Evaluationsbericht - Hessische Europaschulen
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Evaluationsbericht - Hessische Europaschulen
Evaluationsbericht der Blücherschule-EuropaschuleGanztagsgrundschule zum Projekt: Das Literarische Unterrichtsgespräch in der Grundschule Zeitraum: 15.04.2013 – 17.05.2013 Jahrgang: 3. und 4. Schuljahr Ziele: Literarisches Lernen in der Grundschule durch den Einsatz des Literarischen Unterrichtsgespräches ermöglicht die Förderung von Textverständnis, Sprachentwicklung und Gesprächskompetenz der Schüler im Deutschunterricht Verantwortliche Lehrkräfte: Schulleiter: _______________________________ _______________________________ Caterina Dehn Matthias Krebs _______________________________ Roland Herrmann Inhaltsverzeichnis Seite 1. Kurzfassung Projektbericht Evaluation 3 2. Einleitung 3. Rahmenbedingungen und Hintergrundinformationen 4. Vorstellung des Projekts 5. Auswahl und Vorstellung der Schülerinnen und Schüler 6. Ziele 7. Erfolgskriterien und Indikatoren 8. Evaluationsmethoden und Datenerhebung 9. Auswertung und Darstellung der Ergebnisse 10. Interpretation der Daten 11. Konsequenzen 12. Literaturverzeichnis 13. Anhang 6 7 9 12 18 18 19 19 24 24 26 27 1. Kurzfassung Projektbericht Evaluation Schule: Blücherschule – Europaschule Schulform: Ganztagsgrundschule, Wiesbaden Jahrgang: 3. und 4. Schuljahr Schuljahr: 2012 - 2013 Vorhaben/ Bezug zum Europäischen Curriculum: Lehren und Lernen / Sprachliche Bildung Titel des Vorhabens: Das Literarische Unterrichtsgespräch in der Grundschule Thema des Projektes: Literarisches Lernen durch den Einsatz des Literarischen Unterrichtsgespräches Projektzeitraum: 15.04.2013 – 17.05.2013 Ziele: Der Einsatz des Literarischen Unterrichtsgespräches soll das Textverständnis, die Sprachentwicklung und Gesprächskompetenz der Schüler im Deutschunterricht fördern. Rechtfertigung der Ziele: Die Blücherschule verfolgt in ihrem Schulprogramm das Ziel der sprachlichen Europaschulen Bildung. trägt „Der zu Sprachunterricht einer grundlegenden an Hessischen Persönlichkeits- entwicklung und einer umfassenden Entfaltung von Bildung bei.“1 Die Auseinandersetzung mit fremden, aber auch der eigenen Sprache und Kultur erweitert das Weltwissen der Schülerinnen und Schüler. Das Denken und Handeln werden bereichert, Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung gefördert.2 1 2 Schulprogramm S. 29 vgl. Schulprogramm S. 29 3 Geplante S-Aktivitäten: Im Rahmen eines gemeinsamen Unterrichtsgesprächs wird auf die Anbahnung literarischen Verstehens und Erfahrens verschiedener literarischen Texte abgezielt. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit anspruchsvollen literarischen Texten auseinander, die für sie zunächst geheimnisvoll und kompliziert wirken. Als Textforscher machen sich die Schülerinnen und Schüler gemeinsam auf die Suche nach interessanten Textstellen, die rätselhaft oder seltsam wirken. Im gemeinsamen Gespräch können die Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken und Ideen äußern. Evaluationsbehauptung: Das Literarische Unterrichtsgespräch fördert das Textverständnis, die Sprachentwicklung sowie die Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht. Evaluationskriterien: Die Schüler literarischen und Text Schülerinnen verstehen, können einen anspruchsvollen indem sie den Text wiederholt aufmerksam lesen und Fremdes durch gemeinsame Überlegungen, genaues Nachfragen, oder Nachschlagen erschließen. Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihre Gesprächskompetenz, indem sie sich im Rahmen des Literarischen Unterrichtsgesprächs ihren Mitschülerinnen und Mitschülern mitteilen sowie die Gesprächsregeln in besonderem Maße einhalten können. Indikatoren: Die Schülerinnen und Schüler zeigen sich interessiert am Verstehen fremder, anspruchsvoller, literarischer Texte. Sie zeigen sich mutig, kreativ und selbstbewusst, unterstützen sich gegenseitig und beraten sich untereinander. Datenerhebung: Die Unterrichtsgespräche transkribiert und unterrichtenden und wurden ausgewertet. auf Tonspur aufgenommen, Prozessbeobachtungen beobachtenden Lehrkräfte während der der Projekttage sowie im fortlaufenden Unterricht. 4 Ergebnisse: Durch den Einsatz des Literarischen Unterrichtsgesprächs wurden das Textverständnis, die Sprachentwicklung sowie die Gesprächs- kompetenz der Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße weiterentwickelt. Die Schülerinnen und Schüler zeigten großes Interesse, sich weiterhin mit anspruchsvollen literarischen Texten auseinanderzusetzen. Im Bereich Textverständnis konnte ein hohes Maß an Offenheit, Mut und Ausdauer bei der Bearbeitung fremder Texte im Deutschunterricht festgestellt werden. Auch die Sprachfähigkeit wurde erfolgreich gefördert, denn die Schülerinnen und Schüler zeigten Sensibilität gegenüber sprachlicher Phänomene und Interesse und Ausdauer, diese genau zu erforschen. Eine Erweiterung der Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler konnte in den meisten Unterrichtsfächern beobachtet werden. 5 2. Einleitung „In Sprache finden die Erscheinungen und Dinge unserer Umwelt, ihre Beziehungen untereinander und das Verhältnis, das die Menschen zu ihnen entwickelt haben, ihren Ausdruck. Erst durch Sprache ist die Aufnahme von und sie Auseinandersetzung mit Begriffen und Wertungen, Gedanken und Gefühlen möglich. Sprache dient der Welterkenntnis und -deutung und damit der Entfaltung der Persönlichkeit.“3 Sprache hilft Kindern ihre Umwelt zu deuten und zu gestalten, sie hilft eigene Gedanken zu ordnen und fremde Gedanken aufzunehmen, Erlebnisse und Eindrücke zu verarbeiten und Gefühle zu erfassen. Kinder erfahren aber auch Grenzen der Sprache, dass Sprache hinter der Wirklichkeit und dem subjektiven Erleben und Mitteilen zurückbleibt, denn Sprache ist auch symbolisch und metaphorisch insbesondere in Dichtung und Religion. 4 Der Umgang mit Sprache spielt somit an der Blücherschule-Europaschule in jeder Jahrgangsstufe eine große Rolle und nimmt einen festen Raum im schulischen Alltag ein. Mündliches Sprachhandeln wird in Form von Mitteilungen untereinander ständig gefordert und gefördert. Die Schülerinnen und Schüler können erzählen, fragen, bitten, argumentieren, sich beschweren, überreden, provozieren, schwindeln, schmeicheln, trösten und vieles mehr. Um eine Verständigung untereinander zu ermöglichen müssen grundlegende Gesprächskompetenzen entwickelt werden. Durch das Modell der Themenzentrierten Interaktion (TZI) lassen sich Gesprächsprozesse initiieren, die beteiligte Subjekte (Schüler, Lehrer), die Interaktion (die Klasse) und die Sache in einer dynamischen Balance halten. Im folgenden Projekt des Literarischen Unterrichtsgespräches, bedienen wir uns dem TZI. Ein Gespräch nach diesem Konzept ermöglicht ein besonders hohes Maß an Authentizität. Es ermöglicht allen Beteiligten eine große Entscheidungsfreiheit und für den Lehrer Leitung und gleichgestellter Gesprächsteilnehmer in einem.5 Die Schüler lernen eine neue Gesprächsmethode kennen und entwickeln ihre Gesprächskompetenz weiter. Sie erleben das TZI-Modell als Gesprächsform für einen angemessenen Umgang mit Literatur, das Lernprozesse in sprachliche und literarische Bereiche anstößt. Das gemeinsame Gespräch über literarische Texte ermöglicht ein Wechselspiel 3 Hessisches Kultusministerium (1995), S. 13. 4 Vgl. Hessisches Kultusministerium (1995), S. 13 f. 5 vgl. Matzdorf; Cohn in: Steinbrenner, Marcus u.a.; S. 229 6 zwischen genauer Textwahrnehmung (intensive Sprachreflexion durch mehrfaches (Vor-) Lesen) des Textes und eher assoziativen persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer. Die Schüler formulieren ihre Leseerfahrungen und Verstehensansätze in ihrer Sprache und nähern sich tastend und versuchend. Das literarische Verstehen setzt also am subjektiven Sprachgebrauch der Lernenden an. Der schriftliche Text wieder wiederholend gelesen und vorgelesen und um die eigenen Verstehensansätze angemessen in Worte zu fassen, nehmen die Schüler Textwendungen oder Sprachbilder auf und umschreiben sie. Der literarische Text bereichert so den eigenen Sprachgebrauch und führt zunehmend zum literarischen Sprechen in dessen Sprache.6 Die Schüler müssen sich über verschiedene Lesarten verständigen und andere Verstehensansätze tolerieren. Sie erfahren die Bedeutungsvielfalt literarischer Texte, müssen auch Ambivalenzen ertragen und mit Missverständnissen umgehen. 3. Rahmenbedingungen und Hintergrundinformationen Die Blücherschule-Europaschule und Ganztagsschule befindet sich im äußeren Wiesbadener Westend. So multikulturell und vielfältig wie das Einzugsgebiet zeigen sich auch die Schülerschaft und der Schulalltag. Derzeit besuchen 437 Schülerinnen und Schüler aus 34 Nationen die Blücherschule-Europaschule, womit der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund ca. 60% beträgt. Wie bereits in der Einleitung beschrieben, stammt ein großer Anteil der Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Familien. In vielen Elternhäusern wird nur mangelhaftes Deutsch gesprochen. Somit ist das Schulleben durch die heterogene Zusammensetzung der Schülerschaft in häuslicher, finanzieller sowie sozialer Situation vor besondere Herausforderungen in Bildung und Erziehung gestellt. Im sozialen Bereich besteht für die Schülerinnen und Schüler zusätzlich die Möglichkeit von dem Förderverein und verschiedenen anderen Sponsoren Unterstützung zu erhalten. Im Schuljahr 2011/2012 sind die Jahrgänge eins bis vier fünfzügig. Auch gibt es eine Vorklasse. So besteht das Kollegium derzeit aus 37 Lehrerinnen und Lehrern, einschließlich der Kolleginnen und Kollegen für den Herkunftssprachlichen Unterricht. 6 Steinbrenner, Marcus u.a.; S.231 7 Seit Beginn des Schuljahres Ganztagsschulprogramm des 2010/2011 ist die Blücherschule in das Landes Hessen aufgenommen. Insgesamt wird den Schülerinnen und Schülern eine Betreuungszeit von 7:30 Uhr bis 16.30 Uhr geboten, die angepasst an die individuellen Bedürfnisse in 5 verschiedenen Modulen in Anspruch genommen werden kann. Die Module unterscheiden sich je im Umfang der Betreuungszeit. Im Rahmen der Nachmittagsbetreuung stehen den Schülerinnen und Schülern ein warmes Mittagessen und 38 unterschiedliche, wählbare Arbeitsgemeinschaften zur Verfügung. Gerade der Ausbau des Betreuungsangebots ist ein Beitrag zur Chancengleichheit, da sich das gemeinsame Leben und Lernen nicht nur im Rahmen des Schulvormittags abspielt, sondern gerade am Nachmittag die Möglichkeit besteht, besonders benachteiligten Kindern Zuwendung geben zu können. Verankerung im Schulprogramm Grundlage des Schulprogrammes der Blücherschule ist das Curriculum der Hessischen Europaschulen. Diesbezüglich sind die Qualitätsbereiche fester Bestandteil des Schulprogrammes der Blücherschule. Die Blücherschule verfolgt in ihrem Schulprogramm das Leitbild des Umgangs mit Vielfalt aller Art. Hierzu zählt unter anderem der Umgang mit verschiedenen Interessen und unterschiedlichen Leistungen sowie Begabungen. Um der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, bietet die Blücherschule auch im regulären Unterricht unterschiedliche Projekte an. Diese Umsetzung ermöglicht somit auch die Förderung der Schülerinnen und Schüler nach deren eigenen Interessen und Fähigkeiten. Des Weiteren setzt die Blücherschule in ihrem Schulprogramm im Bereich Lehren und Lernen Schwerpunkte auf der Ebene der Methodenkompetenz. Im Hinblick auf das Methodencurriculum stehen im Rahmen der Förderung das soziale und selbständige Lernen der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Die Bildungsbereiche im Schulprogramm der Blücherschule differenzieren sich gemäß dem Europäischen Curriculum in vier Strukturelemente. Diese Strukturelemente bilden die zentralen Bildungsbereiche. Hierunter zu nennen sind die Kulturelle und Ästhetische Bildung, die Sprachliche Bildung, die Politische Bildung sowie die Mathematisch- Naturwissenschaftliche Bildung. Die durchgeführten Unterrichtseinheiten können der Förderung in der sprachlichen Bildung zugeordnet werden. 8 Bezug zum Europäischen Curriculum der Hessischen Europaschulen Als zertifizierte Europaschule ist in das Leitbild der Blücherschule auch das Europäische Curriculum der Hessischen Europaschulen integriert. Im Hinblick auf die Förderung von Textverständnis, Sprachentwicklung und Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler, ist vor allem die Erweiterung personaler, fachlichmethodischer und sozialkommunikativer Kompetenzen sowie die Ausbildung im Bereich der sprachlichen Bildung von zentraler Bedeutung. Einordnung in den Hessischen Referenzrahmen Schulqualität Das Projekt kann innerhalb des Referenzrahmens Schulqualität in Hessen dem Qualitätsbereich VI. Lehren und Lernen zugeordnet werden, in dessen Zentrum LehrLernprozesse, deren Wirksamkeit und Weiterentwicklung stehen. Damit Lernen für alle Schülerinnen und Schüler erfolgreich verläuft, müssen Lernvoraussetzungen, der Aufbau einer anregenden Lernkultur sowie die Sicherung von Anwendungsbezug und Anschlussfähigkeit gewährleistet werden.7 Im Rahmen des Projekts sollen die Schülerinnen und Schüler Unterrichtsinhalte mit Vorerfahrungen und weiterführenden Fragestellungen verknüpfen. (VI. 1.3 Die Schüler/innen verknüpfen die Unterrichtsinhalte mit Vorerfahrungen und weiter führenden Fragestellungen.8). 4. Vorstellung des Projekts Im Zentrum des Projektes Das Literarische Unterrichtsgespräch in der Grundschule stand die Annahme, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen mehrerer gemeinsamer Gespräche über literarische Texte wichtige Erfahrungen machen können. Sie lernen, den Text besser zu verstehen, indem sie offen ihr individuelles Verständnis zum Ausdruck bringen und mit den anderen darüber ein Gespräch führen können. Dabei wird die Kreativität des Denkens, die Sprachentwicklung und die Gesprächskompetenz gefördert. 7 Vgl. Hessisches Kultusministerium Institut für Qualitätsentwicklung (2005), S. 37. 8 Hessisches Kultusministerium Institut für Qualitätsentwicklung (2005), S. 38. 9 Das Konzept des Literarischen Unterrichtsgesprächs nach dem Heidelberger Modell basiert auf der Annahme, dass literarische Texte prinzipiell mehrdeutig sind und dass das Verstehen von Texten ein gesprächsförmiger, unabschließbarer Prozess ist. Es steht für einen Literarturunterricht, der nicht einseitig den Text oder gar bestimmte Textinterpretationen vorschreibt, die es nachzuvollziehen gilt, sondern es schafft einen Rahmen mit genügend Freiraum für das Nachdenken über Bedeutungen, ohne dass Schülerinnen und Schüler beim Suchen nach Deutungen alleine gelassen werden. In einem Literarischen Unterrichtsgespräch soll vielmehr das Potenzial des Textes im Dialog mit den Schülerinnen und Schülern und deren Fragen, Erfahrungen und Lebenswelten entfaltet werden. Das Konzept geht davon aus, dass es nicht nur eine Deutung eines Textes gibt, sondern dass jeder Text potenziell mehrdeutig ist. Die Lehrkraft ist bei Literarischen Unterrichtsgesprächen gleichzeitig Teilnehmer und Leiter. Das bedeutet, dass sie sich einerseits mit authentischen Beiträgen am Gespräch beteiligt und andererseits das Gespräch leitet. Sie führt durch den Verlauf des Gesprächs und leitet die Gruppe im offenen Gespräch durch strukturierende und elaborierende Impulse. Wichtig ist dabei eine wertschätzende Haltung der Lehrkraft sowie auch allen anderen Beteiligten, die Interesse an den Deutungen und Lesearten aller Mitschüler erkennen lässt, denn es geht ja nicht darum, eine vorher festgelegte Leseart eines Textes abzufragen, sondern über die Bedeutung von Texten und Wörtern nachzudenken und dabei eigene Gedanken und Erfahrungen mit einzubringen.9 9 Vgl. Wiprächtinger-Geppert (2011), S. 2 und (2012), S. 36 f. 10 Phasen des Literarischen Unterrichtsgesprächs Ein Literarisches Unterrichtsgespräch durchläuft folgende, verschiedene Phasen: 1. Textauswahl: Der Text sollte den Leiter selbst ansprechen und neugierig machen sowie den Bedürfnissen nach Spannung, Komik, Handlung, Information und Identifikation für Mädchen und Jungen entgegenkommen. Dem Text sollte ein gewisses sprachliches, thematisches oder strukturell-formales Fremdheits- beziehungsweise Alteritätspotenzial inhärent sein, das reizvoll und anregend zugleich ist und die gesprächsförmige Spurensuche vorantreiben kann. Der Text sollte keine Botschaft transportieren, sondern durch seine Mehrdeutigkeit, Rätselhaftigkeit und seine ungewöhnliche sprachliche Gestaltung einen Anreiz für ein Gespräch bieten. 2. Gesprächseinstieg: Wenn die Schülerinnen und Schüler im Stuhlkreis sitzen, werden die und die Regeln für das Gespräch geklärt. 3. Textbegegnung –Spurensuche: Die Lehrkraft teilt die Texte aus und liest ihn nochmals vor. Im Anschluss formuliert sie einen Impuls für die erste Runde, in der alle Schülerinnen und Schüler einen Bezug zum Text herstellen. Sie fordert die Schülerinnen und Schüler auf, eine Textstelle zu markieren, die sie besonders anspricht, die sie interessant finden oder die sie nicht verstehen. Dies führt zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit während des später folgenden offenen Gesprächs. 4. Erste Runde: Haben alle Schülerinnen und Schüler eine interessante Textstelle gefunden, präsentieren sie reihum ihre Spur. Die Lehrkraft sollte sich Notizen machen, um im offenen Gespräch auf die von den Schülerinnen und Schülern genannten Textspuren eingehen zu können. 5. Offenes Gespräch: Im offenen Gespräch können sich die Schülerinnen und Schüler nun zum Text frei äußern, indem sie ihre Vorstellungen und Gedanken einbringen. Die Lehrkraft hat dabei die wichtige Aufgabe das Gespräch mit Impulsen so zu leiten, dass eine Balance zwischen den Schülerinnen und Schülern und dem Text entsteht. Entfernen sich die Schülerinnen und Schüler zu weit von dem Text und beziehen sich längere Zeit nicht mehr auf ihn und seine Themen, muss sie einen Impuls geben und die Aufmerksamkeit wieder auf den Text lenken. Können die Schülerinnen und Schüler keine Verbindung zu sich selbst und ihren eigenen Erfahrungen herstellen, kann die Lehrkraft durch einen Impuls einen solchen Bezug schaffen. 6. Schlussrunde: Abschluss des Gesprächs. 11 5. Vorstellung der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler10 der Klassen 3b und 4b Klasse 3b Die Klasse 3b setzt sich aus 19 Schülern zusammen, 8 Mädchen und 11 Jungen. Die Lerngruppe ist sehr lebhaft, vielseitig interessiert und offenbart häufig große Kreativität. Sieben Schüler besuchen Deutsch als Zweitsprache. Ela, Melisa, Emine, Milosz, Mehmet, Ayoub und Hakan besuchen einmal pro Woche eine einstündige Förderstunde. Viele der genannten Schüler offenbaren zum Teil enorme Schwierigkeiten beim Verstehen schwieriger Satzstrukturen und neuen Texten. Es gelingt ihnen meist nur mit Hilfestellungen einfache Zusammenhänge zu erkennen. In Unterrichtsgesprächen beteiligen sie sich eher zurückhaltend und benötigen häufig Ermutigungen zur aktiven Teilnahme. Das Arbeitsverhalten der Klasse ist meist angemessen, Giulia, Milosz und Ela haben zum Teil noch Schwierigkeiten bei den Grundanforderungen und benötigen meist Hilfestellungen durch die Lehrkraft. Sie arbeiten noch recht langsam und ihre Konzentrationsspanne ist oft zu gering. Dagegen zeigen besonders Lennart, Emilia, Ayoub und Elisa eine enorme Anstrengungsbereitschaft und arbeiten weitestgehend selbstständig und konzentriert, auch über längere Zeiträume. Im Sozialverhalten zeigen sich besonders Frederik, Lucas, Florian und Melisa häufig noch zu unruhig und stören ihre Klassenkameraden. Das Sozialverhalten der Klasse hat sich aber besonders durch die gemeinsame Klassenfahrt gebessert. Teilweise zeigt die Klasse aber immer noch einen enormen Konkurrenzkampf untereinander. Durch vermehrte Gruppenarbeiten und gemeinschaftlichen Projekten (wie z.B. regelmäßig stattfindende „Wir-Miteinander-Tage“, “Europa macht Schule“ oder auch erlebnispädagogische Ansätze im Sportunterricht) hat sich das Klassenklima bereits erheblich gebessert. “Das literarische Unterrichtsgespräch“ kann nun darauf aufbauen und dazu dienen, noch mehr voneinander zu lernen und Toleranz gegenüber verschiedenen Textdeutungen und persönlichen Meinungen aufzubauen. 10 Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Namen der Schüler geändert! 12 Textverständnis und Sprachfähigkeit Teilkompetenzen bezüglich des Textverständnis und informativen Lesens 1) …kann sich selbstständig Informationen beschaffen. 2) …kann sich einen Überblick verschaffen. 3) …kann die wesentlichen Informationen herausfiltern. 4) …kann textimmanente Widersprüche entdecken. 5) …kann Widersprüche zwischen Textaussagen und eigener Erfahrung erkennen. 6) …kann die Bedeutung von Fachbegriffen entschlüsseln. 7) …kann die zusammengetragenen Informationen gewichten und in eine Daria Ayoub Jennifer Hakan Florian Milosz Fabian Emilia Elisa Frederik Lennart Lucas Kevin Giulia Melisa Nadja Mehmet Ela Emine sachangemessene Chronologie bringen. Zu 1) U O U U + O + + U + + + U O O U U O O Zu 2) O U O O U O U U U + U + O O O U U O O Zu 3) U U U U + O + + U + + + U O O U U O O Zu 4) + O O U + O + + U + + + O O O + U O O Zu 5) + O U U + O U + U + + + O O O + U O O Zu 6) U O U U + O U + U + + + O O O U U O O Zu 7) U O O O + O U + O + U + O O O U U O O + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Teilkompetenzen bezüglich der Sprachfähigkeit 1) …verfügt über einen differenzierten, treffenden, anschaulichen Wortschatz. 2) …gebraucht grammatikalisch richtige Wort- und Satzformen. 3) …kann sich inhaltlich verständlich ausdrücken. 4) …entwickelt kreative Ideen zu offenen Erzählanlässen. 5) …kann Sachverhalte und Begriffe treffend beschreiben und erklären. 6) …kann auffordern / um Hilfe bitten / Mut machen. 7) …kann über Gefühle sprechen. 13 Daria Ayoub Jennifer Hakan Florian Milosz Fabian Emilia Elisa Frederik Lennart Lucas Kevin Giulia Melisa Nadja Mehmet Ela Emine Zu 1) + U U U + U + + U + + + U U U U U O O Zu 2) + U + U + O + + U + + + U U U + + O O Zu 3) + U U U + O + + U + + + U U O U U O O Zu 4) + O O O + O U U U U U + O O O U O O Zu 5) U O U U U O U U O + U + O O O U U O O Zu 6) + O O U U O U + + U U U O O U U U O O Zu 7) + O U O + O U + U U U U O U U U U O O U + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Gesprächskompetenz Teilkompetenzen bezüglich der Gesprächsfähigkeit 1) …kann vor der ganzen Gruppe sprechen. 2) …teilt sich gerne mit. 3) …nimmt häufig an Gesprächsanlässen teil. 4) …kann anderen Kindern zuhören. 5) …lässt andere Kinder ausreden. 6) …bleibt beim Thema. 7) …kann auf Beiträge anderer Kinder eingehen. 14 Daria Ayoub Jennifer Hakan Florian Milosz Fabian Emilia Elisa Frederik Lennart Lucas Kevin Giulia Melisa Nadja Mehmet Ela Emine Zu 1) U U U U + O U + U + + + U U U U + O U Zu 2) U O + U + U + + U + + + U U + + + O U Zu 3) U O + U + U + + U + + + U U + U + U U Zu 4) + + U + U U U U + U U U U + U U U U U Zu 5) + + U + O U U U + O U O U + O U O U O Zu 6) U + O U U O U + + U U U U U U U U U U Zu 7) + U + + O + + + + + + U U O U U O O U + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Klasse 4b Selbst- und Sozialkompetenz Die Klasse 4b besteht aus insgesamt 22 Schülerinnen und Schülern (9 Mädchen und 13 Jungen). Die Schülerinnen und Schüler zeigen sich sehr lebhaft, dynamisch und auch interessiert. In der Regel beteiligen sie sich rege und gestalten das Unterrichtsgeschehen aktiv mit. Der Schüler Shahin ist erst seit Ende des letzten Schuljahres ein Mitglied der Klassengemeinschaft. Obgleich er zu den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern gehört und schnell Anschluss innerhalb der Klasse gefunden hat, hat er das ohnehin relativ problematische Klassengefüge zusätzlich dynamisiert und fällt häufig durch Zwischenrufe, freche Kommentare und als Initiator kleiner Intrigen und Lügereien auf. Adil, Bennet, Leonidas, Nicolas und Vittorio sind körperlich sehr aktiv. Sie suchen häufig den direkten Kontakt zur Lehrerin. Bennet, Nicolas und Vittorio gelingt es trotz ihrer körperlichen Unruhe, sich auf das Unterrichtsgeschehen zu konzentrieren. Adil und Leonidas können hingegen ihre Konzentration auf den Unterrichtsinhalt nur in kurzen Unterrichtsphasen aufrechterhalten. Adils Lernverhalten ist durch seine körperliche Aktivität sowie durch Schwierigkeiten in seiner Konzentrationsfähigkeit negativ beeinträchtigt. Zeitweise gelingt es ihm, sein Verhalten dem Unterrichtsgeschehen anzupassen. Dann beteiligt er sich produktiv an Unterrichtsgesprächen. Leonidas steht gerne im Mittelpunkt des Geschehens steht. In kurzen Phasen gelingt es ihm, nicht von äußeren Reizen abgelenkt zu werden und sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. 15 Viele Schülerinnen und Schüler wachsen in Haushalten mit Deutsch als Zweitsprache auf. Kinder wie Adil, Ceyda, Ewa, Leonidas, Marigona, Mehmetcan, Mina, Mirac, Mohamned und Zeinab zeigen dadurch häufiger Schwierigkeiten beim Verstehen von Satzstrukturen, vielen Begriffen und deren sprachlicher Anwendung. Auch das Schildern von Beobachtungen und Darstellen einfacher Zusammenhänge fällt ihnen oftmals schwer, wodurch besonders die Mädchen auch in Unterrichtsgesprächen eher zurückhaltender agieren. Textverständnis und Sprachfähigkeit Teilkompetenzen bezüglich des Textverständnis und informativen Lesens 8) …kann sich selbstständig Informationen beschaffen. 9) …kann sich einen Überblick verschaffen. 10) …kann die wesentlichen Informationen herausfiltern. 11) …kann textimmanente Widersprüche entdecken. 12) …kann Widersprüche zwischen Textaussagen und eigener Erfahrung erkennen. 13) …kann die Bedeutung von Fachbegriffen entschlüsseln. 14) …kann die zusammengetragenen Informationen gewichten und in eine Adil Bennet Ceyda Elisabeth Ewa Jakob Julian Leonidas Marigona Mehmetcan Melody Mina Mirac Mohamed Mounir Nicolas Nils Shahin Tabea Tom Zeinab sachangemessene Chronologie bringen. Zu 1) O + O + U + + O O U O U O O U + + + U U O Zu 2) O + U + U + + O O U O O O O + + U + + + O Zu 3) U + U + O + + O O + O O O O + + + + + + O Zu 4) O + O + O + + O O U O U O O U + U + U U O Zu 5) O + O + U + + O O U O U U O U + + + + + O Zu 6) O + U + + + + O U U O U U U + + + + + + O Zu 7) O + U + U + + O O U O U U O U + U + U U O + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht 16 Teilkompetenzen bezüglich der Sprachfähigkeit 8) …verfügt über einen differenzierten, treffenden, anschaulichen Wortschatz. 9) …gebraucht grammatikalisch richtige Wort- und Satzformen. Mehmetcan Melody Mina Mirac Mohamed Mounir Nicolas Nils Shahin Tabea Tom Zeinab …kann über Gefühle sprechen. Marigona 14) Leonidas …kann auffordern / um Hilfe bitten / Mut machen. Julian 13) Jakob …kann Sachverhalte und Begriffe treffend beschreiben und erklären. Ewa 12) Elisabeth …entwickelt kreative Ideen zu offenen Erzählanlässen. Ceyda 11) Bennet …kann sich inhaltlich verständlich ausdrücken. Adil 10) Zu 1) O + U + U + + O O U O U U O + + + + + + O Zu 2) O + O + O + + O O O U O U O U + + + + + O Zu 3) O + U + U + + O U U + + + U + + + + + + U Zu 4) + O + U + + U O O O + U O O + + U + + U U Zu 5) O + O U O + + O O U U U U O U + + + + + O Zu 6) O + O + + U + O + + O U + O + + + U + U + Zu 7) O U U + + O U O + + O O U O + + U O U O + + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Gesprächskompetenz Teilkompetenzen bezüglich der Gesprächsfähigkeit 8) …kann vor der ganzen Gruppe sprechen. 9) …teilt sich gerne mit. 10) …nimmt häufig an Gesprächsanlässen teil. 11) …kann anderen Kindern zuhören. 12) …lässt andere Kinder ausreden. 13) …bleibt beim Thema. 14) …kann auf Beiträge anderer Kinder eingehen. 17 Adil Bennet Ceyda Elisabeth Ewa Jakob Julian Leonidas Marigona Mehmetcan Melody Mina Mirac Mohamed Mounir Nicolas Nils Shahin Tabea Tom Zeinab Zu 1) U + U + + + + O U + U U U O + + + + U U U Zu 2) + + U + + + + U + + U U U O + + U + U O + Zu 3) U + O + + + + O + + U O U O + + + + U U U Zu 4) O + + + U + + O U U U U U U U U + U + + U Zu 5) O O + U U U + U U U O + + + + + + O + + U Zu 6) O U + + U + + O U U U + + U U U + U + + U Zu 7) O + + + + + + U U + U + + U + + + + + + U + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht 6. Ziele Der Einsatz des Literarischen Unterrichtsgespräches soll das Textverständnis, die Sprachentwicklung und Gesprächskompetenz der Schüler im Deutschunterricht fördern. 7. Erfolgskriterien und Indikatoren Die Schüler und Schülerinnen können einen anspruchsvollen literarischen Text verstehen, indem sie den Text wiederholt aufmerksam lesen und Fremdes durch gemeinsame Überlegungen, genaues Nachfragen, oder Nachschlagen erschließen. Die Schülerinnen und Schüler erweitern ihre Gesprächskompetenz, indem sie sich im Rahmen des Literarischen Unterrichtsgesprächs ihren Mitschülerinnen und Mitschülern 18 mitteilen sowie die Gesprächsregeln in besonderem Maße einhalten können. Die Schülerinnen und Schüler zeigen sich interessiert am Verstehen fremder, anspruchsvoller, literarischer Texte. Sie zeigen sich mutig, kreativ und selbstbewusst, unterstützen sich gegenseitig und beraten sich untereinander. 8. Evaluationsmethoden und Datenerhebung Die Unterrichtsgespräche wurden auf Tonspur aufgenommen, transkribiert und ausgewertet. Zusätzlich dienten den unterrichtenden Lehrkräften Prozessbeobachtungen während der Projekttage sowie im fortlaufenden Unterricht zur weiteren Datenerhebung. 9. Auswertung und Darstellung der Ergebnisse Durch den Einsatz des Literarischen Unterrichtsgesprächs wurde das Textverständnis, die Sprachentwicklung sowie die Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße weiterentwickelt. Textverständnis und Sprachfähigkeit Die folgenden Tabellen zeigen die Teilkompetenzen der Schülerinnen und Schüler nach der Durchführung der Literarischen Unterrichtsgespräche. Die Veränderung einzelner Teilkompetenzen wird grün dargestellt. Teilkompetenzen bezüglich des Textverständnis und informativen Lesens 1) …kann sich selbstständig Informationen beschaffen. 2) …kann sich einen Überblick verschaffen. 3) …kann die wesentlichen Informationen herausfiltern. 4) …kann textimmanente Widersprüche entdecken. 5) …kann Widersprüche zwischen Textaussagen und eigener Erfahrung erkennen. 6) …kann die Bedeutung von Fachbegriffen entschlüsseln. 7) …kann die zusammengetragenen Informationen gewichten und in eine sachangemessene Chronologie bringen. 19 Emine U U O O U O U U + + U + O O O U + O O Zu 3) + U + U + U + + U + + + U U U + + U U Zu 4) + U U U + U + + U + + + U U U + + O O Zu 5) + O U U + U + + + + + + U U O + U O O Zu 6) U O U U + O + + U + + + O U U U + O U Zu 7) U U O U + O U + O + U + O O O U U O O Zeinab Ela Zu 2) Tom Mehmet O Tabea Nadja O Shahin Melisa + Nils + Nicolas Giulia O Mounir Kevin U Mohamed Lucas U Mirac Lennart + Mina Frederik + Melody Elisa + Mehmetcan + Marigona Emilia + Leonidas Fabian + Julian Milosz O Jakob Florian + Ewa Hakan U Elisabeth U Ceyda Jennifer U Bennet Ayoub U Adil Daria Zu 1) Zu 1) O + O + U + + O O U O U O O U + + + U U O Zu 2) O + U + U + + O O + U O O O + + U + + + O Zu 3) U + U + U + + O O + O U O O + + + + + + O Zu 4) O + U + + + + O U + O + U O + + + + + + U Zu 5) U + U + + + + U U + U + + U + + + + + + U Zu 6) O + U + + + + O U U O U U U + + + + + + O Zu 7) O + U + U + + O O U O U U O U + U + U U O + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Eine Verbesserung der Teilkompetenzen ist in besonderem Maße in den Bereichen 4) …kann textimmanente Widersprüche entdecken und 5) …kann Widersprüche zwischen Textaussagen und eigener Erfahrung erkennen, festzustellen. Die Schülerinnen und Schüler zeigten großes Interesse, sich weiterhin mit anspruchsvollen literarischen Texten auseinanderzusetzen. Im Bereich Textverständnis konnte ein hohes Maß an Offenheit, Mut und Ausdauer bei der Bearbeitung fremder Texte im Deutschunterricht festgestellt werden. 20 Sprachfähigkeit Auch die Sprachfähigkeit wurde erfolgreich gefördert, denn die Schülerinnen und Schüler zeigten Sensibilität gegenüber sprachlicher Phänomene und Interesse und Ausdauer, diese genau zu erforschen. In besonderem Maße konnte eine Verbesserung in den Bereichen 4) …entwickelt kreative Ideen zu offenen Erzählanlässen, 5) …kann Sachverhalte und Begriffe treffend beschreiben und erklären und 7) …kann über Gefühle sprechen, festgestellt werden. Teilkompetenzen bezüglich der Sprachfähigkeit 1) …verfügt über einen differenzierten, treffenden, anschaulichen Wortschatz. 2) …gebraucht grammatikalisch richtige Wort- und Satzformen. 3) …kann sich inhaltlich verständlich ausdrücken. 4) …entwickelt kreative Ideen zu offenen Erzählanlässen. 5) …kann Sachverhalte und Begriffe treffend beschreiben und erklären. 6) …kann auffordern / um Hilfe bitten / Mut machen. Daria Ayoub Jennifer Hakan Florian Milosz Fabian Emilia Elisa Frederik Lennart Lucas Kevin Giulia Melisa Nadja Mehmet Ela Emine 7) …kann über Gefühle sprechen. Zu 1) + U U U + U + + U + + + U U U U + O O Zu 2) + U + U + O + + U + + + U U U + + O O Zu 3) + U U U + O + + U + + + U U O U U O O Zu 4) + U U U + U + + + + + + U U U + O U Zu 5) U O U U + O + + U + + + O U U + + O O Zu 6) + O O U U O U + + U U U O O U U U O O Zu 7) + U + + + U + + + + + + U + + + + U + + 21 Adil Bennet Ceyda Elisabeth Ewa Jakob Julian Leonidas Marigona Mehmetcan Melody Mina Mirac Mohamed Mounir Nicolas Nils Shahin Tabea Tom Zeinab Zu 1) O + U + U + + O O U O U U O + + + + + + O Zu 2) O + O + O + + O O O U O U O U + + + + + O Zu 3) O + + + + + + O U + + + + U + + + + + + U Zu 4) + U + + + + + O U U + U U O + + U + + + U Zu 5) O + O + U + + O O + U U U O + + + + + + U Zu 6) O + U + + U + O + + O U + O + + + U + U + Zu 7) U + U + + U + O + + U O + + + + + U U U + + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht Gesprächskompetenz Eine Erweiterung der Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler konnte in den meisten Unterrichtsfächern beobachtet werden. Teilkompetenzen bezüglich der Gesprächsfähigkeit 1) …kann vor der ganzen Gruppe sprechen. 2) …teilt sich gerne mit. 3) …nimmt häufig an Gesprächsanlässen teil. 4) …kann anderen Kindern zuhören. 5) …lässt andere Kinder ausreden. 6) …bleibt beim Thema. 7) …kann auf Beiträge anderer Kinder eingehen. 22 Daria Ayoub Jennifer Hakan Florian Milosz Fabian Emilia Elisa Frederik Lennart Lucas Kevin Giulia Melisa Nadja Mehmet Ela Emine Zu 1) + U + + + O + + + + + + U + + + + O U Zu 2) + U + + + U + + U + + + U + + + + U + Zu 3) U U + + + + + + + + + + U + + + + U U Zu 4) + + U + U U U + + U + U U + + + U + U Zu 5) + + U + U U U U + U U U U + + + O + U Zu 6) U + O U U O U + + U + + U U U + U U U Zu 7) + U + + O + + + + + + U + O U + U O Adil Bennet Ceyda Elisabeth Ewa Jakob Julian Leonidas Marigona Mehmetcan Melody Mina Mirac Mohamed Mounir Nicolas Nils Shahin Tabea Tom Zeinab U Zu 1) U + + + + + + O U + U U U O + + + + U U U Zu 2) + + U + + + + U + + U U + O + + + + U O + Zu 3) U + U + + + + O + + + O U U + + + + + U + Zu 4) O + + + U + + O + U U + + U + + + U + + + Zu 5) U U + + U U + + U U U + + + + + + O + + + Zu 6) U + + + U + + O + U U + + + + U + U + + U Zu 7) O + + + + + + U + + U + + + + + + + + + U + Ziel erreicht U Unsicherheiten O Ziel nicht erreicht 23 10. Interpretation der Daten Der Einsatz des Literarischen Unterrichtsgespräches offenbart, das literarische Texte in der Primarstufe Lesemotivation und Textverständnis steigern und in seinem Verlauf die Sprachfähigkeit und Gesprächskompetenz gesteigert werden kann. Vor allem die Methode der themenzentrierten Interaktion und die damit verbundene Haltung schafft eine Gesprächskultur, die nicht nur dem Deutschunterricht förderlich ist, sondern das Schulleben positiv bereichern kann. Aufgrund unserer Erfahrungen in diesem Projekt spielt die persönliche Vorbereitung mit den literarischen Texten eine bedeutende Rolle. Mit einer großen Auswahl an strukturierenden und elaborierenden Impulsen gelingen atemberaubende Literarische Gespräche über Texte, die vor dem Projekt von vielen Beteiligten als „nicht altersgerecht“ oder „viel zu schwierig“ eingestuft wurden. 11. Konsequenzen Das literarische Unterrichtsgespräch nach dem Heidelberger Modell kann eine große Bereicherung für Unterrichtsgespräche darstellen. Neben der Methodentechnik des TZI ist es vielmehr die Haltung gegenüber den Schülern, dem Gespräch und dem Text, die sich positiv auf anzustrebende Unterrichtsziele und Klassenklima auswirkt. Dabei können folgende Ratschläge helfen: Der ausgewählte “Text lohnt sich“: Die Lehrperson fühlt sich vom Text angesprochen, er ist anregend und weist eine Mehrdeutigkeit, Rätselhaftes und eine außergewöhnliche sprachliche Gestalt auf. Das Gespräch soll sich um Inhalt und Sprache drehen. Der Lehrer hat ein ernsthaftes Interesse, mit den Schülern zu dem gewählten Text ins Gespräch zu kommen. Er interessiert sich für die verschiedenen Lesarten und bringt auch eigene Verstehensansätze ein. Der Lehrer sorgt für eine wertschätzende Gesprächsatmosphäre und plant ausreichend Zeit ein. 24 Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer beruht auf Vertrauen und Respekt. Der Lehrer vertraut darauf, dass seine Schüler am Gespräch teilnehmen und das literarisches Verstehen im Gesprächsprozess angebahnt wird. Der Lehrer ermutigt schweigsame Schüler zur Teilnahme, ohne sie dabei unter Druck zu setzen.11 Das wichtigste Rüstzeug für die Lehrkraft in einem Literarischen Unterrichtsgespräch sind die strukturierenden und elaborierenden Impulse. Diese setzten eine große Vorbereitung voraus. Im Anhang findet der Leser die Gedichte, sowie eine Auswahl für Impulse und einen Deutungsrahmen. Wir bedanken uns ganz besonders bei der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg, die uns das gesamte Material zur Verfügung gestellt hat. 11 Vgl.:Steinbrenner, Marcus: Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. S. 227-241 25 12. Literaturverzeichnis Hessisches Kultusministerium (Hrsg.): Rahmenplan Grundschule. 1. Auflage, Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg, 1995 – ISBN 3-88327-336-8 Hessisches Kultusministerium Institut für Qualitätsentwicklung: Referenzrahmen Schulqualität in Hessen. Entwurf Stand: 28.November 2005 Blücherschule Wiesbaden: Schulprogramm der Blücherschule – Europaschule. Wiesbaden, 2008 Wiprächtinger-Geppert, Maja: „Mutter, Vater, ICH und SIE“ – Familiengeschichten im Literarischen Unterrichtsgespräch. In: Grundschule Deutsch (2012), H. 1, S. 35-38 Wiprächtinger-Geppert, Maja: Vom Fischereiten und Augentauchen. In: Grundschule Deutsch (2011), H. 23, S. 2-6 Steinbrenner, Marcus, Wiprächtiger-Geppert: Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch. Das Heidelberger-Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs. In: Literatur im Unterricht (2006), Jg. 7, H. 3. S. 227-241 Andresen, Ute: Im Mondlicht wächst das Gras. Gedichte für Kinder und alle im Haus. Ravensburg 2006 26 13. Anhang Hilde Domin Nur eine Rose als Stütze 1 Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft unter den Akrobaten und Vögeln: mein Bett auf dem Trapez des Gefühls wie ein Nest im Wind 5 auf der äußersten Spitze des Zweigs. Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle der sanftgescheitelten Schafe die im Mondlicht wie schimmernde Wolken 10 über die feste Erde ziehn. Ich schließe die Augen und hülle mich ein in das Vlies der verläßlichen Tiere. Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren und das Klicken des Riegels hören, 15 der die Stalltür am Abend schließt. Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt. Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein. Meine Hand greift nach einem Halt und findet 20 nur eine Rose als Stütze. 27 Textdeutungsrahmen zu „Nur eine Rose als Stütze“ (Hilde Domin) Das Gedicht „Nur eine Rose als Stütze“ ist im Jahr 1959 in einem gleichnamigen Gedichtband Hilde Domins erschienen. Aufbau: 4 Strophen, jeweils 5 Verse Strophe 1: Im ersten Vers „Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft“ wird das „Einrichten eines Zimmers“ in der „Luft“ angekündigt, eine Tätigkeit, die das gesamte Gedicht gewissermaßen durchzieht, wobei das Einrichten nicht nur auf das Stellen von Gegenständen (Bett, V. 3) und die Besorgung von Gegenständen (Decke, V. 5), sondern auch auf das Einrichten des Lebens bezogen ist (Geborgenheit, Wärme, Suche nach Stabilität). Es ist sehr wahrscheinlich, dass mit dem Einrichten des Zimmers in der Luft (V.1) „unter den Akrobaten und Vögeln“ (V. 2) die Sehnsucht und das Streben nach grenzenloser Ungebundenheit („Vögeln“, auch: ich fühle mich frei wie ein Vogel) und sorglosem Spiel (Akrobaten in der Manege und in der Höhe) einhergeht. Das Bett als zentraler Ort der Ruhe und des Schlafs könnte metaphorisch für das (Finden des) eigene/n Heims einstehen (Bett aufschlagen vgl. auch das Bett als „Nest“, V. 4), wobei sich dieses Bett gleichzeitig in beängstigender Höhe zu befinden scheint: auf dem Trapez des Gefühls (V. 3). Dadurch wird die Ruhe und Geborgenheit gleichzeitig mit Ängsten des Absturzes in einem, nämlich dem dritten Vers konfrontiert. Fraglich ist und bleibt wohl, ob das „Trapez des Gefühls“ eine gute und sichere Basis darstellt, die das Ich und/oder das Bett trägt. Es scheint, als ob das Ich sich dessen selbst nicht bewusst ist, erfahren wir doch durch den Vergleich „wie ein Nest im Wind“, dass es sich um eine waghalsige Konstruktion handelt – vor allem dann, wenn es sich zudem auch noch auf der „äußersten Spitze des Zweigs“ (V. 5) befindet. Diese Konstruktion bringt zweierlei zum Ausdruck: zum einen die Gefahr, weil das Nest und somit die gesamte Einrichtung nicht in der Baumkrone angelegt wurde. Zum anderen offenbart sich darin auch eine enorme Risikobereitschaft (Spiel mit den Grenzen, Elastizität der dünnen Zweige im Vergleich zu starren, dicken Zweigen, was auch etwas Elegantes ausdrückt. Im Gespräch zum Gedicht wurde genau diese gefährliche Konstruktion auch als reizvoll empfunden (vornehmlich von den Jungen). Insgesamt drückt die erste Strophe dieses Schwanken zwischen „Höhenluft“ und „fester Erde“ (V. 11), Sicherheit (Zimmer, Bett, Nest) und Risiko (Nest im Wind, Spitze des Zweigs) aus – insgesamt ein waghalsiger Seiltanz. Strophe 2: Auch die zweite Strophe setzt (wie die erste und dritte) direkt mit dem Pronomen „Ich“ ein, wobei das Luft-Motiv der ersten Strophe eine Veränderung erfährt: Insgesamt deutet sich an, dass die Gefährlichkeit der Einrichtung doch erkannt wird, weshalb gewissermaßen eine Gegenbewegung einsetzt: Das Luftige und unter Umständen auch die Kälte des Winds führen zu dem Wunsch, Geborgenheit herzustellen, was die „Decke aus der zartesten Wolle“ (V. 6) der „sanftgescheitelten Schafe“ (V. 6) ermöglicht. Auffällig sind die Adjektive „sanftgescheitelten“ (V. 7), „schimmernd“ (V. 9) und „zartesten“ (sogar Superlativ, V. 7), die dieses Streben – wie außerdem auch das wärmende „Mondlicht“ (V. 8) – zusätzlich unterstreichen. Des Weiteren wird das Bild von den „sanftgescheitelten Schafe“(V. 7) „im Mondlicht“ (V. 8) mit Hilfe des Vergleichs („wie“, V. 9) kunstvoll mit „schimmernde[n] Wolken“ verglichen, die über die „feste Erde ziehn“ (V. 10). Blickt man auf Schafe hinunter, dann sehen sie durchaus wie Wolken aus. Reizvoll an dieser Vorstellung ist zudem, dass es einen Wolkentyp gibt, der „Schäfchenwolke“ genannt wird, Wolken, die sich in mittlerer Höhe über die Erde bewegen, was die schwindelerregende Höhe des „Zimmer[s] […] in der Luft“ (V. 1) erneut unterstreicht. Darüber hinaus eignet sich die Beobachtung der Schäfchenwolke hervorragend für weitere Wetterprognosen, worin sich die Unsicherheit des Ich in Bezug auf die Einrichtung, aber auch – abstrakter gedacht – auf den Fortgang des Lebens zeigen könnte. Gewöhnlich bewegen sich Schafe außerdem in Gruppen, sodass der Blick des Ich voller Sehnsucht nach Zweisamkeit sein könnte. Die Wolken hingegen stehen außerdem für Aufbruch und Wanderschaft. 28 Strophe 3: Das Schließen der Augen (V. 11) könnte für das Erkennen der Bedrohlichkeit einstehen sowie für den Wunsch, die gegenwärtige Situation auszublenden; außerdem signalisiert es den Eintritt das Phantastisch-Surreale (Traum). Es folgen Verweise auf Tiere und Hufe, deren Heimat wiederum der Stall darstellt (biblische Motive; Stall von Bethlehem). Die Aussage verändert sich von der Indikativform in die Wunschform („Ich will“, V. 13). Das Spüren des „Sands unter den Hufen“ deutet auf den Wunsch nach Standfestigkeit hin. Gleichzeitig könnte damit auch auf das Pegasus-Symbol verwiesen werden: Das Symbol des Pegasus (Flügelpferd) spielt auf den Brunnen der Weisheit und der Poesie an, an dem sich, so die Vorstellungen in der griechischen Mythologie, die Dichter seit jeher laben. Irritierend ist dabei, dass gerade die dritte Strophe, in der zahlreiche Verse den Wunsch nach Sicherheit („Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren“, V. 13 und „und das Klicken des Riegels hören,/der die Stalltür am Abend schließt“, V. 14 f.) zum Ausdruck bringen. Daraus ließe sich die Frage ableiten, ob nicht die „Traumwelt“ der Dichtung Halt gibt bzw. das eigentliche Zuhause darstellt. Strophe 4: Die vierte Strophe setzt – abweichend von den ersten drei Strophen – nicht mit dem Personalpronomen „Ich“ ein, sondern mit „Aber“, was zur Steigerung der Spannung beiträgt. Das Phantastische und Erwünschte der letzten beiden Strophen wird schlagartig durchbrochen (und mit ihm auch das selbstbewusste Einrichten des „Zimmers in der Luft“ aus der ersten Strophe). Mit den „Vogelfedern“ (V. 16) wird auf das Nest im Wind (V. 4) Bezug genommen, das Ich liegt „hoch ins Leere gewiegt“, wobei der letzte Teil des Verses gleichzeitig auf das Gefühl der Geborgenheit („wiegen“, z.B. im Arm der Mutter), aber auch der Bedrohung eingeht, was „hoch“ und „ins Leere gewiegt“ (V. 16) andeuten, wobei die Gefahr durch die kürzeren Verse unterstrichen wird. Zusätzlich werden Verben gewählt, die nicht mehr mit dem Beiklang der Geborgenheit, sondern mit dem Unheimlichen assoziiert werden: „schwindelt“ (V. 17), „ich schlafe nicht ein.“ (V. 17). Das Spiel mit dem Phantastischen scheint aufgegeben zu werden: der Griff nach etwas, die Suche nach Halt setzt das Öffnen der Augen voraus. Halt gibt letztendlich „nur“ (V. 20) „eine Rose“ (V. 20), die das Ich stützt, wobei die Rose sowohl eine elegante als auch eine dornige Blume ist. Diese Paradoxie kommt auch in der Rose als zerbrechlicher Blume zum Asudruck, die dem Ich halt gibt. Der symbolische Gehalt der Rose ist hingegen vielschichtig: sie steht insbesondere für Liebe, und die Schönheit der Sprache (Dichtung) ein. Reflektiert man über die Gesamtheit des Gedichts, dann eröffnen sich u.a. folgende Bedeutungsoptionen: a) Das Gedicht könnte die Unsicherheit und die Ängste, die ganz allgemein mit dem Leben verbunden sind, zum Ausdruck bringen: Der Mensch strebt nach (grenzenloser) Freiheit und Sorglosigkeit, wobei diese nur in Abhängigkeiten erlebt werden können (Sorgen etc.). b) Die „Rose als Stütze“ könnte symbolisch für die „Liebe“ oder die „Dichtung“ stehen, die dem Ich/dem Menschen Halt geben kann. c) Des Weiteren könnte der Text auch das Leben oder das Prinzip der Dichtung insgesamt ausdrücken, die – wie auch im Zirkuskind – zwischen Ruhm („Höhe“) und „fester Erde und Schwindel“ (Fall) oder zwischen „Risikobereitschaft“ einerseits und dem Streben nach „Sicherheit“ andererseits angesiedelt sind. 29 Impulse für ein Literarisches Unterrichtsgespräch mit Grundschulkindern bezogen auf Klasse 3/4: Als „elaborierend“ werden im Sinne Bettina Hurrelmanns solche Gesprächsbeiträge verstanden, in denen die PartizipantInnen vom Text ausgehend auf eigene Erfahrungen, Phantasien oder Lektüre-Erinnerungen zu sprechen kommen. Diese Beiträge dienen der Erweiterung und sinnlichen Anreicherung des Gesprächs. Als „strukturierend“ werden solche Gesprächsbeiträge bezeichnet, die wieder stärker zum Text selbst führen, Erkenntnisse im Text bündeln, Beziehungen im Text aufzeigen oder neue Fragen aufwerfen. Diese Beiträge dienen der Konzentration und Textbezogenheit des Gesprächs. Beide Dynamiken sind für den Lernertrag eines Literarischen Unterrichtsgesprächs gleichermaßen wichtig und sollten ggf. behutsam durch die Leitung angeregt werden, um das Gespräch vor Einseitigkeit und Stagnation zu bewahren. Die Anregung kann durch einen authentischen eigenen Beitrag zum Text oder durch eine gezielte Intervention erfolgen. Elaborierende Impulse: „Das Ich in diesem Gedicht richtet sich ein Zimmer in der Luft ein. Ich würde gerne mit Euch gemeinsam darüber nachdenken, ob uns das auch gefallen würde…“ (gerade auch der Austausch über unterschiedliche Vorstellungen wäre hier sehr reizvoll, z.B. Angst – Risiko – Freiheit) „Wir könnten gemeinsam auch überlegen, wann wir uns ein Zimmer weit weg von allen Menschen wünschen würden…“ (Streit, Kummer, Zorn etc.) „Wenn mir passiert, dass…, dann wünsche ich mir auch, ganz allein zu sein und keinen Menschen zu sehen… vielleicht fallen Euch auch ähnliche Situationen ein…“ „Ich habe mich selbst schon gefragt, wie mir ein Zimmer in der Luft gefallen würde: Auf der einen Seite würde ich mich frei und unbeschwert fühlen, vielleicht auch groß und stark so weit oben über den Wolken; auf der anderen Seite hätte ich aber auch Angst, aus dieser Höhe abzustürzen…(wie geht es Euch mit dieser Vorstellung)“ „Besonders interessant in der ersten Strophe finde ich die Stelle ‚mein Bett auf dem Trapez des Gefühls‘, weil ein Trapez ja eigentlich ein Gerät der Akrobaten (z.B. im Zirkus) ist, um Kunststücke in der Luft aufzuführen; deshalb finde ich es sehr schwierig, mir ein ‚Trapez des Gefühls‘ vorzustellen (auf dem dann auch noch ein Bett Platz hat)… wie können wir uns das denn überhaupt vorstellen…“ „Wenn ich ‚Hufe‘, ‚Riegel‘ und ‚Stalltür‘ höre, dann denke ich an ein Tier – wann oder in welchen Situationen würden wir uns denn wünschen, ein Tier (vielleicht ein Schaf) anstatt ein Mensch zu sein…“ „In der dritten Strophe scheint mir das alles etwas sicherer und gemütlicher zu sein: Fell/Vlies=Wärme; Sand unter den Hufen spüren=sicherer Stand auf der Erde, ‚Sand unter den Hufen spüren‘ (Standfestigkeit auf der festen Erde) und das ‚Klicken des Riegels‘ hören (vor Gefahren schützen). Auf der anderen Seite hört sich das so an, als ob das alles nicht mehr so frei und sorglos ist wie weit oben in der Luft…“ „‚Rose als Stütze‘: „Ich würde es schön finden, wenn wir gemeinsam darüber sprechen würden, was uns denn Halt oder Sicherheit in dieser gefährlichen Höhe/oder in Gefahrensituationen geben könnte – wen oder was und warum würden wir uns jemanden oder etwas herbeiwünschen, wenn wir uns in dieser oder einer ähnlichen gefährlichen Situation befänden…“ etc. 30 Strukturierende Impulse: „Die dritte Strophe beginnt mit ‚Ich schließe die Augen‘. Meine Augen würde ich schließen, wenn ich vor etwas viel Angst habe oder wenn ich träumen möchte. Vielleicht hat auch das Ich in diesem Gedicht Angst bzw. vielleicht träumt das Ich ‚nur‘, dass es in Sicherheit ist. Welche Spuren können wir dazu entdecken (u.U. auch Bezugnahme auf ‚Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren‘)“ dieser Impuls böte sich vielleicht auch an, wenn die Gruppe über die 4. Strophe oder das gesamte Gedicht spricht) „Die letzte Strophe beginnt mit ‚Aber‘, die anderen Strophen mit ‚Ich‘: Ich habe den Eindruck, dass sich in dem Gedicht etwas verändern könnte…“ „Die letzte Strophe beginnt mit ‚Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt‘. Das finde ich sehr spannend, weil ich beim Lesen der 3. Strophe dachte, dass sich das Ich schon in Sicherheit befindet…“ „‚Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt‘“ – wenn ich den Vers lese, fällt mir auf, dass er auch widersprüchlich ist: Einerseits ist es bestimmt richtig gemütlich, in den (warmen) Vogelfedern zu liegen; andererseits ist das Nest hoch oben im Baum…“ [und die Strophe knüpft außerdem wieder an die erste Strophe an: bei ‚hoch‘ (V 16) denke ich an das ‚Zimmer in der Luft‘ (V 1) und bei ‚Vogelfedern‘ (V 16) an das ‚Nest im Wind‘ (V 4)] „‚hoch ins Leere gewiegt‘: Auch bei diesem Vers finde ich spannend, dass ich bei ‚gewiegt‘ an eine Mutter mit ihrem Kind im Arm denke; das Wiegen stelle ich mir beruhigend vor, das Wiegen ‚hoch ins Leere‘ hingegen wieder als sehr gefährlich…“ „Das Ich greift nach ‚einer Reise als Stütze‘: Ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, warum das Ich ausgerechnet nach einer Rose greift…“ (obwohl sie schön ist, ist ihr Stängel auch dünn und stachelig) etc. 31 Rose Ausländer Zirkuskind 1 Ich bin ein Zirkuskind spiele mit Einfällen Bälle auf – ab Ich geh auf dem Seil 5 über die Arena der Erde reite auf einem Flügelpferd über ein Mohnfeld wo der Traum 10 wächst Werfe dir Traumbälle zu fang sie auf 32 Textdeutungsrahmen zu „Zirkuskind“ von Rose Ausländer Entstehung des Gedichts: 1979 Die Verknüpfung der Strophen eins, zwei und vier legt nicht nur eine gedankliche Verbindung nahe, sondern das Gedicht deutet diese sprachlich auch explizit an, sodass sich eine zirkuläre – sprich: hermeneutische – Lektüre des Textes aufdrängt: Das Spielen und Jonglieren mit Einfällen und Bällen (V. 1-3) schlägt eine Brücke zum Balanceakt des Ich auf dem Seil über die Arena der Erde (V. 4-6) sowie zu den Traumbällen (V. 11). Alle entworfenen Bilder ziehen also ihre Kreise vom (imaginären) Ort des Zirkus aus, der als kreativer Bildspender fungiert, sodass eine ausschließlich auf die wörtliche Ebene fokussierende Lektüre sich deutlich von der abstrakteren Bedeutungsebene oder gar von einer selbstreferenziellen Dimension des Textes (d.h. der Text verweist auf sich selbst bzw. sein eigenes Entstehen und seine Wirkung) unterscheidet. Diese Bedeutungsschichten schließen einander nicht aus, sondern können im Rezeptionsakt einander ergänzen und nebeneinander bestehen. Strophe 1: In der ersten Strophe ist die metaphorische Rede vom Spiel mit den Einfällen (V. 2) insofern irritierend, als das Verb „spielen“ entweder die Nennung eines personalen Gegenübers etwa im Sinne eines Spielpartners oder eine Verbindung mit Gegenständen erwarten lässt. Trotzdem erfolgt eine metaphorische Verschmelzung von „spielen“ und „Einfällen“, eine Fügung, deren geringes Irritationspotenzial auf die in unserem Sprachgebrauch fast schon erstarrte Metapher vom „Spiel mit den Gedanken“ zurückgeführt werden kann. Die Verbindung des zweiten und dritten Verses der ersten Strophe ließe sich nach Irene Pieper (vgl. 2004, S. 224) auch als Vergleich lesen, dessen tertium comparationis (das verbindende Dritte eines Vergleichs) im dynamischen Fall besteht: Bei den „Einfällen“ des lyrischen Ich kann dieser sowohl im Sinne blitzartiger Gedankengänge als auch mit der Bewegung des „auf – ab“ assoziiert werden. Die Verse der ersten Strophe legen zunächst das Bild von der Jonglage mit Bällen nahe, das vom Zirkuskind (V. 1) und der Wendung „Bälle auf – ab“ (V. 3) gestützt wird. Darüber hinaus stellt das „Spiel mit den Einfällen“ (V. 2) ein Abstraktum dar, das jedoch vom „Spiel mit den Bällen“ als Konkretum semantisch durchkreuzt wird. „auf – ab“ könnte außerdem bereits auf den 7. Vers Bezug nehmen, weil sich auch die Flügel des Flügelpferds „auf – ab“ bewegen. Mit dem „Zirkuskind“ (V. 1) und dem kindlichen „Spiel“ (V. 2) stellt sich auf einer ersten Assoziationsebene ein Gefühl von Freiheit und Ungebundenheit ein, einer unbeschwerten Lebensart, bei der diskursive Regeln und Normen der Gesellschaft in den Hintergrund treten. Den spannenden Identifikationsprozess, selbst in die Rolle eines verspielten Zirkuskindes zu schlüpfen, können Grundschulkinder als faszinierend und reizvoll empfinden. Zugleich haftet dieser Vorstellung ein Gefühl von Traurigkeit und Mitleid an, stellt man sich Zirkuskinder doch oft als heimatlos vor. Ihnen könnte auch die Geborgenheit der Familie als wichtige und beständige Sozialisationsinstanz beim Erwachsenwerden fremd sein. Eine kindliche Lesart könnte das reflektieren, weil viele Kinder die familiäre Geborgenheit als wichtig empfinden. Strophe 2: Die zweite Strophe knüpft mit dem Vers „Ich geh auf dem Seil“ an die Kunststücke der Akrobaten 12 im Zirkus an. Die sich daran anschließende Genetivmetapher „Arena/der Erde“ (V. 5-6) eröffnet eine faszinierende Grenzenlosigkeit, weil der Bildspender „Erde“ die klein anmutende und von Menschenhand geschaffene „Arena“ des Zirkus um die Dimension der Unendlichkeit erweitert. Die Metapher von der „Arena der Erde“ knüpft darüber hinaus laut Pieper (vgl. 2004, S. 224) an die vielschichtige Welttheatermetaphorik an, die die Vorstellung von der Welt als großem und einzigartigem Theater evoziert. Gleichzeitig wirkt die „Arena“ als potenzieller Bildempfänger fort, indem sie das auf die Antike zurückgehende Bild von der „Arena“ als Schauplatz von „Kampf und Tod“ zusätzlich in sich aufnimmt. In Verbindung mit dem metaphorischen Balanceakt des Ich „auf dem Seil/über die Arena/der Erde“ (V. 4-6) kann dann eine selbstreferenzielle Dimension des 12 Die Apokope „geh“ verleiht dem Vers einen tänzerischen Rhythmus (auftaktiger Daktylos). 33 Gedichts in den Blick geraten: Sie erlaubt es, Poesie als Ausdruck der ästhetisch-formalen Gestaltung des Wechselspiels „Mensch – Welt“ zu denken. Vor diesem Hintergrund verleiht das Gedicht dem Balanceakt des Menschen zwischen Leben und Tod, Freiheit und Gebundenheit sowie Stabilität und Herausforderung Ausdruck. Aber auch das dichterische Schaffen ist davon nicht losgelöst: In Spannungsverhältnissen wie Angst und Mut, Aufstieg und Fall sowie Anerkennung und Ablehnung begegnet uns erneut der Balanceakt auf dem Seil. Strophe 3: In der dritten Strophe eröffnet der Ritt auf dem „Flügelpferd“ (V. 7) eine weitere selbstreferenzielle Dimension des Gedichts, wobei das Flügelpferd auf ‚Pegasus‘ verweist. Das Symbol des Flügelpferds/Pegasus gilt als Sinnbild der Dichtkunst überhaupt (Pegasus als Vertrauter der Musen und als Ausdruck poetischer Kreativität, Der Dichter reitet auf seinem Dichterross der Realität davon). Durch diesen Verweis reflektiert das Gedicht sein eigenes Entstehen sowie seine poetische Wirkung. Das Flügelpferd lässt sich zugleich auch als Fabelwesen deuten, sodass der Ritt auf ihm – auch sprachlich – den Eintritt in eine „phantastische Anderswelt“ markieren kann. Diese Deutungslinie wird durch den Traum gestützt, der jegliche Verbindung zu außertextuellen Referenzen endgültig aufhebt. Der „wachsende Traum“ spielt auf eine Verdichtung und Ausdehnung an, die eine kohärente Verbindung mit dem Mohnfeld eingehen kann. Beide, Traum und Mohnfeld, lassen eine Vielzahl von Assoziationen zu, von denen eine Eigenschaft – im Sinne des tertium comparationis – als markant erscheint: die Zerbrechlichkeit und der Grenzcharakter von Mohn und Traum, sodass der Text erneut auf den oben skizzierten Balanceakt Bezug nimmt. Ein wichtiger Zusammenhang von Mohn und Traum besteht außerdem darin, dass Mohn als Rauschpflanze (Opium) zum Träumen verhilft; in der griechischen Mythologie kommt dem Träumen (auch in Verbindung mit dem Opiumrausch) eine doppelte Bedeutung zu: das Träumen gilt als gleichermaßen irreal (Weltflucht) wie auch als auch göttlich inspiriert (Weltdeutung) Das Gedicht als Traum könnte dem Rezipienten in einer selbstreferenziellen Dimension ein Poetizitätsmodell (ein Modell von Dichtung) vorstellen, das dem Akt des Dichtens symbolisch Ausdruck verleiht. Die Dichtung kann – auch wenn sie die Bezüge zur Wirklichkeit in der Regel bricht – reale Erfahrungen des Menschseins aufgreifen, um sie in einem symbolischmetaphorischen Gewand ins Allgemeine zu erheben – gebunden ist sie daran jedoch keinesfalls. Aus dem Literarischen können ästhetische Erfahrungen hervorgehen, die die Regeln der Wirklichkeit nach Belieben außer Kraft setzen. Auch dieser Text spielt mit dem Überschreiten der Regeln des alltäglichen Lebens, was die fehlende Interpunktion auf syntaktischer Ebene und auch die zahlreichen Verschmelzungen von Konkretem und Abstraktem im Bereich des Semantischen zusätzlich unterstreichen. Literatur macht uns wie auch der Traum „von der Wirklichkeit los“, indem sie uns in „eine andere Welt“ (ebd.) entführt. Demnach könnte das Gedicht den eigenen Schaffensprozess auch sprachlich reflektieren, weil Dichtung produktionsästhetisch selbst als ein Balanceakt zwischen Erfolg und Verkennung, zwischen göttlicher Eingebung und Versagen aufgefasst werden kann. Die Spannungen, in die die Dichtung notwendig eingelassen ist, werden hier in wenigen Versen in ein Bildfeld gefasst. Für Pieper verankert das „Verb ‚wachsen‘ den Traum außerdem in der Erde“, wodurch für sie „der Konnex zwischen Traum und Leben oder Lebenserfahrungen“ (ebd.) hergestellt wird. Außerdem assoziieren wir mit ‚wachsen‘ auch das Gedeihen von Pflanzen (Saat, Samen) und – ganz allgemein – einen Prozess der „Ausdehnung“ bzw. „Ausbreitung“ (die Wirkung des Textes nimmt zu; der Text bzw. die Traumwelt nimmt uns „gefangen“) Dieser Gedanke ließe sich unter Bezugnahme auf selbstreferenzielle Aspekte noch mit dem Begriff der literarischen Erfahrung als Schwellenerfahrung abrunden: eine Erfahrung, die dem Erleben eines Traums insofern ähnelt, als das Medium der Literatur das textuelle Überschreiten von Wirklichkeitsgrenzen hin zum Imaginären ermöglicht, um einen Raum für menschliches Probehandeln zu eröffnen. Strophe 4: Die letzte Strophe spannt einen Bogen zurück zur ersten: Das (kindliche) Spiel mit Einfällen und Bällen zugleich verschmilzt im Kompositum (etwas Zusammengesetztes) „Traumbälle“. Doch das Spiel geschieht nun nicht mehr in Einsamkeit; der Vers „Werfe dir Traumbälle zu“ spricht direkt den Rezipienten an und bewegt ihn – durch den Imperativ „fang“ zusätzlich bestärkt – dazu, die Traumbälle des Ich aufzufangen. Die durch poetische Sprache konstituierte Welt beginnt sich hier 34 mit der realen Welt – mit unserer Welt – zu verschränken und fordert uns Rezipienten dazu auf, an ihr teilzuhaben. Die metaphorische Lesart des Zirkuskindes legt den Gedanken nahe, dass sich der Text nach seinem Erscheinen endgültig vom Dichter ablöst und vom Rezipienten – von uns – gesucht, gefunden und „aufgefangen“ werden will. Reflektiert man über die Gesamtheit des Gedichts, dann eröffnen sich u.a. folgende Bedeutungsoptionen: a) Das Gedicht „Zirkuskind“ nimmt zahlreiche Gegenstände (Seil, Bälle) des Zirkus in sich auf, die spielhaft und komplex zugleich miteinander kombiniert werden. Dadurch können beim Leser Gefühle wie grenzenlose Freiheit (Zirkuskind, Spiel ohne Sorge, Balanceakt auf dem Seil über die Arena der Erde, Ritt auf dem Flügelpferd etc.), aber gleichzeitig auch Angst (Balanceakt auf dem Seil, Ritt auf dem Flügelpferd) evoziert werden – diese Kombination (die in zahlreichen Metaphern entworfen wird) kann für Kinder sehr reizvoll sein und sie dazu anstoßen, über ihr eigenes Leben, aber auch über die kunstvolle Sprache des Gedichts nachzudenken. b) Auf einer abstrakteren Ebene erfährt der Leser in und durch Dichtung etwas über Dichtung, weil das Gedicht sein eigenes Entstehen reflektiert und zum Ausdruck bringt: „spiele mit Einfällen/Bälle auf – ab“ und „Werfe dir Traumbälle zu/fang sie auf“ sind nur ausgewählte Verse, die das zum Ausdruck bringen, und worauf auch Kinder in den Gesprächen aufmerksam werden. c) Das „Zirkuskind-Gedicht“ bringt den Ruhm/Aufstieg (Balanceakt etc.) und Fall des Dichters (nicht von Rose Ausländer) zum Ausdruck. d) Im Gedicht verschmilzt Abstraktes und Konkretes miteinander, was auf die Bedeutung der Dichtung im und für das Leben hindeuten könnte. e) Das Gedicht ist (wie jeder literarische Text) auf einen Leser angewiesen („Werfe dir Traumbälle zu/fang sie auf“ (V 11/12), der es mit seiner Phantasie und durch das Lesen „zum Leben erweckt“ Impulse für ein Literarisches Unterrichtsgespräch bezogen auf Klasse 3 / 4 Als „elaborierend“ werden im Sinne Bettina Hurrelmanns solche Gesprächsbeiträge verstanden, in denen die PartizipantInnen vom Text ausgehend auf eigene Erfahrungen, Phantasien oder Lektüre-Erinnerungen zu sprechen kommen. Diese Beiträge dienen der Erweiterung und sinnlichen Anreicherung des Gesprächs. Als „strukturierend“ werden solche Gesprächsbeiträge bezeichnet, die wieder stärker zum Text selbst führen, Erkenntnisse im Text bündeln, Beziehungen im Text aufzeigen oder neue Fragen aufwerfen. Diese Beiträge dienen der Konzentration und Textbezogenheit des Gesprächs. Beide Dynamiken sind für den Lernertrag eines Literarischen Unterrichtsgesprächs gleichermaßen wichtig und sollten ggf. behutsam durch die Leitung angeregt werden, um das Gespräch vor Einseitigkeit und Stagnation zu bewahren. Die Anregung kann durch einen authentischen eigenen Beitrag zum Text oder durch eine gezielte Intervention erfolgen. Elaborierende Impulse: „Ich frage mich, wie wir uns denn ein ‚Spiel mit Einfällen‘ vorstellen können…“ (normalerweise spiele ich ja mit Personen oder Dingen) „Mich beschäftigt, ob ich selbst gerne ein Zirkuskind wäre, wobei ich das gar nicht so einfach beantworten kann: Auf der einen Seite hätte ich als Zirkuskind ein tolles, spannendes Leben: Ich hätte viel Spaß und könnte Kunststücke in einer Manege aufführen, z.B. Jonglieren mit Bällen und auf einem Seil hoch über der Erde balancieren und alle Zuschauer würden mich bestaunen und bewundern…auf der anderen Seite wäre ich als Zirkuskind auch immer auf der Reise, weil ich von Vorstellung zu Vorstellung müsste und ich wäre nie länger an einem Ort, müsste meine Freunde ständig verlassen und ich weiß nicht, ob ich nicht Angst bekäme, wenn ich gefährliche Kunststücke aufführen müsste…“ (auch als Impuls möglich, wenn die Gruppe über den Text in seiner Gesamtheit spricht) 35 „In der zweiten Strophe geht das ‚Zirkuskind auf dem Seil über die Arena der Erde‘…– ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, wie wir uns die ‚Arena der Erde‘ vorstellen können…“ „Die Vorstellung ‚auf dem Seil über die Arena der Erde‘ zu balancieren finde ich auf der einen Seite sehr aufregend, weil dazu auch sehr viel Mut gehört; andererseits hätte ich dabei auch Bedenken, weil ich Angst hätte, vom Seil zu fallen – wie geht es Euch mit dieser Vorstellung…“ „Das ‚Flügelpferd‘ in der dritten Strophe stelle ich mir selbst als etwas sehr Kostbares und Schönes vor und ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, wie das Flügelpferd aussehen könnte…“ „Ich habe vorher selbst noch nie von Traumbällen gehört; mich würde interessieren, wie wir uns solche Traumbälle eigentlich vorstellen können, aus was könnten sie gemacht sein und wer stellt überhaupt solche ‚Traumbälle her‘…“ „Auf der einen Seite stelle ich mir Traumbälle als etwas sehr Zartes und Zerbrechliches vor, z.B. wie schimmernde große Seifenblasen; auf der anderen Seite wäre es dann nicht einfach, sie einer anderen Person zuzuwerfen (wie es in V 11/12 ja beschrieben wird)…“ „Traumbälle könnten etwas mit unseren Wünschen zu tun haben. Wenn wir so einen Traumball bekommen würden, was würden wir uns dann von Herzen wünschen“ (keine XBOX o.Ä.) „Vielleicht können wir mal gemeinsam überlegen, wem wir einen Traumball zuwerfen würden, wobei ich ja denke, dass es ein besonderer Mensch für uns sein müsste…“ ‚Traumbälle‘ (V 11) stelle ich mir selbst als etwas sehr Wertvolles und Schönes vor, weshalb ich mir die Frage stelle, was denn passiert, wenn wir die Traumbälle des Zirkuskindes nicht auffangen können…“ „In der ersten Strophe ist ja die Rede von einem ‚Zirkuskind‘ (V 1): Ich fände es spannend, wenn wir darüber sprechen, wer von uns denn gerne ein Zirkuskind wäre… – was gefällt uns denn an der Vorstellung, was gefällt uns daran nicht…“ (auch als Impuls möglich, wenn die Gruppe über den Text in seiner Gesamtheit spricht) „Insgesamt beschäftigt mich beim Lesen, dass ich die Vorstellung, ein Zirkuskind zu sein, sehr spannend finde (Spielcharakter, Freiheit, Bewunderung). Aber so richtig dazu entschließen könnte ich mich vielleicht auch nicht, weil ich vor den Gefahren Angst hätte, ich ständig von einem Ort zum nächsten reisen müsste und keine guten Freunde finden könnte…“ Strukturierende Impulse „Der 2. Vers ‚spiele mit Einfällen‘ fasziniert mich sehr, weil ich eigentlich davon ausgehe, dass man nur mit anderen Menschen oder mit irgendwelchen Dingen, z.B. einem Ball spielen kann…– wir könnten gemeinsam überlegen, wie es denn möglich ist, mit ‚Einfällen zu spielen‘ und mit welchen ‚Einfällen‘ könnte das Zirkuskind denn überhaupt spielen…“ „Wenn ich die erste Strophe lese, dann wundere ich mich, dass zunächst mit ‚Einfällen‘ gespielt wird‘ (V 2) und dann erst bewegen sich im 3. Vers die ‚Bälle auf – ab‘… – manchmal glaube ich, dass dort etwas vertauscht wurde, aber irgendwie macht es gleichzeitig doch auch Sinn…“ Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass der Gedankenstrich (‚Bälle auf – ab‘) irritiert („Warum steht da so ein Strich?“) und auch, dass für sie der Text an einigen Stellen fehlerhaft ist („Da fehlt doch ein ‚und‘, weil die Bälle ‚auf und ab‘ gehen) oder dass sie der Meinung sind, dass es länger dauert, bis die Bälle wieder gefangen werden können (ihrer Meinung nach steht der Gedankenstrich für die Beschleunigung, die fehlende Konjunktion ‚und‘ würde hingegen eher der Dauer der Bälle in der Luft betonen: „Ihr sagt ja, dass hier etwas fehlt oder sogar falsch gemacht wurde…“ „Was denken wir anderen Textdetektive denn, welche Ideen haben wir denn dazu…“ oder: „Welche Ideen und 36 welche Einfälle haben wir denn dazu, dass hier ein Strich anstatt ein ‚und‘ steht, was könnte das bedeuten…“ Darüber hinaus ist es gut möglich, dass die Kinder ‚das Spiel des Textes‘ durchschauen: „Da oben steht ja ‚spiele mit Einfällen‘ und eigentlich werden dann die Einfälle ja auch in den einzelnen Strophen beschrieben. Zuerst geht das Kind auf dem Seil, dann reitet es über ein Mohnfeld usw.“ „Das ist ja interessant. Was glauben wir anderen Textdetektive denn – sind das Einfälle oder Träume in den einzelnen Strophen, was deutet darauf hin, welche Spuren können wir entdecken…“ „Ich frage mich beim Lesen, warum das Zirkuskind ausgerechnet auf einem Flügelpferd über ein Mohnfeld reitet…“ Unter Umständen wird ein Kind einbringen, dass es schon einmal von einem ‚Flügelpferd‘ namens ‚Pegasus‘ gehört hat „Kannst Du uns vielleicht kurz erzählen, was Du über Pegasus weißt…und dann können wir Textdetektive gemeinsam überlegen, wie wir das mit unseren Textspuren verbinden können…“ „Die Stelle ‚wo der Traum/wächst‘ finde ich sehr spannend, weil sie so kompliziert ist… – wie und wo kann ein Traum denn überhaupt wachsen und was könnte das eigentlich bedeuten…“ Was die Kinder auch irritieren könnte: Irgendwie ist das alles ziemlich komisch in dem Gedicht, weil immer etwas Traumhaftes/Falsches (z.B. Flügelpferd) genannt wird und dann etwas Wahres/Richtiges (z.B. Mohnfeld) Unter Umständen wäre folgender Impuls gut geeignet: „Fallen uns denn Situationen ein, in denen das auch so ist, dass etwas irgendwie wahr, aber doch nicht ganz wahr ist…“ oder: „Mir geht das manchmal auch so, wenn ich geträumt habe, weil ich dann aufwache und merke, dass einige Dinge des Traums wahr sind, andere habe ich irgendwie erfunden, was mich dann ganz durcheinander macht, weil ich selbst nicht weiß, was jetzt stimmt und was nicht stimmt…“ „Beim Lesen fällt mir auf, dass die ‚Traumbälle‘ in der letzten Strophe etwas mit dem auf- und abgehenden Bällen der ersten Strophe und mit dem Spiel zu tun haben könnten – wir könnten mal überlegen, ob wir dazu Spuren im Gedicht finden können…“ „In der letzten Strophe steht ‚Werfe dir Traumbälle zu/fang sie auf (V 11/12); wem könnte das Zirkuskind die Traumbälle zuwerfen und was könnte passieren, wenn die Bälle nicht aufgefangen werden…“ „Im letzten Vers steht ‚fang sie auf‘; ich frage mich, warum das Zirkuskind nicht einem anderen Zirkuskind die Traumbälle zuwirft, sondern ausgerechnet uns…“ – oder: „Was könnte der Grund dafür sein, dass das Zirkuskind sie ausgerechnet uns zuwirft…“ „Ich selbst könnte mir vorstellen, dass das ‚Zirkuskind‘ uns die Traumbälle zuwirft, damit wir mit ihm spielen oder vielleicht auch zu ‚Zirkuskindern‘ werden – wenn ich so darüber nachdenke, dann glaube ich, dass ich sehr gerne mit dem Zirkuskind spielen würde, weil ich dann auch die Möglichkeit hätte, mit den Traumbällen zu spielen…“ „Mir würde es Spaß machen, gemeinsam mit Euch darüber nachzudenken, was denn geschehen würde, wenn ‚wir‘ die Traumbälle des Zirkuskindes auffangen würden…“ Insgesamt habe ich (F.H.) in allen Gesprächen zum Zirkuskind die Erfahrung gemacht, dass die Kinder über die Abweichungen der Sprache des Gedichts von unserer Alltagssprache nachdenken (z.B. in der ersten Strophe fehlt nach jedem Vers ein „und“ – insgesamt bietet es sich u.U. als Leiter an, diese Auffälligkeiten und Abweichungen selbst immer wieder zum Gegenstand des Gesprächs zu machen bzw. sie an die Gruppe zurückzuspiegeln „Wir könnten gemeinsam überlegen, warum das denn so sein könnte…“). Außerdem waren die 2., 3. und 4. Klassen auch von den Metaphern des Textes irritiert (ihr kennt mittlerweile die Sequenzen zur Länge des Seils usw.), weshalb einige der Kinder bestimmt der Meinung sein werden, dass alles „gelogen und erfunden“ ist oder dass es sich um einen Traum (oder NUR einen Traum) handeln könnte, was die Kinder u.a. auf die ‚Einfälle‘, das Seil (das über die Arena der Erde gespannt ist), den wachsenden Traum und die Traumbälle zurückführen. Andere Kinder wiederum könnten Gegenargumente nennen, nämlich z.B. das Mohnfeld, eine Arena usw., die es „auch in der Wirklichkeit“ gibt. Vermutlich könnten die Kinder auch ihre „Meinung“ während des Gesprächs mehrmals ändern, was insgesamt fruchtbar sein kann, weil dann die Rätselhaftigkeit gerade nicht aufgelöst wird. Zu diesem Gedicht habe ich sehr viele Impulse formuliert, was nicht bedeutet, dass alle zum Einsatz kommen sollten oder auch, dass diesem Gedicht – im Vergleich zu den anderen – ein 37 besonderer Status zukommen sollte. Es hat vermutlich viel damit zu tun, dass ich schon sehr häufig mit Grundschulkindern über den Text gesprochen habe. Wichtig scheint mir auch hinsichtlich der Impulse zu den anderen Texten zu sein, dass sich diese auch häufig aus dem Gesprächsverlauf heraus ergeben; außerdem bringen die Kinder Fragen an den Text und Irritationen ein, worauf wiederum andere reagieren usw. 38 Paul Celan Der Sandmann 1 Stille: ich komm wie der Nachtwind kommt auf den Regenschnüren, mit Schritten, die lautlos und sacht sind, . euch unter die Träume zu führen. 5 Ihr greift in mein wehendes Barthaar.. Ihr könnt mit den Sternen spielen.. Ihr wißt nicht, wie hart meine Fahrt war, und wieviele Sterne fielen… Seid ihr tagsüber so einsam? 10 Komm ich nicht wieder, wieder? Kein Kummer ist uns gemeinsam.. Ich streu euch den Schlaf auf die Lider… Kam ich spät? Ich muß über Land gehn und oft an den Kreuzwegen warten, 39 15 bis ihr mich fühlt an der Wand stehn und rüsten zu purpurnen Fahrten… . . . . . . . . Schwindelt euch, komm ich wie Nachtwind . . . . kommt auf den Regenschnüren, 20 mit Schritten, die lautlos und sacht sind, euch sorgsam nachhausezuführen... 40 Textdeutungsrahmen zu „Der Sandmann“ von Paul Celan Entstehung: Das Gedicht wird auf etwa 1940 datiert. Aufbau: 5 Strophen mit jeweils 4 Versen, wobei man von einer sechsten Strophe sprechen könnte, wenn man nach der vierten Strophe die elf Punkte als Strophe zusammenfasst. Alle Verse des Gedichts sind kreuzgereimt. Metrum: grundsätzlich 7, 8 oder 9 silbige Verse; überwiegend 3 hebige Daktylen, wobei nach der dritten Hebung häufig die zweite Senkung fehlt. Strophe 1: „Stille: ich komme wie der Nachtwind“. Der Doppelpunkt nach Stille: im ersten Vers könnte zwei Funktionen erfüllen: Zum einen könnte er im Sinne einer „Regieanweisung“ die Funktion übernehmen, eine bestimmte Stimmung (Stille, Ruhe) überhaupt erst herzustellen. Plausibler wäre jedoch, dass der Sandmann spricht („ich“) und entweder die „Stille“ ausruft oder mit dem Konditionalsatz „Wenn die Stille kommt, komme ich“ oder „ich bin die Stille“ sich einführt (d.h. der Sandmann=Stille), wodurch auch ein direkter Bezug zum Titel hergestellt wird. Vers 2: Der zweite Vers führt den ersten Vers über die Versgrenze hinweg weiter (Enjambement). Demensprechend stellt der zweite Vers eine elliptische (aussparende) Fortführung über die Versgrenze hinweg dar, weil ein entsprechendes Nomen („er“) fehlt. Der Vers „kommt auf den Regenschnüren“ ist – aufgrund der Verbkonjugation – nicht auf „ich“, sondern auf den Vergleich mit dem Nachtwind bezogen („ich komme wie der Nachtwind, der auf den Regenschnüren kommt“); darüber hinaus fällt die irritierende Präposition „auf“ ins Auge; das TextSubjekt kommt „auf Regenschnüren“ herbei. Assoziation: Wir sprechen manchmal davon, dass es „Bindfäden regnet“. Im Vergleich dazu könnten die „Regenschnüre“ stärker und belastbarer sein. Vers 3: Die lautlosen und sachten „Schritte“ stellen einerseits einen Bezug zum Text-Ich her; andererseits wird gleichzeitig der Nachtwind personifiziert, dessen Schritte „lautlos und sacht sind, wodurch das Ich Eigenschaften von Naturgewalten (Nachtwind, Regenschnüren) in sich aufnimmt, die uns – trotz ihrer z.T. zerstörerischen Kraft – „sacht“ und „lautlos“ unter die Träume führen. Vers 4: erneut elliptischer Versbeginn, da temporale Präposition „um“ fehlt (um „euch unter die Träume zu führen“) Insgesamt bringt die erste Strophe die Ankunft eines Ich zum Ausdruck mit dem Ziel, uns unter die Träume zu führen; das Ich wird mit dem Nachtwind [Natur(-gewalt)], der auf „Regenschnüren kommt“, verglichen; dem Träumen geht in der Regel das (Ein-)Schlafen voraus, weshalb die „Schritte lautlos und sacht“ sein könnten, was nicht selbstverständlich ist, da Nachtwind auch mit tobenden und heulenden Geräuschen einhergehen kann. Darin könnte sich insofern eine ambivalente Spannung offenbaren, als uns das Ich – trotz seiner zerstörerischen Kräfte – behutsam unter „die“ Träume führt. Darüber hinaus fällt auf, dass die erste Strophe mehrmals auf das Motiv der Nacht anspielt (Nachtwind, Träume). Strophe 2: Die zweite Strophe knüpft vielfach an die erste Strophe an: In der ersten Strophe wird mit „euch unter die Träume zu führen“ (Träume gehören auch dem semantischen Feld „Nacht“ an) die Handlungsabsicht des Ich angedeutet, was in der zweiten Strophe durch den Einsatz eines bestimmten Mittels weiter zugespitzt wird: durch die dreifache anaphorische Wendung „Ihr“ (Vers 5,6,7) steht nun der Mensch im Zentrum des Sprechens (er wird angesprochen). Im 1. Vers der zweiten Strophe wird eine vertraute Beziehung durch den „Griff in das wehende Barthaar“ entworfen; darüber hinaus legt der Vers erstmals einen Bezug zum Titel „Der Sandmann“ nahe, wodurch „Ich“ und der „Der Sandmann“ in eins fallen. Gestützt wird diese Gleichsetzung durch das Adjektiv „wehend“, wodurch indirekt erneut auf den Vergleich „Ich–Nachtwind“ Bezug genommen wird. Beim „Spiel mit den Sternen“ könnte es sich um die Ausgestaltung der in der ersten Strophe angedeuteten Träume handeln: hier steht das phantastische und gleichzeitig vertraute Spiel mit kosmologischen Himmelskörpern im Zentrum (ähnlich wie in der ersten 41 Strophe auf die Zähmung der Naturgewalten Bezug genommen wird, um uns unter die Träume zu führen), die das Ich auf seiner „harten Fahrt“ (V. 7; Assonanz [lautliche Übereinstimmung: „hart-Fahrt]) für den Menschen vom Himmel abgehängt haben „könnte“ – „könnte“ insofern, als wir mit dem „Fall der Sterne“ auch „Sternenschnuppen“ (und das damit häufig verbundene Äußern von Wünschen) assoziieren könnten. Offen bleibt, warum die Fahrt „hart“ war. Auffällig sind die Punkte (unregelmäßige Anzahl, 2/3) nach den Versen 5, 6 und 8, die sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Kommunikation eine elliptische (auslassende, aussparende) Funktion besitzen und häufig als Mittel eingesetzt werden, um die Phantasie beim Leser (Hörer) anzuregen („etwas weiter denken, etwas phantasievoll ausfabulieren“). Strophe 3: Die dritte Strophe bricht mit den ersten beiden Strophen, weil sie die vertraute Beziehung (Sandmann – Mensch und Nacht/Träumen) zu Gunsten der Einsamkeit (Mensch/“tagsüber“) aufzulösen scheint. Diese Auflösung geht sowohl mit verunsichernden Fragen einher (V. 9 und 10) als auch mit dem Bruch des Metrums. Interessant ist der Vers „Seid ihr tagsüber so einsam?“, weil der Mensch gewöhnlich gerade tagsüber nicht einsam ist, sondern sich in Gesellschaft befindet. Dieser Vers stimmt insofern nachdenklich, als sich die Frage stellen lässt, ob nicht gerade unsere Gesellschaft von Einsamkeit geprägt ist. Diese Einsamkeit wird verstärkt durch den kreuzgereimten Vers „Kein Kummer ist uns gemeinsam“ (einsam versus gemeinsam) Unklar ist mir selbst die Funktion der Wiederholung in Vers 10 „Komm ich nicht wieder, wieder?“, die unter Umständen als Steigerung (Klimax) gelesen werde könnte und die eine große Anziehungskraft auf die Kinder der dritten Klasse ausübte, was u.U. darauf zurückgeführt werden könnte, dass nach dem ersten „wieder“ die Konjunktion „und“ fehlt („wieder und wieder“). Eine weiter Lesart besteht darin, „wieder, wieder“ als Echo zu lesen. Die Auflösung der in den ersten beiden Strophen entworfenen Geborgenheit wird auch durch den 11. Vers zum Ausdruck gebracht: „Kein Kummer ist uns gemeinsam..“ deutet auf zwei unterschiedliche Welten hin: „Phantastische Traumwelt des Sandmanns (Geborgenheit)“ versus „reale Lebenswelt des Menschen (Einsamkeit)“. Dieser Gegenüberstellung von zwei Welten kann überwunden werden durch das Eintreten des Menschen in die Welt des Sandmanns: „Ich streu euch den Schlaf auf die Lider…“ (Vers 12); die Punkte könnten auch hier die Funktion von semantischen Leerstellen besitzen. Außerdem könnten die Punkte auch graphisch sehr schön die „Sandkörner“ darstellen, die der Sandmann auf die Lider streut ... Strophe 4: Auch die 4. Strophe setzt mit einer Frage ein: „Kam ich spät?“ deutet die Angst des Menschen an, der sich der Sandmann annimmt und gleichzeitig rückfragend versichern könnte, was die Erklärung „Ich muß über Land gehn/und oft an den Kreuzwegen warten“ nach sich ziehen könnte [Kreuzwege als „schmerzensreiche Straße“ Jesus Christus]. Die Kinder sprachen davon, dass sich der Sandmann entscheiden müsse, welchen Kindern er überhaupt das Träumen ermögliche, was m.E. eine erfrischende Deutung der Kreuzwege darstellt. In der 4. Strophe werden außerdem zwei Momente kontrastiv und mit Hilfe des Kreuzreims gegenübergestellt: das „[W]arten“ (V. 14) und „[S]tehn“ (V. 15) für den (Still-)Stand sowie das „[G]ehn“ (V. 13) und die „(purpurnen) Fahrten…“ (V. 16) für die Bewegung; „purpurnen“ deutet darüber hinaus auf die Besonderheit der „Fahrten“ hin, weil die „purpurne“ Farbe im antiken Rom den Kaisern vorbehalten war (= Farbnuance zwischen Rot und Blau, die aus Schalentieren, z.B. Schnecken gewonnen wird). Dieser Vers schlägt einen Bogen zurück zu Vers 7 „Ihr wißt nicht, wie hart meine Fahrt war“, für die sich das Ich „rüsten“ muss. Besonders komplex ist m.E. Vers 15: „bis ihr mich fühlt an der Wand stehn“; nachvollziehbar ist, dass die Standfestigkeit der Wand Gemeinsamkeiten mit dem „[S]tehn“ aufweist. Insgesamt ergibt sich in Bezug auf diesen Vers dann eine interessante Lesart, wenn man sich Folgendes bildlich vorstellt: Das „Ihr“ (der Mensch [Erwachsene und Kinder]) liegt wartend im Dunkel der Nacht und sieht den Sandmann nicht, sondern spürt/ahnt, wie er ins Zimmer kommt und dort an der Wand steht und den Aufbruch/die Reise vorbereitet. Häufig spürt/ahnt der Mensch, dass etwas in der Dunkelheit ist, ohne es zu sehen. 42 Strophe 5: (muss selbstverständlich nicht als Strophe gelesen werden) Die Punkte könnten zum Weiterdenken animieren. Sehr plausibel erscheint mir auch, dass erneut sehr schön die „Sandkörner“ (Schlaf streuen) und der Aufbruch auch graphisch dargestellt werden könnten. Außerdem zählte Corvin, ein Drittklässler aus Worms, während eines Literarischen Unterrichtsgesprächs die Punkte ab und stellte fest, dass die elf Punkte den elf Buchstaben von „Der Sandmann“ entsprechen - - - . Strophe 6: Die letzte Strophe des Gedichts wiederholt mit den mittleren Verspaaren (V. 18 und 19) die Verspaare 2 und 3. Gleichzeitig eröffnet sie insofern neue Lesarten, als die „Stille“ (V. 1) mit dem „Schwindel“ (V. 17) kontrastiert wird. Insofern umklammern Strope 1 und 5/6 das Gedicht sehr deutlich: der Mensch/Leser des Gedichts könnte in der ersten Strophe vom „Sandmann“ unter die Träume geführt werden. Nachdem in den Strophen 2, 3 und 4 Begegnungen mit dem Sandmann (Strophe 2) sowie der nicht „geteilte Kummer“ aufgrund der unterschiedlichen Welten zum Ausdruck gebracht werden könnte (der Text zwingt uns, darüber nachzudenken), ermöglicht uns der Sandmann („das Poetische“) mit seinem Kommen, uns wieder „sorgsam nachhausezuführen“ – das Zuhause könnte, so der Text, nicht „unsere Realität“ darstellen, sondern die Welt des Poetischen (die Realität hingegen einen Ausflug [eine harte Fahrt]). Reflektiert man über die Gesamtheit des Gedichts, dann eröffnen sich u.a. folgende Bedeutungsoptionen: a) Das Gedicht könnte die Einsamkeit des Menschen in der Gesellschaft zum Ausdruck, der er nur in und durch die nächtliche Einsamkeit – und im Traum! – entgehen kann. b) Die Dichtung/Literatur eröffnet dem Menschen – ähnlich wie der Schlaf – das Träumen, um dem alltäglichen Kummer der Welt entgehen zu können. An dieser Lesart fasziniert mich besonders, dass – entgegen alltäglicher Vorstellungen – der Traum das eigentliche Zuhause des Menschen darstellen könnte (V. 20) Frage nach dem Verhältnis von „Traum und Wirklichkeit“ c) Der „Sandmann“ könnte auch als Metapher des Todes gelesen werden, der uns (behutsam) zur letzten großen Fahrt abholt (vgl. Claudius: „Der Tod und das Mädchen“) Impulse für ein Literarisches Unterrichtsgespräch bezogen auf Klasse 3 / 4 Als „elaborierend“ werden im Sinne Bettina Hurrelmanns solche Gesprächsbeiträge verstanden, in denen die PartizipantInnen vom Text ausgehend auf eigene Erfahrungen, Phantasien oder Lektüre-Erinnerungen zu sprechen kommen. Diese Beiträge dienen der Erweiterung und sinnlichen Anreicherung des Gesprächs. Als „strukturierend“ werden solche Gesprächsbeiträge bezeichnet, die wieder stärker zum Text selbst führen, Erkenntnisse im Text bündeln, Beziehungen im Text aufzeigen oder neue Fragen aufwerfen. Diese Beiträge dienen der Konzentration und Textbezogenheit des Gesprächs. Beide Dynamiken sind für den Lernertrag eines Literarischen Unterrichtsgesprächs gleichermaßen wichtig und sollten ggf. behutsam durch die Leitung angeregt werden, um das Gespräch vor Einseitigkeit und Stagnation zu bewahren. Die Anregung kann durch einen authentischen eigenen Beitrag zum Text oder durch eine gezielte Intervention erfolgen. Elaborierende Impulse „Wenn ich ‚Der Sandmann‘ lese, dann überlege ich mir, wie dieser wohl aussehen könnte…“ „In der ersten Strophe kommt der Sandmann ‚wie der Nachtwind‘ (V 1) und ‚auf den Regenschnüren‘ (V 2), um uns ‚lautlos und sacht‘ (V 3) ‚unter die Träume zu führen‘ – mich 43 würde interessieren, woher der Sandmann überhaupt kommt und wo sein Zuhause sein könnte…“ „Der Sandmann scheint zu kommen, um uns ‚unter die Träume zu führen‘ – dieser Vers beschäftigt mich, weil ich einerseits denke, dass wir doch auch alleine träumen können; auf der anderen Seite liege ich manchmal nachts wach und wünsche mir, dass ich endlich einschlafen und träumen kann, aber es will mir einfach nicht gelingen, dann wünsche ich mir auch den Sandmann herbei…– ich würde sehr gerne mit Euch darüber sprechen, ob es Euch manchmal auch so geht…“ „Der Sandmann scheint in der ersten Strophe zu kommen, um uns unter die Träume zu führen – mich beschäftigt daran, warum wir Menschen dazu den Sandmann brauchen…und würden wir uns alle freuen oder fänden wir es vielleicht gar nicht so schön, wenn uns der Sandmann unter die Träume führt…“ oder „Welche Menschen könnten sich überhaupt freuen, dass der Sandmann sie unter die Träume führt…“ „Insgesamt stelle ich mir den Sandmann einerseits als lieben, gemütlichen und alten Mann mit einem langen Bart (V 5) vor; auf der anderen Seite glaube ich, dass er sehr stark ist, weil er ‚eine hart Fahrt ‘ (V 7) hinter sich bringen muss und vielleicht auch die Kraft besitzt, ‚Sterne vom Himmel‘ zu holen (vgl. V 8) – diese unvorstellbare Kraft wirkt auf mich aber auch sehr einschüchternd und vielleicht hätte ich auch Angst, wenn ich dem Sandmann begegnen würde – welche Vorstellungen haben wir…“ „Die ersten drei Verse der 2. Strophe beginnen mit ‚Ihr‘ und ich habe den Eindruck, dass wir angesprochen werden könnten… – vielleicht können wir gemeinsam überlegen, warum der Sandmann uns Menschen anspricht…“ „Ich bin mir etwas unsicher, ob ich mich überhaupt trauen würde, dem Sandmann in sein wehendes Barthaar zu greifen und mit den Sternen zu spielen…“ „Ich denke beim ‚Spiel mit den Sternen‘ (V 8) auch an Sternschnuppen und wenn ich diese vom Himmel fallen sehe, dann ist das für mich etwas ganz Besonderes, weil ich mir dann heimlich etwas wünschen darf…“ „Gleichzeitig finde ich auch, dass Sterne am Himmel bleiben sollten und vielleicht ist das kein gutes Zeichen, wenn sie herabfallen, weil es dann nachts ganz dunkel wäre…“ „Die ‚Fahrt‘ des Sandmanns scheint ‚hart‘ gewesen zu sein (V 7) – wir könnten gemeinsam darüber nachdenken, warum seine Fahrt hart gewesen sein könnte, wo die Fahrt begonnen hat und wohin sie überhaupt geht…“ „In der dritten Strophe werden ja einige Fragen an uns gestellt, die mich besonders beschäftigen: Wenn ich V 9 lese, dann stelle ich mir die Frage, ob wir vielleicht tatsächlich tagsüber einsamer sind als wir manchmal denken…“ „Außerdem frage ich mich, was den Sandmann dazu bewegen könnte, uns Menschen nicht mehr zu besuchen ‚(Komm ich nicht wieder, wieder?‘), was mir auch ein bisschen Angst macht – warum könnte uns der Sandmann das androhen und wie geht es uns mit dieser Vorstellung…“ „Die Fragen, die der Sandmann stellt, verunsichern mich, weil es sich auch so anhört, als ob sich der Sandmann darüber beklagt, dass er so viel für uns Menschen tun muss (Griff ins Barthaar, harte Fahrt, Rechtfertigung einer Verspätung [Kam ich spät, V 13]) – warum könnte er uns diese Fragen stellen und wie wirken sie auf uns…“ „Wir könnten gemeinsam darüber sprechen, warum der Sandmann uns nach diesen seltsamen Fragen ‚Schlaf auf die Lider‘ streut…“ „Ich könnte mir vorstellen, dass sich der Sandmann auch deshalb beklagt, weil er immer nur nachts kommt, wenn wir schlafen und wir uns nicht bei ihm bedanken…“ Im Gedicht ist ja die Rede von ‚Kreuzwegen‘ – wie können wir uns eigentlich solche Kreuzwege vorstellen und warum muss der Sandmann an ihnen warten…“ 44 „Den Vers ‚bis ihr mich fühlt an der Wand stehn‘ (V 15) finde ich besonders schwierig – ich fände es schön, wenn wir gemeinsam darüber nachdenken, welche Wand hier gemeint sein könnte und warum der Sandmann überhaupt an der Wand stehen könnte…“ „Die letzte Strophe erinnert mich wieder an die erste Strophe, weil einige Zeilen wiederholt werden – wir könnten gemeinsam über unsere Ideen sprechen, warum uns schwindelig sein könnte…“ „In der ersten Strophe könnte uns der Sandmann abholen, um uns unter die Träume zu führen, in der letzten Strophe führt er uns nach Hause – wir könnten darüber sprechen, ob wir uns überhaupt wünschen würden, uns vom Sandmann unter die Träume führen (1. Strophe) zu lassen und ob wir nicht lieber bei ihm bleiben würden anstatt uns nach Hause führen zu lassen…“ Strukturierende Impulse: „Mir ist gleich zu Beginn des Gedichts unklar, warum es mit „Stille:…“ beginnt. Ich frage mich, wer das Wort ‚Stille‘ sagt und warum es überhaupt gesagt wird…“ „In V 1 steht, dass jemand oder etwas ‚wie der Nachtwind‘ kommt und dann auch noch auf den ‚Regenschnüren‘ und mit ‚lautlosen und sachten Schritten‘ – ich frage mich, wie jemand ‚wie der Nachtwind‘ und auf ‚Regenschnüren‘ kommen kann und ob dadurch nicht die Träume und der Schlaf gestört werden…“ „Ich finde es eine schöne Vorstellung, mit den Sternen spielen zu können, wobei ich mich frage, was das bedeuten könnte…“ „Ich fände es schön, wenn wir gemeinsam darüber sprechen würden, warum der Sandmann wie der ‚Nachtwind‘ und außerdem noch auf ‚Regenschnüren‘ kommen könnte…“ In der ersten Strophe ist ja die Rede von ‚lautlosen‘ und ‚sachten Schritten‘ – diese Stelle finde ich schwierig, weil ich nicht genau weiß, wessen Schritte hier überhaupt gemeint sind…“ „Der Sandmann spricht in der 2. Strophe von einer ‚harten Fahrt‘: Ich würde gerne mit Euch gemeinsam darüber sprechen, warum er eine ‚harte Fahrt‘ haben könnte und wo könnte seine Fahrt begonnen haben und wo könnte sie enden…“ Der 10. Vers ‚Komm ich nicht wieder, wieder‘? faszinierte die Kinder in meinen Gesprächen sehr, wobei mir gerade dazu, kein fruchtbarer Impuls einfällt – vielleicht: „Ich habe selbst schon darüber nachgedacht, warum das ‚wieder‘ wiederholt werden könnte – mich würde interessieren, welche Ideen und Einfälle wir dazu haben und vielleicht können wir dadurch diese wirklich sehr rätselhafte Stelle etwas besser verstehen…“ (Hinweise auf das Echo des Sprechens oder eine Wiederholung, die eine steigernde Wirkung haben könnte, scheinen mir zu lenkend zu sein) „Der Sandmann scheint sich ja für ‚purpurne Fahrten‘ extra ‚rüsten‘ zu müssen – ich frage mich, warum er sich dafür rüsten (Ritterrüstung) muss und warum es sogar edle, purpurne Fahrten sind…“ „In den Strophen 2, 3 und 4 sind nach einigen Versen unterschiedlich viele Punkte – ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, warum die Punkte gesetzt wurden und warum es manchmal zwei und manchmal drei sind…“ ( wohl eher am Ende des Gesprächs) „Die Punkte im Gedicht könnten andeuten, dass hier etwas fehlt, was wir vielleicht mit unserer Phantasie/Einfällen ergänzen müssen…“ Unter Umständen böten sich auch folgende Impulse an (wobei sie nur dann eingebracht werden sollten, wenn sich in Ihnen tatsächlich auch Eure eigenen Fragen an den Text widerspiegeln, wobei die Kinder vermutlich diese Fragen – oder ähnliche – irgendwann selbst während des Gesprächs einbringen werden): a) „Mir sind beim Lesen die zahlreichen Punkte im Text aufgefallen, die ja auch wie Sandkörner aussehen – ich frage mich, ob der Sandmann die Körner vielleicht verloren 45 haben könnte oder ob sie von ihm vielleicht auch absichtlich auf das Gedichtblatt gestreut wurden, wobei mir nicht klar ist, was wir mit ihnen anfangen sollen…“ b) „Mir ist aufgefallen, dass nach der 4. Strophe sogar mehrere Punkte gesetzt wurden und diese Punkte beschäftigen mich sehr: Ich würde gerne mit Euch gemeinsam darüber nachdenken, warum die Punkte dort stehen…– welche Ideen haben wir dazu…“ c) „Vielleicht könnten die Punkte signalisieren, dass an diesen Stellen etwas im Text fehlt und ich würde es schön finden, wenn wir darüber sprechen, was es wohl sein könnte…“ d) Als ich mich zu Hause auf das Gespräch vorbereitet habe, habe ich auch immer wieder über die Punkte in den einzelnen Strophen und vor allem nach der 4. Strophe nachgedacht – irgendwann ist mir eingefallen, dass das Gedicht ja auch „Der Sandmann“ heißt und dass der Sandmann Sand auf die Augen der Menschen streut, sodass sie einschlafen. Manchmal denke ich mir deshalb, dass die Punkte vielleicht die Sandkörner des Sandmanns sein könnten, wobei ich mich dann frage, warum sie dann ausgerechnet auf dem Papier zu sehen sind…“ „In der 4. Strophe könnte es sein, dass sich jemand beim Sandmann beklagt hat, weil er vielleicht zu spät gekommen ist, wobei ich mir die Frage stelle, wohin, warum und zu wem er überhaupt zu spät gekommen sein könnte…“ „Unter den Kreuzwegen, an denen der Sandmann warten muss, stelle ich mir eine Kreuzung vor, von der vier Wege in unterschiedliche Richtungen abgehen: Ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, warum der Sandmann an den Kreuzwegen warten muss und wohin die Wege gehen könnten…“ „Beim Lesen fällt mir auf, dass die 11 Punkte für mich eine Strophe sind – vielleicht können wir gemeinsam darüber nachdenken, was in dieser Strophe stehen könnte…“ „Nach der 4. Strophe stehen 11 Punkte und mir ist aufgefallen, dass „Der Sandmann“ 11 Buchstaben sind – wir könnten darüber sprechen, was sich verändert, wenn wir anstatt der 11 Punkte „Der Sandmann“ einsetzen…“ „Die letzte Strophe erinnert mich auch an die erste Strophe – wir könnten darüber sprechen, warum die Strophen ähnlich sind und worin sie sich unterscheiden…“ „Am Ende des Gedichts ist davon die Rede, dass uns ‚schwindelig‘ ist und wir könnten gemeinsam darüber reden, von wann uns denn schwindelig geworden sein könnte…“ „In der letzten Strophe scheint uns der Sandmann nach Hause zu führen, wobei mir selbst nicht klar ist, wo wir überhaupt mit ihm gewesen sein könnten und warum er uns wieder nach Hause führt…“ 46 Peter Härtling fundevogel 1 fundevogel, lieber reim: siebenschlaf und honigseim – plötzlich wacht der segen auf, zögern ist sein lebenslauf. 5 dort wo andre länger wachen, wacht er mit und schlitzt das lachen. dort wo andre länger träumen, hilft er, reisen zu versäumen. find den vogel, lieber reim: 10 letzter schlaf und fliegenleim – keiner spielt mehr, keiner lacht, jeder hat sein nichts gedacht. auf dem reim nachhausgeritten – fundevogel, kleines glück. 15 niemand wird den vogel bitten: laß dich finden, komm zurück! 47 1 Philologischer Befund 1.1 Quellenlage und Einordnung Quelle: Härtling, Peter: Gesammelte Werke. Band 8: Gedichte. Hg. von Klaus Siblewski. Köln: Kiepenheuer & Wisch 1999, S. 596 ED in: Lyrik aus dieser Zeit 1963/64. Zweite Folge. Hg. von Kurt Leonhard und Karl Schwedhelm. München, Esslingen: Bechtle 1963 [Q: GW Band 8, S. 686, dort ohne Seitenangabe] Das Gedicht gehört zur Gruppe der „Verstreuten Gedichte“, die Härtling in keine der frühen Gedicht-Sammlungen aufgenommen hat. Der Erstdruck erfolgt gemeinsam mit dem Gedicht widerworte (GW Band 8, S. 595). Sie entsprechen in Diktion und Intention der Lyrik Härtlings jenes Jahrzehnts, von der er sich nach dem Erscheinen des Gedichtbandes Spielgeist Spiegelgeist (1962) allmählich entfernt und sich dem Roman nähert. Es handelt sich um Gedichte sprachspielerischen Charakters, wobei „Spiel“ durchaus mit Ernsthaftigkeit und sogar Bitterkeit verbunden sein kann. Damit fügt sich das Gedicht in eine zeitgemäße Tendenz der Nachkriegslyrik, die auch Dichter in der und um die Gruppe 47 pflegen. Auch die konsequente Kleinschreibung ist eines der Merkmale, mit denen Dichter dieser Generation für die Lyrik eine neue Wirkungsweise und die auch sichtbare Ablösung von der Tradition intendieren. Die zum Teil – auch bereits in der reform-orientierten Jugendbewegung der zwanziger Jahre – vehement erhobene Forderung nach konsequenter Kleinschreibung im Deutschen hatte immer auch linkspolitische und pädagogische Implikationen (Arbeiterbildung), da die Kleinschreibung als Erleichterung des Zugangs zur Schriftsprache galt. In der aktuellen sprachdidaktischen Diskussion ist diese Annahme zugunsten der Unterscheidung in Vereinfachung beim Schreiben, aber Erschwernis beim Lesen differenziert worden. 1.2 Formale und strukturelle Merkmale Das Gedicht besteht aus vier gleichmäßigen Strophen mit je vier Versen. Die Verse sind durchgehend gereimt und metrisch gebunden. Jeder Vers ist ein syntaktisch abgeschlossenes Kolon; sie bilden in den Strophen 1 und 3 je einen Satz, in den Strophen 2 und 4 je zwei Sätze. 1.2.1 Metrisches Schema Es handelt sich durchwegs um vierhebige Trochäen Die Verse der Strophen 1 und 3 enden katalektisch (mit der Hebung, also stumpf) Die Verse der Strophe 2 enden akatalektisch (mit der Senkung, also klingend) Die Verse der 4. Strophe enden alternierend akatalektisch und katalektisch 1.2.2 Reimschema Die Strophen 1 bis 3 werden durchlaufend als Paarreime a – a – b – b etc. gereimt Die Strophe 4 bietet den Kreuzreim g – h – g – h Das Reimwort „reim“ kommt insgesamt zweimal auf: V 1 und V 9 (e1 = a1) und zieht jeweils ein anderes Reimwort nach sich: V 2 „honigseim“, V 10 „fliegenleim“. Das Reimwort „lachen“ erscheint einmal im Infinitiv (V 6) und einmal in der 3. Pers. Sg. Präs. (V 11), geht aber jeweils mit einem anderen Reimwort einher: V 5 „wachen“, V 12 „gedacht“. 1.2.3 Lexik Beginnend mit dem Märchennamen „fundevogel“ (Titel, V 1, V 14) enthält das Gedicht einige nicht-lexikalisierte Wörter und Wortfügungen, so zum Beispiel „siebenschlaf“ (V 2), „nachhausgeritten“ (V 13), „schlitzt das lachen“ (V 6). „fliegenleim“ kennt das DWB, wenn auch ohne Beleg, nicht jedoch das DUW; die Ableitung von dem mit Leim beschmierten Fliegenfänger und der Redewendung „jemandem / etwas auf den Leim gehen“ liegt nahe. Die Wörter weisen auf den ersten Blick sowohl in ihrem Einzelgebrauch als auch in ihren Fügungen eine gewisse „semantische Leere“ auf, die einer näheren interpretatorischen Untersuchung bedarf. 1.2.4 Sprechsituation Die Sprecherstimme des Gedichts tritt nicht personalisiert in Erscheinung; sie hat gewissermaßen eine „auktoriale“ Position inne, da sie nicht nur anreden und beschreiben, sondern auch innere Motive erkennen kann: „niemand wird den vogel bitten“ (V 15f.). Es gibt kein „Ich“ des Gedichts, wohl aber ein mögliches „Du“, wenn man die Verse 1 und 9 als Anrede auffasst, wobei unbestimmt 48 bleibt, wer oder was genau der Adressat der Anrede ist. Das „dich“ in Vers 16 ist nicht die Anrede durch die Sprechstimme selbst, sondern die imaginierte Anrede des Vogels durch „niemand“. 1.2.5 Stoff- und Motivgeschichte Mit dem Titel gebenden Namen fundevogel, der außerdem zweimal im Gedicht genannt wird (V 1, V 14), zitiert Härtling die gleichnamige Märchenfigur: Der Fundevogel in den Grimm’schen Märchen (KHM 51) ist ein kleiner Junge, der seiner Mutter von einem Raubvogel gestohlen und in eine Baumkrone entführt wird. Nach seiner Rettung durch einen Förster erhält das Kind den Namen „Fundevogel“, wächst mit des Försters Tochter Lenchen zusammen auf und besteht in enger Verbundenheit mit ihr („Verlässt du mich nicht, so verlass ich dich auch nicht“ – „Nun und nimmermehr“) die drei Angriffe auf sein Leben durch die böse Köchin. Der Name „Fundevogel“ ist singuläres Sondergut dieses Märchens und kommt laut DWB und der Stichwortsuche in allen Bänden der Digitalen Bibliothek nur dort vor; es wird ihm keine weiter gehende Bedeutung zugewiesen. Das Zaubermärchen ist der Motivgruppe „magische Flucht“ zuzuordnen (AaTh 313). Hinsichtlich der mythologischen Hintergründe lassen sich Beziehungen zum Vogel Phönix erkennen, der als Symbol für Sterben und Wiedergeburt gilt. Von ihm reichen Verbindungen zurück zum altägyptischen Totengott Benu, der in der Gestalt eines Reihers mit langem Schopfgefieder dargestellt wurde. Als Zugvogel kehrt er im Frühjahr aus dem Überwinterungsgebiet zurück und verkörpert so den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt („stirb und werde“) [Hart, George: Ägyptische Mythen. Stuttgart: Reclam 1993, S. 22-24]. Unter den modernen Verarbeitungen des Stoffs treten drei kinderliterarische Versionen hervor: Peter Härtlings Der andere Fundevogel (ED 1988) ist eine bittere, entmythologisierte Märchenparodie, in der das ausgesetzte Kind Opfer eines nahezu alles vernichtenden Krieges ist; zusätzlich zur aktualisierenden Szenerie thematisiert die Parodie auch die Märchenform selbst und veranlasst die Kinder am Ende, „dem Märchen zu entrinnen, [um] Menschen zu werden.“ Die Märchenparodie findet sich auch in dem von Peter Härtling herausgegebenen Sammelband mit dem beziehungsreichen Titel Fundevögel, der zahlreiche Kurzgeschichten unterschiedlicher Autoren enthält [Der andere Fundevogel. In: Fundevögel. Geschichten zum Wieder- und Wiederlesen. Für Kinder von neun bis neunzig. Hg. von Peter Härtling. Stuttgart: Radius 1991, S. 96-98]. Auch Janoschs Märchenparodien (EA 1972) enthalten eine Fundevogel-Version. In ihr lernt der von einem Bussard geraubte Junge das Fliegen und bringt es nach seiner Rückkehr zu den Menschen auch der Tochter des Försters bei, sodass sie beide am Ende gemeinsam davonfliegen und sich ihr „Paradies“, „ein Nest auf einem hohen Baum“, bauen können [Der Fundevogel. In: Janosch erzählt Grimm’s Märchen. Weinheim, Basel: Beltz 1991, S. 174-176]. Im Jugendroman Fundevogel oder was war, hört nicht einfach auf (Weinheim, Basel: Beltz 1994) erzählt Cordula Tollmien die Geschichte des Mädchens Elisabeth, das nach dem Kriegsende in die Trümmerstadt Dresden kommt und sich dort auf eine Spurensuche nach Menschen und Träumen begibt. 1.3 Sekundärliteratur Spezifische Sekundärliteratur zu diesem Gedicht lässt sich nicht ermitteln. Nutzbar sind jedoch allgemeine literaturwissenschaftliche Beiträge zur frühen Lyrik Härtlings. 2 2.1 Bedeutungspotential (literaturwissenschaftliche Kommentare) Gesamtwürdigung Das hervorstechende Merkmal des Gedichts ist sein sprachspielerischer Charakter. Damit greift Härtling eine Tendenz seiner Zeit zum experimentellen Gedicht auf, für das vor allem Hans Arp und Kurt Schwitters als Inspiration und Auslöser zu nennen sind. Auch andere Gedichte und Gedichtsammlungen Härtlings der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind unterschiedliche Realisierungen des Spiels mit der Sprache, in dem unterschiedliche und zum Teil gegenläufige Intentionen zu erkennen sind. Das Sprachspiel Härtlings ist zum einen durch „das Musikantische“ geprägt [KLLG 1980, Bd. 2, S. 140], ein Spiel mit Klängen um der Klänge willen, die auch in fundevogel zu „hören“ sind. Zugleich hat der Spielcharakter der Gedichte alles Kindliche und Harmlose hinter sich gelassen: In Härtlings Gedichten dieser Zeit werde „Zukunft, Erwachsenensein und damit das Ende der kindlichen Spielwelt in Härtlingscher Manier 49 vorbereitet und ‚durchgespielt‘, ernsthaft, ein bißchen unter Tränen“, weil „diese Zeit (…) vielen mitgespielt (hat)“ [ebd.]. In seinen Gedichten bekennt sich Härtling nochmals zu dem, was ein Gedicht für ihn zum Gedicht macht: sein kunstvoller Bau. Allerdings durchzieht diese Hingabe an den Geist des Spiels auch eine feine Melancholie: Härtling weiß, daß er am Ende der literarischen Entwicklung angekommen ist, deren wesentliches Element er nochmals und damit ein letztes Mal feiert. [Klaus Siblewski: Nachwort. In: Härtling GW, Bd. 8, S. 669] Damit stellt sich das Gedicht auch in jene literarische Tradition, die nach dem Grauen des Nationalsozialismus aller überhöhenden Symbolik, aller glatten Formsprache eine Absage erteilt, um entweder die Möglichkeiten der Sprache, unter der schönen Oberfläche dem Verbrechen Lüge zu dienen, zu entlarven, oder eine neue Sprache der Wahrhaftigkeit zu finden. Ein Kindergedicht und doch kein Gedicht für Kinder, oder, um es poetisch mit Härtling zu sagen: „das kind spielt: ich bin alt“ [Härtling: Olmütz 1942 – 1945 (Gedicht 1962)]. In fundevogel wird die kindliche Erlebnis- und Spielfähigkeit, „alt zu spielen“, für einen gleichermaßen artistisch unbeschwerten wie sehr ernst zu nehmenden Zweck genutzt. So wie die kindlichen, semantisch leeren Auszählverse wie „lirum larum löffelstiel“ oder „ene mene mu“ einerseits die Leichtigkeit des Daseins artikulieren und doch andererseits etwas von der existentiellen Dimension des Dazu- oder Nichtdazugehörens, des Lebens (Flucht und Versteck) oder Sterbens (gefangen und abgeschlagen werden) in sich bergen: so spannt auch das Gedicht fundevogel ein widersprüchliches Netz von schwankenden Bedeutungen auf, deren „Sinn“ nicht hinter diesem Schwanken zu vermuten ist, sondern in ihm besteht. Das beginnt mit der nicht restlos zu klärenden Frage nach dem Verhältnis von „fundevogel“ und „reim“. Im gesamten Verlauf des Gedichts werden Widersprüche erzeugt, indem Erwartungen aufgebaut und in der nächsten Wendung unterlaufen werden; einige charakteristische Beispiele sind: aufwachen – zögern – lebenslauf (V 3 / 4); das lachen schlitzen (V 6); etwas zu versäumen helfen (V 8); sein nichts denken (V 12); niemand wird um Rückkehr bitten (V 15 f.). Das Gedicht stellt sich in Form und Gehalt als Auseinandersetzung mit dem Reim dar; es handelt sich also um ein in hohem Maße selbstreferentielles Gedicht, das sich das Dichten selbst zum Thema nimmt. Das Wort „reim“ taucht dreimal auf, zweimal im Verbund mit dem Adjektiv „lieb“ als „lieber reim“ (V 1, V 9), einmal in einer Semipersonalisierung als Reittier, was auf Pegasus anspielt („auf dem reim nachhausgeritten“, V 13). Mit dem „reim“ zusammen tritt immer der „fundevogel“ (V 1, V 14) bzw. der „vogel“ (V 9, V 15) auf, wobei weder die Identität zwischen „(funde-)vogel“ und „reim“ noch zwischen „fundevogel“ und „vogel“ gewiss ist. V 1 und V 13 / 14 legen eine Identität nahe, V 9 lässt eher vermuten, dass sie zwei unabhängige Figuren sind. Vom Reim lässt sich sagen, dass er zum einen das „Erwartete“ ist, wenn Menschen einem Gedicht begegnen, wobei die im Gedicht realisierten Reimschemata (wie auch das trochäische 13 Metrum) zu den einfachen Formen der Kinderverse gehören. Hinzu kommt, dass die verwendeten Reime alle sehr konventionell sind; bemerkenswerter Weise wird für das Leitwort „fundevogel“ kein Reim gesucht, was auch ausgesprochen schwierig wäre (außer „*mogel“ käme nur ein reicher Reim wie „bringe uns die kunde, vogel“ in Frage). Zum anderen gilt der Reim, vor allem in der Moderne, als das Mittel der Glättung und Anpassung, dem die „Wahrheit der Kunst“ jedoch nicht mehr unterworfen werden soll. Der Reim steht unter Kitsch-Verdacht; der erwartbare, ungebrochene und längst standardisierte Reim zumal; der Reim als Leim. Er kann nur so eingesetzt werden, dass er sich selbst konterkariert: Der Reim führt die Wörter nicht zur Höhe ihrer Bedeutsamkeit, sondern entkleidet sie ihrer. Dies entspricht auch der Tendenz zur „Bedeutungsverdünnung“, die in der Arpschen Tradition angelegt ist [KLLG, Bd. 2, S. 143]. So kann eine Lesart des Gedichts in einer kategorischen (wenn auch melancholischen) Absage an den Reim bestehen, in der der Reim zwar formal noch einmal realisiert, semantisch jedoch bedeutungsentladen wird – niemand wird ihn bitten, zurückzukommen, er spielt nur noch seine 13 Der bekannte Kinderbuchautor Jürg Schubiger schreibt in seinem Gedicht Rezept: „Was braucht’s für ein Gedicht? / Ein Wort, das reimt, mehr nicht. / Der Reim ist das, was leimt. / So gibt sich Schicht um Schicht. / Als Schlusswort wäre Specht nicht schlecht. / Viel schöner aber ist Habicht.“ [Schubiger, Jürg: Der Wind hat Geburtstag. Mit Illustrationen von Wiebke Oeser. Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2010, S. 40] 50 Rolle als Klangschmuck, hat aber als Bedeutungsträger ausgedient. Eine andere Lesart lässt stärker die Sehnsucht nach den Möglichkeiten des Reims hervortreten: das zwar kleine, aber eben doch spürbare Glück des Gleichklangs, die Verzögerung des Sprachflusses in der gebundenen Sprache, die durch die Suche nach dem passenden Reimwort – im Gegensatz zur Prosa – das Träumen und Verweilen der Sprache mit sich bringt, sodass die ausbleibende Bitte nach der Auferstehung des Reims als Klage gelesen werden kann. In dieser Doppeldeutigkeit flattert der „fundevogel“ durch das Gedicht, indem er Wunscherfüllung und Wunschzerstörung zugleich verkörpert – gleichermaßen als frecher und destruktiver Kobold und als Paradiesvogel der Sehnsucht auf ewige Wiederkehr. 2.2 Strophen und Verse im Einzelnen 2.2.1 Strophe 1 (V 1): Der „fundevogel“ wird mit dem „lieben reim“ assoziiert, beide müssen „gefunden“ werden, bevor der Text vorangehen kann. (V 2): Die Konnotation des Schlafs und der Wiedergeburt des Fundevogels klingt auch in „siebenschlaf“ mit der Anspielung an die Heiligen Siebenschläfer und ihre Auferweckung an. „honigseim“, der direkt aus der Wabe träufelnde dünne Honigsaft, gehört in seiner übertragenen Bedeutung in die Gruppe jener Redensarten, mit denen ein süßes Gerede halb beifällig, halb ironisch kommentiert wird: ‚seine Rede fließt wie Honigseim von seinen 14 Lippen‘. In einem Gedicht von Ludwig Uhland wird sogar dieselbe Reimfolge „*reim – *seim“ 15 verwendet: „Doch fließet ihm wie Honigseim / Zum alten Spruch manch neuer Reim.“ (V 3): Das Adverb „plötzlich“ erschafft eine Erzählsituation mit einer Vorher-Nachher-Struktur: Inmitten des einschläfernden Dahinplätscherns geschieht etwas Unerwartetes. Antagonistisch zum „siebenschlaf“ erwacht, wie nach langem Winter- oder Todesschlaf, „der segen“ – ein Aktionswort, das eigentlich nicht zu „Segen“ passt, es sei denn, man verwendete das Wort in seiner ironischen redensartlichen Verwendung im Sinne von böser Bescherung (‚der ganze Segen kam herab‘). (V 4): Statt nun seine eigentlich „segensreiche“ Wirkung zu entfalten, nämlich Fruchtbarkeit und Gedeihen zu befördern, bringt der „segen“ ein „zögern“ mit sich – wobei das maskuline Possessivpronomen „sein“ auch auf alle anderen maskulinen Nomina der 1. Strophe zurückverweisen könnte. Denkbar ist, dass sich angesichts des selbstreferentiellen Charakters des Gedichts die Verse der 1. Strophe auch als Beginn eines dichterischen Schreibprozesses lesen lassen: Zunächst liegen die Einfälle wie im Schlaf und müssen durch eine Initialzündung ins Fließen gebracht werden. Der Reim kann dies bewirken, indem er die Sehnsucht des einen Endklangs zu seinem Reimwort weckt: „verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht“. Der kreative Prozess erwacht „plötzlich“, aber er nimmt seinen „(lebens)lauf“ nicht holterdiepolter, sondern „zögern(d)“. 2.2.2 Strophe 2 Die Strophe besteht aus zwei Sätzen, die in der Struktur „Nebensatz – Hauptsatz“ auf die Verse 5 und 6 sowie 7 und 8 aufgeteilt sind. Beide Sätze enthalten eine lokale Bestimmung, die jeweils mit „dort wo“ eingeleitet wird; in diesem „dort“ tun „andre“ etwas recht Gegensätzliches jeweils „länger“ – nämlich „wachen“ und „träumen“ –, aber es bleibt ungesagt, in Bezug worauf dies „länger“ geschieht. Insofern könnte der Komparativ auch in seiner verstärkenden Funktion als „ziemlich lange“ verstanden werden („ich bin heute Nacht länger wachgelegen“, „ich habe schon länger auf dich gewartet“). In diesem „dort“ handelt ein „er“; dieses Personalpronomen regiert die beiden Sätze, wobei die Kohärenz fragil ist, weil sich das Bezugsnomen auch hier nicht eindeutig bestimmen lässt. Am plausibelsten erscheint die Referenz auf den „fundevogel“ als Titelgestalt. (V 5 und 6): Das längere Wachen rückt erneut die Situation des Dichters ins Blickfeld, der schlaflos über sein Blatt gebeugt sitzt – eine Allusion an das Dichtergenie, das den Musenkuss herbeisehnt. In dieser Wartesituation wacht das „er“ mit und vollzieht mit dem „lachen“ eine recht destruktive oder provozierende Handlung, indem „er“ es „schlitzt“. Lachen und Schlitzen haben semantisch einen Bezugspunkt: die Kehle, aus der das Lachen kommt (‚er lacht aus voller 14 Vgl. Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Hg. von K. F. W. Wander. Darmstadt WBG 1964, Lemma: Honigseim. 15 Die Geisterkelter [1834]. In: Ludwig Uhland. Werke. München: Winkler 1980, Bd. 1, S. 202. 51 Kehle‘) und die der Meuchelmörder aufschlitzt (‚dem Opfer wurde die Kehle aufgeschlitzt‘). Die Dramatik wird allerdings unterlaufen durch die Konnotation „schlitzohrig“, die eher eine schelmische und spielerische Komponente mit sich bringt. In unserem Literarischen Gespräch sprachen wir auch darüber, dass wir selbst beim Lesen des Verses zugleich auch über ihn lachen bzw. dass er uns zum Grinsen verleitet, was sich jedoch kaum mit dem gewaltsamen „Schlitzen“ vereinbaren lässt. Gleichwohl bleibt einem bei diesem Sprachbild das Lachen im Halse stecken. (V 7 und 8): Das längere Träumen veranlasst das „er“, zum Versäumen von Reisen zu verhelfen. Auch hier bleibt unentschieden, ob das „versäumen“ eher zur destruktiven Geste des „Verhinderns“ neigt oder ob es ein „Verweilen“ möglich macht, indem der Aufenthalt im Traumland verlängert wird – über diese beiden Optionen sprachen wir, indem wir der Frage nachgingen, ob die Strophe eher das Gefühl von „Stille“ oder von „Unruhe“ in uns generiert. Beide Optionen, das Verhindern und das Verweilen, spielen als einander bedingende Dynamiken des kreativen Prozesses (verweilen, träumen – aufbrechen, reisen) ineinander. 2.2.3 Strophe 3 Der Übergang zwischen 2. und 3. Strophe bildet die Mittelachse des Gedichts. Diese Funktion wird verstärkt durch die Analogiebildung zwischen V 1/2 und V 9/10, die formal bis zu den Satzzeichen und den Reimklängen hin identisch aufgebaut sind. Ausgetauscht werden der (wahrscheinliche) Vokativ „fundevogel“ (V 1) durch den Imperativ „find den vogel“ (V 9), der auf Erweckung zielende „siebenschlaf“ durch den kommenden „letzte[n] schlaf“ sowie der nährende „honigseim“ durch den todbringenden „fliegenleim“ – der Tod tritt an die Stelle des Lebens. Der „(funde)vogel“ scheint abhandengekommen zu sein; der „reim“ soll ihn wiederfinden, weil sonst (V 11) das Spiel endet und das Lachen verstummt. Dass „jeder sein nichts gedacht“ hat (V 12) bezieht – wie das „keiner“ in V 11 – uns Leser mit ein und könnte uns darauf verweisen, dass wir uns gedankenlos von Reim und Klang durch das Gedicht bzw. die Dichtung tragen lassen oder dass es nichts wert ist, was wir uns zu diesem Gedicht bzw. die Dichtung denken oder dass wir die entlastende Lizenz erhalten, nur unser „nichts“ denken zu müssen, zumal das Gedicht selbst jede Denkanstrengung in Richtung „Konstruktion von Sinn“ konsequent ver-nichtet. In unserem gemeinsamen Literarischen Gespräch haben wir außerdem vom Vers „jeder hat sein nichts gedacht“ (V 12) eine Verbindung zurück zum Vers „hilft er reisen zu versäumen“ (V 8) der 2. Strophe hergestellt, da wir über den Stellenwert des Nichtstuns in unserer Gesellschaft sprachen, das in vielen Kontexten sehr verpönt ist. 2.2.4 Strophe 4 Die Verse 13 und 14 können sich als Satz so auflösen lassen: Der Fundevogel, das kleine Glück, ist auf dem Reim nach Hause geritten und in Sicherheit. Es könnte aber auch unser Ritt auf dem Reim in das sichere Zuhause unserer Erwartungen sein, in dem wir den bunten Vogel der ewigen Wiederkehr des Gleichklangs zu unserem Glück vorfinden. Es ist kein großes Glück, weil ihm jede Überraschung abgeht; das Erwartete erfüllt unsere Sehnsucht nur in begrenztem Maße. Der Ritt auf dem Reim – statt auf dem Flügelpferd der Inspiration – hat etwas von Bändigung und von Endzeit: Die Assoziation „zu Tode geritten“ liegt nahe; Fundevogel ist in sein Grab („letzter schlaf“) zurückgekehrt. Die abschließenden Verse 15 und 16 lassen sich ebenfalls mindestens in zweierlei Weise lesen: Als positive Aussage oder sogar Appell, dass niemand den Vogel des Reims bitten wird und soll, wiederzuerstehen wie Phönix aus der Asche; es kann nach diesen Zeiten keine Wiederbelebung des alten glatten Gleichklangs geben. Oder aber als Nachruf, in dem sowohl Melancholie als auch Bedauern mitschwingen, dass die Zeiten einer (vermeintlich) unbeschwerten Dichtkunst ein für allemal vorüber sind. 2.3 Abschlusskommentar Das Gedicht stellt mehr Fragen an uns, als wir beantworten können. Lesen wir es vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund, kann es als eine dichterische Auseinandersetzung mit der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Lyrik nach Auschwitz aufgefasst werden. Ohne den (literar)historischen Kontext lassen sich wirkungsästhetische Spuren in der Kontrastierung von Erwartung und Enttäuschung, im provozierenden Umgang mit Wortbedeutungen und im parodistischen Umgang mit kulturellen Traditionen entdecken. Die formale Einlösung der Regeln des Kindergedichts steht in Spannung zur Reihung der Sprachbilder, die zunächst weder kindlich noch kindgemäß wirken. Andererseits entspricht gerade das Überschreiten oder Unterlaufen realistischer Referenzmodelle den Dimensionen des kindlichen Spiels, in dem Phantasiewelten, 52 provozierendes Leugnen vernünftiger Strukturen und sprachliche Bricolage wesentliche Komponenten der Erfahrung sind. Hieraus ergibt sich der hohe Alteritätsgrad des Gedichts: Es besteht aus einer Reihe von Verfremdungs- und Irritations-Effekten, die sich sowohl formal in der Struktur des Gedichts als auch semantisch in seinem Wort- und Satzgebrauch zeigen. Damit entzieht sich das Gedicht dem unmittelbaren Verstehen und zeigt uns hinter der Maske des scheinbar Vertrauten (Metrum, Reim, Strophen) ein „fremdes“ Gesicht. Es hält nicht, was es verspricht, macht aber „Funde“ möglich, die es zunächst nicht zu versprechen scheint. Die Spiel- und Findebewegung, die das Gedicht auslöst und selbst ist, gleicht einer versäumten Reise – einem surrealen Traum. 3 3.1 Bildungspotential (literaturdidaktische Kommentare) Ein Kindergedicht (nicht) für Kinder Für das Gedicht fundevogel von Peter Härtling lassen sich zahlreiche Bildungsoptionen aus den literaturwissenschaftlichen Kommentaren ableiten. Die meisten davon scheinen jedoch an die literarhistorische Bedeutsamkeit des Gedichts anzuknüpfen, was die Integration in den schulischen Literaturunterricht stark einschränken würde. Bildungsoptionen für jüngere Schülerinnen und Schüler müssen sich jedoch aus den unmittelbaren Wirkungsdimensionen des Gedichts ableiten lassen, in denen die Lernenden dem Gedicht als einem ästhetischen Ereignis begegnen können. Gleichwohl ist nicht zu vernachlässigen, dass es sich bei diesem Text um ein bedeutendes Gedicht handelt, dessen Tiefenstrukturen sich womöglich Lernenden der Grundschule nicht kognitiv erschließen, zu denen sie aber nach und nach sinnliche Zugänge erlangen können. Da das Gedicht in seinem dekonstruktivistischen Duktus auch für erfahrene Leserinnen und Leser kein vertrautes und leicht erschließbares Terrain bietet, sind Erwachsene und Kinder dem Text ähnlich nah und fern – sie können sich partnerschaftlich in ihm als einem Rätsel begegnen, für das niemand einen passenden Schlüssel parat hat. In seiner ästhetischen Gestalt und seiner literarischen Bedeutung handelt es sich zudem um einen literarischen Text, mit dem die Beschäftigung „lohnt“ und der in sich ein Stück Vermittlung jener Kultur repräsentiert, die nach Nazi-Zeit und Zweitem Weltkrieg für die Literatur neues Leben und neue Wertigkeit wiedergewinnen wollte – auch wenn sich diese Bedeutungsoption nicht einfach erschließt. Für jüngere Kinder, um die es in diesem Zusammenhang geht, stehen der Charakter des Sprachspiels und die antagonistische Struktur im Vordergrund. Das Sprachspiel eröffnet die bildungsrelevante Möglichkeit, sich als Sprachsubjekt im freien Gebrauch von Lautfügungen zu erleben, die nicht primär auf logische Verständigung, sondern auf Klangwirkung und Aktion ausgerichtet sind. Gerade der Reim als Klangspiel ist für Kinder sehr leicht zugänglich. Muttersprachler erleben schon sehr früh das Vergnügen am Finden von sinnvollen und sinnlosen Reimwörtern; für Kinder mit anderem Sprachhintergrund sind Reime willkommene Möglichkeiten, mit dem Sprachklang des Deutschen vertrauter zu werden oder ihre erstsprachlichen Reimklänge einzubringen. In dieser Hinsicht erfüllt das Gedicht die Kriterien der „Einfachheit“. Maria Lypp betont wiederholt die enge Verwandtschaft von kindlicher Sprachwelt und eine durch „einfache“ Regeln strukturierte Literatursprache. In ihrem Beitrag Literarische Bildung durch Kinderliteratur stellt sie die Verbindung zwischen Mündlichkeit, Regelhaftigkeit und ästhetischen Grundformen als Ebene der literarischen Bildung für kindliche Leserinnen und Leser her: Wenn Kinderliteratur an Mündlichkeit anknüpft […] orientiert sich die Sprache des Kinderbuchs an der poetischen Formelhaftigkeit und Stilisierung, die die orale Erzählkunst überliefert. Oft sucht die Kinderliteratur zwischen beiden ihren Weg. Dann entsteht eine kinderliterarische Rede, die Mündlichkeit zwar zitiert, aber sie durch Rhythmisierungen, 16 Parallelismen, Wiederholungen etc. fest in den (Kunst-)Griff nimmt. In dieser Hinsicht erfüllt Peter Härtlings Gedicht die Erwartungen an bildungsrelevante Literatur für Kinder, auch wenn es sich hierbei intentional nicht um spezifische Kinderliteratur, aber doch um „doppelt adressierte“ Lyrik handelt. Der Sprachduktus zitiert proto- und kinderliterarische Forme(l)n, Lexik und Semantik überschreiten jedoch die engen Grenzen kinderliterarischen 16 In: Peter Conrady (Hg.): Literatur-Erwerb. Kinder lesen Texte und Bilder. Frankfurt a.M.: dipa, 1989, S. 75. 53 Themen und eröffnen ein surreales Bedeutungsspektrum. Mindestens drei Aspekte sind dabei für kindliche Lernende bedeutsam, wobei diese didaktische Vereinfachung legitim, da im Gedicht selbst angelegt ist: sie können die von keiner Wort- oder Satzsemantik festgelegten Bedeutungsoptionen sprachspielerisch und imaginativ umkreisen, ohne damit einen vorgegeben „Sinn“ zu verfehlen, sie können die Kreationen des Gedichts durch eigene Kreationen ausgestalten und sie können als gleichberechtigt mit Erwachsenen dem Gedicht begegnen, da hier jeder nur „sein nichts“ denken kann und jeder Ansatz einer fixierenden Interpretation den dekonstruktivistischen Duktus des Gedichts verfehlen würde. Diese drei Optionen machen es möglich, dass Kinder sich als „Meister“ der Sprache erleben und in einen gleichberechtigten Dialog mit dem Gedicht, miteinander und mit den Erwachsenen eintreten können. Die Keckheit oder Frechheit des „fundevogels“ kann Kinder dazu ermutigen. Auch der andere Aspekt, die antagonistische Struktur des Gedichts, in der Erwartetes durch eine Gegenbewegung unterlaufen oder in Frage gestellt wird, bietet Kindern einen Erfahrungsraum, um mit Widersprüchen umzugehen. Sie erleben, dass Gegensätze in der Realität oft schmerzlich sein, in der Literatur aber auch eine Einheit eingehen können, ohne deswegen zu verschwinden. Die Lyrik bietet gerade für solche Erfahrungen besondere Sprachmöglichkeiten an, die Kinder sich aneignen, indem sie sie imitieren und allmählich adaptieren können. 3.2 Impulse für ein Literarisches Unterrichtsgespräch bezogen auf Klasse 3 / 4 Als „elaborierend“ werden im Sinne Bettina Hurrelmanns solche Gesprächsbeiträge verstanden, in denen die PartizipantInnen vom Text ausgehend auf eigene Erfahrungen, Phantasien oder Lektüre-Erinnerungen zu sprechen kommen. Diese Beiträge dienen der Erweiterung und sinnlichen Anreicherung des Gesprächs. Als „strukturierend“ werden solche Gesprächsbeiträge bezeichnet, die wieder stärker zum Text selbst führen, Erkenntnisse im Text bündeln, Beziehungen im Text aufzeigen oder neue Fragen aufwerfen. Diese Beiträge dienen der Konzentration und Textbezogenheit des Gesprächs. Beide Dynamiken sind für den Lernertrag eines Literarischen Unterrichtsgesprächs gleichermaßen wichtig und sollten ggf. behutsam durch 17 die Leitung angeregt werden, um das Gespräch vor Einseitigkeit und Stagnation zu bewahren. Die Anregung kann durch einen authentischen eigenen Beitrag zum Text oder durch eine gezielte Intervention erfolgen. 3.2.1 Elaborierende Impulse Sollte ein Kind einbringen, dass es das Märchen Fundevogel kennt, kann man es bitten, kurz zu erzählen, was der Fundevogel in diesem Märchen ist (ohne das ganze Märchen zu erzählen) Unabhängig davon ist ein Impuls möglich: „Ich fände es interessant, wenn wir uns mal erzählen, wie wir uns diesen Fundevogel vorstellen – wie groß er ist, welche Farbe er hat, wie er zu seinem Namen kam“ „Ich fände es interessant mit Euch darüber zu sprechen, ob es ein fröhliches, ein eher trauriges oder sogar ein freches Gedicht ist… (und wie kommen wir eigentlich darauf…)“ „Ich stelle mir den Fundevogel als etwas ganz Kostbares vor, das ich nicht verlieren möchte; sonst wäre ich sehr traurig und würde mir große Mühe geben, es wieder zu finden.“ „Wenn wir uns vorstellen, wir würden auf einem Reim herumreiten, könnten uns glaube ich ganz viele Reimwörter begegnen, die zu dem Gedicht passen …“ Impulse, die eher auf einzelne Strophen Bezug nehmen (aber selbstverständlich auch rückwirkend auf Strophen oder auf das ganze Gedicht bezogen werden können) „Ich habe das noch nie gehört, dass jemand das ‚lachen schlitzt‘ und ich kann mir das auch nur schwer vorstellen…“ 17 Die von Hubert Ivo genannten Gesprächsdynamiken „plaudern“ und „verkünden“ weisen in eine ähnliche Richtung. 54 „Also ich würde mich glaube ich ärgern, wenn ich mich auf eine Reise vorbereitet habe und die dann versäume – aber manchmal habe ich auch gar keine Lust aufzubrechen und würde lieber noch ein bisschen länger vor mich hin träumen…“ Unter Umständen sogar als weiterführender Impuls: „Ich habe schon zu Hause/im Vorfeld darüber nachgedacht, ob das Gedicht mich auch zum Träumen ermuntert/verführt. Träumen kann sehr schön sein, aber manchmal sagt man ja auch: ‚Du bist aber verträumt!‘. Wenn wir hier gemeinsam über das Gedicht sprechen, dann sprechen wir ja über unsere Vorstellungen (z.B. zum ‚fundevogel‘; dann träumen wir ja sozusagen auch vor uns hin); ich frage mich deshalb auch, ob wir gleichzeitig vielleicht etwas verträumt sind und sogar etwas versäumen, wobei mir nicht klar ist, was es ist oder welche Reise wir versäumen könnten…“ „Am Ende des Gedichts sagt jemand, dass ‚auf dem reim nachhausegeritten‘ wird (V 13) und dass der ‚fundevogel‘ nur ‚kleines glück‘ (V 14) hat und dass niemand den vogel bitten wird, sich finden zu lassen und zurückzukommen (V 15 f.) – ich selbst kann mich nicht wirklich entscheiden, ob ich mich freue, dass der fundevogel kleines Glück hatte und niemand den vogel bitten wird, zurückzukommen: Einerseits finde ich das alles doch sehr frech, andererseits macht mir das gerade auch Freude…“ 3.2.2 Strukturierende Impulse Die Kinder werden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bereits schon zu Beginn des Gesprächs bemerken, dass der Text auf die Großschreibung verzichtet („alles falsch“ etc.): „Vielleicht können wir zusammen darüber nachdenken, warum alles klein geschrieben wurde…“ oder: „Wir wissen ja, welche Wörter man groß oder klein schreibt. Wir können gemeinsam darüber nachdenken, warum/wann wir Wörter einfach klein schreiben würden, obwohl wir wissen, dass es falsch ist…“ (z.B. um jemanden zu ärgern usw.) In meinem Gespräch sprachen wir häufig davon, dass ‚er‘ dieses und jenes macht; auch hierzu bietet sich ein Impuls an: „Wir sagen ständig, dass ‚er‘ das ‚lachen schlitzt‘ usw., aber wer ist denn eigentlich ‚er‘, wen meinen wir denn damit überhaupt…“ „Jemand in diesem Gedicht sagt ja zum Reim zweimal: lieber Reim (V 1, V 9). Wie kann denn ein Reim lieb sein? Kann er auch böse sein?“ „Bei ‚schlitzt das lachen‘ denke ich irgendwie auch an ein „Schlitzohr“ und somit auch an ‚etwas Freches‘, das uns zum Lachen bringt (und einige von Euch/wir lachen ja auch) – ich würde gerne mit Euch gemeinsam darüber nachdenken, über was wir eigentlich lachen und warum wir darüber überhaupt lachen... “ „Gleichzeitig könnten wir mit dem ‚Schlitzen des Lachens‘ auch eine ‚böse Handlung‘ verbinden, weil das fröhliche Lachen ‚zerstört‘/‚geschlitzt‘ wird…“ „In der zweiten Strophe ist ja die Rede vom Träumen und das ‚er‘ hilft, ‚reisen zu versäumen‘: Manchmal sagt man ja auch ‚Man/Du ist/bist etwas verträumt‘ oder auch ‚Du bist abgelenkt‘ – obwohl ich hier genau aufpasse und ja auch mit Euch über das Gedicht spreche, fällt mir auf, dass es mich auch irgendetwas beim Lesen ablenkt/ich auch etwas verträumt sein könnte…Mich würde interessieren, wie es Euch geht und woran das liegen könnte…“ „Beim Lesen frage ich mich, wer denn ‚andre‘ im 5. und 7. Vers überhaupt sind… irgendwie fühle ich mich selbst auch angesprochen und ich frage mich, ob ich gerade verträumt bin und welche Reise ich versäumen könnte…“ „Am Anfang des Gedichts kommt es mir so vor, als würde der Fundevogel so ganz langsam und gemächlich aus seinem Siebenschlaf aufwachen, wie ein Bär oder ein Siebenschläfer nach dem Winterschlaf. Aber irgendetwas passiert dann (‚plötzlich‘), dass er verloren geht und der Reim ihn wiederfinden soll. Lasst uns doch mal gemeinsam darüber nachdenken, was da wohl passiert sein könnte.“ „In der dritten Strophe heißt es, dass ‚keiner mehr spielt und keiner mehr lacht‘ und dann sogar ‚jeder hat sein nichts gedacht‘ – vielleicht können wir zusammen darüber nachdenken, warum jetzt auf einmal niemand mehr lacht (oben wird das Lachen ja zumindest ‚noch‘ geschlitzt). Ich denke, dass sich irgendetwas verändert haben könnte und vielleicht können wir gemeinsam darüber nachdenken…“ 55 „Bei dem Vers ‚jeder hat sein nichts gedacht‘ ist mir beim Lesen aufgefallen, dass es bei diesem Text tatsächlich ganz schwierig ist, sich etwas Konkretes/Genaues vorzustellen oder zu denken – wir könnten gemeinsam darüber nachdenken, woran das wohl liegen könnte…“ „Ich fände es spannend, wenn wir einmal darüber nachdenken, weshalb niemand den Vogel bitten wird: lass dich finden, komm zurück! Wäre es nicht schade, wenn der Vogel für immer verschwunden wäre? Oder sind wir eher froh, wenn wir ihn los sind?“ „Ich würde gerne mit Euch über mögliche Gründe nachdenken, warum sich das Gedicht 18 ausgerechnet in der letzten Strophe anders reimen könnte…“ 4 Didaktische und methodische Anschlüsse Für die Weiterführung der vom Gedicht angeregten Aspekte in folgenden Unterrichtsstunden gibt es mehrere Anschlussmöglichkeiten. Zum einen lässt sich die Fundevogel-Thematik entfalten. Hierzu wäre es denkbar, rezeptiv weitere Fundevogel-Geschichten mit den Kindern zu lesen: Das Grimmsche Märchen oder eine der Märchenparodien von Härtling und Janosch oder auch eine thematisch verwandte Kindererzählung wie Der blaue Falke von Jürg Schubiger. Im ProduktionsAnsatz böte es sich auch an, eigene Phantasiegeschichten vom Fundevogel zu entwickeln. Bedeutsam wäre hier das Herausarbeiten des kulturell traditionsreichen „Stirb-und-Werde“Motivs, das dem „Verlieren und Wiederfinden“ hinterlegt ist (es klingt schon im frühkindlichen Spiel des „guck-guck – da-da“ an und geht dort mit großem Glücksgefühl einher). Zum anderen bieten auch die Gedichtstrukturen Optionen zur Weiterführung an. Hier ist es möglich, den Anreiz zum Finden von Reimwörtern zu nutzen und das Gedicht mit eigenen Reimwörtern zu erweitern oder umzuschreiben. Wer mutig ist, kann auch „böse“ Reime suchen – etwa im Sinne von Robert Gernhardts Versen: „Der Reim / Muss bleim!“ Auch das Nutzen der Rhythmik bietet sich an – sei es in einem verrapten Sprechgesang, sei es mit klanglicher Untermalung, die auch die atmosphärisch unterschiedlichen Klang-Farben der Strophen umsetzt. Weitere sprachspielerische oder Nonsense-Gedichte könnten in den Unterricht einbezogen werden, um den Kindern den Zugang zu diesem phantastisch-komischen Sprachgebrauch zu eröffnen. Ein surrealistischer Text wie der Jabberwocky aus Lewis Carrols Alice hinter den Spiegeln wäre für lesegeübte LehrerInnen als Lese- und Hörspaß und als gemeinsames Suchspiel eine schöne Herausforderung [http://www.carroll-jabberwocky.de/html/carroll4.html]. 18 In meinem Gespräch zum fundevogel brachten die Kinder Überlegungen hierzu ein, die durchaus auf die oben skizzierten Aspekte (vgl. Kap. 3.2.4) Bezug nehmen: Der Fundevogel, der für die Kinder der Reim ist, sei „halt erwischt worden, vielleicht wurde er sogar angeschossen, woran er gestorben sein könnte“ (letzter schlaf) und deshalb „macht der Reim das hier am Ende eben halt auch anders“. 56 Else Lasker-Schüler Mein blaues Klavier 1 Ich habe zu Hause ein blaues Klavier Und kenne doch keine Note. Es steht im Dunkel der Kellertür, Seitdem die Welt verrohte. 5 Es spielten Sternenhände vier – Die Mondfrau sang im Boote – Nun tanzen die Ratten im Geklirr. Zerbrochen ist die Klaviatür ....... Ich beweine die blaue Tote. 10 Ach liebe Engel öffnet mir – Ich aß vom bitteren Brote – Mir lebend schon die Himmelstür – Auch wider dem Verbote. 57 Textdeutungsrahmen zu „Mein blaues Klavier“ (Else Lasker-Schüler) Aufbau: 5 Strophen unterschiedlicher Länge; Reim: reine Reime [alle sechs b-Reime (Note, verrohte, Boote, Tote, Brote, Verbote)]; bei den a-Reimen lassen sich reine (Klavier [V.1], vier [V. 5] und mir [V. 10]) von identischen (-tür) und unreinen (-klirr) Reimen unterscheiden (Kellertür (V. 3), Klaviatür (V. 8) und Himmelstür (V. 12)]. Auffallend: „Nun tanzen die Ratten im Geklirr“ (V. 7) = lässt sich als unreiner Reim oder als Assonanz oder als Waise deuten dieser Vers bildet auch die Mittelachse des Gedichts, weshalb ihm auch eine besondere Bedeutung zukommen könnte. Metrum: Unregelmäßige Daktylen mit Auftakt, die in Jamben übergehen. Strophe 1: „Mein blaues Klavier“ könnte zwei Aspekte von Dichtung in sich aufnehmen: Die Farbe „blau“ steht symbolisch (v.a. seit der Romantik; vgl. „blaue Blume“) für die unendliche Sehnsucht des Menschen nach (künstlerischer) Freiheit (blau Himmel), eine Freiheit, die der Mensch v.a. in der Dichtung erleben und zum Ausdruck bringen kann. Die blaue Blume symbolisiert auch die synästhetische Vollkommenheit der Naturpoesie in Dichtung, Musik und Malerei. Die poetische Sprache der Dichtung entspricht auch dem Erklingen der Melodien, die auf dem „blauen Klavier“ gespielt werden könnten. Diese Sehnsucht nach Freiheit und dem uneingeschränkten, dichterischen Schaffensprozess könnte in Vers 2 zum Ausdruck gebracht werden: Ein Ich hat „zu Hause“ ein „blaues Klavier“, wobei es selbst „doch keine Note“ kennt (darin könnte sich auch die Sehnsucht offenbaren, irgendwann Noten zu kennen, um auf dem Klavier überhaupt spielen zu können). Strophe 2: Dieses Klavier „steht im Dunkel der Kellertür,/Seitdem die Welt verrohte“ (V.3 f.), woraus sich zwei Lesarten entwickeln lassen: Zum einen bietet der Keller Schutz vor der „verrohten Welt“, d.h. vor weiterer Zerstörung – das blaue Klavier wird als eine Kostbarkeit geborgen. Zum anderen könnte das Klavier im Keller stehen, weil im alltäglichen Leben und „auf der Welt“ für das Schöne der Kunst (Musik, Dichtung, Bildende Kunst; Töne, Melodien, literarische Sprache etc.) kein Platz mehr ist bzw. sich dafür niemand mehr interessiert – das blaue Klavier wird in den Keller „entsorgt“; das „Verrohen der Welt“ deutet diese Verwahrlosung an, die in der Vergangenheit (Seitdem die Welt verrohte, V 4) einsetzte, wohingegen die Verse 1-3 im Präsens stehen. Strophe 3: Vers 4 (Strophe 2) und Vers 5 und 6 (Strophe 3) nehmen auf die Vergangenheit Bezug: Es liegt nahe, dass in der Vergangenheit die „vier Sternenhände“ auf dem Klavier spielten, wobei das Klavierspielen – wie oben bereits angedeutet – nicht unbedingt wörtlich zu lesen ist: es könnte symbolisch für den ästhetischen Schaffens- bzw. Produktionsprozess einstehen, dessen Resultat reizende Klänge (Musik) oder wohlgeformte Sprache (Dichtung) darstellen könnte. Wichtig scheint hierbei zu sein, dass V 4 („Seitdem die Welt verrohte“) einen zurückliegenden Zeitpunkt markiert, zu dem ein Bruch stattfand. Im Gegensatz dazu scheinen V 5 und V 6 (Strophe 3) auf eine unbestimmte Zeit davor zu verweisen, nämlich eine Art „goldenes Zeitalter“ vor diesem Zeitpunkt („Bruch“), in dem „vier Sternenhände spielten“ und „die Mondfrau im Boote sang“. Mit dem Vers „Es spielten Sternenhände vier“ (V. 5) assoziiert man schnell ein Paar (Mutter – Kind; Liebende, Freunde, Geschwister). Das gemeinsame Musizieren auf dem Klavier könnte sich ganz allgemein auf das gemeinsame Dichten, das Nachdenken über Sprache oder auch das Vorlesen (Mutter-Kind) beziehen (Kommunikationsformen, die Kunst insgesamt erfahrbar machen bzw. zum Erklingen bringen). Das Spiel der Sternenhände und der Gesang der Mondfrau schließen an die alten Mythologien der kosmischen Harmonie, der „Sphärenmusik“ an: http://www.rodurago.net/index.php?site=artikel&link=kosmischerklang&rck=5147baa9786444ad01d419f2a96af1f5 http://de.wikipedia.org/wiki/Sph%C3%A4renharmonie#Mythisches_Konzept Das ‚Spiel der vier Sternenhände‘ könnte vom Gesang der ‚Mondfrau‘ (V 6) begleitet werden. Unter Umständen könnte der Gesang im Boot auch eine Flussfahrt über den Fluss Styx 58 andeuten, ein literarisches Motiv, das auf die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten hinweist (der erste Gedichtband Else Lasker-Schülers heißt ‚Styx‘). Mit dieser Lesart könnte man eine Brücke schlagen zum 9. Vers („Ich beweine die blaue Tote“) sowie zur letzten Strophe: der Bitte des Ich, ‚lebend schon die Himmelstür‘ (V 12) durchschreiten zu dürfen. Des Weiteren könnte man mit dem Vers „ – Die Mondfrau sang im Boote – “ (V 6) folgendes Bild assoziieren: Ein Boot treibt mit einer singenden Mondfrau in der Mitte eines Sees oder in einem ruhigen strömenden Fluss, wobei die blaue Farbe des Wassers symbolisch für die Kunst stehen, das Treiben mit dem Boot auf der Mitte des Sees könnte das Zentrum der Kunst zum Ausdruck bringen. Unter Umständen könnte dieses Boot mit der Mondfrau sogar untergehen. Diese Lesart würde der 9. Vers stützen: „Ich beweine die blaue Tote“ (der Verlust des Gegenübers, aber auch die Beschädigung des Klaviers). Der Literaturwissenschaftler Michael Braun erkennt im „Spiel der vier Sternenhände“ und der Begleitung durch den Gesang der blauen Toten Erinnerungen an die vertraute Mutter-KindDyade, nach der sich das Text-Ich zurücksehnt. Diese vertraute und gleichzeitig märchenhafte Beziehung wird dann durch den 7. Vers (im Präsens) durchbrochen: „Nun tanzen die Ratten im Geklirr.“ (zu den Besonderheiten dieses Verses siehe oben); der Kontrast wird durch die Klangwörter Klavier spielen und singen auf der einen Seite und klirren auf der anderen Seite verstärkt. Der Gehalt des Gedichtes kippt demnach an der Mittelachse in Bedrohung und Zerstörung um. Die Bedrohung und Zerstörung ist auch metrisch erkennbar, da die anfänglichen „langsam ausschwingenden“ Daktylen (betont – unbetont – unbetont) nach und nach in kurze Jamben (unbetont – betont) übergehen. Insgesamt bleibt offen, wer die ‚tanzenden Ratten‘ (Personifizierung) sind; es ist anzunehmen, dass diese auch an der ‚Verrohung‘ der Welt teilhaben und diese gebührend feiern, indem sie im Geklirr (dem angerichteten Scherbenhaufen) einen Freudentanz aufführen. Strophe 4: Bei der Klaviatür (eigentlich: Klaviatur) sind zwei Lesarten möglich: Zum einen könnte die Veränderung zu „-tür“ dem Reim geschuldet sein. Zum anderen handelt es sich auch um ein Sprachspiel, das auf die „Tür zum Klang“ und zur „Melodie“ verweist (diese Lesart entwickelten auch Kinder der dritten Klasse). Die „Klaviatür“ ist nun zerbrochen, das Spielen von Melodien, das Träumen, das die Kunst eröffnet, wird zerstört/ist nicht mehr möglich: „Zerbrochen ist die Klaviatür …….“. Die Zerstörung der Kunst/Träume und die daraus resultierende Sprachlosigkeit und Stille sowie das Verstummen der Melodie könnte durch die sieben Punkte zum Ausdruck gebracht werden: Das ‚blaue Klavier‘ und somit auch die (Produktion von) Dichtung werden unterbunden bzw. massiv beschädigt und zerstört. Dieser Zerstörung könnte mit dem 9. Vers Nachdruck verliehen werden: Das Ich ‚beweint die blaue Tote‘, wobei die ‚blaue Tote‘ zum einen 19 auf die ‚Mondfrau‘ , zum anderen auch als Verweis auf das ‚blaue Klavier‘ gelesen werden kann. Strophe 5: Die letzte Strophe setzt sodann mit einer Klage ein: „Ach liebe Engel öffnet mir“ (V. 10); das „bittere Brot“ als Bestandteil des Pessach-Rituals erinnert laut Braun an die Sklaverei der Juden in Ägypten und den Auszug (Exodus) von dort. Die letzten beiden Verse können entweder als Wunsch gelesen werden, zumindest gedanklich dem ‚Hier und Jetzt‘ (der Realität) auch „wider dem Verbote“ frühzeitig zu entfliehen, weil, wie es im 5. Buch Mose heißt, „Gott allein der Herr über Leben und Tod“ ist. Einige Kinder lasen die letzte Strophe auch als Selbst-Vergiftungsversuch („bitteres Brot“), um der scheußlichen Welt frühzeitig zu entkommen. Gleichzeitig ist es durchaus möglich, den Eintritt in den Himmel (Himmelstür) nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit dem Bereich der ästhetischen und grenzenlosen Freiheit zu assoziieren, den die Kunst eröffnet. diese Lesart erscheint insofern plausibel, als Gemeinsamkeiten zwischen der „Himmelstür“ und der „Klaviatür“ sowohl auf formaler (-tür-Reim) als auch auf semantischer (Himmel = blau; Klaviatür des „blauen“ Klaviers) Ebene ausgemacht werden können. 19 Das Bild der Mondfrau im Boot hatte die Dichterin scheinbar nach einer Palästinareise gefunden. Dort gibt es keinen Mann im Mond: das hebräische Wort „Lewana“ ist weiblich. 59 Reflektiert man über die Gesamtheit des Gedichts, dann eröffnen sich u.a. folgende Bedeutungsoptionen: a) Das Gedicht bringt mit zum Teil phantastischen und/oder märchenhaften Metaphern (Spiel der vier Sternenhände, Mondfrau, blaues Klavier) die Schönheit der Dichtung (Kunst) im Sinne des romantischen Kunstideals zum Ausdruck – und somit auch der Möglichkeit, sich von ihr zum Träumen animieren zu lassen und in eine andere Welt einzutauchen. Diese Möglichkeiten könnten durch das Zerbrechen der „Klaviatür“ (Gewalt, Stümperei in der Welt etc.) zerstört werden, wobei das Gedicht nicht nur in eine traurige, sondern zugleich auch in eine verlockende und traumhafte Endung einmündet: in das Öffnen der Himmelstür (‚Freiheit‘ oder in ‚die Welt der Kunst‘). b) Das „blaue Klavier“, die „spielenden Sternenhände“, der „Gesang der Mondfrau“, aber auch das „Tanzen der Ratten im Geklirr“ nehmen Bezug auf die Musik und somit auch auf die klingende und kunstvoll gestaltete Dichtung. Gleichzeitig eröffnet das Gedicht dem Leser auch eine intensive Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen: den eigenen Wünschen („Was wäre ‚mein‘ blaues Klavier?, „Wer und was könnten – bezogen auf mein Leben – ‚die tanzenden Ratten‘ sein?“ usf.). c) Das Gedicht kann insgesamt auch als Versprachlichung der Sehnsucht nach einer engen Beziehung (Mutter-Kind-Beziehung, Liebesbeziehung) oder als melancholische Erinnerung daran gelesen werden, die mittlerweile zerstört wurde (Trennung, Tod). Impulse für ein Literarisches Unterrichtsgespräch bezogen auf Klasse 3 / 4 Als „elaborierend“ werden im Sinne Bettina Hurrelmanns solche Gesprächsbeiträge verstanden, in denen die PartizipantInnen vom Text ausgehend auf eigene Erfahrungen, Phantasien oder Lektüre-Erinnerungen zu sprechen kommen. Diese Beiträge dienen der Erweiterung und sinnlichen Anreicherung des Gesprächs. Als „strukturierend“ werden solche Gesprächsbeiträge bezeichnet, die wieder stärker zum Text selbst führen, Erkenntnisse im Text bündeln, Beziehungen im Text aufzeigen oder neue Fragen aufwerfen. Diese Beiträge dienen der Konzentration und Textbezogenheit des Gesprächs. Beide Dynamiken sind für den Lernertrag eines Literarischen Unterrichtsgesprächs gleichermaßen wichtig und sollten ggf. behutsam durch die Leitung angeregt werden, um das Gespräch vor Einseitigkeit und Stagnation zu bewahren. Die Anregung kann durch einen authentischen eigenen Beitrag zum Text oder durch eine gezielte Intervention erfolgen. Anmerkung zum Vorgehen: Insgesamt denke ich, dass es sinnvoll wäre, die Textlupen drei Mal während des Gesprächs zu verschieben: In einem ersten Schritt könnte mit den Kindern über die ersten beiden Strophen (V 1 – V 4) gesprochen werden – vielleicht kann deshalb die Lupe an der Seite auch zwischen den ersten beiden Strophen angeklemmt werden, dann Strophe drei und vier und am Ende könnten die Lupen neben der letzten Strophe positioniert werden. Ansonsten wäre das Vorgehen (zweitweise würde man ja nur über 2 Verse sprechen) m.E. schon sehr kleinschrittig. Am Ende könnte man mit den Kindern wieder über das Gedicht in seiner Gesamtheit sprechen. Unter Umständen bietet es sich an, es deshalb auch nochmal vorzulesen. Impulse: Anmerkungen: Wenn die Kinder nicht nachfragen sollten, was ‚wider‘ bedeutet, und sie nicht den Unterschied zwischen „wider/wieder“ bemerken, sollte es erklärt werden, weil man ihnen ansonsten eine wichtige Bedeutung des Gedichts vorenthalten würde; ähnlich verhält es sich mit ‚verroht‘ (vgl. dazu v.a. Impuls 5 bei den „elaborierenden Impulsen“, siehe unten) 60 Elaborierende Impulse Strophe 1 und 2: „Das Gedicht erzählt von einem Ich, dem ein blaues Klavier gehört, aber es kann keine Noten lesen. Das finde ich seltsam, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie man ohne Noten schön Klavier spielen kann.“ „Wenn ich mir das blaue Klavier so vorstelle, dann fallen mir selbst Sachen ein, die ich zu Hause habe oder die ich gerne hätte, obwohl ich nicht so ganz richtig damit umgehen kann, zum Beispiel XXX (u.U.: – wie geht es Euch damit...“) „Lasst uns doch mal ein paar Dinge / Einfälle sammeln, was wir gerne zu Hause hätten, auch wenn wir es gar nicht so richtig nutzen können, und was uns Freude daran machen würde.“ „Vielleicht ist das blaue Klavier ja gar kein richtiges Klavier, sondern ein Bild für etwas besonders Schönes oder Ausgefallenes, das wir uns wünschen …“ „In der 4. Zeile steht so ein ganz besonderes Wort. Das ist auch für mich sehr ungewöhnlich zu lesen: die Welt ‚verrohte‘. Vielleicht können wir mal unsere Einfälle zusammentragen, was es bedeuten könnte, dass die ‚Welt verroht‘...“. „Mich macht es schon traurig, dass das blaue Klavier im Dunkel der Kellertür‘ (V 3) steht. Aber wenn ich mir vorstelle, dass es dort vielleicht in Sicherheit gebracht worden ist, weil in der verrohten Welt Krieg ausgebrochen ist, bin ich auch wieder ganz erleichtert...“ Strophe 3 und 4: „Wenn ich so ein ausgefallenes Wort wie ‚Sternenhände‘ oder ‚Mondfrau‘ höre, habe ich gleich ein paar Phantasien, wie die wohl aussehen könnten. Vielleicht geht es ja mehreren von uns so …“ „Lasst uns mal gemeinsam uns ‚tanzende Ratten‘ vorstellen und darauf achten, wie wir uns dabei fühlen …“ „Ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, wie wir uns fühlen, wenn die ‚Klaviatür‘ und das ‚blaue Klavier‘ zerbrochen werden…“ Strophe 5: „Ich würde gerne mit Euch darüber sprechen, wann / in welchen Situationen sich denn ein Mensch wünschen könnte, in den Himmel zu kommen, obwohl er noch lebt…“ „Die letzte Strophe finde ich einerseits sehr traurig, weil das Ich schon so früh in den Himmel möchte; andererseits kann ich mir auch vorstellen, dass es ihm dort vielleicht auch besser geht… (weil die Welt verroht etc.)“ „Die letzten beiden Verse stimmen mich besonders nachdenklich, weil ich es sehr spannend finde, die Himmelstür zu durchschreiten. Aber ich hätte glaube ich auch ziemlich viel Angst, nicht mehr zurückzukommen… – mich würde interessieren, wie es euch mit dieser Vorstellung geht…“ 61 Strukturierende Impulse Strophe 1 und 2: „Das Gedicht erzählt von einem Ich, das ein blaues Klavier besitzt. Ich habe noch nie ein blaues Klavier gesehen, immer nur schwarze oder braune oder weiße. Dieses Klavier stelle mir ganz himmelblau vor – aber ich weiß nicht, ob das stimmt und weshalb es wohl so blau ist.“ „Lasst uns doch mal Ideen sammeln, warum das Ich in diesem Gedicht zu Hause ein ‚blaues Klavier hat, obwohl es keine Noten kennt…“ „Ich würde gerne mit Euch herausfinden, warum das blaue Klavier im ‚Dunkel der Kellertür‘ stehen könnte…“ „Ich frage mich, ob das Ich im Gedicht das blaue Klavier in den Keller stellt, weil es ihm nicht mehr gefällt oder weil es das Klavier in Sicherheit bringen möchte…“ „Wenn ich die ersten beiden Strophen lese, dann finde ich es sehr traurig, ein schönes blaues Klavier in einen dunklen Keller zu stellen, wo es ja von niemandem gesehen werden kann (und wo es vielleicht auch dreckig ist und nur altes Gerümpel herumsteht). Gleichzeitig könnte das Klavier ja gerade dort sicher sein, weil ja auf der Welt sehr viel zerstört wird…“ Unter Umständen müsste ‚verrohen‘ auch erklärt werden: Selbstverständlich ist es möglich, dass ein Kind danach fragt: Vielleicht wäre es sinnvoll, die Frage zunächst an die Gruppe zurückzuspiegeln („Der/die XY hat ja gefragt, was ‚verrohen‘ bedeutet und vielleicht kann das ja ein/e Textdetektiv/in erklären…“) wenn dies nicht der Fall ist, dann sollte es die Leitung erklären Strophe 3 und 4: „Den 5. Vers finde ich besonders spannend, weil ich das Wort ‚Sternenhände‘ so schön finde. Aber ich verstehe nicht ganz, weshalb es ‚Sternenhände‘ sind, die hier spielen und wessen Hände hier überhaupt gemeint sein könnten…“ „Eine „Mondfrau“ habe ich noch nie gesehen, aber bestimmt können wir gemeinsam herausfinden, was eine ‚Mondfrau‘ ist und warum sie in einem ‚Boot singt‘…“ „Irgendwie macht mich der Vers ‚Nun tanzen die Ratten im Geklirr‘ (V 7) ziemlich ratlos, weil ich nicht weiß, warum auf einmal die ‚Ratten im Geklirr tanzen‘…“ „Lasst uns doch mal gemeinsam Einfälle sammeln, warum die Ratten einen Tanz aufführen und ob es ein lustiger oder ein gefährlicher Tanz ist…“ „Das Wort „Klaviatür“ finde ich sehr seltsam und wir könnten darüber sprechen, was eine ‚Klaviatür‘ überhaupt sein könnte…“ Unter Umständen: Ich kenne nur die ‚Klaviatur‘, nämlich die Tasten am Klavier und ich frage mich, warum hier aber von der ‚Klaviatür‘ die Rede ist…“ „Ich würde gerne mit Euch darüber nachdenken, ob die ‚tanzenden Ratten‘ (Strophe 3) auch etwas mit der ‚zerbrochenen Klaviatür‘ (Strophe 4) zu tun haben…“ „In V 8 heißt es ‚Zerbrochen ist die Klaviatür …….‘. Wenn sie zerbrochen ist, hat sie ja vielleicht jemand absichtlich oder aus Versehen kaputt gemacht. Das würde ich schon gern mit euch herausfinden…“ Unter Umständen werden die Kinder auf die 7 Punkte nach ‚Klaviatür …….‘ aufmerksam: „Der/Die XY hat ja die Punkte bemerkt und wir könnten mal gemeinsam überlegen, warum sie dort stehen …“ 62 Selbstverständlich ist es auch möglich, hierzu einen Impuls einzubringen: „Mir fallen die vielen Punkte nach dem Wort Klaviatür auf. Ich habe sie mal gezählt – es sind sieben. Aber ich habe nur eine Vermutung, weshalb sie da stehen. Vielleicht sollen wir über den Vers weiter nachdenken oder uns vorstellen, dass hier etwas fehlt, weil die ‚Klaviatür‘ zerbrochen ist und keine Töne mehr hervorbringt…“ „Der Vers ‚Ich beweine die blaue Tote‘ klingt ja so, als wäre das Ich sehr traurig. Aber so ganz verstanden habe ich noch nicht, was ‚die blaue Tote‘ ist, über die es weint. Vielleicht ist es das blaue Klavier oder es ist die Mondfrau oder vielleicht ist es noch etwas oder jemand anderes. Das könnten wir vielleicht gemeinsam mal untersuchen...“ Strophe 5: „Ich würde gerne mit Euch darüber nachdenken, warum das Ich im Gedicht die Engel bittet, ihm die Himmelstür zu öffnen, obwohl es ja noch lebt…“ (V 12: „Mir lebend schon die Himmelstür“) „In der letzten Strophe wundert es mich sehr, dass das Ich im Gedicht auf einmal ‚bitteres Brot‘ (V 11) gegessen hat. Bitteres Brot – ich weiß gar nicht, ob es das gibt und warum man das essen sollte. Wie geht es Euch, wenn Ihr diese Strophe lest…“ (Die Fremdheit des Verses in dieser Strophe wird auch durch die Gedankenstriche zum Ausdruck gebracht unter Umständen könnten sie die Kinder auch irritieren, was selbstverständlich auch zum Gegenstand des Gesprächs gemacht werden kann: „Der/Die XY wundert sich ja über die Striche und wir können uns mal gemeinsam fragen, warum sie dort stehen könnten…“ 63