10 Jahre Soteria: Psychosebegleitung und Milieutherapie

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10 Jahre Soteria: Psychosebegleitung und Milieutherapie
HAUS IM PARK
10 JAHRE
SOTERIA
PSYCHOSEBEGLEITUNG
UND MILIEUTHERAPIE
03
10 Jahre
Soteria 11/2013
04
10 Jahre
Soteria 11/2013
Inhalt
10 Jahre Soteria ❮
INHALT.
Zu diesem Bericht
08
Grußworte der KHL
09
Statt eines Vorworts: 10 Jahre Soteria –
Versuch einer Standortbestimmung
12
Miteinander – Rückblick einer Gebliebenen
Soteria aus verschiedenen
Perspektiven – Sichtweisen
von innen und von außen
16
PatientInnen und Angehörige:
Erfahrungsberichte
Wunder passieren auch in der Psychose nicht
Geholfen hat… – Gestört hat…
Texte aus der Schreibwerkstatt
26
Aus dem Soteria-Alltag
1:1 Begleitung
Soteria bei Tisch
Die Psychotherapiegruppe in der Soteria
Soziale Arbeit in der Soteria
Soteria-Stammtisch
34
52
Soteria-Begleitforschung
52
Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze
53
Bewertung
Mit den Augen der Kolleginnen
und Kollegen
Brief einer ehemaligen Kollegin
Ersteindrücke – Ein Hospitationstag in der Soteria
10 Gründe in der Soteria zu arbeiten
25 Jahre in Haar – 10 Jahre Soteria – Ein kunsttherapeutischer Bericht
44
Begleitforschung
Kontakt & Impressum
Sichtweisen von außen
Der Soteria-Beirat
Aus der Sicht des Supervisors – Dr. Günter Lempa
Team-Klausuren – Ulla Häusler
Team-Fortbildungen – Dr. Michael Dümpelmann
10 Jahre
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10 Jahre
Soteria 11/2013
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ZU DIESEM
BERICHT.
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08
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❯ Grußworte der KHL
GRUSSWORTE DER KHL
Sehr geehrte Damen und Herren,
10 Jahre sind nun verflossen, seit die Soteria - das Haus im
Park am Klinikum München-Ost eröffnet worden ist. Der Soteria-Ansatz mit dem Schwerpunkt auf milieutherapeutischen
Behandlungselementen, jedoch mit Berücksichtigung einer so niedrig wie nötigen - medikamentösen Therapie bei Patienten mit Psychosen, ist ein fester und unverzichtbarer Bestandteil des vielfältigen Behandlungsangebotes des Klinikums
München-Ost geworden. Seit 2010 ist das Therapieangebot
erweitert worden, es gibt inzwischen zwei Soteria-Einheiten
mit integrierten tagklinischen Plätzen und eine Ambulanz ist
in Planung.
Von Anfang an war es uns wichtig, im Rahmen einer Begleitforschung den Soteria-Ansatz sowohl hinsichtlich seiner therapeutischen Effekte - und dies sowohl hinsichtlich objektiver
Kriterien, als auch in Bezug auf die subjektive Beurteilung der
Betroffenen zu erfassen. Hierzu können wir Ihnen nun nach
10 Jahren eine Fülle von Ergebnissen vorlegen, die insgesamt
sowohl bei der subjektiven Einschätzung der Patienten, als
auch hinsichtlich der Auswirkungen eines Aufenthaltes in der
Soteria auf den weiteren Krankheits- und Behandlungsverlaufs den sich bereits zum 5-Jahres-Zeitpunkt abzeichnenden
positiven Effekt bestätigen.
Die Patienten bewerten vor allem das Zusammenleben mit
Mitpatientinnen und Mitpatienten, die Gespräche über die
Erkrankung und die häufigen und intensiven Einzelgespräche
mit ihren Bezugspersonen als hilfreich. Des Weiteren zeigt
sich in den Katamnese-Daten eine im Vergleich zu naturalistischen Studien deutlich höhere Compliance hinsichtlich der
Inanspruchnahme ambulanter Therapieangebote und der Einnahme von Psychopharmaka.
In den letzten Jahren war unsere Soteria Ziel für eine Reihe
von Behandlungsteams aus psychiatrischen Kliniken bundesweit, die sich über diesen therapeutischen Ansatz vor Ort informiert haben. Die positiven Eindrücke, die vermittelt werden
konnten, trugen dazu bei, dass zwischenzeitlich drei weitere
Soteria-Projekte in der BRD etabliert worden sind.
10 Jahre Soteria sind Anlass für einen Rückblick und eine Bestandsaufnahme, beides fällt rundum positiv aus. 10 Jahre
Soteria sind aber auch Anlass, um in die Zukunft zu blicken
und hier hoffen wir, dass der Soteria-Ansatz, der aufgrund der
Betonung der milieutherapeutischen Behandlungselemente
mehr Zeit beansprucht als eine „Standardtherapie“ auf einer
psychiatrischen Akutstation eines Versorgungskrankenhauses, auch im Hinblick auf das geplante PEPP-System Bestand
haben wird.
Wir verdanken die Gründung und Weiterentwicklung der Soteria-Einheit an unserem Hause zu einem relevanten Ausmaß
der Unterstützung durch die Krankenkassen. All die Jahre hinweg zeigte sich, dass die Krankenkassen dieses Therapieangebot unterstützt haben. Die Ergebnisse der Begleitforschung
belegen, dass dieser therapeutische Ansatz letztlich aufgrund
der erzielten höheren Compliance der Patienten und insgesamt geringeren weiteren stationären Behandlungszeiten im
Katamnese-Zeitraum auch unter ökonomischen Aspekten Bestand haben. Daher hoffen wir, dass wir von den Krankenkassen auch in Zukunft für dieses - von Betroffenen, Angehörigen
und Professionellen als sehr positiv beurteilte - Therapieangebot unterstützt werden.
Ein Erfolgsmodell wie dieses ist nur möglich, wenn ein hoch
motiviertes und hoch engagiertes multiprofessionelles Team
sich diesem Therapieansatz verschrieben hat. Dies ist auf unserer Soteria zweifelsohne der Fall. Daher wollen wir neben
allen Förderern und Kooperationspartnern, neben den Patienten und Patientinnen mit ihren Angehörigen, vor allem auch
den auf der Soteria-Einheit tätigen MitarbeiterInnen – und
hier insbesonders Frau Hurtz und Frau Gerum, für ihr immer
vorhandenes, teilweise bis an die eigene Belastungsgrenze
gehendes Engagement für die ihnen anvertrauten Patienten
danken.
Professor Dr.Dr. Margot Albus, M.Sc.
J. Hemmersbach
J. Kolbeck
Brigitta Wermuth
Ärztliche Direktorin
kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost
Geschäftsführer
kbo-Isar-Amper-Klinikum
Pflegedirektor
kbo-Isar-Amper-Klinikum München-Ost
Pflegedienstleitung
Klinik für Psychosomatik,
Psychiatrie und Psychotherapie
10 Jahre
Soteria 11/2013
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Statt eines Vorworts: 10 Jahre Soteria – Versuch einer Standortbestimmung ❮
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Statt eines Vorworts:
10 JAHRE SOTERIA - VERSUCH
EINER STANDORTBESTIMMUNG
10 Jahre Soteria - der erste runde Geburtstag lädt ein innezuhalten um zurück zu blicken, Bilanz zu ziehen und sich zu
bedanken. Er fordert aber auch auf, in die Zukunft zu schauen, darüber nachzudenken, wie es weiter geht und Perspektiven zu entwickeln. Auf die Soteria zu schauen ist aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Sichtweisen möglich. Man kann
von innen und von außen schauen, man kann aus verschiedenen Rollen heraus schauen und je nach Standort eröffnen
sich ganz unterschiedliche Aspekte. Eine solch vielfältige Sicht möchte Ihnen der vorliegende Bericht bieten. Erst die Zusammenschau der einzelnen Mosaiksteine ergibt das ganze Bild. Unterschiedliches und Verschiedenheit zuzulassen ist
auch ein Leitmotiv in unserem Soteria-Alltag.
Aus der Sicht der Patientinnen
und Patienten:
Wenn in der psychotischen Krise das eigene Selbstverständnis
verlorengeht und existentielle Erschütterungen alles in Frage
stellen, bietet die Soteria einen Schutzraum an, der im Idealfall Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Psychotisches
Erleben wird angehört, nicht interpretiert und muss nicht als
erstes verschwinden. Das gemeinsame Tun im milieutherapeutischen Alltag ermöglicht, oft auch ohne Worte, Ablenkung und Bezogenheit. Patientinnen und Patienten übernehmen so Verantwortung, sind für die Gemeinschaft wichtig
und haben Bedeutung. So gelingt es, an gesunde Anteile
anzuknüpfen und unterstützende Ressourcen zu erschließen.
Damit entsteht im günstigen Fall der Spielraum, über sich und
die erlebte Krise nachzudenken, zum psychotischen Erleben
Abstand zu gewinnen sowie möglicherweise Zusammenhänge und Bedeutungen zu entdecken.
Aus der Sicht des Teams:
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer
zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer!“ Mit diesem Zitat von Saint-Exupéry haben wir
2003 unsere Team- und Konzeptentwicklung begonnen. Natürlich hat auch ein Qualitätsmanagement, das die einzelnen
Arbeitsschritte normiert, seine Berechtigung. Soteria aber lebt
vor allem von der Eigen-Motivation und Individualität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der gemeinsam geteilte Alltag
und eine um Verstehen bemühte Kommunikation ermöglichen existentielle Begegnungen mit den PatientInnen in einer
Haltung des Annehmens. Die Kontaktgestaltung psychotischer Menschen mag manchmal unkonventionell sein, sie ist
aber auch fast immer direkt und authentisch. Psychotische
Krisen handeln auf unterschiedliche Arten und oft sehr radikal
von dem Ringen um die eigene Identität. Damit hat jeder von
uns zu tun, es ist ein Thema, das unser Leben begleitet. Sich
damit tagtäglich auseinanderzusetzen erfordert von den Kolleginnen und Kollegen Ausdauer und Durchhaltevermögen,
ist aber zugleich lebendig und bereichernd. Alle Team-Mitglieder sind in unserem weitgehend berufsgruppenübergreifenden multiprofessionellen Konzept immer wieder aufgefordert,
sich über die berufliche Identität hinaus mit dem persönlichen
Selbstverständnis auseinanderzusetzen sowie damit einhergehende Ängste und Unsicherheiten auszubalancieren.
Beide Perspektiven, die PatientInnen- wie auch die MitarbeiterInnen-Sicht prägen das Soteria-Konzept, in dem es um ein
so-sein-dürfen ebenso wie um ein aufmerksames und verständnisvolles Dabeisein und gemeinsames Verstehen geht.
Aus der Sicht der Angehörigen:
Nicht selten lernen Angehörige die Soteria noch vor den Patienten kennen. Angehörige informieren sich über Behandlungsmöglichkeiten, erfahren von der Soteria und so kommt
der erste telefonische oder auch direkte Kontakt zustande.
Wenn der Patient oder die Patientin es wünscht, werden Angehörige auch in die 1:1 Begleitung mit einbezogen. In Familiengesprächen unter Einbeziehung der Angehörigen wird
vieles verstehbarer und deutlicher, was dann für den weiteren Behandlungsverlauf bedeutsam ist. Die Soteria-Angehörigengruppe, die von Herrn Dr. Berger geleitet im SPDI Giesing
stattfindet, ermöglicht, erlebtes Leid, Last und Sorgen mit anderen in ähnlichen Situationen zu teilen und dadurch Erleichterung zu finden.
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❯ Statt eines Vorworts: 10 Jahre Soteria – Versuch einer Standortbestimmung
Aus der Perspektive des
Krankenhauses:
Es war eine Herausforderung für alle Seiten, das ursprünglich aus der Antipsychiatrie der Siebziger Jahre stammende
Soteria-Konzept in ein großes Versorgungskrankenhaus zu
integrieren. Es war und bleibt bemerkenswert, dass es gerade in einer so großen Klinik wie dem Klinikum München-Ost
möglich geworden ist, Soteria umzusetzen. Auch wenn es
in Zeiten der Standardisierung und Normierung nicht immer
ganz einfach war, einen solchen, auf viel Individualität sowohl der PatientInnen als auch der Mitarbeitenden beruhenden Ansatz durchzuhalten. Immer wieder sind Kompromisse
und Ausnahmen auszuhandeln, damit auch unter den gegebenen Rahmenbedingungen das Soteria-Konzept umsetzbar
und das Team arbeitsfähig bleibt. Unsere Bilanz: Eine Soteria
im Krankenhaus kann existieren und funktionieren, wenn die
für einen Klinikbetrieb dieser Größenordnung notwendigen
Strukturen dennoch immer wieder auch ausreichend Spielräume lassen und wenn genügend Engagement und Wille vorhanden ist, diese Spielräume zu erhalten.
Aus der Perspektive des weiteren
Umfelds:
Soteria kann nicht allein und nicht als eine „Insel der Seligen“
existieren. Soteria muss eingebunden sein, braucht Unterstützung und ein umgebendes Netzwerk.
Die Krankenkassen waren bereit, über ein Sonderbudget zusätzliche Stellen, die für die Umsetzung des Konzepts erforderlich sind, für die Soteria zu finanzieren. Um die geleistete
Arbeit, deren Qualität und Behandlungsergebnisse transparent zu machen, wurde zudem eine Begleitforschung finanziert. Regelmäßig haben wir den Krankenkassen über die
Ergebnisse berichtet und darüber einen intensiven fachlichen
Austausch gehabt, der zur Sicherung und letztlich auch Erweiterung auf zwei Soteria-Einheiten ab 2010 beigetragen hat.
Der Soteria-Beirat, in dem VertreterInnen der Betroffenen und
Angehörigen, der Krankenkassen, der Krankenhausleitung
und dem ambulanten Bereich sitzen, hat die Entwicklung der
Soteria hilfreich unterstützt und in Grundsatzfragen des Konzepts, in Finanzierungsfragen, bei der Öffentlichkeitsarbeit
und der Begleitforschung immer konstruktiv beraten.
Viele KollegInnen aus dem ambulanten sozialpsychiatrischen
Feld waren und sind zu einer engen und konstruktiven Zusammenarbeit bereit, auch dokumentiert durch die seit 2004
halbjährlich stattfindenden Soteria-Kooperationstreffen.
Unterstützung und hilfreiche Blickwinkel von außen hatten
auch unsere Supervisoren, Coachs und Referenten von Team-
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fortbildungen und Teamentwicklungsmaßnahmen. Sie sind
unverzichtbar, um das Team in der oft aufreibenden Alltagsarbeit und in immer wieder auch schwierigen Zeiten in einem
lebendigen Miteinander zusammen zu halten.
Die Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria (IAS) als Zusammenschluss aller am Soteria-Konzept Interessierten hat
uns in die Reihe der Soteria-Projekte aufgenommen. Insbesondere von der Soteria Bern und der Soteria Zwiefalten sind
wir gerade in der Anfangszeit großzügig unterstützt und beraten worden. In der IAS pflegen wir einen kollegialen Austausch, der verbindet und trägt. Inzwischen sind in Deutschland weitere Soteria–Projekte auf der Reichenau (März 2012)
und in Gangelt (März 2013) entstanden, am 1.10 2013 wird
eine Soteria an der Charité in Berlin eröffnen. Aus allen drei
Einrichtungen waren Leitungen und KollegInnen bei uns und
haben sich über unsere Art der Umsetzung des Soteria-Konzepts und unsere bisherigen Erfahrungen informiert.
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Was sonst noch zu sagen ist:
Nach 10 erfüllten Soteria-Jahren gilt unser Dank ALLEN, die
uns aus den unterschiedlichen Positionen und Blickwinkeln
mit viel Wohlwollen, Sachverstand und konstruktiver Kritik
begleitet, unterstützt, ermutigt und geholfen haben.
Wir danken an dieser Stelle zuallererst allen aktuellen und
ehemaligen Soteria-Kolleginnen und Kollegen. Die Soteria
lebt und besteht aus den Menschen, die dort arbeiten. Jeder
Einzelne mit seinen besonderen individuellen Qualitäten und
Eigenschaften prägt die therapeutische Atmosphäre. Waches
Dabeisein, aufmerksame Präsenz und oft sehr viel Herzblut
machen die therapeutische Haltung aus, die eine Soteria erst
zur Soteria macht.
Unser Dank gilt natürlich allen unseren Patientinnen und Patienten, die sich uns in existentiellen Krisen anvertraut und
mit ihrer ganz individuellen Art und Weise den Soteria-Alltag
bereichert und immer wieder aufs Neue lebendig gehalten
haben. Nur durch ihre Bereitschaft, sich auf das Soteria-Konzept einzulassen und sich aktiv zu beteiligen, kann die Soteria
funktionieren.
Unser Dank gilt auch der Leitung des Fachbereichs Spezial
und der Krankenhausleitung, die ein so eigenständiges, nicht
in den Mainstream passendes und bisweilen wohl auch unbequemes Projekt wie die Soteria akzeptiert, unterstützt und
fördert.
draußen hinweisen, die hier jetzt nicht explizit genannt wurden, die aber wichtig und wirksam sind.
Nach 10 Jahren sind in den Soteria-Alltag durchaus auch Ruhe
und Gelassenheit eingekehrt. Zugleich ist und bleibt es eine
lebendige Herausforderung, sich immer wieder neu auf die
individuelle Psychosebegleitung jedes einzelnen Patienten
einzustellen, ein differenziert arbeitendes multiprofessionelles
Team zusammenzuhalten, den Spagat zwischen den externen
Anforderungen und den für die Soteria unverzichtbar benötigten Rahmenbedingungen zu leisten. Wir haben Wünsche
und Ideen für die Zukunft. Es wird eine erste EX-IN-Stelle für
eine/n Genesungsbegleiter/in geben, die das Spektrum der
Sichtweisen erweitern wird. Angegliedert an die stationären
und tagklinischen Behandlungsmöglichkeiten könnten ambulante Angebote den Übergang und die Entlassung erleichtern.
Viele unserer sehr jungen und vereinzelt auch minderjährigen
PatientInnen haben gezeigt, dass sich das Soteria-Konzept
durchaus auch für Jugendliche mit Psychosen anbietet. Über
ein spezifisches Angebot für diesen Personenkreis könnte
man nachdenken. Und spannend und nicht ohne Einfluss auf
unser Projekt wird die weitere psychiatriepolitische Entwicklung sein. Wir werden das aufmerksam beobachten und wir
werden versuchen, wo immer das möglich erscheint, unsere
Erfahrungen mit einzuspeisen.
Auf jeden Fall wird es für uns weiterhin viel Sinn machen, in
der Soteria zu arbeiten!
Selbstverständlich sind auch die Krankenkassen hier zu erwähnen, die sich von Beginn an für die spezifische Behandlungsqualität und die Ergebnisse der Begleitforschung offen
und interessiert gezeigt haben und als Kostenträger die Realisierung des Soteria-Konzepts am Klinikum München-Ost
überhaupt erst ermöglicht haben.
Und schließlich möchten wir dankbar auf alle anderen Unterstützer, Begleiter, Freunde, Interessierte von drinnen und
Roswitha Hurtz
Andrea Gerum
Oberärztin
Stationsleitung
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❯ Miteinander – Rückblick einer Gebliebenen
MITEINANDER –
RÜCKBLICK EINER GEBLIEBENEN
Andrea Gerum (Stationsleitung) ist von Beginn an dabei. Sie hat mehrere Jahre als Bezugstherapeutin gearbeitet, bevor
sie 2009 die Nachfolge von Irmi Breinbauer als Stationsleitung übernahm. Sie schreibt ihren ganz persönlichen Rückblick
auf 10 Jahre Soteria.
Über 50 Mitarbeiter quer durch alle Berufsgruppen haben
in den letzten 10 Jahren in der Soteria gearbeitet. Manche
davon nur wenige Monate, einige wenige seit nunmehr 10
Jahren. Dazu kommen ein ehrenamtlicher Mitarbeiter, fünf
PsychologInnen im Praktikum, 9 junge Menschen die bei uns
ihren Zivildienst, ihr Soziales Jahr oder ihren Bundesfreiwilligendienst geleistet haben und unzählige PraktikantInnen,
HospitantInnen, SchülerInnen wiederum aus den unterschiedlichsten Berufsgruppen. Jeder einzelne von ihnen hat seinen
ureigenen Beitrag zu Aufbau, Gestaltung, Konsolidierung und
Weiterentwicklung der Soteria geleistet – hat sie mit Lebendigkeit in all ihren Facetten erfüllt und geprägt. Ohne diese
Menschen gäbe es keine Soteria und ohne ihre besonderen
Fähigkeiten und Macken wäre die Soteria nicht, was sie in
ihren unterschiedlichen Stadien war und heute ist. Im Zusammenwirken mit den nunmehr über 500 PatientInnen, die die
Soteria als Schutz- und Rückzugsraum erfahren konnten, ist
die Soteria in diesen Jahren für alle Beteiligten ein durchaus
bedeutsamer Ort der Begegnung sowie des Erlebens und Teilens existenzieller Erfahrungen geworden.
Auftragslage – damals wie heute
Ursprünglich aus der Antipsychiatrie stammend und bis zum
heutigen Tag konzeptuell festgeschrieben lautet der Auftrag
an die Soteria-MitarbeiterInnen, mittels persönlicher Präsenz
vertrauensvolle, heilsam wirkende Beziehungen sowie eine
ebensolche Atmosphäre zu ermöglichen und zu gestalten.
Es gilt, den Patienten als Mitmenschen in seinem subjektiven
Erleben wahr- und ernst zu nehmen. Ihn in seiner krisenhaften Verwirrung und Überforderung zu schützen vor der anspruchsvollen Schnelllebigkeit unser aller Umwelt. Ihm einen
Schonraum und ein Innehalten zu ermöglichen, um sich vorübergehend behütet und begleitet zu besinnen und sich allmählich wieder anzunähern an all die Belange, die das Leben
vom jeweiligen Einzelnen fordert. Übersetzt auf die konkrete
Situation gilt es, in all unserer Verschiedenheit ein Stück banal anmutenden Alltages miteinander zu teilen. Miteinander
zu essen, zu kochen, zu putzen, mittels dieser einfachen und
sinnlich erfahrbaren Tätigkeiten eine Brücke zu schlagen hin
zu einem kleinen Stück gemeinsamer realer Gegenwart. Eine
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Realität die man bekanntlich unterschiedlich wahrnehmen
und erleben kann, die obendrein mit den mitunter sehr unterschiedlichen Prägungen und Bedürfnissen aller Beteiligten
in Berührung bringt oder auch konfrontiert, womit wir bereits
unmittelbar im therapeutischen Geschehen sind. Wie sich
von allem Anfang an bestätigt hat, bieten sich genau hier ein
fruchtbarer Boden und enorme Herausforderungen zugleich!
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne der uns beschützt und der uns hilft, zu
leben
In der Soteria zu arbeiten hat von der ersten Stunde an verlangt, den Kittel - sprich die berufliche Rolle - zurück zu stellen, und sich stattdessen als Mensch einzulassen auf andere
Menschen. Das versprach uns „Pionieren“ die Befreiung von
unliebsamen und festgefahrenen Zuschreibungen. Es hat uns
ein immenses kreatives Potenzial freisetzend mit beachtlichem Schwung durch die Konzeptphase und über die ersten
Hürden und auch ersten Jahre getragen. Es hat uns zudem
auf geradezu verblüffend einfache Weise ermöglicht, die üblichen Berufsgrenzen und vielerorts gepflegten Animositäten
gar nicht erst aufkommen zu lassen, sondern uns tatsächlich
als gleichberechtigtes Team mit einem gemeinsamen Auftrag,
geteilten Schwierigkeiten und Entwicklungsnotwendigkeiten zu erleben. Es schafft Verbundenheit wenn „jeder alles
macht“, wenn man als Pflegekraft über einem Verlaufseintrag
oder einem Arztbrief brütet, als Ärztin morgens die Medikamente stellt, die Kasse abrechnet oder für den Großeinkauf
mit den Patienten zum Supermarkt fährt, als Sozialpädagoge den Frühstückstisch deckt. Es verunsichert aber auch, sich
in damals ohnehin noch gänzlich unbekanntem Terrain nicht
auf vertraute Tätigkeiten und Routineabläufe zurückziehen
zu können. Zum Teil aus diesem Grund, doch vor allem aus
ökonomischen Erwägungen heraus, mussten wir uns über
die ersten Jahre Arbeits- und Teamstrukturen erarbeiten, die
den unterschiedlichen Blickwinkeln und Arbeitsfeldern der jeweiligen Berufsgruppen wieder einen stärker personalisierten
Stellenwert einräumen, ohne zugleich zum Status quo überzugehen. Dennoch scheint mir diese verhältnismäßig kurze
Zeit des „real existierenden Sozialismus“ in Kombination mit
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Miteinander – Rückblick einer Gebliebenen ❮
dem unverändert bestehenden gemeinsamen Alltag bis zum
heutigen Tag konstruktiv (nach)zuwirken: bis in die nunmehr
„fünfte Generation“ hinein multiprofessionelles Miteinander
auf Augenhöhe zu befördern und darüber hinaus den Raum
zu öffnen für persönliche Profilierung und (Selbst-) Verwirklichung in Bereichen, die nicht ausschließlich an die jeweilige
Berufsgruppe gebunden sind. Zudem – auch heute noch leisten alle Berufsgruppen Schichtdienst, schreiben Pflegekräfte
Arztbriefe und sind ÄrztInnen, wenn schon nicht in der Küche, dann immerhin bisweilen am Kickertisch anzutreffen.
Mitarbeiterführung und multiprofessionelle Teamentwicklung
Unverändert verlangt das Arbeiten in der Soteria, sich „auszusetzen“, sich in unmittelbaren Kontakt zu begeben, mit den
eigenen Unzulänglichkeiten ebenso wie mit all jenen Affekten, die Menschen mitunter in den Wahnsinn treiben und die
sich durchaus als ansteckend erweisen können. Um dies (aus-)
halten und tragen zu können, benötigt das Team analog zu
den Bedürfnissen der PatientInnen eine Atmosphäre und eine
Kultur des Miteinanders, die es möglich werden lässt, sich mit
all seinen Fähigkeiten und Unsicherheiten angenommen und
geschätzt zu fühlen. Ein haltgebendes Gegenüber, das Orientierung bietet, das Widersprüchlichkeiten aushält und damit erträglich werden lässt, ohne zu bevormunden und alles
besser zu wissen. Die Patienten finden diese Qualitäten im
günstigen Fall bei den Mitarbeitern des Teams, bei ihrem Bezugstandem, und in der Kultur des gemeinsamen Alltags. Die
Mitarbeiter ihrerseits brauchen, um sich in diesem Sinne als
Container und Resonanzraum zur Verfügung stellen zu können, Rückhalt und Bestätigung aus den eigenen Reihen sowie
in aller Klarheit seitens der Leitungen.
„… die Herstellung von Verbindungen („Connecting“) und die
Ermöglichung von Austausch (bzw. das Fördern von Kommunikation)“ (Heltzel 2001) gehören zu den zentralen Aufgaben
der Leitungsarbeit, um die Funktionsfähigkeit einer Organisation aufrecht zu erhalten und ihr Überleben zu sichern. In der
Soteria gehören daher angefangen mit einer vierwöchigen
Konzeptphase, regelmäßige Klausur- und teaminterne Fortbildungstage zum professionellen und unverzichtbaren Instrumentarium ebenso wie die monatliche Supervision und eine
wöchentlich stattfindende Intervision. Dieses regelmäßige Innehalten ist uns selbstverständlich geworden, hat uns neben
vielen anderen Aspekten zusammenwachsen lassen und uns
ermöglicht, unvermeidliche teils schmerzhafte Veränderungen oder Belastungen gemeinsam zu tragen.
Wir sollen heiter Raum um Raum
durchschreiten, an keinem wie an einer
Heimat hängen
PatientInnen kommen und gehen, MitarbeiterInnen kommen
und gehen, wenn auch - in der Natur der Sache liegend - in
unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen. Die Pionierzeiten sind
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längst Vergangenheit, sieben Menschen der ersten Stunde
unseres gegenwärtig 27-köpfigen Teams sind noch dabei,
manches Mal wehmütig alter Zeiten gedenkend, dann wieder
augenzwinkernd den ein oder anderen Schwank erzählend,
bisweilen ein bisschen stolz. Rückblickend haben sich über die
Jahre „Generationen“ herausgebildet, Zusammensetzungen
von MitarbeiterInnen, die die gemeinsame Aufgabe auf ganz
spezifische Art und Weise angepackt und umgesetzt haben.
Erwähnt sei hier die von Ende 2005 bis Anfang 2007 entstandene auf vielfältige Art sehr lebendige „zweite Generation“,
die bedauerlicherweise mit dem diesjährigen Weggang ihres
letzten Vertreters gänzlich ausgestorben ist. Voller Einsatzbereitschaft, höchst eigenwillig und mit viel Humor brachten
diese fünf KollegInnen frischen Wind ins Haus zu einer Zeit,
als sich der Staub gerade zu legen begann und wirkten so
einer gewissen erschöpfungsbedingten Erschlaffung der „Pioniere“ entgegen. Sich selbst die Treue haltend erwiesen sie
sich allesamt als viel zu abenteuerlustig und zu weltoffen, um
sich lange halten zu lassen. Seither ist aus Sicht einer (Dabei-)
Gebliebenen ein stetes Kommen und Gehen, was den Stellenwert des jeweiligen Beitrags jedes Einzelnen nicht mindern
soll. 2010 haben wir uns vergrößert, eine zweite Soteria-Einheit eröffnet und zwei Teams gebildet, die sich in stets aufs
Neue erarbeiteter gemeinsamer Haltung und dank enger Vernetzung dennoch als zueinander gehörend erleben. Je nach
Blickwinkel entspringen die aktuellen Mitarbeiter „vier Generationen“, ein Mehrgenerationenhaushalt sozusagen. Es gilt,
den Staffellauf aufrecht zu erhalten, und dabei nicht nur den
Stab, sondern auch das Feuer weiterzureichen.
…des Lebens Ruf an uns wird niemals
enden
Wir sind ExpertInnen in Sachen Abschied nehmen geworden,
zelebrieren diese geradezu genießerisch und feiern damit auf
verquere Weise die Gegenwart. „Weil nichts bleibt, weil nichts
bleibt wie es war!“ Und wir haben uns zu Integrationskünstlern entwickelt. Wechselnde PatientInnen in den Soteria-Alltag, neue MitarbeiterInnen sowie wechselnde PraktikantInnen in den Kollegenkreis. Die Soteria ist so lebendig und so
facettenreich wie die Menschen die sie gestalten. Heute!
Literatur
Heltzel, Rudolf (2001) Was heißt Leitung heute? Zeitschrift gruppenanalyse, Heft 2/01, erschienen im Mattes Verlag Heidelberg
Hesse, Hermann (1941) „Stufen“
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
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SOTERIA AUS
VERSCHIEDENEN
PERSPEKTIVEN –
SICHTWEISEN VON
INNEN UND VON
AUSSEN.
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❯ PatientInnen und Angehörige: Erfahrungsberichte
PatientInnen und Angehörige:
ERFAHRUNGSBERICHTE
Wunder passieren auch in der Psychose nicht – Ein ehemaliger Patient und seine Frau berichten über ihr Erleben
Herr Peter F. ist ärztlicher Kollege und war 2004 Patient in der Soteria. Er und seine Frau Elke F. (Ärztin und Psychotherapeutin) haben auf unserer 5-Jahres-Feier in einem Vortrag von ihren Erfahrungen berichtet, die sie nun verschriftet
haben. Ihre fünf Kinder waren damals im Alter zwischen einem und neun Jahren.
Herr F.:
Für mich war es ein ausgesprochener Glücksfall, dass vier
Monate vor Ausbrechen meiner Psychose die Soteria eröffnet
worden war. Die Soteria hat mir ermöglicht, meinen Weg aus
der Psychose zu finden, mit einem guten und mein Leben bereicherndem Ende.
Da ich sowohl die Soteria als davor auch eine allgemeinpsychiatrische Akutstation erlebt habe, möchte ich von beiden
Erfahrungen berichten, wobei es mir dabei um eine sinnvolle
Zusammenarbeit und Ergänzung, vielleicht auch gegenseitige
Befruchtung geht. In die psychiatrische Klinik bin ich in einem
hochakuten Zustand eingeliefert worden, in dessen Verlauf
ich über sechs Tage gar nicht ansprechbar war. Diese Zeit
habe ich zum größten Teil in akustischen und optischen Halluzinationen verbracht, ich könnte auch sagen, in zutiefst sinnvollen, eigenen Seelenbildern. Die Augenblicke, in denen ich
in dieser Zeit mit meiner Umgebung eine gemeinsame Wirklichkeit geteilt habe, waren nur kurze Momente in Gegenwart
mir vertrauter Personen. Tief in mir war ich in verschiedenen
Sphären unterwegs, zum Teil in Tiergestalt. Alles war sehr ungewohnt und verwirrend, wenngleich für mich auch zutiefst
logisch und auf eigentümliche Weise vertraut. Was ich in dieser Zeit im Außen gesagt und getan habe, weiß ich nur aus
den Aufzeichnungen, die meine Frau darüber verfasst hat. Ich
habe Dinge getan, die ich sonst sicherlich nicht tun würde:
ich war distanzlos, persönlich verletzend, schwer begrenzbar
und auf eine sehr selbstbezogene Weise vollkommen ohne
Skrupel. Ich habe nur „mein Ding“ gemacht, was die anderen
wollten oder brauchten, war mir vollkommen gleichgültig.
Die Kontaktaufnahme der Professionellen mit mir habe ich oft
als alarmiert, ängstlich, genervt und ungehaltenen erlebt, was
ich mir aber nicht erklären konnte und was mich wiederum
geärgert hat und das hat zu neuen Verwicklungen geführt. In
mir hatte alles einen nachvollziehbaren Sinn und innere Logik,
im Kontext der Behandlung wurde es jedoch meist als verrückt und krank gedeutet. Die Situation hat sich noch weiter
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Soteria 11/2013
zugespitzt, weil ich die Einnahme eines Neuroleptikums konstant und in allen Verfassungen (klar/ unklar anwesend oder in
Traumwelten), aber immer höflich und bestimmt verweigert
habe. Da ich selber Arzt bin, gab es eine größere Scheu, mich
zur Medikation zu zwingen. So war aber die in der Psychiatrie übliche Vereinbarung - wir ertragen deinen Wahnsinn, du
schluckst unsere Medikamente, damit das bald aufhört - mit
mir nicht zu treffen, was viele Mitarbeiter überfordert hat: Die
meisten von ihnen hatten selbst ein Vollbild einer Psychose
noch nicht erlebt und waren außerdem der Auffassung, dass
mein Zustand ohne Einnahme eines Neuroleptikums chronisch werden würde.
Die Soteria hat mir ermöglicht, eine sich auf unfruchtbare
Weise zuspitzende und eskalierende Zusammenarbeit zu beenden und meine Behandlung auf eine mir mehr angemessene Weise fortzuführen. In der konventionellen Psychiatrie
hätte es nur die Möglichkeit gegeben, mich den angebotenen
Deutungen meiner Wirklichkeit zu beugen oder aber durch
sie unterworfen zu werden - aus Kooperation wäre so ein
Machtkampf geworden. Ich hatte großes Glück, dass es dazu
nie gekommen ist, dafür bin ich allen, die dazu beigetragen
haben sehr dankbar.
Ich möchte im Folgenden Punkte benennen, die zu meiner inneren Spannung und Not beigetragen haben. In der konventionellen Psychiatrie war der Blick auf meinen Zustand als Problem und Krankheit, sowie die Benennung meiner vorhanden
Defizite vorherrschend. Es gab gleichzeitig aber auch meine
ständigen Bemühungen, daran etwas zu verändern: den Zustand zu verstehen, mich in der Fülle meiner Wahrnehmungen
zu orientieren, eigene Seelenbilder von gemeinsam geteilter
Realität zu unterscheiden. Mir war in den wildesten Seelenwanderungen klar, dass ich zurückkehren muss und auch unbedingt will. Stärkstes Motiv hierfür war meine Familie, meine Frau, unsere fünf Kinder und der klare Entschluss, auch
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
PatientInnen und Angehörige: Erfahrungsberichte ❮
weiterhin die Verantwortung für sie zu tragen. Nach sechs
Tagen fehlender Ansprechbarkeit, nach vielen Verrücktheiten
und krassesten Beziehungsverletzungen, die ich begangen
habe, ohne bewusst daran beteiligt gewesen zu sein, wurde verständlicherweise alles, was von mir kam, als krank und
verrückt erlebt und mehr oder weniger offen so bezeichnet.
Aber es gab Handlungen die aus meiner Perspektive einfach
nur sinnvoll waren: Es war sinnvoll, mir einen Textmarker auszuleihen und auf dem Stationskalender den 26.01.2004 als
den Tag anzustreichen, ab dem ich mich wieder dauerhaft
an der gemeinsamen Realität der Station beteiligt habe, was
vorher immer nur für kurze Augenblicke möglich war. Es war
aus meiner Sicht ausgesprochen sinnreich, in das Stationszimmer zu gehen um zu fragen, ob gerade wirklich eine Patientin
ohnmächtig auf der Schwelle zu meinem Zimmer zusammengebrochen war oder ob das eine optische Halluzination war:
Das Lachen auf meine Frage war für mich tief verstörend. Warum wird eine sinnvolle Handlung als lächerlich und verrückt
abgetan? Meine Handlungsweise hatte ab dem Moment der
bewussten Teilhabe eine innere Notwendigkeit und Logik.
Gleichzeitig hätte ich jederzeit verstanden, wenn sie von Anderen als verspannt, seltsam oder verrückt angesehen worden wäre. So war es für mich verstörend, dass meine, für die
anderen unverständliche Handlungen oder Aussagen, nicht
als solche konfrontiert oder hinterfragt wurden. Was mich
damit dauerhaft umgeben hat, war eine anhaltende Form
der Kontaktvermeidung durch die Professionellen: ich war
umgeben von ängstlichem Zurückweichen vor mir, überfordertem Aushalten dessen, was ich sagte oder tat, ohne dass
mir die Überforderung mitgeteilt wurde. Es gibt in meinem
Leben keine Zeit, in der ich mich in ähnlicher Weise aus der
menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen erlebt habe, in der
ich in so hohem Maße tiefe Angst und Verunsicherung, dauernde Verzweiflung, Einsamkeit und Kälte empfunden habe.
Damit verbunden war mein eigenes, tiefes Misstrauen gegen
alle Helfer und die ständige Bereitschaft, um das eigene Überleben zu kämpfen. Da konnte es in einem Moment existentiell
wichtig sein, wo ein bestimmter Gegenstand lag. Das wiederum führte zu Unverständnis von Seiten der Professionellen
und verstärkte den Eindruck, dass der Patient eben nur krank
und verrückt ist und einsehen soll, wie behandlungsbedürftig
er ist. Schließlich war es soweit, dass niemand mehr einen
Sinn darin sehen konnte, meine Eskapaden ohne Einnahme
eines Neuroleptikums zu ertragen - entweder Zyprexa oder
Entlassung.
Der Soteria, die wir schon ausfindig gemacht und die Aufnahme vereinbart hatten, verdanke ich, dass diese Dynamik nicht
eskalierte. Ab dem Zeitpunkt war der Aufenthalt in der Psychiatrie ein Ausharren mit Aussicht auf eine bessere Situation
und so wieder ertragbarer. Was hat der Aufenthalt dennoch
gebracht? Durch die starke Verbindung mit einer intensiven
symbolhaften Ebene habe ich unmögliche Dinge für möglich
gehalten, wenn mir doch endlich einer mal zuhören würde
und tun, was ich sage. Dieser psychotische Machbarkeitswahn hat dort deutlich an Kraft verloren, weil ihm keinerlei
Raum gegeben wurde. Meine Familie und meine Umgebung
wurden vor mir geschützt und ich möchte allen, die diesen
sicherlich sehr aufreibenden Umgang mit mir in diesen Tagen
auf sich genommen haben, ohne Ausnahme danken. Und
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auch das unmittelbar Hilfreiche will ich nennen: es waren die
Momente, in denen mir gegenüber die Distanz aufgegeben
wurde und die waren heilsam: der Musiktherapeut, der mich
zum Musizieren eingeladen hat und mir trotz aller Verwirrung
ein Instrument zur Verfügung stellte. Der Oberarzt, der mir
mit echter menschlicher Wut begegnete, als ich Wände und
Gegenstände mit Creme eingeschmiert hatte, etwas, das ich
gar nicht bewusst miterlebt hatte, mir in dem Augenblick
aber bewusst wurde. Oder die Nachtschwester, die sich mit
einer achtsamen Haltung aus meinem Zimmer entfernt und
mir ihre positive Berührtheit gezeigt hat, als ich ihr erklärte,
dass ich bei dem ganzen Theater, das ich verursachte, meiner
Frau doch wenigstens ein Ikebana-Gesteck machen müsste.
Und immerhin hat sich das gesamte Team -sicherlich zum
Teil widerwillig- über einen Zeitraum von 17 Tagen auf eine
Behandlung einer Psychose ohne Neuroleptika und mit homöopathischen Mitteln eingelassen. Man hat mir mitten auf
der Akutstation ein eigenes Zimmer eingeräumt. Meine Landung in der gemeinsam erlebten Realität habe ich in dieser
Zeit vollzogen. Ich habe Gegenstände benutzt, um meine Gedanken zu ordnen, habe mir allmählich den Unterschied zwischen Realität und eigenen, niemandem sonst zugänglichen
Wahrnehmungen erarbeitet, habe versucht, Konfrontationen
mit dem Pflegepersonal zu vermeiden und mein Leiden unter der Situation eingegrenzt als meine Verantwortung. Die
damit verbundene dramatische Verbesserung meines inneren
Zustandes war für die professionellen Helfer nicht erlebbar,
dadurch auch nicht begleitbar. Somit habe ich diesen Prozess
im Wesentlichen allein und natürlich mit Unterstützung durch
Freunde, meine Frau und meine Eltern vollzogen. Ich hatte
trotz aller gegenteiligen Aussagen großes Vertrauen in meine
eigene Fähigkeit zur Heilung gewonnen, gleichzeitig war klar,
dass ich noch nicht in der Verfassung war, in einen Haushalt
mit fünf sehr lebendigen und raumgreifenden Kindern zurückzukehren.
In dieser Situation kam ich in die Soteria und hatte die Möglichkeit, den Prozess der Heilung fortzuführen. Der erste
Eindruck war überwältigend und der eines großen Gegensatzes: viel Stille, Mitpatienten in bequemen Sesseln, die in
einer ähnlichen Form der Offenheit und Verletzlichkeit mir
freundlich lächelnd ein rücksichtsvolles Interesse an mir signalisiert haben. Dann die vielfältigen Möglichkeiten, Schönheit
zu erleben: eine Jugendstilvilla mit großem Garten, schöne
Gebrauchsgegenstände, viel Aussicht auf Bewegung an der
frischen Luft, selbst kochen und putzen, endlich in all dem
inneren Chaos einfache, sinnvolle, gegenständliche Tätigkeiten auszuführen. Die Qualität des Essens mit bestimmen zu
dürfen. Ein eigenes Zimmer, diesmal aber überwiegend leer,
mit Teppich, einfache Matratze, kein Metall, keine Gummibeschichtung, keine elektrostatischen Entladungen bei jeder
Bewegung. Die Tür meines Zimmers blieb in der Nacht verschlossen, unverhoffte Kontrollgänge oder Besuche von Mitpatienten blieben aus. Ein Heizungsthermostat, dessen Pfeifen
nach kurzem Umstellen eine ganze Nacht lang schwieg - in
dieser Stille, war es natürlich viel leichter, akustische Halluzinationen zu erkennen und zu ignorieren. Ein Psychologe, der
sich mit offensichtlicher eigener Berührtheit meine Geschichte angehört hat, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen.
Professionelle, zum Teil ausgesprochen schön, geschmackvoll
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
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gekleidet, offensichtlich gern und sinnerfüllt bei der Arbeit.
Ich war in einem völlig anderen Film, was jetzt noch an Unruhe und Chaos in mir war, war nicht mehr die Reaktion auf
eine fremd, schmerzhaft, hässlich oder feindlich erlebte Umgebung, sondern das war im Wesentlichen nur noch meine
Geschichte: die Kündigung meiner Arbeitsstelle aufgrund der
Krankheit, die Sorge um meine Familie, mein Kindheitsdrama,
mein Schmerz, meine Unruhe, mein Größenwahn, meine Beziehungsstörung, meine fehlende Fähigkeit, in der Einfachheit
meines Herzens zu sein. Meine Bezugsperson begleitete mich
auf langen Spaziergängen durch den tief verschneiten Park
und hörte sich geduldig alles an, was aus mir heraus sprudelte. Sie erlebte, dass mich die Spaziergänge entlasteten und
führte sie konsequent fort. Sie zeigte mir eine Schafherde,
Kirchen, verwunschene Wege durch Zaunlücken. Es entstand
ein sehr persönlicher Kontakt. Es gab viel Raum, all das zu
tun, was mir notwendig erschien, man ließ mich mit höflicher
Distanz vor mich hin spinnen und allmählich kam dieses galoppierende Tier in mir zur Ruhe. Auch in der Soteria gab es
Auseinandersetzungen und Konflikte, aber an keinem Punkt
kam es wieder zum Kontaktabbruch zu mir. Im Gegenteil, es
wurden die schönen und wahren Aspekte meines Zustandes
von den Professionellen gesehen und gewürdigt und Irritationen beherzt angesprochen. Ich werde nie den Morgen vergessen, an dem ich in der Nacht über ein Zen-Koan (eine Art
der Meditation) gebrütet habe und die vermeintliche Lösung
mit mehreren Stiften auf einer Zeitung festgehalten habe.
Eine Schwester polterte los:„Was ist das denn für ein Chaos?“
und wollte den Kram wegräumen. Ich reagierte prompt und
erläuterte die Bedeutung, die es für mich hatte: „Das gehört
mir und mir ist das wichtig, ich will nicht, dass es weggeschmissen wird!“ „ Wie auch immer, da bleibt es jedenfalls
nicht liegen!“ Beides war möglich und berechtigt und wurde
beherzt ausgefochten: ihr Bedürfnis nach Ordnung und der
Wert meiner kleinen Installation. Wir waren in einem klaren
Kontakt und das war heilsam für mich.
Für mich ist die Vorstellung der Psychose als chronisch degenerative Erkrankung meiner Seele ein Begriff, den ich für
meinen eigenen Zustand nicht gewählt hätte. Dafür war dieser Zustand zu lebendig, zu kreativ, zu dynamisch und hat
sich zu nachhaltig positiv auf mein Leben ausgewirkt. Wunder
passieren auch in der Psychose nicht, sicherlich aber Schritte. Es gibt es etliche Handlungen, die ich so nie wieder tun
würde und für die ich mich jetzt schäme, und andere, deren
tiefe Wahrheit und Mut mich auch heute noch beeindrucken.
Dinge, an die ich mich gern mit Freude, manchmal auch mit
Stolz erinnere. Vieles, von dem, was ich damals sofort umsetzen wollte, habe ich nun über Jahre als ausgesprochen gute
und tragfähige Ideen entwickelt. Wenn ich an meine eigenen
Patienten denke und an meine Mitpatienten, mit denen ich
gemeinsam diesen Grenzgang vollzogen habe, dann bin ich
stolz auf diese Gemeinschaft und habe kein Problem mit dem
Begriff, bin sozusagen bekennender Psychotiker. Was ich an
meine eigenen Patienten weitergeben kann, ist etwas, das ich
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in der Soteria und der Psychiatrie ebenfalls heilsam erfahren
habe: die Selbstverständlichkeit, mit der ich in diesem außergewöhnlichen Zustand sein durfte als etwas zutiefst zu mir gehöriges und als mögliche Form menschlichen Erlebens. Etwas,
zu dem man nicht in Distanz gehen muss, sondern etwas,
das man begleiten kann, nicht immer unbedingt verstehen,
sicherlich aber in Kontakt treten, in Berührung, Verständnis,
Bewunderung oder aber auch Ärger und Irritation. So habe
ich mich später bei der Aufnahme einer Patientin mit einer
akuten Psychose als Antwort auf das Viele, das sie mir erzählt
hatte, mit dem Satz überrascht: „Ja, so fühlt sich das an“.
Frau F.:
Am 19. Januar 2004 ist mein Mann und Vater unserer fünf
Kinder plötzlich psychotisch geworden und nach zwei Wochen auf einer allgemeinpsychiatrischen Station in der Soteria
aufgenommen worden. Was ist passiert? Zunächst einmal etwas ganz Positives: mein Mann bricht in schallendes Gelächter
aus und lacht und lacht und lacht, dass es ansteckend ist, er
sieht unglaublich leicht und heiter aus. Man könnte sagen, er
steht in der Freiheit, dies allerdings nach Mitternacht. Er kann
sein Erleben überhaupt nicht in Worte fassen, will es aber unbedingt, kommt immer wieder auf mich zu, er ist völlig davon
eingenommen, mir etwas zu übersetzen. Tag, Nacht, Essen,
Trinken, Schlafen sind ihm egal. Er lässt sich aber daran erinnern. Zunehmend kommt er ins Rotieren. Es ist als würde
ein Feuer in ihm brennen, sein Mund ist trocken, seine Augen
leuchten auf eine entrückte Weise. Die Beziehung wird ein
Balanceakt: einerseits spüre ich in ihm eine enorme Kraft, die
alles platt walzt, andererseits ist er extrem empfindlich.
Tagebucheintrag: “Ich höre zunächst nur zu und bin offen. So
können wir in Kontakt sein. Jeder kleinste Widerspruch erregt
seinen Zorn. Ich spüre deutlich, dass er die Führung will, dass
ich ihm glauben und folgen soll.“ Am nächsten Tag kommt er
auf mich zu: „Die Kinder brauchen heute nicht in die Schule
gehen, sie lernen dort nur dummes Zeug! Ich will nicht, dass
sie dort ausgesaugt werden.“ Ich schaue ihn ruhig an und
sage: „Peter, die Kinder gehen gern in die Schule, lass sie gehen.“ Peter atmet aus und sagt: „Hast recht.“ Noch gelingt
uns immer wieder der Kompromiss. Unser Kontakt läuft jetzt
nur noch über den kleinsten gemeinsamen Nenner. “Als die
Großen aus dem Haus sind, merke ich, dass etwas geschehen
muss. Peter hat keinen Boden mehr unter den Füssen, und
ich möchte irgendwie vermitteln zwischen ihm und der Welt.
Ich möchte ihn schützen, und ich möchte die anderen vor
ihm schützen, bis es vorüber ist. Die Situation ist pikant und
braucht meinen vollen Einsatz.“ - „Er ist so aufgedreht, das
ich Hilfe holen möchte. Ich fühle mich überfordert und kann
nicht einschätzen, ob das Ganze destruktiv wird, und wann
ich eine Grenze ziehen muss. Zu diesem Zeitpunkt ist unser
Kontaktfaden sehr, sehr dünn. Es gibt kaum Begegnung, ich
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
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kann mich nur einklinken in sein Wahrnehmungs- und Wahnsystem. Ich spüre deutlich, dass hier etwas Krankes im Gange
ist und hoffe und bete, dass es von selbst wieder aufhört.“
- „Ich bin jetzt echt hilflos. Wann immer ich versuche einzuschreiten, blockt Peter mich, als wollte er nie wieder auf mich
hören. Ich bin zum Gegner geworden.“
Ich möchte damit anschaulich machen, in welchem Dilemma
ich damals gesteckt habe. Da waren so viele Gedanken, Gefühle und Impulse gleichzeitig in mir: Einmal die Bereitschaft,
seinem Erleben eine Berechtigung, ja sogar eine Wahrheit
zuzugestehen. Die Faszination: Er spricht und zeugt von einem wunderbaren Ort. Die Sehnsucht, ihm dahin zu folgen,
mit ihm grenzenlos zu werden. Das langsame Erkennen des
Unheilvollen. Der Impuls, mich an seine Füße zu hängen und
ihn auf die Erde zu ziehen. Ein Bild, das mir jetzt dazu einfällt
ist: Er wird zum Drachen und ich halte die Schnur fest. Dann
aber auch die Bagatellisierung (Möge es bald vorüber sein!)
oder die Verführung, ihm da allein herauszuhelfen. (Wir zwei
schaffen das!). Darunter liegt mein Wunsch zu vermitteln zwischen ihm und der normalen Welt, eine Brücke zu schlagen
oder gar selbst diese Brücke zu sein. Dann die Hilflosigkeit
dort, wo er jede Brücke sprengt und mir zuspielt, mich auf
eine Seite zu schlagen, auf die seiner Verbündeten, die seine
absolute Wahrheit teilt oder auf die der Feindin. Entweder.
Oder. Ein Gewalt-Spiel. Und dennoch die Zurückhaltung, ihm
mit einer Klinikeinweisung Gewalt anzutun. Schließlich war
da nur noch Angst angesichts eines entfesselten Menschen,
der wie ein wildes Tier tigert – verwirrt, unheimlich, fremd,
unberechenbar, zu allem fähig. Mir bleibt nur die Zwangseinweisung. Als Peter abends mit dem Polizeiwagen abgeholt
wird und ich den Schlusslichtern nachschaue, glaube ich
nicht, dass das mir passiert. Es ist eine Bestürzung als wenn
mitten in unser zivilisiertes Leben eine Bombe einschlägt. Alles ist anders, von einem Moment auf den anderen. Ich lasse
meine Großen bei mir schlafen, denn sie sind voller Fragen.
Tagebuch: “Ich erzähle von dem Gefäß, das wir sind, und
dass der liebe Gott manchmal wie der Blitz zu uns spricht,
und dann geht das Gefäß kaputt. Dann muss ein neues wachsen, und das braucht Zeit. Sie sind besänftigt und beruhigt
in meinem Bett. „Aber was ist, wenn der Papa nun nie wieder normal wird? Dann ist es ja, als ob der Papa gestorben
wäre...“, sagt meine Tochter. Ich nicke, öffne die Arme und
sie kommt weinend auf meinen Schoß. Da sitze ich nun mit
meinen großen Kindern, trauere um meinen Mann und weiß
wirklich nicht, was kommen wird.“ Was kam, waren 17 Tage
Psychiatrie, über die mein Mann in dem vorherigen Artikel
ausführlich geschrieben hat. Für mich ein Leben in Ungewissheit. Wie um mich zu trösten, denke ich an Hölderlin, Dostojewski, Nietzsche – wessen Leben endete nicht alles im Irrenhaus? Einen Moment lang kann ich mich an der Größe so
eines Schicksals festhalten, dann bricht diese Krücke. Fühle
ich mein Scheitern: Der Mann an meiner Seite ist verrückt geworden. Ich habe ihn verrückt gemacht. Ich bin schuld. Ein
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Thema, das sich auswächst zu der Frage: Bin ich es wert, dass
er zurückkehrt in die Normalität, in unser Leben? Ohne die
Hilfe meiner Freunde und Therapeuten hätte ich hier vielleicht
selbst den Boden verloren. Sie haben geholfen, den Abgrund
zu überbrücken und an dem Sinn des Geschehens keinen
Zweifel zugelassen. Den eigentlichen Schritt muss ich jedoch
selbst tun.
Tagebuch: “Endlich habe ich eine Stunde für mich. Ich falle
flehend auf die Knie, ringe und bete und kann beim besten
Willen keinen Sinn mehr erkennen. Mit Wahrheit hat das alles
nichts mehr zu tun. Mein Mann ist völlig durch- geknallt und
ich weigere mich mit Leibeskräften, dies anzunehmen. Ich bin
voll von Widerstand und denke an all meine philosophischen
Theorien, mein Wissen um Annehmen und Loslassen. Jetzt,
Elke, kommt es auf dich an. Hast du was gelernt oder nicht?
Ich kapituliere. Gott allein weiß, was er tut. Ich ergebe mich.
Hier in dieser tiefen Ruhe und Demut spüre ich eine unglaubliche Kraft in mich einströmen. Ja, es ist in Ordnung. Unberührt von jeder Not stehe ich auf und nehme meine Kinder
entgegen.“
Zu dem Psychiatrie-Aufenthalt meines Mannes möchte ich
nur kurz meine Not ergänzen. Was ich an Kontakt täglich mit
ihm aufbauen kann, geht nicht nur während meiner Abwesenheit verloren, sondern der Graben vertieft sich. Heute weiß
ich: Spaltungsdynamik. Verständlich, aber keinesfalls heilsam.
Die Fortsetzung des Gewalt-Spiels bedeutet für mich: Entweder meinen Mann bezüglich des Medikaments entmündigen
oder mich mit ihm verbünden mit der Konsequenz, mit ihm
allein dazustehen. Wen wundert es, dass das Aufspüren der
Soteria auch für mich eine Erlösung ist. Das beginnt schon
im Vorgespräch, in dem Frau Hurtz bei aller Großzügigkeit
gegenüber dem Chaos meines Mannes ganz klar einfordert,
dass er seine totale Verweigerung gegenüber Medikamenten
aufweicht: Ein Arbeitsbündnis entsteht. Es spiegelt sich in der
Haltung der Menschen: respektvoll, fragend, behutsam begrenzend, scharf begrenzend, aber niemals abwertend, offen,
Raum gebend. Und in der im Konzept verankerten Möglichkeit, Normalisierung zu schaffen. Und so einleuchtend, über
Spaziergänge, Kochen und die Mahlzeiten gemeinsamen Boden zu schaffen, auf dem Begrenzung und sogar Konfrontation gelingen und sogar Beziehung stiften können! Es ist
unglaublich zu sehen, wie mein Mann sich entspannt nur über
das Gefühl angenommen und auf eine Weise in Ordnung zu
sein. Und er ist existentiell darauf angewiesen um weiter zu
kommen. Vorher war er das, was unsere Sprache so drastisch
verrät: ein Behämmerter, Bekloppter, Hirnverbrannter, er war
nicht bei Trost, von allen guten Geistern verlassen, hatte einen
Sprung in der Schüssel, einen Dachschaden. In der SOTERIA
ist er zuallererst einmal ein Mensch. Eigen, manchmal unverständlich, skurril, krass in seinen Handlungen, fremd. Er ist ein
Lernender. Ein Landender. Und ich eine Lernende. Ein Lassende. Vertrauende. Nicht mehr Opfer. Nicht mehr Täterin. Nicht
mehr Retterin. Von nun an beginnt Heilung.
Rückblickend und natürlich subjektiv kann ich sagen, dass die
Soteria die Therapieform war, die meinem Mann entsprach,
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die ihm gerecht wurde. Von daher ist es ein Segen, dass diese
Einrichtung vor 10 Jahren gegründet wurde. Abschließend ein
paar Worte zu meinem weiteren Umgang mit der Psychose.
So einfühlsam ich mich vielleicht selbst geschildert habe, war
ich nicht immer. Auch ich musste meinen Mann in seinem Irre-Sein abspalten. Bei all meiner Neurose blieb subtil gerade in
Konflikten immer die stille Überzeugung, doch die Gesündere, die Klarere, die Ich-Stärkere zu sein. Blieb meine Ungeduld,
statt zu sagen: da gibt’s was zu verstehen. Blieb die Tendenz,
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meine Wahrnehmung zu überhöhen. Was für ein Wahn! Was
haben wir in den letzten Tagen geredet. Heute habe ich Abstand genug und vielleicht erstmals die Demut, mich auf seine
Welt von damals einzulassen, sie mit ihm zu teilen, soweit mir
das möglich ist.
Und heute – 2013:
In diesem Sommer haben wir auf einmal viel über die Zeit in der Soteria mit den Kindern geredet, haben dem Kleinen, der
heute 11 ist, davon erzählt. Da waren all die Bilder wieder da: unser Vorgespräch mit Frau Hurtz, wie sie meinen Mann einfach
wirklich „aufgenommen“ hat, das Weiche Zimmer, in dem ich auch übernachten durfte, die so geduldige Frau Schuster, die
beherzte Frau Breinbauer, das waren die Zutaten, die mein Mann damals gebraucht und auch genutzt hat.
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Geholfen hat… – Gestört hat…
PatientInnen – Aussagen aus der Verlaufsuntersuchung
Im Rahmen der Befragung in unserer 5 Jahres-Langzeituntersuchung gab es für die PatientInnen die Möglichkeit, neben
den vorgegebenen Fragen selbst formulierte Angaben zu machen. Hier eine kleine Auswahl positiver und negativer
Aussagen.
GEHOLFEN HAT...
GESTÖRT HAT...
… wenigMedikamenteunddiefreiheitlicheAtmosphäre
wieineinerWG
… dasMiteinandervonPatientenundPersonal
… wahrgenommenwerden,GefühleundGedankenfrei
äußernzukönnen
… dieindividuelleUnterstützungdurchdasPersonal
… dasgemeinschaftlicheZusammenwohnenmit
Menschen,dieähnlicheErfahrungenmiteiner
Psychosehatten
… dassmansichdurchdietäglichenStationsdienste
wieinMenschmitAufgabenfühltundnichtnurals
Patient
… dieoftmangelndeBereitschaftderMitpatienten
zumehrOrdnungundSauberkeitund
haushaltstechnischerSolidarität
… weresmitdenDienstennichtaufdieReihekriegt,ist
manchmalechtfertigundsolltenichtgeschimpft
sondernmehrbeiderHandgenommenwerden
… ineinigenFällen(beianderenPat.)erschienmirdas
Personaloftzu‚antiautoritär‘bzw.zutolerant
… undichhättemirdabeierwartet,dassvehementer
Tablettenangebotenwürden,dafürmichpsychotische
MitpatientenImmeranstrengend,fast‚
ansteckend‘wirken
… essollteEinzelzimmergeben
… hellhörigeRäumlichkeiten
… derLärmpegeldesFernsehzimmers
… TürenschlagenderMitpatienten
… DieMusikwaramAnfanglaut(Klavier,Radio)
… AmbivalenzdesPersonals,wasPflichtundwas
freiwilligist
… derKonfliktdesPersonalsuntereinander,dersich
meinerMeinungnachetwasaufdiePatientenausge
wirkthat
… dasStörendeistTeilderTherapie!
… ichfindeesschade,dassesnurdieKunsttherapiegibt
… ichhättemirgewünscht,dassdieLeuteinder
Psychotherapie-Gruppemehraussichherausgekommen
wären,manhätteübervielesmehrredenkönnen.
… mehrMöglichkeitenzurKontaktaufnahmemit
Freunden,Familieundmehr!
… ZuvieleundhäufigeBesuchevonaußenvon
anderenPatienten.
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
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GEHOLFEN HAT...
… dassdieEigenständigkeitundSelbständigkeitgefördert
wird,waseinemSelbstvertrauengibt
… dasAufgehobenseininderGemeinschaft,vorallemin
denerstenWochen
… dassvomPersonalimmerjemandbereitwarfürein
Gespräch,wennesmirnichtgutgingoderichetwas
loswerdenmusste
… dassichauchalsMenschmitGefühlenstatt Krankheitssymptomenwillkommenund
aufgefangenwar
… dieoffeneBereitschaftdesgesamtenPersonals fürallemeineLebensäußerungen
… daskleineKlavierkonzerteinerMitpatientin
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Texte aus der Schreibwerkstatt
Tanja Rommel-Sattler (Diplom-Psychologin) hat am 04.09.2013 in Vorbereitung auf den 10-Jahresbericht eine Schreibwerkstatt für PatientInnen angeboten. Hier einige der dort entstandenen Texte:
Was mir an der Soteria gefällt.
Soteria
Mir gefällt, dass die Therapeuten und Schwestern mir so
viel weitergeholfen haben. Mir gefällt die Geborgenheit wie
in einer großen Familie. Mir gefällt, dass das Team einfach
menschlich ist, was auf anderen Stationen, die ich erlebt
habe, nicht der Fall war. Die Soteria hat mir geholfen, wieder
Hoffnung zu haben, obwohl die Hausarbeit sehr anstrengend
ist. Ich habe in der Soteria meine Krankheit verstehen gelernt
und kann jetzt besser damit umgehen. Ich weiß jetzt meine
Krankheit und habe nicht mehr so viel Angst. Ich hoffe, dass
ich es in drei Wochen in meiner Wohnung wieder schaffe.
Danke!
Am ehesten fällt mir
die Stärke und Kraft
der Soteria ein.
Engster Zusammenhalt
und schnelles Auffangen
im Akutfall.
Es wird einem sehr schnell
bewusst, was Karma und
soziales Verhalten bedeutet.
(NJ)
(MH)
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Wie empfinde ich die Soteria?
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kein Medikamentenzwang
sehr entspannt, relaxed
schöne Aktionen (Baden gehen, Deutsches Museum)
gute gemeinsame Aktionen – gemeinsames kochen,
aufräumen, putzen, einkaufen gehen/fahren, den
Frühstückstisch ein- und abdecken
auf den Gong schlagen
gemeinsam waschen, Wäsche aufhängen,
abnehmen
gemeinsam spazieren gehen, joggen, walken
von „innen“ heraus gesund werden durch:
- gesundes Essen, viel Obst und Gemüse
- viel Bewegung / Sport, Badminton, Tischtennis,
Fußball
Die Soteria ist für mich, wie Urlaub für die Seele. Der schöne
Garten, das gute Essen, die wertvollen Begegnungen - einfach eine Wohlfühl-Oase inmitten einer Großstadt. Ein Ort,
wo man ernst genommen wird, wo versucht wird, verstanden und angenommen zu sein und zu werden. Ein Ort der
Begegnung. Ein schöner Name. Soteria. Aber auch das Leid.
Die traurigen Blicke. Die starren Körper. Die ins Leere blickenden Menschen, versunken in ihre Gedankenwelt...Freude und
Trauer. Mein Platz in der Soteria. Es ist ein Platz wo man Urlaub machen kann für die Seele. Sicherlich ist es eine Psychiatrie, eine Form der Klinik und kein Urlaub wie im Reisekatalog.
Sicherlich, eine einsame Insel mit langen Sandstrand, Palmen,
guten Cocktails wäre mir lieber - aber mein Platz ist halt (leider) momentan gerade hier. Ich mache Urlaub für die Seele in
der Soteria.
(JS)
(BL)
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❯ Aus dem Soteria-Alltag
Aus dem
SOTERIA-ALLTAG
1:1 Begleitung
Maria Freudenreich (Psychologin im Praktikum) beschreibt eine konkrete Erfahrung in ihrer ersten 1:1 Begleitung.
Roswitha Hurtz (Oberärztin) erläutert theoretische Hintergründe und fasst die bisherigen Erfahrungen mit der 1:1 Begleitung zusammen.
Der Versuch, ein Container zu sein Meine erste 1:1-Begleitung
“Ich halte es nicht mehr aus.“ Wie ein wildes, zorniges Tier fegt
er durch den Wintergarten, läuft auf und ab, das Gesicht zu
einer wütenden, gequälten Grimasse verzerrt. Der Ausdruck
wechselt sekündlich zwischen Schmerz, Verzweiflung und unbändiger Wut. Ein Dampfkessel, kurz vor der Explosion - ein
Eindruck, der vom Rauch der immerfort brennenden Zigarette, der aus Nase und Mund aufsteigt, unterstrichen wird. Er
weiß weder vor noch zurück, weder ein noch aus. So geht das
seit Stunden. Ich weiß noch nicht, wie ich ihm helfen kann.
Aber der Druck muss raus; ansonsten wird der Kessel explodieren. Wir machen uns auf zu einem Spaziergang. Wie ein
gezähmtes Raubtier läuft er schnaubend und wütend, neben
mir her. Ich erzähle ihm etwas, da scheint der Druck plötzlich
weg zu sein: Die Gequältheit ist spurlos verschwunden, ein
einnehmendes Lächeln erhellt das Gesicht. Und doch hält er
es nicht aus, wir kehren um. Es folgen: Kartenspielen, Tee kochen, reden, Gemüse schnipseln, wieder Karten spielen, Kaffee trinken, wieder reden, wieder Kaffee trinken.... Nichts hilft
dauerhaft, immer nur kurze Momente der Erleichterung. Was
kann ich tun, wie kann ich ihm helfen, was ist eigentlich meine Aufgabe? Vielleicht einfach dabei sein, einen Teil dessen,
was ihn so quält, des sinnlich wahrnehmbaren inneren Drucks
in mich aufnehmen und für ihn entgiften und entkräften. Am
Ende des Tages fühle ich mich verwirrt, unruhig, getrieben.
Ich weiß weder vor noch zurück, weder aus noch ein. Habe
ich mich angesteckt?
Theoretische Hintergründe und bisherige Erfahrungen bei der 1:1 Begleitung
Die personelle Besetzung ermöglicht, in jeder Einheit für jeweils einen der Patienten eine 1:1 Begleitung anzubieten, bei
der ein Mitarbeiter nur für diesen Patienten zur Verfügung
steht. Die Indikation zur 1:1 Begleitung ist dann gegeben,
wenn ein Patient von psychotischem Denken und Erleben
überschwemmt und geängstigt wird, der Realitätsbezug be-
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einträchtigt ist, die Affekte labil und nicht kontrollierbar sind,
die Möglichkeit, für sich Verantwortung zu übernehmen,
eingeschränkt ist, die Basisversorgung mit Essen, Trinken
und Körperpflege nicht sicher gewährleitstet ist, Selbst- oder
Fremdgefährdung bestehen. In einem solchen Zustand ist
die Fähigkeit, Beziehungen aufzunehmen und zu regulieren,
schwer gestört. Um den psychotischen Menschen an dieser
Stelle nicht sich selbst und seinen Ängsten zu überlassen, bieten wir die engmaschige Begleitung an. Vorrangiges Ziel ist
die von Ciompi beschriebene nachhaltige emotionale Spannungsreduktion. Die Bezugsperson versucht, auf die aktuellen
Bedürfnisse des Patienten einzugehen, Ängste zu mildern, eine
vertrauensvolle Beziehung aufzubauen und die körperliche
Basisversorgung sicherzustellen. Die Bezugsperson fungiert
dabei auch als Hilfs-Ich, das die fehlende psychische Struktur
des Patienten kompensiert, die Affektregulierung unterstützt
und Annäherung an die äußere Realität ermöglicht. Dabei ist
das Herstellen des jeweils passenden Abstands vorrangiges
Ziel. Es darf nicht zu nah werden, dann droht Identitätsverlust, und es darf nicht zu weit weg sein, dann drohen Verlassenheits- und Vernichtungsängste. Die 1:1 Begleitung kann
im Weichen Zimmer oder auch auf der Station und im Alltag
stattfinden. Die Begleitung kann im miteinander schweigen,
sprechen, spielen, kreativen Aktivitäten oder häufig auch Spaziergängen bestehen. Es geht um eine ruhige Anwesenheit,
mehr Mit-Sein als Mit-Tun. Falls der Patient über sein psychotisches Erleben sprechen will, hören wir es an, akzeptieren, was
der Patient mitteilt. Das psychotische Erleben wird nicht interpretiert und muss nicht als erstes verschwinden. Der Patient
kann dabei erleben, dass psychotische Inhalte, Ängste und
innere Spannungen aufgenommen und ausgehalten werden,
ohne dass die Bezugsperson daran zugrunde geht.
Bei längeren 1:1 Begleitungen entwickelt sich relativ häufig
eine Teamdynamik, bei der es im Team eine „progressive“
Gruppe gibt, die den Betroffenen weniger schonen und mehr
fordern möchte, und eine „regressive“ Gruppe, die versucht,
Anforderungen zu vermeiden und das Schützen und Gewäh-
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Aus dem Soteria-Alltag ❮
ren lassen des Patienten im Vordergrund sieht. Das bildet
umfangreich Anteile des Patienten ab, aber durchaus auch
Persönliches der jeweiligen Mitarbeiter, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Patienten „verwickeln“ lassen. Solange es möglich bleibt, dies im konstruktiven Dialog im Team
zu verstehen und zu reflektieren, lassen sich Lösungen finden.
Allerdings gelingt es nicht immer, die, wie Lempa es nennt,
„verbindende und gleichzeitig ungefährliche Zwischenzone
für einen Patienten zu schaffen, der eine Beziehung als existentielle Bedrohung und eine Trennung als Selbstverlust erlebt“. (Lempa 2000). Wenn der Patient sich nicht beruhigt,
eher aversiv reagiert, sehr angespannt oder nicht mehr bündnisfähig suizidal wird, wenn also aus der Begleitung eine Bewachung wird, dann sind die Grenzen des Soteria-Settings
erreicht und ein Patient muss, zumindest vorübergehend, auf
eine geschlossene Aufnahmestation verlegt werden.
Beim Blick auf unseren bisherigen Umgang mit der 1:1-Begleitung ist es wichtig, den gegenseitigen Austausch über die
subjektiven Erfahrungen der Mitarbeiter im Arbeitsalltag noch
zu intensivieren. Neben unserer speziellen Teamdynamik bildet sich dort auch ab, dass dies ein `wirklich schwieriger Bereich´ ist, in dem jeder zeitweilig auf sich allein gestellt ist, sich
über die oft große Nähe sehr mit dem Patienten identifiziert
und damit auch selber verletzlich wird. Es gibt keine definierten Kriterien oder Methoden, an denen man sich orientieren
kann, denn auch die Reaktionen der Patienten auf die 1:1
27
Begleitung sind sehr unterschiedlich und komplex. Wenn man
von einer intensiven Begegnung, die in der 1:1 Begleitung
möglich werden kann, ausgeht, berührt dies auch die Frage,
inwieweit ich als Person den passenden Resonanzraum zur
Verfügung stellen kann, ab wann das eigene persönliche Erleben im Weg steht oder den Blick verstellt. Das Geschehen, das
sich häufig im vorsprachlichen, kaum symbolisierten Raum
zwischenmenschlicher Begegnung abspielt, lässt sich oft nur
mühsam und bedingt benennen. Das macht das Thema zwar
intensiv greifbar, aber oft auch schwer in Worten fassbar. Wir
haben im Team die Absprache getroffen, dass sich jeder Mitarbeiter jederzeit ohne besondere Begründung aus der 1:1
Begleitung ablösen lassen kann und keiner eine ganze Schicht
lang durchhalten muss. Dies hat für viele Kollegen die besondere Anstrengung, die eine 1:1 Begleitung bedeuten kann,
tragbarer gemacht.
Literatur
Ciompi L, Hoffmann H, Broccard M (Hrsg) (2001).
Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch
durchleuchtet. 1. Auflage Hans Huber, Bern. 43-68.
Lempa G (2000). Deutung, Neuerfahrung, Ich-Bildung. Überlegungen zur Bedeutung behandlungstechnischer Modifikationen bei der
psychoanalytischen Therapie schizophrener Psychosen. In: Die Bedeutung des psychosozialen Feldes und der Beziehung für Genese,
Psychodynamik, Therapie und Prophylaxe der Psychosen. Mentzos
S, Münch A (Hrsg.). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 100-10.
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Aus dem Soteria-Alltag
Soteria bei Tisch
Regina Hübschke (Sozialpädagogin) beschreibt Eindrücke und Abläufe der Mahlzeiten im milieutherapeutischen
Soteria- Alltag
Betritt man die Soteria, fällt der Blick auf einen großen runden
Gong. Der Klang fällt unterschiedlich aus: mal leise-zurückhaltend, mal zu laut -dröhnend und blechern. Das „richtige
Maß“, bei dem die Schwingungen angenehm spürbar sind,
will getroffen sein und kann mehrmals täglich geübt werden.
Zu allen Mahlzeiten, aber auch bei allen beginnenden Therapien oder gemeinsamen Aktivitäten ruft der Gong zum Start.
Die gemeinsamen Mahlzeiten sind ein wichtiger Bestandteil
des milieutherapeutischen Alltags. Jeweils zwei PatientInnen
sind für den gedeckten Tisch verantwortlich inklusive des Abräumens nach dem Essen. Das Frühstück ab acht Uhr wird
unterschiedlich genutzt; oft gehen noch müde Patienten mit
einer Tasse Kaffee in der Hand erst mal weiter in den Wintergarten, in dem geraucht werden kann. Zur Morgenrunde um
neun Uhr erschallt der Gong zum ersten Mal. Am Frühstück-
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Soteria 11/2013
stisch sitzend übernimmt ein Patient die Leitung der Morgenrunde, in der nach einer Befindlichkeitsrunde die organisatorischen Belange des Tages abgesprochen werden.
Jeden Tag kochen zwei PatientInnen gemeinsam; es braucht
Absprachen, was gekocht wird und wer was macht. Fehlen
noch Zutaten wird eine Liste an den zuständigen täglichen
Einkaufsdienst übergeben, der postwendend im nahe gelegenen Supermarkt die Besorgungen erledigt. Dauert die Zubereitung des Essens einmal länger als bis zwölf Uhr, schauen hungrige PatientInnen und MitarbeiterInnen in der Küche
vorbei und bieten ihre Hilfe an. Besteckkratzende Geräusche
und oft ein anerkennendes Murmeln zeugen vom anschließenden gemeinsamen Tun. Der ab und zu skeptische Blick
oder die Nachfrage, welche Zutaten zusammen verarbeitet wurden, kann meist humorvoll geklärt werden. Auf der
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Aus dem Soteria-Alltag ❮
Handlungsebene, gerade beim Zubereiten von Mahlzeiten,
lassen sich einerseits Ressourcen als auch Unterstützungsbedarf deutlich erkennen. Mitunter ist es nötig, strukturierend
einzugreifen oder die Absprachefähigkeit zwischen den PatientInnen zu fördern. Beim gemeinsamen Schnippeln oder
Abwaschen lassen sich gut Gespräche führen. In dieser ungezwungenen Atmosphäre entsteht ein kreativer und lebendiger Beziehungskontakt; anders erlebbar als in der klassischen
Gesprächssituation. Als Mitarbeiter ist man gleichermaßen
Handelnder und Lernender, wie der Patient auch.
29
nen. Sowohl nonverbal als auch in einfachen Unterhaltungen
über Gott und die Welt ergeben sich Möglichkeiten, sich gegenseitig wahrzunehmen und aufeinander zu reagieren. Beim
und nach dem Essen können sich lockere Gesprächsrunden
ergeben. Die Tatsache, dass auch die Teammitglieder mit am
Tisch sitzen, ermöglicht auch im therapeutischen Setting einen offeneren Kontakt miteinander. Nicht zu vergessen: ein
meist spontan am Tisch geplantes Kickerspiel- ohne Gong-,
dennoch mit viel Engagement und Herzblut auf allen Seiten.
Beim Abendessen werden gerne die Reste des Mittagessens
als Salate oder Suppen verarbeitet. Frisches ist beliebt und die
besonderen Vorlieben von PatientInnen und MitarbeiterInnen
kommen zur Geltung. Wieder ist das gemeinsame Tun in der
Küche ein wichtiges Bindeglied im Kontakt zu den PatientIn-
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Aus dem Soteria-Alltag
Die Psychotherapiegruppe in der Soteria
Die Psychotherapiegruppe ist seit 2004 fester Bestandteil und eine tragende Säule des therapeutischen Angebotes in
der Soteria. Tanja Rommel-Sattler (Diplompsychologin) gibt einen Einblick in unsere Erfahrungen. Für die Arbeit mit der
Gruppe orientieren wir uns an I. Yaloms gruppentherapeutischem Prinzip des Hier und Jetzt, aber auch an psycho- dynamischen mentalisierungsfördernden, nicht übertragungsfokussierten Gruppenkonzepten.
In der Soteria leben für einen begrenzten Zeitraum Menschen
zusammen, die eine seelische Krise erleben oder erlebt haben,
psychotisch sind oder es gerade waren. Die Gemeinschaft
strukturiert zusammen mit dem Team den Alltag: es wird gemeinsam eingekauft, gekocht und gegessen, aber auch geputzt, die Wäsche gewaschen und gemeinsam die Freizeit
gestaltet. Gemeinsames Tun ist für Menschen in und nach
akuten psychotischen Krisen oft eine enorme Herausforderung. Gleichzeitig ist es aber auch eine große Chance, mitgestalten zu können und beteiligt zu sein. Man fühlt sich angenommen, gebraucht und geachtet. So kann man sich wieder
spüren und lebendig fühlen. Das Leben in einer Gemeinschaft
birgt aber auch gruppendynamisches Konfliktpotential. Zweimal in der Woche kommt die aktuelle Patientengemeinschaft
für eine Stunde mit zwei Therapeuten zur Psychotherapiegruppe zusammen. Es ist ein gemeinsamer Reflexionsraum, in
dem Erfahrungen ausgetauscht und Konflikte benannt und
geklärt werden können.
Wer nimmt an der
Psychotherapiegruppe teil?
Wir wünschen uns von allen PatientInnen eine verbindliche
Teilnahme an der Psychotherapiegruppe. Manchmal ist das
am Anfang, wenn jemand hoch akut psychotisch ist, noch
zu viel. Wir vereinbaren dann individuell, ob eine Teilnahme
an der Psychotherapiegruppe förderlich ist. Wenn ein Patient
stark dissoziiert, sehr von paranoiden Ängsten gequält ist,
nicht mehr als ein oder zwei Menschen gleichzeitig ertragen
kann, wäre es kontraindiziert, an der Psychotherapiegruppe
teilzunehmen zu müssen. Deshalb wird die Teilnahme flexibel
gehandhabt. Wir vereinbaren mit den TeilnehmerInnen einfache und übliche Gruppenregeln (Besprochenes wird nicht
nach außen getragen; jeder kann, wenn es ihm zuviel wird,
den Raum verlassen; man sollte aber nach einer Auszeit,
wenn möglich wiederkehren; Handys werden ausgeschaltet).
Der Ablauf ist immer gleich strukturiert. „Eine der wirksamsten Arten Struktur zu liefern,“ schreibt Yalom bezüglich der
Gruppen, die im stationären Rahmen stattfinden, „besteht
darin, in jede Sitzung eine konsequente, ausdrückliche Abfolge einzubauen.“ (Yalom, S. 452) In unserer Psychotherapiegruppe finden anfangs Vorstellungen und Verabschiedungen
statt. Anschließend bringen die TeilnehmerInnen ein Thema
ein, das in der verbleibenden Zeit besprochen wird.
Ankommen und wieder weggehen
Da sich die PatientInnen-Zusammensetzung in der Soteria immer wieder ändert, ist die Psychotherapiegruppe halboffen.
Sie wird von den Prozessen des Ankommens und des Ab-
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Soteria 11/2013
schiedes begleitet. Ankommen und Gehen, sich einlassen und
sich lösen sind wichtige, sich immer wieder aufs Neue ereignende Prozesse. Häufig sind diese beiden dialektischen Prozesse bei unseren PatientInnen biographisch schwierig und
schmerzhaft belegt. Trennungen und Brüche kennzeichnen
das Leben vieler Menschen, die psychotisch werden. Kontaktund Beziehungsaufnahme können aber auch eine besondere Schwierigkeit im menschlichen Miteinander sein. Wie nah
darf mir ein Mitmensch auf den Pelz rücken, wie halte ich
mir den Anderen vom Leib? Eine gute Nähe beziehungsweise
eine gute Distanz zu finden, hat sich als Problem im Leben
vieler entpuppt und kann hier in einer Gruppe neu erprobt
und erfahren werden. Daher sind diese beiden wiederkehrenden Themen alles andere als einfach. Jeder Patient, der
neu hinzukommt, stellt sich in der Psychotherapiegruppe den
MitpatientInnen vor. Diejenigen, die stabil sind und entlassen
werden, verabschieden sich und können ihre Behandlungserfahrungen und ihre Zeit in der Soteria ins Gespräch bringen.
Was war hilfreich, was war schwierig? Die Psychotherapiegruppe hat für diese natürlichen Prozesse des Ankommens und
des sich-Trennens eine haltgebende, containende Funktion.
Themen und Gesprächsdynamiken
Nach Vorstellung und Verabschiedung kann jeder, der dies
möchte, ein Thema einbringen, mit dem wir uns dann befassen. Uns ist wichtig, den Kontakt unter den TeilnehmerInnen
zu fördern. Es geht nicht darum, psychose-spezifische Psychoedukation zu leisten und „objektives“ Wissen zu vermitteln. Nicht selten entsteht dies in der Diskussion, wenn konkrete Fragen kommen, auf die eindeutig geantwortet werden
kann. Im Vordergrund steht, einen Erfahrungsaustausch unter
den PatientInnen zu ermöglichen sowie authentische Rückmeldung aus der Gruppe zu unterstützen. Die Themenbreite erstreckt sich über alle Bereiche des menschlichen Seins.
Wiederkehrende Themen sind Angst vor Stigmatisierung,
Umgang mit Medikamenten, Austausch über psychotisches
Erleben, Stressreduktion, Entspannung u.v.m.. Häufig ist die
Psychotherapiegruppe aber auch der Ort, an dem Konflikte
aus dem Zusammenleben in der Soteria zur Sprache kommen.
Hier können konkrete Alltagserlebnisse und –erfahrungen
thematisiert und mithilfe der Mitpatienten und/oder der Therapeuten benannt, häufig gelöst werden. Damit sind zum einen Konflikte unter MitpatientInnen als auch mit dem Team
gemeint. Das klingt banal und ist es manchmal auch. Häufig sind Konfliktklärungen aber auch von heftigen Gefühlen
begleitet und es ist schwer zu fassen, worum es eigentlich
geht. Letztlich ist es jedes Mal eine Herausforderung, damit
es der Gruppe gelingt, eine Klärung und Beruhigung zu schaffen. Es ist für das Zusammenleben hilfreich, baut Ängste ab,
schafft Vertrauen und hilft dem Einzelnen, Orientierung zu
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Aus dem Soteria-Alltag ❮
finden. Dann entsteht eine konstruktive Gruppenkohäsion.
Mitunter können devitalisierende -wütende, abweisende, negative- Kräfte deutlich werden. Beziehungen werden verbal
attackiert, feindselige Verhaltensweisen tauchen auf. Hartnäckiges misstrauisches Schweigen entsteht oder jemand monopolisiert die Sprache, lässt niemand anderen mehr zu Wort
kommen in seinem nicht zu unterbrechenden Redestrom.
Manchmal macht sich in der Gruppe ein unangenehmes Klima breit. Dann wird das Denken schwer und verarmt, stirbt
ab, schläft ein und es ist mühsam, den Faden zu finden und zu
halten. Die Folge kann sein, dass TeilnehmerInnen den Raum
verlassen, der Gruppenzusammenhalt sich teilweise auflöst,
unverbunden und karg wird. Die Psychotherapiegruppe kann
helfen, das Schwierige zu containen, aber auch zu verdauen
oder verdaulicher zu machen. Dies geschieht zum Beispiel, indem das zerstörerische Potential des Umgangs miteinander
benannt werden kann, dadurch entschärft wird und sich allmählich wieder eine positivere Gruppendynamik entwickelt.
Psychotherapiegruppe –
ein neuer Erfahrungsspielraum
Für viele unserer PatientInnen bietet die Psychotherapiegruppe einen neuen Erfahrungsspielraum. Viele entdecken erstmalig die Möglichkeit, Unsagbares und Unfassbares aus der
häufig einsamen psychotischen Erlebniswelt mitzuteilen und
dabei auf Verständnis zu stoßen. „Ja, das kenne ich auch“,
„Ich habe auch Stimmen gehört.“ „Auch ich hatte Verfolgungsängste, bezog alles auf mich.“ Hier können PatientInnen
gemeinsam überlegen was es heißt, psychotisch zu sein. Hier
kann man erfahren, dass es ein VOR der Psychose und auch
ein DANACH gibt, dass Krisen bewältigt werden können. Hier
kann man Hoffnung schöpfen. Die Psychotherapiegruppe
kann helfen, gemeinsam eine Sprache für schwer zu beschreibende Zustände zu entwickeln. Hier kann man erleben, dass
man mit schwierigen Gefühlen wie Angst, Einsamkeit, Wut
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und Verzweiflung nicht alleine bleiben muss. Es kann im geschützten Rahmen diskutiert werden, ob und auf welche Weise man mit Familie und Freunden über die psychische Erkrankung sprechen kann. Die Psychotherapiegruppe bietet einen
Rahmen, sich mit der Sinnhaftigkeit der Medikation, dem Für
und Wider psychiatrischer Behandlung auseinanderzusetzen.
Die TeilnehmerInnen sprechen auch über ihre Erfahrungen in
therapeutischen Wohngemeinschaften, tauschen sich über
betreutes Einzelwohnen und andere Aspekte des sozialen
Netzes aus. Sie teilen ihre Empörung über Missstände, sprechen über erfahrene Stigmatisierung oder über gute hilfreiche
Erfahrungen mit Eltern, Freunden, Kollegen. Die mitgeteilten
Erkenntnisse und Erfahrungen sind häufig von lebendiger
Kreativität, zeugen von Sensibilität und Auseinandersetzungsbereitschaft unserer PatientInnen. Die Psychotherapiegruppe
kann somit Sinnschmiede sein und helfen, Gräben der Angst
und des Misstrauens zu überwinden. Sie kann eine Gemeinschaftsproduktion werden, in der ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, ein Kohärenzgefühl entsteht. Das kommt dem
Zusammenleben der therapeutischen Gemeinschaft in der
Soteria zugute und jedem einzelnen Patienten.
Literatur
Mentzos S. (2009) Lehrbuch der Psychodynamik,
Die Funktion der Dysfunkionalität psychischer Störungen,
Vandenhoeck & Rupprecht GmbH & Co., Göttingen
Reddemann, L. , Ressourcenorientierte psychodynamische
Gruppenpsychotherapie in Gruppenpsychotherapie und
Gruppendynamik, Zeitschrift für Theorie und Praxis der
Gruppenanalyse, 46. Jahrgang, 1/2010
Wöller W. , Gruppenpsychotherapie bei traumatisierten
Patientinnen in Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik,
Zeitschrift für Theorie und Praxis der
Gruppenanalyse, 46. Jahrgang, 1/2010
Yalom Irvin D. (1989) Theorie und Praxis der
Gruppenpsychotherapie, Verlag J. Pfeiffer,
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Aus dem Soteria-Alltag
Soziale Arbeit in der Soteria
Regina Hübschke (Sozialpädagogin) hat sich Gedanken zu der Integration von Theorien der Sozialen Arbeit in der
multiprofessionellen Teamarbeit der Soteria gemacht.
Kernelement der Soteria ist die Psychosebegleitung in Form
aktiven Dabei-Seins. Das setzt keine sozialarbeiterischen Fähigkeiten voraus, ergänzt sie jedoch konstruktiv. Aufgrund
der intensiven Beziehungsgestaltung entsteht die Möglichkeit, den einzelnen Menschen in seiner tiefen Vielfalt kennenzulernen. Die Soteria bietet im klinischen Rahmen einen
Schutzraum und die menschlichen Beziehungen stehen im
Vordergrund. Die jederzeit mögliche 1:1 Begleitung ist einer
der grundlegenden Unterschiede zu anderen Behandlungsmöglichkeiten. Die kontinuierliche Auseinandersetzung und
eigene Reflektion mit dem Nähe-Distanz-Verhältnis betrifft
alle Berufsgruppen. In der wöchentlich stattfindenden Intervision, bzw. einmal im Monat stattfindenden Supervision, ist ein
Rahmen dafür gegeben.
Die multiprofessionelle Zusammenarbeit im Soteria-Team ermöglicht eine umfassende Sicht auf die individuellen Probleme und Bedürfnisse der Menschen in psychotischen Krisen.
Die optimale Nutzung der Sozialgesetze, soziale Räume zu erschließen und erreichbar zu machen und die Beziehungsarbeit
gehören zu dem Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit. Psychische
Störungen werden in Beziehungen von Mensch zu Mensch
erfahrbar. Jede Patientin und jeder Patient kommt aus einem
individuellen sozialen Umfeld; das betrifft die Wohnungssituation ebenso wie Arbeitsumstände, den Familien –und Freundeskreis.
Diese Lebensbereiche werden in der Tandem-Arbeit (ein Bezugstherapeut/eine Bezugsperson) eruiert und bei Bedarf die
Beantragung eingeleitet.
Der milieutherapeutische Schwerpunkt kann als Bindeglied
zu den Grundsätzen und Methoden der Sozialen Arbeit
verstanden werden. Hans Thiersch stellte die Theorie einer
alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit auf: „Soziale Arbeit ist eine praxis-bezogene kritische Handlungswissenschaft, die die unterschiedlichen Traditionen von Sozialpädagogik und Sozialarbeit integriert, da die Konzepte von
Professionalisierung und Alltagsorientierung auf das Handeln
in konkreten Situationen zielen. (…)“. „Theorie der Sozialen
Arbeit kann nur eine Theorie einer sozialwissenschaftlich fundierten Handlungswissenschaft sein; dass darin historische
und philosophische Bezüge notwendig integriert sind, ist für
Thiersch selbstverständlich. Die Alltagswelten der Menschen
sind nach Thierschs Auffassung konkrete Lebensfelder, in
denen sich Alltäglichkeit darstellt: Ein gelingender Alltag ist
eine Aufgabe; ein gelungener Alltag wäre die Vollendung. Die
Momente des gelingenden Lebens und die der uneingelösten
Sehnsucht sind zu entdecken, bewusst und wach zu halten,
zu stützen und zu mehren.“ (Engelke 1998)
Die Psychosebegleitung wird in der Soteria in drei Phasen eingeteilt. Während in der Phase I die Bewältigung der akuten
psychotischen Krise im Mittelpunkt steht, geht es in der Phase II um Stabilisierung und Aktivierung. Mit der Phase III und
der Vorbereitung auf die Entlassung mit sozialer und beruflicher Wiedereingliederung und ambulanter Weiterbehandlung kommen Aspekte und Inhalte der Sozialen Arbeit in den
Vordergrund. Hier gilt es, die jeweiligen Möglichkeiten in den
folgenden Bereichen zu überprüfen und gegebenenfalls zu
vermitteln:
• Wohnen: evtl. Therapeutische Wohngemeinschaft,
Betreutes Einzelwohnen oder Nutzung des Persönlichen
Budgets
• Arbeit: Klärung der beruflichen Perspektive;
evtl. medizinische oder berufliche Reha beantragen;
Bewerbungen auf dem ersten oder zweiten
Arbeitsmarkt; Ausbildungsmöglichkeiten; Zuverdienst;
• Tagesstrukturierende Angebote, z.B.
Vermittlung in Tagesstätten oder Kontaktstellen
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Soteria 11/2013
Dieser Ansatz kommt im milieutherapeutischen Setting zur
Geltung. Das (Wieder-) Erlangen der alltagspraktischen Fähigkeiten, ob nun einkaufen, kochen, Wäsche waschen; Tisch
decken oder die Ordnung in gemeinsam genutzten Räumen
im Auge zu behalten, ermöglichen es den PatientInnen an
vorhanden Ressourcen anzuknüpfen. Die Arbeit im multiprofessionellen Team aus dem Blickwinkel der Sozialen Arbeit
kann konstruktiv und bereichernd die ressourcenorientierte
und individuelle Herangehensweise der Behandlung in der
Soteria ergänzen.
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Aus dem Soteria-Alltag ❮
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Soteria- Stammtisch
Claudia Reich (Krankenschwester und stellvertretende Stationsleitung) ist eine der drei Kolleginnen, die momentan den
monatlich stattfindenden Stammtisch für ehemalige Soteria-PatientInnen begleiten.
„…ein Ort, wo ich mich nicht verstecken muss...der einzige
Ort, wo ich über Probleme reden kann…“.
Das ist die Antwort eines Besuchers auf die Frage, warum er
zum Stammtisch geht. Die ehemaligen PatientInnen möchten
Kontakt halten mit den „Soterianern“; schätzen die Gemeinschaft und den Erfahrungsaustausch außerhalb der Soteria.
Das war auch die Ursprungsidee des damaligen Kollegen und
Stammtischgründers Florian Beutel (Sozialpädagoge). Die Idee
entstand in einer Zeit, als es in der Soteria wieder einmal eine
sehr intensive Patientengemeinschaft gab. Diese Patientengruppe wollte sich auch nach dem Klinikaufenthalt weiterhin
treffen. Florian Beutel fand es schade, dass die in der Soteria
so wichtige therapeutische Gemeinschaft mit der Entlassung
plötzlich endet. Er wollte die beiden Welten – die Zeit in der
Soteria und das „Leben draußen“- miteinander verbinden. Er
wollte dafür einen geschützten Rahmen außerhalb der Soteria schaffen. Es sollte eine regelmäßig stattfindende offene
Gruppe für ehemalige PatientInnen zum Erfahrungsaustausch
werden. So entstand der Soteria-Stammtisch, der sich einmal
im Monat in der Tagesstätte des Sozialpsychiatrischen Dienstes Neuhausens mit einem Kollegen aus der Soteria trifft. Zusätzlich können auch aktuelle PatientInnen am Stammtisch
teilnehmen. Wie das Treffen gestaltet wird, entscheidet die
Gruppe. Es gibt viele Möglichkeiten wie gemeinsam Kochen,
Spielen, Teetrinken oder einfach gemütliches Beisammensein.
Am wichtigsten sind Kontakt und Austausch. Die Besucher er-
zählen, wie sie ihr Leben meistern, von ihren Hoffnungen und
Wünschen und auch von ihren Krisen. Es wird über Medikamente und Nebenwirkungen geredet und ebenso, wohin die
nächste Reise geht. Da gibt es den langjährigen Besucher, der
von seinen Tics erzählt, die junge Studentin voller Tatendrang,
den Hartz IV Empfänger, der nicht weiß, ob er die Reha-Maßnahme machen soll, den jungen Mann, der nach fertigem Studium auf Jobsuche ist. Der erst kürzlich Entlassene berichtet,
was er gerade so macht, eine Frau, die vom Leben in der TWG
erzählt, die beiden Patienten, die aktuell noch stationär sind,
hören den anderen aufmerksam zu… eine bunt gemischte
Gemeinschaft.
Besonders für die Menschen, die noch in der Krise sind, erlebe ich den Stammtisch als sehr ermutigend. Es gibt Hoffnung, dass trotz Psychose und Medikamenten-Einnahme ein
„normales“ Leben mit Studium, Arbeit, Beziehung und vielen
weiteren Perspektiven möglich ist. Hier ist Raum, um über die
momentane Befindlichkeit zu reden und man trifft auf Verständnis. Hier darf man Lachen und den Kopf schütteln über
all die erlebten „Verrücktheiten“.
Ich freue mich jedes Mal auf den Stammtisch und bin gespannt, wer kommt und was er/sie zu erzählen hat. Und wenn
wir uns dann auf den Rückweg Richtung Soteria machen,
zieht manchmal ein Grüppchen weiter zur nächsten Kneipe…
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen
MIT DEN AUGEN DER KOLLEGINNEN
UND KOLLEGEN
Brief einer ehemaligen Kollegin
Sophie du Buisson (Krankenschwester) hat von 2003 bis 2011 in der Soteria als Bezugstherapeutin gearbeitet und anlässlich des 10jährigen Bestehens diesen Brief verfasst.
10 Jahre Soteria. Ein Anlass um innezuhalten, zurück zu
schauen und nachzudenken. Ich selbst habe rund acht Jahre
in der Soteria gearbeitet; als ich zum Team dazu stieß, war die
Soteria gerade einmal drei Wochen alt. „Ärzte schälen Kartoffeln, Krankenschwestern verfassen Arztbriefe, jeder macht
alles.“ Ja, ich war live dabei. Ich habe also am Zauber des
Anfangs teilhaben dürfen, habe ein kleines Stückchen Stationsgeschichte mit gestaltet, habe Entwicklungs-, Konsolidierungs-, Rück- und Erweiterungsschritte erlebt. Aus einer Soteria wurden zwei Soteria-Einheiten, wir betreuten nun auch
Tagkliniker, PatientInnen kamen und gingen.
„Was bedeutet es in der Soteria zu arbeiten? Schreib einen
Brief an die, die nach dir kommen!“ Das trug man mir auf, als
ich mich vor rund zwei Jahren vom Soteria Team verabschiedete. Nun denn, nichts leichter als das:
Liebe zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
Seid wachsam! Ja, nehmt euch in Acht vor der 14/E und der
14/O, die sich Soteria nennt. Ihr werdet dort auf alle erdenkliche Art und Weise eingewickelt, verwickelt, ausgepresst,
regelrecht ausgezuzelt wie eine Weißwurst. Ihr werdet nicht
mehr ein noch aus wissen vor lauter Befo, Bado, OPS und
Doku, werdet schlaflos in euren Betten liegen und an Patientenverläufe denken. Ihr werdet morgens zwanghaft unter der
Dusche Epikrisen und Krankenkassen-Verlängerungsanträge
formulieren, werdet keine ruhigen Heimwege haben, weil
ihr mal wieder den Kassenschlüssel oder gar das Telefon in
eurer Jackentasche findet. Ihr werdet permanent daran denken, was ihr in eurem Dienst nicht geschafft habt und am
Folgetag wird es noch mehr werden, was ganz dringend zu
erledigen ist. Der Aufgabenstapel wird zu einem mächtigen
Berg anwachsen und permanent drohen, euch irgendwann
unter sich zu begraben. Vor allem werdet ihr nie genug getan
haben und nicht nur das, ihr werdet nie genug sein, versagen!
Ihr werdet euch ohnmächtig, wütend und ratlos fühlen. Patienten werden euch über den Rand des Wahnsinns ziehen,
euch als Container nutzen; ganz zu schweigen von den Affekten, die eure KollegInnen oder die Oberärztin in euch auslösen werden. Ihr werdet unterbezahlt sein, eure Freizeit wird
schrumpfen, überhaupt, ihr werdet ausbrennen und rasch
altern. Jetzt sind es schon zehn Jahre - und graue Haare, die
sind auf dieser Station keine Seltenheit! (...)
I wo, großer Schmarrn, das kann man so nicht schreiben.
Schließlich sind die ehemaligen, zukünftigen und verbliebenen Mitarbeiter doch auf freiwilliger Rechtgrundlage da, sollten sich stets professionell verhalten und ihre Neurosen ausschließlich außer Dienst pflegen.
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen ❮
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Also, ein nächster Versuch:
Liebe zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
Seid wachsam! Ja, nehmt euch in Acht vor der 14/E und 14/O,
die sich Soteria nennen dürfen. Es gibt nicht viele richtig echte
davon in der Welt! Ja, sie ist etwas Besonderes. Sie wird euch
schnell ans Herz wachsen. Ihr werdet dort nicht nur arbeiten,
sondern leben: kochen, essen, musizieren, kickern, kegeln,
schlafen, spazieren gehen, lachen und Gespräche führen. Ihr
werdet die Patienten irre normal und menschlich erleben: einer kocht besser als ihr, der andere ist ein begnadeter Klavierspieler, einer nervt etwas und wieder einer hört gut zu.
Ihr werdet erleben, wie Menschen sich aus schwersten existenziellen Krisen, bis hin zum Verlust des Vertrauens in die
eigene Wahrnehmung, ins eigene Denken und Fühlen, mit
viel Mühe herauszuarbeiten suchen. Ja, ihr dürft im wahrsten
Sinne des Wortes „Dabei Sein“, begleiten, mittragen, bzw.
ein tragfähiges Gegenüber sein, stellvertretend die Hoffnung
hochhalten und einen Schutzraum zur Verfügung stellen. Darüber hinaus werdet ihr eine Menge toller KollegInnen haben,
die einfühlsam, kreativ, engagiert, (manchmal ein wenig zu)
selbstkritisch sind und für die die Achtung der Einzigartigkeit
und Würde des jeweiligen Patienten keine Floskeln darstellen.
Ihr werdet, wenn’s wirklich brenzlig wird, ein offenes Ohr und
eine helfende Hand von KollegInnen und dem Leitungstandem finden, ebenso wie jemanden, der bereit sein wird, den
Dienst zu tauschen oder nach Feierabend ein Bier mit euch zu
trinken. Nehmt euch in acht, die Soteria wird euch anrühren,
prägen, euer Wertesystem verändern. Ihr werdet möglicherweise weinen, wenn ihr sie einmal wieder verlassen müsst.
(...)
Nein, ich habe damals keinen solchen Brief geschrieben und
werde es auch heute nicht. 10 Jahre Soteria sind lediglich ein
Anlass innezuhalten, zurückzuschauen und nachzudenken.
Ein Anlass mich dankbar zu erinnern an kostbare, wenn auch
nicht immer leichte, Begegnungen und Begebenheiten – sei
es mit KollegInnen, sei es mit PatientInnen. Mich zu erinnern
an Momente des Anfangens, des Wachsens, des sich Wiederaufrappelns ebenso wie an die des Scheiterns und des
Sterbens, an Momente der Klarheit und der Zuversicht, wie
an Momente der Verzweiflung und der Trauer. That’s life.
Ja, entgegen vieler Prognosen, Ökonomisierungs- und Rationalisierungsprozesse, sie lebt, die Soteria im Klinikum München-Ost! Und ist mit ihren 10 Jahren doch noch nicht wirklich alt.
Danke, weiter so und happy birthday!
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen
Ersteindrücke - Ein Hospitationstag in der Soteria
Margit Wildermuth (Krankenschwester) ist seit 2010 in der Soteria und arbeitet inzwischen als Bezugstherapeutin. Sie
beschreibt die Eindrücke ihres Hospitations-Tages vor ihrer Einstellung.
Neue Erfahrungen
Ich hatte noch nie zuvor von Soteria gehört, die Bedeutung
des Wortes - Wohl, Bewahrung, Rettung, - hatte mich berührt
und die Erklärung im Internet, dass es sich um eine alternative stationäre Behandlungsform für Menschen in psychotischen Krisen handelt, hatte mich angesprochen. So machte
ich mich, wohl ganz im Sinne des Gründers Loren Mosher,
ohne jegliche psychiatrische Erfahrung, dafür ideologiefrei auf
den Weg zum Hospitieren in die Soteria am Klinikum München-Ost. Ich betrat eine Jugendstilvilla, dessen alte Mauern
mich freundlich empfingen, der Gang war breit und hell, mit
farbig ansprechenden Bildern dekoriert, eine einladende angenehme Atmosphäre war spürbar. Es war ein Wohlfühlen
von der ersten Minute an und ich hatte mich schon in diesem
Augenblick für ein Arbeiten in der Soteria entschieden, dabei
lag der Tag noch vor mir.
Menschen zu sprechen, meine Befindlichkeit darzulegen. Die
Fragen: Was sage ich, wie sage ich es, wie viel sage ich….
rasten durch meinen Kopf, dabei wurde meine Stimme immer zittriger, meine Professionalität schmolz dahin. Ein paar
freundliche Blicke aus der Runde taten auch mir gut und halfen mir, wieder eine halbwegs sichere Mitte zu finden.
Selbsterkenntnisse
Ein Gong ertönte, es war Zeit für die Morgenrunde. Meine
zukünftigen KollegInnen nahmen sich meiner an und gemeinsam mit den PatientInnen versammelten wir uns an einem
großen Tisch im Wohnraum, dieser war mit Sorgfalt für das
Frühstück gedeckt, das die meisten bereits eingenommen
hatten. Ein Blick in die Runde, sind alle Patienten da? Hr. B.
fehlte noch, er hatte in der Nacht kaum geschlafen und war
noch nicht in der Lage aufzustehen. Die Morgenrunde begann ohne ihn. „Wer möchte denn heute die Morgenrunde
leiten?“ Stille… Die meisten wirkten abwesend, noch sehr
müde, manche starrten auf ihren Teller, ein misstrauischer
Blick traf mich, ich spürte, wie ich gemustert wurde, das fühlte sich unangenehm an, ich versuchte trotzdem, freundlich
zurückzublicken und erntete ein zaghaftes Lächeln. Hr. W.
erlöste uns aus der Stille und erklärte sich bereit, die Morgenrunde zu leiten. Er wählte sich einen Stein aus dem Korb, der
bereits auf dem Tisch stand, hielt diesen vorsichtig in Händen
und beschrieb stockend, wie er geschlafen hatte und wie es
ihm ging, dabei wanderten seine Augen immer wieder hilfesuchend zur diensthabenden Kollegin, die ihm aufmunternd
zulächelte. Sichtlich erleichtert reichte Hr. W. den Stein weiter.
Der sehr lebendige, nicht enden wollender Redefluss von Fr.
S. ergoss sich in die Morgenrunde, sie hatte so viel zu erzählen, sprang von einem Thema zum nächsten und hätte
sicherlich noch Stunden weiter erzählt, wäre sie nicht freundlich dazu aufgefordert worden, den Stein an ihren Nachbarn
weiterzugeben. Nach einigen sehr kurzen, teilweise genervt
oder lieblos hingeknallten Worten: „Habe gut geschlafen, mir
geht es gut“, landete der Stein schließlich bei mir. Ich versuchte mich in kurzen Worten vorzustellen, bemerkte dabei,
dass es mir gar nicht so leicht fiel, vor einer Gruppe fremder
10 Jahre
Soteria 11/2013
Menschlichkeit
Der Stein kam wieder zum Ausgangspunkt zurück. Hr. W.
schien wenig begeistert, nahm ihn dennoch und hielt sich
krampfhaft an dem Stein fest. Es sollte die Tagesplanung
besprochen werden, die entsprechenden Fragen dazu sollte
Hr. W. stellen, dieser wirkte überfordert und brauchte Unterstützung vom Team: „ Was steht heute an? Um zehn Psychotherapiegruppe…gut… danach Kochen. Wer hat denn heute
Kochdienst?“ Hr. P. und Fr. S. meldeten sich…Hr. W. seufzte
tief, als er mit dem Klopfen auf den Tisch die Morgenrunde
endlich beenden konnte. Ein paar aufmunternde und vorsichtig lobende Worte der diensthabenden Kollegin zauberten dann doch ein leichtes Strahlen in das Gesicht von Hrn.
W.. Die meisten Patienten strömten in Richtung Wintergarten
zum Rauchen, einige räumten ihre Teller und Tassen in den
Geschirrspüler, um den Rest musste sich der Frühstücksdienst
kümmern. Ich half mit. Bei dieser banalen Alltagstätigkeit
verlor ich meine Scheu und kam ganz selbstverständlich und
unverfänglich mit den PatientInnen in Kontakt. Es hat sich gut
angefühlt, mitten drinnen ein Teil des Ganzen zu sein, einfach
mit dabei zu sein. Die Frage, ob ich mir zutrauen würde, die
beiden Patienten bei der Planung des Mittagessens zu unterstützen, hatte mich gefreut. Da ich von den Abläufen und
den Räumlichkeiten noch keine Ahnung hatte, war ich auf
die Hilfestellung der Patienten angewiesen und so starteten
wir die Entdeckungsreise „Kochplanung“. Meine Sorgen, ob
ich es schaffen würde, mit Patienten in psychotischen Krisen
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen ❮
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richtig und gut umzugehen, lösten sich hierbei ein Stück weit
auf, denn ich erlebte das gemeinsame Erledigen von Alltagstätigkeiten als einen Schlüssel, der ganz selbstverständlich
zu einem menschlichen Umgang auf Augenhöhe führt und
dabei viele Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für
beide Seiten bietet.
so schwitzte ich tapfer beim Herausbacken der Fische, suchte dazwischen verlorengegangene Köche, die zum Rauchen
oder auch ins Bett verschwunden waren, mobilisierte Ersatz
für Patienten, denen die Kraft ausgegangen war und war
letztlich genauso stolz und auch ziemlich erleichtert, als das
Essen endlich am Tisch stand. Hoffentlich schmeckt es allen!
Abenteuer
Anerkennung
So manche Ausflüge, die ich später mit PatientInnen unternehmen sollte, wurden zum Abenteuer, oft war ich aufgrund
einer geringen Orientierungsfähigkeit meinerseits auf die
Unterstützung aller Mitfahrenden angewiesen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Gerade dieses „nicht alles können“ hat dabei immer wieder viel Gemeinsamkeit geschaffen.
Beim Hospitieren und in meinen Anfangszeiten erlebte ich
das Kochen als größtes Abenteuer, denn Kochen für fünfzehn
Personen empfand ich als eine Herausforderung besonderer
Art, die nicht zu meinem Erfahrungsschatz zählte und bei der
ich noch lange Bauchweh hatte. An meinem Respekt und der
Hochachtung vor der Leistung der PatientInnen, die sich dem
Kochen jeden Tag auf Neue stellen, hat sich bis heute nichts
verändert. Bei meinem ersten Kochabenteuer gab es gebackenen Fisch mit Kartoffelpüree und Salat. Zeitlicher Rahmen
waren eineinhalb Stunden, dann sollte das Essen am Tisch
stehen. „Schaffen die beiden Patienten das? Schaffe ich das?“
Auch als Teammitglied muss man sich den verschiedensten
Herausforderungen stellen, um an ihnen zu wachsen und
Wie schön, die meisten waren mit dem Essen zufrieden, vereinzelt gab es sogar Lob, zunächst von den KollegInnen, später auch von den Patienten. Dabei konnte man spüren, wie
die Anspannung der Köche nachließ und auf den Gesichtern,
einschließlich meinem eigenen, ein leichtes Strahlen sichtbar
wurde. Die Anerkennung war wohltuend und motivierend für
weitere Kochabenteuer.
Fazit nach inzwischen drei
Jahren Soteria
Die gelebte Haltung des gesamten Teams, dass jeder -Patient,
Kollege, Schüler, Praktikant - der zu uns kommt auf seine ganz
besondere Art und Weise eine Bereicherung für uns und unsere Arbeit darstellt, gehört mit zu den wichtigsten Gründen,
warum ich meine Tätigkeit mit Freude ausübe und mit Stolz
hinter dem stehe, was Soteria für mich bedeutet.
10 Jahre
Soteria 11/2013
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen
10 Jahre
Soteria 11/2013
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen ❮
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10 Gründe in der Soteria zu arbeiten
Philippe Spielmann (diplomierter Gesundheits- -und Krankheitspfleger) lebt und arbeitet in Linz in Österreich. Er absolvierte 2011 im Rahmen seiner Ausbildung ein vierwöchiges Praktikum in der Soteria 14/O. „Voller Faszination lernte ich
diese Art der psychiatrischen Pflege kennen, die so anders ist als jene, die ich bis dahin kennengelernt hatte“ schreibt er
in seiner Diplomarbeit über die Soteria. Außerdem schrieb er über sein Praktikum bei uns diesen Text.
Das habe ich davon in der Soteria zu arbeiten
Ein Erlebnis
Ich habe die Möglichkeit, psychotische Menschen in all ihrer Vielfalt,
Lebendigkeit und Kreativität zu erleben.
Schule
Ich werde im Umgang mit psychotischen Menschen geschult und entwickle darin Sicherheit und
Kompetenz.
Wertschätzung
Ich bin eng in ein multiprofessionelles Team eingebunden, in dem Respekt und Wertschätzung
sowohl gegenüber Teammitgliedern wie auch gegenüber Patienten gelebt wird.
Offenheit und Lernbereitschaft
Ich bin Teil eines neugierigen Teams, das bereit ist, unkonventionelle, experimentelle Wege zu
gehen und nie aufhört zu lernen.
Anerkennung
Ich arbeite auf einer Station, welche bei Patienten sehr beliebt ist. Ich erlebe sehr viel Dankbarkeit
und Anerkennung von den Patienten.
Querdenken
Ich erlebe meinen Arbeitsalltag als kreative Herausforderung – ich darf umdenken und querdenken.
Abenteuer
Der Alltag an meinem Arbeitsplatz ist sehr abwechslungsreich, birgt allerlei Überraschungen und
ist manchmal geradezu abenteuerlich, er ist eigentlich ganz und gar un-alltäglich und fernab eines
monotonen Klinikalltages.
Intensiv
Durch eine gute personelle Besetzung habe ich die Möglichkeit,
intensiv mit Patienten zu arbeiten.
Selbsterkenntnis
Ich habe während der Arbeit immer wieder Gelegenheit, mich selbst
besser kennenzulernen.
Menschlichkeit
Ich habe den Freiraum, meine Vorstellung von Menschlichkeit zu leben.
10 Jahre
Soteria 11/2013
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen
25 Jahre in Haar - 10 Jahre Soteria
Ein kunsttherapeutischer Bericht über den langen Marsch
durch die Institution
Christofer Schopf (Kunsttherapeut) hatte am 01.09.2013 sein 25jähriges Dienstjubiläum im Bezirkskrankenhaus Haar
(heute: IAK-KMO). Er arbeitet von Beginn an in der Soteria mit und hat sein eigens und das Jubiläum der Soteria zum
Anlass genommen, seine Erfahrungen und Sichtweisen aufzuschreiben.
Manchmal lohnt es sich eben dran zu bleiben. Für meine 25
Jahre habe ich einen freien Tag bekommen und eine Urkunde
im Rahmen einer teaminternen Überreichung. Auch wenn es
mir im Vorfeld als nicht sonderlich bedeutsam erschien, so
habe ich mich doch über diese Anerkennung gefreut. Für kurze Zeit hob mich diese Wertschätzung heraus aus dieser immer noch zu großen Institution, plötzlich fühlte ich mich besonders, als Christofer Schopf, ein Kunsttherapeut mit seiner
ganz eigenen Geschichte. Ich glaube, jeder Mensch hat den
Wunsch in seiner Besonderheit wahrgenommen zu werden.
Deshalb passt es, dass ich letztlich in der Soteria meinen Platz
gefunden habe. Seit vier Jahren bin ich mit einer halben Stelle
nur noch dort. Zuvor arbeitete ich in separaten Therapie-Räumen und kam nur zu Besprechungen auf die verschiedenen
Stationen des Fachbereichs West, mit denen ich zusammenarbeitete. Eine davon war seit ihrem Bestehen die Soteria.
Ich bin ein bisschen eigensinnig. Und ich habe keinerlei
Vertrauen in den Versuch, menschliche Probleme in standardisierter Form erfassen und behandeln zu wollen. Man-
10 Jahre
Soteria 11/2013
che werden vielleicht einwenden, dass es bei psychotischen
Störungen nicht um diffuse menschliche Probleme, sondern
um ernsthafte Krankheiten geht, die im ICD 10 bzw. im DSM
trennscharf beschrieben seien. Und dass eine exakte Diagnose die wesentliche Grundlage für eine fachkundige, primär
medikamentöse Behandlung sei und außerdem die moderne
Qualitätssicherung doch zu vielen Verbesserungen in der Behandlung geführt habe, etc.. Ich könnte mit Faust antworten:
„Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“. Und
das nach 25 Jahren klinischer Erfahrung.
Einiges hat sich getan in dieser langen Zeit. Anfangs arbeitete ich mit der Bildhauerin Rotraut Fischer zusammen, dann
kam schon bald meine erste kunsttherapeutische Kollegin
Claudia Burgard dazu. Wir haben zum Teil noch mit Menschen gearbeitet, die ihr halbes Leben in der Psychiatrie
verbracht hatten, sogenannte Langzeitpatienten. Einzelne
von ihnen hatten Lobotomie und die Kombination aus Insulin- und Elektroschocks noch am eigenen Leib erlebt,
massive Spätdyskinesien aufgrund viel zu hoher Neuroleptika-
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen ❮
Dosierungen waren kein seltenes Bild. Manche Gesichter und
die dazugehörigen Geschichten werde ich nicht vergessen.
Sie waren gezeichnet für den Rest ihres Lebens. Längst war es
vollkommen unmöglich, die Folgen der Hospitalisierung und
die ursprünglichen individuellen Problemen zu unterscheiden.
Diese Zeit und die Frage nach den Ursachen dieser Missstände haben mich geprägt. Aber nicht deshalb bin ich in Haar geblieben. Ich habe damals, quer durch die Berufsgruppen, eine
ganze Reihe von glaubwürdigen Menschen kennengelernt
und erlebt, die alle mit großem Engagement an der Humanisierung und Reformierung der Psychiatrie arbeiteten. Und ich
spürte in mir eine Affinität zu den sogenannten „Verrückten“.
Einige mochte ich einfach in ihrer teilweise sehr eigenwilligen
Art und es erschien mir ziemlich leicht, Kontakt zu ihnen zu
bekommen und mit ihnen zusammen zu arbeiten.
In den 90er Jahren kam es in Folge der Psychiatrieenquete
zur schrittweisen Auflösung der Verwahrpsychiatrie. Ich erinnere mich noch gut an einen älteren Herrn. Er wurde nach
Jahrzehnten in Haar in eine Wohngemeinschaft nach Giesing
41
verpflanzt und kam noch einige Zeit ambulant in die Kunsttherapie. Er malte wochenlang nur noch Häuserzeilen, verarbeitete in den Bildern, was an neuen Eindrücken auf ihn
einstürmte, erschuf sich seine Landkarte der neuen Welt.
Salopp gesagt erfolgte damals der Wandel von der Anstalt
zum Krankenhaus. Am ersten Tag der offenen Tür wurde Haar
fast überrannt von Interessenten. Es war eine Art innergesellschaftlichen Maueröffnung, die damals stattfand. Durch die
bundesweit gültige Psychiatriepersonalverordnung besserten
sich die Personalschlüssel spürbar, viele neue therapeutische
Ideen und Ansätze hielten Einzug. Sozialpsychiatrische Perspektiven und Persönlichkeiten prägten einige der Stationen,
das gesamte Krankenhaus wurde neu strukturiert, die 4
allgemeinpsychiatrischen Fachbereiche entstanden, die internen Fortbildungen waren gut besucht, die Diskussionen rege
und engagiert. Es war ein kurzes Aufatmen. Doch auch diese
Phase ist schon wieder Geschichte.
Seit Anfang des Jahrtausends ist die Entwicklung des Gesundheitssystems geprägt von der Einführung der Qualitäts-
10 Jahre
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen
sicherung, Fallpauschalen, Leitlinien, Standards, etc.. Ihre
wichtigste Funktion ist die Überprüfbarkeit von einzelnen
Leistungen und eines der wichtigsten Ziele ist die Kostensenkung vor allem im stationären Bereich. Verknüpft damit
ist der Glaube - besser gesagt die Ideologie - dass sich eine
austauschbare, personenunabhängige Behandlungsqualität
durch die Implementierung z.B. ISO-zertifizierter, standardisierter Handlungsabläufe herstellen lasse. Alles wird immer
besser (durch den kontinuierlichen Verbesserungsprozess),
kostet immer weniger und funktioniert immer unabhängiger
von wirklichen Menschen. Auf der Strecke bleibt in diesem
Denken und Handeln die Bedeutung des Individuums. Die
Freiheit bzw. die konkreten Handlungsspielräume des einzelnen Menschen, sowohl der PatientInnen als auch der BehandlerInnen werden wieder zunehmend enger, dafür wachsen
die Umsätze der Krankheitsindustrie.
Dabei machen die einzelnen Menschen und Atmosphären der
Behandlung den Unterschied. Es „menschelt“ überall. Das gilt
nicht nur für die Soteria, sondern für jede Station. Nur wenn
man sich als Person gemeint fühlt und ein spürbares Wohlwollen und gegenseitiges Vertrauen den gemeinsamen Alltag
prägen, ist man als Mitarbeiter/in bereit, sein Bestes zu geben,
und als Patient/in bereit, sich zu öffnen und Selbstverantwortung zu übernehmen. Es braucht Spielräume, in denen sich
motivierende Ideen und Haltungen entfalten können und eine
Alltagspraxis, an deren Gestaltung alle konkret beteiligt sind.
So entsteht Stationsidentität und echte Kooperation. Ich bin
in der Soteria auch Kunsttherapeut, aber ich bin vor allem ein
Mitglied des Teams und bringe mich in viele verschiedenen
Situationen mit meinen alltäglichen und besonderen Fähigkeiten ein. Ich erlebe eine große Sinnhaftigkeit in meiner Arbeit
und entsprechend ist meine Zufriedenheit. Eine Patientin hat,
anlässlich eines Interviews zum Thema „10 Jahre Soteria“, an
einer Stelle beschrieben, wie sie die Soteria-Mitarbeiterinnen
erlebt: „Ich hab nämlich das Gefühl, die Leute hier strahlen
nicht so das Gestresste aus. Die Anderen waren immer fast
schon genervt von den Patienten. Ich finde, die Leute, die
es gut machen, die haben kein Problem mit den Patienten.
Die haben Spaß an ihrer Arbeit und sehen einen Sinn in ihrer Arbeit und das strahlen sie dann auch aus. Die wirken irgendwie..., die ruhen so in sich selbst und sind gut gelaunt.
Die laufen nicht durch die Gegend und man sieht ihnen an,
die freuen sich schon wieder auf den Feierabend. Und das
macht den Patienten ein gutes Gefühl“. Dem, was sie da im
Kern sagt, werden natürlich alle zustimmen: Zufriedene MitarbeiterInnen ermöglichen, dass sich PatientInnen gut fühlen.
Wie aber kommt es zu zufriedenen oder unzufriedenen MitarbeiterInnen? Wenn zu viel vorgegeben ist, zu viel Energie
in Anpassungsleistungen und bloßes Funktionieren fließt und
gleichzeitig die Personalbesetzung immer dünner wird, dann
geht die Freude an der Arbeit verloren, die MitarbeiterInnen
brennen aus und distanzieren sich in Folge zunehmend von
ihrem anstrengenden „Job“ und von den PatientInnen. In
geschlossenen psychiatrischen Stationen herrscht in diesem
10 Jahre
Soteria 11/2013
Sinne eine oft sehr spürbare Distanz zwischen Personal und
Patienten und genau dann kommt es schneller zu eskalierenden Konflikten, zu Zwangsmaßnahmen und Traumatisierungen, sowohl von PatientInnen als auch von MitarbeiterInnen.
Mit daraufhin steigenden Dosierungen von Medikamenten
und einem inneren Rückzug auf beiden Seiten schließt sich
der negative Regelkreis. Darüber wird nicht gerne geredet,
man möchte lieber als unverwundbar und stark erscheinen,
„sanftere“ Ansätze wie die Soteria werden gerne mal als „Kuschelpsychiatrie“ abgetan.
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Mit den Augen der Kolleginnen und Kollegen ❮
Ein wirklicher Unterschied ist, dass wir in der Soteria eine
hohe Aufmerksamkeit auf die belastenden und (re-)traumatisierenden Situationen verwenden, die natürlich auch in unserem Alltag auftreten. Wir versuchen, keinen allein zu lassen
mit seiner Not und gleichzeitig alle Beteiligten ausreichend zu
schützen. Das Weiche Zimmer und die 1:1 Begleitung sind in
diesem Sinne das intensivste Angebot, das wir machen. Für
das Team haben diesbezüglich Supervision und gemeinsame
Team-Fortbildungen einen sehr hohen Stellenwert. Psychotische Erregungszustände und Konflikte aller Art ohne Zwangsmaßnahmen und mit geringen Medikamenten-Dosierungen
zu bewältigen, ist mitunter alles andere als kuschlig. Erforderlich ist die Bereitschaft, auch in schwierigen Situationen
in Kontakt und Verhandlung zu bleiben, immer wieder Beziehungsangebote zu machen und gleichzeitig ausreichende
Grenzen zu setzen. Das „Being with“ ist primär keine medizinische Methode, sondern eine menschliche Haltung, die
sich aus der Überzeugung und Erfahrung speist, dass sich die
psychischen Selbstheilungskräfte unter menschenwürdigen,
schützenden und zugleich Selbstbestimmung fördernden Bedingungen am besten entfalten können.
Lange Zeit herrschte in der Psychiatrie die Meinung, dass mit
verstehenden und beziehungsorientierten Ansätzen bei PatientInnen mit psychotischen Störungen nicht viel zu erreichen
sei. Die Bild der weitgehend genetisch bedingten Hirnstoffwechselstörung war und ist nach wie vor weit verbreitet,
auch wenn sich die Hypothese der definierbaren genetischen
Störung explizit nicht bestätigt hat. „Es gibt keine Genetik der
Schizophrenie...“ ist die ernüchterte Zusammenfassung von
Wolfgang Maier am Ende seiner jahrzehntelangen Forschung
zu diesem Thema. Es gibt gute Gründe und viele konkrete Erfahrungen und Rückmeldungen von PatientInnen, die zeigen,
dass es sich lohnt, das Bedürfnis nach Normalität und nach
einer freundlichen und schützenden Atmosphäre nicht als banales Beiwerk, sondern als wesentliche Bedingung einer menschenwürdigen und wirksamen Behandlung zu verstehen. Die
psychodynamischen, sozialen und systemischen Zusammenhänge rücken dabei verstärkt in den Fokus, die medikamentöse Behandlung wird als wichtige Ergänzung betrachtet.
Ich finde, wir machen Einiges richtig in der Soteria. Ich sage
das nicht ohne Stolz. Natürlich gibt es auch bei uns ungelöste Konflikte, schwierige Teamdynamiken, Misserfolge, Ärger, Tratsch und Rivalität. Aber wir haben über die Jahre als
Team die Fähigkeit entwickelt, damit ausreichend bewusst
umzugehen und mit einer gewissen Achtsamkeit die Dinge
zu Sprache zu bringen. Das ist nicht immer ideal, aber es ist
alltagstauglich. Es ermöglicht einen gangbaren Weg zu finden
zwischen Leugnung der Konflikte, bloßer Anpassung oder
zermürbenden Kämpfen. Wir gehen davon aus, dass unsere
Fähigkeit mit eigenen Schwächen und Konflikten ausreichend
konstruktiv umzugehen, in einer direkten Resonanz steht zu
den Fähigkeiten der PatientInnen, ihre Schwierigkeiten aktiv
wahrnehmen und anpacken zu können. Diese Sicht ist nicht
43
spezifisch für die Soteria, aber sie hat dort eine besondere
Ausprägung gefunden.
Ist die Soteria ein psychiatriekritischer Anachronismus oder ist
sie ein wichtiger Beitrag zur Entstehung einer besseren Psychiatrie? Es besteht diesbezüglich immer noch Nachholbedarf
und durch Gustl Mollath ist es wieder einmal medienwirksam
ins Bewusstsein gerückt. Es geht in einer demokratischen Gesellschaft letztlich immer um Freiheit, Transparenz und um
wirkliche Teilhabe. Es gibt für dieses Problem kaum einen sensibleren Bereich als die Psychiatrie.
In manchen Punkten hat sich an meiner Sicht der Dinge in
den 25 Jahren nichts verändert. Noch immer ist für mich das
wichtigste, den ganzen Menschen -einschließlich seiner Störung- zu behandeln, anstatt „eine Krankheit“ zu behandeln
und dabei primär zu versuchen, deren Symptome so schnell
wie möglich zum Verschwinden zu bringen. Viel wichtiger ist
die Fähigkeit eines Teams, bzw. aller Beteiligten, Situationen
zu deeskalieren, zu beruhigen, Zeit zu gewinnen, reizarme Situationen zu schaffen und Selbstregulation zu ermöglichen.
So lassen sich Traumatisierung und Stigmatisierung durch Behandlung weitgehend vermeiden: Ein engagiertes Team, ein
überschaubares Haus mit Garten, dessen Bewohner, Abläufe
und Spielregeln man kennt. Ein spürbares gemeinsames Interesse, nämlich Hilfe zu schaffen. Ein gemeinsamer Alltag, der
von den einfachen Notwendigkeiten strukturiert ist (kochen,
sauber machen, waschen, etc.) und BehandlerInnen, die von
ihrem Handwerk etwas verstehen und die sich trotzdem nicht
wie distanzierte Profis benehmen, sondern wie normale Menschen. Ich kann nur sagen: es lohnt sich und ich bin dankbar
für die Möglichkeit, diese Idee gemeinsam verwirklichen zu
können.
10 Jahre
Soteria 11/2013
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Sichtweisen von außen
SICHTWEISEN VON AUSSEN
Der Soteria-Beirat
Seit 2005 besteht der Soteria-Beirat. Er setzt sich aus VertreterInnen der Betroffenen und Angehörigen, der Krankenkassen, der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft München, der niedergelassenen PsychiaterInnen, der Krankenhausleitung
sowie jeweils vier der aktuellen PatientInnen und der Oberärztin der Soteria zusammen. Der Beirat tagt zwei bis dreimal
jährlich. Er dient dem kommunikativen Austausch mit Personen und Funktionsträgern, die einen engen Bezug zur Soteria
und zur Soteria-Idee haben. Er fördert den Trialog und unterstützt die Soteria beratend in grundsätzlichen Angelegenheiten. Dazu gehören Grundsatzfragen des Konzepts, Finanzierungsfragen, Öffentlichkeitsarbeit und Begleitforschung.
Im Folgenden beschreiben einige der Beiräte ihre Sichtweise der Soteria und der Beiratsarbeit:
Frau Dr. Sybille Groß - Vertreterin der
Angehörigen (Aktions-Gemeinschaft
der Angehörigen psychisch Kranker
(ApK)
Für die APK München (Aktionsgemeinschaft der Angehörigen
psychisch Kranker) bedeutete die Installation der Soteria im
Klinikum München-Ost die Erfüllung eines lange gehegten
Wunsches. In Gesprächen und Beratungen bei uns zeigt sich
bis heute, dass diejenigen, die sich schon viele Jahre bevor die
Soteria Realität wurde, für sie eingesetzt haben, von heute
aus gesehen das Richtige taten. Die Soteria ist in den letzten
10 Jahren gewachsen; ich erlebe im Beirat diese Entwicklung
mit und versuche den Angehörigen zu vermitteln: wir haben
hier ein besonderes Angebot, das sicher nicht für alle, aber für
viele, Hilfe und Ermutigung bedeuten kann.
Herr Stefan Poggemann - Vertreter der
AOK Bayern und der Krankenkassen
Mir imponiert als „Zahlenmensch“ die Begleitforschung der
Soteria. Es wird unermüdlich darauf geachtet, dass Thesen
durch harte Zahlen belegt oder widerlegt werden können.
Dass die erfolgreiche Arbeit der Soteria aber mehr ist als dass,
was sich in den Zahlen positiv widerspiegelt, wurde mir spätestens im Rahmen meiner Beiratstätigkeit klar. Durch die
Personen, die ich im Beirat kennen gelernt habe, durch die
Berichte der an den Sitzungen teilnehmenden Patienten und
Patientinnen und durch die Schilderungen von Frau Hurtz
über die Abläufe in der Soteria ist bei mir der nachhaltige Eindruck entstanden, dass das Konzept der Soteria nicht nur als
Arbeitsplatz und Versorgungsangebot wahrgenommen wird,
sondern als Herzensangelegenheit gelebt wird.
10 Jahre
Soteria 11/2013
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
Sichtweisen von außen ❮
Herr Johann Fahn, Direktor der
AOK-Bayern a. D. - berufenes
Beirats-Mitglied
Aus der Idee ist Wirklichkeit geworden – 10 Jahre Soteria –
Ging es bei der Idee SOTERIA nur um einen neuen Namen
für etwas Bestehendes? Oder: Sehen wir SOTERIA als Herausforderung und Chance für das Ziel einer bedarfsorientierten
Versorgungsstruktur, um ein möglichst vielfältiges Angebot
an Behandlungseinrichtungen zu erreichen? Ja, aus der Idee
ist Wirklichkeit geworden und diese Wirklichkeit erleben wir
in einer sehr Patienten-orientierten Klinikeinheit. SOTERIA hat
sich etabliert, ergänzt die bestehende Versorgungsstruktur
mit einem weiteren Behandlungsspektrum. SOTERIA erfährt
eine überaus positive Akzeptanz durch die Patientinnen und
Patienten und zeichnet sich durch eine nachhaltige Effizienz
aus, das bestätigen die Daten der Begleitforschung. So dürfen wir heute sagen: SOTERIA ist auf einem guten Weg in die
Zukunft.
Alfred Deisenhofer - Vertreter der
Münchner Psychiatrie-Erfahrenen
(MüPE)
Soteria, die unsterbliche Hoffnung - Soteria, von Loren Mosher 1971 in Kalifornien gegründet, war von Anfang an die
unsterbliche Hoffnung der Psychiatrie-Erfahrenen. Mosher
versprach, Psychosen grundsätzlich ohne den Einsatz starker Medikamente in einem reizarmen, zuwendungsreichen
nicht-stationären Umfeld zu heilen. Seine Einschränkung war,
dass in seiner Soteria nur Erstpsychosen aufgenommen wurden. Loren Mosher, der kompromisslos sein Ziel verfolgte,
starb 2004, seine Idee aber lebt weiter. Seit 10 Jahren auch in
dem Münchener Soteria- Projekt Nicht alle Blütenträume von
medikamentenfreier Wiederherstellung und Salutogenese
konnten realisiert werden. Die Erfolge aber sind ermutigend.
Soteria hat die volle Unterstützung der Münchner Psychiatrie-Erfahrenen (MüPE) als Wegbereiter eines eigenverantwortlichen Umgangs der Betroffenen mit Psychosen. Wir freuen
uns, dass die Soteria München in der Zwischenzeit größer geworden ist, wünschen ihr zum 10. Geburtstag alles Gute und
ein langes und erfolgreiches Leben und Wirken zum Wohl der
Patienten und eine dauerhafte Vorreiterrolle und Vorbildrolle
für alle Bereiche der stationären und gemeindenahen Psychiatrie.
Dr. med. A. Niederschweiberer Vertreter der niedergelassen Psychiater
und Nervenärzte
Als Herr Dr. Eymer (damaliger Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie West) mich Anfang 2005 fragte, ob ich bereit wäre, den
bis dahin vakanten Platz als Vertreter der niedergelassenen
Psychiater und Nervenärzte im Soteria-Beirat einzunehmen,
sagte ich ohne lange nachzudenken Ja und habe dies bis heute nicht bereut. Die zwei- bis dreimal jährlich stattfindenden
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Arbeitstreffen sind für mich sehr bereichernd und trotz des
weiten Anfahrtswegs stets lohnend. Durch die vielfältigen
und fundierten Informationen von Frau Hurtz habe ich das
inhaltliche Konzept und den therapeutischen Alltag der Soteria im Lauf der Zeit immer besser kennengelernt. Seit die
Sitzungen direkt in der Soteria stattfinden und teilweise auch
Patienten als Gäste teilnehmen, ist mir auch die typische Soteria-Atmosphäre noch vertrauter geworden. Natürlich ist auch
der Austausch mit den Soteria-Mitarbeitern, der Klinikleitung,
den Vertretern von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und
Krankenkassen und den anderen Beiratsmitgliedern immer
wieder wertvoll und befruchtend. An der einen oder anderen
Stelle versuche ich, den Blickwinkel und die Bedürfnisse der
ambulanten Versorger einzubringen und Anregungen zur Optimierung der „Schnittstellenproblematik“ zu geben. Im Juli
2013 stellte Frau Hurtz das Konzept und den therapeutischen
Alltag der Soteria bei einem Treffen der Arbeitsgemeinschaft
Münchner Nervenärzte und Psychiater vor, was bei den Kollegen großen und positiven Anklang fand. Ich persönlich habe
in den letzten Jahren das Soteria-Konzept und insbesondere
dessen konkrete Umsetzung im „Haus im Park“ des Klinikums
München-Ost so sehr schätzen gelernt, dass ich dankbar und
stolz bin, im Beirat mitzuarbeiten. Ich gratuliere der Soteria
von Herzen zum zehnten Geburtstag und wünsche Frau Hurtz
und ihrem Team auch für die nächsten zehn Jahre weiterhin
so viel Kraft, Freude und Geschick wie bisher, um das modellhafte Projekt einer modernen, partnerschaftlichen und humanen Psychiatrie so vorbildlich und erfolgreich weiterentwickeln und wertvolle Impulse für andere Versorgungsbereiche
geben zu können.
Frau Rosemarie Karmann und
Frau Hilde Kormann-Linins für die
Aktions-Gemeinschaft der
Angehörigen psychisch Kranker (ApK)
Angehörige werden einbezogen - Wir Mitglieder der ApK sind
der Soteria sehr verbunden. Denn wir haben gemeinsam mit
den Professionellen und Betroffenen seit 1995 bei monatlichen Treffen in der Arbeitsgemeinschaft Soteria München
(ASM) – und bereits 1993 als Arbeitskreis Soteria - trialogisch
für die Soteria gekämpft. Und deswegen waren wir hocherfreut, als bei der gemeinsamen Tagung der ASM, dem Bezirk
Oberbayern und der Landeshauptstadt München am 19. Juli
2002 der Durchbruch gelang: Eine Soteria im Gelände des
Bezirkskrankenhauses Haar wurde genehmigt! Sehr begrüßen
wir die Einbeziehung der Angehörigen in die Behandlung der
PatientInnen als wichtigen Bestandteil des Soteria-Konzepts.
Dazu gehören Familiengespräche und Vorgespräche mit den
Angehörigen und das Angebot einer regelmäßigen Angehörigengruppe. Deshalb unterstützt die ApK auch die Arbeit
der Soteria durch Teilnahme an den Sitzungen des Beirates
und der Kooperationstreffen. Dem Team gratulieren wir zum
zehnjährigen Bestehen der Soteria und danken Ihnen allen für
Ihren unermüdlichen Einsatz. Für die Zukunft wünschen wir
uns, dass möglichst viele Betroffene an diesem Konzept teilhaben können.
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Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
❯ Sichtweisen von außen
Die Sicht des Supervisors - Einige Anmerkungen zur Bedeutung der Soteria innerhalb der psychiatrischen Versorgung
Dr. med. Günter Lempa (Psychiater und Psychoanalytiker) ist niedergelassener Psychotherapeut und Supervisor. Er hat
seit 2003 die monatliche Fall- und Teamsupervision in der Soteria durchgeführt, seit 2010 für beide Soteria-Einheiten.
Wenn man, wie der Verfasser dieses Textes, während mittlerweile 40 Jahren in Zivildienst, Studium und Arbeitsleben verschiedene psychiatrische Einrichtungen und Kliniken kennen lernte, kann man über eine Vielzahl von Erfahrungen berichten. Es gibt
große Unterschiede darin wie Professionelle - also Ärzte, Psychologen, Krankenschwestern - und falls vorhanden -Sozialpädagogen, Ergo-, Gestalt-, Musik- und Bewegungstherapeuten - mit Menschen umgehen, die unter psychiatrischen Erkrankungen
leiden. Man könnte sagen, es bestehen bestimmte Bilder vom Patienten und aus diesen Bildern ergibt sich eine bestimmte
Praxis des Umgangs mit dem Patienten. Dazu im Folgenden einige Beispiele.
Ein Blick in verschiedene
psychiatrische Welten
In einer psychiatrischen Universitätsklinik war der Patient vor
allem ein Objekt der Forschung. Damals ging es um die Erforschung der Größe der Gehirnventrikel, die man mit Luft füllte,
um sie besser messen zu können. Das war für die Patienten
sehr schmerzhaft, sie litten unter starkem Kopfweh. Es gab
keine Teambesprechungen. Die Pfleger und Schwestern wussten nichts von den Patienten. Sie sollten auch nicht zu viel
mit ihnen sprechen, sondern allzeit für Ruhe, und - besonders
wichtig - für Ordnung und jederzeit gemachte Betten sorgen.
In einem psychiatrischen Krankenhaus bestand die Behandlung von psychotischen Patienten ausschließlich in der (selten
freiwilligen) Gabe eines hochdosierten Neuroleptikums etwa
Glianimon zusammen mit einem niedrig potenten Neuroleptikum wie Atosil als Mischinjektion. Die psychotische Erkrankung, das waren die Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Der Psychiater war vor allem ein Detektiv, der bei einem Patienten diese Symptome feststellte, die in der Folgezeit recht
drastisch durch Medikamente bekämpft wurden. Waren die
Symptome nicht mehr feststellbar, war die Behandlung beendet.
In einem weiteren psychiatrischen Krankenhaus war man als
unerfahrener Assistenzarzt für etwa 200 Patienten zuständig.
Es gab eine Oberärztin, die außerhalb einer Visite, die etwa
alle zwei Wochen stattfand, nicht ansprechbar war, da sie
ihrer Hauptbeschäftigung, der Abfassung von gerichtlichen
Gutachten nachging. Die Patienten erhielten verschiedene
Medikamente, die immer mehr akkumulierten. Gab es Probleme mit einem Patienten, erfolgte eine Erhöhung der Dosis,
die vom Pflegepersonal vorgeschlagen und dann vom Arzt
abgesegnet wurde. In die andere Richtung einer Reduktion
der Dosis ging es praktisch nie. Der Patient war in diesem
System ein Insasse, der verwahrt und verwaltet wurde. Er war
kein Mensch mit einem eigenen Gesicht und einer eigenen
Geschichte, er interessierte nicht einmal als Forschungsobjekt.
Im anderen Extrem konnte man in Einrichtungen, die sich
gegen die etablierte Anstaltspsychiatrie verschworen hatten
und die versuchten, ihre Patienten oder Klienten nicht durch
10 Jahre
Soteria 11/2013
Zwangsmaßnahmen zu traumatisieren, beobachten, dass die
zu Betreuenden sozusagen die Macht übernahmen und nicht
mehr oder nur mit größter Mühe eingrenzbar waren. Die große unreflektierte Nähe zu den psychisch kranken Klienten, der
Versuch, sich mit ihnen zu verbünden, führte dann nicht selten zur Überforderung, modern ausgedrückt, zum Burn-out
des (über)engagierten Personals.
Auf als modern angepriesenen psychiatrischen Versorgungsmodellen wiederum können sich das Leid und die Angst der
Patienten gleichsam verflüchtigen. Es wird dabei sozusagen in
eine sozialpsychiatrische Umlaufbahn geschossen, wobei nie
jemand da ist, der Zeit hat, die oft schwer erträglichen Konflikte aushält, mit dem Patienten bearbeitet und versucht, mit
dem Patienten Alternativen zu erarbeiten. Der Patient wird
dabei als vor allem soziales Problem gemanagt, die subjektive
Seite der Erkrankung bleibt außen vor.
Dieser Rückblick zeigt verschiedene durchwegs einseitige Zugänge zur psychiatrischen Erkrankung. Der Patient ist ein Objekt der Forschung, er ist der Träger von Symptomen, die es
auszuschalten gilt, er ist jemand, den man verwahren und ruhig stellen muss oder er ist jemand, den man gegen die „böse
Psychiatrie“ in Schutz nehmen muss. Er ist schließlich ein gesellschaftliches Problem der psychiatrischen Versorgung, das
kostengünstig behoben werden muss.
Überblickt man die dargestellten psychiatrischen Einrichtungen und Verhaltensweisen, so zeigen sich also durchwegs
Einseitigkeiten. Bezogen auf das in der Psychiatrie allgemein
anerkannte bio-psycho-soziale Modell der Erkrankung fehlt
ganz deutlich die psychologische Dimension. Psychiatrische
Erkrankungen und darunter ganz besonders auch Psychosen
haben eine sehr ausgeprägte psychologische Dimension. Es
geht um existenzielle Konflikte, um Dilemmata im Umgang
anderen. Um Probleme von Abhängigkeit und Autonomie,
um Schwierigkeiten im Umgang mit Nähe und Distanz.
Soteria aus verschiedenen Perspektiven – Sichtweisen von innen und von außen
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Ein Blick in die Soteria
Bei einem Beitrag zu einem Jubiläumsband, wie diesem anlässlich des 10 jährigen Bestehens der Soteria, besteht immer
die Gefahr, dass man sich allzu sehr in Lobpreisungen ergeht.
In Anbetracht meiner 10-jährigen Erfahrung als Supervisor
kann ich dennoch nicht anders, als einige in der derzeitigen
psychiatrischen Landschaft selten anzutreffenden positive
Qualitäten dieser Behandlungsform hervor zu heben, die
weit über die übliche psychiatrische Versorgung, die in der
Soteria natürlich auch geleistet wird, hinaus gehen. In der
Soteria wird ein Mensch, der an einer Psychose erkrankt ist,
als Mensch mit seinem Leid, seinen Schmerzen und Ängsten
wahrgenommen. Die Behandlung besteht darin, sich ein Bild
eines Menschen zu verschaffen, der in einer existenziellen
Notlage mit einem Zusammenbruch reagierte. Die Behand-
lung besteht deswegen nicht darin, jetzt ganz schnell die
Symptome, die ja nur die oberflächlichen Auswirkungen einer tiefgreifende Krise sind, zum Verschwinden zu bringen,
sondern mit dem Patienten neue Lösungsmöglichkeiten für
Schwierigkeiten im Kontakt mit sich selbst und anderen zu
erarbeiten. Man könnte diese Berücksichtigung des psychologischen Faktors der Erkrankung als eine primäre Aufgabe der
Psychiatrie bezeichnen. Diese Aufgabe erfüllt die Soteria mit
einem engagierten, kreativen und lebendigen Team, das sich
trotz der nicht zu vermeidenden Schwierigkeiten und Rückschläge nicht die Hoffnung in die Entwicklungsmöglichkeiten
der Patienten nehmen lässt. Man kann dieser Behandlungsform, von der viele Patienten profitieren, nur viele weitere erfolgreiche Jahre wünschen.
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❯ Sichtweisen von außen
Team-Klausuren
Ulla Häusler ist Therapeutin und Supervisorin.
Sie moderiert und leitet seit vielen Jahren die regelmäßigen Klausuren des Soteria-Teams.
Seit 2005 begleite ich als Moderatorin die Team-Tage der Soteria im Klinikum München-Ost. Die Entwicklung des Teams
verfolgen zu können, war von Beginn an für mich spannend
und bereichernd. Angesichts der Pionierarbeit, die die Soteria
in der psychiatrischen Landschaft allgemein und im Klinikum
im Besonderen leistet, und der speziellen Haltung den Patienten und ihrer Erkrankung gegenüber, stand sowohl jeder
einzelne Mitarbeiter als auch das Team vor der Aufgabe, sich
eine neue berufliche Identität zu erarbeiten. Die Wertvorstellungen, die eine Soteria ausmachen, können nicht auf die Beziehung zum Patienten beschränkt werden, sondern müssen
als ethische Haltung vom Mitarbeiter angenommen und im
Team umgesetzt werden.
Außerordentliche Aufgaben bergen die Gefahr, Schwierigkeiten und Misserfolge in besonderem Maße zu erleben. Das
Team muss die Ängste des einzelnen, am Soteria-Gedanken
zu scheitern, halten und einen sicheren Ort bieten, an dem
diese Ängste verarbeitet werden können. Dazu kommt die
hohe Anforderung an ein Soteria-Team, die gemeinsame Matrix des Umgangs miteinander, des Umgangs mit den Patienten und der Patienten untereinander stets im Blick zu haben,
denn Ideale des menschlichen Miteinanders können nicht geteilt werden.
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Widersprüche müssen ausgehalten werden können: eine flache Hierarchie bei der Notwendigkeit, dass sich jede Therapeutengruppe eine eigene Identität erarbeitet; eine Identifikation mit den Zielen der Soteria bei gleichzeitiger Fluktuation
im Team; die Bereitschaft, Nähe zum Patienten herzustellen
bei einer begrenzten Behandlungsdauer etc. Trotz des Spagats zwischen den Sachzwängen eines Krankenhauses und
den Leitmotiven der Soteria bei der Behandlung psychotischer
Patienten hat das Team eine Standfestigkeit entwickelt, die
sogar eine Erweiterung der Soteria ermöglichte.
Zweimal im Jahr habe ich mit dem Team eine Kommunikationsstruktur gestaltet, die diesen subtilen Prozess voran
brachte: sich im Umgang mit Patienten und Kollegen in einem Kontext zu reflektieren, in dem psychiatrische Patienten
nicht ausgrenzt werden, sondern ihre Heilung in einem sozialen Umfeld verortet wird. Dieses Umfeld für die Patienten
zu schaffen und zugleich Teil dieses Umfeldes zu sein, macht
es notwendig, die Grenzen und Gemeinsamkeiten zwischen
Patient und Team, zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb des Teams und zwischen den einzelnen Mitarbeitern und der Soteria sorgfältig zu beobachten – damit
die Patienten sowohl Halt als auch Durchlässigkeit erleben
können.
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Team-Fortbildungen - der Soteria in Haar zum 10.
Dr. Michael Dümpelmann (Nervenarzt und Psychoanalytiker) leitet die Abteilung Psycho- und Soziotherapie im Asklepios
Fachklinikum Tiefenbrunn. Er leitet seit 2006 regelmäßige Fortbildungen für das Soteria-Team. Besonders bewährt haben sich Fallseminare zum Thema „Psychodynamische Haltung im milieutherapeutischen Alltag“, an denen auch die
besprochenen PatientInnen beteiligt waren.
Erst einmal gratuliere ich dem Soteria-Team ganz herzlich zu
diesem ersten runden Geburtstag! Und sehr gerne greife ich
die Einladung auf, zu diesem Ereignis ein paar Zeilen zu schreiben.
In der überwiegenden `regelpsychiatrischen´ Behandlung von
Psychosen gibt es einen eklatanten Widerspruch: Ist in den
Leitlinien eindeutig zu lesen, dass psychotherapeutische Behandlungsformen indiziert sind, werden die nur in wenigen
Ausnahmefällen durchgeführt. Gar nicht selten ist anzutreffen, dass mit psychotischen Menschen mit der Begründung
keine therapeutischen Gespräche geführt werden, weil es um
Psychosen geht.
In der Soteria in Haar ist das umgekehrt: `Sprechende Medizin´ wird angewandt, weil es um Psychosen geht und psychotische Menschen davon profitieren.
Viele gemeinsame Erlebnisse mit dem Soteria-Team in psychodynamischen Fallseminaren, Coaching und Supervision liefern
dazu eine Fülle von lebendigen Erfahrungen, die längst zu
einem Entwicklungsprozess geworden sind, der weiter geht
und äußerst beachtliche Schritte ermöglicht hat. Das Thema
der gemeinsamen Entwicklung, im Team die der Kooperation verschiedener Charaktere und Berufsgruppen, kann auch
als Leitmetapher für die Arbeit mit den PatientInnen gesehen
werden:
Das erreichte Augenmaß auch für scheinbar kleine nonverbale Interaktionen lässt sich anekdotisch vermitteln: Im Fall
eines psychotischen jungen Mannes mit einer massiven Entwicklungsstörung, der konstant zwischenmenschliche Nähe
mit läppischem Verhalten oder mit fusionärem Erleben beantwortete, war zwar biografisch klar, dass es erhebliche Belastungen in der Beziehung zu seiner Mutter gegeben hat, aber
es gab lange keinerlei Herankommen, um das zu bearbeiten.
Eines Tages bat er eine Schwester um eine Massage, weil er
völlig verspannt war. Als sie ihn mit Massageöl einrieb, wurde er merklich ruhiger und lächelte. Und dann war zu hören,
dass ihn das an seine Mutter erinnern würde. Solche Episoden
bestätigen nicht nur, dass biografische Erfahrungen, wie wir
mittlerweile wissen, gerade bei schweren Störungen nicht nur
in Worten repräsentiert und im Gespräch zu bearbeiten, sondern umfangreich in Verhalten und Handlungen organisiert
sind. Sie belegen vor allem die außerordentliche Chance der
Soteria-Arbeit dadurch, erst einmal `mit den PatientInnen zu
sein´, wie Benedetti das nennt, und abgestimmten Kontakt
herzustellen. Das hat in Haar auch dazu beigetragen, dass
Fallseminare und Coaching zu großen Teilen mit den PatientInnen durchgeführt werden können, die entgegen allen
Ängsten, sie würden dadurch überlastet, gerne kommen und
- mitten in der Behandlergruppe - aktiv mitarbeiten.
Respekt und Anerkennung
für all das und weiter auf diesem Weg!
Psychotische sowie andere schwere und sehr schwere psychische Störungsbilder finden in der Soteria neben der üblichen psychiatrischen Behandlung einen Raum für die (Nach-)
Entwicklung seelischer Fähigkeiten, der eine individuelle Abstimmung von Einbeziehung und Kontakt auf der einen wie
von Abgrenzung und Distanz auf der anderen Seite fördert
oder auch erst einmal entwickeln hilft. Sich im Kontakt durch
extrem labile Grenzen zwischen sich und der Außenwelt rasch
überrannt und bedroht zu erleben, aber auch mit sich allein
rasch hilflos und verloren zu sein, ist das Kernthema psychotischer Menschen, einer gar nicht so kleinen Gruppe in der
Bevölkerung. Das rückt in den Fokus, wie therapeutische
Kontakte zu gestalten sind, sanft und nicht invasiv, aber auch
präsent und sicher, um erst einmal überhaupt zustande zu
kommen und dann die Basis für eine Weiterentwicklung zu
bilden, oft mit dem ersten Ziel, dass eine dringend notwendige psychosoziale Weiterbehandlung toleriert und akzeptiert
wird. Diesen Aufgaben, vielfach ist eher angebracht, von
Herausforderungen zu sprechen, stellt sich das Soteria-Team
mit außerordentlicher Sensibilität, viel Geduld, einer mittlerweile erstaunlich großen Expertise durch die Berufsgruppen
hindurch und der permanenten Bereitschaft, das Erlebte zu
reflektieren und zu kommunizieren.
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Begleitforschung
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Begleitforschung
❯ Soteria-Begleitforschung; Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze
BEGLEITFORSCHUNG
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Soteria-Begleitforschung
Im folgenden Beitrag finden Sie eine sehr komprimierte Zusammenfasssung der Soteria Begleitforschung. Die ausführlichen Daten und Ergebnisse mit zahlreichen Graphiken haben wir in einem zusätzlichen Bericht „10 Jahre Soteria - Konzept und Ergebnisse aus der Begleitforschung“
veröffentlicht. Bei Interesse wenden Sie sich gerne an die angegeben Ansprechpartnerinnen.
Die Begleitforschung in der Soteria wurde vom 1.3.2003 bis
zum 31.12.2012 von einem externen Institut (zweiplus BERATUNG ENTWICKLUNG EVALUATION) in Zusammenarbeit
mit der BADO-Abteilung des Klinikums München-Ost durchgeführt. Die Datenerhebungen erforderten einen kontinuierlichen Einsatz aller MitarbeiterInnen des Teams. Sie wurde
durch ein zusätzliches Budget der Krankenkassen finanziert.
Mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen war die seriöse
Etablierung und Untersuchung einer Vergleichsgruppe nicht
realisierbar.
Von 2003 bis 2011 wurden 451 PatientInnen in insgesamt
605 Aufenthalten bezüglich Art und Umfang der Behandlung
sowie bezüglich der Behandlungsergebnisse untersucht. Erhoben wurden patientenbezogene Daten zur Lebenssituation, Vorbehandlungen und Krankheitsgrad. Soteria-spezifische
Behandlungs-Elemente (beispielsweise die 1:1 Begleitung)
wie auch klassische Behandlungselemente (beispielsweise die
Gabe von Neuroleptika) wurden systematisch erfasst. In einer
Katamnese über fünf Jahre wurden sowohl objektive Daten
als auch das subjektive Erleben der PatientInnen dokumentiert.
Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze
Soziodemographische Daten und Daten
zu Erkrankung und Behandlung
Medikamenten-Auswertungen
Obwohl die Soteria am Klinikum München-Ost anders als
die beiden Soteria-Ursprungsprojekte in Kalifornien und der
Schweiz neben Ersterkrankten auch mehrfach und länger erkrankte PatientInnen mit akuten Dekompensationen schizophrener und schizoaffektiver Psychosen behandelt, waren
knapp 58% aller PatientInnen höchstens 30 Jahre alt. Für
30% der PatientInnen stellte der Soteria-Aufenthalt die erste stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik dar.
Überdurchschnittlich viele PatientInnen (45%) hatten das Abitur oder Fachabitur, weitgehend altersentsprechend hatten
47,5% noch keinen Berufsabschluss. Der Schweregrad der
Erkrankungen war bei der Aufnahme in die Soteria vergleichbar mit den Aufnahmen mit Psychose-Diagnosen in die allgemeinpsychiatrischen Stationen des Klinikums München-Ost.
Die durchschnittliche vollstationäre Aufenthaltsdauer betrug
in der Soteria 63,2 Tage. Im Vergleich lag die Aufenthaltsdauer aller Psychose-Diagnosen in der Allgemeinpsychiatrie am
Klinikum München-Ost mit 58,4 Tagen etwas niedriger.
Das Soteria-Konzept beinhaltet einen vorsichtigen und behutsamen Umgang mit Medikamenten. Um eine Einschätzung
und Vergleichbarkeit der verabreichten Neuroleptika-Dosis
herzustellen, wurden die Empfehlungen aus den Behandlungsleitlinien Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
von 2006 zugrunde gelegt. Dort werden unterschiedliche
Dosierungen für ersterkrankte und mehrfach erkrankte PatientInnen empfohlen. In der Soteria wurden 10% aller PatientInnen ohne neuroleptische Medikation entlassen, in der
Gruppe der ersterkrankten PatientInnen waren es 22%. Der
Anteil einer niedrigdosierten neuroleptischen Behandlung lag
bei den ersterkrankten PatientInnen bei 33%, bei den mehrfach erkrankten PatientInnen bei 45%, 12% der mehrfach
erkrankten PatientInnen erhielten eine hohe neuroleptische
Dosierung, 14% eine Kombinationsbehandlung mit zwei
Neuroleptika. Erstaunlicherweise lag die Anzahl einer hohen
neuroleptischen Dosierung in der Gruppe der Ersterkrankten
mit 19% höher als bei den mehrfach erkrankten PatientInnen.
Die am häufigsten verwendeten Substanzen waren Quetiapin,
Olanzapin und Amisulprid.
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Begleitforschung
Die wichtigsten Ergebnisse in Kürze; Bewertung ❮
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Behandlungsbeurteilungen
Die PatientInnen waren zu 84% mit der Behandlung in der
Soteria zufrieden. 89% waren mit der Wertschätzung zufrieden, die ihnen durch die Soteria-MitarbeiterInnen entgegen
gebracht wurde. Mit der Möglichkeit, die Behandlung mitzugestalten waren 79% zufrieden und mit der Berücksichtigung der persönlichen Wünsche und Bedürfnisse 78%. Alle
Elemente des Soteria-Konzeptes wurden von über 85% der
befragten PatientInnen als hilfreich oder etwas hilfreich bewertet. Mit 95% wurden vor allem das Zusammenleben mit
den MitpatientInnen, die Einzelgespräche mit den Bezugspersonen und die Ansprechbarkeit des Personals im Alltag als
hilfreich oder etwas hilfreich bewertet. Über 88% der Patientinnen beurteilten die medikamentöse Behandlung als hilfreich oder etwas hilfreich.
Katamnese-Auswertungen
Zu vier Befragungs-Zeitpunkten (Behandlungsende/ halbes
Jahr/ ein Jahr/ zwei Jahre nach Behandlungsende) sagten zwischen 77% und 82% aller befragten PatientInnen stabil und
in der Tendenz zunehmend, dass die Behandlung in der Soteria sehr geholfen beziehungsweise geholfen hat. Zwischen
0,6 und 1,7% gaben an, die Behandlung in der Soteria habe
ihnen geschadet. In der Fünf-Jahreskatamnese gaben 95%
der befragten PatientInnen an, sie würden die Soteria an andere weiter empfehlen, 72% gaben an, dass die Behandlung
in der Soteria ihnen geholfen hat, ihre Standpunkte bezüglich
der eigenen Behandlung selbstbewusst zu vertreten. Immerhin 59% waren der Meinung, dass ihnen die Soteria geholfen
hat, spätere Krisen auch ohne weitere Klinikaufenthalte zu
meistern. 13% dachten nach fünf Jahren eher kritisch über
die Soteria. Nach der Entlassung aus der Soteria waren nach
einem halben Jahr 79% und nach einem Jahr 65% der Katamnese-PatientInnen in regelmäßiger ambulanter psychiatrischer
Behandlung, jeweils 40% waren in psychotherapeutischer Behandlung. Zu allen vier Katamnese-Zeitpunkten (1/2 Jahr/ 1
Jahr/ 2 Jahre und 5 Jahre) nahmen zwischen 61% und 66%
der PatientInnen die verordnete Medikation ein, weniger als
10% hatten die Medikation ohne Absprache mit dem Arzt
abgesetzt. Ohne stationäre Wiederaufnahme innerhalb eines
Jahres nach der Entlassung aus der Soteria blieben 69% der
PatientInnen. Innerhalb von zwei Jahren blieben 51% der PatientInnen ohne stationäre Wiederaufnahme, nach fünf Jahren blieben 39% ohne stationäre Wiederaufnahme.
Bewertung
Soteria hat sich vor allem für jüngere PatientInnen mit schizophrenen und schizoaffektiven Störungen bewährt. Aus Sicht
der PatientInnen wurde der Soteria-Ansatz mehrheitlich als
hilfreich angesehen. Insbesondere das Zusammenleben mit
den Mitpatienten, die Einzelgespräche mit den Bezugspersonen und die Ansprechbarkeit des Personals im Alltag sowie
die Stationsatmosphäre wurden als hilfreich bewertet. Ein
großer Teil der PatientInnen konnte leitliniengerecht mit einer
niedrig- bis moderat-dosierten neuroleptischen Monotherapie
entlassen werden. In der Katamnese-Gruppe blieben die stationären Wiederaufnahmeraten niedrig. Mehrheitlich befanden
sich die PatientInnen in ambulanter psychiatrischer, teilweise
auch psychotherapeutischer Behandlung und nahmen regelmäßig die verordnete Medikation ein.
Soteria ermöglicht mit einem milieutherapeutischen und individuellen Behandlungsansatz eine von den PatientInnen gut
akzeptierte, auch längerfristig hilfreich erlebte und wirksame
Behandlungsmöglichkeit, die die konzeptionelle Bandbreite
einer Klinik sinnvoll erweitert.
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Kontakt & Impressum
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IMPRESSUM.
Herausgeber
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