So wertvoll wie ein kleines Buch

Transcription

So wertvoll wie ein kleines Buch
Nummer 23 / Juni 2008
So wertvoll wie ein kleines Buch
50Plus
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Aschermittwoch
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Die Botoxparty
Sterben des Papparrazzo Ville Mäkkalainen
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Rekordverdächtig
Peter Häring, Eichendorffstr. 24d, 92318 Neumarkt
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
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Leben und
Spielverderber
Zeitenwende
www.ahnungslos-online.de
Editorial
Dies ist Ausgabe Nummer 23. Das vorherige Heft hatte
die Nummer 22, diejenigen davor 21, 20, 19 usw.
Ist es nicht verblüffend, mit welcher Geradlinigkeit
sich die Geschichte von Ahnungslos vollzieht? In zehn
Jahren nicht einmal, dass eine Nummer gefehlt oder es
nur zu ½ gebracht hätte.
Ich denke es ist nicht vermessen, zu behaupten, die
nächste Ausgabe wird die Nummer 24 tragen.
In redaktioneller Liebe
Euer
So wertvoll wie ein kleines Buch
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Aschermittwoch
Vor einem Jahr, am Aschermittwoch, war gar nichts vorbei. Die wehmütigen Refrains
diverser Schunkellieder behielten diesmal unrecht. Nach wie vor drängten sich
Maskierte in den Straßen, stolperten bunt bemalte Besoffene aus den Kneipen. Die
Partys gingen weiter, Umzüge blockierten wie gehabt den Verkehr.
Seltsamerweise nahm niemand Anstoß daran. Die Faschingsmuffel benahmen sich
desinteressiert wie immer, die Jecken überdreht wie immer. Nur mir schien das
aufzufallen. Für Alle, mit denen ich redete, war das völlig in Ordnung, als wäre das
noch nie anders gewesen.
So ging es weiter. Es wurde Ostern, dann Pfingsten, der Sommer kam und die
Menschen feierten Land auf Land ab Karneval. Und nicht nur das. Es wurden auch
immer mehr, die sich dem närrischen Treiben anschlossen. Im Laufe des Jahres waren
meine Mitbürger mehrheitlich zu den Karnevalisten übergelaufen. Im August, so
schätzte ich, war der Anteil der Faschingsverweigerer auf höchstens 20% geschrumpft.
Ein paar mir Gleichgesinnte, es gab sie doch, bildeten im Sommer eine AntiFaGruppe, die sich gegen die grassierende Karnevalitis zu stemmen versuchte. Ich trat ihr
bei. Mit Zeitungsaufrufen, Protestmärschen und Petitionen versuchten wir, dem Irrsinn
Einhalt zu gebieten. Nichts half. Immer weiter fraß sich der Faschingsmoloch durch das
gesellschaftliche Leben. Da von Tag zu Tag weniger Leute zur Arbeit gingen, litt
natürlich auch die Wirtschaft darunter, doch das interessierte außer uns Außenseitern
niemanden mehr.
Im Herbst wurde Halloween ohne viel Federlesens in die Faschingsumtriebe
einverleibt. Damit konnte ich gut leben. Halloween war ja schon vorher nichts anderes
als ein Zweitfasching.
Weihnachten kam. Der Karneval blieb. Papierschlangen ersetzten Lametta, die
Christbaumkugeln durften bleiben, wahrscheinlich weil sie bunt genug waren. Die
Krippen wurden umfunktioniert in Wassertröge zur Kühlung der Getränke. Die Kirche
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war machtlos, sie hatte selbst bereits viele Priester und Laienkräfte an den Fasching
verloren.
Auch unsere AntiFa-Gruppe dünnte mehr und mehr aus. Entweder ein Mitglied
ergab sich dem Sog der trötenden Mehrheit oder war es einfach leid, ständigen
Anfeindungen und immer öfter auch tätlichen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Auf dem
Höhepunkt unseres Wirkens zählte meine Gruppe 45 Mitglieder, jetzt nur noch sieben.
Heute ist Faschingsdienstag.
Ich habe mich zusammen mit meinem Grüppchen in meinem Haus verschanzt. Wir
sind vier Frauen und drei Männer. Draußen auf der Straße, in meinem Garten,
ringsherum werden wir belagert von militanten Karnevalisten. Unsere Nahrungsmittelund Getränkevorräte reichen höchstens für eine Woche, dann wird uns nichts anderes
übrig bleiben, als uns ins Unvermeidliche zu ergeben. Einige von uns denken schon an
kollektiven Selbstmord. Aber noch besteht die Hoffnung, dass mit dem morgigen
Aschermittwoch tatsächlich alles vorbei sein wird. Vielleicht klappt es ja diesmal.
Das Getöse draußen vor dem Haus ist beängstigend. Es geht jetzt schon tage- und
nächtelang so. Schellen, Trommeln, Rasseln, Pfeifen, Singen, Grölen, nichts bleibt uns
erspart. An Schlafen ist nur mit Ohrstöpseln zu denken, außerdem schieben immer zwei
von uns Wache, sicher ist sicher.
19 Uhr: Wir haben gerade zu Abend gegessen. Ravioli aus der Dose. Jemand
schaltet den Fernseher ein, in der Hoffnung, heute etwas anderes als Berichte über
Karnevalsumzüge zu sehen. Natürlich kommt nichts anderes. Trotzdem läuft der
Fernseher weiter.
20 Uhr: Der Fernseher wird schwarz, alle Lichter im Haus gehen aus. Draußen
johlen die Menschen. Was ist passiert? Ich gehe in den Keller und überprüfe die
Hauptsicherung. Sie ist in Ordnung. Die Verrückten haben uns anscheinend den Strom
abgedreht.
Wir haben drei Taschenlampen und haufenweise Teelichte. Das Kerzenlicht macht
die Situation noch gespenstischer.
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22 Uhr: Der Lärm rings um das Haus wird immer bedrohlicher. Ab und zu kracht
etwas gegen die Eingangstür oder gegen die heruntergelassenen Rollos, jedesmal
begleitet von frenetischem Tröten und Rasseln. Wir schreien unsere Wut durch Türen
und Fenster. Am liebsten würde ich nach draußen gehen und auf die Belagerer
einprügeln, aber die Übermacht ist zu groß.
23 Uhr: Niemand denkt an schlafen. Wir sind alle viel zu nervös und auch
ängstlich. Mittlerweile hat das Getöse infernalische Ausmaße angenommen. Mit jeder
Minute, die Mitternacht näher rückt, wird es schlimmer.
00 Uhr: Schlagartig Stille. Wir wagen nicht zu atmen. Kann das wahr sein, ist jetzt
alles vorbei? Voller Hoffnung und Zweifel schauen wir uns an. Dann gehen wir
gemeinsam an die Haustür und ich öffne sie vorsichtig. Bleierne Stille. Ich richte meine
Taschenlampe geradewegs nach vorne in die Dunkelheit und schalte sie ein. Der
Lichtstrahl trifft auf Menschen, die dicht an dicht in meinem Garten stehen und zu mir
her starren. Meine Knie werden weich. Dann ertönt eine Tröte, weitere setzen ein,
schließlich bricht ein ohrenbetäubendes Spektakel los. Ich werde ohnmächtig.
Ich fahre hoch, setze mich benommen auf. Mein Gott, denke ich, was für ein verrückter
Traum. Anscheinend bin ich auf dem Sofa eingeschlafen.
Ich gehe ins Bad, um mich etwas zu erfrischen, anschließend mache ich mir einen
schnellen Kaffee in der Küche. Mein Blick fällt auf den Kalender an der Wand. Stimmt,
heute ist ja Aschermittwoch.
Dann nehme ich meine Tröte vom Küchentisch, klemme mir meine Pappnase ins
Gesicht und reihe mich lautstark ein in die grölende Meute vor meinem Haus.
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Spielverderber
Es begab sich, dass Sylvester endete, aber Neujahr nicht erschien.
Überall auf der Welt, wo der Jahreswechsel nach gregorianischer Zeitrechnung
gefeiert wurde, standen die Menschen auf den Straßen und Plätzen, starrten auf Turmund Armbanduhren und erwarteten trötend das neue Jahr. Doch nichts geschah. Die
Uhren rückten nicht über die Zwölf hinaus, die Datumsanzeigen meldeten beharrlich
den 31. Dezember. Hinter den Deckblättern sämtlicher Kalender war gähnende Leere.
Weit weg, in einer Gegend, die den Menschen schon immer verschlossen war und auch
immer verschlossen bleiben würde, saßen zur gleichen Zeit die zwölf Monate an einer
großen Tafel und diskutierten lautstark. Besser gesagt, sie stritten gotterbärmlich.
Anlass für diesen Streit war Januar, der seinen Kollegen lapidar eröffnet hatte, dass
er nicht mehr den Anfang machen wolle. Das war ihm gestern eingefallen, einen Tag
vor Jahreswechsel. Die Anderen hatten mit Engelszungen auf ihn eingeredet und
versucht ihn umzustimmen, aber Januar war stur geblieben. Er wollte einen Platz in der
Jahresmitte. Punkt.
Das letzte Mal waren sie außerplanmäßig im Jahre 1582 zusammengekommen, als
die Menschen den gregorianischen Kalender einführten. Es war damals harte
Überzeugungsarbeit zu leisten, denn Leidtragender war vor allem der Oktober, der in
diesem Jahr sage und schreibe zehn Tage verlieren sollte. Da man ihm aber garantierte,
dass dies nur eine einmalige Ausnahme darstellte, konnte der Oktober dem dann doch
zustimmen. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der offizielle Jahresbeginn auf den
ersten Januar gelegt, worauf dieser damals sehr stolz war.
Doch jetzt wollte er partout einen anderen Arbeitsplatz.
„Ruhe!“, brüllte Dezember. „Ruhe, verdammt nochmal! So kommen wir doch nicht
weiter! Seit fünf Minuten ist Neujahr überfällig, ich kann meinen einunddreißigsten
schließlich nicht ewig stehen lassen, der dreht mir ja durch.“
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Dezember war so etwas wie der Moderator dieses Treffens, und er war
fuchsteufelswild. Mit Grausen erinnerte er sich an 1582, als sie zwei Wochen gebraucht
hatten, sich zu einigen. So viel Zeit konnten sie sich diesmal nicht nehmen.
Tatsächlich kehrte Ruhe ein. So impulsiv kannten seine Kollegen Dezember nicht.
Januar schaute demonstrativ aus dem Fenster. An ihn gewandt, fuhr Dezember fort:
„Mir reicht‘s jetzt. Die Plätze von denen, die mit dir tauschen würden, willst du
nicht, und die anderen kriegst du nicht. Damals hast du uns wochenlang genervt, wie
toll es doch wäre, am Jahresanfang zu stehen und alle die nach dir kämen, wären arme
Schweine. Und jetzt nervst du uns wieder. Ich hätte gute Lust, deine Tage auf uns
Andere aufzuteilen.“
„Au ja!“, rief Februar.
Januar wurde kreidebleich.
„Das kannst du nicht tun“, protestierte er.
„Aber ich kann abstimmen lassen und dann werden wir ja sehen, was passiert.“
„Also gut Leute“, sagte August, „ich mach’s, sonst wird das ja nie was.“
„Du willst mit Januar tauschen?“, fragte Dezember erstaunt.
„Warum nicht? Mal eine andere Perspektive.“
„Niemals!“, rief Februar. „Nie und nimmer!“
„Jetzt geht das wieder los“, stöhnte April. Auch die Übrigen reagierten sichtlich
genervt auf Februars Zwischenruf. Bis auf März, der war eingenickt.
„Könnt ihr zwei euer Kriegsbeil nicht endlich begraben?“, fuhr April fort. „Es
reicht wirklich.“
„Ich würde ja“, sagte August.
„Ich will dich nicht in meiner Nachbarschaft haben. Ich hasse dich“, sagte Februar.
„Mein Gott Februar, kannst du die alte Geschichte nicht endlich auf sich beruhen
lassen? Das ist jetzt 2000 Jahre her“, sagte November.
„Nö.“ Trotzig verschränkte Februar die Arme vor der Brust.
Dazu muss man wissen, dass etwa 45 v. Chr. der August zu Lasten des Februars
einen Tag mehr bekam, der Februar danach nur noch 28 Tage hatte. Seither ist Februar
schlecht auf August zu sprechen. Sehr schlecht.
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So wertvoll wie ein kleines Buch
„Jetzt habe ich aber die Schnauze voll!“, donnerte Juli, sprang auf, lief um den
Tisch herum, packte Februar am Schlafittchen und schüttelte ihn so heftig, dass er
beinahe auch noch seinen Achtundzwanzigsten verloren hätte.
„Kinder, Kinder, was soll denn das. Habt euch wieder lieb.“
„Halt du dich da raus, Mai. Dein Gesäusel hat uns noch nie weitergebracht.“
Trotzdem ließ Juli von Februar ab.
„Sag du auch mal was März, ständig pennst du nur.“ April rempelte seinen
Nachbarn unsanft an.
„Was is‘?“
„Du sollst auch mal dein Maul aufmachen, habe ich gesagt.“
„Zu was?“
„Lass gut sein April“, sagte Dezember. „Du kennst ihn doch.“
März schaute kurz noch etwas belämmert in die Runde, dann nickte er wieder ein.
Februar ergriff erneut das Wort: „Ich finde das jetzt total unfair, dass ihr auf mich
losgeht, schließlich hat uns Januar die ganze Sache eingebrockt.“
Die Angesprochenen starrten betreten vor sich auf die Tischplatte oder aus dem
Fenster.
„Februar hat Recht“, sagte Dezember und fügte an ihn gewandt hinzu: „Trotzdem
könntest du deinen Zwist mit August langsam mal beilegen.“
„Genau. Gebt euch die Hand und drückt euch ganz doll.“ Nur Mai konnte so etwas
sagen. Die Anderen verdrehten bloß die Augen.
„Ich bin dafür, dass wir jetzt mal wieder anstoßen“, lallte Oktober, der sich seit dem
Mittagessen ein Glas Wein nach dem anderen eingeschenkt hatte.
„Na Klasse, auf dein Gesülze haben wir gewartet“, maulte September. „Kannst du
auch mal was Sinnvolles von dir geben?“
„Du bist doch bloß neidisch, weil du einen Tag weniger hast als ich, du
kümmerlicher Dreißiger.“
„Sag das nochmal!“
„Gern. Du bist doch bloß….“
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„Hört sofort auf damit“, fuhr Dezember dazwischen. „Überlegt euch lieber, wie wir
aus diesem Schlamassel rauskommen.“
„Soll doch Januar Vorschläge machen, wegen ihm hocken wir doch hier“, sagte
April.
„Richtig“, pflichtete Juli bei.
„Ich hab euch schon gesagt, was ich will. Ich will mehr in die Mitte. Den Anfang
habe ich jetzt lange genug gemacht. August würde ja tauschen, aber das passt ja meinem
zu kurz geratenen Nachbarn nicht.“
„Du bist ja so gemein“, greinte Februar. „Du Mistkerl!“
„Ich geb dir gleich einen Mistkerl“, sagte Januar und knuffte Februar schmerzhaft
in den Oberarm.
„Na warte Bürschchen“, zischte Juli, langte über den Tisch und versetzte Januar
eine saftige Ohrfeige.
„Au!“, schrie Januar. „Spinnst du?!“
„Schluss damit!“, rief Dezember. „Jetzt reißt euch mal zusammen.“
Juli setzte sich demonstrativ langsam wieder auf seinen Stuhl, während sich Januar
wütend die linke Backe rieb.
„Du könntest ja mit Oktober tauschen, der merkt sowieso nicht wo er gerade ist,
wegen seiner ständigen Sauferei“, sagte September zu Januar.
Die Übrigen konnten sich ein Kichern nicht verkneifen. Oktober hatte das nicht
gehört, weil er sich gerade eine neue Flasche Wein aus dem Keller holte. Als er
zurückkam, schauten ihn alle amüsiert an.
„Was ist?“, fragte er. „Ich liebe das Zeug nun mal.“
„Das wissen wir“, ätzte September.
„Ich fasse mal zusammen“, ging Dezember sogleich dazwischen. „November,
Februar, August und ich würden mit Januar tauschen, das will aber Januar nicht,
beziehungsweise Februar. Die Übrigen wollen ihre Plätze behalten. Das heißt wir sind
soweit wie am Anfang.“
Resignation machte sich breit. Ein paar standen auf, um sich ein wenig die Füße zu
vertreten, Januar blieb sitzen. Märzens Stirn war auf die Tischplatte gesunken.
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November und Dezember gingen nach draußen an die frische Luft, Juni schloss sich
ihnen an. Mittlerweile war es fünfundzwanzig Minuten nach Mitternacht.
Zehn Minuten später saßen alle wieder am Konferenztisch.
„Also“, begann Dezember, „hat jemand neue Vorschläge?“
Kopfschütteln. Achselzucken. Schweigen.
„Oh nein!“ Das kam von Juni, der entgeistert auf seinen BlackBerry starrte.
„Was ist?“ fragte Dezember. Alle Aufmerksamkeit im Raum richtete sich auf Juni.
„Die Nachrichten! Ich fass‘ es nicht!“
„Was ist denn?!“
„Wir sind erledigt.“
„Jetzt sag endlich, was los ist“, fuhr ihn Juli an.
„Man will uns ausbooten. Sie überlegen, kurzfristig den chinesischen Kalender
einzuführen, weltweit.“
Die Monate saßen sprach- und fassungslos auf ihren Stühlen. Selbst März hatte
seine Augen weit aufgerissen.
„Sag das nochmal“, forderte Dezember Juni auf.
„Die Menschen wollen uns durch den chinesischen Kalender ersetzen. Wir wären
sozusagen im Jahr der Ratte.“
Tumult brach los. Alle sprangen von ihren Stühlen auf, gestikulierten und
plapperten wild durcheinander.
September: „Scheiß Chinesen!“
November: „War ja klar.“
Mai: „OGottOGottOGott!“
März: „Endlich ausschlafen.“
Juni: „Sonnwendfeiern ade!“
April: „Wenigstens mault dann keiner mehr über mich.“
August: „Vielleicht kann man ja auf Ratte umschulen.“
Dezember: „Weihnachten ist sowieso nicht mehr das, was es mal war.“
Februar: „Heißt das ich bin jetzt arbeitslos?“
Oktober: „Ich hasse Reiswein!“
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Juli: „JANUAR!“
Januar saß leichenblass auf seinem Stuhl und starrte ins Leere.
„Das ist alles deine Schuld!“, brüllte Juli.
Schlagartig wurde es totenstill. Alle schauten auf Januar.
„Ok, ok. Ich mach den Anfang. Kein Problem.“
Januar sprang auf, als säße er auf einer heißen Herdplatte, riss seinen Mantel von
der Garderobe und stürzte ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Juni, November und Dezember sahen sich an. Langsam schlich sich ein Grinsen auf
ihre Gesichter. Juni fing an zu kichern.
„Ihr habt das doch nicht etwa…?“, fragte Juli.
Dezember nickte.
Nach kurzer Stille, während der dieser Clou in die Gehirne der Monate sickerte,
brach ohrenbetäubendes Gejohle los.
Gut, dass Januar da schon auf seinem Posten war.
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Leben und Sterben des Papparrazzo Ville Mäkkalainen
Ville Mäkkalainen war Finnlands berühmtester, erfolgreichster und deswegen meist
gehasster Papparrazzo. Er hatte ein untrügliches Gespür für den richtigen Moment, war
immer zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Er war es, dem es einst gelungen war,
die finnische Frauenfußballnationalmannschaft mittels einer in der Dusche installierten
Minikamera zweifelsfrei als Männer zu enttarnen. Er war es, der Finnlands Operndiva
Emilia Pekkopistuuru dabei erwischte, wie sie auf der Yacht eines befreundeten
Handyproduzenten zum Zeitvertreib zwei nackte muskelbepackte Neger auspeitschte.
Und er war es auch, der den Abgeordneten Juho Raurismääki beim Seitensprung mit
einer Elchkuh ertappte.
Ville Mäkkalainen war auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Zwar hatte ihn vor
zwei Monaten seine Frau Lotta verlassen und auch Freunde hatte er keine mehr, aber
das war ihm egal. Seine Karriere war ihm wichtiger. Nur dass Lotta ausgerechnet mit
Eemeli Lapeenranta, einem seiner früheren Opfer, durchgebrannt war, wurmte Ville
sehr, auch wenn er das niemals zugeben würde.
Trotz seines beruflichen Erfolgs war Ville nicht zufrieden. Freilich kannte ihn in
Finnland jedes Kind, selbst hoch oben bei den Samen war er ein Begriff, doch
außerhalb seines Landes, schon drüben in Schweden, war sein Name vollkommen
unbekannt. Wer las in Deutschland oder Frankreich oder auf der Insel schon die IltaSanomat. Ville Mäkkalainen strebte nach internationaler Anerkennung und nach
internationalen Gagen. Beides lachte ihm nur dort, wo die Superstars zuhause waren, in
England oder besser noch in Amerika. Er wusste auch schon, wie er sich dort nennen
würde: MacLaine, Will MacLaine.
Doch bevor er den Schritt ins Ausland tun konnte, musste er sich in seiner Heimat
noch um seinen Intimfeind kümmern, um Roope Anteskaari, einen aufgeblasenen,
leider auch preisgekrönten Schauspieler. Der hatte ihn vor einem Jahr fürchterlich
verprügelt, als Ville ihm vor dessen Haustür aufgelauert und ihn mit einem
Blitzlichtgewitter überfallen hatte. Roope war deswegen gestürzt und hatte sich das
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linke Handgelenk gebrochen. Das rechte Handgelenk brach er sich dann auch noch an
Villes Backenknochen. Ville lag eine Woche im Krankenhaus, verzichtete aber auf eine
Klage wegen Körperverletzung. Seine Rache würde anders aussehen.
Ville Mäkkalainen engagierte das aufstrebende Sternchen Siiri Kepponen und setzte sie
auf Roope Anteskaari an. Danach, so dachte sich Ville, bräuchte er mit seiner Kamera
nur noch die Ernte einzufahren. Da sich der 56-jährige Anteskaari gern als Moralapostel
gab, würde der Skandal in der Öffentlichkeit umso höhere Wellen schlagen. Schlecht
für Roope, gut für Ville.
So kam es, dass Ville Posten bezog auf dem Gerüst an der Fassade des Hotels
Cumulus Kasaniemi in Helsinki, wo gerade Malerarbeiten im Gange waren. Ville hatte
die Handwerker bestochen, damit er in Ruhe seine Gerätschaften vor dem Fenster des
Zimmers aufbauen konnte, in dem Roope Anteskaari sich mit Siiri Kepponen
vergnügen würde. Das Zimmer hatte Ville selbst organisiert, indem er bei einer ihm
ergebenen Rezeptionsdame einen Gefallen einforderte.
Er hatte etwa eine halbe Stunde auf dem Gerüst gewartet, als drinnen die
Zimmertür aufging und Roope mit seinem attraktiven Verhängnis am Arm eintrat. Ville
jauchzte innerlich. Die Demontage von Roope Anteskaari konnte beginnen. Kaum hatte
Roope die Tür geschlossen, packte er Siiri und riss sie an sich. Das war es, worauf Ville
gewartet hatte. Er wollte gerade den Auslöser drücken, als er über und neben sich ein
hässliches Geräusch hörte. Ein Reißen und Krachen. Das Gerüst erzitterte. Dann setzte
es sich ächzend in Bewegung. Ville klammerte sich panisch an eine der Verstrebungen.
Langsam entfernte sich das Gerüst von der Fassade. Konsterniert stierte Ville auf das
Fenster, vor dem er eben noch ausgeharrt hatte und blickte in das grinsende Gesicht von
Roope Anteskaari, neben dem eine sichtlich amüsierte Siiri Kepponen stand und ihm
eine Kusshand zuwarf.
Man hatte ihn aufs Kreuz gelegt.
Roope gab ihm jetzt Zeichen. Er bedeutete ihm anscheinend, nach unten zu sehen.
Das Gerüst hatte mittlerweile an Fahrt zugelegt und sich wenigstens fünf Meter von der
Fassade entfernt. Villes Gerätschaften verloren den Halt und sausten in die Tiefe. Er
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schaute über die Schulter nach unten. Und blickte in ein Blitzlichtgewitter. Dort stand
eine Armee von Fotografen, die seinen Sturz professionell begleitete. Auch dafür hatte
Roope gesorgt.
In diesem Moment wich jegliches Entsetzen aus Ville. Er wurde vollkommen ruhig.
Er wusste: Dies war sein Höhepunkt. Auch wenn seine fotografierenden Kollegen dort
unten das erst später begreifen würden, er, Ville, war der eigentliche Triumphator. Was
konnte krönender sein für seinen Beruf, als solch ein blitzlichtumtoster Absturz. Selbst
in Amerika würden diese Bilder, seine Bilder, reißenden Absatz finden. Bilder von Will
MacLaine.
Ville wand seine Arme und Beine um die metallenen Streben und drehte sich so gut
es ging in Richtung der starrenden Objektive. Das Gerüst lag jetzt im Winkel von 45
Grad in der Luft und stürzte mit brausendem Pfeifen der Straße entgegen.
Ville lächelte. Er lächelte nach links, nach rechts, in die Mitte, bedachte jeden
seiner Kolleginnen und Kollegen mit ehrlicher Zuwendung. Er wusste was jetzt gerade
in ihnen vorging, er hatte ähnliches ja selbst oft genug hinter der Kamera erlebt. Auch
wenn er sie hinter ihren Apparaten nicht erkennen konnte, sicher standen sie alle dort
unten: Onni und Eeli, mit denen er sich so oft um die besten Plätze geprügelt hatte,
Akseli, der wegen ihm bei der Ilta-Sanomat seinen Job verlor, Veeti, Anton und Jaakko,
unzählige Male hatten sie sich gegenseitig ihre Beute zugetrieben, um sie dann
gemeinsam zu erlegen, Milla, der es immer wieder gelungen war, ihm die lästigen
Wartezeiten vor einem Einsatz lustvoll zu verkürzen, und natürlich Julius, sein Mentor
Julius, ohne den er heute wahrscheinlich für irgendeine Lokalredaktion über die
Frühjahrsreinigung des örtlichen Kneippbeckens berichten würde.
Stolz und gerührt traf Ville auf die Straße.
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Zeitenwende
Als China sich noch Kaiser gönnte,
war Marco Polo zu Besuch.
Heut sieht man Kaiser eher selten,
und Marc O’Polo webt dort Tuch.
Rekordverdächtig
Der Chinese Weng Do Ping
sprang 20 Meter aus dem Stand.
Der Chinese Ho Deng Hui
warf den Speer ins Hinterland.
Der Chinese Jiao U Rinh
stieß die Kugel in die Ränge.
Der Chinese Pih Tu Twe
flog beim Stabhochsprung in die Menge.
Nur der Chinese Ho Te Hue
gab sich beim Reiten keine Müh.
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So wertvoll wie ein kleines Buch
50plus
Das hat gesessen. Drei Wochen vor meinem fünfzigsten Geburtstag schlug ich die
Tageszeitung auf und fand auf Seite 13 eine Sonderveröffentlichung zum Thema
‚50plus – in den besten Jahren‘.
Eine SONDERVERÖFFENTLICHUNG!
Das ist so etwas wie die Sonderberichterstattung nach einem missglückten
ugandischen Atombombentest oder nach dem Ausbruch einer Ebola-Epidemie in
Reykjavik.
Nun wird mancher sagen, was willst du eigentlich, da steht doch ‚in den besten
Jahren‘. Schon richtig, aber warum wird das eigens erwähnt? Mir kommt das vor wie
Pfeifen im dunklen Keller. Es hilft zwar nichts gegen die dort lauernden Gefahren, aber
es dämpft die aufkommende Panik.
Wie auch immer, die Sonderveröffentlichung auf Seite 13 war nicht dazu angetan, mich
aufzuheitern. Gleich der erste Artikel, es ging ums Einkaufen, begann mit den Worten
‚Das Einkaufen im Supermarkt muss seniorenfreundlicher werden‘. Daneben das Bild
eines gehstockbewehrten Rentners, der sich an einen Einkaufswagen klammert. 50Plus.
Umfragen unter Senioren – mich hatte keiner gefragt, ich war ja zu diesem
Zeitpunkt erst rüstige 49, also noch nicht in den besten Jahren, 50minus – Umfragen
unter Senioren hatten also als Hauptbeschwerdepunkte ergeben: Schwer zu lenkende
Einkaufswagen und eine fehlende Kundentoilette.
Die Sache mit dem schwer lenkbaren Einkaufswagen ist sowieso altersunabhängig,
meine ich. Wem wäre das nicht schon mal passiert, dass er nach einer plötzlichen
Blockade des linken Vorderrades geradewegs in das Regal mit Hygieneartikeln gerast
und dort die liebevoll verpackten Produkte von Dove und o.b. aufgeschlitzt hätte wie
der Eisberg die Titanic?
Der Ruf nach einer Kundentoilette dagegen hat mich schon nachdenklich gemacht.
Ich werde wohl nach meinem 50. Geburtstag immer erst ausgiebig urinieren, bevor ich
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einen Supermarkt betrete, zur Not hinter das Abstellhäuschen für die Einkaufswagen
draußen auf dem Parkplatz.
Neben dem Artikel über das seniorengerechte Einkaufen inserierte die Kurstadt Bad
Bocklet. Sie bot unter anderem eine Schnupperkur mit Moor und Bewegungsbad an,
inklusive zweier kurärztlicher Untersuchungen, und schloss ihre Avancen mit der Frage:
Wann kommen Sie?
Ich? Niemals! Ich will nicht nach Bad Bocklet. Ich will in keine Stadt, die mit Bad
anfängt. Außer vielleicht Baden-Baden.
Gleich unter Bad Bocklet fand sich eine Anzeige für bequeme Schuhe. Kein Wort von
schick, sportlich, sexy, stylish, einfach nur bequem. 50plus interessiert sich nicht mehr
für lifestyleoptimierte footware, sondern will bequeme Schuhe. Hauptsache keine
Blasen an den Füßen nach einem einstündigen Aufenthalt im Supermarkt, der zu
Dreivierteln der erfolglosen Suche nach einer Toilette geschuldet ist und notgedrungen
mit verschämtem Wasserlassen in der Getränkeabteilung zwischen übermannshohen
Bierkastentürmen endet.
Es folgte Werbung für die Schöner-Hören-Wochen vom 13. bis 31. Mai.
Von den Nürnberger Philharmonikern? Von Bang & Olufsen?
Von einem Hörgeräteladen.
Das hätte an sich schon gereicht. Doch der 31. Mai ist auch noch mein Geburtstag.
Die Anzeige hätte also gleich lauten können ‚Schöner-Hören-Wochen für Peter‘.
Mittlerweile war ich auf Seite 13 ganz unten angelangt. Die dortige Annonce über
Gesundheits-Seniorenbetten und seniorengerechte Matratzen nahm ich nur mehr
undeutlich wahr.
Zeit für meine Ginsengkapseln.
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So wertvoll wie ein kleines Buch
Spritzt Du schon oder knautschst Du noch?
Ich war auf einer Botoxparty.
Wie ich nämlich seit geraumer Zeit feststellen muss, sitzt meine Haut nicht mehr so
fugenlos an mir wie der Catsuit an Halle Berry. Wobei Halle Berry auf den Catsuit
leicht verzichten könnte. Noch. Irgendwann wird sie ihn gern wieder anziehen, oder auf
eine Botoxparty gehen. Das heißt natürlich nicht, dass ich aussehen will wie Halle
Berry. Welcher Mann will das schon.
Vor allem meine Lachfalten waren mir ein Dorn im Auge. Irgendwann würden sie
aussehen wie Dachrinnen und Dinge in sich versammeln, mit denen Amseleltern
bevorzugt ihre Nester auspolstern. Soweit durfte es nicht kommen. Seit dem Film
‚Sieben‘ weiß ich zwar, dass Eitelkeit eine der sieben Todsünden ist, aber da dies nur
für Katholiken gilt, bin ich fein raus.
Die Party fand bei einer Geschäftskollegin statt, die Gruppe bestand aus sieben Frauen
und zwei Männern. Der Arzt, der uns behandeln sollte, hieß Doktor Mengele oder so
ähnlich, ich habe den Namen nicht richtig verstanden. Auf jeden Fall war er mir als
Koryphäe auf dem Beauty-Gebiet angekündigt worden, was er mit seinen
Honorarvorstellungen eindrucksvoll unterstrich.
Bei Häppchen und Sekt kamen sich die Gruppenmitglieder zunächst zwanglos
näher. Wir musterten einander verstohlen und taxierten jeden auf den Grad seiner
Botoxbedürftigkeit. Meiner eigenen Einschätzung nach lag ich im unteren Mittelfeld.
Einer Teilnehmerin, sie war offensichtlich die älteste, hätte ich aber statt zu Botox eher
zu rigorosem Lifting, wenn nicht gar Selbstmord geraten. Wie sich bei den Gesprächen
herausstellte, hatten sich vier der Frauen schon früher Botox spritzen lassen, für die
Übrigen in der Gruppe war es das erste Mal. Eine gewisse Nervosität konnten die
Anfänger nicht verleugnen. Da half auch das Zureden der Erfahreneren nicht.
Die Jüngste aus unserer Gruppe war gerade mal 25 Jahre alt. Falten oder Fältchen
konnte ich an ihr keine entdecken, aber sie hatte dafür wohl einen anderen Blick.
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Vielleicht lag es auch an meiner ebenfalls regulierungsbedürftigen Sehschärfe, die sich
immer mehr zum Weichzeichner hin entwickelt. Ob man mit Botox auch das regulieren
konnte? Ich würde mal Doktor Mengele fragen.
Schließlich erschien der Arzt und begrüßte uns alle mit Handschlag. Ein winziges
Arztköfferchen baumelte an seiner linken Hand. Er war vielleicht einsfünfundsechszig
groß, glatzköpfig, und wenn er sprach, bewegten sich in seinem offensichtlich
botoxgesättigten Gesicht nur die Lippen, als wären sie holografisch darauf projiziert.
Mit schnellem Blick scannte er unsere Gesichter und digitalisierte sie vermutlich gleich
in Nullen und Einsen für sein Bankkonto. Er ging weiter ins Behandlungszimmer,
ursprünglich das Esszimmer. Seine Gegenwart löste verstärkte Fachsimpelei unter den
Botoxjüngern aus, als hätte uns allein die Berührung seiner Hand zu Experten gemacht.
Kurz darauf wurde die erste Teilnehmerin ins Behandlungszimmer gebeten, die
Reihenfolge hatten wir vorher ausgelost. Ich erwartete irgendwelche unangenehmen
Geräusche von drinnen zu hören, wie beim Zahnarzt. Aber nichts dergleichen geschah.
Nach zehn Minuten kam sie wieder heraus und sah genauso aus wie zuvor. Das war
auch klar, denn wie ich wusste, tritt die Wirkung erst nach einigen Tagen ein.
Nächster Kandidat war der einzige Mann außer mir, ich schätzte ihn auf Mitte 30.
Er hatte mir vorher gesagt, dass er die Anwendung nur prophylaktisch machen lassen
wolle, als Grippeimpfung für die Gesichtsmuskulatur sozusagen. Von einer
vorbeugenden Wirkung des Nervengifts hatte ich bisher noch nichts gelesen. Aber ein
interessanter Ansatz war das allemal, wenn auch nicht mehr für mich.
Dann wurde unsere Jüngste aufgerufen. Freudestrahlend, mit rosig glatten
Bäckchen, eilte sie an die Nadel. Zweifelnd rillte sich meine Stirn, was ich ihr sogleich
übel nahm. Schließlich reichte mein Budget gerade mal für die Lachfalten. Doch ich
musste zugeben, ganz Unrecht hatte sie mit ihrem Faltenwurf nicht.
Mit jedem Partygast, der die Behandlung hinter sich gebracht hatte, nahm die
Fachsimpelei im Wohnzimmer zu. Stolz zeigte man die behandelten Stellen und
verglich die verabreichten Mengen. Ich fühlte mich an die Autoquartettkarten meiner
Kindheit erinnert, als man siegessicher den Cadillac Eldorado Cabriolet mit 6,3 Litern
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Hubraum präsentierte, nur um dann von den 6,6 Litern eines Pontiac Firebird aus dem
Rennen geworfen zu werden.
Zu guter Letzt war ich an der Reihe. Ich setzte mich auf den
Behandlungsküchenstuhl und zeigte Doktor Mengele die missliebigen Hautpartien. Er
beugte sich über mich, betrachtete sie, als hätte er so etwas noch nie gesehen, spannte
und komprimierte die Haut mit Zeigefinger und Daumen und meinte schließlich, es
wäre wahrlich höchste Zeit für diesen Eingriff, keinen Tag zu früh. Es wundere ihn,
dass ich angesichts derartiger Verstümmelungen erst jetzt zu ihm käme. Irgendwie hatte
ich das Gefühl, dass er das gleiche auch zu einer marmornen Arbeitsplatte gesagt hätte.
Ich sah wieder das Nesthäkchen unserer Gruppe vor mir und ihre selbst für
normalsichtige Menschen makellos straffe Haut. Auch ihrem Gesicht hatte der Doktor
zweifellos schlimmste Verwerfungen attestiert.
Ich war unsicher geworden. Um Zeit zu gewinnen, fragte ich ihn, ob man mit Botox
eventuell auch schwindende Sehkraft wieder herstellen könne. Er bejahte ohne zu
zögern, dazu müsse er Botox nur direkt in den Augapfel injizieren und mir 450€ in
Rechnung stellen.
Diese Antwort furchte zwei tiefe Scharten über meine Nasenwurzel, woraufhin mir
Doktor Mengele sogleich sein vergünstigtes Kombiangebot Auge-Nasenwurzel
empfahl. Ich lehnte dankend ab und stellte ihm sicherheitshalber eine weitere Aufgabe:
Auf dem linken Ohr hätte ich seit Jahren einen leichten Tinnitus in Form eines sonoren
Brummens, ob man da auch etwas machen könnte. Vielleicht Botox hinters
Trommelfell spritzen? Nein nein, meinte er und versuchte sich an einem Lächeln, nicht
hinters Trommelfell, Botox würde in diesem Fall ganz gewöhnlich mit einer Pipette ins
Ohr geträufelt. Für 300€.
Angesichts all dieser medizinischen Sensationen glätteten sich meine Lach-,
Zornes- und Stirnfalten von selbst. Sogar meine Arschfalte zog sich ein Stück
zusammen. Ich war mir jetzt sicher, dass Botox in der Welt des Doktor Mengele auch
bei Krampfadern, Hämorrhoiden und Erektionsproblemen half. Aber danach habe ich
ihn nicht mehr gefragt. Ich entschuldigte mich mit plötzlicher Übelkeit und verließ
ungespritzt sein Gruselkabinett. Verstört berichtete ich den Partygästen draußen im
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Wartewohnzimmer von meinen Erlebnissen. Doch keiner verstand meine Entscheidung,
auf jedwede Anwendung zu verzichten. Im Gegenteil: Eine der Frauen ging gleich noch
einmal ins Esszimmer, um sich ihren Tinnitus beidohrig wegträufeln zu lassen.
Danach wollte sich niemand mehr mit mir unterhalten. Ich war zum Unberührbaren
geworden, dessen Anwesenheit allein sämtliche Gesichtsmuskeln im Raum klumpen
ließ.
Ich habe es also nicht getan. Mein Leben wird voller Runzeln und Falten zu Ende
gehen. Trotzdem sehe ich mir natürlich weiterhin Filme mit Halle Berry an, mit und
ohne Catsuit.
In vielen Jahren, wenn jeder der damaligen Party-Teilnehmer jährlich mindestens
zwei Botoxpartys besucht haben wird, erzähle ich ihnen einen Hammerwitz. Und werde
dann fasziniert zuschauen, wenn es ihnen die Visagen verzieht wie in einer Zentrifuge.
Das Leben des Doktor Mengele, er hieß übrigens tatsächlich so, ist schon zu Ende.
Wie ich am letzten Samstag in der Zeitung las, hatte er sich anlässlich seines
sechzigsten Geburtstags selbst Botox in den Hintern gespritzt, was leider dazu führte,
dass ihm hernach jeglicher Stuhlgang verwehrt blieb.
Er starb zumindest mit einem straffen Unterleib.
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