Kapitel I - WordPress.com
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Kapitel I - WordPress.com
Kurzbeschreibung: Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen ... Dies gilt besonders, wenn der Hexer Geralt von Riva mit seinem besten Freund, dem Barden Rittersporn, unterwegs ist. Allerdings hätte er sich wohl nicht träumen lassen, was alles auf dem Weg nach Carinthia, Rittersporns neuestem Reiseziel, passieren würde und erst recht nicht, welch Abenteuer sie am Ziel ihrer Reise schließlich erwarten sollte. Bedrohliche Ungeheuer und eine Stadt, auf der ein Fluch lastet, sind nur einige Beispiele der Geschehnisse, welche die beiden zusammen durchstehen müssen. Hätte Geralt jedoch zu Beginn gewusst, dass er in Carinthia auch noch auf eine Hundertschaft von Rittersporns Bardenkollegen treffen würde, wäre er wahrscheinlich in eine andere Richtung geritten als zum »Bardenwettstreit zu Carinthia«. *** Informationen zur Ausgabe: the-witcher.de Leserausgabe der gleichnamigen Fortsetzungsgeschichte aus der Community-Zeitung »Witchers News«, Nr. 9 bis 25; als Fanwork neu zusammengestellt und vollständig überarbeitet von DiamondDove; Februar 2013 Verfügbare Formate: mobi (für Amazons Kindle-Reader), epub (für andere Reader), PDF Bei dieser Geschichte handelt es sich um eine Fanfiktion - einige Figuren stammen aus The Witcher ®, einer Marke von CD Projekt RED S. A. The Witcher game © CD Projekt RED S. A., bzw. aus den Hexer-Erzählungen und -Romanen von Andrzej Sapkowski, auf denen das Spiel basiert. Alle Rechte vorbehalten. Alle anderen Urheberrechte und Warenzeichen sind das Eigentum ihrer jeweiligen Eigentümer. Titelbild erstellt von DiamondDove unter Verwendung der Vektorgraphik "Crouching lion" aus http://www.oldbookillustrations.com; der Kapiteltrenner ist eine freie Vektorgrafik von Jay Hilgert. Die elbischen Texte sind Übertragungen in J.R.R. Tolkins Sindarin-Sprache und stammen aus folgenden Quellen: • Rath Fair (Originaltext »Man's Road« und Melodie: America (vom Soundtrack aus »The Last Unicorn«), übersetzt von Thorsten, gesungen von Maewen) • I Vanga Fuin (von Míriel, http://nessime.beepworld.de/sindarin.htm). Der Bardenwettstreit zu Carinthia Eine Fanfiktion zur Geralt-Saga von Dandelion Inhalt 1 Lukasz und Miroslav.......................................................................2 2 Auf nach Carinthia!.........................................................................8 3 Der Kampf gegen das Licht...........................................................19 4 In der Stadt....................................................................................24 5 Der Rote Löwe..............................................................................30 6 Bardenzeit.....................................................................................40 7 Eine unbequeme Wahrheit.............................................................45 8 Küsse und ein Brief.......................................................................50 9 Ein Zauber tut seine Wirkung........................................................56 10 Das Spiel beginnt..........................................................................62 11 Hexenwerk....................................................................................71 12 Kein Wein, ein Weib und viel Gesang...........................................77 13 Alles hat ein Ende … nur ein Wurm hat zwei...............................83 14 Eine Wahrheit kommt ans Licht....................................................93 Kapitel I Lukasz und Miroslav D er Schlag mit der flachen Hand kam unerwartet. Hart traf er den Hinterkopf des milchgesichtigen Knaben, woraufhin seine viel zu groß geratene Rüstung laut zu scheppern begann. »Hör auf zu gaffen, Junge, und halt keine Maulaffen feil«, zischte der alte Wächter und erhob drohend die Hand ein zweites Mal. Der Junge rieb sich missmutig den Hinterkopf, Tränen der Wut und des Schmerzes unterdrückend. »Ich hab dich Tausend Mal ermahnt, allen hohen Herren den Respekt zu erweisen, der ihnen gebührt. Und was machst du? Du gaffst sie an, als wären sie irgendeine billige Jahrmarktattraktion! Ihr müsst verzeihen, edle Herren«, wandte sich der Wächter des Tors von Tretogor den beiden Männern zu Pferde zu, die gerade im Begriff waren, die Stadt in Richtung Osten zu verlassen. »Der Junge kommt vom Lande und ist erst seit einer Woche bei mir in der Lehre. Er ist bockig, gehorcht nicht, steckt seine Nase in Dinge, die ihn nichts angehen und hat auch sonst nur Flausen im Kopf! Ich fürchte, seine grenzenlose Neugier wird ihm noch eines Tages zum Verhängnis werden. Verzeiht also, wenn seine respektlosen Blicke Euch belästigt haben sollten.« »Nun«, kicherte einer der Reiter fröhlich, während die Feder an dem kecken Hütchen, das in einem gewagten Winkel auf seinem braunem Haarschopf saß, munter hin und her wippte, »ich bin in meinem Leben schon mit ganz anderen Blicken bedacht worden, die mir weitaus weniger schmeichelhaft erschienen, als die von diesem jungen Burschen.« Miroslav, der alte Wachmann, beobachtete verunsichert, wie der Reiter einige imaginäre Staubkörnchen von seinem makellosen taubenblauen Wams strich, das nach der neuesten Mode geschnitten war und sicherlich mehr gekostet hatte, als er im Lauf eines Mondes verdiente. »Ich habe doch recht? Nicht wahr, Geralt?«, fragte der Reiter, zog langsam die runden, dunkel getönten Augengläser, die seit kurzem in gehobenen Kreisen großen Anklang fanden, zur Nasenspitze herunter und warf seinem Begleiter einen amüsierten Blick zu. Dieser rührte sich zunächst nicht. Ein Schauder überlief Miroslav und ließ die Spitzen seines ruppigen Schnauzbartes zittern. Dieser zweite Reiter, der wie er nun wusste Geralt hieß, war ihm ganz und gar nicht geheuer. Er ritt eine kastanienbraune Stute und trug einen schwarzen Wollmantel, der bis zum Schweif des Pferdes reichte und dessen Kapuze er so tief ins Gesicht gezogen hatte, dass dieses in vollkommene Dunkelheit gehüllt war. Einen Augenblick lang funkelte im Licht der -2- aufgehenden Sonne Silber auf, als die rechte Hand unter dem Mantel zum Vorschein kam, um die Stute hin zu seinem Begleiter zu wenden. Silber auf Leder, schwarz wie die Nacht. »Nun, Rittersporn, mein Freund«, die Stimme, die aus der Kapuze hervorquoll, tönte rau und unangenehm in den Ohren des Wächters, dessen Nackenhaare sich bei diesem Klang instinktiv sträubten. »Gefahr« war das erste Wort, welches Miroslav in den Sinn kam, als er die Stimme hörte. »Tod« das zweite … »Wenn du die Blicke der Männer meinst, die du in den letzten Jahren zum Hahnrei machtest, indem du mit ihren Frauen angebändelt hast, so stimme ich dir natürlich voll und ganz zu. Die Blicke der Damen hingegen werden dir wohl kaum jemals einen Grund zur Missstimmung gegeben haben. Schmeichelhaftere Augenaufschläge, als ich sie gestern Abend beobachten konnte, kannst du dir kaum wünschen. Manchmal hege ich meine Zweifel, ob du dein anziehendes Äußeres nicht doch dem Fehltritt eines Aén Seidhe zu verdanken hast …« »Wer weiß?« Rittersporn lachte. »Wie heißt du?«, wandte sich Geralt dem Jungen zu, der mit der geballten Faust den Schnodder seiner Nase über das ganze Gesicht verteilte. Er beugte sich halb vom Pferd herunter, bis beide auf gleicher Augenhöhe waren. Beeindruckt betrachtete der Junge eine einzelne Strähne silberweißen Haares, die unter der Kapuze sichtbar wurde. Doch seine Neugier und Faszination kannte keine Grenzen mehr, als er der katzenartigen Augen gewahr wurde, die ihn mit einer Mischung aus Wohlwollen und Interesse begutachteten. Ein Hexer!, durchfuhr es ihn. Das muss ein Hexer sein! »Mein Name ist Lukasz, edler Herr!« Er hielt dem Blick stand. »Ich bin kein edler Herr, Lukasz. Ich denke, du weißt jetzt genau, wer ich wirklich bin, denn du bist sicherlich nicht auf den Kopf gefallen. Nun gut, Lukasz, hör mir gut zu und merke dir meine Worte! Neugier ist eine gute Sache, doch mit ihr verhält es sich genauso wie mit der Medizin und den Frauen: auf die rechte Dosierung zur rechten Zeit kommt es an. Hast du das verstanden?« Lukasz kratzte sich am Kopf, zog die Stirn kraus und grinste schließlich. »Ja, ich denke schon …« »Gut. Mein Freund Rittersporn erzählte mir, dass ein junger Wächter am Vortag einen Mann in die Stadt gelassen hat, obwohl dieser in einem erbärmlichen Zustand war und keinen Passierschein besaß. Er soll diesem Mann sogar einige Münzen zugesteckt haben, damit er sich eine einfache Mahlzeit und ein Lager für die Nacht leisten konnte. Kann es sein, dass du diesen Wächter zufällig kennst, Lukasz?« Der Junge warf einen raschen Seitenblick auf Miroslav, dessen Bartenden bereits wieder zu zittern begonnen hatten, doch diesmal nicht aus Unbehagen. »Ja, das war ich«, antwortete er und duckte sich bereits in Erwartung eines Schlages weg, der jedoch nicht kam. -3- »Wage es ja nicht, den Jungen noch einmal anzurühren, auch wenn er dein Enkel ist«, knurrte Geralt den Wächter an, dessen erhobene Hand im schmerzhaften Schraubstock von Geralts Griff verharrte. »Nun schau nicht so überrascht! Es ist allgemein bekannt, dass die Familien die Lehrlinge der Wächtergilde in Tretogor ausrüsten müssen. Da nun die Rüstung, die er trägt, nicht nur dieselbe Größe hat wie deine, sondern auch noch ähnliche Beschädigungen an gleicher Stelle aufweist, gehe ich einmal davon aus, dass sie früher einmal dir gehört hat und ihr deshalb miteinander verwandt sein müsst. Und für den Vater bist du, mit Verlaub gesagt, bereits etwas zu alt geraten … Ich lasse dich los, wenn du mir versprichst, nicht noch einmal die Hand gegen dein Fleisch und Blut zu erheben! Tust du das?« Miroslav nickte mit schmerzverzerrter Miene. Geralt ließ ihn los. »Nun gut, Lukasz, erzähl mir, was dich dazu veranlasst hat, zu tun, was du getan hast.« Der Junge überlegte einen Augenblick. Er konnte sich noch zu gut an den Mann erinnern, der am gestrigen Morgen vor den Toren Tretogors aufgetaucht war, mehr tot als lebendig. Unter all dem Dreck und den Fetzen, die einmal ein Wams und eine Hose gewesen sein mochten, war der Fremde kaum als Mensch zu erkennen gewesen. Dem üblen Gestank nach, der von dem Bettler ausgegangen war, hätte er sonst eine Kreatur sein können. Keiner von den Menschen, die an jenem Tag in die Stadt geströmt waren, scherte sich auch nur einen feuchten Kehricht darum, was mit diesem Mann geschah, ob er leben oder sterben würde. Lukasz hatte einfach Mitleid mit ihm gehabt. Es war noch nicht lange her, dass er selbst Hunger leiden musste und er sich gewünscht hätte, jemand würde ihm etwas Nächstenliebe entgegenbringen. Nun, das Leben war zwar hart, doch dies war keine Entschuldigung dafür, auch das Herz zu Stein werden zu lassen. Deshalb hatte er den Fremden in einem unbeobachteten Augenblick in die Stadt eingelassen und ihm einige Orens zugesteckt, damit sich dieser zumindest seine dringendsten Bedürfnisse erfüllen konnte: etwas zu essen und ein billiges Lager für die Nacht. Er war einfach seinem Instinkt und seinen Gefühlen gefolgt, weil es ihm richtig erschien. Und das erzählte er genau so Geralt. »Und daran hast du gut getan! Weißt du, wer der Mann war, dem du da Einlass gewährt hast? Nein? Nun, es ist niemand anderes als mein Begleiter dort. Kein Vergleich zu gestern, nicht wahr? Jetzt ist er allerdings herausgeputzt wie ein Pfau durch die Gunst seiner vielen weiblichen Bewunderer und Verehrerinnen. Ich verrate dir was! Selbst das Pferd, auf dem er gerade seinen Hintern platt sitzt, haben sie ihm geschenkt!« Rittersporn war es augenscheinlich unangenehm, Geralts Worten zu folgen. Er rutschte verdrießlich auf dem Sattel hin und her. »Auf dem Weg von Oxenfurt hierher wurde er von Wegelagerern um all sein Hab und Gut gebracht; nur sein Leben und die Kleider am Leibe ließ man ihm. So war es doch, Rittersporn?« -4- Der Angesprochene lächelte säuerlich, richtete sich dann aber zu voller Größe auf, reckte die Brust heraus und nickte zustimmend, wenn auch widerwillig. »Ja, so war es, Geralt! Und das mir: Julian Alfred Pankratz Viscount de Lettenhove, weithin auch schlicht als Rittersporn bekannt, der Barde der Barden, von allen Musen geliebt, der Meister der Verse, Herr der Mieder … äh … Lieder …« Geralt räusperte sich vernehmlich. »Nun gut, die Banditen wussten es anscheinend nicht besser. Aber ihr beiden habt doch sicherlich schon von mir gehört?« Die beiden Wächter, jung und alt, sahen sich mit fragendem Blick an und zuckten dann vielsagend mit den Schultern. Rittersporn sackte in sich zusammen. »Ich denke, jetzt kennen sie dich ja, mein Freund«, beeilte sich Geralt zu sagen, dem die zunehmende Betrübnis Rittersporns nicht verborgen blieb. »Und ich bin überzeugt davon, dass du dem jungen Lukasz sicher sehr dankbar für seine selbstlose Tat bist! Es ist dir sicherlich nur entfallen, ihn vor unserem Aufbruch noch aufzusuchen, um ihm sein Darlehen nebst Zinsen zurückzuzahlen, weil du deinen Kopf voller neuer, schöner Verse für deine unvergleichlichen Balladen hast, nicht wahr?« Rittersporn spürte die aufblühende Röte und Hitze in seinem Gesicht und er hoffte insgeheim, dass man sie ebenso gut für ein Zeichen von Bescheidenheit halten würde und nicht für die Scham, die er in diesem Moment verspürte. Mit gesenktem Blick durchforstete er seine Taschen. Und Taschen hatte Rittersporn wahrlich zur genüge. »Ich denke, diese Münzen dürften mehr als ausreichend sein.« Geralt zog einige silberne Geldstücke aus seinem Wams, während Rittersporn noch seine Kleidung durchwühlte. Er warf sie Lukasz zu, der sie geschickt auffing und nach einem kurzen Blick darauf von einem Ohr zum anderen zu strahlen begann. »Aber … das ist viel zu viel, edler Herr!!« »Nenn mich einfach Geralt. Es ist ganz und gar nicht zu viel. Ach, bevor ich es vergesse«, er warf auch Miroslav ein größeres Geldstück zu, »nimm dies und besorge deinem Enkel eine anständige Rüstung, die ihm auch passt! Hast du verstanden?« Miroslav, der gerade auf die Münze biss, um deren Echtheit zu prüfen, nickte freudig. »Wehe, ich erfahre, dass du das Geld in die nächste Schenke gebracht hast, Alterchen! Ich warne dich! Ich werde auf dem Rückweg noch einmal vorbeischauen …!« Das Lächeln auf Miroslavs Miene erstarb. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lenkte Geralt seine Stute zum Tor hinaus, gefolgt von Rittersporn. Schweigend ritten sie nebeneinander nach Osten, wo der blutrote Sonnenball gerade seinen Weg über das Firmament antrat. Es dauerte eine -5- Weile, bis sich Rittersporn soweit gefasst hatte, dass er wieder in der Lage war, das Wort an seinen Freund zu richten. »Warum hast du gerade einen Überfall gewählt, Geralt? Du ahnst ja nicht, wie peinlich mir die Situation gerade eben war! Heute morgen scheinst du regelrecht Gefallen daran zu finden, mich demütigen zu wollen …« »Wenn du mir nicht erzählen willst, was wirklich passiert ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mir meinen Teil zu denken. Du musst zugeben, ein Überfall ist wesentlich ehrenvoller als sich zum Beispiel beim Würfelpoker bis aufs letzte Hemd ausnehmen zu lassen oder – noch schlimmer – von irgendwelchen gewitzten Frauenzimmern übertölpelt zu werden und frühmorgens nicht nur unbefriedigt, sondern auch noch ohne Geld in der Börse aufzuwachen. Das wäre wohl kaum die Art von Abenteuer, von der du gerne in deinen Balladen berichten würdest. Und was die Pein angeht: Noch übler als die Situation, in der ich dich gestern angetroffen habe, kann es eben gar nicht gewesen sein!« Rittersporns Schweigen war Geralt Antwort genug. »Julian Alfred Pankratz Viscount de Lettenhove … wie zum Teufel bist du eigentlich zu diesem beschissenen Namen gekommen?« »Warum nicht? Geralt Roger Eric du Haute-Bellegarde ist auch nicht gerade der Muse bester Kuss, oder?«, gab Rittersporn spitz zurück. Geralt lächelte kurz. »Touché! Ich denke, wir sind quitt.« »Ach wirklich?« Geralt nickte. »In Zukunft denk einfach daran«, knurrte er, »dass es keine gute Idee ist, mich zu wecken, wenn ich erst kurz zuvor ins Bett gefunden habe. Und dass ich ungenießbar bin, solang ich meinen Morgentrunk nicht zu mir genommen habe, solltest du eigentlich langsam wissen, Rittersporn! Jetzt schuldest du mir nicht nur eine Erklärung, was in Oxenfurt wirklich geschehen ist, sondern zudem noch 500 Orens …« »500 Orens? Das ist mehr als das Zehnfache von dem, was ich von dem Jungen bekommen habe!« »Ich weiß«, Geralt setzte die Kapuze ab und schüttelte das Haar aus, dass jetzt silbern im Sonnenlicht glänzte. Er grinste. »Ich erlasse dir die Summe, wenn du mir die Wahrheit über Oxenfurt erzählst! Du kannst es dir ja noch überlegen, solange wir noch nicht in Carinthia sind, was immer dich nach dort auch ziehen mag.« Noch bevor Rittersporn antworten konnte, ließ Geralt seine Stute mit einem Druck seiner Schenkel Tempo aufnehmen. Einen Augenblick lang glaubte Rittersporn ein fröhliches Gelächter zu hören, während Geralt allmählich aus seinem Blickfeld verschwand. Er schüttelte entschieden den Kopf. Nein, da hatte er sich sicherlich getäuscht. -6- »So warte doch, Geralt!«, rief er und spornte sein Pferd ebenfalls an. »Geralt von Riva, aus dir soll mal einer schlau werden!«, murmelte Rittersporn. «Ich werde es wohl nicht mehr und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte …« Und so preschten die beiden in Richtung Carinthia davon, der aufgehenden Sonne und einem neuen Abenteuer entgegen. -7- Kapitel II Auf nach Carinthia! E nergisch fuhr der breite Stiefelabsatz auf die letzten rot glühenden Holzstücke im heruntergebrannten Aschehaufen hinab und erstickte mit wenigen Schlenkern die letzte Glut. Zufrieden betrachtete Geralt das aufwirbelnde Aschehäufchen, aus dem ein allerletzter Rauchfaden aufstieg, der sich gemächlich um den Schaft seines Stiefels schlängelte, um schließlich unter der umgekrempelten Stulpe auf immer zu verschwinden. Geralt streckte genüsslich seine Glieder und dehnte ausgiebig jeden einzelnen Muskel seines Körpers, bis jede seiner Bewegungen wieder ebenso geschmeidig vonstatten ging, wie er es gewohnt war und sein Beruf es von ihm verlangte. Der Boden, auf dem er die Nacht verbracht hatte, war sehr hart und felsig gewesen. Rittersporn hatte jedoch auf diesen Platz bestanden, nachdem zwei Riesentausendfüßler ihnen den vorherigen Rastplatz streitig gemacht hatten und den Barden nur allzu gerne zu ihrem Nachtmahl verspeist hätten. Geralt war es nur recht gewesen, einen festeren Untergrund als Schlafstätte zu wählen. Einige ächzende Knochen und verspannte Muskeln waren lediglich ein geringer Preis für ihre Sicherheit gewesen, den er gern in Kauf genommen hatte. Ganz davon abgesehen, dass auch er keine große Lust verspürt hatte, weiteren dieser Kreaturen entgegentreten zu müssen. Zum einen war ihm bereits beim ersten das Insektoidenöl ausgegangen und zum anderen war jeder Kampf, der nicht der Selbstverteidigung diente und nichts zum Gewicht seiner Geldbörse beitrug, ein unnützer Kampf. Auch Hexer mussten mit ihren Kräften haushalten und lebten nicht nur von Luft und guten Taten allein. Unbezahlten guten Taten wohlgemerkt. Tief ausatmend griff Geralt nach seinem Vorratsbeutel und stopfte sich eine weitere Portion getrockneten Fisch in den Mund, die er mit einem tiefen Schluck temerischen Weines hinunterspülte. In der Luft lag noch der verführerische Duft von frisch geröstetem Weißbrot und hart gebratenen Wyvern-Eiern, die der Barde in einer kleinen kupfernen Pfanne zubereitet hatte, deren Verzehr Geralt jedoch dankend ablehnen musste, da wahrscheinlich nur die Götter genau wussten, wo und unter welchen Umständen Rittersporn an diese Vorräte herangekommen sein mochte. Der Barde selbst hatte die Nacht kein Auge zubekommen. Das mochte durchaus an der für ihn sehr unerfreulichen Begegnung mit den Riesentausendfüßlern liegen. Doch der Hexer vermutete, dass noch ganz andere Gründe für seine Schlaflosigkeit verantwortlich waren, die er mit stundenlangem Gezupfe auf seiner Laute und dem Komponieren neuer Balladen zu übertünchen versuchte. Dass seine Bemühungen -8- nur von geringem Erfolg gekrönt waren und seine Melodien nur halbherzig und weit unter seinen bisherigen Niveau blieben, wie Geralt in einigen wachen Momenten durchaus bemerkt hatte, bestärkten ihn nur in seinem Verdacht, dass Rittersporn mit seinen Gedanken und seinem Herzblut mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, als mit seiner Musik. Wahrscheinlich zerrten die Ereignisse von Oxenfurt, welcher Natur diese auch immer gewesen sein mochten, noch immer an seinem Nervenkostüm. Nun, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er sicherlich noch von ihm erfahren, was genau dort geschehen war. Bislang schwieg er sich beharrlich darüber aus, was ungewöhnlich für den Barden war, der sonst gerne den ganzen lieben Tag seine Stimmbänder mit Geschichten, Gesängen und Anekdoten aus seinem Leben in Schwung zu halten pflegte. Geralt konnte warten. Gerade verstaute Rittersporn seine edle Laute, die wie stets in ihrem wertvollen elfischen Futteral steckte, und sein übriges Hab und Gut auf dem scheckigen Wallach, der unruhig mit den Hufen scharrte. Auch Geralts treue Stute Plötze wurde allmählich fahrig. Vielleicht spürten die beiden Pferde die Nähe weiterer unterirdischer Monster. Vielleicht waren sie es auch einfach nur leid, zu lange an diesem Ort zu verweilen. Wie auch immer, es wurde endlich Zeit, dass sie aufbrachen. Noch einmal kontrollierte Geralt den Sattel, zog einige Riemen nach und überprüfte ein letztes Mal seine Vorräte an Lebensmitteln, Tränken, Ölen und deren Zutaten, die er in Carinthia, sofern dort erhältlich, aufzufüllen und zu ersetzen gedachte. Dann schwang er sich in den Sattel und wandte sich nach dem Barden um. »Bereit, Rittersporn?« Ein kurzes Nicken und ein abgespannter Blick aus übermüdeten Augen waren die einzige Antwort, die Geralt an diesem Morgen erhielt. Leise flüsterte Rittersporn seinem Wallach etwas ins Ohr, der daraufhin die Ohren spitzte und die Augen weit aufriss. Geralt vernahm trotz seines guten Gehörs nicht, welche Worte der Barde an sein Pferd richtete, denn er hatte sie in einem ihm unbekannten elfischen Dialekt gesprochen. Die Reaktion seines Pferdes ließ jedoch darauf schließen, dass dieses die Worte recht wohl verstanden hatte und sie wahrscheinlich nichts Gutes bedeuteten. Geralt lächelte insgeheim. Er hatte dieses Ritual bislang jeden Tag beobachten können. Wahrscheinlich drohte Rittersporn dem Pferd mit dem Abdecker oder Schlimmerem mit seinem leisen Singsang aus elfischen Lauten, wenn das Tier nicht dasselbe tat wie am vorigen Tag und dem Tag davor. »Nun denn, auf nach Carinthia!«, rief Geralt. Plötze setzte sich in Bewegung. Noch einmal sah der Hexer zurück. Es war, wie er vermutet hatte: Rittersporns Wallach folgte seiner Plötze geduldig auf dem Hufe. Und der Barde? Kaum, dass er es sich im Sattel bequem gemacht hatte, war er auch schon eingeschlafen und schnarchte lauthals mit gesenktem Kopf. Ein Anblick, an dem sich vor ihrem Eintreffen in Carinthia, was immer sie dort auch erwarten mochte, sicherlich nichts ändern würde, da war sich Geralt sicher. -9- Carinthia, die Wohlhabende, wie die Stadt von ihren Bewohnern liebevoll und den übrigen Städten Temeriens voller Neid genannt wurde, war auf keiner Karte der nördlichen Königreiche verzeichnet – und das hatte seinen Grund. Als die Kartographen des Landes ihre Ergebnisse in Wyzima zusammentrugen, um die erste vollständige Landkarte des Nilfgaarder Reiches zu erstellen, existierte Carinthia schlichtweg nicht. Zu der damaligen Zeit bestand die Stadt lediglich aus einigen baufälligen Gehöften und ihren Bewohnern, die das wenige, das sie zum Leben brauchten, selbst anpflanzten: Getreide für das tägliche Brot und Rüben als Futter für die mageren Tiere, die sie hielten. Daran hätte sich wahrscheinlich nie etwas geändert, wenn nicht eine findige Bäuerin durch Zufall herausgefunden hätte, wozu die Rüben außer zum Verfüttern noch zu gebrauchen waren: zur Herstellung einer klebrigen und süßen Masse nämlich, die in den nachfolgenden Jahren ihren Siegeszug durch die temerischen und Nilfgaarder Küchen antreten sollte - der Carinthia-Sirup, benannt nach der Bäuerin, die ihn entdeckt hatte. Der bis dahin namenlose Ort wuchs und gedieh, erhielt einen Namen und kurz darauf auch das Stadtrecht. Schon bald siedelten sich Menschen und Anderlinge aus ganz Temerien in der Nähe des aufstrebenden Carinthia an, darunter auch Handwerker aus dem fernen Serrikanien, die etwas mit sich führten, das den Ruhm und das Ansehen der Stadt noch weiter mehren sollte: serrikanische Seide und das Wissen um ihre Herstellung. Geralt hatte bislang immer einen großen Bogen um Carinthia gemacht. In dieser Stadt mit ihren rotgeschindelten kleinen Fachwerkhäusern und den zufriedenen Gesichtern ihrer Bewohner gab es für einen Hexer einfach nichts zu tun. Keine Flatterer, die in der Nacht auf einen Schlummertrunk unterwegs waren, keine Ghule, die an frischen Leichen nagten, noch nicht einmal ein paar ertrunkene Tote, die die Kanalisation unsicher machten und das Trinkwasser verseuchten. Es schien fast, als würde jedes Monster und jede Abnormität einen weiten Bogen um dieses Idyll machen. Soweit das Auge reichte, gab es hier nur üppige Äcker, ausladende Obstbäume, die unter der Last ihrer Früchte ächzten, und fette Kaufleute, deren Geldbeutel noch praller gefüllt waren, als die Bäuche ihrer Besitzer. Nein, dieser Ort war kein gutes Revier für Hexer. Der Letzte, welcher Carinthia auf der Suche nach Arbeit betreten hatte – ein junger Hexer, unerfahren und naiv – war von den Einwohnern gefangen gesetzt und auf den nächsten Scheiterhaufen gezerrt worden. Von daher war es nur verständlich, dass sich Geralt mit gemischten Gefühlen der Stadt näherte. »Ich hoffe, Rittersporn«, knurrte er und lauschte kurz dem lauten Schnarchen, das hinter ihm in regelmäßigem Abstand ertönte, »du hast einen verdammt guten Grund, um hierher zu kommen! Das Letzte, wonach mir gerade der Sinn steht, sind brennende Holzstöße und aufgebrachte Einwohner mit Mistgabeln …« Zuletzt war Geralt im vorangegangenem Jahr hier vorbeigekommen, als er sich nach langer Zeit wieder einmal auf dem Weg nach Kaer Morhen befand. Es war gerade Erntezeit gewesen und er erinnerte sich noch gut an die misstrauischen und - 10 - verächtlichen Blicke der Arbeiter auf den überreifen Feldern und Äckern, an denen er vorbeigeritten war. Ebenso an die wüsten Schimpfworte und Verwünschungen, die sie ihm hinter seinem Rücken nachriefen. Keiner von ihnen hatte es gewagt, ihm seine Meinung mitten ins Gesicht zu sagen. Verfluchte Feiglinge! Wahrscheinlich hatten sie geglaubt, er würde sie nicht mehr hören können. Weit gefehlt! Nur allzu deutlich waren sie zu verstehen gewesen. Jedes einzelne hasserfüllte Wort, dass ihre Ängste und Vorurteile kaschieren sollte, hatte er vernommen. Allein seine jahrelange Ausbildung und die mühsam antrainierte Beherrschung seiner Gefühle hatten ihn damals davon abgehalten, einfach vom Pferd zu steigen und den Bauern eine Lektion mit der bloßen Faust zu erteilen. Jetzt jedoch war etwas anders. Seitdem sie beide vor zwei Tagen von Tretogor aus in Richtung Carinthia aufgebrochen waren, hatte Geralt das Gefühl nicht abschütteln können, dass etwas geschehen würde. Er konnte die Gefahr, der sie sich näherten, regelrecht wittern und je dichter sie nun ihrem Ziel kamen, um so mehr stank es nach Ärger und Schwierigkeiten. Nicht erst seit ihrer Begegnung mit den Riesentausendfüßlern zitterte das Wolfsamulett auf seiner Brust. Zunächst war es nur ein leises Vibrieren gewesen, das jeder andere wahrscheinlich kaum wahrgenommen hätte. Doch nun, kaum dass die höchsten Gebäude der Stadt langsam am Horizont aufzutauchen begannen, fing der Wolfskopf unter seinem Leinenhemd an, einen wahren Veitstanz zu veranstalten. Geralt nickte grimmig. Er schloss das Lederwams über seiner Brust und zog die Riemen so stramm, dass das Amulett ihn zwar immer noch vor Gefahr warnen, doch keine Anstalten mehr machen konnte, übermütig aus seinem Hemd hervorzuhüpfen. Er sah sich genauer um. Wo im Jahr zuvor noch volle Felder mit mannshoher Gerste und Roggen standen, honiggelber Raps das Auge erfreute und das frische Grün der weit ausufernden Rübenpflanzen sich bis zum Horizont zu erstrecken schien, herrschte nun die blanke Not. Der Boden war verdorrt, von der Sonne in harte, sich aufwölbende Platten zerrissen. Auf einigen Feldern erblickte Geralt noch verkümmerte Getreidehalme, die einem ausgewachsenem Mann kaum bis an die Knie reichten und die sicherlich nie eine Ähre getragen hatten. Und dennoch hatte man sich an ihnen zu schaffen gemacht, wohl in der Hoffnung, vielleicht noch das eine oder andere Korn ergattern zu können. Geralts Blick schweifte weiter. Selbst die Bäume in dieser Gegend wirkten lebund kraftlos. Bleiern reckten sie ihre Wipfel der unbarmherzig brennenden Sonne entgegen, die im Zenit stehend alles unter sich zu versengen drohte. Die wenigen Früchte, welche die Bäume getragen haben mochten, waren ebenso verschwunden wie jedes einzelne Blatt in ihren Wipfeln. Sie waren nicht etwa vor der Zeit abgefallen, wie man zunächst vermuten konnte, sondern von unzähligen Händen von den Ästen herabgepflückt worden, wie sein geübtes Auge rasch erkannte. Geralt hatte Ähnliches schon in früheren Zeiten gesehen, in denen Not und Hunger die - 11 - Menschen dazu getrieben hatten, Dinge zu essen, die sie an besseren Tagen nicht einmal mit ihrem Hinterteil angesehen hätten. Was mochte hier geschehen sein? Eine Gestalt auf einem der wenigen Äcker, auf dem das verkümmerte Getreide sein trostloses Dasein fristete, erregte Geralts Aufmerksamkeit. Sie bewegte sich zwischen den ausgeblichenen Halmen hin und her, strich scheinbar gedankenverloren mit ihren Händen über kornlose Ähren, drehte sich langsam im Kreise umher und wieder zurück. Ein junges Mädchen von schlanker Gestalt, wahrscheinlich gerade erst dem Kindesalter entwachsen, mit schulterlangem flachsblondem Haar und von der Sonne gebräunter Haut. Sie trug ein luftiges weißes Leinenkleid, das sich deutlich von dem dunklen Teint ihres Körpers abhob und das lediglich von zwei dünnen Riemchen über der Schulter gehalten wurde. Noch einmal drehte sie sich im Kreis, tanzte sie regelrecht um die sie umgebenden Halme herum, als wären diese allesamt junge Freier und sie selbst noch nicht entschlossen, welchen sie davon erwählen sollte. Eine Weile beobachtete Geralt die junge Frau recht angetan, verfolgte ihre anmutigen Bewegungen, bis ihm eine weitere Person auffiel, die in sichtbarer Nähe des tanzenden Mädchens auf dem Boden kniete und anscheinend eine letzte Lese des Getreides vornahm. Ein junger Mann, selbst kaum älter als das Mädchen, das nun einen Moment lang innehielt, als es den anderen Gast des Feldes bemerkte. Wenige leichtfüßige, fast schwebende Schritte reichten bereits, um unbemerkt die Distanz zwischen ihr und dem Burschen zu überbrücken. Schon stand sie unmittelbar hinter dem ahnungslosen Jungen und streckte die feingliedrige Hand nach seiner Schulter aus. »Verdammt«, fluchte Geralt, sprang vom Pferd und zog dabei das Silberschwert. Spät, fast zu spät erkannte er seinen Irrtum. Wie hatte er nur so verblendet sein können? Geschwind hatte die Mittagserscheinung den nahezu erstarrten Jüngling, dem das Entsetzen jetzt deutlich ins Gesicht geschrieben stand, hochgewirbelt und an den Händen ergriffen. Ein kurzes Nicken ihrerseits, das keinerlei Widerspruch duldete, besiegelte die Einladung zum Tanze. Der Reigen begann. Des Jünglings letzter, sofern Geralt nicht schnellstens etwas dagegen unternahm. Mit zwei Sätzen erreichte er den Wallach des Barden und schüttelte Rittersporn aufs Heftigste, sodass dieser, recht abrupt aus dem Schlaf gerissen, fast von seinem Pferd gefallen wäre. »Schnell, Rittersporn! Die Augengläser! Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen!« *** Die Schenke »Der Rote Löwe« war das beste Etablissement am Platze in Carinthia, wenngleich es schon einmal bessere Zeiten erlebt hatte. Einst trug die Schenke noch den Namen »Der streunende Vagabund«, war in einer kleinen und schmuddeligen - 12 - Nebengasse gelegen und hatte das gesamte Gesindel und jede zwielichtig Gestalt der Stadt angezogen. Erst der Tod des damaligen Besitzers, ein Zwerg aus dem Süden, der mehr Essensreste in seinem knielangen Bart beherbergte als es in seiner gesamten sogenannten Küche für die Gäste gab, hatte den Weg für einen Neuanfang frei gemacht. Der neue Schenkeninhaber hieß Leo MacDanold, ein vermögender Ex-Soldat aus Ard Carraigh mit einem Faible fürs Bierbrauen, kehrte dem schmuddeligen »Vagabunden« den Rücken und baute eine neue Schenke im Zentrum der Stadt, wo gerade – welch eine glückliche Fügung – einige Gebäude einem Feuer zum Opfer gefallen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren. »Der Rote Löwe« war letztendlich nahezu dreimal so groß wie der »Vagabund« und zeichnete sich dadurch aus, dass die Binsen auf dem Boden stets frisch und duftend, die Küche ausgezeichnet und reichhaltig, und die Gäste von besserer Herkunft waren, als sie sein Vorgänger je zu Gesicht bekommen hatte. Das selbstgebraute Bier namens Carinthia Faro Gold, welches der Wirt in einem Nebengebäude nach allen Regeln der Braukunst herstellte und das in ganz Temerien seinesgleichen suchte, trug das seinige dazu bei, dass »Der Rote Löwe« weit über die Grenzen von Carinthia für seine Gastfreundschaft und guten Service bekannt war. Die Investitionen hatten sich bereits nach kürzester Zeit mehr als rentiert und Leo freute sich bereits auf den Zeitpunkt, an dem er sein Lebenswerk an seinen Sohn Ranold übergeben konnte, um sich nur noch der Bierkunst widmen zu können – als das Schicksal zuschlug und seine gesamten Pläne zunichte machte. »Verdammtes Weibsbild«, fluchte Leo. Seine Hand wirbelte durch den feuerroten Vollbart, ein deutliches Zeichen dafür, dass er heftigst verstimmt war an diesem Morgen. »Hast du was gesagt, Vater?« Leo warf einen verwirrten Blick in Richtung seiner Tochter Fiona, die ein mit Wild, Käse und Getränken voll beladenes Tablett in Richtung Haupthalle balancierte, aus der lautes Gelächter, wilde Flüche und von Zeit zu Zeit leises Lautengeklimper zu hören waren. »Nein, meine Hübsche, ich meinte nicht dich. Pass du nur auf, dass du nicht ins Straucheln gerätst. Und nimm dich in Acht vor dem Bardengesindel! Die haben meist mehr Hände als sie zum Lautespielen brauchen ...« »Ich arbeite hier nicht erst seit gestern, Vater!« Fiona lächelte süffisant. »Und ich weiß mich schon zu wehren, wenn eine dieser langfingrigen Griffel an einem Ort landen sollten, wo sie nix zu suchen haben. Ich hoffe nur, du hast für den Fall noch genügend Trinkhumpen übrig ...« Leo lachte, das erste Mal an diesem Tage. Doch kaum war Fiona aus seinem Blickfeld entschwunden, da verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Verdammtes Weibsbild«, er spuckte diese zwei Worte mit einer Inbrunst aus, als wären sie ein Schluck schal gewordenes Bier. »Verfluchtes Hexengesindel!« Der Zettel brannte in seiner Brusttasche, dennoch widerstand er dem Verlangen, ihn erneut hervorzuholen und noch einmal zu lesen. Er kannte den Text ohnehin - 13 - auswendig. Die Worte hatten sich wie schwarzes Feuer in sein Gedächtnis eingebrannt, um ihn von dort aus Tag und Nacht zu quälen, Bitterkeit in sein Herz zu streuen und sein Leben zu vergällen. Dann nahm er ihn doch heraus, entfaltete ihn mit zitternden Händen und las zum wiederholten Male, was dort in säuberlicher roter Schrift geschrieben stand: Erst wenn endlich ans Licht kommt zu einer Zeit die Wahrheit von allen Lügen und Siegeln befreit wenn das hellste Tageslicht am Ende sieht was schon lang geheim im Dunkeln erblüht ein Schlüssel gegen Stahl um den rechten Platz ringt ein Barde ein stummes Schwert zum Singen bringt wenn die im Lande allergrößten Bardenzungen vom Niedrigsten der ihren wurden bezwungen wenn dann noch die alte Weise am Brunnen erschallt dann steigt das Übel daraus nach oben schon bald wird letztendlich von einem Recken bezwungen dessen Lippen nie einen Ton haben gesungen erst dann wird kommen die rechte Zeit dieser Schwur wird nicht gebrochen die Stadt wird dann vom Fluche befreit den im Zorn ich über sie habe gesprochen. Leos Hände zitterten immer noch, obwohl sein Blick schon längst in eine andere Richtung abgeschweift war, zum Fenster hinaus auf die Straßen, die dunstig und rauchverhangen zurück zu starren schienen wie ein betrunkener Gast nach dem fünften Carinthia Faro Gold. Und wieder stieg die ohnmächtige Wut auf in ihm, auf Carinthia, die Stadt, die sich für was Besseres hielt, auf das vermaledeite Hexenweib, welches das Unglück über die Stadt heraufbeschworen hatte, und letztlich auch auf ihn selbst, der es mit seinem Hochmut und seinem Geiz erst dazu hatte kommen lassen. Erschöpft schloss er die Augen. Was täte er dafür, könnte er den Sand der Zeit rückwärts fließen lassen und alles ungeschehen machen, was vor einem halben Jahr geschehen war. Die Ereignisse vergessen machen, sie einfach aus dem Gedächtnis der Welt und der Bewohner von Carinthia tilgen, damit alles wieder so wurde, wie es zuvor gewesen war. Doch das war nur ein Traum, den er jeden Augenblick seines Lebens vergebens träumte. Denn nur, wenn eintraf, was die Hexe prophezeite, würde ihr Fluch mit all seinen schrecklichen Folgen seine Wirkung verlieren. Darum bat er die Götter jeden Tag aufs Neue. Das Gelächter aus der Haupthalle schwappte laut in seine Küche herüber. Vielleicht war heute der Tag, an dem alles besser wurde. Dafür ertrug er auch gerne die Anwesenheit dieser arroganten, von sich selbst eingenommenen, hochnäsigen, dauerklimpernden, stets geilen Barden, die seit einigen Tagen in seiner Schenke - 14 - untergekommen waren und seitdem seine letzten Vorräte auffraßen, seinen Weinkeller schamlos plünderten und seine Fiona und selbst seinen Sohn Ranold mit lüsternen Blicken bedachten, für die sie in besseren Zeiten von ihm mit einer gehörigen Tracht Prügel aus der Stadt gejagt worden wären. Sei’s drum. Die Zeiten änderten sich und würden es auch wieder tun. Er überschlug kurz die Liste der anwesenden Minnesänger. Nur ein Gast fehlte noch, ohne den der Sängerwettstreit jedoch nicht beginnen konnte. Ein Zimmer war noch frei, gerade jenes, in dem dieses Miststück von einer Hexe damals gewohnt hatte und das noch jetzt nach den Früchten ihres Parfums stank, das sie damals auf ihrer Haut getragen hatte. Er selbst hatte seitdem keinen Fuß mehr dort hineingesetzt und würde es auch erst wieder tun, wenn der Fluch gebrochen war. Dieser vermaledeite Fluch! Seine Wut und sein Zorn richteten sich unvermittelt gegen eine Platte mit Hühnerbeinen, die servierbereit auf einem Tisch in seiner Nähe standen. Mit einem heftigen Schnaufen wischte er die Platte wutentbrannt vom Tisch und bereute seine Tat im selben Augenblick. Er wusste genau, was gleich geschehen würde, und konnte doch den Blick nicht davon abwenden. Mit einem dumpfen Ton schlug das Silbergeschirr auf dem lehmigen Boden auf und die gebratenen Schenkel verteilten sich über den ganzen Boden. Er sprang zur Seite, als eines davon in die Nähe seiner Füße sprang und dort liegen blieb. Mit Ekel und aufsteigender Übelkeit sah er, wie das frisch zubereitete Fleisch zu faulen begann, Blasen warf und unter übelsten Ausdünstungen in Bruchteilen von Sekunden vollständig verrottete. Noch nicht einmal ein Knochen blieb zurück, lediglich ein feiner Staubwirbel, der im nächsten Moment auch schon vergangen war. Verfluchte Erde, dachte er schaudernd, nichts gedeiht in ihr und nichts hat Bestand auf ihr. Das ist der Fluch von Carinthia! Er warf einen letzten Blick auf die Stelle, auf der gerade noch das Hühnerbein gelegen hatte und dann sah er auf die Seite in seiner Hand, die immer noch zitterte. In einem kurzen Moment der Schwäche und der Wut zerriss er das Papier, zerfetzte es in immer kleinere Teile, bis selbst er nicht mehr einen einzigen Buchstaben entziffern konnte. Welch eine Genugtuung das doch ist, dachte Leo MacDanold, als er die feinen Papierfetzen zu Boden fallen ließ, die dort allerdings unbeschadet liegen blieben. Mehr noch, er wusste genau, dass es, sobald er den Papierresten den Rücken kehrte, nicht lange dauern würde, bis jene Zeilen säuberlich gefaltet wieder in seiner Brusttasche steckten, als wäre nichts geschehen. Er seufzte. In Carinthia gab es nur zwei Dinge, von denen er wusste, dass sie von Bestand waren: der Fluch der Hexe und seine andauernde Pein. Mit schwerem Schritt machte er sich auf den Weg in den Keller, um noch mehr Wein für das Bardengesindel heraufzuholen. Er konnte nur hoffen, dass der letzte Gast noch eintraf, bevor er seine kostbaren selbstgebrauten Biervorräte anbrechen musste. *** - 15 - Ranold sah das Unheil bereits kommen, kurz bevor es geschah. Ein Zucken im Gesicht des pockennarbigen Mannes in Höhe seines breiten Gürtels warnte ihn frühzeitig vor der Gefahr, die seiner Hose drohte. Ein kurzes Ächzen erklang und ein Schwall aus giftgrüner Galle, goldgelbem Bier und Brocken von Brot, Geflügel und Käse ergoss sich knapp neben seinem Beinkleid in die Binsen. Ein eleganter Schlenker nach rechts bewahrte Ranold rechtzeitig vor einer langwierigen Reinigung. Er warf einen kurzen Blick in die Runde. Die meisten Zecher lagen schon halb mit schwerem Kopf auf dem Tisch, einige andere waren bereits unter die Tischplatte gerutscht und schliefen in den dreckigen Binsen ihren Rausch aus. Nur wenigen schien das lange Ess- und Trinkgelage nicht viel zugesetzt zu haben. Entweder hatten sie sich bewusst zurückgehalten und waren wie die etwas namhafteren Barden bereits früh auf ihr Zimmer verschwunden oder sie vertrugen einfach mehr als die anderen. So wie der junge blonde Kerl am Ende des langen Tisches, der relativ aufrecht auf seinem Stuhl saß und ihm, als er seinen Blick bemerkte, mit seinem Humpen zuprostete und ihn offen anlächelte. Ranold bleckte die Lippen und lächelte zurück. Er zwang sich, seinen Blick nicht zu oft in des Sängers Richtung schweifen zu lassen, doch der kurze Augenkontakt mit dem blonden Barden hatte genügt, um ihm zu signalisieren, dass ein Interesse durchaus vorhanden war. Der Barde würde heute Nacht nicht allein zu Bett gehen, so viel war sicher, und er auch nicht. Fiona räumte die letzten halb vollen Humpen von den Tischen ab, um ihren Inhalt in der Küche zurück in ein großes Fass zu schütten, das für diesen Zweck extra gekennzeichnet war. So betrunken wie die meisten waren, würden sie beim nächsten Gelage ohnehin nicht mitkriegen, dass ihr Getränk bereits einmal in einen Humpen geflossen war und dann wieder ausgeschenkt wurde. Einen Moment hielt sie inne und gähnte herzhaft. Kurz entschlossen stellte sie das letzte Tablett auf einen Tisch in der Küche, nestelte die Schürze von ihren Schultern und verstaute sie im Schrank. Ranold bediente im Schankraum die letzten noch aufrechten Barden und jene, die sich dafür hielten. Sicherlich kam er mit den wenigen auch allein zurecht. »Ranold, ich mach dann mal eine Pause, wenn du nichts dagegen hast!« Sie tippte ihrem Bruder auf die Schulter, doch der beachtete sie zunächst nicht. Schnell erkannte sie, was oder vielmehr wer gerade die volle Aufmerksamkeit ihres Bruders in Anspruch nahm, und sie lächelte nachsichtig. »Sieh nur zu, dass Vater nichts merkt«, raunte sie ihm zu. »Der hat schließlich auch Augen im Kopf, selbst wenn er sie gerade nicht benutzt. Aber eines muss man dir wirklich lassen, Bruderherz, Geschmack hast du ja!« Nun wandte sich Ranold doch zu ihr um. Er grinste verlegen. »Wenn du Vater nichts sagst, wird er es schon nicht merken.« »Wo denkst du hin, Bruderherz?« Sie versiegelte mit zwei Fingern ihre Lippen und warf einen unsichtbaren Schlüssel über ihre Schulter. - 16 - »Zum Glück hat er gerade andere Sorgen, denn sonst würde er deine Avancen ohne Zweifel sehen, die du den Gästen machst.« Sie warf einen genaueren Blick auf den blonden Barden, der sie beide unter halb geschlossenen Augenlidern beobachtete. »Er erinnert mich ein wenig an Gerold, deinen Freund seit Kindesbeinen. Was meinst du, wo der wohl nun sein mag? Seitdem so viele Freunde und Bekannte die Stadt verlassen haben, ist es hier schon ein wenig einsam geworden ... Ich hoffe nur, dass Vaters Hoffnungen sich erfüllen werden und die Stadt bald wieder so lebendig und fröhlich wird, wie sie es früher einmal war! Wer weiß, vielleicht kehrt dann ja auch dein Gerold wieder zurück.« Sie knuffte ihrem Bruder lachend in die Seite, doch der schnaubte nur. Seine Augen jedoch sprachen eine ganz andere Sprache. Einen Moment lang glomm dort ein Funken Hoffnung auf, gepaart mit einer Spur Wehmut. Fiona lächelte innerlich. Sie hatte es doch immer geahnt, dass da zwischen Gerold und ihrem Bruder mehr gewesen war als nur Freundschaft. Doch bereits im nächsten Augenblick übertrug sich Ranolds wehmütige Stimmung auch auf sie. Fiona erinnerte sich plötzlich wieder daran, warum sie eigentlich eine Pause einlegen wollte. »Oh verflixt, ich wollte ja noch … Ranold, wie spät ist es?« »Nach dem Stand der Sonnenstrahlen ist es gerade Mittagszeit«, antwortete der und griff mit einer Hand in den vollen Haarschopf eines weggetretenen Zechers am Tisch vor ihm, hob diesen kurz prüfend an und ließ ihn dann zurück auf dessen Arme fallen. Ein langer Speichelfaden wurde sichtbar. Der Barde grunzte kurz, erwachte aber nicht. »Nun, nicht dass es für diese Säufer hier irgendeinen Unterschied machen würde, welche Tageszeit wir gerade haben ...« »Hast du Cailin heute schon gesehen? Wir wollten uns am Vormittag in der Stadt treffen, aber ich habe die Zeit ganz vergessen. Hoffentlich habe ich ihn nicht verpasst …« »Nein, Cailin habe ich heute noch nicht zu Gesicht bekommen.« Ranold bleckte die Lippen und grinste. »Glaub mir, daran würde ich mich sicher erinnern!« Fiona lachte. »Oh, du solltest nicht einmal daran denken, Bruderherz! Cailin ist verbotenes Gebiet für dich, verstanden?« »Höre ich da eine Spur von Eifersucht und Angst in deiner süßen Stimme, Schwesterherz? Keine Sorge, Cailin ist dir sicher. Ich finde ihn, nun ja, etwas zu feminin … Aber wer darauf steht!« Fiona schnaubte lauthals und sah sich nach einem losen Gegenstand um, den sie ihrem Bruder, der schon vorsorglich lachend Deckung suchte, an den Kopf werfen konnte, ohne ihn ernsthaft zu verletzen, fand aber zu seinem Glück nichts, was nicht gerade in Gebrauch gewesen wäre. Ihr kleiner Wutanfall verrauchte allerdings ebenso schnell, wie er gekommen war und schließlich lachte auch sie. - 17 - »Bevor ich es vergesse, Schwesterherz … Einer der Barker-Zwillinge war vorhin hier und hat eine Nachricht für dich gebracht. Vielleicht solltest du sie an dich nehmen, bevor du gehst.« Der Zettel war mehrfach gefaltet und mit einigen Tropfen von dunkelrotem Wachs versiegelt. Sie erkannte das Zeichen in der roten Masse sofort. Zwei einander umkreisende Phönixe: Cailins Zeichen! Rasch öffnete sie das Siegel und überflog die wenigen Zeilen. »Dieser Idiot«, fluchte sie leise. »Schlechte Nachrichten?« Mit abwesendem Blick zerknüllte Fiona die Nachricht mit ihrer Hand, bis das zerbrochene Wachs zwischen ihren Fingern hindurch zu Boden rieselte. »Wie man es nimmt«, antwortete sie. »Cailin will sich mit mir vor der Stadt auf dem Feld treffen ... und zwar jetzt zur Mittagszeit … dieser Narr!« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stopfte sie Cailins Botschaft in ihre Rocktasche und verließ raschen Schrittes den »Roten Löwen«. »Oje Fiona«, murmelte Ranold. »Das scheint heute nicht dein Tag zu sein. Ich hoffe nur für dich, dass du Cailin nicht erst aus den Klauen einer Konkurrentin reißen musst …« - 18 - Kapitel III Der Kampf gegen das Licht M it wenigen Schritten erreichte Geralt den Wallach seines Begleiters und schüttelte den Barden so ungestüm, dass Rittersporn – dergestalt abrupt aus dem Schlaf gerissen – beinahe von seinem Pferd gefallen wäre. »Schnell, Rittersporn! Die Augengläser! Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen …« »Was zum Henker …?« Schlaftrunken rieb sich der Barde die Augen und hielt sich mit Mühe auf seinem Reittier. Es dauerte einen Augenblick, bis der Barde erkannte, dass er nicht mehr in dem übergroßen Himmelbett neben den drei entzückenden Musen lag, die, nachdem er vor einem erlesenen Publikum einige seiner größten Balladen zum Besten gegeben hatte, unbedingt darauf bestanden hatten, ihn persönlich etwas näher kennenzulernen. Eben noch hatte eine dralle Blondine mit einem entzückenden Sprachfehler damit begonnen, mit ihren langen zärtlichen Fingern seine nackte Brust zu streicheln, während eine gelenkige Brünette verführerisch an seinen Ohrläppchen knabberte und eine wilde Rothaarige mit umwerfenden grünen Katzenaugen seine Zehen massierte … und zwar mit ihrer Zunge! Und jetzt wurde er plötzlich unsanft aus diesem Paradies in die harte Realität zurückgerissen, und anstatt der zärtlichen feingliedrigen Finger der Blondine spürte er nun die behaarte schwielige Pranke Geralts auf seiner Brust, der ungestüm seine Taschen durchforstete. »Geralt!« Rittersporn fluchte unflätig. »Welcher Teufel reitet dich jetzt schon … Pass doch auf! Mein Wams!« Mit einem lauten unangenehmen Ratsch riss die Naht von einer der unzähligen Taschen auf Rittersporns taubenblauem Wams. Doch das scherte Geralt nur wenig, denn er hielt längst in der Hand, was er gesucht hatte: die dunklen Augengläser des Barden. Ungläubig starrte Rittersporn auf das zerstörte Stück Stoff auf seiner Brust. »Verdammt, Geralt, schau dir an, was du angerichtet hast! Hast du eine Ahnung davon, was so ein Wams in Wyzima kostet …?« Der Hexer hörte den Barden schon längst nicht mehr. Ohne weitere Zeit zu verlieren hatte er sich die Bügel der Augengläser über die Ohren geschoben und eilte nun mit gezogenem Silberschwert Mondklinge unter lautem Gebrüll auf zwei Menschen zu, die auf dem Feld vor ihnen einen wirbelnden Reigen zu einer nicht hörbaren Melodie tanzten. »Nun dreht er vollkommen am Rad«, murmelte Rittersporn kopfschüttelnd, bis er schließlich erkannte, was da wirklich vor seinen Augen geschah. - 19 - »Bei Melitele und allen Heiligen!« Seine Nackenhaare sträubten sich, doch er konnte den Blick weder von der Mittagserscheinung, die auch er zunächst für eine junge Maid gehalten hatte, noch von dem Jüngling abwenden, der so leichtfertig gewesen war, sich zu dieser Tageszeit an diesem Ort aufzuhalten und der nun den Preis für seine Unbedarftheit zahlte. Nun verstand er auch, wem Geralts lautes Schreien galt. Da Mittagserscheinungen nur leblose Schatten waren, können sie weder mit den Lebenden reden noch hören, was sie sagen. Diese Tatsache war auch der Grund, warum alles Flehen und Betteln eines Unglücklichen, der einmal in ihre Fänge geriet, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Geralt versuchte die Aufmerksamkeit des Jünglings auf sich zu ziehen, dessen angstgeweitete Augen bislang auf dem ledrigen Teint seiner Tanzpartnerin gebannt waren. »Hey, Bursche!«, hörte Rittersporn Geralt brüllen. Einen kurzen Augenblick zeigte der junge Mann keine Reaktion, denn zu sehr hielt ihn die Angst gefangen, als dass er irgendetwas anderes wahrgenommen hätte. Doch nach einem weiteren Ruf Geralts, begleitet von einem so deftigen Fluch, dass selbst dem Barden die Röte ins Gesicht schoss, drehte der Bursche seinen Kopf während einer weiteren Drehung beim Tanz in die Richtung des Hexers. Ein kurzer Augenkontakt zeigte dem Hexer an, dass er verstanden worden war. Hilf mir! hatte er in diesen Augen lesen können. Und genau das würde er jetzt auch tun. »Wenn ich ›Jetzt!‹ rufe, wirst du deinen kleinen Arsch gefälligst aus der Sonne bewegen, verstanden? Versteck dich im Schatten oder klettere auf einen Baum, aber komm mir ja nicht in die Quere!« Der Junge nickte unmerklich. Geralt war bereits bis auf zwei Schritte an das ungleiche Paar herangekommen, als er mit dem Silberschwert ausholte und nach einer weiteren Drehung der Tanzenden den ersten Schlag gegen die Mittagserscheinung führte. Der Hieb traf sie genau auf dem Schulterblatt und mit einem schrillen unirdischen Schrei ließ sie von ihrem Opfer ab, um sich der Bedrohung zu stellen, die sie bislang nicht hatte kommen sehen. »Jetzt! Verdammt, hau ab oder willst du, dass ich dir versehentlich die Rübe von den Schultern haue?!« Das ließ sich der Jüngling nicht zweimal sagen. Nachdem die Angststarre von ihm abgefallen war, spurtete er hurtig wie ein Hase los und war nach wenigen Augenblicken aus Rittersporns Blickfeld verschwunden. Dessen Aufmerksamkeit war allerdings auch viel mehr von dem Kampf gefesselt, der nun zwischen Geralt und dem Geschöpf aus dem Schattenreich entbrannte. Mittagserscheinungen, so glaubte der Barde sich recht zu erinnern, waren im Grunde genommen keine schweren Gegner. Was sie jedoch so gefährlich werden ließ, waren zum einen der Ruf und die Legenden, die sich um sie rankten und die jeden vor Angst und Ehrfurcht erstarren ließ, der einer solchen Erscheinung begegnete. Zum anderen besaß die Mittagserscheinung eine Fähigkeit, die einen Kampf, sofern man bereit und Willens zu einem solchen war, zu einem tödlichen Spiel wandelte, bei dem stets die Bank gewann: Sie fing die Strahlen der gleißenden - 20 - Sonne, um sie gegen ihren Gegner zu richten, der – dergleichen geblendet – ihren weiteren Attacken solange hilflos ausgeliefert war, bis er wieder etwas sehen konnte. Die Augengläser! Nun verstand Rittersporn, warum der Hexer so erpicht darauf gewesen war, seine neueste Errungenschaft in die Hände zu bekommen. Sie wehrten das Licht ab, welches die Erscheinung nun unablässig gegen Geralt zu schmettern begann. Viel konnte der Barde nicht erkennen, lediglich ein stetes Aufflammen von grellem Licht und das Aufblitzen von Silber in der Sonne. Zu schnell gerieten die Bewegungen des Paares, das nun einen neuen Tanz nach den Regeln des Hexers vollführte. Moment mal! Sogleich fiel Rittersporn etwas ein. Mit einem sicheren Griff in eine seiner unbeschädigten Taschen, und ohne seine Augen von dem Geschehen abzuwenden, förderte er ein weiteres Paar Gläser zutage. Wie hatte ich die nur vergessen können?! Flink setzte er die dunklen Gläser auf, und seine Sicht auf die Ereignisse änderte sich sogleich. Welch eine Anmut, was für eine Schnelligkeit! Das musste das Auge des Addan, der feurige Tänzer sein, der Kampfstil, von dem Rittersporn bereits so viel gehört hatte, den er aber bislang in natura noch nie zu Gesicht bekommen hatte, da er entweder nicht anwesend oder – wenn doch – mehr damit beschäftigt gewesen war, sich in Sicherheit zu bringen. Nun jedoch konnte er sich vollkommen dem Schauspiel widmen, das sich dort vor seinen Augen entfaltete und Geralts Schwertkunst mit all ihren Finessen ungefährdet genießen. Mit der Anmut und Wendigkeit eines geschmeidigen Raubtieres umkreiste Geralt unablässig seine Gegnerin, die stets bemüht war, ihn mit Licht zu blenden, was seine Augengläser jedoch bereits im Ansatz verhinderten. Die Bewegungen der beiden wurden immer schneller und die Mittagserscheinung immer wütender. Einen Moment lang hörte er Geralt sogar lachen. Verdammt, dem Schweinehund machte der Kampf ja richtig Spaß! Rittersporn grinste. Das geschah ihr ganz recht! Stets aufs Neue wurde sie von Geralts Schwert Mondklinge getroffen: auf der Schulter, den Beinen, auf dem linken Arm, dem Rumpf, einfach überall und es gab nichts, was sie seinen schnellen und präzisen Schlägen entgegenzusetzen vermochte. Ein Hieb zertrennte gar einen der beiden Riemchen, die das dünne Leinenkleidchen auf ihrer Schulter hielt. Einen Moment später fiel der zweite und das Kleid rutschte bis auf ihre Knöchel herab. Doch das bemerkte sie erst, als sie einen raschen Ausfallschritt auf Geralt zu machen wollte. Vollkommen entblößt stolperte sie über das helle Stück Stoff und stürzte schließlich zu Boden. Nun, so ganz stimmte das nicht. Sie schlug nicht auf der Erde auf, sondern schwebte immer noch ein kurzes Stück über dem abgeernteten Feld, wie Rittersporn fasziniert beobachtete. Wenn ich sie wäre, schoss es dem Barden durch den Kopf, würde ich mich jetzt zu Tode schämen! Oh, sie war ja bereits tot! Er schmunzelte. - 21 - »Geralt, komm zum Schluss und versetz der alten Lederhaut endlich den Gnadenstoß! Dir macht der Kampf eindeutig zu viel Spaß! Und ich habe Hunger!« Geralt lachte laut auf und baute sich neben der über dem Boden schwebenden Mittagserscheinung auf, die keinen Widerstand mehr leistete. »Genau das habe ich vor, mein Freund! Ich bereite jetzt dieser Farce ein Ende …«, sagte er und sah zu der Erscheinung hinab. »Du hättest dir besser ein anderes Feld für dein Mittagstänzchen aussuchen sollen, denn nun tanze ich den letzten Schritt für dich!« Er vollführte eine gewandte Drehung um die eigene Achse, während der er sein Schwert in die Höhe wirbeln ließ, um es am Ende der Bewegung mit einem schnellen heftigen Stoß tief in den Rumpf der Mittagserscheinung zu versenken. Ein letzter unirdischer Schrei erklang und es war endlich vollbracht. Sorgfältig reinigte Geralt das Schwert von Ektoplasma und Todesstaub und füllte beide Ingredienzien jeweils in eine kleine Phiole. Dann verstaute er Mondklinge wieder in der für sie vorgesehenen Schwertscheide, lief über das Feld zurück und trat an Rittersporn heran. »Hier hast du deine Augengläser zurück.« Er streckte dem Barden das Gestell entgegen, der naserümpfend die verbogenen Bügel betrachtete. Geralts Schädel hatte nun mal ganz andere Proportionen als sein eigener. »Nicht nötig, behalte sie ruhig«, lehnte er dankend ab und wies auf sein eigenes Paar, das auf seiner Nase thronte. »Vielen Dank, ich weiß deine Großzügigkeit zu schätzen, Rittersporn! Ich bin mir sicher, dass diese ... wie nennt man diese Konstruktion eigentlich?« Rittersporn zuckte unwissend mit den Schultern. »Nun ich bin mir sicher, dass mir diese ... diese Sonnenbrille bestimmt in Zukunft noch gute Dienste leisten wird. Also Rittersporn, bist du bereit für den letzten Rest des Weges? Nur noch wenig trennt uns von unserem Ziel und all dem, was uns dort erwartet! Lass uns aufbrechen, nach diesem Kampf dürstet es mich nach einem gut gebrauten Bier und einem anständig durchgebratenen Stück Fleisch zwischen den Zähnen!« Wie zur Bestätigung knurrte und rumpelte es und es war diesmal nicht des Barden Magen, der diese Geräusche hervorbrachte. Besänftigend legte Geralt eine Hand auf seinen Bauch. Sie sahen sich an und lachten. »Von mir aus gern, Geralt. Doch sag mir, wo ist eigentlich der junge Mann geblieben, den du aus den Klauen der Kreatur gerettet hast?« »Der ist mit Sicherheit schon längst über alle Berge, mein Freund.« Geralt schwang sich auf den Rücken von Plötze und blickte in Richtung Stadt, dann setzte er sich in Bewegung. Der Barde folgte ihm maulend. »Nun, er hätte wenigstens soviel Ehre und Anstand im Leib haben können, um sich zumindest kurz bei dir zu bedanken!« Geralt wandte sich um. Auf seinen Lippen erschien ein wissendes Lächeln. - 22 - »Ich denke, wir werden den jungen Mann heute nicht zum letzten Mal gesehen haben. Ich habe so eine Vorahnung, was ihn betrifft. Keine Begegnung im Leben ist purer Zufall, Rittersporn, merke dir diese Worte gut!« - 23 - Kapitel IV In der Stadt E s gab drei Sorten von gehörnten Ehemännern, und Rittersporn kannte so gut wie jede von ihnen bestens, inklusive der diversen Abstufungen und Unterarten. Wenn man so im Lichte der Öffentlichkeit und des Interesses des überwiegend weiblichen Geschlechts stand wie er – wenn man von den wenigen verwirrten Kerlen absah, die ihm während seiner Auftritte ungefragt ihre Strumpfhosen und Zettel mit durchweg unanständigen Angeboten zuwarfen – dann blieb es seiner Meinung nach kaum aus, dass man hin und wieder ein gebrochenes Herz und so manchen cholerischen Ehemann hinter sich ließ, sobald man der Stadt den Rücken kehrte. Gehörnter Ehemann Nummer eins war der Typ Mann, der vorgab, nichts von den amourösen Abenteuern seiner besseren Hälfte zu wissen oder diese geflissentlich übersah, da er selbst kein unbeschriebenes Blatt und in den Hurenhäusern der Stadt so bekannt war, dass er dort bereits Rabatt bekam. Dieser Schlag Ehemann war Rittersporn der liebste, denn er bereitete die wenigsten Probleme und sicherte so ohne übertriebene Hast seinen unversehrten Abzug aus der Stadt. Bei Ehemann Nummer zwei sah dies schon etwas anders aus. Dieser Typus gehörte zu der Sorte »extrem eifersüchtig« mit einer Prise »Choleriker« und dem latenten Hang zur körperlichen Gewalt. Letzteres hauptsächlich gegen andere und nur in ganz seltenen Fällen auch gegen die eigene Frau, doch nur, wenn sie es in seinen Augen auch wirklich verdient hatte. Bei dieser Art Ehemann war es durchaus ratsam, nicht einmal ansatzweise in den Verdacht zu geraten, dass man irgendein noch so geringes Interesse an den weiblichen Reizen der Frau hatte, die dieser sein Eigen nannte. Selbst ein Blick konnte schon zu viel sein und Rittersporn war stets darauf bedacht, solchen Frauen im Publikum, die eindeutig in Begleitung ihrer meist grobschlächtigen Männer waren, nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen blickte er zu irgendeiner jungen, verführerischen Maid, die seiner Meinung nach ganz ohne Zweifel allein zu der Vorführung seiner hohen Kunst erschienen war. Von denen gab es reichlich und sie waren meist mehr als willig. Sie waren zwar nicht verheiratet, hatten aber bedauerlicherweise oft einen äußerst rabiaten Vater, der – wie er schon leidvoll feststellen durfte – nicht minder gefährlich war wie ein hintergangener Ehemann. Die Nummer drei war jedoch der Gefährlichste von allen. Es war der Typ Mann, der etwas besaß, das die anderen beiden nie haben oder nur unter schwersten Anstrengungen jemals erlangen würden: Macht und Ansehen. Zu diesen zählten Büttel und Vögte, Richter und hochstehende Kaufleute und nicht zuletzt auch die - 24 - Männer von Adel, ganz gleich ob von geringer oder hoher Abstammung. Je höher man die Ränge und Stammbäume dieser Männer hinaufklettern konnte, umso interessanter waren jedoch auch die Begleiterinnen, mit denen sich diese zu umgeben pflegten. Die reizvollsten und begehrenswertesten Frauen, denen der Barde jemals zu begegnen die Ehre hatte, waren gerade diejenigen gewesen, an denen er sich im Ernstfall nicht nur die Finger verbrennen würde, sondern die ihn ohne Mühe leicht den Kopf kosten konnten. Und Rittersporn hing sehr an seinem Kopf, wie man sich gut denken kann. Dies war auch der Grund, warum Rittersporn um diese Frauen einen großen Bogen zu machen pflegte, mit Ausnahme von einer: seinem geliebten Wieselchen. Hierbei handelte es sich um niemand Geringeres als die Herzogin von Toussaint, mit der ihn eine längere Liaison verbunden hatte, die von tiefer Innigkeit und heißem Begehren beiderseits gekennzeichnet gewesen war. Zum Glück hatte ihr Ehemann die beiden nie in flagranti erwischt und war erfreulicherweise einem Schlaganfall erlegen, bevor er seine Drohung wahrmachen und Rittersporns Herz Anna Henrietta gebraten und gesotten servieren konnte, nachdem ihm von dritter Seite doch noch die Kunde von der Liebschaft seiner Frau zugetragen worden war. So verdankte es Rittersporn hauptsächlich gehörntem Ehemann Nummer zwei, wenn er eine Stadt zumeist fluchtartig und oft mit den Beinkleidern auf Halbmast verlassen musste, sofern er nicht eine gehörige Abreibung riskieren wollte, die oft mit leichten bis mittelschweren Blessuren am ganzen Körper einhergingen. Nicht selten hatte er bereits eine Hatz durch die engen Gassen und Straßen etlicher Städte erlebt, während der er von rasenden Ehemännern verfolgt wurde, die mit großen Knüppeln oder Heugabeln auf ihn losgingen und den blutunterlaufenen Augen zufolge nach nichts anderem trachteten, als ihm den Garaus zu machen. Einmal schoss ein Mann sogar mit einer dieser neumodischen Musketen auf ihn, war aber zu seinem Glück zu betrunken gewesen, um mehr zu treffen als zwei große Weinfässer und den Hund des Stadtvogtes, der das Pech hatte, sein Bein gerade just in dem Moment gegen eine Hauswand zu heben, als besagter Ehemann erneut zielte, leicht ins Straucheln geriet und versehentlich den Köter über Kimme und Korn recht unerwartet in den Hundehimmel katapultierte, bevor dieser auch nur mit der Wimper zucken konnte, geschweige denn ein letztes Mal pissen. Ein ebenso zwiespältiges Verhältnis pflegte der Barde zu den Stadtwachen. Nur gelegentlich verließ er in einer brenzligen Situation, wenn also sein Schwanz wieder einmal mehr Blut beansprucht hatte als sein Gehirn, die Stadt durch ein bewachtes Tor, da die Wachen davor kaum Mitgefühl mit einem Ehebrecher und Schürzenjäger aufbrachten, besonders wenn es dazu noch ein Fremder war. Seitdem Rittersporn einmal von dem Gatten und zusätzlich von den Stadtwachen, die sich auch noch als nahe Blutsverwandte des betrogenen Mannes zu erkennen gegeben hatten, das Wams ordentlich durchgewalkt bekam, während er selbst noch im besagtem Kleidungsstück steckte, hielt er stets bei jedem Eintreffen in einer neuen Stadt - 25 - bereits Ausschau nach einer geeigneten Fluchtroute, auf der er diese ohne größere Mühe und vor allem ungesehen verlassen konnte. So schweifte sein Blick auch bei ihrer Ankunft in Carinthia flink über Mauern und Zinnen und blieb schließlich am Tor hängen. »Das muss ein schlechter Witz sein!«, murmelte er fassungslos. Das Tor von Carinthia wies im Vergleich zu ähnlichen Befestigungen vergleichbarer Städte zwei eindeutige Mängel auf, die ihm sofort ins Auge fielen. Zum einen war das Stadttor nicht besetzt. Keine Wache in schimmernder Rüstung war zu sehen, die peinlichst genau darauf achtete, dass nicht irgendein unerwünschtes Gesindel Einlass in die Mauern der Stadt erlangte. Eine einsame Hellebarde lehnte an der Außenmauer der Stadt, doch wie der Grad des Befalls mit Rost vermuten ließ, stand sie dort schon längere Zeit ungenutzt. Sei’s drum, dachte der Barde, ein Detail weniger, um das ich mir im Notfall Sorgen machen muss. Zum anderen jedoch, und das machte Rittersporn wahrhaft sprachlos, war das Stadttor selbst in einem erbärmlichen Zustand. An manchen Stellen faulig und vom Feuer schwarz versengt ragte die eine Hälfte des Tors weit offen in die Stadt hinein, während die andere gerade noch so an einem Torzapfen hing und lediglich auf die nächste Erschütterung zu warten schien, die sie gänzlich aus den Angeln stürzen lassen würde. Nach einem Tag der offenen Tür sah das hier nun wahrlich nicht aus. Rittersporn blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, ob dies verlotterte Tor einen Grund zur Sorge bot oder eher seinen Neigungen und möglichen Konfrontationen mit der männlichen Bevölkerung dieser Stadt zugute kommen würde, denn Geralt drängte ihn zur Eile. »Halt keine Maulaffen feil, Rittersporn!« Geräuschvoll zog Geralt etwas Rotz hoch und spie ihn mit einer eleganten Drehung seines Kopfes in Richtung Torflügel. Ein leises Knirschen erklang und dann ging alles relativ schnell. Mit einem metallischen Kreischen löste sich der letzte Halt des Torflügels aus seiner Verankerung, als der Batzen aus festem Schleim, etwas Flugsand und Nasenhaaren gegen das morsche Holz prallte. Die Eichenbalken zitterten kurz aber heftig und dann stürzte der Flügel mit einem ohrenbetäubenden Krach zu Boden. Geralt verschwand in einer dichten Wolke aus weißgrauem Staub und Schmutz. »Verdammte Scheiße!«, hörte Rittersporn ihn fluchen. Der Barde schüttelte nur ungläubig den Kopf und hielt sich rasch ein seidenes Tüchlein vor Mund und Nase, bevor die riesige Wolke ihn erreichte. »Wie schon gesagt: Das muss ein schlechter Witz sein! Ein verdammt schlechter!« Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Reise in Tretogor beschlich den Barden ein mulmiges Gefühl. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Zur selben Zeit beschlich Fiona ähnlich wie unseren geschätzten Barden Rittersporn ein nicht weniger mulmiges Gefühl, wenn auch aus ganz anderen Gründen. - 26 - Es schauderte sie ein wenig, als sie durch die verlassenen Straßen von Carinthia eilte. Nur ab und an sah sie aus den Augenwinkeln heraus den einen oder anderen Kopf aus einem Fenster lugen, der jedoch meist rasch verschwand, sobald die Fensterläden mit lautem Schwung zugeschlagen und von innen verriegelt worden waren. Nein, dies war nicht mehr die Stadt, in der sie aufgewachsen war und eine glückliche Kindheit verlebt hatte. In der Luft lag der Geruch nach Tod und verbranntem Fleisch, nach kokelndem Holz und anderen Gerüchen, die sie nicht genauer bestimmen konnte und sie verspürte auch kein sonderlich großes Verlangen danach, dies zu tun. Cailin! Dieser Idiot! Welcher Teufel hatte ihn nur geritten? Fiona spürte eine heiße Welle aus Wut, Verzweiflung und einem Quäntchen Enttäuschung langsam aus den Tiefen ihrer Eingeweide nach oben steigen und sie wusste genau, was gleich passieren würde. »CAILIN!« Der Schrei brach aus ihr heraus, obgleich sie ahnte, dass er sie wahrscheinlich gar nicht hören konnte, denn das Feld vor den Mauern der Stadt war noch einige winklige Gassen und Seitenstraßen entfernt. Trotzdem verspürte sie danach eine gewisse Erleichterung. Wenn ich dich in die Finger kriege, dann … dann kannst du was erleben, dass du dir wünschst, du wärst besser einem dieser verdammten Tausendfüßler oder einer Wyvern in die Hände gefallen als mir! Die Wut in ihr verrauchte allmählich und im nächsten Moment lachte sie schallend. »CAILIN! WO BIST DU?« »Was schreist du denn so laut, dummes Ding?!« Fiona fuhr erschrocken herum. Erst jetzt erkannte sie, dass sie nicht ganz allein auf Carinthias Straßen war. Aus einer der unzähligen Seitenstraßen kam von ihr unbemerkt ein unförmiger Handkarren gepoltert, der von einer uralten, verschrumpelten Vettel gezogen wurde, die viel zu klein und kraftlos erschien für dieses Ungetüm von Fahrzeug. Bunte Bänder flatterten an den oberen Holzverstrebungen und die nur notdürftig bedeckten Auslagen gaben den Blick frei auf allerlei Krämersachen und andere große und kleine Dinge des täglichen Gebrauchs. Unter der stramm sitzenden Haube lugten ein Paar listige blassblaue Augen hervor inmitten von unzähligen Runzeln und Falten, die das Leben im Laufe der Jahre in das Gesicht der Alten gezeichnet hatte. Rumpelnd kam der Karren zum Stehen. Langsam reckte die Alte die Arme und drückte krachend ihren Oberkörper durch, bis sie soweit aufrecht dastand, wie der von jahrelanger harter Arbeit geschundene und gebeugte Körper dazu noch imstande war. »Ach, Ihr seid es, Grid Mole!« Die alte Grid Mole, denn diese war es, lächelte schief und entblößte einige schwarz verfärbte Zahnstummel, bei deren Anblick es Fiona grauste. Sie kannte die alte Krämerin lediglich vom Sehen. Keiner in der Stadt wusste genau, woher die - 27 - alte Grid stammte und ob dies überhaupt ihr richtiger Name war. Einmal hatte sie ein paar bunte Bänder für ihr Haar bei ihr erstanden. Cailin hatte daraufhin für sie von seinen wenigen Münzen einen kleinen Handspiegel gekauft, damit sie selbst jederzeit sehen konnte, wie gut ihr die Bänder zu Gesicht standen. Eines Tages war die alte Grid einfach mit ihrem alten Karren durch das Tor gekommen und hatte ihre Waren das erste Mal feil geboten. Wenn Fiona es recht bedachte, war sie kurz nach dem unerfreulichen Vorfall im »Roten Löwen« in der Stadt aufgetaucht. Sie kam und ging wie es ihr passte. Manchmal blieb sie einige Wochen unauffindbar, um kurze Zeit darauf wieder durch die Straßen zu ziehen, als wäre sie nie fort gewesen. Das Angebot auf ihrem Stand jedoch blieb immer dasselbe und Fiona hatte sich schon oft gefragt, wo und zu welchem Zweck die alte Vettel die Zeit außerhalb der Stadtmauern verbrachte. Zum Einkauf neuer Waren zumindest nicht, soviel war sicher. »Du bist die Kleine vom alten Löwenwirt!« Eine Feststellung. Keine Frage. »Ich sehe, du trägst noch immer die himmelblauen Bänder, die ich dir verkaufte! Bist ein lecker junges Ding! Warum schreist du so nach deinem Liebsten?« »Cailin ist doch nicht mein Liebster!«, rief Fiona etwas zu heftig und schlug den Blick verschämt zu Boden. Ihre errötenden Wangen straften ihre Worte Lügen. Grid grinste wissend. »Einer alten Seele wie mir machst du nichts vor, junges Ding. Natürlich ist der weizenblonde Jüngling mit den blauen Katzenaugen dein Liebster! Ach ...«, seufzte sie wohlig, »wenn ich noch eine junge hübsche Maid wäre wie du, dann wäre dein Cailin aber so was von fällig, hihi!« Aufmunternd zwinkerte sie Fiona zu und einen Augenblick lang schien sie wesentlich jünger zu sein, als ihr altes verrunzeltes Gesicht Fiona es weiszumachen versuchte. »Nun mach nicht so ein bedröppeltes Gesicht, Mädel! Ich bin doch viel zu alt für deinen Hübschen! Suchst du ihn? Vor einigen Minuten hab ich ihn noch durchs große Tor in die Stadt rennen sehen ... Sicher weißt du, wo er sich versteckt, wenn er nicht gefunden werden will, nicht wahr?« »Ihr habt ihn tatsächlich gesehen, gute Frau?« »So wahr ich die alte Grid Mole bin!« Sie hob zwei Finger und zog sie in einer Geste des Schwurs über ihre flachen Brüste. Mit einem Jauchzen umarmte Fiona die alte Krämerin. »Ich danke Euch! Ihr wisst ja gar nicht, wie sehr Ihr mir gerade geholfen habt, gute Grid!« Ohne eine Antwort abzuwarten, löste sich Fiona rasch von der Alten und stürmte davon. Sie wusste in der Tat, wo Cailin jetzt war und das war die beste Nachricht, die sie an diesem Tage bekommen hatte. Die alte Grid Mole sah ihr noch eine Weile mit gleichgültiger Miene nach, richtete sich anschließend zu voller Größe auf und strich eine kastanienfarbige Locke, die sich vorwitzig unter der Haube hervorgestohlen hatte, zurück an ihren Platz. Dann lächelte sie. - 28 - »Natürlich weiß ich das, Fiona«, murmelte Grid. »Es wurde ja auch mal Zeit, dass die ganze Angelegenheit ins Rollen kommt! Lange wird es nun nicht mehr dauern, da bin ich mir sicher …« - 29 - Kapitel V Der Rote Löwe G eralt …« Rittersporn stöhnte. »Na, bist du endlich aufgewacht?« »Hast du dir die Nummer des Marktkarrens gemerkt, der mich zu Boden gestreckt hat? Ich fühle mich, als hätten mich mindestens zwei davon mit voller Wucht erwischt … Geralt … was ist passiert? Bei Melitele … ich kann nichts mehr sehen, Geralt! Ich bin blind …!« Der Barde fuchtelte mit den Händen um sich tastend herum. Geralt knurrte nur. »Willkommen im Club, Rittersporn! Doch sei beruhigt, Freund, die Blindheit ist lediglich vorübergehend und wird mit der Zeit vergehen. Du warst eine ganze Zeitlang bewusstlos …« Der Barde stöhnte erneut, als er sich vorsichtig aufsetzte. »Mir tut alles weh! Ich glaube, es gibt keinen Muskel meines Körpers, der mir nicht zurzeit die Gefolgschaft verweigert. Ich war bewusstlos? Was ist geschehen, Geralt? Und wo sind wir überhaupt?« »Erinnerst du dich nicht? Wir sind hier auf unserem Zimmer im ›Roten Löwen‹, der einzigen noch florierenden Schenke in ganz Carinthia. Wir reisten von Tretogor hierher, weil du einem wichtigen Treffen beiwohnen solltest, über das du mir allerdings bislang noch nichts Näheres erzählen konntest oder wolltest, wenngleich ich mir nach unserem Eintreffen unten im Schankraum bereits zum größten Teil selbst einen Reim darauf machen konnte. Was die Blindheit und die Bewusstlosigkeit angeht, so gehe ich davon aus, dass ein in diesem Raum verborgener Zauber mächtig daneben ging und uns im wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen ist. Die Erschütterung war derart stark und grell, dass wir beide geblendet wurden und besinnungslos zu Boden stürzten. Dich hatte es dabei etwas schwerer erwischt als mich.« »Woher willst du das denn so genau wissen, Geralt?« Der Hexer lachte. Es war ein amüsiertes Lachen, welches Rittersporn in dieser Form erst wenige Male von Geralt gehört hatte. »Mein lieber Barde, vielleicht mag es dir entgangen sein, aber du schnarchst im Schlafe fürchterlich, ganz so, als würdest du in der Tiefebene von Korath Bäume sägen. Nicht anders war es, als ich vor gut einer Stunde erwachte und seitdem dieses schauderhafte Geräusch ertragen muss …« »Korath?«, empörte sich der Barde. »Aber Korath ist eine Wüste! Da gibt es überhaupt gar keine Bäume!« - 30 - Geralt schnalzte nur. »Tja, mein Bester, jetzt nicht mehr … die hast du halt alle weggeratzt!« Rittersporn spürte, wie ein Lachen allmählich ganz von unten in seinem Inneren nach oben perlte. Er versuchte es zwar zu unterdrücken, doch letzten Endes scheiterte er. Laut prustend begann er zu lachen, bis ihm die Seite stach und er sich vor Gelächter am Boden krümmte. Auch Geralt stimmte bald in Rittersporns überbordende Heiterkeit ein, bis auch ihm Tränen in die Augen schossen, welche er mit zwei Fingern aus den Augenwinkeln schnippte. »Ach, das muss ich mir unbedingt für eine spätere Ballade aufschreiben, sobald meine Augen ihren Dienst wieder tun. Nun aber im Ernst, Geralt, was ist geschehen? Mein Kopf dröhnt wie ein emsiger Bienenstock und die Gedanken schwirren umher wie unzählige von diesen schwarz-gelben Biestern, ohne dass ich auch nur einen davon richtig zu packen kriege!« »Ich sehe schon, du kannst dich also wirklich nicht mehr entsinnen … Erinnerst du dich nicht mehr an Lukasz und Miroslav, die beiden Wächter von Tretogor? Oder an die zwei Riesentausendfüßler, die dich nur zu gerne zum Abendvesper verspeist hätten? Komm Rittersporn, sicherlich entsinnst du dich noch an meinen Kampf gegen die Mittagserscheinung und den blonden Jüngling, den sie zum Tanze verleitet hatte und der dann so schnell verschwunden war …« Rittersporn zuckte mit der Schulter, was er im nächsten Augenblick peinlich berührt bedauerte, da sein Gegenüber diese Geste ebenso wenig sehen konnte, wie er dazu in der Lage war. Er räusperte sich. »Vage, Geralt, ganz vage … Ich weiß noch, dass wir das Stadttor von Carinthia erreichten und du in einer Wolke von Stein und Holzstaub verschwandest, weil das Stadttor zusammenbrach. Du sahst aus«, ein erneutes, aber kurzes Lachen sprudelte aus dem Barden hervor, »du sahst aus wie ein Gespenst, ein Geist, als hätte man dich gleich einer Forelle in Mehl gewendet und du wärst der Bratpfanne durch einen beherzten Sprung gerade noch im letzten Moment entkommen …« Rittersporn konnte nicht anders. Lauthals ließ er seiner Heiterkeit freien Lauf, bis auch das letzte Kichern schließlich zwischen seinen Lippen versiegte. »Ich glaube, Barde, wir müssen zu einem späteren Zeitpunkt noch mal ein ernstes Gespräch über deinen Sinn für Humor führen!« »Nun Geralt, ich denke wir sind damit fürs Erste quitt!« »Wenn du meinst! Nun, da deine Erinnerung anscheinend seit unserer Ankunft in Carinthia gelitten hat, werde ich dir berichten, was seit jenem Augenblick geschah, bis du dir, sobald unser Augenlicht wieder zurückgekehrt ist, selbst ein Bild von unserer Lage machen kannst. Also, wie du bereits so treffend bemerktest, brach das Stadttor aus … unerfindlichem Grund zusammen und ich ritt aus dieser Gesteinsstaubwolke hervor wie … eine weißgetünchte Forelle auf einem Schimmel …« - 31 - Geralt schüttelte sich und versuchte, den ganzen weißgrauen Staub und Schmutz so würdevoll wie es eben ging wieder zu entfernen. Plötze hatte es da etwas einfacher. Ein mächtiges Zittern fuhr durch den massiven Pferdekörper und fegte schließlich alles, was durch diese Aktion nicht von seinem Fell abgefallen war, mithilfe seines langen buschigen Schweifs beiseite. Carinthias Stadtbild war geprägt von schmalen, schmuck anzuschauenden Fachwerkhäusern, die dicht an dicht gedrängt standen, als würden sie sich gemeinsam vor etwas fürchten. Die Straßen waren durchaus sauber zu nennen und die Gehwege waren leicht erhöht, sodass die Damen der feinen Gesellschaft und jene, die sich dafür hielten, durch die Stadt flanieren konnten, ohne befürchten zu müssen, ihre gestärkten Leinen- und Seidenröcke mit dem noch vorhandenen Unrat zu beschmutzen. Auf den Märkten und begrünten Plätzen der Stadt herrschte für gewöhnlich ein reges Treiben. Jene, die es sich leisten konnten, trugen ihr bestes Ausgehgewand und versuchten einander in Prunk und Verschwendung zu übertrumpfen. Da blitzten golddurchwirkte Beinkleider, mit Samt und Spitzen verzierte Brokatgewänder, man konnte funkelnde Juwelen und üppige Frisuren bewundern, die allesamt mehr kosteten, als manche Marktfrau an ihrem Stand in ihren kühnsten Träumen jemals verdienen konnte. Allgegenwärtig war der blasierte Ausdruck in den Gesichtern der oberen Tausend von Carinthia, die ihre Nasen so hoch in der Luft trugen, dass man ihren Nasenhaaren beim Wachsen hätte zuschauen können, sofern man welche entdeckt hätte. Ja, Carinthia war reich und man scheute sich nicht, diesen Reichtum, diesen Prunk und den süßen Duft der Macht ungeniert zur Schau zu stellen. Die Bauern, die in unmittelbarer Nähe der Stadt ihre Felder bearbeiteten, scherte diese Demonstration von anscheinender Überlegenheit ebenso wenig wie die Mägde und Dienstmädchen, die ihrer Herren Wäsche wuschen, das Essen zubereiteten und die Nachttöpfe leerten. Auch die fahrenden Händler, die ihre Waren in der Stadt feilboten und nicht selten mit leerem Karren, aber dafür mit prall gefüllten Geldkatzen nach Hause fuhren, beglückwünschten sich insgeheim dazu, dass es eine solche Stadt gab, in der die Hühner, welche die goldenen Eier legten, so offenherzig in den Straßen umherstolzierten und aufgeplustert ihr prächtiges Gefieder zu Markte trugen. Viel davon bekamen Geralt und Rittersporn nun, da sie durch die verwinkelten Straßen und Gassen der Stadt ritten, nicht zu sehen. Im Gegenteil. Die Stadt schien wie ausgestorben und eine unheimliche Stille lag über den Gebäuden, die lediglich von dem gelegentlichen Knarren eines unbefestigten Fensterladens unterbrochen wurde. Der Wind strich über die vertrockneten Wege und wirbelte feinen Staubsand auf, der in den Augen brannte und die Lungen reizte. Rittersporns Taschentuch blieb deshalb dort, wo es seit dem Einsturz des Stadttores zum Einsatz gekommen war: vor seinem Mund und seiner empfindsamen Nase. Geralt hingegen verzog keine - 32 - Miene. Mit misstrauischem und aufmerksamem Blick beobachtete er während des Reitens die Umgebung. Ab und an erblickte er hinter zersprungenen Fenstern ein Gesicht, kurz nur, dann verschwand es wieder in den Tiefen des Raumes, der hinter den Sprossenfenstern lag. Von Zeit zu Zeit hörte er, wie hastig Fensterläden geschlossen wurden und Balken hinter den Türen einrasteten. Nichts Neues für mich, dachte Geralt. Er konnte das Misstrauen und die Furcht vor dem Unbekannten fast genauso gut riechen wie den allgegenwärtigen Gestank nach verbranntem Holz und Fleisch, der so unangenehm in der Luft lag, wie Dreck an einem Hosenbein klebte. Rittersporns Magen knurrte heftig. »Ach Geralt, riechst du das auch? Was ist das? Ich glaube, da brät jemand Hammel oder ein gutes Stück Schwein über rot glühenden Holzkohlen ... Mein Magen beginnt schon zu rebellieren! Lass uns die Schenke so rasch wie möglich aufsuchen, bevor meine Eingeweide noch anfangen, sich gegenseitig aufzufressen!« Geralt nickte nur und schwieg. Er dachte nicht daran, Rittersporn über seinen Irrtum aufzuklären. Wenn hier in aller Öffentlichkeit jemand ein Stück Fleisch grillen würde, warum waren dann von den Plätzen der Stadt all die Bäume bis auf die kümmerlichen Stümpfe verschwunden, welche anklagend aus dem Boden ragten? Nein, was der gute Barde da roch war mitnichten der Geruch von fröhlichem Beisammensein bei Gegrilltem und einem Fass kühlendem Bier, sondern der Gestank des Todes. Geralt hatte in seinem bisherigen Leben genügend kleine und größere Scheiterhaufen gesehen, um die noch schwelenden Reste an den Rändern der Straßen deuten zu können. Im Krieg und in Notzeiten gingen halt immer zuerst die Vorräte, dann alle moralischen Grundsätze und letztlich jedes Gefühl für Gesetz und Gerechtigkeit den Bach runter, bis ehemals menschliche Wesen zu wilden Bestien mutierten, die nur ihren dunkelsten Urtrieben folgten und sich so kaum noch vom Tiere unterschieden. Hah, mein guter Freund, dachte der Hexer, ich bin mir sicher, dass du von diesem »Grillgut« keinen Bissen runter bekommen würdest ... Die Straße, auf der sie sich vorwärts bewegten, führte geradeaus, beschrieb dann einen leichten Bogen nach links und mündete schließlich in einem weiteren Platz, der ebenso entgrünt war wie alle anderen Plätze zuvor. Etwas war jedoch diesmal anders. Dieser Platz war nicht zur Gänze leer ... Mitten auf dem festgestampften Boden ragten fünf grob gezimmerte Galgen in den Himmel hinauf und es gab keinen davon, der nicht einen unglücklichen Besitzer gefunden hätte. Ordentlich aufgeknüpft hingen dort fünf Menschen beiderlei Geschlechts und in verschiedenen Phasen der Verwesung, in der Luft von krächzenden Rabenvögeln umkreist, am Boden von unzähligen ausgemergelten Hunden, welche die Hinrichtungsstätte mit vom Hunger geblähten Bäuchen aufsuchten - beide in der Hoffnung, dort etwas Beute machen zu können. - 33 - Seltsam, schoss es dem Hexer durch den Kopf, woran es dem Menschen in der Not nie zu mangeln scheint, ist ein gut geknüpfter Strick! Rittersporn würgte bei dem Anblick der Kadaver hörbar und presste sein Taschentuch noch fester auf Mund und Nase. »Das ist ja widerlich!«, sprach er gedämpft. »Was ist hier bloß geschehen?« »Drei Dinge nur, mein Freund: Not, Hunger und Wahnsinn, doch in welcher Reihenfolge vermag selbst ich nicht zu sagen. Wahrscheinlich alles zugleich ...« Geralt sah genauer hin. Um die Hälse der Toten hingen Schilder, die offenbar das Verbrechen benannten, für das sie die Strafe empfangen hatten: »Ich habe Brot gestohlen!« stand auf dem einen, »Ich tötete für eine Hammelkeule« kaum noch leserlich auf einem anderen. Der Hexer ritt näher heran, um weitere Schilder entziffern zu können, als er von einem der hungerleidenden Hunde, der unterhalb des am längsten hängenden Delinquenten hockte, angeknurrt wurde und weder ihn, noch einen der anderen Hunde in die Nähe des Galgens ließ. »Keine Angst«, murmelte Geralt dem Hund beschwichtigend zu, »ich erhebe keinerlei Anspruch auf dieses Festmahl.« Der hängende Leichnam war bereits teilweise mumifiziert und bestand nur noch aus Haut und Knochen. Die Schrift auf dem Schild war zu verwittert, um sie noch lesen zu können. »Sieht aus, als wäre das mal sein Herrchen gewesen«, rief Rittersporn. «Ach, was für eine treue Seele! Das ist der richtige Stoff für eine anrührende Ballade, die ich schreiben werde, wenn wir diesen grauenvollen Ort wieder verlassen haben.« »Du wolltest unbedingt hierher, Barde, vergiss das nicht!« Der Hexer sah wieder hinab auf den Hund, der sich nun langsam entspannte, nachdem er seine anderen Artgenossen erfolgreich vertrieben hatte. Mit wehmütigem Blick sah der Vierbeiner auf zu dem knochigen Arm, der halb lose im Wind baumelte und mit lautem Klackern gegen Brustkorb und Hüftknochen schlug - bevor er mit einem Satz, den Geralt der halbverhungerten Kreatur kaum noch zugetraut hätte, in die Höhe sprang und mit einem triumphierenden Aufheulen den Arm oberhalb von Elle und Speiche vom Körper abriss. »Heda!« Rittersporn schnaubte laut. Geralt grinste, als der Hund in Abwehrhaltung und mit gesträubtem Fell seine Beute knurrend verteidigte und im nächsten Augenblick die Straße entlangrannte, als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihm her. Die knochige Hand in seinem Maul flatterte im Rausch der Geschwindigkeit hin und her. Fast schien es Geralt, als winke sie ihnen einen höhnischen Abschiedsgruß zu. »Soviel zum Thema Treue, lieber Rittersporn! Es ist doch, wie es immer ist: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral!« Und mit dem Gedanken, dass weder er noch der Barde in einer ähnlichen Situation kaum anders handeln würden, wie es dieser Hund getan hatte, wendete er Plötze und lenkte sein treues Pferd in Richtung ihres Zieles, das oberhalb der Stadt - 34 - zentral auf einem Hügel gelegen nur darauf wartete, dass sie beide endlich zu ihm kamen. *** »Und dann, Geralt? Was geschah dann?«, quengelte der Barde auf die ihm eigene Art und Weise. »Du weißt es tatsächlich nicht mehr? Ich habe ja bislang angenommen, du würdest mit deinen Erinnerungslücken kokettieren, doch anscheinend hat dein Gedächtnis mehr Löcher als ein durchschnittlicher Hartkäse aus Tretogor ...« Der Barde stöhnte. »Es ist ja nicht so, dass ich mich an überhaupt nichts erinnern würde, aber nur bruchstückhaft und verschwommen. Ich kann zudem nicht unterscheiden, was von meinen Erinnerungen wirklich passiert ist und was ich in meinen Balladen selbst ersonnen habe!« »Der Fluch eines Barden, mein Freund! Nun, dann wird mir nichts anderes übrig bleiben, als deinen grauen Zellen auch weiterhin auf die Sprünge zu helfen. Also, nachdem wir die ungastlichen Viertel der Stadt durchquert hatten, kamen wir letztendlich bei dem ›Roten Löwen‹ an. Dort trafen wir auf die Tochter des Wirtes ...« »Ah, ich glaube, ich erinnere mich an sie: langes blondes Haar, ein Blick aus meerblauen Augen und ein Lächeln, das nur mir galt ...« »Ich zerstöre nur ungern deine Träume, lieber Rittersporn, doch im Augenblick fabulierst du nur. Das Haar des Mädchens war wild und von roter Farbe, passend zu ihrer kleinen Stupsnase und den katzengleichen grünen Augen. Ja, sie lächelte, aber nicht dich an, sondern jemand anders. Jemand, den wir beide übrigens schon vorher kennengelernt hatten ...« »Dann spann mich nicht länger auf die Folter, Hexer! Erzähl weiter!« *** »Der Rote Löwe« war wahrlich kein Gebäude, welches man leichtfertig übersehen konnte. Auf dem höchsten Hügel der Stadt gelegen, von anderen Gebäuden kaum bis nur mäßig verdeckt, fiel das Gasthaus bereits von Weitem durch seine schier gewaltige Größe auf. Fast schien es, als hätte man an dieser Stelle eigentlich eine Kirche bauen wollen, doch die Idee dann wieder verworfen, als man die ersten Wände hochgezogen hatte und den Bauherren das Geld ausgegangen war. Nun stand dort anstelle eines sakralen Bauwerks ein schmuckes zweigeschossiges Gebäude im Fachwerkstil, sauber verputzt und auf den ersten Blick recht ansprechend. Interessiert betrachtete Geralt, der nebenbei seine Stute Plötze an einem hervorstehenden Ende eines Balkens festband, das imposante Eingangstor, das aus edelstem Holz gefertigt war und ihn selbst noch um anderthalb Köpfe überragte. Die Schnitzereien auf der Tür stellten ein fröhliches Zechgelage von Zwergen, Menschen und Elfen dar. Da wurde einander zugeprostet, an mächtigen - 35 - Fleischschlegeln genagt und der Schankmaid keck auf das pralle Hinterteil und anderswo hingeglotzt, dass es eine wahre Pracht war. Utopia, dachte Geralt innerlich schmunzelnd. Spätestens, wenn die Zwerge ihre schlüpfrigen Tranklieder anstimmen, gibt es den ersten Ärger mit den Elfen, und bei den Essmanieren der Übrigen dauert es auch nicht lange, bis die erste Keilerei im Gange ist. Der Wirt tut mir leid, der dann hinterher das ganze Blut vom Boden wischen darf, von den liegen gebliebenen Leichen ganz zu schweigen … Die hohe handwerkliche Kunst, mit der das Eingangstor gefertigt war, zog ihn überraschend schnell in seinen Bann. Fast glaubte er, die in das Holz gebannte Szene erwache vor seinen Augen zum Leben, als könne er das abgebildete Treiben, die munteren Gesänge und das heisere Gelächter wahrhaftig hören. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Geralt realisierte, dass die Geräusche, die er zu hören glaubte, tatsächlich durch das dicke Holz aus dem Inneren des »Roten Löwen« nach draußen drangen. Sieh an, überlegte er, und ich dachte, die Stadt wäre vollkommen ausgestorben, dabei treffen sie sich alle hier zum Saufen! Muss wohl gerade »fröhliche Stunde« sein. Einen schönen, bis zum Rand gefüllten Humpen Bier könnte ich nun auch gut vertragen, ging es ihm weiter durch den Kopf, während seine Kehle von Minute zu Minute trockener wurde. »Geralt, hörst du das auch?« »Das Saufgelage da drinnen? Das ist ja kaum zu überhören, Rittersporn.« »Nein«, winkte der Barde ab, «ich meine etwas anderes. Hört sich das nicht an wie eine holde Maid in höchster Not, die laut ihre Stimme erhebt, um auf ihre missliche Lage aufmerksam zu machen?« Geralt lauschte. »Tatsächlich. Doch für mich klingt es eher nach einem Weib, das gerade jemanden mächtig zusammenscheißt, wenn du mich fragst. Oder würdest du in einem Notfall solche unflätigen Worte in den Mund nehmen?« Nun lauschte der Barde angestrengt und grinste sogleich amüsiert. »Nein, wahrlich nicht, diese Worte könnte ich noch nicht einmal wagen aufs Papier zu bringen, ohne dass meine Hand das Zittern bekäme. Wenngleich ich, das muss ich zugeben, solche Ausdrücke zwischen durchwühlten Laken und in der Hitze des Gefechts von einer drallen blonden Maid gestöhnt durchaus anregend finden würde …« »Ich ahnte ja schon immer, dass hinter der Fassade des ehrbaren Barden mehr steckt, als dir anzusehen ist, Rittersporn. Du überraschst mich immer wieder aufs Neue. Ich glaube, ich muss meine Meinung über den Bardenstand einmal gründlich überdenken. Anscheinend seid ihr doch alle die schweinischen Sauigel, wie euch all die Väter, Ehemänner und anderen gehörnten Vertreter des starken Geschlechts schimpfen, da ihr nur mit eurem Schwanz und daran denken könnt, wie ihr mit eurem zugegeben verführerischen Gesang rasch die nächste Maid ins Bett bekommt.« - 36 - Der Barde hörte augenblicklich auf zu grinsen, schnappte einmal nach Luft und öffnete den Mund zu einer Erwiderung, die jedoch niemals über seine Lippen kam, sodass er ihn unverrichteter Dinge nach kurzer Bedenkzeit wieder schloss. »Ich denke nicht«, fuhr der Hexer süffisant lächelnd fort, »dass deine holde Maid irgendwelcher Hilfe bedarf. Ich mache mir eher Sorgen um denjenigen, dem ihr lautes Zetern gilt …« »Das mag durchaus sein, Geralt«, wandte Rittersporn ein, als er offensichtlich die Sprache wiedergefunden hatte. «Vor allem, weil ich jetzt seit geraumer Zeit aus besagter Richtung nichts mehr höre außer dem Zechgelage, welches in dem Wirtshaus vonstatten geht! Ich hoffe nur, unser kleines Wortgeplänkel hat keine bösen Folgen.« Der Barde sprach bereits zu einem leeren Platz, denn dort, wo gerade noch der Hexer gestanden hatte, wehte nun der auffrischende Wind einen verdorrten Strauch über das Pflaster. Geralt war bereits mit ausholenden Schritten in die Richtung unterwegs, aus der das einseitige Streitgespräch zu hören gewesen war. Rasch folgte Rittersporn und geriet dabei zunehmend außer Atem. »Geralt …« Der Hexer hieß ihn mit einer scharfen Handbewegung zu schweigen. Der Barde sah sofort warum, als er mit stechenden Seiten endlich bei seinem Freund eintraf. Eine junge Frau mit feuerrotem Haar fiel gerade über einen nicht minder jungen Mann her, der rückwärts über ein Fass stolperte, sodass beide eng umschlungen am Boden zu liegen kamen, wo die Rauferei sodann mit unveränderter Heftigkeit weiterging. Wären da nicht eindeutige Laute der Lust und des Wohlbehagens zu hören gewesen, so hätte man durchaus glauben können, dass die beiden in einen ernsten Kampf auf Leben und Tod verstrickt seien. »Was für eine Wildkatze!«, pfiff Rittersporn anerkennend, was ihm sofort einen missbilligenden Blick vonseiten des Hexers einbrachte und zudem die Aufmerksamkeit des miteinander beschäftigten Pärchens auf die beiden Neuankömmlinge lenkte. Rock und Mieder wurden rasch gerichtet und eine halb heruntergezogene Hose fand erstaunlich schnell ihren Weg zurück auf die schmale Hüfte des Jünglings, dessen Gesicht allerdings wesentlich länger brauchte, um sich wieder zu entspannen und jene Röte verblassen zu lassen, die ihm beim Anblick der beiden Männer ins Gesicht geschossen war. Lediglich die junge Frau war bereits wenige Augenblicke später wieder gefasst. Mehr noch, sie ging zum Angriff über. »Was zum Henker … Glotzt nicht so unverschämt! Was glaubt ihr, wer ihr seid? Habt ihr nie gelernt, wie man sich in Anwesenheit einer Dame verhält? Ihr Kerle seid doch alle geile Böcke!« »Wildkatze, sag ich doch! Schau Geralt, wie schnell sie die Krallen ausfährt und wie süß ihr kleines Raubtiergesicht leuchtet, wenn sie wütend ist …« »Schweigt, Rittersporn!« Geralts Stimme klang hart und kalt wie Eis, doch der Barde sah es um seine Mundwinkel herum kaum merklich zucken, ein Zeichen - 37 - dafür, dass die Situation den Hexer innerlich amüsierte und er gespannt war, wie sich diese verfahrene Lage letztendlich auflösen würde. Sie tat es gänzlich überraschend und anders als erwartet. »Ihr werdet Euch sofort bei der jungen Dame entschuldigen, Rittersporn! Und bei dem jungen Mann ebenso, den Ihr mit Eurem unverhältnismäßigem Ausruf in eine gleichfalls unangenehme wie peinliche Lage gebracht habt!« Die junge Dame, die gerade letzte Hand an den ordnungsgemäßen Sitz ihres Mieders legte, was von Rittersporn mit wohlwollendem, wenn auch etwas dümmlichem Blick quittiert wurde, horchte auf. »Sagtet Ihr gerade Rittersporn? Der Rittersporn, der Meister der Verse aus Oxenfurt, der im ganzen Land für seine Balladen und Verse über den Weißen Wolf bekannt ist?« Der Hexer nickte. Der Barde richtete sich zu seiner vollen Pracht auf, sodass selbst die Reiherfeder an seinem kecken Hut wie eine Pfeilspitze ins Blaue ragte. »Eben der bin ich, zu Euren Diensten! Entschuldigt vielmals, werte Lady, dass ich mich dermaßen vergessen konnte und Euch so in Verlegenheit gebracht habe, doch die weibliche Natur, wenn sie zudem noch so jung und ungestüm erscheint wie die Eure, bringt mich stets dazu, meinen überschwänglichen Gefühlen frisch von der Leber weg in Wort und Ton freien Lauf zu lassen. Ich hoffe, Ihr nehmt meine reumütige und von tiefstem Herzen kommende Entschuldigung an. Auch Ihr, werter Jüngling!« Er verbeugte sich leicht vor den beiden. Das Mädchen zierte sich noch etwas gespielt, streckte dann ihren Oberkörper durch und nickte dem Barden huldvoll zu. »Natürlich nehme ich Eure Entschuldigung mit Freuden an, Meister Rittersporn, und das auch im Namen meines Freundes Cailin, der selbst dazu leider nicht imstande ist, da ihm die Natur die Gabe des Sprechens verwehrt hat.« Nun betrachtete der Barde den jungen Liebhaber dieser Wildkatze etwas genauer. Mit einer kleinen Portion Eifersucht, wie er sich insgeheim eingestehen musste. Der Junge war wohlgeraten. Von schlanker, elfenhafter Statur mit einem fein geschnittenen Gesicht, aus dem ein Augenpaar von der Farbe des tiefsten Meeres von unten herab zu ihm aufblickte. Die feinen Züge des Gesichtes wurden von einem Schopf glänzendem, weizenblondem Haars eingerahmt, das ihm bis über die Schultern fiel und beide Ohren gänzlich verdeckte. Es dauerte einen Moment, bis der Barde das seltsame Gefühl, das ihn beim Anblick des jungen Mannes überkam, richtig zuordnen konnte. »Geralt, ist das nicht …« Geralt nickte schmunzelnd. »Ja, das ist wahrhaftig der junge Mann, der draußen vor den Toren ein flottes Tänzchen mit einer Mittagserscheinung gewagt und es auch überlebt hat. Ich wusste, dass wir ihn dort nicht zum letzten Mal gesehen haben würden und mein Gefühl hat mich nicht getrogen, wie es aussieht.« - 38 - »Er hat was?!« Die Wildkatze fuhr wieder ihre Krallen aus, doch diesmal ging es gegen Cailin. »Sag jetzt nicht, du hast dafür …«, sie zog aus einer kleinen Tasche an ihrem Gürtel einen kleinen Kranz aus hübschen Kornblumen hervor und warf ihn gegen seine unbehaarte Brust, «da draußen dein Leben riskiert?« Cailin wich erschrocken einige Schritt zurück und schaute verlegen zu Boden. Fast unmerklich nickte er, wagte es aber nicht, seiner Geliebten in die Augen zu schauen. Unentschlossen, was sie nun tun sollte, schwankte Fiona in ihrer Entscheidung. Sollte sie ihn nun küssen oder schlagen? Sie tat beides. »Die hier«, die Hand klatschte heftig gegen seine Wange, »ist für deinen unentschuldbaren Leichtsinn – und der hier«, der Kuss war lang und leidenschaftlich, »für deinen Mut und weil ich dich Idiot einfach liebe.« Vorsichtig hob sie den Blütenkranz wieder auf und drückte ihn behutsam gegen ihre Brust. »Ach, wie gern wäre ich jetzt ein Blütenkranz … Versteh einer die Frauen, Geralt. Erst schlagen sie dich und schimpfen dich einen Idioten, und im nächsten Moment lieben sie dich genau aus diesem Grunde.« »Vielleicht, Barde, verstehst du doch nicht so viel über die Liebe, wie man nach deinen unzähligen Balladen annehmen könnte.« Rittersporn sah den Hexer spöttisch an. »Aber du bist darin natürlich ein Experte.« Der Hexer wandte sich ab. »Vielleicht mehr, als mir lieb ist«, murmelte er so leise, dass es außer ihm selbst niemand hörte. - 39 - Kapitel VI Bardenzeit D ie Gesänge im »Roten Löwen«, sofern man die grunzenden Laute und das Grölen aus unzähligen Männerkehlen denn noch als solche bezeichnen konnte, hatten bereits merklich abgenommen und endeten schließlich abrupt, als neue Gäste an der Seite Fionas das Wirtshaus betraten. Besonders der blonde Barde, der am Ende des Raumes eine angeregte Unterhaltung mit Ranold, dem Sohn des Wirts, begonnen hatte, blickte interessiert auf. Ein breites, vergnügtes Grinsen machte sich zwischen seinen Mundwinkeln breit, als er sah, wer da gerade hereingekommen war. Auch dem Wirt Leo war nicht entgangen, dass es Neuankömmlinge gab, die seiner Aufmerksamkeit bedurften. Rasch kam er aus der Küche geeilt, um seine nächsten Kunden gebührend zu empfangen. Seine Miene verdüsterte sich allerdings, als zunächst Fiona in seinen Blickwinkel geriet. »Fiona! Wo bist du die ganze Zeit gewesen? Dein Bruder ackert sich schon eine geschlagene Stunde allein mit dem Pack hier ab …«, polterte er. Ranold zuckte nur mit den Schultern. Sein treuherziger Blick bat Fiona still um Verzeihung. »Aber Vater, ich habe draußen …« »Mir ist egal, was du draußen gemacht hast! Hier gibt es Arbeit für drei, die macht sich nicht von alleine!« »Vater!« »Keine Wiederworte, Fiona! Nimm den Besen, kehr die Binsen aus und dann wartet in der Küche noch ein Berg Geschirr auf dich! Glaubst du, der hüpft ganz von allein ins Wasser? Nein? Na also! Worauf wartest du noch? Hopp, Hopp!« »Wie du es wünschst, Vater.« Still mit den Zähnen knirschend tat Fiona, wie ihr geheißen und griff zunächst nach dem Besen, um mit ihm die Binsen auszukehren, in denen Erbrochenes, ungeniert abgeschlagener Urin und andere Körperflüssigkeiten, die sie gar nicht näher kennen wollte, in stiller Eintracht beieinanderlagen wie Liebende. Bedauerlich, dass der Fluch, der über der Stadt lag, nicht auch dafür sorgte, dass solcher Unrat verschwand, dachte sie. Wer immer für den Fluch verantwortlich war, musste über eine gehörige Portion Sarkasmus und eine ihr unverständliche Definition von Humor verfügen. Sie seufzte. Leo wandte sich nun den beiden Neuankömmlingen zu. Ein freundliches Lächeln erblühte auf seinen Lippen, welches allerdings sofort erlosch, als er den weißhaarigen Mann entdeckte, der zusammen mit dem Kerl im taubenblauen Wams seine Räumlichkeiten betreten hatte. Sein Blick huschte von der großen Narbe im - 40 - Gesicht über das Wolfsmedaillon auf der Brust hin zu den beiden Schwertern, die deutlich sichtbar über die Schulter hinausragten. Seine Miene verdüsterte sich dabei zusehends. Schließlich wich er einen Schritt zurück und zeigte, ohne ihm dabei in die Augen zu schauen, anklagend auf Geralt. »Was wollt Ihr hier, Hexer!«, blaffte er lautstark, doch seine Stimme verbarg nur ungenügend die Angst, die in ihr mitschwang. »Euresgleichen ist in dieser Stadt nicht willkommen, und im ›Roten Löwen‹ erst recht nicht! Geht besser Eures Weges, sonst wird es hässlich! Noch habt Ihr die Gelegenheit dazu, bevor ich die Stadtwache rufen lasse!« Geralt trat einen Schritt vor, die Arme vor der Brust verschränkt, während ein sardonisches Lächeln aus seinen Mundwinkeln hervorkroch und dort für einen Augenblick verharrte. »Welche Stadtwache meinst du, guter Mann? Etwa dieselbe, die euer marodes Stadttor bewachen sollte, aber wahrscheinlich beim ersten Anschein von Ärger mit vollen Hosen Reißaus genommen hat? Versucht nicht, mir zu drohen, Wirt! Der Schuss könnte leicht nach hinten losgehen. Ich will keinen Ärger. Ich bin nur hier, um meine staubige Kehle zu befeuchten und meinen Freund hier das nötige Geleit zu geben, mehr nicht.« »Das ist mir gleich, Hexer!« Leo war noch einen weiteren Schritt zurückgewichen. »Euresgleichen bedien ich hier nicht! Einer Missgeburt wie Euch haben wir es zu verdanken, dass unsere einstmals schöne Stadt dahinsiecht wie ein an der Pest Erkrankter!« Angewidert spuckte er vor Geralt in die Binsen, was ihm einen missbilligenden Blick vonseiten Fionas einbrachte. Rittersporn, der dem Disput zwischen seinem besten Freund und dem rotmähnigen Wirt mit offenem Mund verfolgt hatte, sah sich nun genötigt, seinen Beitrag zur Unterhaltung zu leisten. »Heda, Wirt! Ihr wisst wohl nicht, mit wem Ihr es hier zu tun habt und wer da gerade vor Euch steht? Niemand Geringerer als …« »Barde, lass gut sein«, unterbrach der Hexer seinen Freund abrupt und hob beschwichtigend die Hände. »Ich möchte hören, was der Wirt mir zu sagen hat. Also eine Missgeburt wie meine Wenigkeit ist an deinem Unglück und dem der Stadt schuld?« Geralt ging noch einen Schritt auf den Wirt zu, der im Gegenzug weiter nach hinten auswich, bis sein feister Hintern an eine Tischkante stieß. »Dir ist schon klar, Wirt, dass Missgeburten, wie ich in deinen Augen eine bin, dazu ausgebildet wurden, um Menschen wie dich und alle anderen, die Hilfe benötigen, gegen klingende Münze zu verteidigen? Eure Städte, Höfe und Felder vor dem Bösen in Monstergestalt zu beschützen? Ihr verwechselt da wohl etwas. Ich bin ein Hexer, keine Hexe!« »Hexer, Hexe, wo ist da der Unterschied ...«, knurrte der Wirt. - 41 - »Oh, ich könnt Euch einen nennen«, spottete Rittersporn. »Geht mal mit einer Hexe ins Bett und danach mit einem Hexer. Oder umgekehrt. Wie es Euch beliebt; dann werdet ihr den Unterschied schon rasch spüren!« Ranold lachte lauthals los und selbst Fiona konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen. Auch der blonde Barde verfolgte gebannt das Wortgefecht aus dem Hintergrund. »Nun, Wirt, im Allgemeinen wirkt eine Hexe – oder von mir aus auch eine Zauberin – Beschwörungen, spricht Flüche aus und weiß auch sonst vorzüglich mit Magie und Sprüchen umzugehen. Die Talente eines Hexers beschränken sich mehr auf seine Kampfkraft, Reflexe und Körperbeherrschung. Zauber sind nicht unser Ding. Und Flüche erst recht nicht. Macht also nicht mich und meinesgleichen für die Fehler verantwortlich, die in deiner Stadt von dir oder anderen begangen wurden!« Geralt beugte sich zum Wirt vor, dessen Teint zunehmend fleckiger geworden war. »Ich warne dich! Auch meine Geduld hat mal ein Ende. Aber ich will um des lieben Friedens willen die ganze Sache auf sich beruhen lassen und rasch vergessen, was du mir da gerade vorgeworfen hast, wenn ich ein Bier oder noch besser einen temerischen Roggenwodka bekomme, der kühl und feurig die Kehle herabrinnt. Wie sieht’s aus?« Der Wirt setzte schon zu einer Antwort an, die seiner Miene zufolge sicherlich ebenso ablehnend ausgefallen wäre wie seine Worte zuvor, wenn nicht just in diesem Moment der Sohn ihn auf die Seite gezogen hätte, um auf ihn einzuwirken. »Vater, denk doch mal nach! Es kann uns doch nichts Besseres passieren, als dass dieser Hexer gerade jetzt in unserer Stadt weilt. Denk an den Fluch! Wer sonst wäre hier momentan noch in der Lage, ein Schwert zu führen? Die Soldaten waren die Ersten, die geflohen sind, und meine Talente im Kampf erschöpfen sich schon vollkommen bei den Grundlagen des Stockkampfs. Der Hexer ist neu in der Stadt und kann deshalb überhaupt nichts mit dem Fluch zu tun haben. Du solltest es besser wissen, Vater! Gerade du!« Leo MacDanold fuhr mit seiner Pranke durch den dichten roten Bart und murmelte schließlich zustimmend. Zunächst zögerte er noch etwas und warf einen scheelen Blick auf den Hexer, der sich wieder zu Rittersporn gesellt hatte, um den beiden genügend Raum für ihr Gespräch zu lassen, dessen geschulte Ohren allerdings jedes noch so leise Wort und jede feine Nuance vernommen hatten. »Meinst du wirklich, Ranold? Du könntest schon recht haben, das muss ich dir zugestehen, aber ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Wenn du denkst, es geht in Ordnung, dass ein Hexer unter unserem Dach weilt, dann werde ich deinem Urteil trauen. Aber wehe, der Kerl läuft aus dem Ruder oder macht anderweitig Schwierigkeiten! Dann zieh ich dir die Hammelbeine lang, dass sie von hier bis Tretogor reichen! Hast du verstanden? He?« »Natürlich, Vater! Keine Sorge, es wird schon alles gut werden ...« »Dein Wort in Meliteles Ohren«, murmelte der Wirt, dann wandte er sich an den Hexer. - 42 - »Temerischer Roggenwodka soll’s also sein für den Herrn? Hm, große Ansprüche stellt Ihr ja nicht gerade. Und was trinkt Ihr? Heda, ich mein Euch da mit dem blauen Wams und der Feder am Hut! Wer seid Ihr eigentlich?« »Wer ich bin, wollt Ihr wissen?« Rittersporn begann sich, wie gewöhnlich bei solchen Fragen, langsam aufzuplustern: Er reckte den Oberkörper gen Decke, bis er fast auf seinen Zehenspitzen stand, drückte so weit wie es nur ging die Brust heraus und schob das kleine Kinnbärtchen nach vorn, das vor Aufregung schon zu zittern begonnen hatte. »Ich bin ...« »Verzeiht, wenn ich Euch unterbreche«, mischte sich nun der blonde Barde, der bislang unbeteiligt im Hintergrund geblieben war, mit einer eleganten Verbeugung ein. »Gestattet mir, dass ich Euch dem Wirt vorstelle, werter Kollege.« Rittersporns Pose fiel in sich zusammen wie ein perforierter Lungenflügel. Misstrauisch beäugte er den Blondschopf, der noch immer in der Verbeugung verharrte, um ihm schließlich mit einer kurzen Handbewegung die ersehnte Erlaubnis zu erteilen. »Mein lieber Herr Wirt«, freundschaftlich packte er Leo an den Schultern und drehte ihn derart, dass er direkt vor Rittersporn zu stehen kam, »wie kann es angehen, dass Ihr diesen Meister der Laute nicht kennt, diesen Virtuosen der Seiten, dessen begnadete Finger selbst noch einem Nähfaden eine Melodie entlocken würden? Vor Euch steht der beste Absolvent der Universität Oxenfurt, dessen Balladen über den Hexer Geralt von Riva, welcher auch der Weiße Wolf genannt wird, überall in ganz Temerien und darüber hinaus bekannt und beliebt sind. Vor Euch steht kein Geringerer als Julian Alfred Pankratz Viscount de Lettenhove, besser bekannt als der Barde Rittersporn! Nebenbei bemerkt, der weißhaarige Hexer, den Ihr fast beliebtet vor die Tür zu setzen, ist der eben benannte Geralt von Riva. Ihr tatet gut daran, Euren Disput mit ihm nicht eskalieren zu lassen ...« »Der bin ich tatsächlich«, bemerkte der Hexer trocken. »Und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?« Geralt sah, wie der Wirt dem Weiß seines Gesichts noch eine Nuance Kalk hinzufügte. Rittersporn antwortete, bevor der blonde Barde dies tun konnte. In seinem Gesicht arbeitete es sichtbar und die Worte klangen gezwungen, als sie über seine Lippen kamen. »Dieser Mann nennt sich Ansgar von der Vogelwiese, heißt aber in Wirklichkeit Damian Ansgar Maria Viscount de Lettenhove. Er ist mein älterer Bruder ...« Geralt sah mit hochgezogener Braue von einem zum andern, enthielt sich aber vorerst eines Kommentars. »So ist es! Zu Euren Diensten!«, sprachs und verbeugte sich der Blonde. »Wenn man es genau nimmt, ist er nur mein Halbbruder«, fügte Rittersporn erklärend hinzu, als er den fragenden Blick des Hexers gewahr wurde. »Dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter.« - 43 - Ansgar lächelte zustimmend. »Blut ist aber immer noch dicker als Wasser, mein lieber Rittersporn, auch wenn es, wie in unserem Fall, etwas schneller durch die Venen fließt, als es sonst üblich sein mag.« »Nun, eins zumindest ist jetzt sicher«, wandte Ranold, der Sohn des Wirts, ein. »Und das wäre?« »Jetzt, wo der Barde Rittersporn eingetroffen ist, sind wir endlich vollzählig. Das bedeutet, der Bardenwettstreit zu Carinthia kann heute in den Abendstunden endlich beginnen.« Geralt warf Rittersporn einen entgeisterten Blick zu, den nur der Barde richtig zu deuten wusste. Dann holte der Hexer tief Luft, atmete exakt einmal lang aus und sagte nur: »Ach, du dickes Ei!« - 44 - Kapitel VII Eine unbequeme Wahrheit B ei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zog Geralt den Barden beiseite. Dieser, gerade in ein recht wortkarges Gespräch mit seinem älteren Bruder verstrickt, schien im ersten Moment mehr als erfreut über die Unterbrechung. Er ahnte aber rasch, als er einen ihm wohlbekannten Ausdruck in der Miene des Hexers gewahr wurde, dass Geralt ihm damit hatte keinesfalls einen Gefallen tun wollen. In Geralt rumorte es fast hörbar. »Ein Bardenwettstreit?« Seine Frage war nicht lauter als ein heiseres Raunen, doch so nah an Rittersporns Ohren gesprochen, dass er sie ohne große Mühe verstehen konnte. Der Barde zuckte mit den Schultern. »Hättest du mich denn begleitet, wenn ich dir von Anfang an gesagt hätte, um was es geht?« Geralt runzelte die Stirn. »Darum geht es nicht, Rittersporn, und das weißt du ganz genau! Ich mag keine Überraschungen und werde nicht gerne im Unklaren gelassen. Der Gedanke, an diesem unfreundlichen Ort mehr Zeit als notwendig verbringen zu müssen, behagt mir überhaupt nicht. Und die Tatsache, dass wir hier auf engstem Raum mit unzähligen deiner mehr oder weniger talentierten Mit-Minnesänger zusammengepfercht sind, trägt auch nicht gerade zur Steigerung meiner Laune bei. Nicht zu vergessen, dass du mir nie etwas von einem Bruder erzählt hast …« »Du hast mich nie gefragt, aber ich muss zugeben, dass ich bislang aus persönlichen Gründen über meine Verwandtschaft geschwiegen habe. Einige Dinge sind zu heikel, um sie einfach so nebenbei auszuplaudern; andere möchte man nur noch so schnell wie möglich im hintersten Winkel seiner Erinnerungen in ein dunkles Verlies sperren und den Schlüssel dazu auf den tiefsten Grund des Meeres versenken.« Der Barde seufzte. »Ansgar und ich kamen eigentlich immer gut miteinander aus, zumindest solange wir noch Kinder waren. Das änderte sich allerdings abrupt, als wir beide in Oxenfurt studierten und er meinte, ebenso wie ich, das Studium der Musik absolvieren zu müssen, wo er doch auf dem Gebiet der anderen bildenden Künste so begabt war. Er wusste gleichwohl meisterhaft mit dem Pinsel umzugehen als auch einem toten Klumpen Lehm ungeahntes Leben einzuhauchen. Der Wettstreit, wer denn nun der bessere Barde sei und sein Instrument trefflicher beherrschte, führte zu immer größer werdenden Spannungen zwischen uns beiden, an denen ich zugegebenermaßen nicht ganz unschuldig war. Zum Bruch zwischen uns kam es schließlich, als ich ein hoch dotiertes Stipendium der Universität Oxenfurt erhielt, - 45 - welches mir mein Studium ungemein erleichterte; aber noch schlimmer traf es ihn, dass ich der Dame seines Herzens meine Aufwartung machte und ihr Herz im Sturm eroberte. Das hat er mir nie verziehen, hätte ich doch seiner Meinung nach jede andere haben können …« Geralt, der bislang mit ernster Miene dem Barden gelauscht hatte, warf einen kurzen Blick auf den blonden Ansgar, der gerade ungeniert mit dem Sohn des Wirtes schäkerte. »Er scheint zumindest keinerlei Schaden dadurch zurück behalten zu haben.« Rittersporn folgte dem Blick des Hexers und runzelte die Stirn. »Nun, Ansgar war noch nie ein Kind von Traurigkeit und recht flexibel, was seine Lebensgewohnheiten angeht. Diese Seite von ihm ist allerdings selbst mir bislang verborgen geblieben. Ein halbes Leben, all die gemeinsam verbrachten Jahre reichen anscheinend kaum aus, um eine Person, die einem irgendwie nahe steht, wirklich und wahrhaftig zu kennen.« »Darin liegt doch gerade der Reiz, dass es so lange dauert, bis man einen Menschen besser kennt, ohne ihn oder seine Handlungen jemals gänzlich verstehen oder seine geheimsten Gedanken erforschen zu können. Wenn ich alles von dir oder einem anderen wüsste, mein werter Rittersporn, dann wäre das Leben doch recht langweilig, oder?« Rittersporn lachte leise. »Du hast recht, Geralt! Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass in dir ein kleiner Philosoph schlummert. Geheimnisse und Rätsel sind nun einmal die Würze des Lebens, auch wenn ich auf manche Überraschung in meinem Leben durchaus hätte verzichten können. Wo wir gerade beim Thema sind: Einer der Schiedsrichter, der den Wettstreit leiten und bewerten sollte, liegt leider mit schwerem Bauchgrimmen in seiner Kammer. Er ist im Moment kaum in der Lage seiner Aufgabe nachzukommen, wie mir Ansgar vor Kurzem anvertraut hat. Er hat mich gebeten, bei dir nachzufragen, ob du …« Geralt tat einen Schritt zurück und spreizte abwehrend die Hände. »Nein, Herr Rittersporn, das kann nicht Euer Ernst sein! Ich bin nun wirklich der unmusikalischste Hexer, den die Welt je gesehen hat. Selbst Lambert und Eskel haben mir stets bescheinigt, ich würde die Töne noch nicht einmal treffen, wenn man sie vorher betäuben und sie mir vor die Schwertspitze setzen würde. Wie sollte ich ein gerechtes Urteil fällen können, wo ich weder Verständnis noch Gehör für musische Belange besitze?« Der Barde öffnete den Mund, schloss ihn allerdings recht bald wieder, ohne dass die Erwiderung, die ihm auf der Zunge gelegen hatte, über seine Lippen gekommen wäre. Stattdessen legte er kurz den Kopf in den Nacken, starrte angestrengt zur balkengestützten Decke empor, bevor er lächelnd in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Jovial legte er seinen Arm um Geralts Schulter und zog ihn näher zu - 46 - sich heran, als sollten die anderen Barden nichts davon mitbekommen, was er ihm gleich zu sagen beabsichtigte. »Das siehst du im völlig falschen Licht, mein lieber Herr Geralt! Wer könnte besser als du dazu geeignet sein, ein Urteil abzugeben? Sieh mal, all meine Sangesbrüder hier sind so dermaßen von sich und ihrem angeblichen Talent eingenommen, dass sie ihren Konkurrenten nicht einmal das Schwarze unter ihren Fingernägeln gönnen würden …« »Und wie steht es dabei um dich?«, fragte Geralt interessiert. »Ich? Ach, jeder weiß doch insgeheim, dass keiner der hier Anwesenden mir auch nur im Geringsten das Wasser reichen könnte. Und man sollte es auch gar nicht erst versuchen. Ich laufe hier außer Konkurrenz auf.« »Quod erat demonstrandum«, murmelte Geralt. »Sagtest du etwas? Nein? Ich dachte … ist ja auch egal. Die Jury besteht aus drei Schiedsrichtern, von denen der eine nun ja leider ausfällt. Ich finde die Idee ganz reizvoll, dass jemand, der mit der Musik sonst gar nichts am Hut hat, das so genannte Zünglein an der Waage sein soll. So kann zumindest verhindert werden, dass der Sieg jemandem zugeschustert wird, der sich die Jury vorher, nun ja, mit etwas mehr, als nur wohlfeilen Worten für sich eingenommen hat, wenn du verstehst, was ich meine.« »Ist das schon mal vorgekommen?« Rittersporn schnaubte. »Hast du eine Ahnung, Geralt! Das kommt ständig vor. Wenn so etwas ruchbar wird, dann geht es meist hoch her, das kannst du mir glauben. Der letzte Sängerwettstreit vor drei Jahren endete mit zwei Toten und dem Verlust eines Auges. Wolfram von Aschenbach, der dort hinten in der Ecke seinen Vollrausch ausschläft, hatte das Pech, dass die Laute seines Kontrahenten mit einem silbernen Krähenschnabel verziert war, der sich tief in sein rechtes Auge bohrte, als die beiden mit ihren Instrumenten aufeinander einzuschlagen begannen. Seitdem trägt er eine Augenklappe über dem vernarbten Loch. Ich hörte, nicht wenige Frauen seien sehr angetan von dem Anblick …« »Da solle noch mal einer ernsthaft behaupten, Barden könnten keiner Menschenseele ein Haar krümmen. Nun gut, ich werde darüber nachdenken. Ich sagte nachdenken, Rittersporn, das ist keineswegs schon eine Zusage, verstanden?« Das Zimmer war recht spartanisch eingerichtet: zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle und eine Kommode, auf der eine Waschgelegenheit in Form einer irdenen Schüssel nebst Henkelkrug vorhanden war. In der Ecke stand ein kleiner Schrank, gerade groß genug, um die wenigen Habseligkeiten des Hexers und des Barden darin zu verstauen. Eine Toilette gab es, wie sonst auch üblich, außerhalb des Zimmers, am Ende des Flures, den sie auf der Suche nach ihrer Kammer durchquert hatten. Rittersporn rümpfte die Nase. Schon der Geruch auf dem Flur hatte ihn dazu bewogen, auf den Abgang bestimmter Körperausscheidungen solange zu verzichten, - 47 - bis sie wieder in einer Gegend weilten, in welche, wie er meinte, die Zivilisation schon Einzug gehalten hatte. Zumindest der Fußboden war anscheinend frisch gereinigt und das grobe Leinen auf den Betten sauber, soweit es sein strenger Blick zu beurteilen vermochte. Vorsichtig ließ der Barde sich auf der Bettkante nieder und prüfte skeptisch die Härte der Matratze. »Was ficht dich an, Rittersporn? Du hast doch wohl in dieser Gegend keine Seidenlaken und marmornen Böden erwartet, oder?« Der Barde grummelte nur, während sich Geralt mit einem wohlgefälligen Ächzen rücklings auf das andere Bett warf und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen begann, seine Stiefel von den Füßen zu pellen, was ihm zu Rittersporns Erstaunen recht zügig gelang. Im hohen Bogen flogen sie dann gegen die gekalkte Wand gegenüber dem Bett, wo sie mit einem lauten Poltern auf den blank gewienerten Dielen zu liegen kamen. »Ich habe gar nichts erwartet«, maulte er, »das ist ja mein Dilemma! Ich erwarte nichts und werde dennoch enttäuscht!« »Nimm es wie ein Mann, Barde. Wir könnten genauso gut jetzt auf kargem kalten Boden liegen, unter uns ständig Riesentausendfüßler, welche die Erde auf der Suche nach Nahrung durchpflügen, und beim Abtritt ist weit und breit kein Blatt zum Abwischen zu finden …« »Ja, ich weiß«, räumte der Barde reumütig ein. »Es könnte alles noch viel schlimmer sein, als es gerade ist.« »Stimmt genau!« Geralt schwang sich wieder aus dem Bett, zog das leinene Unterhemd über den silbernen Schopf und legte es über die Lehne des Stuhls, der ihm am nächsten stand, bevor er zur Kommode hinüberging, um sich Wasser aus dem Krug über Kopf und Oberkörper zu gießen. Fasziniert betrachtete Rittersporn die zuckenden Rückenmuskeln, auf denen etliche kleine und größere Narbenwülste von Geralts bewegter und kampferprobter Vergangenheit zeugten. Er wusste, dass das Narbengewebe auf der Vorderseite noch imposanter war als das, welches er im Moment zu sehen bekam, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, während ihrer gemeinsamen Reisen, wie es wohl sei, buchstäblich in Geralts Haut zu stecken. Seufzend streckte und reckte er sich auf seiner Schlafstatt und ließ sich schließlich gänzlich auf das überraschend weiche Bett fallen. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes. »Verdammt!«, fluchte er und riss das Kopfkissen beiseite. Unter dem Kissen kam ein Gegenstand zum Vorschein, den der Barde misstrauisch beäugte. Es handelte sich dabei um eine kleine Statuette aus Ton, die eine hoch gewachsene Frau mit langem Haar und einem gefalteten Gewand darstellte, wie es Rittersporn ähnlich schon häufiger in den Tempeln der Melitele gesehen hatte. Diese Interpretation des Gewandes war jedoch recht freizügig. Sowohl die beachtlichen Brüste als auch die extrem langen Beine waren nur spärlich von Stoff bedeckt. Zudem konnte man deutlich die Kniekehle des einen Beines erkennen, das einen Schritt nach vorn zu machen schien. Rittersporn wünschte sich in diesem Moment - 48 - nichts sehnlicher, als dass ein Wind den Rest des Gewandes erfassen würde, damit er noch mehr zu sehen bekam. Er bleckte die Lippen und zwang sich dazu, sich wieder der Vorderseite der Statuette zu widmen. In den Händen hielt die Frau zwei Schalen, die sich ähnelten und doch geringe Unterschiede aufwiesen. Es schien, als würde sie beide gegeneinander abwiegen, ohne jedoch die eine der anderen vorzuziehen oder als besser zu bewerten. War dies eine frühe Interpretation der Göttin der Gerechtigkeit? Eher nicht, entschied der Barde, denn in ihrem wunderschönen Gesicht konnte er ihr direkt in die Augen sehen, ohne dass eine Binde ihren Blick vor ihm verbergen konnte. Das Gesicht! Rittersporn hielt den Atem an. Ähnelte es nicht … konnte es sein …? »Geralt, schau dir das mal an! Sieht diese Statuette nicht genauso aus wie Yennefer?« »Was?« Geralts Stimme klang dumpf unter dem Tuch, mit dem er sein Haar trocken rubbelte. »Ich habe diese Statuette gerade unter meinem Kopfkissen gefunden. Es stellt eine leicht bekleidete Frau mit zwei Schalen in den Händen dar, und ihr Gesicht sieht verdammt noch mal so aus, als hätte Yennefer persönlich dafür Modell gesessen, oder ich will nicht mehr Rittersporn heißen!« Der Barde drehte die Figur erneut. »Warte mal, hier ist sogar noch etwas eingraviert. Unten, genauer gesagt unter dem Sockel. Was, zum Teufel, ist das denn für eine Sprache ...?« Geralt wurde hellhörig. Sein Medaillon zitterte heftiger als bislang. »Oge tu, tu oge til de maica brek …« »Rittersporn! Nicht!« Geralt eilte herbei, doch Rittersporn hatte den Text bereits zu Ende gelesen. Ein sanftes Leuchten erschien zunächst in der einen tönernen Schale und dann ein zweites helleres in der anderen. Beide nahmen an Intensität zu, bis beide Männer geblendet die Augen schließen mussten. Die Statuette begann in Rittersporns Händen zu vibrieren. Er versuchte sie loszulassen, doch seine Finger gehorchten ihm nicht mehr. »Wirf das Ding weg!«, rief Geralt. »Ich würde ja, aber ich kann nicht!« Entschlossen griff Geralt nach der Statuette, um sie dem Barden aus der Hand zu nehmen. Seine Finger schlossen sich gerade um den tönernen Leib, als der Zauber seine ganze Macht zu entfalten begann. Mit einem lauten Knall zerbarst die Figur in tausend Stücke. Die dabei entstandene Druckwelle schleuderte Rittersporn und Geralt voneinander fort. Geralts Rücken krachte gegen das Bettgestell. Rittersporn hingegen machte Bekanntschaft mit der harten Wand und rutschte neben Geralts Stiefel zu Boden. Eines hingegen hatten sie gemeinsam: beide verloren im gleichen Augenblick das Bewusstsein, während sich die Überreste der Statuette als feiner, glänzender Staub auf die Dielen legte, als hätte sie nie existiert. - 49 - Kapitel VIII Küsse und ein Brief R anold, auf ein Wort!« Müde, erschöpft und ein wenig mürrisch wandte sich der Angesprochene um, doch sein Gesicht erhellte sich fast schlagartig, als er erkannte, wer ihn da gerade angesprochen hatte: der blonde Barde, Ansgar, wie er von Meister Rittersporn genannt worden war. »Oh, Meister Ansgar, wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Der Barde lächelte gewinnend. Ein Lächeln, welches seine Wirkung bei Ranold trotz seines erschöpften Zustands nicht verfehlte. »Nicht so förmlich, werter Ranold, nennt mich doch einfach Ansgar. Ihr habt einen schweren Tag hinter Euch, das ist mir nicht entgangen. Doch ich hoffe, ich kann Euch noch dazu bewegen, mir die eine oder andere Gefälligkeit zu erweisen ...« Auch Ranold lächelte nun. Im gleichen Augenblick kam es ihm vor, als sei alle Mühsal mit einem Wimpernschlag von ihm abgefallen und er hatte keinerlei Zweifel daran, dass die unmittelbare Nähe des Sängers der Grund dafür war. Der Tag war tatsächlich hart gewesen. Nachdem der Hexer Geralt und sein Begleiter Rittersporn sich in die Kammer zurückgezogen hatten, die Leo MacDanold seit jenem berüchtigten Tag nicht mehr betreten hatte, war rasch Ruhe in die Schenke eingekehrt. Die letzten Minnesänger, die sich noch auf den Beinen halten konnten, waren schwankend und torkelnd ebenfalls auf ihre Zimmer gegangen, während der volltrunkene Rest in die unzähligen Ecken des Schankraumes gekrochen war, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Nicht, dass damit die Arbeit für ihn und Fiona damit ein Ende gefunden hätte. Die dreckigen Binsen mussten ausgetauscht, Dielen geschrubbt und Tische gewienert werden, während in der Küche unzählige Humpen, Teller und Henkelkrüge darauf warteten, dass jemand sie sorgfältig säuberte und polierte. Ihr Vater hatte zwar Fiona diese Aufgaben auf das Auge gedrückt, doch für Ranold war es eine Frage der Ehre und von brüderlicher Liebe, dass er seine Schwester nicht mit dem Berg Arbeit allein ließ, was Leo MacDanold zwar nicht verborgen blieb, von ihm aber nur mit einem griesgrämigen Knurren quittiert wurde. Ansgar hingegen hatte sich noch angeregt mit zwei der ranghöheren Barden unterhalten, die ihre Kammern verlassen hatten, um unten nach dem Rechten zu sehen. Was sie dort jedoch zu sehen bekamen, schien ihnen überhaupt nicht zu gefallen. Im Gegenteil. Mit hochroten Köpfen und die Stirn in Falten gelegt redeten sie wild gestikulierend einige Minuten lautstark auf Ansgar ein, der lächelnd und - 50 - mit ruhiger Stimme auf sie einwirkte, bis sie sich zusehends beruhigten und schließlich wieder in ihre Zimmer zurückkehrten, nicht ohne Rittersporns Bruder zuvor noch anerkennend auf die Schultern zu klopfen. Ranold bleckte die Lippen. »Nun, das kommt ganz auf die Gefälligkeit an«, sagte er mit einem aufreizendem Lächeln, das dem Barden nicht entging. »Alles zu seiner Zeit, mein lieber Ranold«, sanft ließ der Barde seine Finger über die raue Wange des Wirtssohns wandern, was diesem einen wohligen Schauer bescherte. »Zunächst hätte ich eine andere Bitte an dich. Sicher hast du mitbekommen, dass meine beiden Zunftkollegen nicht gerade sonderlich angetan waren von dem Zustand der übrigen Barden, Minnesänger und wie sie sich sonst auch schimpfen mögen. Sie befürchten, und das aus meiner Sicht ganz zu Recht, dass der übermäßige und unkontrollierte Alkoholkonsum, der hier unten stattgefunden hat, die Bedingungen des Wettbewerbs unangemessen verzerren könnte. Nicht, dass sie davon ausgehen würden, dass einer dieser, in ihren Augen, Versager ihnen auch nur das Wasser reichen, geschweige denn ihnen den Sieg streitig machen könnte. Aber in einer unerwarteten Anwandlung von Fairness bestehen sie darauf, dass der Wettbewerb erst dann stattfindet, wenn wirklich ausnahmslos alle daran teilnehmen können und nicht über die Hälfte irgendwelchen schweinischen Kram lallt, wenn er an der Reihe ist.« Ansgar lachte rau. Als ob nicht der größte Teil der Balladen und Gesänge aus schweinischem Kram bestehen würde, zwar in wohlfeile Worte gefasst und sittsam vorgetragen, aber dennoch nicht besser als die derben erotischen Zeichnungen und Schmierereien, die man in dunklen Hinterhöfen und auf bestimmten öffentlichen Aborten in Wyzima und anderen Großstädten Temeriens entdecken konnte. Kurz schloss er die Augen und sah auf seiner geistigen Leinwand einige besonders herausragende Beispiele dieser Kunst an sich vorbeiziehen. Er schluckte und spürte deutlich, wie der Platz in seiner ohnehin knapp bemessenen Hose noch knapper wurde, was wiederum Ranold nicht verborgen blieb. »Und wie kann ich dabei behilflich sein, Ansgar?« »Du würdest mir eine große Hilfe sein, wenn du deinem Vater von unserer Entscheidung berichten könntest. Ich weiß, dass er schon lange darauf gewartet hat, dass es endlich losgeht, doch er muss sich noch bis morgen Mittag gedulden, bis alle wieder soweit nüchtern sind, dass die Chance zu gewinnen für jeden dieselbe ist. Keine Sorge, falls dein Vater sich um seine Alkoholvorräte sorgen sollte, teile ihm einfach mit, dass jeder Barde disqualifiziert wird, der vor Beginn des Wettbewerbs auch nur einen weiteren Tropfen zu sich nimmt.« Ranold grinste erleichtert. »Das sollte kein Problem sein ...« »Warte noch, mein Lieber! Da wäre noch etwas«, Ansgar zog aus seinem Wams einen mit Siegellack verschlossenen Umschlag hervor, «ich möchte, dass du - 51 - meinem Bruder Rittersporn diesen Brief gibst und zwar ausschließlich ihm, hörst du? Das ist immens wichtig! Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?« Ranold nickte bedächtig. »Und was bekomme ich dafür, wenn ich diesen Botengang für dich erledige?« Der Barde grinste verschmitzt, packte Ranold an seinem Wams und bugsierte ihn in eine uneinsehbare und freie Ecke, wo er ihn eng an sich zog, bis sich ihre beiden Gesichter fast berührten. »Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack meiner Dankbarkeit«, flüsterte Ansgar leise in das Ohr seines Gegenübers, bevor seine halb geöffneten Lippen langsam über die geröteten Wangen von Ranold wanderten, bis er dessen bebenden Mund fand und diesen schließlich mit einem Kuss versiegelte, der Ranold so süß und wunderbar erschien, dass ihm in einem kurzen Augenblick der Schwäche die Knie den Dienst versagten und er in Ansgars starke Arme sackte. »Komm danach in meine Kammer«, hauchte Ansgar. »Wenn du alles erledigt hast, werde ich dir den restlichen Tag und die ganze Nacht so versüßen, wie du es dir in deinen wildesten Träumen nicht vorstellen kannst. Möchtest du das?« »Ja ...« Ansgar half Ranold wieder auf die noch etwas zittrigen Beine. »Spute dich, mein süßer Ranold, umso eher kann ich dir zeigen, wie dankbar ich sein kann. Glaub mir, diese Nacht wirst du so schnell nicht vergessen.« Das bezweifle ich keine Minute lang, dachte Ranold und sah dem Barden sehnsüchtig hinterher, der nach einem weiteren verstohlenen Kuss den Schankraum in Richtung seiner Kammer verlassen hatte. Er grinste selig. Nun Barde, ich habe auch so einige Tricks auf Lager. Ansgar sollte nur nicht glauben, dass er eines dieser unbedarften Landeier ohne jegliche Erfahrung war, was die körperlichen Freuden anging. Sicher kannst du auch noch etwas von mir lernen, Lautenspieler! Ranold machte sich in Gedanken eine Notiz, dass er nach Erledigung seiner Aufträge unbedingt noch diese neuen Spielzeuge aus Leder aus seiner Kammer holen sollte, mit denen die Dirnen ihre Kunden zurzeit in Wyzima zu verwöhnen pflegten. Er hatte bislang noch keine Zeit gefunden, sie auszuprobieren, aber vielleicht war dies ja die richtige Nacht dafür. Sein Vater bereitete ihm weit weniger Probleme, als Ranold zunächst befürchtet hatte. Auch an Leo MacDanold war der Tag nicht vollkommen spurlos vorübergegangen. Es war nicht unbedingt der Haufen von versoffenen, herumhurenden Barden gewesen, der ihm innerhalb der letzten Stunden die dunklen Ringe unter den Augen und die dumpfen Schmerzen hinter der Stirn beschert hatten, sondern eher die Sorgen, die er sich wegen des Hexers machte, der nun unter seinem Dach weilte. Ihm war noch immer nicht ganz wohl zumute, wenn er daran dachte, dass der Weiße Wolf höchstpersönlich nun in derselben Kammer hockte, in der die vermaledeite Hexe damals ihr Unwesen getrieben hatte, und nur Melitele und die anderen Götter mochten wissen, was genau das gewesen war. Er war zudem auch - 52 - sichtbar erleichtert, als Ranold ihm den Beschluss der Barden mitteilte, dass der Wettbewerb erst morgen um die Mittagszeit beginnen sollte, und als er erfuhr, dass bis zu Beginn des Bardenwettstreits ein absolutes Alkoholverbot gelten sollte, fiel eine weitere schwere Last von seinen Schultern. Seine Vorräte im Keller hatten eine Pause auch dringend nötig nach all den Tagen, wo sich das sittenlose Pack auf seine Kosten mehr als nur die Kehle befeuchtet hatte. Elende Schluckspechte! Nun war zumindest abzusehen, wann der ganze Irrsinn letztlich ein Ende finden würde. Mit etwas Glück war morgen in den späten Abendstunden schon alles vorbei. »Das sind doch mal gute Nachrichten, mein Sohn! Ich frage mich nur, was wir dem ganzen verkaterten Haufen morgen früh zu trinken anbieten sollen, wenn sie aus ihren Löchern gekrochen kommen mit Schädeln so groß wie ihre aufgeblasenen Egos. Normalerweise fängt man ja morgens mit dem an, mit dem man am Abend davor aufgehört hat, doch dem haben die Herrschaften ja jetzt zu Recht einen Riegel vorgeschoben.« Ranold brauchte nicht lange zu überlegen. »Wie wäre es mit dem Sack dieser seltsamen Bohnen, die wir vor einigen Monaten anstelle einer Bezahlung von diesem Händler aus Übersee angenommen haben? Er erzählte uns ja, man könne daraus ein anregendes Getränk herstellen.« »Du meinst diese rötlichen Kapselfrüchte, denen noch nicht einmal der Fluch etwas anhaben konnte? Weißt du denn noch, wie sie zubereitet werden müssen? Ich war an dem Tag ein wenig von der neuen Ladung Wein und den anderen Getränken aus den südlichen Provinzen abgelenkt …« Beide sahen sich an und lachten schallend. Denn Leo war damals nicht nur abgelenkt gewesen. »Vater, du warst an dem Tag sternhagelvoll! Du konntest dich ja einfach nicht von der Flasche mit lyrianischem Elfenschnaps trennen, die ich hinterher nie wieder gesehen habe. Darum hab ich ja auch später von dir ein heftiges Donnerwetter zu hören bekommen, weil ich mich auf den Handel mit dem Kaufmann aus Übersee eingelassen hatte. Ich weiß allerdings noch ganz genau, was er zur Zubereitung sagte: erst über dem Feuer rösten, bis sie dunkelbraun geworden sind, dann möglichst gleich mahlen und anschließend mit heißem Wasser durch ein feines Tuch in eine Kanne seihen. Wenn mich nicht alles täuscht, nannte der Mann das Getränk ›Kafwe‹ oder so ähnlich. Vielleicht sollten wir das Ganze mit Zucker und Milch servieren.« Leo MacDanold klopfte seinem Sohn aufmunternd auf den Rücken. »Nun, damit weißt du ja schon, was du morgen in aller Frühe zu tun hast! Kafwe für alle! Dann sieh mal zu, mein Sohn, dass du vorher noch eine Mütze voll Schlaf bekommst. Das wird wieder ein langer Tag werden. Fiona ist auch schon zu Bett gegangen. Verdient habt ihr es ja beide nach diesem anstrengenden Tag.« Der junge Mann seufzte. An Schlaf war diese Nacht wohl nicht mehr zu denken. Oh, das würde eine wirklich verdammt kurze Nacht werden, grinste er still in sich hinein. Aber zunächst einmal hatte er noch etwas Wichtiges zu erledigen. Der Brief - 53 - an Rittersporn brannte ihm regelrecht unter dem Wams ein Loch in sein Leinenhemd. Er hatte es Ansgar versprochen und er war kein Mensch, der ein Versprechen leichtfertig gab, Belohnung hin oder her. Rittersporns und Geralts Kammer lag zu seinem Glück ohnehin auf dem Weg, den er zu Ansgars Raum gehen musste. Vielleicht waren die beiden ja noch wach oder zumindest Rittersporn hatte einen so leichten Schlaf, dass er ihn ohne Probleme wecken konnte, um ihm den Umschlag seines Bruders überreichen zu können. Einen Versuch war es wert. Leise klopfte er an der Tür, doch im Inneren regte sich nichts, wie er hörte, als er sein Ohr an das Holz legte. Ranold konnte nicht wissen, dass sowohl Rittersporn als auch Geralt vor einer guten Stunde das Bewusstsein verloren hatten, als ihnen ein vergessener Zauber der Hexe um die Ohren geflogen war, die so viel Leid und diesen schrecklichen Fluch über die Stadt gebracht hatte. Nachdenklich nahm Ranold den Umschlag aus seinem Wams und drehte ihn gedankenverloren in seinen Händen, während er überlegte, was er jetzt tun sollte. Dann kam er zu einem Entschluss. Rasch ging er auf die Knie und schob den Brief durch den schmalen Spalt unter der Tür in die Kammer hinein. Passt! Er machte sich keine Sorgen darüber, dass jemand anders als der Barde den Brief in die Hände bekommen könnte. Schließlich stand ja vorne mit großen geschwungenen Buchstaben sein Name drauf. Und Geralt? Nun ja, konnte der Hexer überhaupt lesen? Ranold zuckte die Schultern. Egal. Nun wurde es aber Zeit, seine Belohnung in Empfang zu nehmen. Nach einem kurzen Abstecher in sein eigenes Zimmer stand er schließlich mit klopfendem Herzen und heißem Gesicht vor Ansgars Kammer, die sich wie von Zauberhand öffnete, noch bevor er seine Hand an die Tür legen konnte. Ein vollkommen entblößter Arm zog ihn in den Raum hinein und im nächsten Moment fand er sich in der Umarmung des Barden wieder, der bereits ganz und gar nackt war und ihn erneut so küsste, dass Ranold Hören und Sehen verging. »Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?« Ranold konnte nur noch nicken. Ansgar lächelte. »Sehr schön! Ich wusste bereits, als ich dieses Etablissement betrat und dich zum ersten Mal sah, dass dieser Moment kommen, dass ich dich in meinen Armen halten würde und wir zwei ...« Ansgars Blick fiel auf den ledernen Beutel, den Ranold mitgebracht hatte. »... nun, was haben wir denn da?« Er nahm Ranold den Beutel ab, warf einen Blick hinein und grinste schelmisch, als er wieder hochsah. »Sieh mal einer an! Wer hätte das gedacht? Da will es wohl jemand ganz genau wissen. Ich sage ja immer, stille Wasser sind tief … und gefährlich! Zieh dich aus!« Rasch kam der Angesprochene der Aufforderung nach, während Ansgar etwas aus dem Beutel fischte und es ausgiebig untersuchte. »Willst du das wirklich?« - 54 - Ein Nicken. »Dann fangen wir mal an«, murmelte der Barde und stieß die Tür mit dem Fuß zu, bevor das erste Spielzeug zum Einsatz kam. Niemand hörte oder bemerkte in dieser Nacht etwas von dem, was sich hinter dieser Tür so alles abspielte, denn sie waren alle entweder viel zu betrunken dazu oder so weit weggetreten, dass sie gar nichts mehr wahrnehmen konnten. Und die zwei, die es wussten, verloren später kein Wort darüber, erinnerten sich aber hinterher immer gern an all die Dinge, die in dieser Kammer geschehen waren. - 55 - Kapitel IX Ein Zauber tut seine Wirkung N un bin ich also im Bilde darüber, was bislang geschehen ist, Geralt; doch sag mir, was ist da vorhin mit uns passiert? Was ist das für ein Zauber gewesen, der uns um die Ohren geflogen ist?« »Ich weiß nicht, wie genau dieser Zauber genannt wird, dafür habe ich allerdings bereits eine gute Vorstellung davon, was genau dieser Zauber bewirkt hat ...« Rittersporn rieb sich die schmerzenden Augen. Irgendetwas war anders, er konnte es nur noch nicht so genau bestimmen. Durch die geschlossenen Lider drang allmählich wieder helleres Sonnenlicht. Langsam schwand die pechschwarze Nacht vor seinen Augen und machte Platz für ein hoffnungsvolles Orange. »Ich glaube«, lachte er leise auf, »ich glaube, mein Augenlicht kehrt jetzt langsam zurück, Geralt!« »Ich an deiner Stelle würde die Augen ruhig noch ein klein wenig länger geschlossen lassen, Rittersporn ...« »Warum sollte ich?« Geralt lächelte und sah sich im Raum um. Sein Augenlicht war schon vor geraumer Zeit zurückgekehrt, was ihn, aufgrund der Wirkung des Zaubers, doch einigermaßen überraschte. Nun, er würde sicherlich mit den unmittelbaren Folgen besser zurechtkommen, als der Barde. Soviel war sicher, doch es schadete bestimmt nicht, wenn er es war, der Rittersporn sanft und schonend gewisse Veränderungen beibrachte. Geralt blähte die Backen auf und ließ die Luft geräuschvoll entweichen. »So schlimm, Geralt? Sag mir auf der Stelle, was genau mit uns passiert ist! Wächst mir ein Horn auf der Stirn? Fehlen uns Körperteile? Nun sag schon, was ist es! Spann mich nicht länger auf die Folter, Hexer!« »Keine Sorge, mein Freund.« Geralts Stimme klang amüsiert, was den Barden gleich ein wenig beruhigte. »Du brauchst keine Angst zu haben; unsere Körper sind unversehrt und so prachtvoll wie eh und je. Was den Zauber angeht, so könnte man durchaus sagen, dass wahrscheinlich einer deiner geheimsten Wünsche in Erfüllung gegangen ist ...« »Was zum Teufel ...« Rittersporn hielt es nicht länger aus. Ungestüm riss er seine Augen auf und blinzelte zunächst, geblendet von der frühen Morgensonne, die direkt in ihre Kammer schien. Es dauerte einen kurzen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Nichts im Raum hatte sich verändert. Zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle, ein Schrank, eine Kommode und ein Spiegel, in dem sich der Barde nun sehen konnte. Vorsichtig fuhr er sich mit der Hand an die Stirn, doch sein - 56 - Spiegelbild weigerte sich, dasselbe zu tun. Rittersporn ließ die Hand wieder sinken, dann hob er die andere Hand und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. Auf der anderen Seite passierte wieder nichts, ganz im Gegenteil. Sein Spiegelbild runzelte die Stirn, zog gar genervt eine Augenbraue in die Höhe und seufzte. »Was machst du da, Barde?« Was war das? Er sah, wie er selbst redete, doch Rittersporn hatte den Mund nicht aufgemacht. War der Spiegel etwa verflucht? »Wenn du glaubst, du sitzt vor einem verhexten Spiegel, mein Bester, so muss ich dich leider deiner Illusion berauben«, sprach sein Spiegelbild weiter und winkte ihm zu. »Rittersporn, ich bin es, Geralt, gefangen in einem Bardenkörper, genauer gesagt, in deinem!« »Oh, ihr Götter«, fluchte der Barde und sah, wie Geralt, nein er – oder war es doch sein Spiegelbild? – langsam aufstand und auf ihn zukam. Sein Rücken tat ihm weh, der Kopf schmerzte zum Erbarmen und mit Schrecken erkannte er, dass sein guter Freund Geralt die Wahrheit gesagt hatte. Aber wenn Geralt nun in seinem Körper steckte, dann musste er sich doch zwangsläufig … in Geralts Körper befinden! Seine Hände, groß und schwielig und zum Lautezupfen sicherlich ganz und gar ungeeignet, berührten sein Gesicht. Da war sie, die lange Narbe, die längs über das Auge verlief, die scharfkantige Nase und der schmallippige Mund, hinter dem sich eine solch wendige Zunge verbarg, die den zwei Schwertern auf seinem Rücken in nichts nachstand. Die Finger glitten durch das lange milchige Haar, welches offen über seiner Schulter hing. Rittersporn atmete schwer. Verdammt, wie hatte das passieren können?! »Ganz ruhig, Rittersporn.« Geralt, nein eigentlich er, kniete vor ihm nieder und umfasste mit seinen nun feingliedrigen Händen das Gesicht des Hexers. Er lächelte beruhigend auf den Barden ein, griff nach einem der drei Fläschchen, welches in dem Schultergurt verankert war, der auf dem Tisch lag, öffnete es und gab es Rittersporn zu trinken. »Das ist gegen die Schmerzen, die du sicherlich immer noch spürst. Du verfügst nicht über meine mentalen Kräfte, um sie auf Dauer ausblenden zu können. Ich kann nur hoffen, dass dieser Zustand nicht permanent ist, denn ich habe nur einen begrenzten Vorrat an diesem Mittel.« Mit einem leichten Schaudern zwang sich der Barde, seinen Blick auf das Gesicht zu richten, das sich ihm direkt gegenüber befand. Er hatte noch nie in seinem Leben die Möglichkeit gehabt, sein eigenes Konterfei so deutlich vor Augen zu haben, auch wenn es jetzt Geralts mutierte Augen waren, mit denen er dies tat. Die Spiegel aus polierter Bronze oder purem Silber, die er bislang ab und an in die Hände bekommen hatte, zeigten nur recht unvollkommen das, was er nun unverfälscht erblickte. - 57 - Eigentlich war er doch ein recht hübscher Kerl mit seinen dunklen Haaren mit dem Kastanienton, dem schmalen elfischen Gesicht, den schönen meerblauen Augen und dem neckischen Kinnbart, der sein Gesicht formvollendet abrundete. Geralt erhob sich und reichte ihm eine Hand. Der Barde ergriff sie und ließ sich von seinem Freund auf die Beine helfen. Das Gesicht des Barden, der nun Geralt war, verzog sich vor Anstrengung zu einer Grimasse. »Verdammt, ich wusste überhaupt nicht, wie schwer ich eigentlich bin!«, fluchte er und wischte sich, mit einem der unzähligen Tücher aus Rittersporns Taschen das Gesicht ab. Trotz des Schmerzmittels, das ihm der Hexer gegeben hatte, fühlte Rittersporn noch immer ein dumpfes, ziehendes Gefühl in dem Körper, der nicht sein eigener war. Der Schmerz war nicht vollkommen betäubt, sondern lauerte in den unterschiedlichsten Regionen dieses Körpers darauf, sich hin und wieder unangenehm in Erinnerung zu rufen. Vorsichtig streckte sich Rittersporn, dehnte die Gelenke, strich mit der Hand über die Narben auf der Brust und den Armen, bis hin zum Bund der Hose, den er kurz lupfte. »Heilige Scheiße, Geralt! Kein Wunder, dass du jedes Weib von hier bis nach Nilfgaard ins Bett bekommst. Mit der Ausstattung könnte ich das Singen sofort sein lassen ...« Geralt rümpfte die Nase. »Na, dann wünsche ich dir viel Glück auf der Pirsch, Barde. Nicht jede Frau ist scharf darauf, mit einem Hexer, einer Missgeburt, ins Bett zu springen. Da hast du es doch viel bequemer. Du klimperst ein wenig auf deiner Laute herum, versprühst ein wenig Herzschmerz und Kitsch, und die Frauen, gleich welchen Standes, liegen dir zu Füßen wie reife Früchtchen, die du nur aufzusammeln brauchst.« Verwirrt und ein klein wenig beschämt blickte der Barde zu Boden, wobei ihm Geralts milchweiße Haare wie ein Vorhang vor das Gesicht fielen. »Komm, lass mich das machen!« Behutsam glitten Geralts Hände durch die helle Pracht, schoben das Haar nach hinten in den Nacken und fixierten es dort mit einem Band, das einen Teil des so gebändigten Haares in die Form eines straff geschnürten Zopfes zwang, der vom Kopf abstand. »Es scheint gar so, als ob wir beide ein wenig den anderen um sein Leben beneidet hätten«, murmelte Rittersporn leise. »Der eine, weil ihm das andere Leben, das er nur aus Balladen kannte, aufregender und spannender erschien, als das eigene, und der andere, weil sein Freund ein ruhiges und einigermaßen normales Leben sein eigen nannte, das er selbst nie würde führen können. Ist das der Grund, warum der Zauber bei uns gewirkt hat?« »Ich weiß es nicht, Rittersporn. Ich glaube nicht, dass dieser Zauber ursprünglich für uns gedacht war. Eher für Leo und einen seiner beiden Sprösslinge. Oder nur für - 58 - Fiona und Ranold. Wer weiß? Zumindest ist sicher, dass derjenige, der ihn hier in dieser Kammer zurückließ, eine seltsame Art von Humor hat.« »Nun, wer immer das auch gewesen sein mag, ich hoffe doch, dass mit ein wenig Glück dieser Zauber zeitlich begrenzt ist, sodass wir unsere eigene Gestalt wieder haben, bevor ...« Der Barde verstummte und erbleichte, was allerdings, aufgrund der ohnehin blassen Gesichtsfarbe des Hexers, nicht weiter auffiel. »Bevor was, Rittersporn?« »Der Wettstreit, Geralt, der Wettstreit!« Nun dämmerte es auch dem Hexer. Der Wettstreit hatte doch am Abend ihres Ankunftstages beginnen sollen, doch nach dem Stand der Sonne zu urteilen, war, bereits während ihrer gemeinsamen Bewusstlosigkeit, eine ganze Nacht vergangen. Rittersporn lief im Kreis. Ein ungewohnter Anblick für Geralt, der seines Wissens noch nie in seinem Leben dergleichen lächerlich wirkende Bewegungen vollführt hatte. Dass Rittersporn zusätzlich noch aufgeregt mit den Händen in der Luft herumfuchtelte wie ein Flatterer auf Fisstech, machte die Sache nicht gerade besser. Und mit seinem blanken Oberkörper sah er dabei aus wie einer dieser halbseidenen Jünglinge, die in den verschwiegenen Ecken von Wyzima ihren seltsamen Neigungen nachgingen und sie unverhohlen jedem Interessierten gegen harte Orens anboten. Zweifellos hätte er Rittersporn mit einer kräftigen Ohrfeige auf den Boden der Tatsachen zurückholen können, wenn er nicht in Sorge um den zarten Körper des Barden gewesen wäre, von dem er nicht wusste, wie viel Belastung dieser vertrug, bevor die ersten Knochen brachen. »Ich verstehe«, sagte er stattdessen nur lapidar. »Du verstehst? Du verstehst gar nichts!« Rittersporn griff nach Geralts schmalen Schultern und drückte sie, bis sein Gegenüber einen leisen Schmerzenslaut von sich gab und der Barde rasch die Hände zurückzog. »Verzeih mir, Geralt, ich hatte keine Ahnung, welche Kräfte du Tag für Tag bändigen musst ... Ich sorge mich nur um den Wettstreit. Denk doch daran, dass ich dort auftreten werde und du dort Schiedsrichter spielen sollst! Wie soll das gehen? Ich hab dich noch nie summen gehört, geschweige denn mit einem Lied auf den Lippen gesehen. Mein Ruf steht auf dem Spiel, verstehst du das?« Geralt legte die Stirn in Furchen. »Lass das sofort!« »Was?« »Leg die Stirn nicht so in Falten, sonst bleibt die so. Ich will meinen Körper in einem tadellosen Zustand zurück. Keine Falten!« Geralt lachte schallend. Dann klopfte es an der Tür. »Meister Rittersporn? Seid Ihr da?« Der Barde öffnete bereits den Mund, als ihn Geralt mit einer Geste zum Schweigen brachte. - 59 - »Ja, ich bin hier. Was gibt es?«, antwortete er an seiner Stelle. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht geweckt«, erklang die jugendliche Stimme – wahrscheinlich handelte es sich um Ranold – hinter der Tür. »Ich wollte Euch nur Bescheid geben, dass der Wettbewerb in etwa einer Stunde beginnen wird. Unten im Schankraum gibt es Frühstück und Kafwe für alle ...« »Danke für die Information! Wir werden rechtzeitig da sein«, flötete Geralt und fing sich dafür einen bösen Blick aus gelb-schwarzen Augen ein. »Was zum Teufel ist Kafwe?« Rittersporn gähnte. »Das ist ein anregendes Getränk aus gerösteten Bohnen einer Pflanze, die weit außerhalb der Grenzen Temeriens gedeiht. Richtig aussprechen tut man es übrigens ›Kaffee‹. Ich durfte schon einige Tassen davon kosten, als ich vor einem Jahr einer gutbetuchten Gräfin, auf meiner Laute ... ähm ... aufspielen durfte ...« »Den Rest kann ich mir schon denken«, knurrte Geralt, doch mit Rittersporns Stimmbändern klang es längst nicht so bedrohlich, wie er es gewohnt war. »Was sollen wir jetzt nur machen? So können wir doch nicht runter in den Schankraum gehen! Wie stellst du dir das vor?« »Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben, Barde!« Geralt griff nach seinem Leinenhemd und dem Wams und warf Rittersporn beides zu. »Zieh dich an, Rittersporn. Wir werden beide nach unten gehen und unsere Rollen so gut es geht spielen.« Er schnüffelte kurz an Rittersporns Achsel und entschied sich spontan, die morgendliche Toilette des Barden einmal ausfallen zu lassen. Der Barde roch noch wie ein ganzer Veilchenhain. Das sollte für heute genügen. »Es wird wohl auch besser sein, wenn ich dich ab jetzt mit Geralt anspreche und du mich mit deinem Namen. Es könnte sonst zu einiger Verwirrung führen.« »Stell dir vor«, nörgelte Rittersporn unter dem Hemd, »zu diesem genialen Schluss war ich in Gedanken auch schon gekommen!« »Werde nicht zickig, Geralt, und benimm dich gefälligst in meinem Körper. Das will heißen: keine unbedachten Bewegungen oder gedankenloses Mienenspiel. Sei einfach wie ich. Unnahbar, kühl in der Ausstrahlung und mit minimaler Mimik. Ich habe schließlich auch einen Ruf zu verlieren!« Rittersporn knüpfte das Wams zu, schulterte den Trankriemen und verstaute ehrfürchtig die beiden Schwerter an ihrem angestammten Platz. Er hatte zwar nicht vor, sich damit zu duellieren, doch sie gehörten zu dem Hexer wie die Laute zu einem Barden. »Wo wir gerade davon sprechen. Auch du solltest einiges bedenken, mein lieber Rittersporn. Geh nicht so breitbeinig wie ein Krieger. Denk dran, deine dicken Eier schaukeln jetzt in meiner Hose! Gut. Nun die Laute. He, pass doch auf! So ein Instrument ist kein Hexerstahl! Schön vorsichtig … genau so, siehst du? Und lächle doch mal! Mit einem derart sauertöpfischen Gesicht weiß die ganze Schar unten gleich, dass etwas nicht stimmt. Ja, so ist’s schon besser, aber der Gang könnte noch - 60 - etwas geschmeidiger sein. Jetzt hast du gelenkige Hüften, dann nutze sie gefälligst auch ... Na also, geht doch!« Eine gute halbe Stunde standen sie beisammen, gaben sich gegenseitig Tipps, kritisierten einander und waren, letztendlich, mit dem Ergebnis nicht ganz unzufrieden, das sie in der kurzen Zeit zustande gebracht hatten. »Es wird Zeit!« Geralt nickte, öffnete die Tür und setzte sein allerbestes Lächeln auf, das, wie er hoffte, dem Barden zum Besten gereichte. Diesem hingegen in des Hexers Körper schauderte es noch leicht, doch er verzog keine Miene und ließ sich nichts anmerken. »Was ist denn das?« Geralt bückte sich und nahm den Umschlag vom Boden auf. »Der ist für dich ...« Rittersporn erkannte die Handschrift seines Bruders. Rasch brach er mit den groben Händen Geralts das Siegel und überflog den Inhalt des Briefes. »Ich befürchte, Rittersporn«, sagte Rittersporn mit einem undefinierbarem Unterton in der Stimme, »wir haben ein weiteres Problem.« Das Lächeln auf Geralts Lippen erstarb. »Was denn nun noch?« - 61 - Kapitel X Das Spiel beginnt N icht jetzt«, murmelte Rittersporn und steckte den Brief samt Umschlag zwischen Wams und Leinenhemd, denn er sah über Geralts Schultern hinweg schon das nächste Problem auf sie zukommen: eine Gruppe munter plaudernder und lachender Barden, angeführt von seinem Bruder. »Ganz gleich, was sie dich fragen oder sagen«, flüsterte er dem Hexer zu, »gib, wenn möglich, nur allgemeine Phrasen von dir. Am besten wäre es, du würdest nur lächeln und nicken, aber bloß nicht übertreiben dabei. Mach um Meliteles Willen nur nicht den Fehler, einen von ihnen zu bevorzugen! Barden sind nachtragende Diven!« Geralt lächelte sein bestes Rittersporn-Lächeln. »Du musst es ja wissen ...« Bevor Rittersporn zu einer schnippischen Antwort ansetzen konnte, hatte der kleine Trupp Barden sie auch schon erreicht. Ansgar nickte Geralt mit einem aufrichtigen Strahlen in seinem Gesicht zu, zögerte kurz, dann umarmte er seinen Bruder. Für diesen Fall hatte Geralt keine Instruktionen von seinem Freund erhalten, sodass er nach einem Moment des Zauderns die Umarmung einfach erwiderte, was Ansgar wiederum zu erstaunen schien. »Guten Morgen, lieber Bruder!« Ansgars Stimme bebte leicht, fand aber rasch zu ihrem gewohnten Timbre zurück. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht. Dir macht es doch wohl nichts aus, wenn ich kurzerhand deinen Freund Geralt von deiner Seite entführe? Wir haben noch einiges zu bereden. Du weißt schon, JuryAngelegenheiten, nichts Weltbewegendes. Warum gehst du nicht schon nach unten und ölst deine Stimme? Wie ich gehört habe, erwarten unsere Kollegen schon mit Spannung deinen Beitrag zum Wettbewerb.« Geralt warf Rittersporn einen fragenden Blick zu. Die Panik darin war nicht zu übersehen. Der Barde schloss seine schwefeligen Augen und dachte nach. Irgendwie musste er verhindern, dass Geralt unabsichtlich seinen Ruf ruinierte, doch im Moment beanspruchte sein Bruder seine volle Aufmerksamkeit. Die Lösung dieses Problems hatte noch Zeit, denn der Wettbewerb würde ohne die Anwesenheit der Jury sicher nicht beginnen. Er sah zu, wie Geralt von den anderen Barden in ihre Mitte genommen wurde, die ihn zugleich mit dem neuesten Klatsch und Tratsch versorgten. Der Hexer lächelte tapfer, zog ab und an eine von Rittersporn Brauen in die Höhe und warf ein »Ach!« oder »Ist nicht wahr?!« in die Unterhaltung ein. Braver Junge, dachte Rittersporn, während die kleine Gruppe mit Geralt den Gang - 62 - hinabging und schließlich im Treppenhaus seinem Blick entschwand. Ansgar wandte sich Rittersporn zu. »Es ist gut, dass wir vor Beginn noch einige Augenblicke unter uns sind, Meister Geralt.« Rittersporns Miene war unbewegt. Er neigte lediglich ein wenig den Kopf und hoffte, sein Bruder würde dies als ein Zeichen der Zustimmung interpretieren, was dieser auch tat. Komm zum Punkt, Ansgar, dachte der Barde. Er kannte seinen Bruder. Er würde die nächsten Minuten damit verbringen, um den heißen Brei herumzutänzeln, bevor er endlich zur Sache kam und das ansprach, was ihm auf der Zunge brannte. Das hatte er schon als Kind gut gekonnt und damit nicht nur einmal ihre sonst so friedliebende Mutter zur Weißglut und Schlimmerem gereizt. »Ich will nicht viele Worte machen«, begann Ansgar, dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Aus sicherer Quelle weiß ich, dass einige unserer Sangesbrüder planen, den Wettbewerb zu sabotieren. Ich kenne ihre Namen noch nicht, weiß aber, dass Rittersporn eine wichtige Rolle in ihrem Plan spielt. Deshalb habe ich auch dafür gesorgt, dass mein werter Bruder nicht in der Jury sitzt, wie es zunächst geplant war, sondern Ihr. Anscheinend hat das noch nicht gereicht. Wir müssen unbedingt verhindern, dass mein Bruder singt. Es ist anzunehmen, dass er auf irgendeine Weise zum Sieger erklärt werden soll, was den Wettbewerb sicherlich sprengen würde. Unter uns«, Ansgar beugte verschwörerisch seinen Kopf so weit vor, dass Rittersporn dessen Atem am eigenen Hals spüren konnte, »Rittersporn genießt in unserer Zunft nicht gerade den besten Ruf, Ihr versteht? Futterneid. Er ist einfach zu erfolgreich und lässt alle anderen neben sich verblassen. So mancher Barde hat noch eine Rechnung mit ihm offen, von der er gar nichts weiß.« Rittersporn schloss erneut die Augen. Eine Welle der Übelkeit durchströmte ihn vom Kopf abwärts durch den ganzen Körper, bis er das Gefühl hatte, sie würde ihn im nächsten Moment von den Füßen reißen, was aber zu seiner Erleichterung nicht geschah. »Ich verstehe«, antwortete er stattdessen mit belegter Stimme. Ansgar hatte sich wirklich verändert. So offen hatte er ihn noch nie erlebt. Ob es daran lag, dass er glaubte, sich mit Geralt von Riva zu unterhalten? Würde er auch so offen mit ihm sprechen, wenn er sich in seinem eigenen Körper befunden hätte und nicht in dieser Ansammlung von Muskeln und Narben? »Was schlagt Ihr vor?« Ansgar rieb sich nachdenklich das Kinn, kratzte sich an den Nasenflügeln, bis ihn ein Geistesblitz zu treffen schien, denn er schnippte mit den Fingern und ein helles Strahlen überflutete sein Gesicht. »Ihr werdet ihn davon abhalten! Auf mich würde er nicht hören. Ich schrieb ihm einen kurzen Brief, in dem ich ihn mit knappen Worten warnte, doch Ihr habt ja seine Reaktion beobachten können, als ich eintraf. Er scheint die Warnung nicht besonders ernst zu nehmen. Euch vertraut er allerdings! Sprecht mit ihm, haltet ihn - 63 - von seinem Vortrag ab oder nehmt Euch seine Laute vor, wenn es nötig sein sollte ...« Rittersporn zuckte zusammen. »Ich glaube nicht, dass er seine Laute unbeaufsichtigt lassen würde. Sie war ein Geschenk einer Elfe aus Dol Blathanna. Er hatte sie einmal bei einer ... nun ... Schülerin in Wyzima vergessen und lässt sie seitdem so gut wie nie mehr aus den Augen.« »Dann werden wir uns etwas anderes überlegen müssen«, antworte Ansgar nachdenklich, während sie sich zusammen auf den Weg nach unten machten. Im Schankraum hatte man inzwischen die Tische so zusammengestellt, dass sie nun einem großen Hufeisen ähnelten, in dessen Mitte ein Stuhl stand, auf dem der jeweilige Teilnehmer sein Lied zum Besten geben konnte. An der Kopfseite dieses Hufeisens saßen bereits einige Barden, die augenscheinlich zur Jury gehörten, da sie, anders als ihre Kollegen, die noch eifrig dem Frühstück inklusive Kaffee zusprachen, bereits in diversen Pergamenten blätterten, die wohl für den Wettstreit von einiger Bedeutung waren. Rittersporn entging keineswegs der Blick, den sein Bruder Ansgar Ranold, dem Sohn des Wirtes, zuwarf und der von diesem zwinkernd erwidert wurde. Er glaubte auch kurz Fiona zu erblicken, die sich verstohlen umsah, bevor sie eine Gestalt in einen der Nebenräume geleitete. Wahrscheinlich war das dieser Cailin, überlegte er, dieser stumme Idiot von gestern. Mittags auf ein Feld zu gehen, um seiner Liebsten einen Blütenkranz zu pflücken, mochte zwar romantisch anmuten, doch in Gegenwart einer Mittagserscheinung war dieses Unterfangen wirklich nur ausgesprochen dämlich zu nennen. Vielleicht wäre es aber ein passender Stoff für eine tragische Ballade? Er notierte sich diesen Einfall in Gedanken. Dann erblickte er Geralt. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als er sich selbst dort inmitten der anderen Barden stehen, lachen und scherzen sah. Seine Wangen waren gerötet und seine Bewegungen erschienen fahrig, was Rittersporn auf den Becher in seiner Hand zurückführte, in dem sich heißer, noch dampfender Kaffee befand. Er kannte dieses Getränk gut. Es war, in Maßen zu sich genommen, ein anregendes Gebräu, das einem die Nächte verkürzen konnte, wenn man nicht in den Schlaf fand. Mit dem Kaffee war es jedoch wie mit der Medizin: die Dosis machte den Unterschied. Waren ein oder zwei Tassen noch anregend und erfrischend, so schlug der Effekt nach einem halben oder gar ganzem Dutzend rasch ins Gegenteil um. Und wenn er sich Geralt nun so besah, dann konnte er davon ausgehen, dass dessen zweite Tasse Kaffee schon einige Zeit zurücklag. »Kommt zu den anderen Juroren, wenn Ihr soweit seid.« Ansgar verbeugte sich förmlich und ging mit angemessenen Schritten auf den Tisch an der Kopfseite zu. Rittersporn hingegen pickte sich unter Zuhilfenahme seiner Ellbogen Geralt aus der Meute heraus und lotste ihn in eine ruhigere Ecke. »Wir müssen reden!« - 64 - »Dann fang mal an ...« Geralt schwenkte den Becher, bis die dunkelbraune, fast schwarze Flüssigkeit über den Rand schwappte. Rittersporn wand den Becher aus Geralts Hand, äugte misstrauisch hinein, schnüffelte kurz und zuckte zurück. »Verdammt!«, fluchte er. »Doppelt geröstet und dann auch noch pechschwarz. Warum hast du nicht Milch und Zucker dazugenommen?« Geralt sah ihn mit verwundertem Blick an. »Weil ich ein Hexer bin und kein Weichei!« »Wie viele Tassen hast du davon schon getrunken?« Der Hexer in Gestalt des Barden winkte verächtlich ab. »Nun stell dich mal nicht so an, Geralt«, antwortete er, wobei er seinen eigenen Namen kaum hörbar betonte, »das waren doch gerade mal sieben oder acht Tassen! Was ist schon dabei?« Rittersporn schnaubte. »Das bekommst du schon früh genug mit! Stell dich schon mal auf Herzrasen und Hitzewallungen ein, mein Lieber! Und Schlaf wirst du dann wohl auch nicht so schnell finden. Ich bin heilfroh, gerade mal nicht in meiner eigenen Haut zu stecken. Sei’s drum! Ich habe Wichtiges mit dir zu besprechen. Es geht das Gerücht um, einige Barden wollen den Wettbewerb sabotieren und du, also Rittersporn, wirst dabei eine Rolle spielen. Wir müssen dafür sorgen, dass du auf keinen Fall singst ...« »Das hatte ich ohnehin nicht vor, werter Freund!« »Du verstehst den Ernst der Lage nicht!«, zischte Rittersporn. »Wenn du nicht singst, dann ist mein ohnehin lädierter Ruf, wie Ansgar mir beteuerte, bald ganz zum Teufel. Singst du aber, dann nimmt der Wettstreit kein gutes Ende und Wolfram von Aschenbach kann folglich nur hoffen, dass er sein verbliebenes Auge nicht auch noch verliert. Von den anderen Barden mal ganz abgesehen. Ich denke nicht, dass die brave Familie des Wirts große Lust verspürt, den Boden von Blut und verstreuten Körperteilen reinigen zu müssen. Du hast ja keine Ahnung, wie scharf so eine Lautensaite sein ...« Rittersporn kam eine Idee. Er packte Geralt bei den Schultern, doch erneut etwas zu hart, denn sein Gegenüber stöhnte auf und ging leicht in die Knie. Er lockerte seinen Griff augenblicklich. »Wenn ich nachher auf dich zukomme und dich um etwas bitte, dann sträube und ziere dich erst einmal etwas, bevor du meinen Wunsch erfüllst. Hast du verstanden?« Geralt steckte den kleinen Finger in sein Ohr und rüttelte in der Muschel herum. »Laut und deutlich, mein Freund, ich bin schließlich nicht taub.« »Wir sehen uns dann!« Der Lärm im Raum hatte merklich abgenommen und die Barden nahmen allmählich ihre Plätze an den Tischen ein. Da allerdings mehr Sänger anwesend als Sitzplätze vorhanden waren, stand der Rest hinter ihren sitzenden Kollegen. Geralt, der langsam zu dem offenen Ende des Hufeisens geschlendert war, sah neben den - 65 - ganzen Minnesängern auch noch einige der verbliebenen Dorfbewohner, die sich dieses Spektakel anscheinend nicht entgehen lassen wollten. Da er aufmerksam den Gesprächen der anderen Barden zugehört hatte, ohne sich selbst allzu sehr darin verwickeln zu lassen, kannte er ganz gut die näheren Umstände des Wettstreites und vor allem, welche Personen neben Ansgar und seiner eigenen Wenigkeit darüber richteten, wer den Titel des besten Barden erringen würde. Da saß zum Beispiel der kahlköpfige und bereits in die Jahre gekommene Malin von Versfeld. Er hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich gebracht und war recht zufrieden mit seiner Stellung als Professor für angewandte Harmonik an der Universität Oxenfurt. Gerade im Moment trafen sich ihre Blicke und Geralt senkte ehrfurchtsvoll den Kopf, da er wusste, dass dieser Mann auch Rittersporn unterrichtet hatte. Anders verhielt es sich mit René de Bellegout. Ein widerlicher Kerl mit einem dürren Kinnbart, der gerade einmal aus drei Haaren zu bestehen schien. Er war jung, ehrgeizig und relativ skrupellos, was seine Methoden anging, um zu Ruhm und Ansehen zu gelangen. Sein großes Manko jedoch war sein Mangel an Talent. Jede Nebelkrähe sang besser als er, sodass er sich darauf spezialisiert hatte, andere junge Talente gegen Entgelt unter seine Fittiche zu nehmen, ihnen die Texte für ihre Balladen zu schreiben und kräftig von ihren Einnahmen, die sie durch Auftritte vor Publikum erwirtschafteten, abzusahnen. Geralt mochte ihn nicht. Wenn er jemanden in Verdacht hatte, den Wettstreit zu manipulieren, dann gehörte René de Bellegout ohne Zweifel an die Spitze seiner Liste. Der letzte Juror in dieser Reihe hatte selbst ihn überrascht, denn dabei handelte es sich um eine Frau. Eine Bardin hatte er in persona bislang nur einmal getroffen, doch auch ihm war schon die Kunde von Gwenhyfher der Schönen, wie sie genannt wurde, zu Ohren gekommen. Diese zierlich anmutende Frau mit den elfenhaften Gesichtszügen hatte es tatsächlich geschafft, ihren Platz in einer von Männern beherrschten Domäne nicht nur zu erobern, sondern zudem noch auf Dauer zu behaupten. Rittersporn war in der Zwischenzeit zur Gruppe der Juroren gestoßen und setzte sich vorsichtig, darauf bedacht, dass ihn die beiden Schwerter nicht allzu sehr störten. Er lockerte etwas den Gurt, der beide stramm auf seinem Rücken hielt, sodass sie sich seinen Bewegungen auf dem Stuhl jederzeit anpassen konnten. Geralt grinste innerlich. Malin von Versfeld erhob sich. Fast augenblicklich verstummte auch das letzte Gespräch, bis nur noch ein leises Murmeln und vereinzeltes Räuspern zu hören war. Malin sah sich um und betrachtete mit einem wohlwollenden Lächeln die Anwesenden. »Meine Lieben, ich freue mich, dass Ihr so zahlreich zu diesem Wettstreit erschienen seid, in dem wir den Besten unter uns ermitteln wollen. Eine organisatorische Notwendigkeit noch vorweg: Wer bislang die Teilnahmegebühr in - 66 - Höhe von 50 Oren noch nicht bezahlt haben sollte, kann dies innerhalb der nächsten Stunde bei unserem Gastgeber, dem ehrenwerten Leo MacDanold, nachholen. Der Preis für den besten Barden beläuft sich nach aktueller Zählung auf 7900 Oren.« Die Menge klatschte und klopfte zustimmend mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Die Regeln unseres Wettstreites erklärt Euch nun meine werte Kollegin Gwenhyfher!« Malin setzte sich, Gwenhyfher zugewandt applaudierend, zurück auf seinen Platz. Die Bardin erhob sich und legte eine Hand auf ihr Herz. Dann erhob sie ihre Stimme und Geralt spürte, wie sich bei ihrem Klang ein wohliges Gefühl in seinem ganzen Körper ausbreitete. Er war bezaubert. »Auch ich grüße alle anwesenden Barden auf das Herzlichste. Die Regeln sind kurz und einfach: Jeder Teilnehmer trägt ein Lied oder Ballade seiner Wahl vor, Thema und musikalische Untermalung sind ihm überlassen. Einzige Ausnahme ist, wenn zwei Teilnehmer dasselbe Musikstück zum Vortragen auswählen sollten. In diesem Fall muss derjenige, der als zweites singt, ein anderes Stück wählen. Es ist nicht erlaubt, den Sänger bei seiner Vorführung durch Pfiffe, Zwischenrufe oder das Werfen von Lebensmitteln oder Bierkrügen zu stören. Dies führt sofort zur Disqualifikation desjenigen, der diese schändliche Tat ausführt hat. Eine Rückerstattung der Teilnahmegebühr ist in diesem Fall aus verständlichen Gründen nicht möglich und auch nicht angebracht. Habt Ihr noch Fragen dazu?« Sie sah sich aufmerksam um, doch keiner meldete sich zu Wort. »Nun gut, dann können wir wohl beginnen ...« Geralt sah, wie sich Rittersporn in seiner Gestalt auf den Tisch aufstützte und sich langsam erhob. Formvollendet ergriff er Gwenhyfhers Hand und führte sie an seine Lippen. »Verzeiht mir, werte Gwynhyfher, dass ich Euch so ungalant unterbreche. Ich weiß, dass ich in dieser Gesellschaft der Außenseiter bin und ich empfinde es als große Ehre, dass Ihr mich in Eure Runde so wohlwollend aufgenommen habt. Daher möchte ich, Eure Erlaubnis vorausgesetzt, auch etwas zum Besten geben, wenn ich auch nie den hohen Anforderungen der hier Anwesenden genügen kann.« Gwenhyfher kicherte überrascht, entzog ihm aber nicht ihre Hand, die er daraufhin ein zweites Mal an seine schmalen Lippen führte. »Ich wüsste nicht, das etwas dagegen sprechen würde, werter Meister Geralt. Ich bin sicher, meine Kollegen sehen das ebenso!« Geralt bemerkte, wie René de Bellegout nachdenklich die Stirn in Falten legte und auch Ansgar sah man an seiner Miene an, dass er nicht wusste, wie er Rittersporns Angebot deuten sollte. Lediglich Malin lächelte und schmatzte zufrieden vor sich hin. »Ich muss gestehen«, erläuterte Rittersporn mit einem verschmitzten Lächeln, »dass ich mir in einsamen Nächten in Kaer Morhen die Zeit damit vertrieben habe, ein wenig auf der Laute zu spielen - natürlich ohne jemals die hohe Kunst und das Können eines Rittersporns erreichen zu können ...« Geralt senkte den Kopf. Trag nicht zu dick auf, Barde! - 67 - »Nun, der Rede kurzer Sinn, darum möchte ich meinen Freund Rittersporn bitten, mir zu diesem Zweck seine Laute zu borgen ...« Der Hexer zuckte zusammen. Das Spiel begann also. »Mein lieber Geralt«, antwortete er deshalb mit überraschter Miene, »ich fühle mich zwar geehrt, dass du gerade mein Instrument auserwählt hast, doch ich muss deinem Ersuchen leider eine Abfuhr erteilen. Zu wertvoll ist mir die Laute, die, wie du weißt, ein Geschenk war, wie man es nicht alle Tage erhält!« »Natürlich ist mir das bewusst, mein Freund, doch bitte ich dich, für mich eine Ausnahme zu machen.« Geralt tat, als würde er angestrengt nachdenken. Dann nahm er die Laute von seinem Rücken, betrachtete sie mit einem wie er hoffte liebevoll wirkendem Blick, seufzte theatralisch und ging langsam zum Tisch der Juroren. »Meinetwegen, Geralt, doch ich warne dich: Behandle sie gut! Vielleicht ist dies auch keine schlechte Möglichkeit, um allen hier zu zeigen, dass Hexer lieber bei ihren Leisten bleiben und uns Barden besser das Singen überlassen sollten.« Vereinzeltes Gelächter brandete auf. Rittersporn ergriff vorsichtig seine Laute aus den Händen von Geralt, der sich wieder zum Ende des Hufeisens zurückzog, um der Dinge zu harren, die jetzt folgen würden. Der Barde fand es ungewohnt, mit Geralts Fingern, die das Spielen eines Musikinstruments so gar nicht gewohnt waren, die Saiten nachzustimmen. Das Instrument kam ihm vor wie ein rohes Ei, das in viel zu kräftigen Händen gehalten wurde, aber er war ein Barde und würde auch diese Herausforderung meistern. Wäre ja gelacht! Er zupfte versuchsweise an den Seiten, was im Publikum zu leichten Heiterkeitsausbrüchen führte, während er überlegte, was er zum Besten geben konnte. Auf keinen Fall eine seiner eigenen Kompositionen, so viel stand fest. Etwas einfaches sollte es sein, nicht zu hochtrabend, eher wie die Lieder, wie sie die Hafenarbeiter in Cintra sangen. Er lächelte still in sich hinein. Nun, dann beginnen wir mal mit etwas Selbstironie! Rittersporn erhob die Stimme, summte einige Laute, während die Töne seines Musikinstruments allmählich klarer hervortraten. Mit einigen von ihm absichtlich eingefügten Misstönen natürlich, damit sein wahres Können nicht sogleich zutage trat: »Meister Rittersporn wird von vielen geschätzt im Leben hat er noch nie eine Frau versetzt Männer sehen ihn von hinten meist nur rasch entschwinden nachdem er ihnen die Hörner hat aufgesetzt nachdem er ihnen die Hörner hat aufgesetzt ...« - 68 - Rittersporn sah in die Runde, weiterhin die Melodie auf der Laute spielend. Überraschung hatte sich auf den meisten Gesichtern der anderen Barden ausgebreitet, um dann einem lauten, tosenden Beifall Platz zu machen. Einige Barden lachten Tränen und selbst in den Augenwinkeln der schönen Gwenhyfher sah er welche funkeln, wenngleich sie auch versuchte, sich ihre Belustigung nicht anmerken zu lassen. Selbst Geralt schmunzelte, obwohl er sich den Anschein von stoischer Ruhe zu geben versuchte. Rittersporn sang die Strophe noch ein zweites Mal und diesmal sangen die Barden den letzten Satz lauthals und mit Begeisterung mit, wie sie es auch bei den folgenden Strophen tun sollten. »Einst boten zwei Nonnen aus Wyzima freizügig mir ihre verhüllten Körper dar. Wollte sie gerade beglücken, als die Rechnung sie zücken: Das kostet dich dann 500 Oren in bar! Das kostet dich dann 500 Oren in bar! Ich traf mal eine hübsche Maid in Vergen. Schon lang lebte sie dort bei den Zwergen. Und es war rasch klar: Dort die größte sie war. Und das lag nicht nur an ihren zwei Bergen. Und das lag nicht nur an ihren zwei Bergen. Ich kannte eine Dame aus Tretogor; stets schickte sie ihre Magd mir vor. Sie sollte mich testen, war eine der Besten. Drum blieb die Herrin stets außen vor. Drum blieb die Herrin stets außen vor. Eine Lady stolzierte durch Oxenfurt. Jung war sie und von edler Geburt. Sie schien ohne Tadel, von ganz hohem Adel. Und doch hat sie mit mir herumgehurt. Und doch hat sie mit mir herumgehurt. - 69 - Letztes Jahr machte ich Rast in Ghelibol. Eine Stadt, die mit hübschen Frauen voll. Das Gesicht wurd’ immer länger, denn ich hatte einen Hänger. Da half über die Runden mir nur der Alkohol. Da half über die Runden mir nur der Alkohol. Aus dem Umland des schönen Beauclair kommen die herrlichsten Frauen oft her. Sie werden rasch tätlich, sind einfach unersättlich, bis ich rufe: Ich kann jetzt nicht mehr! bis ich rufe: Ich kann jetzt nicht mehr! Einmal kam ich im Sommer nach Dorian, dort machte sogleich eine Magd mich an. Kaum war runter der Rock, da kam schon der Schock: An der Magd hing unten noch was dran! An der Magd hing unten noch was dran ...« Der ganze Saal tobte, als Rittersporn nach der letzten Strophe noch einige Akkorde spielte, um das Lied abzurunden. Beim letzten Akkord geschah es: Rittersporn verstärkte unmerklich die Spannung seiner Finger und brachte zwei Saiten der Laute zum Reißen. Ein Raunen ging durch die Menge, Geralt sprang entsetzt mit theatralischem Geschick auf und eilte zu seinem Freund, um ihm die Laute mit gespielter Empörung aus der Hand zu reißen und den Schaden zu begutachten. »Ich hatte es geahnt«, jammerte Geralt ganz nach Rittersporns Art, »du und deine vermaledeiten Wurstfinger! Dir ist klar, dass ich die Saiten der Laute nicht einfach ersetzen kann, oder? Hätte ich sie dir doch nur nicht überlassen! Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich aus dem Turnier zurückzuziehen ...« Er verbeugte sich mehrmals vor den Juroren und verließ bewegt mit eiligen Schritten den Saal. Rittersporn sah ihm perplex nach und tauschte einen raschen Blick mit Ansgar aus, der ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. Er bewegte die Lippen, ohne einen Ton zu sagen, doch Rittersporn verstand ihn auch ohne Worte: Gut gemacht! Der Barde nickte ihm unbemerkt zu. Geralt war erst einmal vom Feld genommen und es blieb ihnen nur die Hoffnung, dass die Saboteure nicht noch ein Ass im Ärmel hatten, das sie auszuspielen gedachten. - 70 - Kapitel XI Hexenwerk C ailin mochte es eigentlich, wenn Fiona ihn berührte. Doch der feste Handgriff, mit dem sie ihn nun quer durch die Haupthalle des »Roten Löwen« in Richtung Küche zerrte, war für ihn zu viel des Guten. Er stieß einen unhörbaren Laut aus, der zugleich Missmut als auch Schmerz ausdrücken sollte, sich aber eher nach dem tonlosen Maunzen einer kleinen Katze anhörte. In solchen Momenten verfluchte er das Schicksal, das ihn seiner Stimme beraubt hatte. Fiona hingegen bemerkte zunächst nichts von der Pein ihres Freundes, bis sie den Seiteneingang der Küche, der zu einem kleinen, aber geräumigen Vorratsraum führte, hinter sich gelassen hatte. Das Gesicht ihres Freundes war rot angelaufen und aus seinen Augen sprangen ihr kleine Blitze entgegen. Wütend entwand er sich ihrem Griff und betrachtete seine blutleere Handfläche, in die langsam wieder der Saft des Lebens zurückkehrte, während er sie ausgiebig massierte. Erschrocken hielt sich Fiona eine Hand vor dem Mund, dann streichelte sie vorsichtig über den blonden Haarschopf ihres Geliebten, eine versöhnliche Geste, die sich zwischen ihnen im Laufe der Zeit entwickelt hatte. »Verzeih mir, Cailin«, flüsterte sie, »ich wollte dir nicht wehtun, das musst du mir glauben! Es tut mir so leid, aber du weißt doch, dass mein Vater sich immer so aufregt, wenn er dich sieht. Du hast Glück, dass er gerade mit den Barden beschäftigt ist und kaum Zeit hat, sich jeden einzelnen Gast anzusehen, der durch die Tür kommt. Was willst du überhaupt gerade heute hier?« Cailin begann beredt unter Zuhilfenahme der Hände und seiner Mimik seiner Angebeteten zu erklären, warum er trotz der Gefahr, von Fionas Vater entdeckt zu werden, den Weg in den »Roten Löwen« gesucht hatte, allerdings so schnell, dass Fiona kaum hinterher kam und ihm schließlich in die Hände fallen musste. »Nicht so schnell, mein Lieber! Ich komme ja gar nicht mehr mit. Habe ich dich jetzt richtig verstanden, dass du heute gekommen bist, weil du die Faden schwingen sehen willst …? Das ergibt doch überhaupt gar keinen Sinn …« Cailin schüttelte verärgert den Kopf und ließ erneut seine Hände und Finger sprechen, diesmal allerdings in einer auch für seine Freundin verständlichen Geschwindigkeit. Diese schlug sich lachend an den Kopf. »Ach, jetzt versteh ich! Du willst die Barden singen hören.« Die Augen des jungen Mannes strahlten, als er eifrig nickte. Seit er denken konnte, waren die Musik und die anderen Künste aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken. Begeistert lauschte er den vorbeiziehenden Sängern, wenn sie in der Stadt Rast machten, um mit ihrem Spiel ein wenig Geld für Unterkunft und - 71 - Verpflegung zu verdienen. Dass gerade die Barden es ihm angetan hatten, ging auf einen speziellen Grund zurück. War doch sein Vater, den er selbst persönlich nie kennengelernt hatte, auch ein Vertreter dieser Zunft gewesen. Von ihm hatte Cailin auch sein eigenes musikalisches Talent geerbt, denn schon von Kindesbeinen an bereitete es ihm keinerlei Schwierigkeiten, die mannigfaltigen Musikinstrumente spielen zu lernen. Ohne Mühe beherrschte er rasch jedes Instrument, welches ihm in die Hände fiel: Gekonnt zupfte er die Saiten der unterschiedlichsten Lauten, schlug er hingebungsvoll die Trommel und das Tamburin, immer im Takt der Lieder, die sich wie von selbst Note für Note in seinem Kopf zusammenzusetzen schienen. Wenn er zu den Liedern auch noch seine Stimme hätte erheben können, dann wäre er sicher wie sein Vater ein großer Barde geworden, der von innerer Unruhe getrieben durch die Lande zog, um sowohl Menschen als auch Anderlinge mit seiner Musik zu begeistern und seiner Stimme zu erfreuen. Seine Mutter, die gestorben war, als er gerade sechs Jahre zählte, hatte seine Talente bereits früh erkannt und ihn mit ihren bescheidenen Mitteln gefördert, wo sie nur konnte. Nicht selten übernachteten die jungen herumziehenden Barden, die sich ihren Ruf erst noch erarbeiten mussten, in ihrem Hause für Kost und Logis, indem sie Cailin etwas von ihrem Können lehrten. Seine Mutter selbst sang ihm stundenlang die Lieder seines Vaters vor, bis sich schließlich jeder Ton, jede Nuance davon tief in sein Herz eingebettet hatte und dort nur darauf wartete, eines Tages wieder hervorkommen zu dürfen. Leider würde er diesen Tag nie erleben, solange seine Lippen stumm blieben. Er fühlte sich deshalb manchmal wie ein nutzloses Musikinstrument, bei dem die Saiten fehlten oder wie ein unvollendetes Lied, das nie jemand singen würde. Cailin seufzte innerlich, während er nach außen hin seine Freundin anstrahlte. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Cailin ...« Bedenklich schüttelte sie den Kopf, lenkte aber rasch ein, als sie Cailins enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ist ja schon gut! Ich werde mal schauen, ob die Luft rein ist und du hier einigermaßen sicher bist.« Cailin nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Fiona kicherte überrascht und errötete, entzog ihm allerdings nicht ihre Hand, bis er sie schließlich selbst freigab. Mit beschwingtem Gang ließ sie ihn zurück. Er sah sich um, nahm einen Stuhl und stellte ihn direkt vor die Tür, welche ihn von dem großen Saal trennte, in dem der Wettstreit bald beginnen würde. Vorsichtig lehnte er sein Ohr gegen die nicht allzu dicke Tür und lauschte den Einführungsworten der Jury, als wie aus dem Nichts Fiona wieder auftauchte und Cailin einen gehörigen Schrecken einjagte. Bühnenreif griff er sich an die Brust und imitierte mit der flachen Hand ein wild flatterndes Herz. »Verzeih mir auch dieses Mal«, flüsterte sie liebevoll, nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn so sanft und süß, dass ihm fast die Sinne schwanden. »Ich bringe gute Nachrichten. Vater hat sich in seine Kammer zurückgezogen und Ranold und meiner Wenigkeit die Verantwortung übertragen. Du hast also nichts zu - 72 - befürchten, ganz im Gegenteil. Wenn du möchtest, kannst du sogar in die Hauptküche gehen und von dort auch noch einen Blick auf die Meute werfen.« Cailin sprang erfreut auf und packte Fiona an den Hüften, um sie durch die Luft zu wirbeln. Der enge Raum erlaubte allerdings nicht mehr als eine halbe Drehung, die in einer festen Umarmung gipfelte. Er war auch so zufrieden. Lachend befreite sie sich aus seinen starken Armen, in denen sie durchaus noch gern ein wenig verweilt hätte. »Eine Bedingung hab ich allerdings, mein Lieber: Sieh zu, dass du Ranold und mir nicht im Wege stehst. Es wird schon schwierig genug werden, die ganzen Männer da draußen einigermaßen in Schach zu halten, da muss ich nicht noch in der Küche ständig über dich stolpern. Verstanden?« Cailin nickte. »Gut, dass wir uns einig sind. Am besten setzt du dich neben die offene Tür. So kannst du stets einen Blick auf denjenigen erhaschen, der gerade sein Lied vorträgt, ohne selbst gesehen zu werden.« So wurde es getan. Cailin hatte sich kaum auf seinen Platz gesetzt, als auch schon Geralt von Riva aufstand, um die Runde mit einigen selbst vorgetragenen Versen zu erheitern. Lautlos lachend und mit Tränen der Belustigung lauschte er dem Lied, das der Hexer zum Besten gab, bis ihm am Ende seiner Vorstellung die Saiten barsten; ein Umstand, der den jungen Mann nachdenklich stimmte, denn bislang hatte Geralt das Instrument seines Freundes Rittersporn vortrefflich gespielt, auch wenn es für ihn den Anschein hatte, als würde er absichtlich einige Noten falsch spielen. Warum aber sollte er dies tun? Cailin verstand Rittersporns Entrüstung über das beschädigte Instrument nur zu gut, doch sein unmittelbar folgender Abgang wirkte in seinen Augen etwas aufgesetzt. Es blieb ihm allerdings nicht viel Zeit, um darüber länger nachzudenken, da schon der nächste Barde, ein junger Kerl mit roter Mähne und gesprenkeltem Gesicht, vortrat, um sein Lied vorzutragen. Gespannt lauschte er den ersten Akkorden und ließ sich dabei auch nicht von Fiona stören, die mit einem Tablett leerer Krüge durch die Tür huschte und seinen Kopf dabei nur knapp verfehlte. Er würde besser aufpassen müssen. Nun lehnte er sich zurück, schloss die Augen und ließ sich ganz und gar von der Musik gefangen nehmen. »›Alsdann, im fahlen Morgenlicht ...‹ der edle Dichter zu uns spricht. Auf einem Fels wie einem Thron sitzt der Meisterbarde Dandelion. Das Publikum, es lauscht gespannt wie er die Mär in Verse bannt. Die Laute hält er und dann singt von Leid, das nur die Liebe bringt: - 73 - ›Alsdann, im fahlen Morgenlicht, die Sonn’ die kalte Nacht durchbricht sieht man, derweil die Erd’ sanft schweigt, einen Zwerg, zu Übermut er neigt. Er lacht, frohlockt und ist gar toll, ihm läuft das Herz so übervoll, da, was es auch bei Zwergen gibt, er deutlich spürt: Ich bin verliebt!‹« Das Lied handelte von der Liebe eines Zwerges zu einer schönen Elfin, die sich ihm voller Lust hingibt, aber nur mit seinem Herzen spielt, da sie seine Gefühle nicht erwidert. »›Die Blumen ruhen jetzt in der Gosse, vorbei ist nun die schändlich’ Posse, zum Narren hat sie ihn gemacht, was ihn um den Verstand gebracht. So sitzt er in der dunklen Ecke schärft sein Messer zu dem Zwecke, dass er sich, gänzlich ohne Paus’, damit das Herz schneide heraus. Die Arbeit ist dann rasch getan, noch einmal fällt ihn Trauer an, derweil in seiner blutigen Hand, das Verräterherz die Ruhe fand. Auch die Elfe zahlt zuletzt den Preis für ihren Betrug, wie sie nun weiß; mit einem bitter-süßen Schmerz trifft des Verlobten Schwert ihr Herz. So hauchen fast auf die Sekunde beide aus in dieser Stunde ihr Leben, das nur kurz vereint, und um das nun keiner weint …‹ - 74 - Der letzte Ton, ein sanft Akkord, trägt Trauer bis zum See hinfort. Es ist ganz still, kein Wort im Wald - bis tobender Applaus erschallt! Die Menge jubelt und umringt den Dichter, der vom Felsen springt. ›Er lebe hoch!‹, ein jeder meint, ›Nie hab ich im Leben so geweint.‹« Auch in Cailins Augen sammelten sich die Tränen, welche sich allmählich ihren Weg über seine schmalen Wangen bahnten und schließlich an seinem Kinn wieder vereinten. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich die Nässe aus dem Gesicht. »Wahrlich, eine schöne Ballade. Nur schade, dass der Rotschopf sie nicht selbst geschrieben hat.« Cailins Kopf ruckte herum. Hinter ihm stand der Barde Rittersporn und deutete eine leichte Verbeugung an. »In Wahrheit hat kein anderer diese Ballade geschrieben als meine Wenigkeit. Frag ruhig Geralt, der war dabei, als ich mir über Versmaß und Inhalt den Kopf zerbrach. Für die deftigen und etwas delikaten Stellen im Lied ist er sogar verantwortlich. Du glaubst gar nicht, was er einem alles von seinen amourösen Abenteuern erzählt, wenn er erst ein paar Krüge Bockbier zu viel hatte. Ich könnte ein ganzes Buch schreiben mit seinen Liebschaften. Unter Pseudonym, versteht sich.« Der Junge runzelte die Stirn und stellte Rittersporn mit seinen Händen eine Frage, die der zu seiner Überraschung sofort verstand. »Warum ich nichts dagegen habe, dass der Rotschopf mein Lied singt? Nun, in den Statuten ist nirgends vermerkt, dass man nur eigenes Liedgut verwenden darf. Außerdem, schau ihn dir doch an: Er ist jung, unerfahren und seine Hände zittern noch vor Aufregung. Er muss sich seinen Rang unter den Barden erst noch erkämpfen. Mit eigenen Kompositionen und mehr Selbstvertrauen. Auch ich habe mein Repertoire zunächst aus dem Kanon anderer berühmter Barden geschöpft. Ganz unter uns«, ein breites Grinsen erschien auf des Barden Gesicht, »der gute Rittersporn war zu Beginn seiner Karriere auch nicht besser als der da!« Munter stellten Cailins Hände die nächste Frage. »Aha, war es so auffällig? Ich muss zugeben, selbst ich fand meinen Abgang etwas zu theatralisch. Doch es war die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass ich singen muss. Ich verrate dir ein Geheimnis, junger Cailin, da ich weiß, dass du es niemandem sagen wirst: Ich bin gar nicht der Barde Rittersporn, sondern der Hexer Geralt!« Cailin stutzte und starrte den Barden an, der ihm verschmitzt zuzwinkerte, bevor er mit einer großen silbernen Servierplatte in den Vorratsraum verschwand, wo er - 75 - ihn geräuschvoll hantieren hörte. Was sollte das gerade? Hatte ihn der Barde an der Nase herumführen wollen? Bestimmt hatte sich Meister Rittersporn nur einen kleinen Scherz mit ihm erlaubt, denn er konnte unmöglich der Hexer Geralt sein, weil dieser doch unübersehbar am Richtertisch saß und angestrengt den Vorträgen der unzähligen Barden lauschte. Schließlich tauchte Rittersporn wieder auf, mit beiden Händen ein voll beladenes Tablett balancierend. Ein riesiges Stück Fleisch vom Schwein, eine ganze Hammelkeule, diverse Tiegel mit aromatischen Soßen, unzählige in Fett gebackene Kartoffeln, etwas Schmalzgebäck und einige Früchte der Saison thronten darauf. Cailins Augen weiteten sich und er konnte nicht anders, als dem Barden diese Frage zu stellen. »Nein, ich verstecke keine Privatarmee in unserer Kammer! Das ist alles für mich, ein kleiner Imbiss, du verstehst?« Der Barde sah den zweifelnden Blick des Blondschopfes und folgte der Richtung, den dieser nahm. »Nun hör Mal, junger Freund, was starrst du mir so auf den Arsch? Der ist knackig, wie es sich gehört. Ich habe nun mal einen, äh, unglaublichen Stoffwechsel, wie ein Kolibri! Was kann ich dafür, dass du nicht weißt, was ein Kolibri ist? Komm, nimm den und gib Ruhe. Für einen Stummen bist du äußerst geschwätzig, finde ich.« Cailin fing den Apfel, den ihm Rittersporen mit einer schlenkernden Handbewegung zuwarf, ohne den Inhalt des Tabletts dabei auch nur ins Wanken zu bringen. Er grinste und biss in die süße Frucht, deutete nun seinerseits eine leichte Verbeugung an, die von dem Barden nur mit einem Schnaufen quittiert wurde, das allerdings mehr amüsiert als verärgert klang, dann wandte Cailin sich wieder dem Geschehen in der großen Halle zu. Er hatte durch die Unterhaltung mit Meister Rittersporn einige Lieder verpasst, doch das war zu verschmerzen, denn die wahren Größen hatten ihren Auftritt erst noch vor sich. Cailin bemerkte nicht die Gestalt, die sich aus dem Schatten am anderen Ende des Raumes herausschälte, kaum das Rittersporn die Küche verlassen hatte, und die nun langsam näher kam, unbemerkt und mit ungewissen Absichten. - 76 - Kapitel XII Kein Wein, ein Weib und viel Gesang D ie Lieder, die nun in der großen Halle gesungen wurden, ähnelten sich alle auf gewisse Weise. Es gab darunter keines, das nicht frohen Mutes jenen zotigen und leicht schlüpfrigen Grundton übernahm, mit dem Rittersporn, in Geralts Gestalt, den bunten Reigen der fröhlichen Verse eröffnet hatte. Natürlich wurden auch sanfte und einige schwermütige Balladen gesungen, die jedoch die Stimmung im Saal nur allzu schnell zu trüben begannen, sodass lauthals nach munteren Weisen und frischem Bier verlangt wurde; eine Aufforderung, der sowohl Fiona als auch ihr Bruder nur allzu gerne nachkamen. Ranold war es schließlich auch gewesen, der die grandiose Idee gehabt hatte, zwei oder drei Fässchen Bier in den Saal zu rollen, statt sich bei jeder neuen Runde in die Küche oder gar den Keller begeben zu müssen, um die stets ausgedörrten Kehlen der versammelten Sänger ausreichend befeuchten zu können. Fiona war das nur recht. Es hatte zudem noch den Vorteil, dass ihr Cailin vollkommen ungestört in der Küche verweilen konnte, ohne von der Musik abgelenkt zu werden, weil sie etwas besorgen musste. Ab und an verlangte einer der Gäste nach einem Kanten Brot oder etwas Käse (einige sogar nach geröstetem Schweinebauch, den sie nicht hatten), doch dies kam nur selten vor, sodass Fiona ihre Besuche der Küche in letzter Zeit leicht an einer Hand abzählen konnte. »Ihr seid doch alle Schweine«, murmelte Fiona verbissen in ihren nicht vorhandenen Bart, während sie ein Tablett mit frisch gezapftem Bier mit ihrer rechten Hand balancierte, mit der linken die begehrlichen Pfoten der Barden abwehrte und dabei noch lächelte und strahlte, als sei sie nicht bei der Arbeit, sondern bei einem Picknick mit Freunden. Wenn sie könnte, wie ihr manchmal innerlich zumute war, so würde so mancher Krug am Kopfe eines dieser unverschämten Lüstlinge zerbrechen. Zum Glück war ihr Cailin in dieser Hinsicht ein ganz anderes Kaliber. Sanft, freundlich, zwar von Natur aus recht schweigsam, doch welche Frau wünschte sich nicht einen Mann, der zuhören konnte? Zumindest widersprach er ihr nicht, wenn auch nicht mit Worten, aber zur Not konnte sie ja einfach die Augen schließen, wenn das Gefuchtel seiner äußerst beredten Hände ihr wieder einmal zu viel wurde. Ohne Zweifel, mit Cailin hatte sie einen guten Fang getan, von dem sie nur noch ihren Vater überzeugen musste, der aus einem ihr unbekannten Grund vehement eine tiefe Abneigung gegen Cailin an den Tag legte. Mehr als einmal hatte sie versucht, dieses Geheimnis zu ergründen, doch ihre mit Vorsicht gestarteten Vorstöße waren stets an einer eisigen Mauer des Schweigens und der Ablehnung zum Erliegen gekommen. Sei’s drum. Eines Tages würde ihm nichts anderes mehr - 77 - übrig bleiben, als ihr die Wahrheit zu sagen, wenn er es nicht riskieren wollte, dass sie und Cailin – als allerletzten Ausweg – gemeinsam die verfluchte Stadt verließen und in Wyzima zusammen ein neues Leben begannen. Dort lebte eine ihrer liebsten Tanten, die ihnen sicherlich die erste Zeit aushelfen würde, bis sie auf eigenen Beinen stehen konnten, denn ihr Hang zur Romantik und ihre Vorliebe für seichte Liebespoesie war in der ganzen Familie bekannt. Und gefürchtet. »Heda! Weg mit der Pfote! Dieser Hintern ist schon einem anderen versprochen!«, blaffte sie und ließ einen leeren Krug auf die vorwitzige Hand des Barden niedersausen, der es gewagt hatte, nicht nur ihren Po zu berühren, sondern auch ganz ungeniert seine Finger unter ihr Kleid wandern zu lassen. Mit Genugtuung hörte sie seinen leisen Aufschrei des Schmerzes und das Geräusch von gebrochenen Knochen. Selbst schuld, dachte sie grimmig, das wird dich lehren, deine Hände bei dir zu behalten! Rasch schlüpfte sie zwischen zwei weiteren Barden hindurch, denen das Schicksal ihres Minnebruders nicht verborgen geblieben war und deren, ebenfalls nicht gerade keuschen Hände, nun rasch in den eigenen Schoß wanderten, während sie sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrten und putzige Maulaffen feilboten. »So ist’s recht. Vielen Dank, die Herren!«, sprach sie laut und setzte ihr gewinnendstes Lächeln zur Schau, als wäre rein gar nichts geschehen. Cailin war so in die Musik und den Gesang der Männer versunken, dass er jene Gestalt aus dem Schatten hinter ihm erst bemerkte, als sich ihre dürren Finger bereits in seine Schulter bohrten. Zum zweiten Mal an diesem Tag flatterte ihm das Herz bis an den Hals, doch diesmal zitterten seine Hände viel zu sehr, um seinem Gefühl Ausdruck verleihen zu können. Er zuckte zurück, fiel unsanft vom Stuhl zu Boden und hätte gleich darauf mit einem markerschütternden Schrei, sofern er dazu in der Lage gewesen wäre, sicherlich den Wettbewerb im Saal sofort zum Erliegen gebracht. Cailin spürte, dass diesmal nicht viel gefehlt hatte, um ihn im nächsten Augenblick vor das Angesicht seiner Ahnen treten zu lassen. Zum Glück war es, den Göttern sei Dank, nicht soweit gekommen. Die Hand schützend vor sein Gesicht haltend, blickte er zitternd auf, um einen Blick auf die Person zu erhaschen, die ihn fast ins frühe Grab gebracht hätte. Die alte Grid Mole! Mit einem bedauernden Ausdruck in ihrem faltigen Gesicht beugte sie sich zu ihm hinab, was ihr aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters sicher nicht leicht fiel, und reckte ihm entschuldigend ihre runzlige und mit Altersflecken überzogene Hand entgegen. Nach kurzem Zögern griff er danach und ließ sich bereitwillig von der alten Krämerin aufhelfen. Ihr Griff war fest und stark, was den Jungen wunderte. Auch fühlte sich ihre Haut beileibe nicht faltig an. Ganz im Gegenteil. Wenn er die Augen schloss, dann konnte er sich durchaus der Illusion hingeben, es - 78 - wäre die zarte Hand Fionas, die ihn umfasste, und nicht die schwielige und ungepflegte Pfote der alten Vettel. »Du musst mir runzligen, dummen Frau verzeihen«, flüsterte sie heiser und entblößte bei ihrer Version eines Lächeln eine Doppelreihe schwarzer Zahnstumpen, die so widerlich anzusehen waren, das Cailin kurz davor stand, sein nicht gerade üppiges Frühstück mit Freuden wieder von sich zu geben. Da die alte Grid nicht viel von Zahnpflege zu halten schien, stank ihr Atem dementsprechend. Dies war der erste Moment in seinem Leben, wo er die Besinnungslosigkeit einem weiteren Schwall Luft aus Grids Maul vorgezogen hätte. Selbst tot zu sein, wäre wohl eine mögliche Erlösung gewesen. Ein Kribbeln zog sich durch seinen Körper, das irgendwo in seinen Zehen begann und langsam seine Extremitäten empor kroch, das Rückgrat kitzelte und schließlich in seinen Haarspitzen ankam, wo das Kribbeln mit einer kleinen, Blitzen nicht unähnlichen Entladung endete. Danach war alles anders. Zum ersten Mal vermochte er hinter die Miene der alten Frau zu sehen und erkannte, dass diese nur Lug und Trug war. Wo er zuvor noch verfaulende Stumpen erblicken konnte, sah er nun zwei Reihen der schönsten Zähne, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatten die Farbe von funkelnden Perlen. Auch ihr Mund war nun ein anderer. Voll und sinnlich, voll süßem Atem, schwebte er nur eine Spanne von seinem eigenen entfernt, zum Küssen nah, während ein belustigter und nicht unfreundlicher Blick aus smaragdgrünen Augen auf ihm ruhte, der aber im nächsten Moment einer Art Verwunderung Platz machen musste, die schließlich in überraschtes Staunen überging. »Du kannst mich sehen!« Eine Feststellung, keine Frage. »Du siehst tatsächlich, was wirklich ist und lässt dich nicht von dem Schein täuschen, den ich so gründlich gewoben habe.« Cailins Hände formten eine Frage, doch Grid Mole schüttelte nur entschieden den Kopf, wobei sich aus ihrer Haube einige Locken mit kupfern schimmerndem Haar in der Farbe frischer Kastanien lösten. »Nein, Cailin, lass deine Hände ruhen. Nun, da du die Wahrheit erkannt hast, brauchst du deine Hände nicht mehr, um mit mir zu sprechen. Denke deine Frage und ich werde dir antworten, sofern es in meinem Interesse liegt.« Wer bist du? »Du kommst gleich zum Punkt, nicht wahr, mein Junge?«, sie lächelte erfrischend. »Leider kann ich dir diese Frage nicht beantworten. Nicht zu diesem Zeitpunkt! Was ich dir allerdings verraten kann ist, dass ich nicht Grid Mole bin, es nie war. Ich bin eine Zauberin, wie du dir sicherlich schon gedacht hast.« Cailin nickte zustimmend. »Ach Cailin, so jung und schön. Du hast die Augen deines Vaters, wusstest du das?« Cailin schnappte nach Luft und riss die soeben angesprochenen Augen weit auf: Du kanntest meinen Vater? Woher? Wie war er? Was ist mit ihm geschehen? - 79 - »Nicht so viele Fragen auf einmal, Junge! Mein Kopf dröhnt ja schon wie die Glocken von Wyzima! Eins nach dem anderen. Natürlich kannte ich deinen Vater. Sehr gut sogar. Du hast nicht nur seine Augen von ihm«, sanft strich ihre Hand durch Cailins Haar, der kurz zurückzuckte, dann aber doch geschehen ließ, was er selbst Fiona untersagt hatte: vorsichtig legten die Hände der Zauberin seine Ohren frei, die beide mit sanftem Schwung in einer Spitze endeten. »Verleugne nicht das Erbe deiner Vorväter, Cailin. Es ist keine Schande, anders zu sein, vor allem nicht, wenn die Herkunft so edel ist wie in deinem Fall. Hat dir deine Mutter nichts über Leolas erzählt? Nein, deiner offenen Miene zufolge nicht. So höre, Cailin, Sohn des Leolas, dass dein Vater der Sohn eines Königs der Elfen war; zwar nur der dritte in der Reihe der Thronfolger, aber immerhin. Während seine beiden Brüder stets danach trachteten, ihrem Vater zu beweisen, wer von beiden geeigneter war, ihm auf dem Thron zu folgen, interessierte sich Leolas immer nur für die schönen Dinge des Lebens: für Poesie, Musik und die Minne. Er würdigte Schwert und Rüstung keines Blickes, sondern lernte stattdessen die Laute, übte seine Stimme und schrieb wunderschöne Lieder, von denen du sicherlich einige kennst.« Cailin nickte. Er konnte es nicht fassen. Er sollte von edlem Geblüt sein, der Sohn eines Prinzen? Und seine Ohren, die er stets für eine Missbildung der Natur gehalten und die seine Mutter ihn stets verbergen geheißen hatte, bewiesen dies? Er war ein Elf? Tausende Fragen schwirrten gleichzeitig durch seinen Kopf, fast hielt es ihn nicht mehr auf seinem Stuhl. Doch die Zauberin legte ihm sanft ihre Hände auf die Schultern und beruhigte ihn damit. »Ich weiß, du hast viele, so viele Fragen, aber lass mich zunächst zu Ende erzählen, dann klärt sich so einiges von allein. Ja, du bist nicht nur ein Elf, du bist der Sohn eines Prinzen und damit selbst einer, auch wenn einiges an menschlichem Blut durch deine Adern fließt. Du vereinst das Beste beider Welten in dir und auch das Schlechteste. Nur du entscheidest, was sich Bahn brechen wird, und wenn ich mir dich so anschaue, dann hast du deine Wahl schon vor langer Zeit getroffen.« Noch einmal strich sie über sein Haar, recht zärtlich, wie es schien, dann fuhr sie fort: »Ich lernte deinen Vater zu einer Zeit kennen, als er das Schloss seiner Ahnen bereits seit Jahren verlassen hatte, um in die Welt hinauszuziehen und sich ganz der Musik zu verschreiben. Er hatte der Krone, die ohnehin nie sein Haupt schmücken würde, den Rücken gekehrt und war auf seiner Reise schließlich hier in Carinthia gelandet, wo ich ihn das erste Mal traf und mich sogleich in ihn verliebte. Wie das grausame Schicksal es jedoch fügte, so empfand er für mich nicht mehr als freundschaftliche Gefühle, während sein Herz an eine junge Frau verloren war, die ...« Meine Mutter! Ein Schauer überkam ihn. »Ja, du Naseweis, deine Mutter! Und nun unterbrich mich nicht, oder möchtest du die Geschichte nicht zu Ende hören? Dachte ich es mir doch. Nun gut, er liebte deine Mutter, war ganz vernarrt in sie, so wie sie auch in ihn. Doch ihr Vater war gegen eine Beziehung, vor allem, da sich noch ein anderer für sie interessierte. - 80 - Dann wurde deine Mutter jedoch schwanger und es war abzusehen, wer der Erzeuger des Kindes sein würde. Bevor die Stadt von der Schande, die seine Tochter über ihn gebracht hatte, erfahren würde, sorgte ihr Vater dafür, dass Leolas die Stadt verlassen musste und seine Tochter ihr Kind, also dich, in der Fremde bekam und nie mehr nach Carinthia zurückkehren sollte. Ich muss zugeben, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Ich neidete den beiden ihr Glück und sprach einen Zauber über deinen Vater, dass sein Talent, seine Stimme ihm und seinen Nachkommen nur Unglück bringen sollte. Und so geschah es.« Bedeutet das etwa, dass es an dir liegt, dass ich … Die Zauberin nickte langsam und Cailin sah ihren Augen an, dass sie wohl mehr als einmal ihre Entscheidung bereut hatte. »Ja, Cailin, es ist meine Schuld, dass du nicht sprechen und somit auch nicht singen kannst.« Der Junge ballte die Fäuste, entspannte sich aber schon kurz darauf wieder. Welchen Zweck sollte es auch haben, wütend auf die Zauberin zu sein? Man konnte ja doch nichts ändern. »Wer behauptet, dass man daran nichts ändern kann? Ein Zauber wurde gesprochen, ein Zauber kann auch wieder gebrochen werden!« Cailins Kopf flog empor, sein Blick voller Hoffnung und Zweifel zugleich. Die Zauberin wehrte mit beiden Händen ab. »Gemach, gemach, Prinz, so einfach ist es nicht. Leider hat sich der Zauber von damals mit einem anderen verwoben, der ebenfalls hier in der Stadt ausgesprochen wurde. Wiederum von mir, wie ich zu meinem Leidwesen zugeben muss. Sie können nur zusammen aufgehoben werden. Doch ich glaube, in diesem Fall ist der eine Zauber die Lösung für den anderen. Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht!« Er beobachtete, wie die alte Grid zurück in die Schatten huschte und nach kurzer Zeit mit einem großen Bündel zurückkam. »Nimm dies, es gehört von Rechts wegen dir! Du wirst es brauchen können ...« Cailin nahm das eng geschnürte Päckchen an und öffnete es. Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm den Atem. So etwas schönes hatte er noch nie gesehen. Das soll alles wirklich mein sein?, fragte er in Gedanken und presste das Bündel fest an seine Brust, als habe er Angst davor, man könne es wieder von ihm fort nehmen. »Ja, es ist alles dein. Einst gehörte alles darin deinem Vater und er hätte es sicherlich gut geheißen, dass sein Sohn diese Dinge erhält. Du bist schließlich sein einziger Erbe.« Mein Vater ist tot ... Ein nie erlebtes tiefes Gefühl der Trauer ergriff ihn, obwohl er in seinem Inneren schon lange gewusst hatte, dass dem so war und gar nicht anders sein konnte. Die Gewissheit nun traf ihn wie ein Schlag vor der Brust. Er rang nach Luft, um sie dann in einem langen Seufzer wieder von sich zu geben. Er weinte nicht. Er würde damit warten, bis er später allein war, denn diese Art der - 81 - Trauer wollte er mit niemandem teilen, noch nicht einmal mit Fiona. Dieses Gefühl gehörte nur ihm. Die Zauberin nahm ihn in den Arm, drückte ihn fest an sich, bis der Geruch nach altem Schweiß und Mottenkugeln, der ihrer Kleidung anhaftete und zu seinem Bedauern nicht auf Zauberei beruhte, ihm fast die Sinne schwinden ließ. Gerade noch rechtzeitig entließ sie ihn aus ihrer Umarmung. Ein Kribbeln, ähnlich dem von vorhin, erfasste ihn. »Nun wird es aber Zeit, dass wir dich für den letzten Akt präparieren, mein Junge!« »Der letzte Akt? Was meinst du damit?« »Sieh an, er hat schon begonnen«, lächelte die Zauberin und ließ in Gedanken den lange verschlossenen Erinnerungen an Leolas ihren Lauf. Sein Sohn sah nicht nur haargenau so aus wie sein Vater, sondern verfügte auch über seine wundervolle Stimme, die noch einen Augenblick glockenhell in der Weite der Küche nachhallte, bis auch ihr Klang nur noch eine verblassende Erinnerung war. Hätte Triss Merigold in diesem Moment einen Handspiegel zur Hand gehabt, so hätte sie sich wahrscheinlich über die Tränen gewundert, die sich klammheimlich in die Winkel ihrer Augen gestohlen hatten. - 82 - Kapitel XIII Alles hat ein Ende … nur ein Wurm hat zwei G eralt langweilte sich. Wer ihn nicht genau kannte, sah es ihm kaum an, lediglich ein gelegentliches Zucken seiner Mundwinkel hätte ihn verraten können. Eigentlich war es, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch nicht wirklich der Hexer, der sich langweilte, sondern vielmehr sein innerer, recht unfreiwilliger Gast mit dem Namen Rittersporn. Zu gerne hätte er auch so rigoros gegähnt wie René de Bellegout neben ihm, dessen Kopf zeitweilig schon auf die Tischplatte gesunken war. Zur Zeit, als wäre dem guten René der Kopf zu schwer geworden, ruhte dieser seitlich auf seiner Schulter. Ein kaum sichtbarer Speichelfaden bahnte sich seinen Weg von dem Mundwinkel, in dem er entstanden war, hinunter zum Kinn. Verfluchte Mutantenaugen!, schimpfte Rittersporn innerlich. Mit denen sah man wirklich mehr als einem lieb war! Der Bardenwettstreit zog sich in die Länge wie eine der berüchtigten Reden von König Foltest, mit denen er jedes Jahr aufs Neue die geladenen Gäste zur Feier seiner Geburt langweilte. Kein Wunder, dass auffällig viele dieser Gäste im darauffolgenden Jahr irgendeine Ausrede vorschützten, um nicht wieder an den Feierlichkeiten teilnehmen zu müssen. Einer sollte Gerüchten zufolge sogar seinen Tod vorgetäuscht haben, doch Rittersporn konnte nicht sagen, ob dies wirklich den Tatsachen entsprach. Erwähnenswert an der Geschichte war nur, dass besagter Gast nach der Feier tatsächlich tot in seiner Kammer aufgefunden wurde. Er sah sich um. Auch den anderen Barden ging allmählich, aber sicher die Luft aus. Viele hatten es Bellegout gleich getan und schnarchten ungeniert vor sich hin. Die Lieder wurden zusehends lustloser vorgetragen, zumindest von den jüngeren Vertretern ihrer Zunft, die noch neu im Gewerbe waren. Die älteren, die um ihren Ruf besorgt waren und dazu auch allen Grund hatten, gaben sich wesentlich mehr Mühe und schafften es auch, die zusehends lethargisch werdende Zuhörerschaft zumindest für die Dauer ihres Auftritts wieder etwas aufzuheitern. Malin von Versfeld schmatzte zufrieden vor sich hin. Wahrscheinlich gingen die vorgetragenen Balladen bei ihm in das eine Ohr rein und beim anderen wieder raus, dachte Rittersporn belustigt. Dazwischen hingegen gab es wohl nichts als Leere, in der der einzelne Wunsch nach einem warmen Bett, einer guten Mahlzeit und einer willigen Maid, sofern sich seine Lenden noch an ihre Möglichkeiten erinnern konnten, ungehört herumirren mochte. Malin war ein Opportunist, wie er im Buche stand, das wusste der Barde noch aus seiner Studienzeit; er hatte selten eine eigene Meinung und würde am Ende, wenn es um die Entscheidung beim Wettbewerb ging, sicherlich sein Fähnchen mit dem Wind flattern lassen. Nicht auffallen, sich - 83 - niemanden zum Feind machen. Ganz anders hingegen stand es um Ansgar und die schöne Gwenhyfher. Beide lauschten interessiert, machten sich Notizen und lächelten jedem Teilnehmer freundlich zu, nachdem sie ihren Vortrag beendet hatten. Verdammt, die schöne Gwenhyfher trug ihren Beinamen nicht zu Unrecht! Rittersporn ertappte sich mehr als einmal dabei, wie er zu ihr hinüber schielte. Das blieb nicht unbemerkt. Auch die einzige Jurorin warf ab und an einen kurzen Blick auf den stattlichen Hexer, der neben ihr saß. Einmal trafen sich ihre Blicke sogar und Rittersporn spürte, wie die Hitze in ihm aufstieg und chemische und andere Prozesse in dem für ihn immer noch ungewohnten Körper in Gang setzte, die er nicht kontrollieren konnte. Er war ganz froh, dass er gerade saß, denn im Stehen, nun ja, wäre wenigstens eine besondere Regung von Geralts Leib mit Sicherheit nicht lange unentdeckt geblieben. Warum Gwenhyfher? Er erinnerte sich noch allzu gut an ihr letztes Zusammentreffen. Er hatte wie immer seinen Charme spielen lassen, seine vielen Vorzüge ins Spiel gebracht und sogar eine zu Herzen gehende Ballade für sie geschrieben, die sie allerdings kaltherzig vor seinen Augen in der Luft in Fetzen gerissen hatte. Sie hatte ihn einen arroganten Schnösel genannt, einen selbstverliebten Pfau, der sofort, wenn die Natur ihm diese Möglichkeit offerieren sollte, nur noch sich selbst besteigen würde. Und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre und sie die letzte Frau, würde sie mit Vergnügen von der nächstbesten Klippe springen, nur um seine Stimme nicht mehr hören zu müssen. Und das Ende vom Lied? Er war hinterher noch verrückter nach ihr, als zuvor. Wer wäre das auch nicht? Was für ein Temperament! Was für eine Leidenschaft! Und erst dieser pralle Hintern und diese wunderbaren, weichen … Rittersporn griff rasch nach dem Humpen mit frischem Bier. Am liebsten hätte er sich dessen Inhalt vorne in die Hose gegossen, um Geralts bestes Stück ein wenig abzukühlen. Doch vor all den Anwesenden blieb ihm nur ein tiefer Schluck übrig, der wunderbar erfrischend seine Kehle hinunterrauschte. Er hatte noch nie einer Frau widerstehen können, die er so offensichtlich nicht die Seine nennen durfte. Die Zahl derer, auf die dies zutraf, konnte er allerdings bequem an einer Hand abzählen, denn am Schluss hatte er sie alle gehabt, außer Triss (ganz im Vertrauen fürchtete er sich zu sehr vor diesem Weib, sodass sich bei ihm rein gar nichts regen wollte; sicherlich ein Abwehrzauber ihrerseits), Foltests Frau (er hing halt an seinem Kopf und dessen festem Platz auf seinem Rumpf) und eben der schönen Gwenhyfher, für die Könige bereit waren zu sterben, wenn sie es wünschte. Das Schicksal war ungerecht. Wahrscheinlich würde sie mit Geralt sofort die Laken teilen und sich hinterher jede einzelne seiner verschwitzten Narben ansehen und sich die Geschichten, die sich hinter ihnen verbargen, von ihm erzählen lassen. Hexer müsste man … aber heda, er war ja der Hexer! Zumindest im Augenblick. Vielleicht ergab sich ja doch noch ein … - 84 - Der Applaus für den letzten Teilnehmer ebbte ebenso schnell ab, wie er aufgebrandet war, sodass am Ende nur noch das begeisterte Klatschen der Hände von René de Bellegout zu hören war, der spontan aufgesprungen war und nicht einmal bemerkte, wie lächerlich er dabei wirkte. Mit Sicherheit handelte es sich bei diesem Sänger um einen der armen Teufel, der mit Bellegout einen Sangeskontrakt eingegangen war und der dem Juror nicht unbeträchtliche Teile von dessen Einkommen sicherte, wenn nicht sogar alles. Fast achttausend Oren waren ja auch kein Pappenstiel. Gewiss würde René dafür Sorge tragen wollen, dass einer seiner Schützlinge gewann. Nun, zum Glück hatten da sowohl Ansgar als auch Gwenhyfher und er noch ein gewichtiges Wort mitzureden. Nichts liebte Rittersporn mehr als die Aussicht, diesem untalentierten Banausen kräftig in die Suppe spucken zu dürfen. »War das der Letzte?«, fragte sie. Sein Bruder und Gwenhyfher stapelten ihre Notizen. Malin schreckte sichtlich aus seinem Dämmerzustand auf. »Ich denke schon«, antwortete Ansgar und lächelte. »Dann können wir uns gleich zurückziehen und darüber abstimmen, wer nun gewonnen hat. Leicht wird es nicht, dazu sind ...« Ansgar wurde unterbrochen. Der Klang einer Laute ertönte und eine Melodie, so sanft wie ein taubedeckter Morgen, schwebte durch die Räume. Hatten zuvor noch Gemurmel und knarrende Geräusche von Holz auf Holz in der Luft gelegen, so verharrte nun alles in Stille. »Woher kommt die Musik?«, verlangte Malin zu wissen. Die anderen sahen sich nur an. Sie hatten keine Ahnung. Es war ihnen auch gleich. Zu sehr nahm sie dieses federleichte Spiel der Saiten gefangen. Dann begann eine Stimme zu singen und Rittersporn wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wann er angefangen hatte, die Kontrolle über Geralts Gesicht zu verlieren. Er spürte nur, wie seine Wangen nass wurden und Geralts Narbe wie ein natürlicher Ablauf seine Tränen kanalisierte, bis sie auf sein Wams tropften. »Gardhrain ameriol an ngovaded i amrûn goll, i astrog nallol, toltho thoron a thoged nin, an min gûr nín celin gaul long, si bedin na rath Fair, padol rath Fair, padol rath Fair. Boe enni maded, darthad, dan ú-belin caedo, i ross tôl, loen, nad ú-chirnin a thobad nin, lû anann na hirin i mâr nín si bedin na rath Fair, padol rath Fair, padol rath Fair. - 85 - Ithil eriol, dolthol raith erib nan genid glass in elin thinnar, i vôr danna, câr ’ardh gostad dartha dínen a mreithad Menel, si bedin na rath Fair, padol rath Fair, padol rath Fair.« Drei weitere Strophen folgten, vorgetragen von dieser Stimme, die einem Wesen gehören musste, das nicht von dieser Welt war. Rittersporn war verwirrt. Wer war dieser Sänger? Oder war es gar eine Bardin? Er glaubte, das Lied zu kennen, doch ihm wollte partout nicht einfallen, woher und vor allem vom wem es war. Nur eines stand definitiv fest: Wer immer auch gerade mit dieser feengleichen Zunge gesungen hatte, war der Gewinner dieses Wettbewerbs! Alle anderen Beiträge waren lediglich Makulatur. Was Rittersporn zunächst nur bei sich zu denken wagte, sprach ausgerechnet derjenige laut aus, von dem er es am wenigsten erwartet hatte. René de Bellegout. Sichtlich bewegt stützte er sich am Tisch ab. Sein Gesicht zeigte jene selige Gelöstheit, die auch bei allen anderen, mehr oder minder stark ausgeprägt, zu sehen war. Die Augen des Barden glänzten feucht und seine drei Kinnhaare zitterten schon fast unanständig. »Silencium, meine werten Kollegen«, rief er in den Raum hinein und übertönte mühelos die immer lauter werdenden Gefühlsausbrüche der anderen, die sich in Schluchzen, gelöstem Lachen und aufgeregt geführten Diskussionen entluden, »ich glaube, unsere Suche hat ein Ende gefunden! Ich weiß, ich bin nicht wohl gelitten in unserer Zunft, doch ich bin durchaus in der Lage, wahre Größe zu erkennen, wenn ich sie höre. Das gerade eben war wahrlich das Wundervollste, Anrührendste, was mir bislang in meinem Leben zu Ohren gekommen ist!« Er wandte sich an Ansgar, Gwenhyfher, Malin und an den Hexer, suchte in ihren Augen nach Zustimmung, die ihm auch einhellig gewährt wurde. »Ich glaube, ich spreche in diesem Moment für die ganze Jury, wenn ich sage, dass unser Gewinner jetzt feststeht. Wer immer auch derjenige sein mag, der unsere Herzen und unsere Seelen derart anzurühren vermochte, der möge nun vortreten, denn er ist der Sieger dieses Wettbewerbs, unser aller Meister! Wo bist du? Komm heraus und zeig dich uns, damit dir die Ehre zuteil werden kann, die dir gebührt!« Fiona stand ebenso gespannt wie alle anderen Barden und Gäste mit offenem Mund und einem rasch schlagenden Herzen da. Ihre Hand hielt immer noch den Putzlumpen, mit dem sie einen der Tische abwischen wollte, der nicht zum Konstrukt der Jury gehörte. Sie hatte ihn während des Vortrages des unbekannten Sängers regelrecht zerknüllt. Eine Hand schob sich sanft unter ihren Kiefer und drückte ihn behutsam nach oben, bis sich ihr Mund mit dem klackenden Geräusch ihrer beiden Zahnreihen schloss. Ranold lächelte sie an und holte tief bewegt Luft. - 86 - »Schwesterchen, es ist so weit«, Fiona sah ihren Bruder mit einem verständnislosen Blick an, »hol unseren Vater! Der Moment, auf den er, auf den wir alle so lange gewartet und gehofft haben, scheint nun nahe. Spute dich!« Sie nickte lächelnd. Der Putzlumpen fiel zu Boden, als sie ihre Kleidung richtete und ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt machte, um die Treppe zum Gemach ihres Vaters hinaufzueilen. Die Silberplatte fiel scheppernd zu Boden. Geralt war sofort hellwach. Zum Glück funktionierten seine guten Reflexe anscheinend auch in Rittersporns Körper tadellos. Ein leichter Schlaf und die sofortige Einnahme einer Verteidigungsposition mit Hilfe der am nächsten liegenden Waffe gehörte zu den Lektionen, die das Hexerleben ihn gelehrt hatte. Nun, Vesemir wäre wahrscheinlich von der dreizinkigen Gabel, die Geralt jetzt in der Hand hielt, nicht gerade beeindruckt gewesen, doch der Hexer wusste, dass in den richtigen Händen jeder Gegenstand zur tödlichen Waffe werden konnte. Die Gabel war immer noch gut genug, um damit einem etwaigen Angreifer die Halsschlagader zu zerfetzen, ganz gleich, wie lächerlich man dabei auch immer aussehen mochte. Der Angreifer, es war besagte Silberplatte, war rasch identifiziert und wurde als definitiv harmlos eingestuft. Geralt kratzte sich am Kopf, gähnte lauthals und warf einen Blick auf die Überbleibsel seines Gelages, die im ganzen Bett verstreut neben ihm lagen. War da nicht noch ein Rest von der Hammelkeule gewesen? Er beugte sich über den Rand des Bettes, um auf dem Boden nachzusehen, ob das Stück Fleisch nicht vielleicht unter die Schlafgelegenheit gerollt war, aber vergebens. Es lag nicht einmal das kleinste Fitzelchen Essbares auf den blank gescheuerten Dielen. Na, dann eben nicht, dachte er und setzte sich auf. Tief aus seiner Körpermitte stieg, begünstigt durch seine zuvor beugende Bewegung, etwas auf, das sich schließlich als lang gezogenes, unanständig lautes Rülpsen entpuppte, das sich durch seinen weit geöffneten Mund fast eruptionsartig entlud. »Nun, besser oben als unten«, murmelte der Hexer und grinste. Er hatte zwar gewusst, dass der Barde sehr stimmgewaltig sein konnte, doch das Geräusch eben hatte selbst ihn überrascht. Es steckte doch mehr in Rittersporn, als er dachte, mal abgesehen von dem Fünf-Gänge-Menü, das er dem Spatzenmagen des Barden zugemutet hatte. Er lauschte. Es war verdächtig still. War der Wettstreit etwa schon zu Ende? Langsam und behäbig stand er auf, schloss mühsam den Hosenbund, den er zuvor zur besseren Aufnahme der ganzen Fressalien gelockert hatte, und kratzte sich ungeniert am Hintern. Geralt öffnete die Tür zum Flur. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Er wünschte sich, des Barden Ohren wären nicht so … normal. In seinem eigenen Körper hätte er ohne Mühe die Fliegen an der Wand furzen hören können, wenn er es gewollt hätte. Zum Glück konnte er seine Fähigkeiten gut kontrollieren und ganz nach Bedarf drosseln, ansonsten wäre so mancher heiße - 87 - Sommer im von Mücken geplagten Kaer Morhen im doppelten Sinne unerträglich gewesen. Er hatte sich nicht geirrt. Mit wehenden Schritten eilte Fiona, die liebreizende Tochter des grummeligen Wirtes, an ihm vorbei und rüttelte am Ende des Ganges an einer der Türen. Rittersporns Ohren waren zumindest so gut, dass er hören konnte, was sie durch die augenscheinlich verschlossene Tür rief. »Vater, wach auf! Es ist so weit! Der Wettbewerb ist zu Ende. Wir haben einen Gewinner! Hörst du mich, Vater?« Es rührte sich zunächst nicht viel in Leo MacDanolds Zimmer, doch dann war ein lautes Poltern zu vernehmen. Wahrscheinlich war der gute Leo gerade aus seinem Bett gefallen, überlegte Geralt. Er konnte nicht hören, ob der Wirt seiner Tochter eine Antwort gab, doch das war auch gar nicht mehr nötig. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck schloss Geralt die Tür. Nun denn, was auch immer in dieser Stadt vor sich gehen mochte, bald würde es vorbei sein. Er brauchte noch nicht einmal sein Amulett, um zu spüren, dass sich das letzte Kapitel dieser Posse bald schließen würde. Da braute sich etwas zusammen, das fast mit den Händen greifbar war. Rasch richtete Geralt die Kleidung des Barden, wischte sich etwas Soße aus dem Gesicht und hauchte in seine offene Handfläche, die er dann zur Nase führte. Frisch war was anderes, doch es war nun nicht die rechte Zeit, um daran noch etwas zu ändern. Beim Hinausgehen zupfte er ein Minzeblatt aus den Haaren des Barden. Na also, geht doch, dachte er und steckte das Blatt samt Stängel in seinen Mund und begann, ausgiebig zu kauen. Minzfrisch, da kann selbst Rittersporn nicht meckern! »Weiß man schon, wer der Barde ist, der gewonnen hat?« Fiona war etwas außer Atem, als sie wieder bei ihrem Bruder angelangte, der sich in einem Gespräch mit Ansgar von der Vogelwiese befand. Ihr Bruder verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an einen der Pfeiler, die die Decke der große Halle abstützten, und schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete Ansgar an seiner Stelle, »bislang hat er sich nicht blicken lassen, wenn es denn ein Er ist. Wir stecken nun etwas in der Bredouille. Wenn der Gewinner sich nicht meldet, müsste der Titel an den Zweitplatzierten gehen. Den gibt es nur noch nicht, weil René ja so rasch den unsichtbaren Barden zum Sieger ausrufen musste. Wenn die Situation sich nicht schnell klärt, gibt es ein Unglück, bei dem das Blutbad vor drei Jahren nur wie ein lächerlicher Kindergeburtstag wirkt.« Fiona seufzte. »So schlimm steht es?« Ehe Ansgar antworten konnte, erhob sich innerhalb der Menschenmenge im Raum ein lauter Tumult, doch weder Fiona noch Ansgar oder Ranold konnten von ihrem Standpunkt aus erkennen, was genau da gerade ins Rollen geraten war. Ansgar verdrehte nur die Augen und warf einen flehentlichen Blick gen Himmel. Er sah, wie Wolfram von Aschenbach sein Heil in der Flucht suchte und hoffte, dass - 88 - der Barde mit dem silbernen Krähenschnabel heute nicht anwesend war, bevor er sich aufmachte, sich seinen Weg mitten durch die Menschenmenge zu bahnen. Cailins Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den letzten Ton seiner Laute durch den Raum schweben ließ. Die Stille, die daraufhin folgte, traf ihn härter, als er gedacht hatte, doch die alte Grid lächelte ihm mit ihrem jungen Gesicht aufmunternd zu. »Sie werden es lieben«, hatte sie ihm vorher versichert und wie es schien, sollte sie mit ihrer Voraussage recht behalten. Nach einigen Augenblicken, die ihm wie eine kleine Ewigkeit vorkamen, brauste in der großen Halle der Jubel auf und er wurde von einer Welle der Emotionen, die sich von dort konzentrisch ausbreitete, beinahe überwältigt. Sein Blick verschwamm und er spürte das Zittern seines Körpers. Die ganze Anspannung, die ihn vor dem ersten Lautenklang erfasst hatte, fiel mit einmal von ihm ab, und es war wiederum die alte Grid, die ihn stützte, als seine Beine ihn nicht mehr zu tragen vermochten. »Hörst du, Cailin«, flüsterte sie süß in seine Ohren, »sie lieben es, sie brauchen es. Ihnen wird gar nichts anderes übrig bleiben, als dir den Sieg zuzusprechen, du wirst schon sehen!« Er hörte die kurze Ansprache von René de Bellegout und konnte es kaum fassen. Er hatte tatsächlich gewonnen, hatte alle diese großen und berühmten Barden überflügelt und ihre Herzen im Sturm erobert! »Es ist an der Zeit, junger Prinz, dich deinem neuen Hofstaat zu präsentieren und dir den verdienten Lohn für deine Kunst abzuholen. Worauf wartest du noch?« Das wusste Cailin selbst nicht so genau. Ein Leben lang hatte er auf einen solchen Moment gewartet, ihn sich in seinen kühnsten Träumen immer und immer wieder in den herrlichsten Farben ausgemalt, die seine Fantasie hergab, doch nun, wo sein größter Traum wahr wurde, fühlte er, wie Angst und Unsicherheit seinen Körper zu lähmen begannen. Wie lange er dort so gestanden hatte, unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen, konnte er später nicht mehr sagen. Es mochten ein oder zwei Minuten, vielleicht sogar deren fünf gewesen sein, bis schließlich die Zauberin ihre Hand auf seine Schulter legte und er wieder einmal dieses sanfte Kribbeln spürte, das, wie er nun wusste, von ihren Fingerspitzen ausging und seine Wirkung auch diesmal nicht verfehlte. Die Starre begann langsam von ihm abzufallen und er beruhigte sich zusehends. »So ist es besser, junger Mann.« Grid massierte ihm ausgiebig den total verspannten Nacken. »Vielleicht ist es nicht das Geld, das dich lockt, aber es gibt in der großen Halle doch sicherlich etwas, was du ebenso sehr begehrst, nicht wahr?« Cailin brauchte nicht lange zu überlegen. »Fiona«, hauchte er ehrfurchtsvoll den Namen der Person, die ihm mehr bedeutete als alles Gold der Welt. »Ein Kuss von ihren Lippen ist mehr Lohn, als ich verdiene«, murmelte er leise, doch nicht leise genug. »Quatsch mit Soße!«, zischte Grid. Cailin sah sie mit einem verzweifelten Blick an. - 89 - »Aber ihr Vater wird mich nie akzeptieren! Er kann mich nicht leiden, obwohl ich ihm nie ein Leid zugefügt habe!« »Du nicht, das stimmt«, überlegte sie nachdenklich, »dafür aber jemand anderes. Sei doch nicht so ein Hasenfuß! Ich kann dir nur einen guten Rat geben: Nutze das Erbe deines Vaters und der Rest wird sich schon finden. Und was den Vater von Fiona angeht, da lass nur mich mal machen! Es gibt da noch eine alte Rechnung, die endlich einmal auf den Tisch gebracht werden muss. Ich glaube, einen besseren Zeitpunkt als diesen gibt es nicht. Worauf wartest du noch? Husch, Husch!« Rittersporn profitierte von Geralts Größe. Mit Leichtigkeit überragte er einen Großteil der anwesenden Barden, sodass er sich nicht durch die Masse zu drängeln brauchte, um dasselbe wie Ansgar zu sehen, der sich mit Tritten und unter Einsatz seines extrem spitzen Ellbogens mühsam seinen Weg durch seine Kollegen erkämpfen musste. Die Helligkeit im »Roten Löwen« war einem diffusen Dämmerlicht gewichen, das lediglich durch unzählige brennende Kerzen, die Fiona und Ranold kurz nach Einbruch der Nacht im Schweiße ihres Angesichts entzündet hatten, vertrieben werden konnte. Die Sicht wirkte dadurch etwas verschwommen und unstet; die vielen einzelnen Lichtquellen verwirrten die Augen und es fiel schwer, sich längere Zeit auf einen Punkt im Raum zu konzentrieren, ohne dass einem die Tränen in die Augen stiegen. Ohne Zweifel jedoch gut sichtbar war der neueste männliche Zugang im Raum. Es schien fast, als umschmeichle das vorherrschende Kerzenlicht seine hochgewachsene Gestalt. Es spiegelte sich in dem golden schimmernden Haar wider, das von einem funkelnden Kopfreif gebändigt wurde, der von den wundervollsten Edelsteinen gesäumt war, die Rittersporn je zu Gesicht bekommen hatte. Unübersehbar waren auch die spitzen Ohren, die den jungen Neuankömmling eindeutig als einen Vertreter der Aén Seidhe kennzeichnete. Es war lange her, dass er einen Barden der Elfen gesehen, geschweige denn getroffen hatte, seit die Stimmung im Reich sich gegen die Anderlinge gewendet hatte. Ein Laut der Verwunderung stahl sich lautlos von Geralts Lippen. Er betrachtete den jungen Mann genauer. Seine Garderobe stand seinem Haarschmuck in puncto Geschmack und Erlesenheit in nichts nach. Das gesamte Gewand bestand aus einem grünen Brokatstoff, das mit einem filigranen Muster aus goldenen Blättern, Ranken und schlanken Blütenkelchen verziert war. Die Ärmel waren geschlitzt und enthüllten das darunter befindliche blütenweiße Hemd aus reiner Seide. Das Wams wiederum war mit silbernen Ornamenten durchwirkt, die einen hübschen Kontrast zu den kornblumenblauen Augen des Elfen bildeten. Ein schmaler, edelsteinbesetzter Gürtel und kniehohe Stiefel aus dem feinsten Leder diesseits und jenseits der neun Königreiche rundeten den imposanten Anblick ab. Rittersporn beschlich das seltsame Gefühl, diesen jungen Elf schon einmal gesehen zu haben. Da war etwas in den fein geschnittenen Gesichtszügen, das ihn - 90 - innehalten ließ und eine Erinnerung weckte, die er allerdings noch nicht klar einzuordnen wusste. Ein unbekannter Schleier hielt sie noch in den Nebeln der Vergangenheit verborgen. Doch er würde schon noch darauf kommen. Er hörte ein lautes Schnaufen neben sich. Malin von Versfeld hatte seinen nicht gerade schlank zu nennenden Körper auf einen Tisch gewuchtet und warf einen gehetzten Blick über die Menge hinweg. Sein Kopf war krebsrot angelaufen und sowohl die Schweißflecken unter seinen Achseln als auch der feine Perlenschleier auf seiner Stirn zeugten von der Anstrengung, die er gerade durchlitten hatte. Seine Augenbrauen bildeten ein weitschenkeliges V über den zusammengekniffenen Augen, hoben sich dann aber rasch zu einer Miene der Überraschung. Sein Mund öffnete sich zu einem kleinen O, und das war auch der erste Laut, der sich daraus hervorstahl. Er schüttelte ungläubig den Kopf, nahm ein fleckiges Tuch aus seiner Brusttasche und wischte sich unwirsch die Stirn und den Nacken trocken. »Nein, das ist doch nicht möglich!«, flüsterte er leise, jedoch nicht leise genug, als dass Rittersporn es nicht mitbekommen hätte. »Das kann er nicht sein, ich sah doch mit meinen eigenen Augen, wie er starb. Alter Narr, das kann er gar nicht sein, das ist nicht Leolas …« Leolas! Es war, als schnappe ein Schloss in seinem Inneren auf und gäbe endlich freie Sicht auf etwas, das lange Zeit hinter einer schweren Tür verborgen geblieben war. Mit einem Schlag erinnerte sich Rittersporn wieder an den Tag, an dem er dem großen Barden Leolas begegnet war, damals in seinem ersten Jahr in Oxenfurt. Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Der Barde trug ja sogar dieselben Gewänder wie damals und es schien zudem, als wäre er auch seit jenem Tag um keine einzige Stunde gealtert. Und dennoch: Malin hatte ganz recht. Das konnte nicht Leolas sein. Leolas war tot, vor etlichen Jahren vom Pöbel in Wyzima erschlagen. Selbst wenn er damals nicht gestorben wäre – Rittersporn selbst war kein Augenzeuge gewesen und kannte die Nachricht von seinem Tode nur vom Hörensagen – dann hätte auch die Zeit an ihm nicht ganz spurlos vorbeigehen dürfen, Elf hin oder her. Nein, das war nicht Leolas, auch wenn die anwesende Bruderschaft der Barden nur zu gerne Zeuge der Wiederauferstehung einer Legende gewesen wäre. Was allerdings eine andere Frage aufwarf: Wenn das dort vorn nicht Leolas war, warum trug er dann seine Kleider und war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten? »Hast du das Rätsel schon gelöst, Geralt?«, raunte eine ihm vertraute Stimme, die seine nämlich, ihm zu. Er blickte in das konzentrierte Gesicht seines Freundes, dessen undurchdringliche Miene sich nicht entschlüsseln ließ. Es war ein wenig unheimlich, das eigene Gesicht so zu sehen … hey, war das etwa Soße, die er da im Mundwinkel sah? Der Barde prüfte sein Ebenbild genauer. Krümel am Wams, ein Fleck am Hosenbein und der Gürtel saß verdächtig locker über der Hüfte, über der sich ein kleines Bäuchlein zu wölben schien. »Hattest du etwa wieder eine deiner Fressattacken, Hexer?«, zischte Rittersporn gereizt. Seine gelben katzenartigen Augen sprühten Funken. Geralt rieb sich nur - 91 - gedankenverloren den Bauch, rülpste kurz, aber heftig und pulte mit einem improvisierten Zahnstocher ungeniert im Mund herum. Nun, das ist auch eine Antwort, dachte der Barde missmutig. »Das ist nicht Leolas«, antwortete der Hexer stattdessen. »Ach, als wäre ich inzwischen nicht schon selbst darauf gekommen. Die Frage ist doch vielmehr, wer dieser junge Elf dann ist?« Ein Funken Belustigung flammte kurz in den Augen des Barden auf und der Mund über dem braunen Spitzbart verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, das durchaus charmant zu nennen war. »Mach doch einfach die Augen auf, Barde! Das ist Cailin!« - 92 - Kapitel XIV Eine Wahrheit kommt ans Licht N ein, nicht DU! Jeder, nur nicht DU!« Der vor Empörung zitternde Zeigefinger, der pfeilgerade in Richtung des jungen Elfen zeigte, gehörte zu niemand anderem als Leo MacDanold, der in einem bodenlangen, von Motten zernagten Nachthemd am oberen Ende der Treppe in den ersten Stock stand und anklagend auf Cailin wies. Sein Haupthaar stand wirr von seinem Kopf ab und schien im Schein der Kerzen regelrecht rötliche Funken zu sprühen, während die Lippen im vollen Bartgestrüpp schmal wie ein Pinselstrich waren. Seine dunklen Augen spiegelten den Grad der Entrüstung wieder, den der gute Leo gerade empfand. Sein Brustkorb hob und senkte sich energisch. Nie hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem wilden Löwen gezeigt als in just diesem Augenblick. »Nicht du«, wiederholte er noch einmal, während alle Augen auf ihn gerichtet waren. Cailin errötete und wusste nicht, wohin er blicken sollte. »Hast du meiner Familie nicht genügend Unheil beschert? Habe ich nicht genug unter dir gelitten? Musst du ausgerechnet jetzt zurückkehren, um mir die Rechnung zu präsentieren?« »Vater!« Fionas Ausruf war voller Schmerz und Empörung. »Was redest du da für einen Unsinn? Und wie siehst du überhaupt aus? Da muss man sich ja für dich schämen, Vater.« Leo sah an sich herab, zuckte nur mit den Schultern und blickte seiner Tochter streng ins Angesicht. »Schweig, Fiona, davon verstehst du nichts! Du bist damals nicht dabei gewesen, als dieser Barde in unserer Stadt weilte und allen Weibern den Kopf verdrehte … deine Mutter inbegriffen … und nun steht er da, als könne er kein Wässerchen trüben, als wäre nie etwas passiert.« Halb schritt er, halb taumelte er in Richtung des jungen Elfen, während sich eine Gasse in der Schar der Barden bildete, die ihn ungehindert passieren ließen. Fast schon hatte er Cailin erreicht, als sich Fiona zwischen ihren Liebsten, den ihr Herz trotz seiner edlen Aufmachung längst erkannt hatte, und ihren Vater stellte, dessen Gesicht nun ungesund rötlich gefleckt war. »Wovon sprichst du da, Vater? Bist du von Sinnen? Egal, für wen du ihn hältst: er ist es nicht! Hast du denn keine Augen im Kopf? Das ist Cailin, das ist der Mann, den ich liebe, Vater. So, nun ist es endlich raus«, seufzte sie erleichtert und fiel ihrem Angebeteten in die Arme, drückte sich eng an ihn und küsste seine weichen Lippen. Cailin errötete noch mehr. - 93 - Leo prallte zurück, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Mit wutverzerrter Miene packte er barsch Fionas Arm und versuchte, sie aus dieser aus seiner Sicht unschicklichen Umarmung zu befreien, doch sie wehrte sich beharrlich und Cailin schlug schließlich Leos Hand von ihrem Arm und stellte sich schützend vor sie. »Was fällt dir ein, Leolas, du Lump?« Leos Aussprache wurde zunehmend feuchter. »Reichte es nicht, dass du mir mein Weib abtrünnig gemacht hast mit deiner vor Schmalz triefenden Stimme, musst du dich jetzt auch noch an Fiona, ihre Tochter, heranmachen? Hast du denn keinen Funken Anstand im Leib? Wisse, Leolas, sie ist nämlich …« »SCHWEIG!« Die Stimme klang wie ein Donnergrollen. Leo zuckte zusammen und sah sich um. Doch er erblickte nur die alte Grid Mole, die mit auf den Hüften gestemmten Armen hinter ihm stand und deren Augen nicht weniger Funken sprühten, als seine noch vor einigen Minuten. Sie konnte es doch nicht gewesen sein, die da gerade … Er schüttelte nur belustigt den Kopf, was die alte Grid dazu veranlasste, ihre Augen so weit zu schließen, dass sie nur noch als schmale Schlitze zu erkennen waren. »Wag es ja nicht, Leonard Alexander MacDanold, mich noch länger auf diese Weise anzusehen, du würdest es bitter bereuen, glaube mir«, zischte sie böse. »Was willst du, Grid? Vertrödele nicht meine Zeit, indem du mich belästigst. Kehr du lieber zurück zu deinen Bändern und dem anderen Tand, aber misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein. Hast du das verstanden? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, höhnte er. Grid Mole richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und erwiderte den starren Blick des Wirtes ohne Zögern. Ein schmallippiges Lächeln entblößte kurz ihre fauligen Zähne. »Wie ich sehe, hast du im letzten Jahr nichts, aber auch gar nichts dazugelernt, Leo.« Sie schüttelte bedauernd ihr welkes Haupt. »Ich dachte, der Fluch würde dich ein wenig demütiger, etwas pflegeleichter werden lassen, dass du endlich auch anderen den Respekt zollen würdest, den du für dich selbst immer einforderst. Weit gefehlt! Du bist immer noch so halsstarrig, dickköpfig wie früher und hast die Manieren eines Schweins! Du willst wissen, wer ich bin? Bitte sehr!« Sie drehte sich um ihre eigene Achse, wirbelte herum, bis ihr Körper in Myriaden von hellen Lichtkugeln verschwunden war, die in Richtung Decke schwebten, bis sie ihre Geschwindigkeit wieder verringerte und mit einem blendenden Blitz zum Stillstand kam. Grid Mole war verschwunden. An ihrer Stelle stand nun eine junge Frau mit langen, golden schimmernden Locken von der Farbe frischer Kastanien. Auch trug sie nicht länger die Kleidung der alten Krämerin, sondern ein eng geschnürtes weiß-blau gestreiftes Wams mit hohem Kragen, verziert mit bunten Bändern, eine knappe lederne Hose und knielange Stiefel, die am oberen Ende modisch umgestülpt waren. Ein Raunen ging durch die Schar der Barden. Einige wandten ängstlich das Gesicht ab und machten das Zeichen gegen - 94 - den bösen Blick, während andere ihre Hälse noch mehr streckten, um ja nichts zu verpassen. Geralt pfiff leise. »Triss Merigold, ich hätte es mir doch eigentlich gleich denken können.« »Geralt«, Triss neigte den Kopf höflich in Richtung des Barden und wandte sich dann der Gestalt des Hexers zu. »Es ist mir auch eine Freude, Euch wieder zu sehen, werter Rittersporn.« »Darf ich davon ausgehen, dass du für den lästigen Zauber in unserem Zimmer verantwortlich gewesen bist?« Der Barde strich sich lächelnd über den Kinnbart, während Triss ein scheues Unschuldsgesicht aufsetzte, als wüsste sie nicht, wovon er sprach, dann aber lachend den Kopf schüttelte und den Hexer frech angrinste. »Wer sonst, Geralt, wer sonst? Konnte ich denn wissen, dass der alte Hurenbock von Wirt sich vor Angst in die Buxen scheißt und mein damaliges Zimmer auf Teufel komm raus nicht mehr betritt? Nun, da hat es leider euch beide getroffen. Seht es als Kollateralschaden an und genießt einfach die Zeit und die Erfahrungen, die euer kleines Missgeschick euch beschert.« Langsam strich sie um die Gestalt des Hexers herum. Rittersporn im Inneren schwitzte Blut und Wasser, als ihre Hand über seine Wange fuhr und dann hinter seinen Kopf verschwand, wo sie zärtlich mit seinem schneeweißen Schopf spielte, bevor sie ihre weichen Lippen benetzte und den Hexer küsste, dass ihm Hören und Sehen verging. Geralt selbst sah es gelassen. »Triss, komm zum Punkt, bevor unser guter Wirt hier noch irgendwelchen körperlichen Schaden davonträgt.« Die Zauberin drehte sich herum und wandte sich dem Wirt zu, dessen Gesicht kreidebleich geworden war, ein auffälliger Kontrast zu seinem roten Haupt- und Barthaar. Schweiß perlte auf seiner Stirn und sein Mund öffnete und schloss sich wie ein Fisch an Land, der nach Luft schnappte. »Ah, ich sehe, du erkennst mich wieder. Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?« Leo holte tief Luft und endlich tropfte das Wort von seinen Lippen, das die ganze Zeit ängstlich dahinter gekauert hatte. »Hexe«, röchelte er mehr, als dass er sprach. Triss wirkte verärgert. »Ist das etwa alles? Ein Jahr ist vergangen, seitdem du mich in Bausch und Bogen aus deinem Haus geworfen hast, und dir fällt jetzt nichts Besseres ein, als mich wieder zu beleidigen?« Sie seufzte. »Geralt, erklärst du ihm den Unterschied zwischen einer Zauberin und einer Hexe oder soll ich ihn lieber gleich in eine Kröte verwandeln?« »Triss!« Die Zauberin winkte gnädig ab. »Schon gut, Geralt, ich kann mich gerade noch im Zaume halten, obwohl er es mehr als verdient hätte. Oh, er sähe bestimmt gut aus, als fette grüne Kröte mit roten Haaren ...« Sie kicherte mädchenhaft bei dem Gedanken. Langsam schlich sie - 95 - um den Wirt herum, dessen Augen ihr ängstlich zu folgen versuchten, bis er bei dem Versuch fast über den Saum seines schäbigen Nachthemdes stolperte. »Ich sehe, dir ist es nicht sonderlich gut ergangen im letzten Jahr. Keine Gäste, nehme ich an, daher auch keine Einnahmen, kein Luxus und kein angenehmes Leben. Wie traurig, aber selbst schuld. Daran hättest du mal denken sollen, bevor du mich dazu gebracht hast, diesen elenden Fluch auszusprechen. Apropos, bist du inzwischen daraus schlau geworden? Beim Teil mit den Barden hast du ja den richtigen Riecher bewiesen. Sollen wir mal nachschauen?« Triss schnippte mit den Fingern und ein lautes Knarren ertönte im ersten Stock. Kurz darauf erschien am oberen Treppenabsatz ein merkwürdiges Ensemble, handelte es sich dabei doch um die Kleidung des Wirtes, die er am Vortag getragen hatte, doch ohne den Wirt darin, als würde ein Unsichtbarer seine Kleider tragen. Behände kam sie die Treppen herab, vollführte eine höfliche Verbeugung vor der Zauberin, die sie mit Wohlwollen quittierte, dann öffnete sich die obere Tasche des Wamses und ein Zettel schwebte wie von Geisterhand getragen auf Triss Merigold zu. »Ich bedanke mich«, schmunzelte sie, »mir scheint, dass selbst in deinem Beinkleid mehr Anstand vorhanden ist als in dir selbst, Leo.« Sie faltete den Zettel auseinander und runzelte die Stirn. »Dann wollen wir mal schauen: Erst wenn endlich ans Licht kommt zu einer Zeit die Wahrheit von allen Lügen und Siegeln befreit wenn das hellste Tageslicht am Ende sieht was schon lang geheim im Dunkeln erblüht ein Schlüssel gegen Stahl um den rechten Platz ringt ein Barde ein stummes Schwert zum Singen bringt wenn die im Lande allergrößten Bardenzungen vom Niedrigsten der ihren wurden bezwungen wenn dann noch die alte Weise am Brunnen erschallt dann steigt das Übel daraus nach oben schon bald wird letztendlich von einem Recken bezwungen dessen Lippen nie einen Ton haben gesungen erst dann wird kommen die rechte Zeit dieser Schwur wird nicht gebrochen die Stadt wird dann vom Fluche befreit den im Zorn ich über sie habe gesprochen. Nun, der erste Teil hat sich bereits erfüllt«, sie lächelte Cailin und Fiona an. »Da steht vor uns die Liebe, die im Geheimen erblühte, weil du Esel von Wirt sie nicht erkannt hast. Fionas Geständnis hat das Geheimnis enthüllt, doch leider ist es nicht das einzige.« Sie seufzte. »Fiona, was Leo gerade verkünden wollte, bevor ich ihn - 96 - unterbrach, ist nicht ganz leicht zu erklären. Du musst wissen, Cailin ist der Sohn des Barden Leolas, der vor langer Zeit in Carinthia weilte und hier einige gebrochene Herzen zurückließ, als er die Stadt verließ oder besser gesagt, verlassen musste. Meins ebenso, wie auch das Herz der jungen Frau, die sein Kind, also Cailin, unter ihrem Herzen trug. Doch sie war nicht die Einzige. Auch deine Mutter gehörte zu den wenigen Frauen, zu denen sich Leolas hingezogen fühlte, auch wenn sie nie die Liebe und die Stellung in seinem Herzen erringen konnte, wie es Cailins Mutter tat. Und dennoch …« Fiona legte eine Hand vor ihren Mund und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ja, Fiona, ich sehe dir an, dass du begriffen hast, welche Wahrheit ich dir enthüllen muss: Leolas ist auch dein Vater.« Leo ächzte. »Betrogen hat sie mich mit ihm, das undankbare Weibsstück!«, spie er die bitteren Worte aus. »Und als wir ihn endlich aus der Stadt getrieben hatten, kam sie mit seinem Kind unter dem Herzen zu mir zurück. Was hätte ich tun sollen? Ich schwor, dass ich sie fortjagen würde, wenn das Kind auf der Welt wäre, doch als ich dann in dein kleines Gesichtchen sah«, er wandte sich Fiona zu und sah sie zärtlich an, »in dein kleines, zerknautschtes Gesichtchen und ich keine spitzen Ohren entdeckte, da konnte ich nicht anders, als dich lieb zu haben, obwohl ich wusste, dass ich nicht dein leiblicher Vater war. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, Fiona, das musst du mir einfach glauben. Ich liebe dich wie mein eigen Fleisch und Blut und daran wird sich niemals etwas ändern!« Fiona, Leolas’ Tochter, schlug beide Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos. Sanft schob Cailin sie in die offenen Arme von Leo, der ihm dankbar zunickte, bevor seine kräftigen Arme ihren zitternden Körper umschlossen und er sie mit leiser Stimme zu beruhigen versuchte. Die Zauberin spürte einen dicken Kloß in ihrem Halse stecken, als sie Zeuge dieser Szene wurde, doch sie fing sich rasch und fuhr fort: »Nun, der nächste Teil betrifft euch zwei Hübschen«, grinste sie und sah Geralt und Rittersporn an. »Natürlich ist mit dem Schlüssel ein Notenschlüssel gemeint und damit niemand anderes als Rittersporn. Und der Stahl? Nun, man braucht nur auf Geralts Schwerter zu schauen und die Bedeutung wird einem klar. Ich bin immer wieder überrascht, welche Kapriolen manche meiner Flüche schlagen, mit denen selbst ich nie gerechnet hätte. Ihr beide ringt immer noch um eure wahre Identität, doch dieser Zauber ist zeitlich begrenzt und wird sich lösen, sobald die rechte Zeit gekommen ist. Und der Zeitpunkt dafür ist näher, als man vermuten mag. Ich hatte Tränen in den Augen vor Vergnügen, als Rittersporn Geralts Stimmbändern dieses nette Spottlied abgerungen hat. Ganz im Ernst, werter Rittersporn, ich hätte jedem, nur nicht dir, so viel Selbstironie zugetraut. Jetzt zu dir, Cailin.« Sanft fasste sie den jungen Elfen an der Schulter und lächelte ihm zwinkernd zu. »An dir hatte ich auch noch ein Unrecht gutzutun, wie du ja bereits weißt, und ich glaube, deine Stimme ist das herrlichste Geschenk, das - 97 - man dir machen konnte, nachdem mein Spruch sie dir so lange vorenthalten hatte. Als Niedrigster der Barden hast du sie alle bezwungen und deinem Vater alle Ehre gemacht. Ich weiß, er wäre unendlich stolz auf dich, hätte er heute die Gelegenheit gehabt, dir zuzuhören. In dir leben sein Genie und sein reicher Schatz an Balladen weiter.« »Ich danke Euch für diese Worte, verehrte Dame«, Cailin deutete eine Verbeugung an, die Triss schmunzeln ließ, »verzeiht mir aber, wenn ich Euch diese Frage stelle: Wart Ihr immer schon die alte Grid Mole?« Die Zauberin schüttelte die Lockenpracht und senkte einen Augenblick nachdenklich den Kopf. »Nein, das war ich nicht«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Es gab tatsächlich eine Grid Mole. Sie war wie ich eine Magierin und eine gute Freundin von mir, die allerdings letztlich ihre Zauberkraft aufgegeben und sich damit den unvermeidlichen Folgen der Zeit gestellt hatte. Sie starb letztes Jahr und so nahm ich ihren Platz ein, um hier von Zeit zu Zeit unerkannt nach dem Rechten sehen zu können.« »Und was jetzt?« »Wie bitte?« Triss drehte sich abrupt um und sah einen jungen, noch pickligen Barden an, dessen Barthaare gerade erst zu sprießen begannen. Erst wich er einen Schritt vor ihrem Blick zurück, doch dann besann er sich eines Besseren, trat mutig wieder vor und reckte sein spitzes Kinn der Zauberin entgegen. »Ihr habt mich schon gehört, Magierin, was passiert jetzt? Was ist mit dem Rest der Prophezeiung?« Ein leises Lachen perlte von ihren Lippen, als sie sich dem jungen Sänger näherte, auf dessen Stirn erste Schweißperlen erblühten. »So ist’s recht«, gurrte sie vergnügt. »Ich mag Männer, die wissen, was sie wollen und sich nicht scheuen, das Maul auch aufzureißen. Nicht wahr, Geralt?« Der Angesprochene schnaubte nur, während Triss’ Hand dem Jüngling sanft ums Kinn strich. »Ich glaube, du hast noch eine große Zukunft vor dir, mein Junge ...« »Ich heiße Bhreac«, stammelte der Barde mit glänzenden Augen. »Nun gut, Bhreac«, schmunzelte Triss und wandte sich an den Rest der Minnesänger, die dem Schauspiel mit wachsender Faszination gefolgt waren. Geralt verschränkte kopfschüttelnd die Arme vor der Brust. Wieder einmal zeigte es sich, dass es keinen gab, der sich dem Zauber von Triss Merigold entziehen konnte. Gekonnt spielte sie ihr Spiel, breitete nun ihre Arme aus, als wolle sie die ganze Männerschar in selbige nehmen und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, bis sie wieder Bhreac in die Augen schauen konnte, der sichtlich entzückt war und dessen Wangen einen zarten Roséton angenommen hatten. »Natürlich hat dieser junge Barde recht. Noch ist dies nicht das Ende. Noch wirkt der Fluch, den ich im Zorn gesprochen habe. Aber das große Finale ist bereits nahe! Wer von euch kann mir jetzt schon sagen, wo es stattfinden wird?« - 98 - Wieder ging ein Raunen durch die Menge, bis eine klare Frauenstimme durch die Luft hallte. »Am Brunnen, wo denn sonst«, rief Fiona, die sich sanft aus der Umarmung ihres Vaters gelöst hatte und deren Tränen endlich versiegt waren. Entschlossen stellte sie sich an die Seite ihres Geliebten, nahm seine Hände in die ihren und führte sie zärtlich an ihre Lippen. »Und du, mein geliebter Cailin, wirst dort endlich diesen vermaledeiten Fluch brechen, unter dem wir jetzt schon so lange leiden, nicht wahr?« Cailin schluckte gerührt, nickte nur und küsste nun seinerseits die Fingerspitzen seiner Freundin. »Worauf warten wir dann noch?« Bhreac richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die keineswegs beeindruckend war, und funkelte seine Kollegen an. »Machen wir uns auf zum Brunnen!« »Auf zum Brunnen!«, erwiderte lautstark ein anderer Barde, dann stimmte noch einer in den Ruf ein und noch einer, bis der Ruf aus nahezu allen Kehlen erklang: »Auf zum Brunnen!« Begeistert drängte sich die Masse der Barden und derjenigen, die sich dafür hielten, durch die große Flügeltür nach draußen. Geralt und Rittersporn blieben noch zurück, ebenso wie Cailin, Fiona und ihr Vater. »Worauf wartet ihr denn noch?«, verlangte Triss zu wissen. »Wollt ihr denn nicht erfahren, wie es ausgeht?« »Durchaus, Triss«, antwortete Rittersporn und der Blick aus Geralts Augen ruhte spöttisch auf ihr. »Ich nehme jedoch an, dass es ohne uns, also Geralt, Cailin und mich, allerdings nur eine tumbe Masse von Idioten gibt, die gerade ohne Sinn und Verstand auf den sprichwörtlichen Brunnen vor dem Tore zueilt und dort auf unsere Ankunft warten muss. Denn wenn ich mich recht entsinne, spielen wir eine nicht unwesentliche Rolle bei diesem Finale. Außerdem ...«, er wies, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit einer Geste auf Fiona, die gerade die Kleidung ihres Vaters aufhob, welche nach dem Zauber erschlafft zu Boden gefallen war. Sanft fasste sie Leo am Ellbogen und dirigierte ihn in eine dunkle Ecke, was der Mann ohne Murren mit sich geschehen ließ. »Komm, Vater«, murmelte sie beruhigend, »es wird Zeit, dass du dir etwas Vernünftiges anziehst. Freue dich, bald ist alles vorbei. Es dauert nicht mehr lange, Vater.« Leo MacDanold sah seiner Tochter in die Augen und nur sie erblickte die Tränen, die sich nun aus den Winkeln der seinen langsam ihre Bahnen über das Gesicht zogen, um schließlich in seinem Bart zu versickern, als hätte es sie nie gegeben. Der Brunnen lag, anders als Rittersporn es angedeutet hatte, nicht außerhalb der Stadt, sondern inmitten derselben in zentraler Lage. Er war schon von Weitem zu sehen, besonders von der erhöhten Lage des »Roten Löwen«. Geralt und Rittersporn - 99 - wussten daher schon, als sie Plötze und des Barden Reittier losbanden, wohin der Weg sie in die Stadt führen würde. Ganz der Mann von Welt bot Rittersporn Fiona an, auf Geralts Pferd sitzen zu dürfen, das sich, obwohl er Geralts Gestalt besaß, sicherlich geweigert hätte, ihn zu tragen, Zauber hin oder her. Auch Geralt lief lieber zu Fuß und führte Rittersporns Zossen am Zügel. Notgedrungen waren deshalb auch Cailin und Fionas Vater, der sich sichtlich wieder gefangen hatte, auf Schusters Rappen unterwegs, hatte man doch die letzten in Carinthia verbliebenen Pferde schon vor Monaten zu Wurst und anderen schmackhaften Köstlichkeiten verarbeitet und gleich verputzt. Die Menge der Barden teilte sich bereitwillig, als die Prozession der Hauptakteure endlich ihren Bestimmungsort erreichte. Der Brunnen war ein monströses, fest gemauertes Ungetüm, dessen Durchmesser gut drei Klafter betragen musste und Geralt knapp bis an die Brust reichte. Ein riesiger Kurbelmechanismus war in die Umrandung eingelassen, um das Wasser aus den Tiefen heraufholen zu können. Der Brunnenarm, der den nicht minder überdimensionierten Wassereimer an Ort und Stelle hielt, war schwenkbar, sodass nach dem mühevollen Schöpfen, das aufgrund der notwendigen Kraftanstrengung durch mindestens zwei starke Männer zu erfolgen hatte, das kostbare Nass problemlos außerhalb des Brunnens verteilt werden konnte. Zurzeit jedoch fehlte von dem Eimer jede Spur und der Brunnen selbst war mit etlichen schweren Brettern zugedeckt und mit zusätzlichen Eisenketten gesichert worden. Rittersporn hob fragend eine Augenbraue. »Das Wasser im Brunnen versiegte kurz nach dem Fluch«, hob Leo zu einer Erklärung an, »zu viele versuchten, doch noch ein Quäntchen Wasser aus dem Brunnen zu holen und einige fielen dabei hinein und starben ...« »Jaja, wenn das Kind erst mal in den Brunnen gefallen ist ...«, grübelte Rittersporn und fing sich einen missbilligenden Blick von Geralt ein, den er jedoch geflissentlich übersah. »Es wird Zeit«, sagte Triss und führte Cailin zum Brunnen. Sie nickte Rittersporn zu, der erst fragend die Schultern hob, bis die Erkenntnis sein Gesicht erhellte. Umständlich griff er nach dem Stahlschwert. Geralt schüttelte den Kopf. Rittersporn lächelte gequält und packte schließlich das Heft des Silberschwertes und zog es aus der Schwertscheide. Diesmal nickte Geralt gottergeben. »Was soll ich singen? Was, wenn ich das falsche Lied wähle«, verlangte Cailin zu wissen. Triss tätschelte ihm aufmunternd die Schulter. »Keine Angst, junger Prinz, schließe die Augen und horche in dich hinein, und du wirst die richtigen Zeilen schon finden. Sie sind in dir, sie waren es schon immer.« Cailin tat, wie ihm geheißen. Es dauerte nicht lange, bis er in seinem Innersten auf einen hellen Schein stieß und zärtliche Musik vernahm, deren Töne ihm mehr als vertraut waren. Er lächelte, zaghaft zunächst, doch dann immer befreiter und - 100 - schließlich lachte er leise auf. Ja, das war es, wonach er gesucht hatte. Dies war sein Lied! Leise, doch hörbar, lösten sich die ersten Worte von seinen vollen Lippen, wurden immer lauter und kraftvoller, bis er die Verse mit all der Inbrunst sang, die ihm zur Verfügung stand und gerade aus seinem Herzen überquoll wie ein vom Eis befreiter Bach im Frühjahr: »Anirach govaded i chîr aer? Nedir i narn lin naer Têlir na chûd ne cherin Calad feana ne nîf dîn Peniar amarth lîn Ned i vanga en-fuin Si habo ne morchaint Canis narchar i lain Avo dhartho na nen edh-rîw canis han dôg ’urth a thrîw I maethyr idh ristar i daur Nuithar i vlabed e-gûr Peniar amarth lîn Ned i vanga fuin Si habo ne morchaint canis narchar i lain I ngelaidh si pen-loth a pen-lass I lûth gaita erin dalaf I lû sîr i gôl nin na mâr A! Si a na veth: im Eldar Peniar amarth lîn Ned i vanga fuin Si habo ne morchaint canis narchar i lain« Die anderen Barden lauschten versonnen der Melodie, ließen sich gerne einfangen von der Süße seiner Stimme. Einige, die dieses Lied noch aus ihren Kindertagen vage in Erinnerung hatten, nahmen ihre Instrumente zur Hand und begleiteten Cailin darauf, andere wiederum, die den Text nicht kannten und bislang auch noch - 101 - nie gehört hatten, trugen ihr Scherflein dazu bei, indem sie die Melodie mitsummten. Rittersporn hielt während des ganzen Liedes nervös Ausschau. Was würde ihn erwarten, wenn der letzte Ton verklungen war? Welches Unheil galt es zu bezwingen? Verdammt noch eins, warum hielt er ein Schwert in den Händen?! Das war eindeutig Geralts Part, der jedoch genüsslich mit einem Holzspan Essensreste zwischen den Zähnen hervorpulte. Dann ging alles relativ schnell. Kaum hatte Cailin sein Lied beendet, als die Erde auch schon von einem tiefen Beben erschüttert wurde. Die Barden stoben auseinander und selbst Cailin taumelte einige Schritte zurück. Geralt hatte seinen Zahnstocher schon längst weggeschnippt, nichts Gutes ahnend und sich bereithaltend, obwohl er wusste, dass er in der Gestalt des Barden nicht viel würde ausrichten können. »Halte dich bereit!«, rief Triss Rittersporn im lauten Getümmel zu. Ihre Stimme war, wahrscheinlich magisch verstärkt, problemlos im ganzen Tumult zu hören. Das Beben verebbte so schnell, wie es gekommen war, doch ein anderes Phänomen trat an seine Stelle. Ein knirschendes Geräusch machte sich dumpf breit. Es klang, als schabte etwas an Stein entlang, keine Klinge, doch etwas von derselben Beschaffenheit. Rittersporn spitzte seine feinfühligen Ohren und hatte schon bald den Ursprungsort entdeckt, während andere noch unsicher Löcher in die verschiedensten Richtungen starrten. Der Brunnen. Wenn er sein Ohr an das Holz hielt, dann … Er kam nicht mehr dazu, diese irrwitzige Idee in die Tat umzusetzen, denn bevor er den Rand des Brunnens überhaupt erreichen konnte, verstärkte sich das Geräusch um ein Vielfaches. Es kam aus den Untiefen der Erde und bahnte sich seinen Weg durch den Brunnenschacht nach oben - und doch traf es die Menge unvorbereitet, als die Bretter und die Ketten gleichermaßen wie durch eine Explosion, wie sie Alfred Nabels Sprengstoff nicht besser hätte hervorbringen können, empor und weit mehrere Meter über die Köpfe der Anwesenden hinweg geschleudert wurden, sodass sich die Verletzungen, die einige Barden erlitten, doch in Grenzen hielten. Wesentlich gefährlicher erschien allen hingegen das Wesen, das aus dem Brunnenschacht seinen Weg nach oben gefunden hatte: ein riesiger weißlicher Wurm, dessen silbern schimmernde Haut mit unzähligen, scharfkantigen Schuppen bedeckt war. Der Wurm brüllte, erzürnt über die Störung seiner unterirdischen Ruhe, und entblößte eine Reihe spitzer Reißzähne, gegen die Geralts Silberschwert wie ein Zahnstocher wirkte. Mit bösartig funkelnden Augen, die tiefschwarz wie die Nacht und groß wie Wagenräder waren, fixierte das Ungetüm die Gestalt mit dem Schwert unter ihm. Rittersporns Blick flog zwischen der Waffe in seiner Hand und dem weit aufgerissenen Maul des Untiers hin und her. Verzweiflung machte sich auf seinem Gesicht breit, die von Entsetzen abgelöst wurde, als der Wurm sich anschickte, auf ihn niederzustürzen. Mit einer abwehrenden Bewegung riss er das Schwert herum - 102 - und stemmte es dem Angreifer entgegen. Schwert und Wurm trafen aufeinander. Rittersporn kugelte die Wucht des Aufpralls fast die Schulter aus dem Gelenk. Er schrie auf und stürzte zu Boden. Die Menge schrie mit, atmete im nächsten Augenblick jedoch auf. Der Hexer lebte noch und er verdankte dies lediglich dem Umstand, dass der Wurm auf halbem Wege im Brunnen feststak und so nicht seinen ganzen Körper dem Barden in Hexergestalt entgegenwerfen konnte. Das Silberschwert war unversehrt, doch gleiches galt auch für das Geschöpf aus der Tiefe. Das Schwert hatte es lediglich vermocht, dem Untier eine Schuppe vom Leib zu reißen, die einem Schilde gleich neben Rittersporn auf dem Boden lag, der sich die verletzte Schulter rieb. »Triss, nun tue doch etwas, verdammt!«, verlangte Geralt aufgebracht. »Löse den Zauber von uns oder schick die Kreatur in die Hölle zurück, aus der sie stammt.« Die Zauberin wehrte ab. »Das ist nicht meine Aufgabe, Hexer. Ich kann den Dingen nur ihren Lauf lassen. Ich habe es nicht mehr in meiner Hand.« Geralt starrte grimmig den Wurm an, der doch tatsächlich seine Wunde leckte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf Rittersporn konzentrierte. Es war Zeit zum Handeln. »Du hast recht, Zauberin«, erwiderte er, »das ist die Aufgabe eines Hexers!« Entschlossen trat er an Rittersporn heran und griff gerade nach dem Silberschwert, als wieder jener helle Schein auftrat, den sie beide schon einmal gesehen hatten, damals in ihrer Stube. Diesmal jedoch war es keine Figur, die erstrahlte, sondern das Schwert. Insgeheim betete Geralt dafür, diesmal nicht ohnmächtig zu werden. Das konnte er sich jetzt nicht leisten, nicht, wenn das Leben seines Freundes Rittersporn auf dem Spiel stand. Er spürte ein Ziehen und Zerren in seinem Innersten und nach einem kurzen Moment des Widerstandes ließ er es geschehen. Geralt schloss die Augen und fühlte, wie sein Selbst fortgerissen wurde, aus Rittersporns Körper hinaus, und als er die Augen wieder öffnete, verrieten ihm nicht nur das Stechen in der Schulter und die einzelnen weißen Strähnen, die in sein Gesichtsfeld hingen, dass er sich nun wieder in seinem eigenen Körper befand. Hinter ihm stöhnte jemand und aus den Augenwinkeln heraus sah er den Barden mit leeren Händen rückwärts taumeln, die Augen weit aufgerissen. Es blieb keine Zeit, um die Rückkehr seines Selbst zu feiern, denn es galt den Wurm zu besiegen. Behände sprang Geralt auf, fasste das Schwert fester und umrundete rasch den Brunnen, um dem Untier in den Rücken fallen zu können. Doch das Vieh war schlauer als er gedacht hatte. Mühelos vereitelte es Geralts Plan, sodass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Nun, Geralt stand, während das Wesen ihn von oben herab anglotzte. Probieren wir etwas anderes, dachte Geralt und täuschte einen Frontalangriff vor, sprang im gleichen Moment zur Seite, sodass der herabschnellende Kopf des - 103 - Ungetüms nur den Boden erwischte, auf dem der Hexer zuvor gestanden hatte. Geralt ließ sich diese Gelegenheit, nicht entgehen, zückte zu dem Silber- auch noch das Stahlschwert, sprang auf den Rand des Brunnens und versenkte das Stahlschwert tief zwischen zwei Schuppen auf dem Rücken des Wurms, wenn man denn von einem solchen sprechen konnte, und zog sich hinauf. Sofort erhob sich der Wurm vor Schmerz brüllend und versuchte, den unerwünschten Gast mit den Reißzähnen zu erreichen, um ihn herunter zu beißen, doch vergeblich. Geralt behauptete seinen Platz dank des Schwertes, welches ihm sozusagen als Steigbügel diente. In der Menge, die sich rasch in sichere Entfernung geflüchtet hatte, erklangen zunehmend Ermunterungsrufe. Auch Rittersporn kam nun vorsichtig mit der Menge näher und skandierte gleichfalls: »Geralt! Geralt!« Den Hexer beeindruckten die Rufe nicht sonderlich. Er blendete sie aus. Zu sehr war er auf seine nächsten Schritte konzentriert. Mit dem Silberschwert durchstieß er die nächste Lücke zwischen zwei Schuppen und zog sich ein Stück weiter hinauf, nachdem er das Stahlschwert wieder herausgezogen hatte. Im steten Wechsel erstieg er so rasch die gesamte Länge des Wurms, bis er schließlich beim verdickten Schädel angekommen war, außer Reichweite des wild um sich schnappenden Mauls der Bestie. Nun wird’s interessant, dachte Geralt, schnappte sich das Silberschwert, mit den Füßen auf dem aus Stahl gefertigten balancierend, und erhob die Klinge drohend über den Scheitel des Wurms. Die Barden hielten die Luft an. Irgendwo in der Menge fielen einige Sänger in Ohnmacht, teils aus Sauerstoffmangel, teils, weil sie die Spannung nicht länger ertrugen. Mit einem Aufschrei versenkte Geralt ohne Zögern sein Schwert in den Schädel des Wurms, bis dieses gegen einen Widerstand in Form der Zähne stieß, die unter der Wucht des Stoßes zersplitterten wie Glas. Ein letztes Mal bäumte sich der Wurm auf, doch Geralt hielt die Balance und schlitterte mit ausgebreiteten Armen den Körper des Untiers herab, bis seine Füße wieder festen Boden unter sich spürten. Zur selben Zeit, als der Wurm auf dem Boden aufschlug und in einer Pfütze milchig-weißen Blutes sein Leben aushauchte, brandeten allmählich, erst leise, dann ohrenbetäubend, Jubelschreie auf. Triss stand in sicherer Entfernung, das Gesicht kalkweiß, was einen schönen Kontrast zu ihrer kastanienbraunen Haarpracht bildete. Als sie sah, dass der Hexer unbeschadet vor ihr stand, kannte sie kein Halten mehr. Zitternd stürzte sie in seine Arme und schmiegte sich eng an seine starke Brust. »Geralt«, flüsterte sie stockend, »ich konnte nicht ahnen, dass es so groß sein würde. All dieser Neid, diese Missgunst und die Geheimnisse haben es so fett werden lassen. Wenn ich das geahnt hätte … Ich hätte dich doch niemals einer solchen Gefahr ...« »Ist schon gut, Triss«, beruhigte er sie und strich durch ihr Haar. »Monster bleibt Monster, da ist die Größe ganz nebensächlich«, erklärte er und dachte insgeheim an Flotsam und das Umland von Wyzima. Einen Moment der Intimität war ihnen noch - 104 - vergönnt, dann brach der Minnesang in Form der ungezählten Barden über sie herein und Triss wurde rasch wieder zu der kühlen und unnahbaren Magierin, die sie selbst so verabscheute. »Bravo!« Das Schulterklopfen und Händeschütteln wollte kein Ende nehmen. Geralt ließ es beiläufig geschehen. Es gehörte zum Job, auch wenn er die Intensität mehr als übertrieben fand. Leo hingegen plagten ganz andere Probleme. »Was machen wir jetzt mit diesem Vieh?«, fragte er lautstark und trat angeekelt gegen die Überreste des Wurms, die am Boden lagen und partout nicht verrotten wollten, was seine These untermauerte, dass der Fluch nun tatsächlich Geschichte war. Er beugte sich hinab und brach sich mühsam eine Schuppe herunter. »Nun«, murmelte er geschäftig in seinen Bart, »die könnte man doch gut als Andenken verkaufen und mit etwas Glück ist dass Vieh auch noch essbar ...« Geralt konnte nicht anders. Er lachte lauthals. Rittersporn wandte sich Cailin und Fiona zu, die beieinander standen und die Hände nicht voneinander lassen konnten. »Und was werdet ihr beiden Turteltauben nun tun?« Fiona strahlte über das ganze Gesicht. »Wir wollen so bald wie möglich heiraten«, antwortete Cailin an ihrer Stelle und fügte hinzu: »Und wenn es dir recht ist, Liebste, möchte ich eines Tages in das Reich meines Vaters aufbrechen, um meiner Familie die Aufwartung zu machen. Natürlich nur mit dir.« Sie nickte zustimmend. »Eine Hochzeit? Ist das denn überhaupt möglich«, rätselte Rittersporn, »schließlich haben die beiden doch denselben Vater?« »Nun, das hat König Foltest doch auch nicht davon abgehalten, seine Schwester heiraten zu wollen, und die beiden hatten auch noch eine gemeinsame Mutter«, warf Triss lapidar ein. Geralt schwieg aus gutem Grunde und dachte sich seinen Teil. Triss hatte nicht Unrecht, doch auch sie vermied es auszusprechen, was ihnen beiden gerade durch den Kopf ging. Adda. »Viel wichtiger ist jedoch, dass ihr den Segen deines Vaters habt, Fiona.« Die Wirtstochter blickte in Richtung ihres Vaters, der sie ansah und schließlich seufzte. »Meinen Segen habt ihr, denn ihr macht ja doch, was ihr wollt. Ich kenne den Dickschädel meiner Tochter. Den hast du übrigens von deiner Mutter, nicht von mir, lass dir das gesagt sein!« »Verzeih, Vater«, mischte sich nun auch noch Ranold ein, hinter dessen Rücken der blonde Barde hervorlugte, »wenn es dir recht ist, möchte ich auch um deinen Segen bitten: für mich und Ansgar«, sprach er und umarmte Rittersporns Bruder innig. Leo raufte sich den Bart. »Meinetwegen«, resignierte er schließlich. »Oh je, was das wieder kosten wird!« - 105 - »Da mach dir mal keine Sorgen, werter Schwiegervater«, meldete sich nun Cailin zu Wort. »Es ist ja nicht so, dass ich vollkommen mittellos in deine Familie einheirate. Denk nur an die Siegesprämie, die mir laut Wettstreit zusteht. Das ist doch ein recht ansehnliches Sümmchen, das locker für eine Doppelhochzeit reichen sollte.« Leos Augen strahlten. Weniger vor Freude als von dem Gedanken an die Einnahmen. Triss seufzte. Änderte sich dieser Mann denn nie? »Ihr seid natürlich herzlichst eingeladen, Triss Merigold«, schmunzelte Leo MacDanold, dem der Seufzer der Zauberin natürlich nicht entgangen war. »Und ich möchte mich aufrichtig für mein ungehobeltes Benehmen Euch gegenüber entschuldigen. Von nun an soll Euch der Respekt entgegengebracht werden, der Euch zusteht.« Er verbeugte sich höflich vor ihr. Triss lächelte und neigte hoheitsvoll den Kopf. »Und was ist mit mir und Geralt?«, wollte Rittersporn wissen. Cailin, Fiona, Ranold und Ansgar, die geschäftig die Köpfe zusammengesteckt hatten, sahen zur gleichen Zeit auf. »Das ist doch ganz klar ...«, begann Cailin und Ranold vollendete den Satz, »... ihr beide bleibt hier und werdet unsere Trauzeugen!« »Ich lasse mich nur von meinem Bruder zum Altar begleiten«, rief Ansgar lachend. »Näher wirst du diesem heiligen Ort in deinem ganzen Leben selbst nicht kommen, Brüderchen!« Geralt und Rittersporn sahen sich an und zuckten die Schultern. »Nun, zumindest um die Musik zum Fest braucht sich keiner Sorgen zu machen«, bemerkte Rittersporn und erntete tosendes Gelächter seiner Minnebrüder. Drei Tage dauerten die Feierlichkeiten und beide, sowohl der Hexer als auch der Barde, waren froh, als sie Carinthia, zwar um einige Kilo schwerer, doch recht zufrieden, wieder verlassen konnten. »Es ist doch immer dasselbe«, sagte Rittersporn und rülpste vernehmlich. »Mit Familie und Feiern verhält es sich wie mit einem Fisch: Nach drei Tagen beginnen sie zu stinken und unangenehm zu werden.« »Na, dein Bruder wird dir da wohl kaum zustimmen mögen, Barde«, grinste Geralt. »Doch eins muss man ihm lassen, er war eine verdammt attraktive Braut.« Rittersporn lachte lauthals. »Hast du auch die neidischen Blicke von einigen Barden in der Menge gesehen? Da gab es genügend, die Ranold am liebsten ein Messer in den Rücken gerammt hätten. Ich bin froh, dass es vorbei ist«, prustete er noch lachend und rülpste erneut. Schweigend ritten sie nebeneinander her, jeder für sich in Gedanken versunken, ließen sie noch einmal innerlich die Ereignisse Revue passieren, die ihnen seit ihrer Abreise aus Tretogor widerfahren waren. Rittersporn suchte bereits nach den passenden Reimen für eine ordentliche Ballade, als ihm etwas einfiel. »Wohin reiten wir eigentlich jetzt?« - 106 - Geralt wandte sich um, strich einmal um sein bartloses Kinn und lächelte, bevor er sein Pferd wendete und eine vollkommen neue Richtung einschlug. »Wo willst du hin, verdammt noch mal? Geralt, warte!« Geralt drehte sich nicht um, während er antwortete: »Wohin? Denk nach, Rittersporn! Ich hab jemandem in Tretogor versprochen, ich würde auf dem Rückweg noch einmal vorbeischauen. Erinnerst du dich?« Nun war es an Rittersporn zu grinsen. Natürlich erinnerte er sich. Also auf nach Tretogor, dachte er, es ist an der Zeit, dass sich der Kreis schließt! - 107 -