Stencils in Buenos Aires

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Stencils in Buenos Aires
Stencils in Buenos Aires: ein Beispiel politischer Kunst?
Christina Haslehner (2009)
Von den Einen als Schmierereien oder mutwillige Sachbeschädigung abgetan, von den
Anderen als künstlerische Form des Ausdrucks, Protests und der Kommunikation geschätzt,
bewegen sich Stencils in öffentlichen Meinungen irgendwo zwischen Vandalismus und
politischer Kunst (vgl. Falter 2008 und Kozak o.J.).
Stencils (auch Schablonengraffitis) sind Motive, Bilder, kurze, prägnante Sätze oder
Schriftzüge, die mit Hilfe von im Vorfeld aus Karton, Kunststoff oder ähnlichen Materialien
ausgeschnitten Schablonen auf einen Untergrund gemalt oder gesprüht werden. Oft dienen
Hauswände oder andere im urbanen Raum gelegene Objekte als solche Träger (vgl. Phillips
2007: 3). Stencils werden daher auch als „Street-Art“ oder „Urban Art“ bezeichnet (vgl.
Reinecke 2007: 9, 13). Street-Art bezeichnet „den weiten Bereich visueller künstlerischer
Arbeit im öffentlichen Raum“ (Siegl zitiert nach Reinecke 2007: 17), wobei der Begriff
sowohl offizielle, als auch inoffizielle Formen der Kunst einschließt (vgl. Reinecke 2007: 17).
Ich habe wiederholt mehrere Monate in Buenos Aires gelebt und viele der Stencils, die das
sich ständig verändernde Stadtbild prägen, gesehen. Viele sind mir wegen ihrer kritischen
Inhalte aufgefallen. Manche schienen sehr präzise und verständliche Botschaften zu
vermitteln, bei anderen fiel es mir schwer, sie zu deuten. Aber auch wenn ich nicht alle
Botschaften entschlüsseln konnte, brachten mich die Stencils mit ihrem ständigen Kommen
und Gehen „zumindest“ dazu, über sie nachzudenken. Und das ist meiner Meinung nach eines
der zentralen Potentiale politischer Kunst.
Ziel vorliegender Arbeit ist es daher, anhand ausgewählter Stencil-Beispiele des StencilKollektivs Vomito Attack aufzuzeigen, dass Stencils in Buenos Aires nicht nur als
sinnentleerte Schmierereien oder gar bloßer Ausdruck von Zerstörungslust zu beurteilen sind,
sondern, dass sich unter ihnen auch künstlerische Werke befinden, die durchaus politisches
Potential besitzen, da sie Räume für kritische Auseinandersetzungen öffnen.
In Argentinien muss die Entstehung der Stencil-Bewegung vor allem im Zusammenhang mit
der breiten Unzufriedenheit über die politische und wirtschaftliche Lage gesehen werden, die
sich über Jahre hinweg entwickelte und Ende der 90er Jahre/Anfang des 21. Jh. schließlich
ihren tragischen Höhepunkt fand (vgl. MacPhee 2004: 75f und Armborst 2003: 2003ff).
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Die Auslandsverschuldung, die besonders während der Militärdiktatur (1976-1983) anwuchs
und die damit einhergehende Auslandsabhängigkeit Argentiniens erlaubte es den Gläubigerländern Druck zur Einführung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik in Argentinien auszuüben.
Die neoliberale Wende stieß bei den herrschenden Eliten auf Wohlgefallen, da sie Profitmöglichkeiten für die Oberschicht erwarten ließ (vgl. Brand 2003: 8). Unter Carlos Menem,
der 1989 zum Präsidenten gewählt wurde, verschärften sich die neoliberalen Maßnahmen
(z. B. Privatisierungswellen) noch weiter, was ein dramatisches Anwachsen von Armut und
Arbeitslosigkeit nach sich zog. Als Fernando de la Rúa 1999 das Amt des Präsidenten antrat,
war nach offiziellen Schätzungen bereits die Hälfte der Erwerbsbevölkerung arbeitslos oder
unterbeschäftigt, der Staat konnte seine Auslandsschulden nicht mehr bezahlen. Die schlechte
wirtschaftliche Lage hatte eine extreme Kapitalflucht zur Folge. Um einen Bankenzusammenbruch zu verhindern, wurden im Jahr 2000 die Konten eingefroren. Am 19. Dezember 2001
musste schließlich der Ausnahmezustand erklärt werden und soziale Aufstände in ungeahntem Ausmaß folgten (vgl. Armborst 2003: 207ff). Mit der Forderung que se vayan todos! (alle
sollen verschwinden!) fanden klassenübergreifende (Unter-, Mittel- und Oberschicht) Proteste
statt, die das Verschwinden aller politischen Parteien verlangten und ein „neues Argentinien“
forderten. Aus dieser Dynamik heraus entstand auch die Schablonenkunst in Buenos Aires
(vgl. MacPhee 2004: 75 und MacPhee 2007: 79). Zwar konnte man bereits in den 90er Jahren
vereinzelte Stencils in der Stadt entdecken, was aber ab Ende 2001 geschah, glich einem
explosionsartigen Anwachsen der Anzahl an SchablonenkünstlerInnen und ihren Stencils. Das
Gefühl, etwas tun zu müssen und die Stimme gegen die Praktiken der „Mächtigen“ erheben
zu wollen, veranlasste immer mehr Gruppen und Einzelpersonen dazu, in den Straßen durch
Stencils ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen (vgl. Pagina 12 2007 und MacPhee 2004:
75f). “En el 2001 no había otro lugar para decir cosas más que en la calle” (Boris zitiert nach
Pagina 12 2007), erklärt Boris von Vomito Attack. Die Stencils, die ab diesem Zeitpunkt
entstanden, sind aber keinesfalls nur als Protestmittel gegen die Regierung zu begreifen. Viel
mehr war die politische Situation im Bezug auf die Stencil-Bewegung deshalb so bedeutend,
weil sie als Auslöser für eine generelle Verstärkung der Partizipation der Menschen auf der
Straße gesehen werden kann. Die Stencils waren ein Teil der aus diesem Hintergrund
entstehenden „democratic culture“ (MacPhee 2004: 75). Die aufgegriffenen Themen sind
dabei aber vielfältig und schließen vor allem den Protest gegen gesellschaftliche Mächte mit
ein (vgl. MacPhee 2004: 75 und MacPhee 2007: 79ff); ein Thema, das gerade durch die im
Krisenvorfeld eingeleiteten Privatisierungsmaßnahmen in der Krisenzeit an Gewicht gewann
(vgl. Brand 2003: 8ff).
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Vomito Attack ist nur eines von vielen Stencil-Kollektiven in Buenos Aires. Da es lokal aber
als eines der politischsten gilt (vgl. Clarín 2006), und es das Ziel vorliegender Arbeit ist, das
mögliche politische Potential von Stencils als eine etwas „andere“ Kunstform aufzuzeigen,
sollen einige seiner Arbeiten im Folgenden exemplarisch analysiert werden.
Die (vermutlich) ersten zwei Mitglieder des Kollektivs sprayen ihre Motive seit 2003
zusammen auf die Stadtoberfläche Buenos Aires` (vgl. MacPhee 2007: 88), diverse Internetblogs betonen aber, dass die einzelnen Mitglieder schon seit 2001 aktiv waren und sich die
Anzahl der KünstlerInnen mittlerweile vergrößert hat. Da der Wunsch der Anonymität unter
den Stencil-KünstlerInnen weit verbreitet ist (vgl. Pagina 12 2007), fehlen jedoch genauere
Informationen über die Identität mancher Mitglieder.
Vomito Attack sieht Stancils als Kommunikationsmedium (vgl. Pagina 12 2007), durch das
Gedanken und Inhalte vermittelt werden können. Der Name ist – natürlich im übertragenen
Sinne – zugleich Konzept (vgl. MacPhee 2007: 82): Das dritte Manifest des Kollektivs
beschreibt metaphorisch seinen (künstlerischen) Prozess der Auseinandersetzung mit für den
Menschen „unverträglichen“ Teilen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Systeme:
“Upon a toxic substance entering its body, an organism immediately takes action and tries to eliminate
it. The action of vomiting is very complex and is a common reflex with a great variety of stimuli and
psychopathological causes […] Vomiting is a cleansing act, a natural defense mechanism that protect[s]
(sic!) the body from harm. After vomiting there is relief and expection of feeling better.”
(Vomito Attack 2005)
Die meisten Arbeiten von Vomito Attack zeigen Kritik am Kapitalismus und der flächendeckenden Werbung in der Stadt, sowie an der fragwürdigen Unabhängigkeit und Objektivität
der Medien. Aber auch die politische Situation im In- und Ausland bleibt nicht verschont. Bei
seinen Stencils handelt es sich meist um relativ einfache Motive oder Sätze, die manchmal
sehr geradlinig prägnante Botschaften vermitteln, den RezipientInnen manchmal aber auch
einiges an Interpretationsarbeit aufbürden (vgl. Vomito Attack o. J.).
Eines seiner Stencils z. B. zeigt einen Strichcode, wie er auf allen
käuflichen Waren in Supermärkten und anderen Geschäften zu
finden ist. Dahinter kommen zwei Hände hervor, die sich an zweien
der Linien festhalten. Das Motiv erinnert so an die Gitterstäbe eines
Gefängnisses (vgl. Vomito Attack o. J.). Dass dem Bild eine
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generelle Kritik an der Warenform der Dinge innewohnt, scheint nahe liegend. Wie weit sich
die Botschaft aber fortspinnen lässt, bleibt dem Rezipienten/der Rezipientin überlassen.
Thematisiert es die Unterwürfigkeit des Menschen als Konsument? Wird der Mensch zu
einem Gefangenen seines eigens errichteten kapitalistischen Systems? Verschwindet das
Individuum hinter einem variablen Wert, der auch ihm selbst einzig und allein durch seine
Arbeitskraft angehaftet bzw. abgesprochen wird?
Wie die meisten Stencils (darunter alle, die im Rahmen dieser Arbeit genannt werden) sind
auch jene von Vomito Attack nicht mit weiteren Erklärungen versehen und lassen Raum für
fremde Deutung.
Auch das Stencil „Thi$ Is Art“ (vgl. MacPhee 2007: 88) scheint das „zur-Ware-werden“ von
allem mehr oder weniger gut Vermarktbaren – in diesem Fall Kunst – zu kritisieren: Denn
auch Kunst, die durch ihre (scheinbare) Unabhängigkeit in der Lage sein sollte, system- und
gesellschaftskritische Inhalte zu kommunizieren, ist – will sie über institutionelle Anerkennung ein größeres Publikum erreichen – kommerziellen Zwängen unterlegen. Der Kunstmarkt, auf den sich KünstlerInnen zu solchem Behufe begeben, ist ein asymmetrischer, von
Konkurrenz geprägter Raum, in dem mächtigere „TeilnehmerInnen“ (nach Camnitzer das
„Zentrum“) versuchen, schwächere PartizipantInnen (nach Camnitzer die „Peripherie“) zu
beherrschen. Dies lässt sich auf der internationalen, aber auch auf der nationalen Ebene
beobachten (vgl. Camnitzer 1995).
Der Schablonen-Schriftzug „Y si hacemos que todos usen Colgate?“ (wörtlich: „Und wenn
wir machen, dass alle Colgate verwenden?“) (vgl. Vomito Attack o. J.) ist wohl als eine
Anspielung auf die ständige Manipulation der flächendeckenden Werbung zu sehen, die
PassantInnen ungefragt erdulden müssen, wollen sie sich im „öffentlichen“ Stadtgebiet
aufhalten. Sieht man die Straße als Teil eines öffentlichen Raumes (neben Zeitungen, Internet,
etc), so wird zugleich die Logik sichtbar, die hinter dem Konzept steckt: dem Wort
„öffentlich“ sind laut Duden Synonyme wie „allen zugänglich“ und „für alle bestimmt“ (vgl.
Geilert 2009: 3) zugewiesen. Dennoch werden die meisten „öffentlichen“ und somit für alle
BürgerInnen bestimmten Räume im, auf Konsum ausgerichteten Systemen, in beinahe
präpotenter Art und Weise von wenigen gestaltet und vereinnahmt (vgl. Hellmann 2004: 7).
Auf diese Tatsache und auf die so gegebene Möglichkeit zur verstärkten Manipulation, wird
durch subversive Affirmation aufmerksam gemacht.
Ein Stencilbeispiel das auf die nationale Situation anspielt, wurde kurz vor Weihnachten 2005
(zum vierten Jubiläum der Krise von 2001) an die Wände gesprüht: Vomito Attack wünschte
den Menschen in Buenos Aires an Stelle von „Feliz Navidad“ (Frohe Weihnachten) „Feliz
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Crisis“ (Frohe Krise) (vgl. MacPhee 2007: 88). Ein Stencil das wohl dafür sorgte, dem
Rezipienten/der Rezipientin die Vorkommnisse der Krise wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Die Stencils scheinen also durchaus kritische Auseinandersetzungen mit verschiedenen
Themen darzustellen. Vergleicht man die simplen Grafiken nun aber mit einem Monet, drängt
sich natürlich die Frage auf, ob das, was da so rapid an die Wand gesprüht wurde, denn
überhaupt als Kunst bezeichnet werden kann/darf, oder ob es sich doch bloß um einen Akt der
mutwilligen Beschädigung fremden Eigentums handelt.
Es scheint generell eine starke Zurückhaltung darin zu geben, die unter dem Begriff „Street
Art“ lose zusammengefassten Arbeiten in den Straßen als „tatsächliche“ Kunst zu bewerten.
Denn selten handelt es sich dabei um Kunst im klassischen Sinne, für die Aspekte wie
„Ästhetik“ als zentrale Eigenschaften gelten (vgl. Reinecke 2007: 15) (zumal es sich bei
Stencils ja sogar oft nur um einzelne Sätze handelt).
Was macht ein Werk also zu einem Kunst-Werk? An theoretischen Ansätzen dazu besteht
kein Mangel. Eine gängige Meinung ist wohl, dass ein vom Menschen geschaffenes Werk um
als Kunst zu gelten, von einem der Kunstwelt Angehörigen (Institutionen, GaleriebesitzerInnen, KünstlerInnen,…) als solche definiert oder auch lediglich als solche behandelt werden
muss. Hängt ein Bild in einer Galerie, gilt es demzufolge als Kunst. Diesen Anspruch können
und wollen viele StencilistInnen wohl oft nicht erfüllen. Denn er drängt in eine Abhängigkeit
vom Urteil einer kleinen Elite und schränkt so den Spielraum der KünstlerInnen ein. Die
hierarchische Beschaffenheit dieses Kunstsystems schließt ein Mitspracherecht der breiten
Masse aus (vgl. Warburton 1999: 157).
Einen demokratischeren Ansatz vertraten dagegen Theoretiker des idealistischen Ansatzes,
unter ihnen R. G. Collingwood (1889-1943). Sie banden den Kunststatus eines Objekts nicht
an das Wohlgefallen einer kleinen Gruppe, sondern an die Fähigkeit des Künstlers/der
Künstlerin, eigene Ideen oder Emotionen durch ein künstlerisches Medium auszudrücken.
Das so entstandene Objekt ist zwar der Ausdruck der inneren Idee oder Emotion, doch der
zentrale Punkt des Werkes, das Kunstwerk, ist die innere Auseinandersetzung, die Idee selbst
(vgl. Warburton 1999: 155).
Essentiell daran ist die Unterscheidung zwischen „art“ und „craft“, also Kunst und Handwerk.
Zwar können sich beide gleicher Medien bedienen (z. B. Schrift, Holz, Farbe,…), Kunst zielt
aber im Gegensatz zum Handwerk nicht primär darauf ab, ein Objekt für einen bestimmten
Nutzen zu erschaffen. Der Akt des Handwerks beginnt mit einem bereits existierenden Plan
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und wird einzig und allein durchgeführt, um ein Objekt zu erzeugen, das im Anschluss eine
gewisse Funktion erfüllen kann. Die Herstellung eines Tisches ist z. B. als Handwerk zu
bezeichnen. Natürlich schließen sich die beiden Bereiche nicht völlig aus. Auch Kunst kann
„craft“-Elemente in sich tragen, KünstlerInnen müssen gewisse handwerkliche Fähigkeiten
besitzen, um ihren Emotionen eine physische Form verleihen zu können. Planung ist in
diesem Prozess nicht ausgeschlossen (vgl. Warburton 2003: 43f). Das geschaffene Objekt
aber dient primär dem emotionalen Ausdruck des Künstlers/der Künstlerin und keinem
vorbestimmten allgemeinen (Nutzungs-) Zweck.
Das Schaffen von Stencils ist, wie die Ölmalerei, das Arbeiten mit Holz oder anderen
Materialien, lediglich eine Technik und die durch ihre Hilfe entstandenen Werke können nach
der idealistischen Theorie nicht von vornherein als Kunst bezeichnet werden, ihnen kann aber
auch nicht grundsätzlich der Kunststatus abgesprochen werden. Die Beurteilung hängt vom
jeweiligen Beispiel ab. Obwohl die beiden Bereiche ja ineinander spielen, kann man
erkennen, dass die Verwendung der Stencil-Technik in Buenos Aires in vielen Fällen als
einfaches Handwerk (z. B. für Konzertankündigungen, Parteiwerbung, Produktwerbung)
genutzt wird, es lassen sich aber (gerade bei den verschiedenen Stencil-Kollektiven) auch
etliche Kunstwerke entdecken (vgl. Pagina 12 2007). Die exemplarisch angeführten Beispiele
Vomito Attacks bestätigen dies. Sie sind als Ausdruck von Ideen oder Emotionen zu sehen, die
die Gruppe mit Hilfe von künstlerischen Mitteln (Grafik oder Wort) nach außen kehrt. Das
bestätigt das Kollektiv auch selbst: „Making stencils is my way to express my…interior
things“ (Santiago zitiert nach MacPhee 2007: 82), meint Santiago von Vomito Attack.
Bleibt jedoch die Frage nach dem politischen Potential der Stencils, bzw. die Frage nach ihren
Möglichkeiten politische Inhalte zu kommunizieren und Auseinandersetzungen anzuregen.
Dass durchaus kritische Inhalte transportiert werden, wurde bereits verdeutlicht. Der von
Holger Kube Ventura geprägte Begriff „Kunst mit politics“ ist passend. Darunter zu verstehen
sind künstlerische Arbeiten oder Aktionen, deren politische Ebene darin liegt, dass sie sich
gegen die politische Macht (politische Praktiken, die der Staat/die Regierung zu verantworten
hat), gegen gesellschaftliche Mächte (z. B. Konzerne aus den Bereichen Wirtschaft und
Wissenschaft), symbolische Mächte (Ideologien, Verhaltensnormen, etc) oder die Macht des
Kunstsystems richten. Das kann z. B. durch ein „Aufzeigen“ geschehen, also ein Anklagen
oder Richtigstellen verschiedener Verhältnisse oder Situationen (vgl. Ventura 2002: 25f).
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Stencil-KünstlerInnen (so auch Vomito Attack) arbeiten in der Regel illegal und suchen im
Normalfall keine Genehmigungen von HausbesitzerInnen oder zuständigen Institutionen (vgl.
Geilert 2009: 4). Sie autorisieren sich selbst, ihre Arbeiten in der Stadt zu platzieren (vgl.
Reinecke 2007: 10) und gewinnen so als nicht eingeladene Gäste am Parkett der PublicSpace-Designer an bedeutendem Spielraum. Durch das Umgehen von jedweden Kontrollinstanzen, sind sie in der Lage, delikatere Themen zu behandeln und auch die von Ventura
angeführten Positionen einzunehmen (vgl. Philipps 2008: 1). Dieses „Draußensein“, außerhalb eines institutionellen Rahmens, nennt auch Ventura selbst als einen weiteren wichtigen
Punkt von „Kunst mit politics“ (vgl. Ventura 2002: 26).
Die genannten Beispiele decken beinahe alle von Ventura genannten Optionen ab: Während
das Stencil „Feliz Crisis“ die nationale Politik anspricht, stehen das Motiv des Strichcodes
und das Stencil „Y si hacemos que todos usen Colgate“ für die Kritik an gesellschaftlichen
Mächten. „Thi$ is Art“ bezieht sich auf den Geldwert von Kunst, womit Vomito Attack also
die Macht des Kunstsystems kritisiert.
Das Positionieren der Stencils in den Straßen bringt Vomito Attack und anderen
StencilistInnen aber noch weitere Gewinne hinsichtlich des politischen Potentials ein. Der
scheinbar öffentliche Raum „Straße“ ist in Wirklichkeit ein durchorganisierter, funktionalistischer Raum, der der breiten Masse zwar die Rolle der KonsumentInnen, nicht aber die der
aktiven MitgestalterInnen, zuweist. StencilistInnen wirken durch ihre Werke aber aktiv in der
Gestaltung dieser Räume mit (Reclaim the Streets) und eignen sich so Teile des scheinbar
öffentlichen Raumes wieder an. Sie stehen somit der Reservierung dieses Postens ausschließlich für dominante Mächte (seien es – um wieder auf Ventura zurückzukommen – politische,
gesellschaftliche, oder ideologische) entgegen (vgl. Jakob 2008: 74, 88ff).
Indem sich die Stencils den Besitzansprüchen und Archivierungszwängen „institutioneller“
Kunst entziehen, können sie öffentliche Räume erweitern und selbst zum Ort öffentlicher
Kommunikation und Auseinandersetzung werden. Denn der Stencilist/die Stencilistin eignet
sich durch sein/ihr Stencil zwar einen Teil eines öffentlichen Raumes an, gibt aber sein/ihr
Werk gleichzeitig als Impuls an diesen Raum frei, und stellt es zur weiteren Aneignung durch
Interpretation und Neuverwendungen bzw. -verwertungen (z. B. durch künstlerische
Weitergestaltung, Übermalung, etc.) zur Verfügung. Die oft kritisierte kurze Lebensdauer der
Werke (z. B. durch Übermalung), stellt gleichzeitig eine große Chance dar: denn durch die
Vergänglichkeit der Werke läuft der eröffnete Raum nicht Gefahr zur bloßen Archivierungsstätte von Gedanken zu werden, sondern gibt durch seine Aktualität Möglichkeit zur
ständigen Weiterentwicklung (vgl. Jakob 2008: 89f). Vomito Attack scheint diese Qualität
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ebenfalls zu schätzen: Ein eigener Menüpunkt seiner Internetseite ist seinen durch andere
veränderten, übermalten oder überklebten Stencils gewidmet (vgl. Vomito Attack o. J.).
Stencils werden somit in gewisser Weise zum „Allgemeingut“ urbaner Öffentlichkeiten und
haben daher auch keinen Anspruch auf die Bestimmung und Einschränkung ihres Publikums.
In dieser demokratischen Beschaffenheit lässt sich ebenfalls politisches Potential entdecken.
Oft wird das politische Potential der Stencils durch das Argument geschmälert, dass die
Motive durch ihre beschränkte Größe nur eine geringe Reichweite besitzen und zwischen den
überdimensionalen Werbeplakaten, die die Stadt überfluten, leicht untergehen (vgl. Philipps
2007: 4f). Darin steckt auf der anderen Seite aber auch der besondere Reiz der Stencils in
Buenos Aires. Denn StencilistInnen stellen sich so nicht auf die gleiche Stufe mit Konzernen,
deren Werbekonzept primär auf die Manipulation der KonsumentInnen abzielt (vgl. Hellmann
2004: 8). Die vergleichsweise kleinen Stencils beanspruchen nicht die gesamte Stadtoberfläche für sich, sondern sind „nur“ Teil dieser Fläche und stehen zur Entdeckung und Verwendung frei (vgl. Philipps 2007: 5 und Pagina 12 2007). So stehen sie dem Ideal einer
möglichst flächendeckenden Werbekampagne entgegen.
Dennoch sind sie durch ihre spezielle Technik nicht an einen bestimmten Raum gebunden.
Die Schablone als Form der technischen Reproduktion ermöglicht die Vervielfältigung eines
Motivs. Die Bedeutung der „Echtheit“ des Werkes (also der Status eines Werkes als Original
im Gegensatz zur „Kopie“) tritt zurück, wodurch das Werk selbst und nicht nur dessen
Echtheits-Status in den Mittelpunkt gerückt werden kann. Walter Benjamin spricht von einer
Emanzipierung des Werkes von seinem Ritualdasein (auch als „Schönheitskult“ zu verstehen,
der lange Zeit elementar für die Bedeutung von Kunstwerken war) und macht so neu
gewonnene Wirkungsmöglichkeiten eines Kunstwerks sichtbar (vgl. Benjamin 2008: 24):
„But as soon as the criterion of authenticity ceases to be applied to artistic production, the
whole social function of art is revolutionized. Instead of being founded on ritual, it is based on
a different practice: politics.” (Benjamin 2008: 25).
Technische „Errungenschaften“ wie das Internet sind ein bedeutender Faktor, der dazu
beiträgt, die Grenzen der Reproduktion noch weiter auszudehnen. Die unzähligen Stencil- und
Graffiti-Internetforen machen die Bilder überall dort, wo diese Technik vorhanden ist, sichtbar. Und es ist denkbar einfach, ein Stencil aus Buenos Aires hier in Österreich auszudrucken,
nachzuschneiden und zu sprayen. Das vom argentinischen Stencil-Kollektiv Bs As Stencil
entworfene Motiv von Gorge W. Bush mit Mickey Mouse Ohren und dem Untertitel „Disney
War“ (vgl. MacPhee 2007: 84) macht dies deutlich. Denn dieses in Buenos Aires entworfene
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Stencil ging um die Welt und ist sogar an österreichischen Hauswänden zu finden (vgl. Falter
2008).
Kurze Zeit nach dem vermehrten Auftreten kritischer Stencils und dem wachsenden Medieninteresse an ihnen, fanden aber auch kritisch zu betrachtende Entwicklungen statt: So wurden
und werden nun auch StencilistInnen eingeladen, Ausstellungen in Galerien oder Museen zu
gestalten (vgl. MacPhee 2007: 92 und Pagina 12 2007). 2004 fanden z. B. solche Ausstellungen in der Universität Buenos Aires statt oder im „Centro Cultural Recoleta“ (einige
Arbeiten sind dort sogar Teil der permanenten Ausstellung), einem Kulturzentrum das dem
Kulturministerium der Stadt Buenos Aires untersteht. Mache Ausstellungen, an denen
StencilistInnen teilnahmen, waren vor allem an wohlhabende Bevölkerungsschichten gerichtet
(vgl. Pagina 12 2007). Diese Entwicklungen stehen in vielen Hinsichten im Gegensatz zur
Stencil-Philosophie. Holger Kube Ventura grenzt vom Bereich „Kunst mit politics“ den
Bereich „Politik via Kunst“ ab, ein Bereich, in dem Kunst oft zur Repräsentation der Macht
eines/einer (meist mächtigen) Akteurs/Akteurin (z. B. dem Staat) genutzt wird, in dem aber
auch fremde Werke für eigene Zwecke instrumentalisiert werden können. Es kann aber auch
eine gezielte Integration von kritischen Kunstprojekten geschehen, die ihrer Entschärfung
dienen soll (vgl. Ventura 2002: 25). Das Hereinholen der Stencils in den institutionellen,
geregelten Rahmen hat ähnliche Auswirkungen: Eine kritische, weitgehend unkontrollierbare
Bewegung wird durch die Aneignung durch den Staat oder die Mainstream-Kultur so
„offiziell“ und kontrollierbar gemacht, das Stencil wird vom öffentlichen Kommunikationsraum zum „offiziellen“ Konsumgut. Viele StencilistInnen in Buenos Aires sind deshalb gegen
die Teilnahme an solchen Ausstellungen und kritisieren jene, die sich so selbst „verkaufen“
(vgl. Pagina 12 2007). Zu erwähnen bleibt aber, dass es auch Kollektive und KünstlerInnen
gibt, die an besagten Veranstaltungen zwar teilnehmen, aber versuchen, die Problematik
solcher Ausstellungen genau dort anzusprechen. Das Kollektiv Bs As Stencil z. B. kreierte für
eine Kunstausstellung ein Stencil, das genau diesen auf Konsum ausgerichteten Kunstmarkt
kritisierte: Es handelte sich um eine Serie von Stencils, die Einkaufswägen zeigten, die mit
kleinen Stencil-Motiven gefüllt waren (vgl. MacPhee 2007: 92).
Eine besonders heikle Form der Aneignung der Stencil-Technik geschieht aber auch durch
jene, die indirekt wohl der größten Kritik durch StencilistInnen wie Vomito Attack ausgesetzt
sind: durch Konzerne. So verteilte z. B. Heineken Schablonen seines Logos (vgl. Pagina 12
2007). Diese Nutzung der Technik für kommerzielle Zwecke stellt eine billige Werbung für
den Konzern dar, kratzt aber auch stark an der Glaubwürdigkeit der kritischen Kraft der
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Stencils. Der teilweisen Aneignung des öffentlichen Raumes der BürgerInnen durch das
Erschaffen von Nischen zur Mitbestimmung folgt der Versuch der Rückaneignung dieser
Nischen durch Teile der profitausgerichteten Wirtschaft (vgl. Jakob 2008: 94f). Dennoch kann
die „Gegnerin“ (die offene Kritik der Stencils) wohl kaum nachhaltig mit ihren eigenen
Mitteln geschlagen werden. Denn begibt sich der Konzern auf dieses offene Terrain ist er
gleichsam dessen Gesetzten ausgeliefert und steht, so wie die Stencils Vomito Attacks und
anderer KünstlerInnen einer kritischen Interpretation oder einer Neuaneignung durch andere
frei.
Stencils in Buenos Aires besitzen also durchaus kritisches Potential. Sie greifen politische
Themen auf, und können so zur Sensibilisierung von Öffentlichkeiten beitragen (vgl. Philipps
2008: 3f). Das Herstellen eines Stencils ist eine billige Angelegenheit. Es handelt sich also um
ein Kommunikationsmedium, das auch Personen mit geringen finanziellen Ressourcen nützen
können (vgl. Pagina 12 2007). StencilistInnen gestalten durch ihre Arbeit aktiv öffentliche
Räume mit und geben Inputs, die politische Auseinandersetzungen in öffentlichen Räumen
anregen können. Da die StencilistInnen keine Besitzansprüche an ihre Werke stellen, sondern
sie an die Straße „freigeben“, bestimmen sie auch nicht über RezipientInnen und Rezeption,
was die „Offenheit“ von Öffentlichkeit unterstützt (vgl. Jakob 2008: 89f). Da eine Selektion
des Publikums so nur sehr eingeschränkt stattfindet, schützen sich die GestalterInnen nicht
vor verschärften Angriffen jener Mächte, die sie kritisieren. Der Raum, den die Stencils
eröffnen, bleibt umkämpft. Gerade darin aber liegt das demokratische Potential der Stencils
(vgl. Pagina 12 2007 und Jakob 2008: 94f). Ob das kritische Potential der Bewegung durch
neue Prozesse der institutionellen (Schein?-)Akzeptanz entschärft werden kann, oder ob
StencilistInnen neue Wege finden, mit diesen Entwicklungen umzugehen, bleibt abzuwarten.
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