Westfalen-Lippe: Stark wie zwei
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Westfalen-Lippe: Stark wie zwei
SP 5. OKTOBER 2009 NRW EZ IA L Westfalen-Lippe: Stark wie zwei Erfolgreiche Wirtschaft – schöne Landschaften Rüttgers gegen Kraft Das Duell um die Macht im Lande 125 JAHRE WGZ BANK Wir danken unseren Kunden und Partnern für 125 Jahre und freuen uns auf die gemeinsame Zukunft. Unser 125-jähriges Bestehen verdanken wir maßgeblich der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit unseren Mitgliedsbanken und unseren mittelständischen Kunden. Verlässlichkeit, Kontinuität und Qualität werden auch in Zukunft Basis unserer Leistung sein. [email protected] www.wgzbank.de Im FinanzVerbund der Volksbanken Raiffeisenbanken I N H A LT 4 Regierung: SPD-Chefin Kraft bläst 20 Dynastie bei der Landtagswahl zum Angriff auf Ministerpräsident Rüttgers (CDU) Die Brüder Franz-Peter (l.) und Paul Falke führen das Textilunternehmen im sauerländischen Schmallenberg 10 Interview: Stephan Prinz zur Lippe 4 Nach der Wahl ist vor der Wahl Angela Merkel hat es geschafft, jetzt muss Jürgen Rüttgers beweisen, dass auch er den Wahlerfolg von 2005 wiederholen kann über Adel und das Selbstbewusstsein der Lipper 12 Porträt: Sparkassenpräsident Rolf Gerlach ist der Prototyp eines Westfalen – gradlinig und stur 15 Kunst: Die ostwestfälische Kreisstadt Herford lockt in das von Frank Gehry gebaute Museum MARTa 16 Attendorn: Warum die Menschen in dem kleinen Sauerland-Städtchen das höchste Einkommen in NRW haben 12 Ur-Westfale In Witten aufgewachsen, im Münsterland heimisch geworden – Sparkassenpräsident Rolf Gerlach liebt seine Heimat 20 Interview: Die Falke-Brüder über Modemarken – und warum man feine Strümpfe auch in Deutschland erfolgreich produzieren kann 24 RWE: Immer mehr Kommunen kündigen die Verträge mit dem Essener Stromgiganten 24 Leitung gekappt Stromgigant RWE verliert den Anschluss an viele Kommunen, vor allem im Sauerund Münsterland 27 Münster: Höchste Kriminalitätsrate – selbst der Polizeipräsident ist vor den Fahrraddieben nicht sicher 30 Forschung: Warum Flugzeugbauer Boeing und weitere Konzerne in einer Paderborner High-Tech-Schmiede neue Werkstoffe entwickeln lassen 32 Hochschule: Niederländische Unis locken westfälische Abiturienten mit attraktiven Angeboten über die Grenze 35 Interview: Fußballtrainer Jürgen Klopp 15 Gehrys Kunstmuseum Der amerikanische Stararchitekt entwarf seine schiefen Türme für die Provinz – ein Hauch von Bilbao jetzt auch in Herford über den BVB in der Krise, das neue Leben in Dortmund und seinen Umgang mit Wünschen der Fans 38 Marktführer: Der Erfolg des Bielefelder Familienunternehmens Richter mit Ritex-Kondomen 35 Fußballgott Trotz Krise verehren die Fans von Borussia Dortmund ihren begeisterungsfähigen Trainer Jürgen Klopp F OCUS -SPEZIAL „NR W“ Titel-Fotos: B. Thissen/dpa, W. Otto/ib/bildstelle, Composing FOCUS-Magazin FOCUS Magazin Verlag GmbH, Arabellastraße 23, 81925 München, Postfach 81 03 07, 81903 München, Telefon 0 89/92 50-0, Fax 0 89/92 50- 20 26 Herausgeber: Helmut Markwort Chefredakteure: Helmut Markwort und Uli Baur Stellvertretender Chefredakteur: Stephan Paetow Titel: Karin von Zakarias Gestaltung: Eric Schütz (Atelierleitung) Chef vom Dienst: Sonja Wiggermann Konzeption & Redaktion: Karl-Heinz Steinkühler Mitarbeiter dieser Ausgabe: Matthias Kietzmann, Jochen Schuster, Thomas van Zütphen Grafik: Tina Schettler Info-Grafik: Andreas Fischer, Stefan Hartmann Bildredaktion: Anne Hilmer Bildtechnik: Harry Neumann (Ltg.) FOCUS 41/2009 Bildbearbeitung: Reinhard Erler (Ltg.) Schlussredaktion/Dokumentation: Dr. Martin Seidl, Petra Kerkermeier (stellv.) Produktion/Herstellung: Ernst Frost, Peter Kiaček Redaktionstechnik: Bernd Jebing, Kai Knippenberg FOCUS-Spezial „NRW“ erscheint in der FOCUS Magazin Verlag GmbH. 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Geschäftsführer: Helmut Markwort, Frank-Michael Müller Druck: Burda GmbH, Hauptstraße 130, 77652 Offenburg, Telefon: 07 81/84 01; printed in Germany Verleger: Dr. Hubert Burda Fotos: R. Sondermann, O. Krato/ beide FOCUS-Magazin, T. Mayer, dpa (2) 3 NORDRHEIN-WESTFALEN WAHLEN Auf Konfrontationskurs Zur Landtagswahl am 9. Mai 2010 formieren sich zwei gleich starke Blöcke – CDU-Ministerpräsident Rüttgers gegen Hannelore Krafts linkes Bündnis Ergebnis der Bundestagswahl 2009 für das Land Nordrhein-Westfalen in Prozent Ergebnis der Bundestagswahl 2005 für das Land Nordrhein-Westfalen in Prozent 40,0 33,1 andere J 5,0 6,2 7,6 ABSTURZ Die SPD fährt das historisch schlechteste Ergebnis in NRW ein ürgen Rüttgers gab den Frontmann der CDU. Als erster christdemokratischer Spitzenpolitiker trat er am Wahlabend kurz nach 18 Uhr aus den Kulissen der Berliner Parteizentrale und kommentierte im ZDF die Prognosen der Forschungsinstitute zur Bundestagswahl: „Ich habe mir das Ergebnis etwas besser gewünscht.“ Der CDU-Vize dachte bereits an die nahe Zukunft: Schon am 9. Mai 2010, in nur sieben Monaten, hat er den nächsten Wahlkampf im bevölkerungsreichsten Bundesland zu bestreiten – die Landtagswahlen an Rhein und Ruhr. Es droht eine erbitterte Schlacht um die Düsseldorfer Staatskanzlei. Eine heftige Auseinandersetzung, die mit dem geradezu lässigen Wahlkampf zum Bundestag nicht zu vergleichen sein wird. Denn in Nordrhein-Westfalen werden erstmals die beiden neuen politischen Blöcke aufeinanderprallen: Schwarz-Gelb gegen Rot-Rot-Grün – und beide Formationen erscheinen derzeit in NRW nahezu gleich stark. Jürgen Rüttgers kann sich nicht sicher sein, wie 2005 erneut Regierungschef zu werden. Dieses Mal hat er es mit einem neuen Dreierbündnis zu tun, das die dem linken Parteiflügel zuge4 37,1 10,0 14,9 8,4 44,8 34,4 28,5 10,1 Ergebnis der Landtagswahl 2005 in Nordrhein-Westfalen in Prozent 5,2 andere 2,8 ERHOLT Im Herbst 2005 hatte sich die NRW-SPD noch in alter Stärke gezeigt rechnete SPD-Chefin Hannelore Kraft anführt. Seine Herausforderin legte sofort nach dem Bundestagswahl-Debakel ihrer Partei los und formulierte ihr kühnes Ziel „Wahlsieg 2010“, den sie gerade jetzt für möglich hält: „Wir müssen aus dem Tal herauskommen und dann, wie immer in NRW, noch etwas draufsatteln.“ Zwar hatte die Kraft-SPD in NRW 5,5 Prozent mehr Stimmen als im Bundesdurchschnitt geholt, aber dennoch ihr schlechtestes Ergebnis der Landesgeschichte kassiert. Jetzt blickt die Republik nach Nordrhein-Westfalen, weil sich dort eine erneuerte SPD zeigen will. Der Kurs wird auf links gedreht, das wissen die Wahlkämpfer am Rhein auf beiden Seiten. Auch wenn Kraft derzeit noch behauptet, sie strebe „keine Zusammenarbeit mit den Linken“ an, sondern eine inhaltliche Auseinandersetzung. Wenn jetzt aber Ministerpräsident Matthias Platzek (SPD) in Brandenburg seine große Koalition mit der CDU nicht fortführt und stattdessen die Linken in seine Regierung holt, werden Bündnisse mit Oskar Lafontaines neuer politischer Heimat für die SPD immer normaler. Alle rechnen damit, dass Kraft diesen Trend unterstützt. Fotos: beide R. Sondermann/FOCUS-Magazin andere 6,2 WECHSEL 5,7 Nach 30 Jahren hatte die CDU wieder eine Landtagswahl gewonnen Auf diese politische Vorlage hat die nordrhein-westfälische CDU nur gewartet. Mit harten Worten hatte ihr Generalsekretär Hendrik Wüst in den vergangenen Wochen und Monaten die SPD-Frau attackiert. Auch am Wahlabend nannte er sie nur „die Wahlverliererin Hannelore Kraft“. FDP-Generalsekretär Christian Lindner erkannte am vergangenen Dienstag die Demaskierung der Sozialdemokraten. „Nach der Bundestagswahl lässt die SPD jetzt offensichtlich die Maske fallen“, sagte der in den Bundestag wechselnde Liberale. „Wenn die Sozialdemokraten sich der chaotischen und populistischen Linkspartei an den Hals werfen, gibt die SPD Wähler wie Wolfgang Clement endgültig auf.“ Der wortgewaltige Liberale fürchtet, dass den Genossen „die Kraft zur Abgrenzung“ von den Linkspopulisten fehlt. Im Wahlkampf hatte CDU-General Wüst den Begriff „Kraftilanti“ für die Oppositionsführerin erfunden. Er wollte so eine direkte Linie zur gescheiterten hessischen SPD-Chefin Andrea Ypsilanti ziehen, die vor der Wahl in ihrem Land eine Zusammenarbeit mit den Linken ausgeschlossen hatte, sie dann aber doch realisieren wollte. FOCUS 41/2009 Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik CDU NACH 26 JAHREN WIEDER STÄRKSTE PARTEI BEI BUNDESTAGSWAHLEN IN NRW BÜRGERLICH So entspannt wie bei Fahrradtouren zeigt sich Jürgen Rüttgers selten, der Regierungschef erwartet einen harten Wahlkampf ROT-ROT Denkt an eine Partnerschaft mit den Linken, Hannelore Kraft lotet – hier beim Wahlkampf in Dortmund – ihre Chancen aus 5 NORDRHEIN-WESTFALEN BAUSTOPP Wegen Planungsfehlern wurde die Baustelle des Kohlekraftwerks Datteln stillgelegt „Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Linken in die Regierungsverantwortung zu bekommen“ Sylvia Löhrmann ı Grünen-Fraktionschefin „Wir waren die Einzigen, die in diesem diffusen Wahlkampf klar gesagt haben, was wir mit wem umsetzen möchten“ Andreas Pinkwart ı FDP-Vorsitzender Zu einer derartigen politischen Lüge wird es nach der Bundestagswahl in NRW wohl nicht mehr kommen. Die Konsequenz aus der Mehrheit für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und FDPChef Guido Westerwelle sowie dem dramatischen Absturz der Sozialdemokraten war schon am Wahlabend fühlbar. Nach Schwarz-Gelb im Bund könnten SPD, Grüne und Linke in den Ländern zueinander finden. Die SPD sieht keine andere Wahl. Ihre neue Ausrichtung in Nordrhein-Westfalen zielt klar nach links. Dann hofft sie, in den klassischen Arbeitermilieus zu punkten, wenn die Rüttgers-Regierung in nächsten Wochen bei wichtigen Themen Probleme bekommt: • An Rhein und Ruhr könnte in den nächsten Monaten die Zahl der Arbeitslosen wieder auf eine Million steigen. • Das Bochumer Opel-Werk ist auch nach der geplanten Übernahme des Konzerns durch den Autozulieferer Magna noch nicht gesichert. • Die Industriepolitik liegt durch den per Gericht verordneten Baustopp für das Kohlekraftwerk Datteln in Fesseln. In Nordrhein-Westfalen werden die deutschen Sozialdemokraten daher testen, ob ein linkes Bündnis auch im Bund zukunftsfähig ist. Wenn im Mai 6 mehr als 13 Millionen Wahlberechtigte im traditionsreichen roten Stammland über den Ministerpräsidenten entscheiden, ist das wie eine kleine Bundestagswahl. Die neuen Spitzengenossen werden sich mit großem Schwung in die Wahlauseinandersetzung stürzen. Wahlforscher rechnen damit, dass die Parteien in NRW konfrontativ wie lange nicht in ihren dann wohl festgezurrten Rechts-links-Blöcken aufeinanderprallen werden. Die Berliner Opposition aus SPD, Linken und Grünen hat in sieben Monaten erstmals die Chance, geschlossen gegen die neue Politik von Union und FDP und die beabsichtigten Reformen anzutreten. Das weiß auch Jürgen Rüttgers. Der Regierungschef fürchtet, dass ein für die CDU negativer bundespolitischer Trend ihn treffen könnte. Schon vor Wochen hatte der Duisburger Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte den NRW-Regierungschef gewarnt: „Bei Schwarz-Gelb in Berlin bekommt Rüttgers 2010 in Düsseldorf kein Bein auf die Erde.“ Rüttgers ahnt, dass der Kampf um die gläserne Staatskanzlei bei Weitem nicht so einfach wird, wie er es sich noch vor Monaten ausgemalt hatte. Der CDU-Regierungschef und sein Partner Fotos: R. Sondermann/FOCUS-Magazin, Caro/Oberhäuser, dpa Andreas Pinkwart (FDP) verkündeten zwar noch wenige Tage vor der Wahl stolz, durch ihren Wahlsieg 2005 eine „Blaupause“ für Berlin geliefert zu haben. Insgeheim fürchtet Rüttgers jedoch politischen Gegenwind durch Reformaktivitäten der neuen Bundesregierung. Aus diesem Grund betonte Rüttgers noch am Wahlabend, bei den Koalitionsverhandlungen gehe es darum, „wirtschaftliche Vernunft mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden“. Der selbst ernannte Arbeiterführer aus Düsseldorf wird in den Koalitionsverhandlungen in Berlin darauf drängen, auf schmerzhafte Einschnitte in den nächsten Monaten zu verzichten. Viele FDP-Forderungen – wie etwa Veränderungen beim Kündigungsschutz – dürfte er bekämpfen, damit sein Werben um die Arbeiterschaft im industriellen Kernland nicht konterkariert wird. Rüttgers weiß seit dem Wahlabend, wie stark sich seine Herausforderin Hannelore Kraft in die linke Kurve legen wird. Gleich am Sonntag startete sie ihre Attacke auf die Parteirechten in der SPD. Schon eine Stunde nach Schließung der Wahllokale schloss sie nicht aus, auf dem SPD-Parteitag im November nach dem stellvertretenden Parteivorsitz zu greifen. FOCUS 41/2009 Kraft will den zu den Parteirechten zählenden Peer Steinbrück als Parteivize verdrängen. Der Noch-Finanzminister, der seinen Wahlkreis in Mettmann nicht direkt erobern konnte, aber über die Landesliste in den Bundestag einzieht, erklärte bereits seine Bereitschaft zum Rückzug: „Ich bin jetzt 62 Jahre alt und werde sehen, welche Aufgaben auf mich warten.“ So klingt niemand, der um seinen Job kämpfen will. Steinbrück, der kluge Kopf der SPD in der großen Koalition, macht Platz für Jüngere und erklärt im gleichen Atemzug, dass er auf „keinen Fall nach NRW“ zurückkomme. Das sei eine Erfindung der CDU, aber nie Realität gewesen. Um aber ganz sicherzugehen, dass sich Steinbrück den linken Kräften in der SPD beugt, schob der Düsseldorfer Generalsekretär Michael Groschek seine Parteivorsitzende zusätzlich aufs Gleis: „Hannelore Kraft muss nächste stellvertretende Parteivorsitzende werden“, sagte der neue Oberhausener Bundestagsabgeordnete. Groschek erhofft sich wie viele andere SPD-Funktionäre auf diese Weise Rückenwind für die Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl. Nur kurz lamentierte Oppositionsführerin Kraft über die „katastrophale Niederlage“ und fügte hinzu: „Wir sind am Tiefpunkt angekommen.“ Ein Tief, aus dem Hannelore Kraft ihre Partei an Rhein und Ruhr bisher nicht ziehen konnte: Die SPD fuhr mit 28,5 Prozent ein noch schlechteres Wahlergebnis ein als bei der Kommunalwahl vier Wochen zuvor (30 Prozent). Fast zwölf Prozent verlor die SPD bei der Bundestagswahl in ihrem Stammland im Vergleich zu 2005, als Gerhard Schröder in einem gewaltigen Endspurt die Genossen noch zur Wahlurne trieb und die NRW-SPD bei 40 Prozent landete. Aber auch Rüttgers’ CDU verlor, sie liegt jetzt bei nur noch 33 Prozent. Dennoch wurden die Christdemokraten nach 26 Jahren jetzt auch bei Bundes- „ Wir haben noch Großes vor. Sie auch?“ Felix, Sara, Nicole und Uwe Ladberg Schön zu wissen, dass manche schon an übermorgen denken. Wir denken laufend mit. Und begleiten die Menschen in ihrem täglichen Leben. Heute, morgen und in Zukunft. www.melitta.info tagswahlen wieder die stärkste politische Kraft an Rhein und Ruhr. Noch etwas besser als im Bund schnitt in NRW die FDP ab und erzielte fast 15 Prozent. Liberalen-Chef Pinkwart jubelte über „das beste Ergebnis aller Zeiten“ in Nordrhein-Westfalen: „Wir sind und bleiben die dritte politische Kraft in diesem Land.“ Die Blöcke in NRW scheinen fest zementiert, beide Lager liegen gleichauf. Noch nie war die Linke im sozialdemokratischen Stammland so stark wie bei der Bundestagswahl mit 8,4 Prozent. Die Grünen liegen mit zehn Prozent auf dem Bundesniveau. „Das Rennen ist offen“, gibt sich die grüne Fraktionschefin Sylvia Löhrmann optimistisch. Die Grünen setzten ihren eigenständigen Kurs fort, betont Löhrmann. Eine Regierungspartnerschaft mit SPD und Linken schließt sie aber nicht aus: „Entscheidend ist, ob die Linken sich überhaupt der Regierungsverantwortung stellen.“ Eine Tolerierung – wie sie NORDRHEIN-WESTFALEN „Bund und Länder können ihre Kredite erhöhen, die Städte geraten in Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren“ Jürgen Roters ı Oberbürgermeister Köln „Bei der Wahlpleite handelt es sich nicht um einen Betriebsunfall, deshalb muss sich die SPD personell neu aufstellen“ Frank Baranowski ı SPD-Chef Ruhrgebiet in Hessen geplant war – sei kein Modell für NRW. „Rosinenpickerei gibt es nicht“, so die Grüne, „die müssen dann auch ins Kabinett.“ Zwar signalisiert der grüne Parteichef Arndt Klocke eine grundsätzliche Offenheit der Grünen, mit allen Parteien zusammenzuarbeiten – aber nur, wenn es inhaltlich zusammenpasse: „Das halte ich mit CDU und FDP für schwer möglich.“ Klocke zweifelt an der Stärke der Linken in Nordrhein-Westfalen und verweist auf deren mageres Ergebnis von nur 4,4 Prozent bei der Kommunalwahl. Auch SPD-Frontfrau Kraft scheint nicht vom Einzug der Linken ins Parlament überzeugt zu sein. Sie wolle zunächst versuchen, „den Gewerkschaftsflügel der Linken wieder in die SPD zurückzuholen“, sagt sie. Vielleicht kann ihr dabei in den nächsten Monaten der nordrhein-westfälische DGB-Chef Guntram Schneider helfen, dessen Karriere auf dem Genossen-Ticket mit dem verpassten Bundestagsmandat in Bielefeld vorerst gestoppt wurde. Linken-Chef Wolfgang Zimmermann freilich zweifelt nicht an eigener Stärke. Er triumphierte nach dem erstmaligen Einzug seiner Partei in den schleswig-holsteinischen Landtag und schlug gleich den Bogen von der Förde an den 8 Rhein: „Im nächsten Mai werden wir unsere roten Fahnen für eine linke Politik endlich auch im Düsseldorfer Landtag hissen.“ Im Wahlkampf wollen die Oppositionsparteien der Regierung Rüttgers ihre Defizite vorhalten. Sylvia Löhrmann sieht besonders in der Finanzpolitik die „Entzauberung von Rüttgers“, der die „soziale Spaltung der Kommunen“ in Kauf nehme. Während Wirtschaftsforscher schon das Ende der Krise sehen, kommt die Flaute jetzt erst in den Kassen der Städte an. Nicht nur Dortmund, wo am Tag nach der Kommunalwahl eine Haushaltssperre verkündet wurde, ist klamm. „Die Auswirkungen treffen nahezu jeden. Die Gewerbesteuer geht zurück und bricht dramatisch ein“, sagt Norbert Bude, SPD-Oberbürgermeister von Mönchengladbach und Chef des NRW-Städtetags. Er rechnet mit einem zweistelligen Millionenminus. „In Köln werden uns mehr als 350 Millionen Euro an Steuereinnahmen fehlen“, räumt der künftige Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD) ein. Da im 3-Milliarden-Etat der Domstadt lediglich 200 Millionen Euro an freiwilligen, von der Stadt gesteuerten Leistungen steckten, sei die Lücke nicht zu schließen. „Bund und Länder könFotos: dpa (2) nen ihre Kreditaufnahme erhöhen, die Gemeinden hingegen geraten in Gefahr, in einen Nothaushalt zu rutschen und ihre Eigenständigkeit weitgehend zu verlieren.“ Aus eben dieser Notlage hatte sich sein Gelsenkirchener Amtskollege Frank Baranowski jüngst befreit. „Wir waren auf Kurs, bis 2012 einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Nun erwarten wir einen Anstieg des Defizits von 20 auf 100 Millionen Euro“, ärgert sich der Sieger der Kommunalwahl. „Dann droht uns wieder ein Nothaushalt, bei dem der Regierungspräsident entscheidet.“ Um die Handlungsfähigkeit nicht zu verlieren, wirbt er um Verständnis für die Städte. „Der Bund verschuldet sich enorm, um die Krise zu bekämpfen. Da kann doch niemand erwarten, dass wir in die andere Richtung marschieren.“ Die grüne Fraktionschefin Löhrmann fordert einen Altschuldenfonds für die Kommunen, da sie es „aus eigener Kraft nicht schaffen, aus dieser Situation herauszukommen“. Doch diese Themen stehen für Ministerpräsident Rüttgers nicht im Vordergrund. Noch am Wahlabend blies er zum Angriff auf die Sozialdemokraten. Er setzt auf diejenigen SPD-Wähler, die eine Partnerschaft mit den Linken ablehnen. Wahrscheinlich denkt er auch an Anhänger seines Vorvorgängers Wolfgang Clement, der kurz vor dem 27. September per Zeitungsanzeige in Bonn zur Wahl des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle aufgerufen hatte. Rüttgers sagt es ganz direkt: „Wir brauchen jetzt ein Angebot für die Helmut-Schmidt- und Johannes-RauWähler“, ist seine Strategie. Rüttgers’ Amtsvorgänger Peer Steinbrück konterte flugs: „Wir lassen uns nicht überholen von einem Jürgen Rüttgers, der vorgibt, Nachfolger von Johannes Rau zu sein.“ Steinbrück kündigte an, er wolle Hannelore Kraft im Wahlkampf massiv unterstützen. Auch wenn Steinbrück als Vormann der Rechten in der SPD gilt, lässt er sich offenbar auch für einen linken Kurs gegen Rüttgers verpflichten. „Wir geben das Gegenmodell ab zu Schwarz-Gelb“, kündigte der Noch-Finanzminister an. Eine überraschende Unterstützung, mit der die linksgerichteten Kräfte in der SPD bisher nicht rechnen konnten. ■ KARL-HEINZ STEINKÜHLER/ MATTHIAS KIETZMANN FOCUS 41/2009 Deutschland baut auf den Mittelstand. Der Mittelstand baut auf uns. Sparkassen: Deutschlands Mittelstandsfinanzierer Nr. 1.* S Als kompetenter Finanzpartner sorgen die Sparkassen für einen starken Mittelstand. Ob Existenzgründung, Firmenverkauf oder Kapital für Innovation oder Expansion: Mit unseren ganzheitlichen Finanzierungs- und Beratungslösungen stehen wir jedem Unternehmer professionell zur Seite. Mehr Informationen bei Ihrem Firmenkundenbetreuer und unter www.sparkasse.de. Wenn’s um Geld geht – Sparkasse. *Laut Marktanteil von Sparkassen und Landesbanken bei Krediten an Unternehmen und Selbstständige, abgeleitet aus Quelle: Deutsche Bundesbank, Statistisches Beiheft Reihe 1, Monatsbericht 01/2009. NORDRHEIN-WESTFALEN INTERVIEW „Pacta sunt servanda“ Der Enkel des letzten lippischen Fürsten, Stephan Prinz zur Lippe, über Geschichte zum Anfassen, das „Detmolder Verhältnis“ zu NRW und über Schlösser, die zu Disneyland verkommen FOCUS: Die Lipper haben Napoleon schadlos überstanden und anschließend die Preußen – aber 1947 war „Schluss mit lustig“ im Detmolder Schloss. Bedauern Sie die Fusion mit NRW? zur Lippe: Bei nüchterner Betrachtung muss man sagen, die Kleinstaaterei in Deutschland hat sich überholt, und die Fusion mit NRW war richtig. Aber die Lipper haben sich ein vitales Selbstbewusstsein und ein emotionales Selbstverständnis erhalten. FOCUS: Dann muss man nicht lange rätseln, mit welchem Autokennzeichen Sie fahren? zur Lippe: Eins mit LIP-PE selbstverständlich. Die Umstellung vom DTKennzeichen – für Detmold – war in den frühen 90er-Jahren durchaus so etwas wie identitätsstiftend, zumal wir ja vor dem Krieg auch schon LIP als Nummernschild hatten. FOCUS: Die Lippische Rose im Landeswappen – Alibi oder ehrliches Bekenntnis von Zugehörigkeit? zur Lippe: Eine Frage der Perspektive. Aus lippischer Sicht ist die Rose ein stolzes Bekenntnis zur Region und zur eigenen Kultur. Ob aus Düsseldorfer Sicht auch – müssen andere sagen. FOCUS: Sie sind seit Ende August für die FDP Abgeordneter des lippischen Kreistags – als Bürger oder als Schlossherr und Resident? zur Lippe: Ich engagiere mich zunächst mal als Bürger und Demokrat. Die Chance wahrzunehmen, mich aktiv am kommunalpolitischen Gestalten der Zukunft Lippes einzubringen, ist mir gleichermaßen Pflicht wie Freude. Politische Verantwortung für die Region übernehme ich gern. FOCUS: Was bedeutet Ihnen der Name Cajus Julius Caesar? zur Lippe: Zunächst denke ich an den römischen Feldherrn, aber Sie meinen unseren gleichnamigen heimischen Bundestagsabgeordneten der CDU. Der 10 steht, wie alle Berliner Parlamentarier, immer auch in einer kommunalpolitischen Verantwortung – und schon dadurch leisten sie einen Beitrag für die Region. Wenn es um den Erhalt von lippischen Behörden geht, um Infrastrukturprojekte, um Bildung, Kultur und nicht zuletzt als Türöffner für Fördermittel, die viele unsere regionalen Einrichtungen mit ihrer oft überregionalen Bedeutung brauchen, stellen sich alle in den Dienst unserer Region. FOCUS: Ihr Schloss in Detmold ist eine private Residenz – ein enger Verwandter von Ihnen in Bückeburg hält das ganz anders. Welchen Vorteil hat der „closed shop“? zur Lippe: Unser Schloss wird zunächst mal privat bewohnt, aber es steht in einem öffentlichen Teil als Museum auch der Bevölkerung zur Verfügung und mit seinen Archiven und Magazinen auch der wissenschaftlichen Forschung. Grundsätzlich gibt es adelige Familien, die versuchen, ihre Schlösser offensiv zu vermarkten. Wir sind allerdings davon überzeugt: Wer aus seinem Schloss ein Disneyland macht, gibt kulturhistorisches Erbe preis – diesen Weg wollen wir nicht gehen. Aber es ist auch immer eine Frage, wie lange man das durchhält. FOCUS: Durchhalten? – Sie meinen Ihren ethisch-moralischen Anspruch? zur Lippe: Ich meine das vor allem wirtschaftlich, denn die deutsche Steuergesetzgebung geht mit dem Betrieb eines Schlosses nicht sehr freundlich um. Damit stellt sich die Frage, inwieweit in Privatbesitz befindliches Kulturgut öffentlich noch wertgeschätzt wird. Denn die Defizite, ohne die ein Schloss heute – mit der Ausnahme „Disneyland“ – nicht zu betreiben ist, sind nur sehr eingeschränkt steuerlich geltend zu machen. Da gibt es auch keine politischen Bestrebungen, das zu ändern. Das ist bedauerlich. VITALE GESCHICHTE ı Erfolgreicher Jurist Im bürgerlichen Leben ist der 50-jährige Prinz zur Lippe als Rechtsanwalt Spezialist für Vermögensübertragungen. ı Fürstliche Vorfahren Der verheiratete Vater von fünf Kindern ist der Enkel des letzten lippischen Fürsten Leopold IV., der nach dem 1. Weltkrieg abdanken und die lippische Staatsform der Monarchie aufgeben musste. FOCUS 41/2009 DAS LAND LIPPE HEUTE Beim kommunalen Steueraufkommen belegt Lippe Rang 151 unter den 409 Kreisen (kreisfreien Städten) im Bund. NORDRHEINWESTFALEN Bad Salzuflen Einwohner: 355 000 Fläche: Steuerkraft: Leopoldshhe Lage 1246 km2 803 Euro pro Ew. Detmold Quelle: Landesverband Lippe 10 km NIEDERSACHSEN Lemgo Blomberg Ldge HornBad Meinburg NORDRHEINWESTFALEN PRÄCHTIG Das Residenzschloss der lippischen Fürsten aus dem 16. Jahrhundert im Stil der Weser-Renaissance KLEINOD Der Königssaal des Schlosses mit Wandteppichen aus der Brüsseler Werkstatt von Johannes Franziskus van der Hecke FOCUS 41/2009 Fotos: O. Krato/FOCUS-Magazin, Bildagentur Huber, Topic Media FOCUS: Hat Adel heute noch einen gesellschaftlichen Wert, oder ist er eher eine liebgewordene Reminiszenz an alte Zeiten? zur Lippe: Zunächst mal: Den Adel als Institution gibt es in Deutschland nicht mehr. Adel ist heute eine Lebenshaltung. Für mich bedeutet das Gradlinigkeit und Prinzipientreue, aber auch Toleranz und soziale Verantwortung. Aber adelige Familien repräsentieren auch immer noch ein Stück deutscher Geschichte, sie stehen praktisch für eine „Geschichte zum Anfassen“ und geben Menschen auch heute noch damit ein Stück Heimat. Identität zu stiften ist schon ein gesellschaftlicher Wert und mehr als bloß eine Reminiszenz. FOCUS: „Blaublüter“ zwischen Jetset und gesellschaftlicher Verantwortung – wo sehen Sie Ihre Aufgaben? zur Lippe: In den bunten Blättern spielt der deutsche Adel neben dem europäischen Adel zwischen Stockholm, London und Madrid ja eher eine untergeordnete Rolle. Mit wenigen Ausnahmen verfolgt der „neue deutsche Adel“ doch eher die „Guttenberg-Schiene“, nämlich durch Arbeit – häufig vor Ort – aufzufallen und Verantwortung zu tragen. FOCUS: Wo tritt der Liberale in Ihnen in Erscheinung? zur Lippe: Politisch vertrete ich den Ordoliberalismus, in dem ein strenger internationaler Ordnungsrahmen ökonomischen Wettbewerb und die Freiheit der Bürger gewährleistet. Gesellschaftlich setze ich liberal mit tolerant gleich und sage: Toleranz ist die Basis für eine funktionierende Demokratie. FOCUS: Es gibt Überlegungen, die Regierungsbezirke in NRW, also auch Ostwestfalen-Lippe mit der „Hauptstadt“ Detmold aufzulösen und neu zu ordnen. Eine gute Idee? zur Lippe: Die Lippischen Punktationen regeln die Bedingungen des Beitritts Lippes zu NRW. Geschäftsgrundlage dieses Beitritts war die Bildung eines Regierungsbezirks mit Sitz in Detmold. Dass Verwaltungs- und Regierungshandeln vor Ort durch eine entsprechende Behörde ausgeübt wird, ist für Lipper identitätsstiftend. Schließlich waren wir 800 Jahre lang ein Freistaat. Die Punktationen können daher weder wegdiskutiert noch einem anderweitigen Regionalproporz geopfert ■ werden. Pacta sunt servanda. INTERVIEW: THOMAS VAN ZÜTPHEN 11 NORDRHEIN-WESTFALEN ROLF GERLACH ı Gradlinig Der 56-jährige promovierte Wirtschaftswissenschaftler startete seine Karriere bei den Sparkassen vor 40 Jahren. ı Karriere Seit April 1995 steht der Wittener als Präsident an der Spitze des Verbands. Künftig nennt er sich Vorstandsvorsitzender. Sein Vertrag wurde verlängert bis ins Jahr 2014. ı Solide Als Sparkassenchef führt er 74 Institute in WestfalenLippe mit insgesamt 28 626 Beschäftigten. SAMMLER Rolf Gerlach leistet sich exklusive Hobbys – er sammelt Kameras und Armbanduhren PORTRÄT Westfälischer geht’s kaum Sparkassenpräsident Rolf Gerlach liebt seine Heimat, engagiert sich im Westfälischen Heimatbund und in der Westfaleninitiative M anchmal, wenn er so richtig erschöpft ist, eine Woche mal wieder aus dem Koffer gelebt hat, der Terminkalender Besprechungen und Konferenzen in Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Hamburg und Berlin im engen Takt aneinanderreiht, will Rolf Gerlach nur noch Heimat spüren. Dann steigt der westfälisch-lippische Sparkassenpräsident aufs Fahrrad und strampelt von Nottuln aus die Baumberge hoch, die höchste Erhebung im Münsterland. Gerlach liebt die Aussicht über bestellte Felder und sattgrüne Wiesen, seine Fahrt geht vorbei an rassigen braunen Pferden und Schwarzbunten. „Ich genieße das total, das entspannt, dann spüre ich, wo ich zu Hause bin“, offenbart der 56-Jährige, wenn er in einen westfälischen Landgasthof einkehrt, 12 ein Pils trinkt und sich ein Schnitzel mit Bratkartoffeln servieren lässt. Westfälischer geht’s kaum. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler wurde in Witten am Rande des Ruhrgebiets geboren und ist geprägt von seinem Elternhaus. Gerlach erzählt gern von seiner Mutter, die ihn zu Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit angehalten habe, zum Beharren auf Werten, aber auch zu Sauberkeit und Ordnung. „Tu das mal dorthin, wo du es hergeholt hast“, habe seine Mutter ihm gesagt. Viele in diesem Lande haben sich in der Vergangenheit an Gerlach, der heute im münsterländischen Nottuln lebt, gerieben: Finanzminister Peer Steinbrück (SPD), Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), aber auch der WestLB-Chef Thomas Fischer, den der Auf- sichtsratsvorsitzende Rolf Gerlach im Sommer 2007 quasi über Nacht aus der Vorstandsetage entfernte und auf die Straße setzte. Der Banker aus Westfalen fühlt sich seit fast 37 Jahren den deutschen Sparkassen verpflichtet. Bei der Sparkasse in Witten startete er mit einer Banklehre seiner Karriere. Seit 1995 ist er Oberaufseher über 74 westfälische und lippische Sparkassen. Noch lautet sein Titel „Präsident“, bald darf er sich Vorstandsvorsitzender nennen. In den fast 15 Jahren als Chef der kommunalen Kreditinstitute muss der Manager eine kritische Situation nach der nächsten bewältigen. Nur kurze Zeit nach seinem Amtsantritt trudelt die Landesbank WestLB in eine erste Krise – die zweite, dritte, vierte und fünfte folgen schnell. Und Foto: R. Sondermann/FOCUS-Magazin FOCUS 41/2009 Gerlach ist stets gefordert – als Aufsichtsrat und Eigentümer. Denn die westfälischen Sparkassen besitzen ein Viertel der Krisenbank. „Man kann sich an mir die Zähne ausbeißen, das berührt mich wenig“, charakterisiert sich Gerlach selbst. Und schiebt nach: „Privat und beruflich.“ Mitstreiter und Widersacher der Bankenszene kennen die Standhaftigkeit des Westfalen, der feine Unterschiede macht: „Wenn Sturheit heißt, das Lernen einzustellen, ist das verhängnisvoll“, kritisiert Gerlach einen typischen Wesenszug seiner Landsleute. Für ihn selbst bedeutet „Sturheit, dass ich beharrlich ein Ziel verfolge. Und das ist keine schlechte Eigenschaft.“ Bisher ist er mit dieser Strategie ganz gut gefahren. Die Finanzkrise, den Absturz von Landesbanken wie der WestLB, hat er intensiv begleitet, auch in seiner Funktion als erster Vizepräsident des deutschen Sparkassenverbands. In diesen Wochen und Monaten wur- de es für Gesprächspartner immer unbequem, wenn Gerlach sein Ringbuch aufklappte und zu blättern begann. Dann wies er meist auf eine Vorschrift oder einen Fakt hin, der unbedingt zu beachten sei. Vom westfälischen Sparkassenchef heißt es, dass er sich sehr sorgfältig auf Termine vorbereite und oft mehr zum Tagesthema wisse als seine Kontrahenten. Dabei bleibt er stichhaltigen Gegenargumenten aufgeschlossen – der Sparkassenmanager lässt sich auch überzeugen. Auf Gerlachs Wort sei Verlass, sagen Mitstreiter. „Dann machen wir das so“, ist einer seiner typischen Sätze. Im rauen Revier, wo der fast 2-Meter-Mann aufgewachsen ist, hat Gerlach zwar auch gelernt, tolerant zu sein und andere Meinungen zu hören. Aber er ist sehr fixiert auf seine Unabhängigkeit. „Ich lasse mir ungern reinreden.“ Kommt da doch der sogenannte typische sturköpfige Westfale durch? Gerlach selbst erkennt sich in diesem Klischee nicht wieder. Aber ihm fallen sofort Zeitgenossen ein, die seiner Meinung nach den knorrigen Westfalen verkörpern: „Wolfgang Clement ist so einer“, sagt der Sparkassenmanager. „Dessen Sturheit ist ein schlechtes Beispiel“, analysiert Gerlach den ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, der in seiner Nachbarschaft – in Bochum – groß geworden ist. Nach wenigen Gesprächsminuten ist Clement vergessen. Gerlach geht in der Geschichte lieber ein paar Jahrhunderte zurück und erinnert an einen anderen Westfalen: Widukind. Der Sachsenherzog, dessen Gebeine in der Kirche des ostwestfälischen Enger beerdigt worden sein sollen und der den Germanen das Christentum nach erbitterten Kämpfen gegen Karl den Großen beschert hat. Solche „einflussreichen Westfalen“, erklärt Gerlach, machten in stolz. Vor allem, wenn Hamburger Jederzeit kompetent und individuell beraten ... ... werden Sie bei GEERS Hörakustik. Das garantieren wir Ihnen. 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Der Kunstfreund, Hobbyfotograf, Kamera- und Uhrensammler kümmerte sich auch darum, dass Sparkassenmillionen ins Ruhrgebiet fließen. Mit dem Geld finanziert die europäische Kulturhauptstadt Ruhr.2010 die extrem teure Ausstellung „Ruhrblicke“. Das Highlight des ambitionierten Kulturevents im nächsten Jahr präsentiert prominente Fotografen wie Andreas Gursky, die ihren exklusiven Blick aufs Revier im Essener Weltkulturerbe Zollverein zeigen. Heimatverbunden, wie er ist, mischt Gerlach natürlich auch in den Kuratorien von Heimatbund und Westfaleninitiative mit. Dort schätze man seinen Rat und seine Kenntnis westfälischen Lebens. Mit wachen Augen bereist er das Land, besucht jede seiner Sparkassen mindestens einmal im Jahr und betrachtet außer vielen Akten, die er auf diesen Fahrten im Fond seines Audi bearbeitet, auch noch die Besonderheiten seiner Region. 14 „Wenn westfälische Sturheit bedeutet, das Lernen einzustellen, ist das verhängnisvoll“ weiß so etwas schon? Historiker, Heimatforscher. Aber Finanzmanager? Gerlach überrascht mit seiner Kenntnis über westfälische Landschaften, beschreibt die typischen „Höfe in Alleinlage“ im Gegensatz zu rheinischen Bauernschaften. Die lebendige westfälische Geschichte und das Gedenken an den in Münster und Osnabrück geschlossenen Westfälischen Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg sind ihm wichtig. Deshalb fördert der Finanzmanager auch die FriedenspreisVerleihung an Politiker wie Václav Havel oder Kofi Annan, die der Region neue Bedeutung verleihe. Ein Mann wie Gerlach, der an der Theke eines Wirtshauses über unterschiedliche Traufhöhen wie Baufluchten philosophieren kann, überzeugt nach dem dritten Bier sein Gegenüber auch davon, dass die Westfalen sauberer und korrekter bauten als wenige hundert Kilometer entfernt die Rheinländer. Dort sei alles „krumm und schief“, behauptet er. Dabei kennt Gerlach das in Westfalen ungeliebte Rheinland und die Menschen sehr genau. Seine Frau stammt aus Bonn. Und seine ersten Jahre in der Sparkassenorganisation erlebte er unter den rheinischen Verbandspräsidenten Friedel Neuber und Johannes Fröhlings. Die Düsseldorfer Erfahrungen helfen dem weltläufigen und weitgereisten Westfalen, der in seiner Freizeit gern nach Skandinavien fährt und mit dem Postschiff die norwegische Küste bis zum Nordkap erkundet. Dass Rheinländer unzuverlässig sind, will Gerlach nicht behaupten. „Sie legen sich nicht fest, leben und arbeiten eher nach dem Beckenbauer-Motto“, hat der Westfale erkannt. Und das heißt: Schaun mer mal. ■ Rolf Gerlach ı Sparkassenpräsident KARL-HEINZ STEINKÜHLER So betont er, dass Westfalen keineswegs an der Grenze zu Niedersachsen endet. „Sprache und Bauweise von Häusern sind identisch.“ Das Osnabrücker Land gehöre einfach zu Westfalen, sagt Gerlach. Auch wenn es über einen denkbaren Gebietstransfer zwischen den Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (NRW) und Christian Wulff (Niedersachsen) wohl nie Verhandlungen geben wird. Aber Gerlach entdeckt die „Vierständerhäuser, unter deren Dächern Vieh und Mensch gelebt haben“, im Münsterland wie rund um Osnabrück. Wer Fotos: beide R. Sondermann/FOCUS-Magazin FOCUS 41/2009 SKIZZE Zeichenkunst des Architekten Gehry TORKELNDER BAU Das Museum in Herford erinnert an das ebenfalls von Gehry gestaltete Guggenheim im spanischen Bilbao KUNST Beunruhigende Bilder Das von Frank Gehry entworfene MARTa Herford will die Ostwestfalen für moderne Kreationen begeistern D rei schwarze Gipsmänner mit langen Haaren stehen in der Mitte des Raumes: Einer würgt einen Kampfhund, der zweite sticht einem auf dem Boden knienden Opfer mit einem Messer in den Rücken. Der dritte schaut an sich herunter, wo eine übergroße phallische Spritze aufragt. Bjarne Melgaards düster-brutale Gipsfiguren provozieren den Betrachter ebenso wie der Raumkörper, der das Kunstwerk umgibt. Die Skulpturengruppe gehört zur Sammlung des Hauses, die in diesem Sommer unter dem Titel „Hellwach gegenwärtig“ zu sehen war. „Melgaard thematisiert die untergründige Faszination für Momente der Unterdrückung und Gewalt sehr offensiv“, erläutert Roland Nachtigäller, seit einem Jahr Leiter des Kunstmuseums MARTa in Herford. „Es sind die Reibungspunkte, an denen die Kunst in unserem Museum ansetzt. Künstler sind keine Experten für Lebensglück – Kunst stellt in Frage, verwirrt, beunruhigt und sucht“, erläutert der 49-Jährige seine Philosophie. Genau diese Reibungspunkte bietet das MARTa Herford. Es fügt sich nicht glatt und problemlos in seine mittelFOCUS 41/2009 Foto: T. Mayer städtisch geprägte Nachbarschaft ein – weder architektonisch noch inhaltlich. Zwar steht das M für „Möbel“, ART für die Kunst und a für Ambiente. Wer aber glaubt, die finanzielle Anbindung an die örtlichen Hauptsponsoren aus der Möbelindustrie werde die Ausstellungsmacher zähmen, erlebt in dem asymmetrischen Raumkörper eine Überraschung. Geplant hat den kurvigen Bau unverkennbar der kalifornische Stararchitekt Frank Gehry (Guggenheim in Bilbao). Der Ziegelbau des Avantgardisten vertreibt jeden Gedanken an eine gefällige Kunst. Der Eindruck setzt sich im Inneren fort: In hohen Hallen zeigt Nachtigäller moderne und modernste Exponate. Seit Anfang Oktober ist „Pittoresk – Neue Perspektiven auf das Landschaftsbild“ zu sehen. Als Kontrapunkt zu den Bildern von 37 Zeitgenossen finden sich Gemälde von Caspar David Friedrich, Gerhard Richter und dem Herforder Landschaftsmaler Heinrich Funk. Sie stehen im Gegensatz zu dem, was Nachtigäller die heutige Kunst nennt. „Unsere Ausstellung zeigt auch vermüllte und ökologisch gefährdete Land- AVANTGARDIST Museumsleiter Roland Nachtigäller sucht die Auseinandersetzung mit moderner Kunst schaften, die in Kontrast stehen zu den Postkartenmotiven der Natur, die wir in uns tragen“, erläutert der MuseumsChef. „Die Künstler gleichen so Bilder und Wirklichkeit ab.“ Ob die Herforder diesen Kontrast ertragen? Rund 60 000 Besucher kamen 2008 in den Gehry-Bau, 2009 sollen es ebenso viele sein. Damit liegt Herford hinter der benachbarten Kunsthalle Bielefeld. „Für mich ist es eine enorme Chance, an der Peripherie zu arbeiten“, sagt Nachtigäller, der seinem Vorgänger Jan Hoet bei der Kasseler Kunstschau Documenta IX assistierte und zuletzt die Städtische Galerie Nordhorn leitete. „Das Energiefeld, das durch diese Kunst in dieser Umgebung ent■ steht, ist eine Herausforderung.“ MATTHIAS KIETZMANN 15 NORDRHEIN-WESTFALEN REPORTAGE Muster-Stadt im grünen Tal Menschen im sauerländischen Attendorn sind die Spitzenverdiener in NRW und leben meist von den traditionellen Industrien INDUSTRIE-REGION Die 25 000 Einwohner leben von den vielen familiengeführten Metall- und Kunststoffwerken 16 D ie 1600 Tonnen schwere Stanze hebt und senkt sich mit einem tiefen Stampfen. An der linken Seite des Lkw-großen Automaten zieht die Maschine das Blech von der Rolle, schneidet und formt es in drei Schritten zu zwei Metallteilen, die am Ende auf ein Förderband purzeln. 17-mal in der Minute fährt das Ungetüm nach oben und wieder nach unten, bis Werkzeugmacher Ali Bardak die abgelaufene Rolle – den „Coil“– ersetzen muss. Etwas mehr als 18 000 Werkstücke soll das Gerät in drei Schichten auswerfen, lautet der Auftrag des Kunden. Die Metallteile enden als Türschwellen im VWGeländewagen Tiguan. Von Flaute ist in der lärmenden Werkshalle von Kirchhoff Automotive nichts zu spüren. „Das Unternehmen ist hoch angesehen“, sagt der 22-Jährige ernst. „Wer hier arbeitet, ist schon etwas in Attendorn.“ Dieser eigenwillige und etwas altmodische Stolz ist auch an anderen Stellen des sauerländischen Vorzeigestädtchens zu spüren: Die Fußgängerzone vor dem Rathaus ist mit Kopfsteinen akkurat gepflastert, der Dom hübsch restauriert. Auf einem Hügel erhebt sich wie ein Schloss die 92 Jahre alte katho- Einkommensmillionären und nur wenige, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind“, interpretiert Hilleke den auf den ersten Blick überraschenden Reichtum der Provinzstadt. Zugleich verweist er darauf, dass die Datenbasis aus dem Jahr 2007 stammt. „Das ist der Wohlstand der Vergangenheit. Inzwischen spüren auch wir den Abschwung.“ Sorgen bereitet der Stadtspitze der Einbruch bei der Gewerbesteuer. Für dieses Jahr kalkuliert der Kämmerer mit einem Rückgang von 25 auf 17 Millionen, 2010 fließen womöglich nur noch 13 Millionen Euro, fürchten die Rechner im Rathaus. „Wir steuern auf ein tiefes Loch zu“, seufzt Hilleke und will mit einer Haushaltssperre und Investitionskürzungen gegenhalten: „Dann werden die Dächer der Gebäude erst mal geflickt statt erneuert.“ In den vergangenen zehn Monaten ist die Zahl der Unterstützungsempfänger von 650 auf 725 geklettert. Und die Arbeitslosigkeit von vier auf sechs Prozent. Zumindest bei Kirchhoff denkt allerdings niemand an Entlassungen. „Von März bis Mai haben wir einen Wochentag kurzarbeiten müssen, aber seit Juni kehrt so etwas wie Normalität „Charakteristisch für Attendorn sind die vielen Familienunternehmen. Die Inhaber sind emotional an die Stadt gebunden“ Wolfgang Hilleke ı Neu-Bürgermeister VORSICHTIG Neu-Bürgermeister Wolfgang Hilleke kalkuliert, dass die Flaute mit Verzögerung auch in Attendorn ankommt STATISTISCH AN DER SPITZE 47 914 Euro 70,3 Prozent verdiente jeder Bürger im Jahr 2007 (NRW: 19 290 Euro) der 12 000 Beschäftigten sind im produzierenden Gewerbe tätig (NRW: 30,9 Prozent) Quellen: Landesamt für Datenverarbeitung, Stadt Attendorn lische St-Ursula-Schule. Und die größten Arbeitgeber am Ort sind nicht etwa Stadt oder Sparkasse, sondern Metallund Kunststoffbetriebe, die sich ausnahmslos in Familienhand befinden und ihre sauerländischen Produkte in alle Welt exportieren. „Auf den ersten Blick könnte man denken, das ist die Insel der Seligen“, sagt der künftige – parteiunabhängige – Bürgermeister Wolfgang Hilleke, 46, und schmunzelt. „Aber auf uns kommen dramatische Veränderungen zu.“ Rechnerisch gilt Attendorn als reichste Kommune in NRW: 47 914 Euro verdient jeder Einwohner im Jahr, teilte das Statistische Landesamt nach einem Vergleich unter 396 Städten mit. Das ist mehr als doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt von 19 290 Euro. „Wir haben eine breite Mittelschicht, eine Reihe von FOCUS 41/2009 ein“, erläutert Firmenchef Arndt Kirchhoff, der praktisch alle Automarken beliefert. „Wir liegen noch etwa zehn Prozent unter Vorjahr. Aber am Tiefpunkt waren es 50 Prozent.“ Das Vertrauen in die Zukunft ist dennoch ungebrochen. „Wir können alles in Attendorn“, lacht der 54-Jährige. „Alles außer Schwäbisch.“ Da der Standort räumlich an Grenzen stoße, interessiere sich das Unternehmen für ein neues Industriegebiet, das in 500 Meter Entfernung entstehen soll. Wäre die drangvolle Enge im Tal nicht eine Gelegenheit, den Betrieb in eine Region mit niedrigeren Löhnen zu verlagern? „In den vergangenen 15 Jahren haben wir die Zahl unserer Beschäftigten in Attendorn auf 690 verdoppelt. Warum soll sich das nicht wiederholen?“, fragt Kirchhoff zurück. Über die StammFotos: alle J. Bindrim/FOCUS-Magazin GELASSEN Betriebsrat Manfred Lohölter (Kirchhoff Automotive) ist froh, dass es seit Juni keine Kurzarbeit mehr gibt 17 NORDRHEIN-WESTFALEN „In den vergangenen 15 Jahren haben wir die Zahl unserer Beschäftigten in Attendorn auf 690 verdoppelt“ Arndt Kirchhoff ı Unternehmer GESELLIG Herrenausstatter und Wanderwart Walter Alsleben ist Mitglied in fünf Vereinen: „Das machen hier viele so“ BERÜHMT Die bis zu 2,5 Millionen Jahre alten Tropfsteine der Atta-Höhle – Deutschlands größtes Höhlensystem 18 belegschaft hinaus sind aktuell 35 Leiharbeiter im Werk tätig. „Wenn es gut läuft, könnten daraus feste Arbeitsplätze entstehen“, gibt sich Betriebsrat Manfred Lohölter, 61, zuversichtlich. Während anderswo die Dienstleistungen dominieren, stammen zwei Drittel der 12 000 Attendorner Arbeitsplätze aus der Produktion und überwiegend aus der regionaltypischen Metall- und Kunststoffindustrie. „Charakteristisch für Attendorn sind die vielen Familienunternehmen“, sagt der jugendlich wirkende künftige Stadtchef Hilleke. „Die Inhaber sind emotional an die Stadt und an den Standort gebunden, und das hat uns von Entlassungswellen verschont.“ Inmitten von Traditionsfirmen – wie der 1899 gegründeten Armaturenfabrik Viegener sowie der Autofedernfabrik Muhr und Bender (seit 1921) – nimmt sich der aufstrebende Rohrleitungsspezialist Aquatherm wie ein Newcomer aus. 1973 startete Gerhard Rosenberg im Keller seines Einfamilienhauses mit der Entwicklung einer Fußbodenheizung. Heute sind er und seine Söhne Maik und Dirk in 70 Ländern aktiv und stolz auf die Zertifizierung ihrer Produkte durch Greenpeace. „Täglich stellen wir 200 Kilometer Rohre her und beschäftigen inzwischen 460 Mitarbeiter“, rechnet Maik vor. Ihre grünen Leitungen bringen warmes Wasser unter den Rasen der Veltins-Arena oder speisen die Sprinkleranlage in einem der Kölner Kranhäuser. Sie versorgen Wolkenkratzer von Madrid über Barcelona bis Singapur. „90 Prozent der Fertigung gehen in den Export“, sagt Dirk. „Daher spüren wir die Krise nur leicht und liegen lediglich fünf Prozent unter Vorjahr.“ Wie viele Unternehmerkinder ging Dirk an St. Ursula zur Schule. Das hochherrschaftliche Anwesen startete 1917 als höhere Mädchenschule, heute besuchen dort 1500 Schüler Realschule und Gymnasium, erläutert der gerade ins Sauerland gewechselte Rektor Markus Ratajski. Während im Flur der Musiklehrer den Chor am Flügel begleitet, fühlt man sich im Direktorenzimmer an eine Eliteschule versetzt. Das verwinkelte Gebäude mit Blick über die Stadt bietet bilingualen deutsch-englischen Unterricht in drei Fächern. Es gibt Schulpartnerschaften mit England, Irland, Frankreich und Mexiko. „Wir sind keine Eliteschule und beschränken den Zugang nicht“, wiegelt Fotos: alle J. Bindrim/FOCUS-Magazin Ratajski ab, der zuvor in Hamm und Hagen unterrichtete. Aber die Leistungen der Schüler lägen „in allen Bereichen deutlich“ über dem NRW-Durchschnitt. Diesen Sommer mussten sie ein Drittel der Bewerber für die fünfte Klasse „aus Kapazitätsgründen“ ablehnen. Zur Ausstattung trügen die Ehemaligen und ein zahlungskräftiger Förderverein bei. „Mehrere tausend Ex-Absolventen“ hielten der Bildungsstätte die Treue und zahlten den Jahresbeitrag. Darunter auch die Kinder aus den Unternehmerfamilien. „Die sind alle hier“, sagt er und benennt einen markanten Unterschied zu früheren Arbeitsstellen. „In Hagen herrschte unter den Abiturienten eine Stimmung: Bloß weg hier“, erinnert sich der 42-Jährige. „Auch aus Attendorn wollen viele nach dem Abschluss erst mal weg, aber nicht wenige kehren zurück.“ Bodenständig sind die Menschen, katholisch und stolz auf ihre Arbeit. Dennoch können solche Etiketten die eigenwillige Persönlichkeit der Sauerländer nicht vollständig erklären. Sie haben auch eine andere Seite, wie ein Blick auf den Altbürgermeister Alfons Stumpf zeigt. 15 Jahre lang vertrauten die Bürger die Geschicke ihrer Stadt ausgerechnet einem langhaarigen 2-Meter-Mann an, der heute noch von seinen Erfahrungen aus der 68er-Ära schwärmt. „Der Zottel“, nennt ihn Einzelhändler und Wanderführer Walter Alsleben respektvoll. Mit 70,5 Prozent bestätigten die Attendorner den SPD-Mann zuletzt im Jahr 2004. Dass er im Videoportal YouTube freimütig über seine studentenbewegte Zeit, seine Abneigung gegen den Vietnamkrieg und den „Muff der Adenauer-Jahre“ Auskunft gibt, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: „Hätte er sich nochmals zur Wahl gestellt, wäre er wiedergewählt worden“, ist sich Alsleben sicher. „Und ich wäre ganz gewiss nicht angetreten“, ergänzt sein Nachfolger Hilleke. So mischt sich in das leicht biedere Flair ein kräftiger Schuss Toleranz, der auch zugezogenen Großstädtern wie Ex-Regierungssprecher Wolfgang Buchow gut gefällt. „Ich habe 30 Jahre in der Stadt gelebt und kann nur sagen: Attendorn tut mir gut“, sagt der Pensionär im kleinen Straßencafé gegenüber dem Rathaus und führt die Kaffeetasse ■ zum Mund. MATTHIAS KIETZMANN FOCUS 41/2009 Wir fördern Ihr Unternehmen. Die NRW.BANK fördert kleine und mittlere Unternehmen mit zinsgünstigen Krediten, Darlehen zum Ausgleich mangelnder Sicherheiten und zur Stärkung des Eigenkapitals sowie mit Eigenkapital-Finanzierungen. Fragen Sie Ihre Hausbank – oder direkt uns: Tel. 0211 91741-4800 (Rheinland) oder 0251 91741-4800 (Westfalen-Lippe). www.nrwbank.de NORDRHEIN-WESTFALEN INTERVIEW „Strümpfe und Socken im Abo“ Die Familienunternehmer Franz-Peter und Paul Falke über Standortfaktoren des Sauerlands – und warum sich ihr Strick- und Strumpfkonzern von der Konjunktur unbeeindruckt zeigt FOCUS: Damenstrumpfhosen und Kaschmirsocken für Männer können bei Falke schon mal 129 Euro kosten. Wem wollen Sie in Krisenzeiten damit eine Freude machen? F.-P. Falke: Ihr Preisbeispiel bezieht sich auf extravagante Artikel, die in kleinen Mengen angeboten und gekauft werden. Solche Produkte leiden gerade nicht unter Krisenzeiten, sondern bedienen den Ausnahmebedarf: „Man gönnt sich ja sonst nichts.“ Wir haben effektiv keine krisenbedingten Einbußen. Im Gegenteil. Wir wachsen – in Deutschland wie im Ausland. Wenn es so weiterläuft im Herbst- und Wintergeschäft – was ja unsere eigentliche Saison ist –, könnten wir das Jahr mit einem Plus abschließen. FOCUS: Ihre Enterhaken im Markt sind Sinnlichkeit, Emotion und Lebensstil – sind diese eher weichen Faktoren weniger krisenanfällig? P. Falke: In Krisensituationen zeigt sich die Stärke einer Marke. Zum einen können Sie die harten Faktoren jedes unserer Artikel natürlich messen – Materialeinsatz, Kostenfaktoren zum Beispiel. Das, was der Markenkern ist, die Begehrlichkeit ausmacht, das sind weiche Faktoren: ein über Jahrzehnte glaubhaftes Marken-Image, das die Verbraucher langfristig mit Sympathie beantworten. Diese emotionale Beziehung hält auch Krisenzeiten durch. FOCUS: Warum soll ich Socken Ihrer Marke Falke kaufen und nicht von den Marken Palmers oder Wolford? Oder: Wie differenzieren Sie Ihre Produkte und sich selbst als Anbieter? P. Falke: Das ist keine Frage von besser oder schlechter, sondern von Marken-Affinität der Kunden. Viele Leute identifizieren sich mehr mit der Marke Falke als mit der Marke Wolford. Aber auch umgekehrt. Außerdem machen wir nicht nur den Feinstrumpfbereich, sondern auch den Strickstrumpfbereich Mit seinen 2734 Mitarbeitern – fast die Hälfte davon in Deutschland – knackte der Falke-Konzern im vergangenen Jahr erstmals die Umsatzmarke von 200 Millionen €uro und erwartet in diesem Jahr eine weitere Steigerung EFFEKTE BEI FRAUEN Kampagnen-Foto des Japaners Koichiro Doi 20 FOCUS 41/2009 VETTERNWIRTSCHAFT IM ALLERBESTEN SINNE Vierte Generation: Zwei Cousins stehen an der Spitze des Strumpfherstellers. ı Stratege Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen ging FranzPeter Falke, 58, zunächst zum Bielefelder Lebensmittelkonzern Oetker, bevor er bei Falke einstieg. ı Kosmopolit Im Anschluss an ein BWL-Studium in Lausanne und München arbeitete Paul Falke, 51, in Neuseeland, Australien und Belgien und wurde 1986 zunächst Chef von Falke Fashion, Inc. in New York. und Oberbekleidung. Dadurch haben wir schon einen ganz anderen Zugang zur Modewelt. F.-P. Falke: Unser Credo ist immer gewesen, moderne Bekleidung für moderne Menschen zu machen, statt auf kurzfristige Modetrends zu reagieren. Andere fühlen sich im Geleitzug geborgen, wir bevorzugen unseren eigenen Kurs. FOCUS: Von Ihrem Lizenzgeschäft, das früher Weltmarken wie Kenzo, Armani und Joop umfasste, ist heute nur noch Esprit übrig – warum? P. Falke: Im Lizenzgeschäft hat man nie die Gewähr, die Früchte seiner Arbeit auch langfristig zu ernten, denn bei jeder Partnerschaft kann es mal zur Scheidung kommen. Die Marke Burlington etwa haben wir deshalb gekauft und bestimmen heute selbst über die „Endlichkeit“. Wir werden beide Marken stark ausbauen. FOCUS: Was bedeutet der Name William Cotton für Ihre Region? F.-P. Falke: Seine Entwicklung der sogenannten Fully-Fashion-Maschinen ermöglichte es uns in den 50er-Jahren, höhere Stückzahlen zu produzieren. Zwar waren die Musterungsmöglichkeiten eingeschränkt, aber trotzdem waren die Cotton-Maschinen ein Meilenstein. FOCUS: Welchen Stellenwert hat für Sie das Bekenntnis zum Sauerland „made in Schmallenberg“? P. Falke: Wir produzieren 60 bis 65 Prozent im Inland. Das kapitalintensive Know-how ist in Deutschland, und die lohnintensive Veredelung, die Konfektion, wird in Portugal, Ungarn, Slowenien und in der Slowakei gemacht. Von unseren 2734 Mitarbeitern arbeiten gut 1300 in Deutschland, davon 925 hier in Schmallenberg. F.-P. Falke: Das Unternehmen ist hier gegründet worden. Wir haben eine ganz natürliche Affinität zu dem Standort, eine Bindung, und wir profitieren von der Loyalität unserer Mitarbeiter, wenn diese ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben. Dass drei Generationen einer Familie gleichzeitig bei uns arbeiten, ist keine Seltenheit. Diesen Know-how-Transfer können Sie monetär gar nicht bewerten. FOCUS: Führen Sie Ihren „Kampf um Talente“ nur im Sauerland? F.-P. Falke: Nein, für unser Marketing und Design holen wir zunehmend Leute, die von außerhalb kommen. Die sind dann in der Woche hier und FÜHRUNGSDUO Franz-Peter und Paul Falke (r.) am Konzernstammsitz in Schmallenberg Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin 21 NORDRHEIN-WESTFALEN fühlen sich dem Unternehmen und der Gegend sehr verbunden. Am Wochenende sind sie bei ihren Familien in Hamburg, Paris oder Düsseldorf. Und der Austausch zwischen dem, was von außen kommt an Menschen, und dem typischen Sauerländer in unserem Unternehmen, dieser Mix macht es sehr interessant. FOCUS: Also kein Standortnachteil im Sauerland? P. Falke: Ein Handicap ist unsere suboptimale Verkehrsanbindung. Schmallenberg ist nicht leicht zu erreichen. Wenn potenzielle Bewerber einen Partner haben, der täglich über die „Kö“ spazieren möchte, dann bringen sie den auch nicht mit Geld und guten Worten hierher. FOCUS: Als familiengeführter Mittelständler beliefert Falke von Westfalen Rand moderater ausfallen als zwischen Dollar und Euro. In den USA wachsen wir sehr erfreulich. England ist von der Wirtschaftskrise speziell gebeutelt. Aber auch dort haben wir keinen großen Einbruch. FOCUS: Bei Sportbekleidung und Funktionswäsche setzen Sie stark auf Innovationen – mit welcher Resonanz? F.-P. Falke: Sport ist seit einigen Jahren kontinuierlich unser stärkster Wachstumsbereich mit einer zweistelligen Dynamik. Auslöser war unser Ergonomic Sport System, mit dem wir als Erste am Markt darauf eingegangen sind, dass unterschiedliche Sportarten nicht nur entsprechendes Schuhwerk, sondern auch unterschiedlichste Socken und Strümpfe erfordern. Um den differenzierten physiognomischen Anforderungen – und beim linken Fuß noch „Wir profitieren, wenn Mitarbeiter ihr Wissen von Generation zu Generation weitergeben“ „Das kapitalintensive Know-how ist in Deutschland, und die lohnintensive Veredelung, die Konfektion, im Ausland“ Franz-Peter Falke Paul Falke aus inzwischen die ganze Welt. Wie entwickelt sich der Export? F.-P. Falke: Falke-Produkte bekommen Sie in 40 Ländern der Erde. Altes und neues Europa – die haben wir gut abgedeckt. Aber auch in Südafrika, wo wir seit 36 Jahren ein eigenes Werk haben. Von dort aus beliefern wir Australien sowie Nord- und Südamerika. Unsere Exportquote liegt bei 40 Prozent, und sie steigt – auch beim Umsatz. FOCUS: Nirgendwo Laufmaschen in der Bilanz? P. Falke: Raketenartig geht in der momentanen Wirtschaftslage keiner ab. Aber es gibt Länder, in denen wachsen wir Jahr für Jahr stetig, wie etwa Schweden, die Schweiz und Österreich. Unser US-Geschäft profitiert davon, dass die Währungsschwankungen zwischen Dollar und dem südafrikanischen 22 „Airport“, dann wissen sie, dass der heute noch genauso aussieht und sich genauso anfühlt wie vor einem Jahr und in einem Jahr. Die Kunden wissen, was sie bekommen, und lassen sich damit gern zu Hause beliefern. Das ist Convenience pur. So steigt zum Beispiel die Zahl unserer Abonnenten kontinuierlich. FOCUS: Wie bitte – Abonnenten? P. Falke: Kunden, die ihre Strümpfe und Socken im Abo bestellen, alle drei Monate die gleiche „Ration“ bekommen. FOCUS: Um etwa Nylon- und Seidenstrümpfe ins richtige Licht zu setzen, beauftragt Falke traditionell ausgewiesene Meister des Fotografen-Handwerks. Wen sollen deren glamourös und sexy anmutende Arbeitsproben ansprechen? F.-P. Falke: Seit den 60er-Jahren arbeiten wir mit Fotografen wie F. C. Gundlach und Helmut Newton, Annie Leibo- einmal anders als beim rechten Fuß – gerecht zu werden, sind wir mit Blick auf die Sohlen, die Spitzen und den Materialmix ergonomisch vorgegangen. FOCUS: Wer hilft Ihnen dabei? P. Falke: Wir arbeiten interdisziplinär sehr eng etwa mit der Deutschen Sporthochschule Köln zusammen, aber auch mit internationalen Textilforschungsinstituten oder der Fraunhofer Gesellschaft. FOCUS: Welche Rolle spielen OnlineKommunikation und E-Commerce für Produktwelten, in denen haptisches Erlebnis und „anprobierter“ Tragekomfort einen Kauf entscheiden können? F.-P. Falke: Eine sehr große. Bei uns haben die einzelnen Artikel eine Produktpersönlichkeit, eine Kontinuität, die die Kunden kennen. Wenn sie einmal ihren „Bristol“ gekauft haben oder ihren Fotos: beide O. Krato/FOCUS-Magazin vitz und Bettina Rheims, aber auch mit Michel Comte, Ellen von Unwerth oder seit vier Jahren mit dem Japaner Koichiro Doi. Dabei geht es uns immer um den erkennbaren Stil. Es bleibt immer typisch Falke. FOCUS: Gut, aber die Frage war, wen Sie damit ansprechen wollen? F.-P. Falke: Die Fotografen teilen unser klar definiertes Ästhetikverständnis. Wir haben sie danach ausgewählt. Mit ihrer Bildsprache vermitteln sie unseren emotionalen Kontakt zu unseren Kunden. Besonders sprechen Frauen darauf an, denn noch immer sind es Frauen, die vorrangig unsere Produkte kaufen – Damenstrümpfe genauso wie Männersocken. Das ist in Sydney und Paris nicht anders als im Sauerland. ■ INTERVIEW: THOMAS VAN ZÜTPHEN FOCUS 41/2009 Surf mit dem Besten. Hol Dir das Surf-Sofort-Paket inkl. 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Ein wichtiger Schritt dazu ist die Übernah- me der lokalen Strom- und Gasnetze von den mächtigen Energieriesen RWE, E.on oder EnBW. „Rekommunalisierung“ nennen das Fachleute. Die Zeit dafür ist günstig. In den nächsten Jahren laufen zwischen Kommunen und Konzernen viele Kontrakte aus. Mit diesen Konzessionsverträgen räumt eine Gemeinde gegen eine Abgabe einem Unternehmen das Wegerecht für die Versorgung mit Energie ein. Allein im ersten Halbjahr 2009 erfolgten im Bundesanzeiger knapp 700 Ankündigungen für endende Stromund/oder Gasnetz-Kontrakte. „Es wird einen regen Wettbewerb um diese Verträge geben“, weiß Hans-Joachim Reck, Hauptgeschäftsführer des Verbands kommunaler Unternehmen. UNABHÄNGIGKEITS-BESTREBUNGEN Niedersachsen Kommunen gegen Konzern: An drei Punkten in Westfalen ist der Kampf ums Netz in vollem Gange: in Recklinghausen, im Münsterland sowie im Hochsauerland Minden Rheine Herford Bielefeld 2 NIEDERLANDE Mnster Gtersloh Paderborn AUF DER HUT Jürgen Großmann, Chef der RWE AG, weiß um die Bedeutung des Konzessionsgeschäfts und hat in der Essener Holding jüngst eine Extra-Abteilung dafür eingerichtet Hamm Recklinghausen 1 Dortmund Gelsenkirchen Arnsberg Duisburg Essen Bochum Hagen Krefeld Wesel 50 km Düsseldorf 3 Hessen Ldenscheid Mnchengladbach Kln Aachen 24 Detmold Siegen Bonn Quelle für alle Charts: Unternehmensangaben 10 km 2 Ste i nfu r t Rosendahl, 5/2009 1 Billerbeck, 1/2011 Havixbeck, 12/2011 Mnster Coesfeld Coesfeld M ns te r 43 Senden, 7/2010 Wa r e n d o r f Dlmen B o r ken Lüdinghausen, 9/2010 Olfen, 9/2009 Recklinghausen Ascheberg, 5/2010 Nordkirchen, 2/2011 Ham m MÜNSTERLAND 1 Oer-Erkenschwick Marl Bockholt 43 Erkenschwick Speckhorn Acht Gemeinden haben im Kreis Coesfeld eine gemeinsame Gesellschaft gegründet, die das Stromnetz übernehmen will. Dafür ist ein Partner mit Know-how gesucht, der unter 50 Prozent am Versorger halten soll Horneburg Essel Scherlebeck Recklinghausen, 12/2010 Herten Stuckenbusch Hillerheide Grullbad 2 km RECKLINGHAUSEN Suderwich 2 CastropRauxel Ein ganz großer Brocken für RWE: Hier hat der Energieriese nicht nur die Strom-, sondern auch die Gasversorgung in der Hand. Beide Verträge laufen Ende des kommenden Jahres aus. Der Poker hat bereits begonnen 43 Horsthausen He rne ERZEUGUNG UND VERTRIEB Bei der Stromerzeugung ist der Konzern vor Konkurrenz weitgehend sicher. Im Netzgeschäft droht nun aber Ungemach FOCUS 41/2009 Fotos: W. v. Brauchitsch, Mauritius 25 3 NORDRHEIN-WESTFALEN EN Warstein Soest Seit Anfang Oktober beliefert die HochsauerlandEnergie die ersten eigenen Kunden mit Strom. Für das Netz verlangt RWE gut 50 Millionen Euro. Einigt man sich nicht, könnte die Sache vor Gericht landen 46 Brilon Meschede, 11/2009 Olsberg, 11/2009 12/2009 Hoch- Bestwig, sauerlandkreis 10 km Naturpark Rothaargebirge Bad Fredeburg STROM-REBELLEN Bürgermeister Uli Hess (Meschede), sein Amtskollege Elmar Reuter (Olsberg), die beiden Geschäftsführer Siegfried Müller und Christoph Rosenau sowie die Bürgermeister Christof Sommer (Lippstadt) und Ralf Péus (Bestwig) haben die HochsauerlandEnergie aus der Taufe gehoben. Diese geht mit einem Kampfpreis auf Kundenfang Die Motive für den Schritt, den Strom- und Gasvertrieb wieder in eigene Regie zu bringen, sind je nach Ort unterschiedlich. Da ist zum einen die Hoffnung auf ein lukratives Geschäft. Auf der anderen Seite ergeben sich so neue Versorgungsposten für ausscheidende Bürgermeister oder einflussreiche Kommunalpolitiker. Meist steht aber die Abgrenzung zu den Großen der Branche im Vordergrund: „Anders als anonyme Stromriesen und InternetAnbieter wollen wir als kommunales Unternehmen in der Region für die Bürger da sein und nicht in erster Linie die Dividenden von Aktionären bedienen“, unterstreicht etwa Christoph Rosenau, Co-Geschäftsführer der neuen HochsauerlandEnergie GmbH. Eine Gemeinsamkeit gibt es in Westfalen allerdings: Hier droht immer einer den Anschluss zu verlieren – der Essener Energie-Riese RWE. Beispiel Recklinghausen: Für RWE ist die Kreisstadt ein ganz „dicker Fisch“, den es mit al26 len Mitteln zu verteidigen gilt. Schließlich beliefert man die 120 000 Einwohner nicht nur mit Strom, sondern auch mit Gas. Beide Verträge enden im Dezember 2010. Die Konkurrenten laufen sich schon warm und sind bereits im Rathaus vorstellig geworden. „Mir sind fristgerecht zum 31. März 2009 Interessenbekundungen mit unterschiedlichen Varianten zugeleitet worden“, heißt es in einem Schreiben des Fachbereichs Wirtschaftsförderung und Liegenschaften. RWE macht vor Ort schon seit Monaten Werbung in eigener Sache. Gerade erst hat man den Standort gestärkt, medienwirksam die Zahl der Mitarbeiter erhöht, steckt eine Million in den Ausbau des örtlichen Strom-Museums. Außerdem zahlt der Konzern rund 680 000 Euro an Gewerbesteuer. Alles Pfunde, mit denen man wuchern kann. Genauso klar ist aber, dass es mit all den Wohltaten schnell vorbei sein könnte, wenn RWE nicht erneut zum Zuge käme. Quelle: Unternehmensangaben HOCHSAUERLAND Die Übernahme des Strom- und/oder Gasnetzes ist längst kein Selbstläufer. Es gilt nicht nur den Kaufpreis zu schultern sowie einen eigenen Energieeinkauf und Kundendienst aufzubauen. Der größte Haken: Nach dem neuen Energiewirtschaftsgesetz bleiben die Kunden beim bisherigen Versorger. Der Newcomer muss also jeden einzelnen Haushalt, Bäckermeister und Kleinbetrieb für sich gewinnen. Das funktioniert mit einem günstigen Stromtarif. Weil der Altversorger aber alles tut, um die Kunden zu halten, ist das Ganze ein oft langwieriger und teurer Prozess. Viele Kommunen holen sich deshalb einen erfahrenen Partner ins Boot. Bestes Beispiel für diesen Weg sind die Sauerland-Gemeinden Meschede, Olsberg und Bestwig. Das Trio hat im Mai die HochsauerlandEnergie GmbH gegründet. Die Hälfte der Anteile halten die Stadtwerke Lippstadt, die das entsprechende Know-how mitbringen. Seit einigen Wochen geht der neue Versorger mit einem Kampfpreis von 20,20 Cent pro Kilowattstunde in der Region auf Kundenfang. „Guter Service vor Ort und faire Preise sind unser Grundprinzip“, unterstreicht Co-Geschäftsführer Rosenau. David gegen Goliath. Noch mehr Stromrebellen haben sich zum Projekt Stadtwerke Münsterland zusammengeschlossen. Im Kreis Coesfeld wollen Ascheberg, Billerbeck, Havixbeck, Lüdinghausen, Nordkirchen, Olfen, Rosendahl und Senden die Stromleitungen von RWE übernehmen und haben dazu eine gemeinsame Netzgesellschaft gegründet. In den acht Gemeinden leben zusammen etwa 120 000 Menschen. Schon bevor im Mai die entsprechenden Verträge unterschrieben waren, standen auch hier die Interessenten Schlange. „Wir haben Nachfragen von 15 möglichen Partnern“, so Aschebergs Bürgermeister Dieter Emthaus stolz. „Unter ihnen befinden sich auch die Stadtwerke Münster und Düsseldorf.“ Die Gemeinden wollen einen Anteil von „unter 50 Prozent“ an dem neuen Unternehmen verkaufen. Auch hier ist ein Partner mit Erfahrungen gesucht. Emthaus: „Die Wertschöpfung entsteht in der Region, und wir möchten an Entscheidungen mitwirken, die im Augenblick in Essen oder sonst wo ■ getroffen werden.“ JOCHEN SCHUSTER FOCUS 41/2009 SICHERHEIT Schlimmste Seuche Münster ist die Kriminalitätshochburg des Landes – wegen der Fahrraddiebe. Die Polizei will das durch Vorbeugung stoppen LEICHTE BEUTE DELIKT MIT TÜCKISCHEN KONSEQUENZEN SCHLECHTES ZEUGNIS Fahrraddiebstähle sind kaum aufzuklären. Das verschlechtert die Kriminalstatistik von Münster Straftaten insgesamt 42% 29 182 davon: Fahrraddiebsthle Z ehn Jahre nach seiner Ernennung zum Chef der örtlichen Polizeibehörde war Hubert Wimber endgültig in Münster angekommen. Denn die höheren Weihen der Einbürgerung bemessen sich in der westfälischen Domstadt weniger am Eintrag im Einwohnermeldeamt als vielmehr an einem geflügelten Wort: „Ein Münsteraner, dem noch nie ein Fahrrad geklaut wurde, ist kein echter Münsteraner.“ Hubert Wimber traf „unsere schlimmste Seuche seit der Pest“ im Sommer 2007. Der Einladung zu einem Grillabend bei Freunden war NordrheinFOCUS 41/2009 Aufklrungsquote Straftaten in Münster 2008 Beiderseits des Münsteraner Hauptbahnhofs parken täglich Tausende von Fahrrädern – potenzielle Beute für Diebe 6% 5867 Quelle: Polizeipräsidium Münster Westfalens einziger Polizeipräsident, der Mitglied der Grünen ist, per Fahrrad gefolgt, hatte die ein Jahr alte „Gazelle“ allerdings unverschlossen in einem Carport abgestellt. Knapp drei Stunden später war der Sozialwissenschaftler um etwa 800 Euro ärmer und eine Erfahrung reicher: „Es gibt keinen sicheren Ort in dieser Stadt, an dem man vor Fahrraddieben gefeit ist.“ Die prekäre Sicherheitslage der Münsteraner Pedalritter hat mit einer Besonderheit des westfälischen Oberzentrums zu tun: Dank der geschätzten 500 000 Fahrräder ihrer 280 000 Ein- Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin wohner gilt Münster als Fahrradhauptstadt der Nation. Ein Alleinstellungsmerkmal, bei dem sich Wimbers 1600 Polizeibeamte noch so sehr abstrampeln können – den Spitzenplatz in der bundesweiten Kriminalstatistik hat die Stadt damit praktisch abonniert. Die niedrigste Aufklärungsquote aller Städte mit mehr als 200 000 Einwohnern ist ein Makel, von dem sich die ehemalige Hansestadt kaum je befreien können wird. Nur in 12 296 ihrer insgesamt 29 182 Kriminalfälle konnten die Münsteraner Ermittler im vergangenen Jahr einen Straftäter präsentieren. 27 NORDRHEIN-WESTFALEN Ob Mountainbike, Touren- oder Trekking-Rad – mit fast 6000 gestohlenen Drahteseln (20,1 Prozent aller Delikte) pro Jahr ist jeder fünfte Fall in Wimbers Behörde ein Fahrraddiebstahl. Zum Vergleich: In der Bundeskriminalstatistik von Innenminister Schäuble hält sich die Langfingerei rund ums Rad im Rahmen – in gerade mal jedem 20. Fall ist die Beute ein Fahrrad. Tücke der Statistik. „Und da“, so Wimber, „steckt das Malheur.“ Weil derzeit durchschnittlich nur 6,2 Prozent der Münsteraner Fahrraddiebe erwischt werden, „drückt das unseren Schnitt gewaltig“. So werden niedrige Fallzahlen und hohe Aufklärungsquoten nach Wimbers Erfahrung „gern als Indikator guter Polizeiarbeit verstanden, dabei ist diese oberflächliche Lesart der Statistik schon auf den allerersten Blick nur sehr bedingt aussagefähig“. Grundsätzlich gilt Münster nämlich als attraktives urbanes Oberzentrum, wurde – als bisher einzige Kommune Deutschlands – 2004 mit dem LivCom Award als lebenswerteste Großstadt der Welt ausgezeichnet. Dazu beigetragen haben auch hohe Aufklärungsquoten der Polizei bei Delikten, die mehr Angst und Schrecken verbreiten als die berühmt-berüchtigte Fahrrad-Klauerei. So enttarnt die Kripo Münster bei den Straftaten Raub, Vergewaltigung, gefährliche und schwere Körperverletzung deutlich mehr Gesetzesbrecher als ihre Kollegen im Land oder im Bund. Im Bereich der Schwerkriminalität liegt die Stadt weit unter dem Durchschnitt: Nur drei Prozent der rund 29 000 Straftaten sind Gewaltverbrechen. So ereigneten sich 2008 gerade einmal drei Fälle von Mord und Totschlag – weniger, als „Tatort“-Folgen von der ARD gesendet wurden. Und wie im Fernsehen konnte Münsters Mordkommission alle Fälle aufklären. Gelegenheit macht Diebe. Ist die Erfolgsquote der Polizei bei Vermögensde- likten bundesweit schon recht niedrig, erschweren in Münster drei Faktoren die Arbeit der Ermittler besonders: ● Umfang und Größe des „Beuteangebots“, so der Polizeijargon, sind außergewöhnlich; ● Das Entdeckungsrisiko ist für Diebe, auch außerhalb des 270 Kilometer langen Radwegenetzes der Stadt, minimal, wenn schon statistisch jeder Münsteraner mit zwei Fahrrädern unterwegs ist: ● das „Wiedererlangungsinteresse“ der Bestohlenen ist gering, da der Verlust wertvoller Räder in vielen Fällen von Versicherungen beglichen wird. Viele Drahtesel sind zudem oft bloß mit Schlössern versehen, die zu knacken laut Polizei „einen versierten Fahrraddieb nur ein scharfes Gucken kostet“. Daher empfehlen die Polizeibeamten, „nur solche Fahrradschlösser zu benutzen, deren Aufbruch mindestens 30 Sekunden dauert“. Als Faustformel gilt bei Fahrrädern mit einem Neu- Immer da, immer nah. Wachsen automatisch: Die Leistungen unserer Kfz-Versicherung. Auf unsere Kfz-Versicherung können Sie sich verlassen. Schäden regulieren wir schnell und unkompliziert. Und das Beste: Unsere Kfz-Versicherung wird regelmäßig überarbeitet. Jede Leistungsverbesserung, die sich dabei ergibt, gilt dann automatisch auch für Ihren bestehenden Kfz-Vertrag. Wir nennen das Leistungsupdate. Interessiert? Ihr persönliches Angebot bekommen Sie in Ihrer Provinzial, Sparkasse oder unter www.provinzial-kfzangebot.de MACHTLOS Ausgerechnet Münsters Polizeipräsident Hubert Wimber ist eines der prominentesten Opfer von Fahrraddieben in der Stadt FAHRRAD-HAUPTSTADT Weil fast jeder Münsteraner im Schnitt zwei Fahrräder besitzt, spricht die Polizei von einem „großem Beuteangebot“. Einwohner: Fahrräder: Polizisten: 280 000 500 000 1 600 wert von 2000 Euro, mindestens fünf Prozent der Kaufsumme (100 Euro) in ein Schloss zu investieren. Mit Hochdruck verfolgen Wimbers Beamte auch andere Präventionsansätze. So raten sie, Fahrräder außer mit der regulären Rahmennummer mit einer weiteren Kombination aus Buchstaben und Zahlen zu codieren. Die entsprechende Registrierung ist seit Kurzem auf der Internet-Seite des Polizeipräsidiums auch online möglich. So hat die Polizei die Chance, in ihrer Halterdatei nicht nur den ursprünglichen Erstkäufer eines Rades zu ermitteln, sondern auch den jeweils aktuellen Besitzer. Bei Kontrollen im Straßenverkehr wird so der Name des Fahrers schnell mit dem des Eigentümers verglichen. Immerhin: Knapp 20 Prozent der 500 000 „städtischen“ Fahrräder sind dort heute bereits erfasst. Und inzwischen auch die drei Fahrräder von Hubert Wimber. ■ THOMAS VAN ZÜTPHEN Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin NORDRHEIN-WESTFALEN ZAHN DER NEUEN ZEIT Dental-Labors nutzen bereits die schichtweise Fertigung. é Anhand gescannter Modelle entwirft der Techniker Kronen am PC. Software wandelt die 3-D-Modelle in Schichtdaten um, die an die Sinteranlage gehen. è Dort wird eine 0,02 Miilimeter dünne Metallpulver-Schicht aufgetragen. ê Der 0,1 Millimeter feine Laser schmilzt das Pulver auf. Nach circa 1000 Schichten ist die Krone fertig. 1 Kronen-Design am PC 2 Metallpulverschicht auftragen 3 ERSATZTEIL Bis zu 450 Kronen und Brücken können auf einem Träger gleichzeitig mit dem Laser schichtweise aufgebaut werden Laser verschmilzt das Pulver. SCHICHTARBEIT Die aus der Zahntechnik bekannte Laser-Fertigung wollen Forscher für den FORSCHUNG Werkzeug überflüssig An der Universität Paderborn entwickeln Ingenieure die Metall- und Kunststoff-Fertigung von übermorgen F QUALITÄTSKONTROLLE Laboringenieur Michael Brand vom DirektfertigungsInstitut der Uni Paderborn prüft Maße und Oberfläche des Bauteils 30 lugzeugbauer Boeing kämpft mit negativen Schlagzeilen: Der aus einer Kunststoffhülle bestehende Langstreckenjet B787 („Dreamliner“) stellt die Tüftler vor größte Herausforderungen – und startet daher verspätet in die Luft. Weniger bekannt ist, dass der US-Hersteller aus dem Staat Washington schon an der Produktionstechnik von übermorgen feilt – und zwar an der Universität Paderborn. Boeing ist Teil eines Industrie- und Forschungskonsortiums, das im Mai die Arbeit aufgenommen hat. Die Amerikaner zählen zu den Gründungsmitgliedern des Direct Manu- facturing Research Centers (DMRC) ebenso wie der Chemieriese Evonik, die Münchner Technikschmiede EOS und die Maschinenkonstrukteure MTT Technologies aus Lübeck. In Ostwestfalen suchen sie zusammen mit anderen Ingenieuren nach Wegen, Werkstücke anhand von dreidimensionalen Konstruktionszeichnungen vollautomatisch und in Serie zu fertigen. Sonst übliche Arbeitsschritte würden eingespart, der aufwendige Bau von Produktionswerkzeugen gestrichen. „Einfach ausgedrückt: Wir arbeiten daran, Metall- und Kunststoffteile direkt durch FOCUS 41/2009 Flugzeugbau weiterentwickeln WASHINGTON UND WESTFALEN Boeing montiert in Renton im US-Bundesstaat Washington den Mittelstreckenjet B737. Der Airbus-Rivale sucht neue Techniken – und stellt den Chef des Paderborner Instituts das Erhitzen feinster Pulverschichten mit dem Laser herzustellen“, erläutert Projektleiter Hans-Joachim Schmid das Prinzip. „Auf diese Weise kann der Konstrukteur das am Computer entwickelte Design sozusagen dreidimensional ausdrucken.“ In der Dentaltechnik wird dieses Verfahren bereits angewendet. „Auf eine Bauplatte passen bis zu 450 Kronen und Brücken, die in bis zu 24 Stunden aus CobaltChrom im Schichtbauverfahren produziert werden“, rechnet Christof Stotko von der Münchner Firma Electro Optical Systems vor. „Einige Formel-1Rennställe nutzen die Technik bereits, um defekte Bauteile selbst herzustellen und rasch zu ersetzen. Und es werden noch längst nicht alle Anwendungsmöglichkeiten ausgeschöpft“, betont der EOS-Manager. Für ihre filigranen Damenschuh-Absätze aus Titan ist beispielsweise die britische Schuh-Designerin Kerrie Luft bekannt. „Direct Manufacturing hat sich bisher in der Herstellung von Prototypen und in wenigen Nischenanwendungen etabliert“, sagt Scott Martin, Vorsitzender des Instituts und Leiter von Direct Digital Manufacturing von Boeing Research im amerikanischen St. Louis. So fänden sich derartige Teile in zivilen Flugzeugen, Militärjets wie der Boeing F/A-18 Super Hornet oder auf der Internationalen Raumstation ISS. „Zahlreiche Restriktionen stehen einer breiteren Anwendung dieser viel versprechenden Technologie noch im Weg“, bedauert der US-Manager. „So fehlen Industrienormen, um die Herstellung zu vereinheitlichen und vergleichbar zu machen. Zudem müssten die Festigkeit des Materials gesteigert und das Tempo der Produktion deutlich erhöht werden.“ Dann könnte die werkzeuglose Fertigung in anderen Wirtschaftsbereichen Einzug halten. „Die Autoindustrie etwa verfolgt die Entwicklung mit großem Interesse.“ Das tun auch die Politiker. Als das Labor im Mai die Arbeit aufnahm, lobte NRW-Innovationsminister Andreas Pinkwart das DMRC als „international herausragendes Forschungsinstitut“ und stellte Landeshilfen in Höhe von fünf Millionen Euro in Aussicht. Grund: „Wir können nur mit Qualität und nicht mit Löhnen weltweit konkurrieren“, so der FDP-Mann. „Und neue Arbeitsplätze entstehen in den wissensintensiven Bereichen.“ Im kommenden Foto: Redux/laif Jahrzehnt sollten so 16 000 neue Arbeitsplätze und Wertschöpfung in Milliardenhöhe entstehen. Gleichzeitig forderte Pinkwart die Industrie auf, die öffentlichen Gelder durch Eigenmittel in gleicher Höhe aufzustocken. Seinem Ruf folgten Siemens, der US-Spezialist für die Herstellung von Plastik-Prototypen Stratasys sowie Stükerjürgen Aerospace und Kabinenausstatter JetAviation. „Wir führen Gespräche mit weiteren Interessenten“, erläutert Schmid. Insgesamt kalkuliert der Hochschullehrer mit einem Budget von rund elf Millionen Euro. Die Ostwestfalen starteten ursprünglich mit Prüfungen der Festigkeit. „Wir wollen und müssen mehr über die Eigenschaften von laserbearbeiteten Teilen wissen“, so Schmid. Beim Kunststoff werden zwischen 0,1 und 0,15 Millimeter feine Staubschichten aufeinandergelegt, bei Metall experimentiere man mit 0,02 bis 0,07 Millimetern, berichtet Doktorand Stefan Rüsenberg. So entstehe Lage für Lage ein dreidimensionaler Körper. „Im Moment erproben wir Zugstäbe, deren Festigkeit wir anschließend messen“, erläutert der 28-Jährige. Vorläufiges Fazit: „Metallobjekte sind nahezu genauso stabil wie herkömmliche Spritzgussteile, bei gesinterten Kunststoffteilen erreichen wir 80 bis 90 Prozent der Eigenschaften.“ Die Schichtbautechnik verspricht der Industrie erhebliche Kostenvorteile. Bislang müssen beispielsweise Flugzeugbauer teure Werkzeuge herstellen, obwohl selbst Bestseller-Maschinen wie die Boeing 737 und der Airbus A320 jeweils nur etwas mehr als 6000-mal produziert wurden. Im Vergleich zur Autoindustrie sind das geringe Stückzahlen. Gleichwohl müssen die Hersteller über den 50-jährigen Lebenszyklus der Jets hinweg Werkzeuge verfügbar halten, um defekte Teile nachliefern zu können. Das könnte sich durch die Direktproduktion drastisch ändern, schwärmt Hochschullehrer Schmid. „Künftig könnten Hersteller wie Boeing die Konstruktionszeichnungen auf einem Server hinterlegen. Fällt nun ein Bauteil aus, sendet der Hersteller die Konstruktionsdatei zum Kunden, der sie auf seiner Direktfabrikation ohne händische ■ Arbeit nachbaut.“ MATTHIAS KIETZMANN 31 NORDRHEIN-WESTFALEN GRENZENLOSE BILDUNG Benjamin Wohl (r.) und Tobias Hummels studieren in den Niederlanden. ı Schlechte Erfahrung Der angehende Technische Wirtschaftsingenieur Tobias Hummels studierte in Aachen, bevor er nach Enschede wechselte. ı Erste Wahl Der Münsteraner Benjamin Wohl entschied sich schon 2004 für ein Studium der Technischen Chemie in den Niederlanden. ALTERNATIVE Immer mehr Studenten entscheiden sich für ein Studium im Nachbarland BILDUNG Lernen bei Nachbarn Niederländische Hochschulen werben um deutsche Studenten — auch mit finanziellen Hilfen und zweisprachigen Kursen N ach zwei Semestern hatte Tobias Hummels die Nase voll. Mit dem Berufsziel Technischer Wirtschaftsingenieur hatte der heute 25-Jährige 2004 sein Studium in Aachen begonnen. Doch in Reihe 36 mit 1000 Kommilitonen im selben Hörsaal zu sitzen, „das war nicht mein Ding“. Sein Fazit zum Kurzgastspiel an der einzigen Eliteuniversität in NRW wirkt ernüchternd: „Bevor einige wenige die Segnungen einer Prestige-Hochschule nur touchieren dürfen, müssen ganz viele erst aufgeben.“ Seit zwei Jahren studiert der junge Mann aus dem münsterländischen Borken nun im niederländischen Enschede und ist begeistert: „Hier wird in kleinen Gruppen, den ‚werkcolleges‘, gelehrt und geforscht, die Studienbegleitung durch die Hochschule ist extrem ziel32 führend und das Betreuungsverhältnis sensationell.“ Dass an den niederländischen Hochschulen wie im Fall der Universiteit Twente (UT) etwa 8600 Studenten von 2000 Mitarbeitern betreut werden, ist ein Zahlenschlüssel, der zunehmend mehr bildungshungrigen jungen Westfalen eine Perspektive eröffnet. So auch Benjamin Wohl, 25, der an der UT im fünften Jahr Technische Chemie studiert: „Die Menschen sind hier lockerer drauf, die Hierarchien an der Uni sind viel flacher, und die Profs lassen ein großes Interesse erkennen, uns Studenten auszubilden und zum Abschluss zu bringen.“ Für den Münsteraner ist auch die Mentalität der Nachbarn „ein großes Plus“. Vor fünf Jahren konnte sich Wohl noch ausschließlich im Internet über www.studieren-in-holland.de informieFoto: E. Hinz/FOCUS-Magazin ren. Heute vermarkten sich die Hochschulen des Nachbarlands vor allem im grenznahen Münsterland offensiver, schicken Studenten als Botschafter aus, die an deutschen Gymnasien Nachwuchs werben oder auf Ausbildungsmessen zu Info-Veranstaltungen auf ihrem Campus einladen. An guten Argumenten fehlt es nicht, wenn die Rekrutierungs-Teams der niederländischen Unis auf Roadshows gehen: Mit gut 1600 Euro pro Jahr liegen die Studiengebühren zwar über dem Niveau vieler deutscher Hochschulen. Doch der Staat unterstützt jeden Studenten, der mindestens 32 Stunden monatlich einem Nebenjob nachgeht, mit 260 Euro Studienfinanzierung im Monat – 3120 Euro pro Jahr. „Und wer sein Studium zum Abschluss bringt“, so Tobias Hummels, „braucht das FOCUS 41/2009 1 Emmen Niedersachsen 2 Zwolle RICHTUNGSWEISEND GRENZWERTIG Niederländische Hochschulen bieten zahlreiche Studiengänge. Hengelo Deventer Osnabrck é Emmen | Stenden Hogeschool Maschinenbau, Informatik, International Business è Zwolle | Windesheim Honours College Verkehrswirtschaft, Gesundheitswirtschaft ê Enschede | Universiteit Twente Naturwissenschaften, Informatik, Psychologie ë Velp | Hogeschool Van Hall Larenstein www.vanhall-larenstein.de Biotechnologie, Wildlife Management, Wasserwirtschaft í Arnheim/Nijmegen | Hogeschool van Arnhem en Nijmegen Informatik, Wirtschaft, Sozialpädagogik ì Nijmegen | Radboud Universiteit Naturwissenschaften, Jura, Medizin Enschede 3 Appeldorn NIEDERLANDE Nordrhein- Arnheim 5 4 Velp Westfalen Nijmegen 6 Mnster Bocholt Kleve Hamm Recklinghausen Oberhausen Eindhoven Duisburg Venlo 7 Dortmund Essen www.fh-stenden.de www.fh-windesheim.de www.utwente.nl www.han.nl Krefeld Düsseldorf Mnchengladbach www.studieren-in-nimwegen.nl îï Venlo und Sittard | Fontys Hogeschoolen Sittard 8 Kln 9 Maastricht Aachen www.fontys.de Maschinenbau, Software-Engineering, Wirtschaftsinformatik 50 km ñ Maastricht | Universiteit Maastricht www.maastrichtuniversity.nl Medizin, Psychologie, Jura, Internationale Wirtschaftswissenschaften Ein starkes Stück NRW Anne Kotthoff, Jungzüchterin aus Remminghausen bei Meschede und Mitglied der Rinder Union West eG Hartmut und Jürgen Decker, Inhaber der „Max und Moritz HähnchenBraterei“ in Ladbergen und Mitglieder der Volksbank Tecklenburger Land eG Almut Burgsmüller, Inhaberin der Ruhr-Apotheke in Essen und Mitglied der NOWEDA eG Apothekergenossenschaft Genossenschaften in Rheinland und Westfalen: modern, innovativ und mit guter Tradition drei Millionen Mitglieder 48.000 Arbeitsplätze über 600 mittelständische Unternehmen in Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft 27 Milliarden Euro Umsatz 164 Milliarden Euro Bilanzsumme www.rwgv.de NORDRHEIN-WESTFALEN KLUGER KOPF Carola Winter (2. v. l.) vereint Studium mit Profi-Sport „In Enschede ist es für mich viel einfacher, meine sportlichen Ziele und das Studium unter einen Hut zu bringen“ Carola Winter ı Studentin und Ex-Bundesliga-Spielerin Geld nie zurückzuzahlen.“ Dass durch die Nebenjobs das Studium der deutschen Studenten oft länger als vorgesehen dauert, nehmen die Hochschulen gern in Kauf. „Wir ermuntern die jungen Deutschen, neben dem Studium zu arbeiten, denn dann ‚selbstverständlicht‘ sich der Gebrauch der niederländischen Sprache schneller“, sagt Pollus Fornerod, Sprecher an der Enscheder Universität. Sprachkenntnis Voraussetzung. Ob die akademische Ausbildung in Richtung Ingenieurwesen oder Pferdewirtschaft zielt, Nanotechnologie oder Jura – während der dreijährigen Bachelor-Studiengänge werden fast alle Veranstaltungen auf Niederländisch gehalten. Entsprechende Kenntnisse müssen Studienbewerber nachweisen. „Crash-Kurse, garantiert erfolgreich“, so ein Tipp von Benjamin Wohl, „kosten 1000 Euro, dauern nur vier Wochen und sind die sinnvollste Investition überhaupt.“ Erst in den Master-Studiengängen ist Vorlesungssprache zumeist Englisch. Mit der „bilingualen Ausbildung sind uns die Holländer zehn Jahre voraus“, sieht André Zimmermann vom Düsseldorfer Wissenschaftsministerium die Nachbarn weit enteilt. 34 Vorteil für das Oranje-Diplom. Und noch einen Punkt muss Zimmermann an die Unis im Nachbarland vergeben: „Bei uns liegt die Orientierung vieler Professoren vorrangig in der Forschung, weniger in der Lehre. Ein nötiges Umdenken findet da nur sehr langsam statt.“ BILDUNG IM ORANJE-STAAT ı Ambition statt Tradition Mit dem modernen Bildungssystem der niederländischen Nachbarn machen aktuell mehr als 20 000 deutsche Studenten gute Erfahrungen. ı Offensive Werbung Die Universitäten haben ein großes Interesse an ausländischen Studenten. Mit dem Slogan „Ein Königreich für deinen Erfolg“ wirbt die Internet-Plattform www.studieren-in-holland.de Jährlich 8000 Euro erhalten die staatlichen Universitäten pro Student von der Regierung in Den Haag; für die Abschlüsse Bachelor und Master oder Promotionen gibt es Extra-Prämien. So fließen gut 70 Millionen Euro aus dem Etat von Bildungsminister Ronald Plasterk allein in den Etat der UT. Noch einmal so viel steuern Forschungsinstitute und Industriesponsoren dazu. Shell, Philips, Unilever und Rabobank – die Liste der Unternehmen, die Lehre und Forschung etwa in Enschede unterstützen, liest sich wie das Who’s who der niederländischen Wirtschaft. Zum Renommee der akademischen Kaderschmieden zwischen Groningen und Maastricht tragen auch die nicht wenigen internationalen Top-Karrieren bei, zu denen ein Studium an den „Universiteiten“ und „Hogeschoolen“ Tür und Tor öffnen. Als der deutsche Bayer-Konzern im September mitteilte, im Oktober 2010 den Manager Marijn Dekkers zum CEO zu berufen, machte die Homepage der renommierten Radboud Universiteit in aller Bescheidenheit darauf aufmerksam, wo der US-Niederländer das Chemiker-„Handwerk“ gelernt hat – am Comeniuslaan 4 in Nijmegen. Nicht immer sind es jedoch ausschließlich akademische Gründe, die bildungshungrige junge Deutsche an niederländische Hochschulen führen: Die damals 19-jährige Carola Winter hatte bereits zwei Semester Psychologie in Münster studiert, als sie im Sommer 2007 entschied, an die Universiteit Twente zu wechseln. Neben ihrem Studium ist die angehende Sportpsychologin auch eine erfolgreiche Fußballerin, mit drei Jahren Bundesliga-Erfahrung als Spielerin der SG Essen-Schönebeck. „Doch der Weg – viermal die Woche – von Münster zum Training nach Essen war sehr lang“, so Winter. Mit ihrem Wechsel nach Enschede konnte die Kickerin sofort beim Ehrendivisionisten FC Twente anheuern und ist – mit der Rückennummer 4 – seither einzige Deutsche in der niederländischen Profi-Liga. „In Enschede ist es viel einfacher, meine sportlichen Ziele und das Studium unter einen Hut zu bringen.“ Und das, obwohl sie sich – Stichwort „Ausbildungsunterschiede Niederlande/Deutschland“ – noch auf einen anderen Punkt einstellen musste: „Beim FC Twente wird siebenmal die Woche trainiert.“ ■ THOMAS VAN ZÜTPHEN FOCUS 41/2009 VOM SPIELER ZUM TRAINER ı Der 42-Jährige kickte als Fußball-Profi elf Jahre bei Mainz 05, bevor er dort im Winter 2001 den Trainerposten übernahm. ı Seit Juli 2008 trainiert Klopp den BVB. In seiner ersten Saison kam der Verein auf Platz sechs und verpasste damit nur knapp das internationale Geschäft. INTERVIEW „Der Genuss nimmt nicht ab“ Jürgen Klopp, Trainer von Borussia Dortmund, über den samstäglichen Ausnahmezustand um 15.30 Uhr, sein Leben in Dortmund und die negativen Erfahrungen beim Muschelessen FOCUS: Herr Klopp, Borussia Dortmund ist zu Beginn der neuen Saison nicht in Schwung gekommen. Fühlt sich Krise in Dortmund anders an als auf Ihrer letzten Trainerstation in Mainz? Klopp: Nein. FOCUS: Anders gefragt: Ist eine Krise in einem großen Verein wie dem BVB eine andere Krise als in einem kleinen Verein? Klopp: Auch nicht wirklich. Man trifft doch Entscheidungen im Leben, weil man von einer Sache überzeugt ist, und dann belässt man es dabei. Wir entscheiden uns ja auch irgendwann für eine Frau, und wenn man nicht ganz verwirrt ist, entscheidet man sich dann nicht jeden Tag für eine andere. So ist das auch als Trainer. Natürlich nimmt man zur Kenntnis, was jeden Tag in der Zeitung steht oder im Fernsehen geFOCUS 41/2009 Foto: dpa zeigt wird. Da werden Menschen und Fähigkeiten manchmal ganz schnell in Frage gestellt. Dementsprechend haben sich auch Begrifflichkeiten verändert: Es gibt kaum noch Probleme, sondern es sind sofort Krisen. FOCUS: Sie gelten als Beispiel für eine junge erfolgreiche Trainergeneration mit der richtigen Mischung aus Charme und Strenge. Passt das? Klopp: Wenn es sich allein auf das Alter bezieht, dann stimmt das. Ich mache den Job aber auch schon neun Jahre. Damals habe ich für mich einen Weg gefunden, wie ich mit Spielern umgehe. Das geht nur, wenn man nicht jeden Tag überlegen muss, wie mache ich das jetzt und wie wirke ich dabei. Ich muss am Tag Hunderte Entscheidungen treffen, und wenn ich da immer überlegen würde, wie wirkt das auf wen und vor allem natürlich auf die Öffentlichkeit, dann wäre der Tag definitiv zu kurz. FOCUS: Kommen wir zu Charme und Strenge. Klopp: Ich habe begriffen, dass es die richtige Mischung aus Spaß am Spiel und Disziplin braucht, um ein Spiel zu gewinnen. FOCUS: Wie findet man die Mischung aus Schleifer und Kumpel? Klopp: Mit gesundem Menschenverstand. Ich bin in einem völlig normalen Umfeld aufgewachsen und habe diese Mischung aus Zuneigung und Strenge auch gespürt. Und das setze ich genauso um. Mit gesundem Menschenverstand ist tatsächlich zu erkennen, was der andere braucht und wie er gefordert werden muss. Fußballer neigen – wie alle Menschen – schließlich auch zur Bequemlichkeit. 35 NORDRHEIN-WESTFALEN FOCUS: Wo ist Jürgen Klopp streng? Klopp: Auf dem Trainingsplatz. In Abläufen rund um die Kabine. Da muss Ordnung herrschen. Wer zu spät kommt oder wer sich zum Beispiel gegenüber BVB-Mitarbeitern respektlos benimmt – erlebt mich knallhart. Wichtig ist allerdings, dass man vorlebt, wie man mit Menschen richtig umgeht. Ich glaube, ich habe mit jedem hier im Verein ein recht gutes Verhältnis. Die helfen mir bei dem, was ich tue, also helfe ich ihnen auch bei dem, was sie tun. Das kriegen die Jungs mit und gehen hoffentlich den gleichen Weg. Andererseits kann ich auch die Prioritätenliste „Familie an erster Stelle, dann der Beruf“ völlig akzeptieren. FOCUS: Kann man sich darauf vorbereiten, dass es mit der Sympathie, die Ihnen seit Ihrem Amtsantritt in Dortmund entgegengebracht wird, auch schnell vorbei sein kann? Klopp: Ich beschäftige mich nicht ständig damit, was andere Leute von mir denken. Das hängt im Fußball ohnehin ganz extrem von Ereignissen ab. Der nette Kerl von gestern ist morgen ein Idiot, weil sein Team nicht mehr gewinnt. Das muss man akzeptieren. Das weiß ich, das reicht als Vorbereitung. Und dann hofft man natürlich, dass es nicht zum Schlimmsten kommt. FOCUS: Sie können nicht für jedes Foto stehen bleiben und nicht jedes Autogramm schreiben. Wenn Sie mal an jemandem vorbeigehen, denken Sie dann „Was mag der nun von mir denken?“ Klopp: Nicht mehr. Aber ich habe lange Zeit so gedacht. Vor mehreren Jahren gab es eine Szene, da waren meine Frau und ich Muscheln essen. Ich hatte eine aus der Schale gepult, da kam jemand und wollte ein Autogramm. Ich habe mir also die Finger abgewischt und unterschrieben. Kaum hatte ich die nächste gegessen, kam ein anderer. Wieder Hände abputzen. An dem Tag habe ich nicht daran gedacht, irgendwann mal zu sagen:„Bitte warten Sie, bis ich fertig bin.“ Jetzt tue ich das. Dass man es nicht allen recht machen kann, ist auch so eine Lehre, die das Leben einem mit auf den Weg gibt. FOCUS: Sie haben gesagt, Familie stehe deutlich vor dem Sport. Können Sie die Menschen in Ihrem Umfeld von der Popularität abschirmen, oder beeinflusst diese Ihr Leben komplett? Klopp: Es beeinträchtigt dich dann, wenn du es zulässt. Wenn man mit den 36 ZUSAMMEN AUF DER TRIBÜNE Wenn sein Team nicht spielt, guckt sich Jürgen Klopp an, was die Konkurrenz so macht. Häufig in Begleitung seiner Ehefrau Ulla, die beiden wohnen in Herdecke. Klopp hat immer wieder betont, das für ihn die Losung „Familie vor Beruf“ gilt STRESS AM SPIELFELDRAND Auch beim Auswärtsspiel Mitte September in Hannover erreichte der BVB trotz Klopps engagierter Anfeuerung an der Linie nur ein Unentschieden. Immerhin gelang ein paar Tage später ein Sieg im Pokal Fotos: DeFodi, firo FOCUS 41/2009 DIE NEUE Medien vernünftig umgeht, kann man akzeptable Kompromisse finden. FOCUS: Sie können Kompromisse mit Journalisten schließen, aber nicht mit den 30 Leuten, die täglich bei Ihnen anschellen und ein Autogramm wollen? Klopp: Das sind ja meistens nur Kinder, die kommen logischerweise aus der näheren Umgebung, und die habe ich mittlerweile fast alle mit Autogrammen versorgt. Ein Problem ist, wenn Fans bei Freundschaftsspielen in kleinen Stadien nach dem Abpfiff aus allen Richtungen auf mich einstürmen. Da gibt es überhaupt keine Disziplin. Da bittet man: „Drückt nicht so, ihr gefährdet die kleinen Kinder hier ganz vorne.“ Aber in dem Moment geht es vielen nur darum, ein Autogramm zu kriegen. Dann kann ich durchaus aggressiv werden. FOCUS: Können Sie das Gefühl beschreiben, wenn Sie am Spielfeldrand stehen und Ihnen 80 000 zujubeln? Klopp: Es geht nicht darum, dass einem 80 000 zujubeln, sondern generell um die Atmosphäre. Du kommst ins Stadion und erlebst, was da los ist. Wir sind da, und das allein sorgt dafür, dass die Menschen ausflippen. Das ist absoluter Wahnsinn. Man fühlt sich aber mehr als Teil der Menge als als derje- blut, das die Menschen da reinstecken, ist Wahnsinn. FOCUS: Haben Sie Ihre neue Umgebung schon mal genauer erforscht? Klopp: Erforscht ist vielleicht nicht ganz korrekt. Ich war jetzt endlich mal im Sauerland, das war sehr schön, das werde ich auch wiederholen. Das Ruhrgebiet empfinde ich als super angenehm, wenn man es als eine Metropole wahrnimmt. Die Möglichkeiten sind unvergleichbar. Es ist sehr angenehm, hier zu leben, aber als Fußballtrainer ist es normal, dass die Lebensqualität – wenn man die Spiele nicht gewinnt – deutlich abnimmt. Das ist überall so, egal ob man in Mainz, in Dortmund oder anderswo arbeitet. Man lebt im Wochenzyklus: Alles geht nur um das Spiel am Samstag, dann wird das ein oder zwei Tage verarbeitet. Und dann geht es um die nächste Partie. Und dann rennt das Jahr so weg. 34 Bundesliga-Spiele und idealerweise sechs Pokal-Partien. FOCUS: Was ist mit Dortmund selbst? Klopp: Ich muss gestehen: Da war ich bisher am wenigsten. Läuft es mit dem BVB schlecht, ist das kein Spaß. Und läuft es super, ist es auch nicht so der Bringer. Weihnachtsmarkt geht, da sind „Ich habe begriffen, dass es die richtige Mischung aus Spaß am Spiel und Disziplin braucht, um ein Spiel zu gewinnen“ Jürgen Klopp nige, der das ausgelöst hat. Kollektiver Ausnahmezustand jeden Samstag um halb vier. FOCUS: Nimmt dieser Genuss ab, je öfter man im Stadion steht? Klopp: Das ist das Angenehme daran: Er nimmt nicht ab. FOCUS: Vermissen Sie eigentlich nach Ihrem Umzug von Mainz nach Westfalen etwas besonders? Klopp: Vermissen ist sicherlich das falsche Wort. Freunde trifft man natürlich nicht mehr so oft. FOCUS: Waren Sie in Mainz vielleicht der totale Karnevals-Jeck? Das wäre in Westfalen eher schwierig. Klopp: Das war ich nie. Ich finde es toll, wenn man das ausgiebig feiert und ganz darin aufgeht, aber meine Sache war es nie. Ich gucke gern zu, auch beim Rosenmontagsumzug. Das HerzFOCUS 41/2009 alle eingemummelt. Die Leute meinen es ja gut, aber ein Besuch der Currywurst-Bude in der Innenstadt ist für mich schlicht nicht wirklich machbar. FOCUS: Leben Sie eigentlich auch die Rivalität zwischen Schalke und Dortmund aus? Klopp: Ausleben ist das falsche Wort, weil wir dazu keine Berührungspunkte haben. Aber das Gefühl ist natürlich da. Die Begegnungen sind immer etwas Besonderes. Wir wünschen den anderen ja nichts Schlechtes, sondern es geht um die reine sportliche Rivalität. Ein sehr gutes Wochenende ist, wenn wir gewonnen haben und Schalke verloren hat. Andersrum gilt das natürlich ■ leider auch. INTERVIEW: JOCHEN SCHUSTER/ KARL-HEINZ STEINKÜHLER METRO MEHR VORTEILE: MEHR PROFESSIONALITÄT Das ganze Sortiment, das Sie als Gastronom, Hotelier, Einzelhändler oder für Ihr Büro brauchen! MEHR SCHNELLIGKEIT Sparen Sie wertvolle Zeit! Durch kürzere Wege, einen neuen Kassenablauf, Einkaufsservice, etc.! MEHR DAUERHAFTE NIEDRIGPREISE Kaufen Sie zu Preisen, die Vergleiche überflüssig machen! MEHR EXKLUSIVMARKEN Setzen Sie sich vom Wettbewerb ab und steigern Sie Ihre Marge! MEHR SERVICE Vom persönlichen Ansprechpartner bis zum Lieferservice: Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung! DIE NEUE METRO SIEGEN Eiserfelder Str. 176 57072 Siegen www.die-neue-metro.de NORDRHEIN-WESTFALEN GUT GESCHÜTZT Robert Richter leitet seit Februar 2009 zusammen mit seinem Vater das ostwestfälische Familienunternehmen tun hatte“, so der 28-Jährige, der in seiner Heimatstadt Betriebwirtschaftslehre studierte. Zwar habe er das Familiengewerbe nie von sich aus offensiv angesprochen, aber auf Partys habe er immer ein Thema gehabt: „Wenn man sein Geld mit Kondomen verdient, ist das sicherlich deutlich interessanter als zum Beispiel mit Brötchen.“ Das ostwestfälische Familienunternehmen bekam seinen Namen aus der Zusammensetzung von Richter und Latex, dem flüssigen Naturrohstoff, aus dem Kondome hergestellt werden. Ritex produziert seine Präservative ausschließlich in Deutschland, die Jahreskapazität der Anlagen liegt bei rund 120 Millionen Stück. Die gut 60 Beschäftigten erwirtschafteten zuletzt einen Umsatz von knapp unter zehn Millionen Euro. Seit 2003 hat die Firma neben Gummis auch Gleitgele im Sortiment – ihr Umsatzanteil liegt bereits bei 20 Prozent. Größe ist in diesem Geschäft entscheidend – zumindest beim Umsatzvolumen. „Das kommt schon daher, dass es einen ziemlich hohen Fixkostenanteil bei der Produktion gibt“, so der Juniorchef. Bekannte Unternehmen wie Beiersdorf haben sich bei diesem Aspekt schwer verschätzt und sind mit ihren UNTERNEHMEN Produkten wieder aus den Regalen verschwunden. In den vergangenen Jahren hat sich, so Richter, der Umgang der Menschen mit Kondomen deutlich entspannt. 60 Mit Robert Richter steht schon die dritte Generation an der Spitze Prozent werden mittlerdes Bielefelder Kondom-Herstellers Ritex weile über Drogeriemärkte abgesetzt, das Geschäft über Automaten in dunker TV-Spot ist legendär: Verschämt spart geblieben sein. Denn der Bielelen Ecken oder auf öffentlichen Toiletfelder ist mit dem Thema Kondome groß ten spielt kaum noch eine Rolle. Der versteckt der von Ingolf Lück dargestellte junge Mann an der Supergeworden: Sein Großvater hat 1948 mit Markt wächst allerdings kaum. Jahr für Ritex einen der größten deutschen HerJahr kaufen die Deutschen zwischen marktkasse seine Kondome (Marke steller für Präservative gegründet. 2007 200 und 210 Millionen Kondome. Ein „Die Bunten“) unter Lauch und Baguette. Weil die Kassiererin (Hella von stieg der Enkel ins Unternehmen ein, Grund: „Im Gegensatz zu den meisten Sinnen) aber den Preis nicht kennt, seit Februar dieses Jahres ist er einer anderen Gütern ist der Verbrauch nicht nützt ihm das wenig. Die Angestellte von zwei Geschäftsführern (der andere vom Preis abhängig“, unterstreicht Robert Richter, „sondern allein von der brüllt durch den ganzen Laden: „Tina, ist Vater Hans-Roland Richter). Aussicht auf Sex.“ ■ was kosten die Kondome?“ „Bei uns in der Familie ist man schon Eine derartige Megapeinlichkeit dürfimmer ganz unverkrampft mit allem te Robert Richter in seinem Leben erJOCHEN SCHUSTER umgegangen, was mit Sexualität zu Auf die Größe kommt es an D 38 Foto: O. Krato/FOCUS-Magazin FOCUS 41/2009 Genießen Sie schon heute Ihre Altersvorsorge: Mit LBS-Bausparen. Altersvorsorge fängt mit Bausparen an. Denn mit den eigenen vier Wänden sparen Sie sich nicht nur die monatliche Miete, sondern sichern sich gleichzeitig ein schönes Stück Zukunft. Lassen Sie sich beraten: in einem unserer 230 LBS-Kunden-Center oder einer der 2.600 Sparkassen-Filialen. www.lbswest.de. Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause. LBS Münster dert. r ö f e g r e t s ie R r, e Planbar, zinssich DIEU H R D E R T A U C H E R Die Oyster Perpetual Submariner setzt höchste Maßstäbe und ist die erste Wahl für alle professionellen Taucher mit Stil. 1953 vorgestellt, brach mit der Submariner eine neue Ära in der Geschichte des Tauchens an. Sie überzeugt durch eine einzigartige technische Innovation: die TriplockAufzugskrone, die das Gehäuse so sicher verschließt wie eine U-Boot-Luke. Die Submariner ist bis zu einer Tiefe von 300 Metern wasserdicht. Damit gehört diese Uhr nicht nur zu den unverzichtbaren Bestandteilen einer Taucherausrüstung, sondern ermöglicht jedem Träger, die Faszination der Tiefe uneingeschränkt zu erleben. Entdecken Sie mehr unter D IER OL EX SUBMARI NER ROLEX.COM