oder pastellfarbenen Zustand gehalten, umfasst das ganze Farbspektrum, wie die Fläschchen in Mels Frisiersalon zeigen [F1]. 2) Mit dem ersten Drogenkonsum im Park [Sequenz 10] wird das Farbspektrum auf einen Warm-KaltKontrast zwischen Orange und Blau eingegrenzt. Das Orange entspricht dem exaltierten Gefühlszustand der bekifften oder von LSD zugedröhnten Mädchen [F2], das Blau dem Abkühlen des Rausches im Gras [F3]. 3) Beim Drogenrausch während des Kinoausflugs nach dem Trunk aus der Flasche [Sequenz 19.4] ist die Farbigkeit ins grelle Bunt der Neonlichter gesteigert [F4], wobei die anschließende Suche nach Evie schon einem Ernüchterungsvorgang zuzuschreiben ist, wenn man von der monochromen Farbigkeit der durchstreiften Lokalitäten ausgeht, die zwischen kalten Grün- [F5] und Blautönen [F6] wechselt. 4) Nach dem »Schnupfen« von Kokain [Sequenz 21.1] – ein Vorgang, der noch in Normalfarbigkeit gezeigt wird [F7] – reduziert sich die Farbigkeit des Films bereits in der nächsten Einstellung [F8] schlagartig zu einer blau-grau-weißen Dominante, die als Ausgangsmotiv für die nun anbrechende Frostigkeit und Farbkühle die mit Merkzetteln gespickte Tür des Kühlschranks wählt. Auch wenn die folgenden Bilder noch andere Farben außer den genannten kühlen enthalten, so ist die Beimischung F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F9 F10 F11 F12 50 DREIZEHN Farbdramaturgie / Lichtführung des unterkühlenden Blauweiß für einen Verlust an Empfindsamkeit – vgl. die »Schlag-mich!«-Szene – und an Wärmegefühl bezeichnend, was besonders stark in der grell-weißen Toiletten-Szene zum Ausdruck kommt [F9]. Im weiteren Fortgang des Films [Sequenz 23.2 / 23.3] bis zur Endauflösung mit Mel und Tracy auf dem Bett bleibt die Farbigkeit auf ein metallisch kühles Farbspektrum verkürzt, auch wenn in den konkreten Szenen keine Drogeneinnahme thematisiert wird. Doch sind die Nachwirkungen von Tracys Drogenkonsum und ihre psychischen Veränderungen als zunehmender Realitätsverlust durch diese reduzierte Farbigkeit gekennzeichnet [F10 – F12]. Erst mit den letzten Bildern, nachdem Mel sich der Tochter liebevoll angenommen hat [F13], findet der Film zum warmen Teil des Farbspektrums zurück [F14]. F13 F14 Lichtführung Im klassischen Hollywood-Kino hat das Licht drei wichtige Aufgaben zu erfüllen: Erstens sorgt es für die Sichtbarkeit / Erkennbarkeit / Lesbarkeit des gefilmten Sujets, zweitens für eine Hierarchisierung zwischen Haupt- und Nebenfiguren, drittens für eine Dramatisierung1. Jacques Aumont, ein französischer Filmwissenschaftler, sieht drei große Funktionen der Lichtführung am Werk: eine symbolische, eine dramatische oder dramaturgische und eine atmosphärische2. DREIZEHN – obwohl kein Film der klassischen Hollywood-Epoche, die ungefähr bis 1960 Bestand hatte – bedient mit seiner Lichtführung dennoch den gesamten o.g. Kanon. Selbstverständlich ist die Erkennbarkeit ein unverzichtbares Moment. Aber auch die Hierarchisierung, also die Abstufung der Wichtigkeit verschiedener Figuren, kommt hier zum Tragen, indem Hauptfiguren mehr Licht als Nebenfiguren zugestanden wird. Man sieht im Vordergrund die Schüler bei der Arbeit im Unterricht, und dennoch sticht die zu spät kommende Tracy durch ein helles Schlaglicht aus dem Hintergrund hervor [L1]. Die Küchenszene, in der Tracy ihrer Mutter Vorwürfe, z.B. den einer »Rabenmutter« macht, bringt zum Moment der Hierarchie schon die Dramatisierung hinzu: Tracy steht im Gegenlichtschein, der durch die offene Tür fällt, doch das Licht schafft einen unausgeglichenen Hell-Dunkel-Kontrast auf ihrem Körper, womit eine heftige innere Unruhe angedeutet wird [L2]. Symbolisch und zugleich atmosphärisch ausgeleuchtet ist die erste Drogenszene im Park, wobei sich Tracy in einem Sprüh- und Lichtregen von der übrigen Welt abgesondert hat, in die sie Mason zurückruft [L3]. L1 L2 L3 Der Drogendeal und -konsum am Straßenrand im Schlussteil des Films wird von auffälligen Blitzlichtern begleitet, die schon beim Dealen einsetzen [L4], aber erst beim Trinken aus der ominösen Flasche das ganze Bild bis zur Überbelichtung aufhellen [vgl. Abb. D1a - D2, S. 45] und damit das Drama der Drogeneinnahme unterstreichen. 1 Fabrice Revault d’Allonnes: La Lumière au cinéma. Paris: Cahiers du Cinéma, 1991; S. 55 2 Jacques Aumont: L’Oeil interminable: Cinéma et peinture. Paris: Librairie Seguier, 1989, Kap. 6 L4 51 DREIZEHN Lichtführung Dieses kurze Schlaglicht, das nicht länger als zwei Zehntelsekunden dauert und mehrmals aufflammt, deutet zugleich auf den bevorstehenden Rausch hin, in dem sich für Tracy auch einiges bis zur Unkenntlichkeit in Lichteindrücken auflösen wird [vgl. Abb. D4, S. 45]. Die dunkle Seite von Tracys Seele kommt ebenfalls in der Lichtführung (wie auch in der Farbwahl) zum Ausdruck, wenn der Akt der Selbstritzung bevorsteht und das düstere Licht, das in Badezimmern zu Schminkzwecken eigentlich fehl am Platze ist, die Figur nur spärlich erhellt und einen Kontrast zwischen der hellen und der abgeschatteten Gesichtshälfte erzeugt [L5]. Symbolisch oder sogar diabolisch ist das Licht auf Tracys Gesicht, wenn sie sich völlig entgeistert ihrer Mutter unter steter Wiederholung von »Kein BH, kein Höschen« nähert. Dabei fällt – angefangen mit einem vertikalen Lichtstreifen in der Gesichtsmitte und am Gesichtsrand [L6a] – zum Schluss des unheimlichen Auftritts der Lichtakzent auf ihre Augen, was zu einer Art hypnotischen Eindruck führt [L6b]. Atmosphärisch wie symbolisch wird das Licht zum Filmende hin, wenn Tracy mit ihrer Mutter auf dem Bett liegt. Schon unter dem Aspekt des Farbwechsels stach diese Einstellungsfolge hervor [vgl. Abb. F13 / F14, S. 51], doch soll noch ein kleiner Lichtakzent Erwähnung finden. Zum einen deutet der Lichtwechsel von Hell zu Dunkel und wieder zu Hell den Übergang vom Tag zur Nacht und zum Morgen an. Er resümiert damit die dramaturgische Berg- und Talfahrt des ganzen Films. Zum anderen huscht während der Nacht ein Streiflicht, das realiter von einem Auto herrühren mag, über beide schlafenden Gestalten [L7a-c]. Aber nach allem was bis zum Aufwachen passiert, nämlich die Rückkehr zur Farbigkeit [L8a/b], kann dieses Licht auch eine magische Konnotation erhalten, wobei ein Zauber von ihm ausgeht, der die Welt wieder scheinbar in Ordnung bringt [L9]. Wenn wir jedoch realistisch sind, wird es für Tracy noch ein weiter Weg sein, bis sie aus dem tiefen Tal – vielleicht mit therapeutischer Hilfe – wieder neue Höhen ihrer Befindlichkeit erklimmt [L10a-c]. L5 L6a L6b L7a L7b L7c L8a L8b L9 L10a L10b L10c 52 DREIZEHN Ton und Musik / Bearbeitungsvorschläge Ton und Musik Was Kameramann Elliot Davis über das Einverständnis zwischen ihm und der Regisseurin zum »look« des Filmes sagt: »dass es in DREIZEHN ... um Stimmung, Energie und Seele geht, dass sich Form und Funktion visuell verbinden müssen.« [vgl. Presseheft, S. 13], kann ebenso für die auditive Seite des Films – den Einsatz von Ton und Musik – Geltung beanspruchen. Im Verlauf der Detailanalyse von Tracys Selbstverletzungsritual [vgl. »Tracys Trauma«, S. 38ff] kam bereits die atmosphärische Anlage des Tons zur Sprache, der durch die eingemischten Geräusche vom Hundegebell bis zur Polizeisirene das Bedrohliche des Moments unterstreicht, sich also funktional zur düsteren Stimmung des Bildes verhält und das Gesehene um das Gehörte potenziert. Aus der eigens für den Film vom Ex-Devo-Mitglied Mark Mothersbaugh komponierten wie aus 28 präexistenten Musikstücken kompilierten Filmmusik spricht ein ähnliches Bemühen, den jeweiligen Stimmungen, Seelenverfassungen und Energieschüben musikalisch gerecht zu werden. Es gibt Filme, die man als Werbespot zur Vermarktung ihres Soundtracks (miss-)verstehen kann, weil Songs den Film fortwährend überdecken und damit in einen musikalischen Kokon einspinnen, der die Sicht auf die Ereignisse mehr verstellt als schärft. Anders dagegen der Einsatz der Musik in DREIZEHN, wo sich die Musiktitel nur an wenigen Stellen – häufig zu Beginn einer Szene – in den Vordergrund drängen und damit eine Grundstimmung umreißen, aber im Verlauf des Handlungsfortgangs schnell zurücktreten. Beim Abspann der Credits ist man schließlich erstaunt darüber, wie viele verschiedene Musiktitel der Film angespielt hat, die man in dessen Ablauf in dieser Vielzahl nicht registriert hat, weil sie sich synästhetisch in das Bildgeschehen einfügen. Das sanfte, zarte Gitarren-Motiv, das Tracy sowohl in den Badezimmer-Spiegelszenen als auch beim Schminken vor dem Spiegel im Schulklo begleitet, bringt hingegen in einem Anflug von Empathie ein Mitleid ein, das der Protagonistin im Zuge ihrer Selbstzerstörung und Verhärtung gegen sich selbst abhanden gekommen ist. Hier ergreift die Filmregie Partei für ihre Figur, die an diesen Stellen ein musikalisches »Trostpflaster« zugespielt bekommt. Bearbeitungsvorschläge Einsatzmöglichkeiten im Unterricht Empirisch ist belegt, dass DREIZEHN, obwohl Mädchen im Mittelpunkt stehen, bei Jungen gleich gut ankommt, den Film also nicht nur Mädchen anschauen sollten. Er wäre in der Altersgruppe um 13 sinnvoll einzusetzen. Wenn wir ihn ab 14 empfehlen, hat dies in den intellektuellen Verarbeitungsmöglichkeiten der Thematik und Stilistik seinen Grund. Wegen seiner künstlerischen Qualität hat der Film seinen adäquaten Aufführungsort im Kino, wo das Filmbild mehr Kontrastumfang als auf dem Fernsehschirm besitzt. Auch die emotionale Wirkung ist aufgrund des vollständigeren Eintauchens in die fiktive Welt des Films im Kinosaal größer. Wegen dieser emotionalen Nachwirkung ist eine Verschnaufpause nach dem Film geboten. Für seine Diskussion sollte man diesen Umstand berücksichtigen bzw. durch einen Ortswechsel ins Klassenzimmer ein ›Verdauen‹ der inhaltlichen und ästhetischen Erfahrung ermöglichen. Da der Fächerkanon hierzulande kein Fach »Film« (wie in Frankreich) kennt, empfehlen sich als Einsatzfächer solche, die ausreichend Platz für die Erörterung der Problem- und Stillagen bieten, insbesondere Deutsch (bzw. Englisch bei OF) und Kunsterziehung, Ethik, Religion, Sozialkunde sowie Fächer und Projekte, die Drogenprävention zum Thema haben. Erwachsene können und sollten in letzterem Fall ebenfalls einbezogen werden. Bevor nach Sichtung des Films Erschließungsfragen angebracht sind, wäre von Schülern der Versuch zu machen, die Geschichte / Handlung des Films in fünf bis sieben Sätzen zusammenzufassen. Das kann auch schriftlich geschehen und ist insbesondere für das Fach Deutsch eine gute Formulierungsübung. 53 DREIZEHN Bearbeitungsvorschläge Erschließungsfragen • Was motiviert Tracy, die Freundschaft mit Evie zu suchen? (Anerkennung bei den Mitschülern) • Was motiviert Evie, die Freundschaft mit Tracy zu suchen? (Selbstbestätigung ihres Führungsanspruchs durch eine neue Gefährtin, später Familienanschluss, Geborgenheit) • Welche Hinweise gibt der Film, dass Mel knapp bei Kasse ist? (Scheck des Vaters wird dringend erwartet; sie stöhnt über die 2 $ Trinkgeld; sie kratzt ihre letzten Münzen zum Bezahlen bei der Händlerin zusammen; sie verweigert Tracy die Jeans für 75 $; sie fährt ein älteres Auto; schließlich beschreibt Tracy sie als »ständig pleite«.) • Welche Konflikte und Folgen zeitigt diese Finanzlage in Anbetracht von Tracys Wünschen und Bedürfnissen, ihre Mitschüler zu beeindrucken? (zu wenig Geld für neue Sachen; Unzufriedenheit Tracys; Übergang zur »Selbsthilfe« durch Ladendiebstahl) • Welche Rolle spielt Evie bei Tracys ›Verwandlung‹? (Sie ist das scheinbar begehrteste aller Mädchen und macht vor, mit welchen Accessoires man »in« ist; sie ist zugleich ein schlechtes Vorbild wegen Ladendiebstählen und dem Gelderwerb aus Drogendeals.) • Welchen Mangel versteckt Evie damit, dass sie sich ihre Anziehungskraft in den Augen der Mitschüler/innen stets beweisen muss und bei Drogen Zuflucht sucht? (zu wenig Selbstbestätigung und Anerkennung als Kind; unerwünschtes(?) Kind einer drogenabhängigen Prostituierten) • Welchen wirtschaftlichen Zwängen unterliegt Tracys Vater? (Er muss sich in seinem neuen Job bewähren; er muss durch sein neues Auto den Kunden Erfolg im Leben vorspiegeln; er muss für seine alte und für eine neue Familie sorgen.) • Warum ist Tracy auf Brady so schlecht zu sprechen? (Er war drogensüchtig; er steht einer Wiederherstellung der ursprünglichen Familie im Wege.) • Welche Rolle erfüllt Brady innerhalb der Familie um Mel? (Er verschafft Mel emotionalen Halt; er behält den Überblick, als der Streit zwischen Tracy, Mason und Mel eskaliert; er heitert die Familie mit dem »Zen-Huhn« auf; er kümmert sich um praktische Dinge: Er überzieht das Bett, er chauffiert Tracy, und er beweist, dass eine Drogenentzugstherapie zum Erfolg führen kann.) • Welchen Zwängen unterliegt Evies Vormund Brooke? (Sie muss ihr Alter durch Schönheitschirurgie verbergen und ihr Geld als Bardame verdienen.) • Was zeigt Brooke gegenüber Evie an Verantwortungslosigkeiten? (Sie fährt auf einen »Kongress« [Schönheits-OP?] und lässt Evie bei ihr fremden Leuten zurück; sie erlaubt 13-Jährigen, Bier zu trinken.) • Was bedeutet das mehrfach auftauchende Reklameschild »BEAUTY IS TRUTH« in diesem Film? (Werbung für Kosmetik zur Herstellung einer makellosen Oberfläche, die dem Zeitgeist entspricht, dem auch die beiden Mädchen folgen.) • Welchen Sinn macht der Sticker »Bush is a loser«, den der Lehrer im Zuge des Energie-Projekts trägt, bezüglich der Energiepolitik des Präsidenten? (Verweigerung der Ratifizierung des KyotoProtokolls zum Schaden der Menschheit; verschwenderische Energiepolitik der USA: sie stellen 4% der Weltbevölkerung und erzeugen 25% an Treibhausgasen in der Welt.) • Welche Entwicklung macht Evies Freundin Astrid durch? (Sie wird von Evie bei Tracys Date mit Javi ausgegrenzt; sie findet Gefallen am Meeresbiologie-Unterricht wegen eines Spiels, in dem sie eine Meerjungfrau sein darf; sie wird von Evie wieder in die Clique aufgenommen, nachdem Tracy passé ist.) • Was hätte Tracy im Laufe der Freundschaft mit Evie noch Schlimmeres passieren können? (Geschnappt-Werden beim Diebstahl; Verweis von der Schule; Bezug von Prügel, weil sie Freunde anderer Mädchen »anmacht«; Strafe wegen Drogenbesitzes; Drogentod) • Hätten Mel, Mason, Brady oder Tracys Vater etwas am Verlauf von Tracys Entwicklung ändern können? Wenn ja, wie? (Mit Tracy das Gespräch suchen; Mason hätte Mel alles erzählen können.) Die Antworten in Klammern erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 54 DREIZEHN Bearbeitungsvorschläge Arbeitsblatt zu Fragen der Inszenierung und Filmform 1. Aufgabe nur für Mädchen zum Thema »Showdown«: Welche »Schmuckstücke« an deinem Körper hast du aufzubieten, um in einer imaginären Konkurrenz gegenüber Evie zu bestehen? 2. Welchem Filmgenre ist der Begriff des »Showdown« zuzuordnen? 3. a) Was ist ungewöhnlich oder unüblich hinsichtlich des Filmanfangs von DREIZEHN? b) Wie führen Filme zumeist ihre Handlungsorte und Figuren ein? c) Welche Wirkung ergibt sich aus dem von DREIZEHN gewählten Filmeinstieg für den Zuschauer? 4. Was besagen die Zimmer-Gegenstände links und rechts im Hintergrund von Tracy, der Poster vom entblößten muskulösen männlicher Oberkörper auf der einen Seite und der Teddybär auf der anderen Seite, über die Bewohnerin? 5. Der Bildaufbau obiger Einstellungen gleicht sich und doch liegt ein großer Unterschied in Tracys Gefühlslage vor: Woran kannst du diese erkennen? 6. a) Was ist dir in dem Film an Farbveränderungen aufgefallen? b) Welche Deutung kannst du für diese Farbveränderungen angeben? 7. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Mels Kleidung mit dem blauen Shirt, das ein rotes Kreuz auf der Brust ziert, und Tracys Lebensführung? 8. Tracy trifft in der Toilette auf ihre Mitschülerin Astrid vor dem Spiegel: a) Welcher Gegensatz tut sich zwischen beiden Mädchen angesichts des Schminkens auf? b) Warum »kippt« für Tracy der Boden in der abschließenden Klo-Einstellung? 9. Was hat die abschließende Entdeckung von Tracys Schnittverletzungen durch Melanie zur Folge? a) inhaltlich: b) formal: 10. Zusatzfrage ab Jahrgangsstufe 9: Was verstehst du unter dem Begriff »Filmkunst?« 55 DREIZEHN Mediografie Mediografie Einführungsliteratur zum Film und zur Filmanalyse allgemein • Bordwell, David / Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction. New York: McGraw-Hill Education, 2003. [Der Titel erlebte seit 1979 viele aktualisierte Neu-Auflagen und ist ein Standardwerk der Filmforschung für eine vertiefende Beschäftigung mit Film] • Bordwell, David: Visual Style in Cinema. Vier Kapitel Filmgeschichte. (Hg. Andreas Rost) Frankfurt/M.: Verlag der Autoren, 2001ff. [Der Titel geht auf vier Vorlesungen zurück, die Bordwell in München gehalten hat, enthält 690 Abbildungen und eignet sich bestens als Einführung in Filmstudien.] • Bordwell, David: Figures Traced in Light. On Cinematic Staging. Berkeley: University of California Press, 2005. [Neuestes Werk, das sich insbesondere der Mise en scène / Inszenierungsweise widmet.] • Elsaesser, Thomas / Buckland, Warren: Studying Contemporary American Film. A Guide to Movie Analysis. London: Arnold, 2002. [Resümiert verschiedene methodische Ansätze im Zuge der Analyse moderner amerikanischer Spielfilme, die zumeist dem Mainstream-Kino entnommen sind.] • Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhem Fink Verlag, 2002. [Basiert auf 25 Jahren Lehrerfahrung, enthält jedoch fragwürdige Definitionen von Story und Plot, die genau gegenteilig zu Bordwells Bestimmungen verstanden werden.] • Hediger, Vinzenz: Kinogefühle: Emotionalität und Film. Marburg: Schüren, 2005 (erscheint im Herbst 2005). • Hildebrand, Jens: Film: Ratgeber für Lehrer. Köln: Aulis Verlag Deubner, 2001. [Von einem Lehrer speziell für Lehrer geschrieben. Erklärt die Filmbegriffe anhand von Stanley Kubricks THE SHINING] • Kanzog, Klaus: Einführung in die Filmphilologie, (diskurs film Bd. 4. Münchner Beiträge zur Filmphilologie). München: diskurs film Verlag, 1991; 2., aktual. u. erw. Aufl. 1997. [Grundlegendes Werk hinsichtlich einer strukturalistischen Herangehensweise] • Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia. Hamburg: Rowohlt, 2002. [Für Einsteiger eine gute Einführung auch in die technischen Voraussetzungen des Films wie seiner Fachbegriffe.] Literatur zum Thema Adoleszenz und Identitätsbildung • Bohleber, Werner (Hg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag internationale Psychoanlyse, 1996 [Enthält eine Reihe wichtiger Aufsätze von namhaften Autoren zum Thema Identitätsbildung bei Jugendlichen.] • Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973 [= stw 16] • Keupp, Heiner / Höfer Renate: Identitätsarbeit heute: Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997 [= stw 1299] Literatur zum Thema Jugend(kultur) • Giannetti, Charlene C. / Sagarese, Margaret: Cliques: Eight Steps to Help Your Child Survive the Social Jungle. New York: Broadway Books, 2001. • Goebel, Johannes / Clermont, Christoph: Die Tugend der Orientierungslosigkeit. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1997 • Göttlich, Udo / Winter, Rainer (Hg.): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den cultural studies. Köln: Herbert von Halem Verlag, 2000. • Grossberg, Lawrence: What’s going on?: Cultural studies und Popularkultur. Wien: Turia&Kant, 2000. • Hepp, Andreas: Cultural studies und Medienanalyse : eine Einführung. 1999. • Holert, Tom / Terkessidis, Mark (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin: Edition ID-Archiv, 1996. • Kellner, Douglas: Media culture : cultural studies, identity and politics between the modern and the postmodern. London: Routledge, 1996. 56 DREIZEHN Mediografie • Klein, Gabriele: Electronic Vibration. PopkulturTheorie. Rogner&Bernhard bei Zweitausendeins, 1999 • McRobbie, Angela: Postmodernism and Popular Culture. London: Routledge, 1994 • Opaschowski, Horst W.: Generation @ Die Medienrevolution entläßt ihre Kinder: Leben im Informationszeitalter. Hamburg, 1999. • ProJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugenschutz: Kinder im Netz der Vermarktung. Über die Verzahnung von Medien und Konsumwelt. Nr. 1/2005 (München) • SpoKK (Hg.): Kursbuch Jugendkultur. Stile, Szenen und Identitäten vor der Jahrtausendwende. Mannheim: Bollmann, 1997. • Winter, Carsten: Medienidentitäten: Identität im Kontext von Globalisierung und Medienkultur. Köln: Von Halem, 2003. • Winter, Rainer (Hg.) / Fiske, John: Die Fabrikation des Populären: der John-Fiske-Reader. Bielefeld: Transcript, 2001. Verwandte Filme (die Jugendliche nicht nur als Lachnummer präsentieren) • • • • • • • Larry Clark / Ed Lachmann: KEN PARK (USA 2003) Savina Dellicour: STANGE LITTLE GIRLS (Kurzfilm, GB 2004) Catherine Hardwicke: LORDS OF DOGTOWN (USA 2005) Harmony Korine: GUMMO (USA 1997) Richard Linklater: DAZED AND CONFUSED (USA 1993) Richard Linklater: SUBURBIA (USA 1996) Paul Pavlikovsky: MY SUMMER OF LOVE (GB 2004) Internet-Links (eine Auswahl nur zu Catherine Hardwicke in Interviews) http://movies.about.com/cs/thirteen/a/thirteenhardwic.htm http://movies.about.com/cs/thirteen/a/thirteenhardwic_3.htm www.bbc.co.uk/films/2003/11/14/catherine_harwicke_thirteen_interview.shtml www.popmatters.com/film/interviews/hardwicke-catherine-030903.shtml www.indiewire.com/movies/movies_030820thirteen.html www.phase9.tv/moviefeatures/thirteenq&a.htm www.iofilm.co.uk/feats/interviews/t/thirteen.shtml www.offoffoff.com/film/2003/thirteen.php www.thecia.com.au/reviews/t/thirteen.shtml www.imdb.com/title/tt0328538/ Kontaktadresse Bernhard Wicki Gedächtnis Fonds e.V. Pagodenburgstr. 2, 81247 München Tel.: 089 / 811 52 67, Fax: 089 / 81 08 93 45 E-Mail: [email protected] Homepage: www.bernhardwicki.de 57 Wir danken für die freundliche Unterstützung von: Bayerische Staatskanzlei Bayerische Landeszentrale für neue Medien Kuchenreuther Kinos München Rio-Palast Nürnberg ISSN 1860-1294