Irina Liebmann - Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg

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Irina Liebmann - Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Irina Liebmann
Vortrag am 17. Juni 2009 zum Gedenken an den 17. Juni 1953 in Brandenburg
Sehr geehrter Herr Präsident des Landtags, lieber Herr Dr. Rautenberg,
meine Damen und Herren!
Heute vor 56 Jahren, um diese Tageszeit vielleicht, im Jahr 1953 drängte hier
eine Menschenmenge in den Hof und dann auch ins Haus, wütend und laut,
und ein Richter tat schließlich, was die Leute wollten, nämlich die hier
einsitzenden politischen Häftlinge freilassen.
Es liefen also Freigelassene die Treppen hoch und runter und andere, die
den Mut gehabt hatten, das zu verlangen, ich stelle es mir als ein Chaos vor,
Lärm, Durcheinander, Rufe und Türenschlagen, und gemeinsam liefen sie
heraus aus dem Haus – und? Niemand wusste, wie die Sache weitergehen
wird. Das war mutig.
Zur gleichen Zeit saßen in Karlshorst, Ostberlin, im Hause des
Oberkommandierenden der sowjetischen Streitkräfte, die damals hier die
Besatzungsmacht waren, die obersten deutschen Kommunisten, Mitglieder
und Kandidaten des Politbüros der SED und waren seit dem frühen Morgen
herbeizitiert von ihren sowjetischen Genossen – sie durften das Haus nicht
mehr verlassen.
Verkehrte Welt also – hier der plötzlich freie Zugang sogar zu
Gefängniszellen, dort Gefangenschaft oder Versteck – oder beides.
Und heute treffen wir uns hier, die Nachgeborenen, und es reden die Kinder
zweier Männer, die sich damals auf verschiedenen Ufern gegenüberstanden.
Wir haben die Freiheit dazu! Und das ist für mich heute das Wichtigste an
diesen ganzen Ereignissen. Wir haben die Freiheit! Wir haben diesen Punkt
erreicht, daß wir heute gemeinsam eingeladen wurden und reden können, und
das Motto heißt: Feind ist, wer anders denkt!
Als ich mein Buch über meinen Vater schrieb, die Lebensgeschichte eines
Kommunisten, war es für mich die Schlußfolgerung meiner ganzen Arbeit:
Mit Feindbildern kann man nichts aufbauen.
Man kann viel bauen, man kann viel einreißen, man kann schalten und walten
wie es einem beliebt, das geht eine Zeitlang, aber wenn man die Feindbilder
in seinem Kopf nicht auflöst, wenn sie die Grundlage des Handelns bleiben,
wird alles wieder zusammenstürzen und es ist wie nie geschehen.
Mit Feindbildern kann man nichts aufbauen.
Deswegen gefällt mir das Motto der Veranstaltung, und deswegen meine ich
– es geht hier heute weniger um die da, die vor uns lebten, es geht um uns!
Um unsere Gedankenfreiheit und damit auch um Ehre und Anerkennung
derer, die diesen Satz - Feind ist, wer anders denkt! - nicht länger gelten lassen
wollten.
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Dazu gehörte Rudolf Herrnstadt, mein Vater, über den ich hier erzählen soll.
Wie war mein Vater in diese Karlshorster Runde gekommen?
Rudolf Herrnstadt. Ein Mann aus dem jüdischen Bürgertum Oberschlesiens.
Der Kampf gegen den Faschismus kann als der zentrale Punkt seines Lebens
gelten.
Geboren 1903, erwachsen geworden in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, in
dieser Zeit beginnt er auch als Journalist in der bürgerlichen Presse zu
arbeiten. Die Zeit der Weltwirtschaftskrise ist die Zeit der extremen
politischen Polarisierung in Deutschland, der Faschismus steigt auf. Wie viele
andere hält er den Kommunismus für die einzige Kraft, die den Faschismus
stoppen kann, tritt deswegen in die KPD ein, bekommt als ersten
Parteiauftrag die Aufgabe, bürgerlicher Journalist zu bleiben, was er damals
gar nicht mehr sein wollte (er wollte kündigen und bei der kommunistischen
Presse schreiben), aber nein - er soll bürgerlicher Journalist zu bleiben und
als solcher von da an Nachrichten an die Rote Armee der Sowjetunion
weitergeben. Das tut er und baut nach Hitlers Machtergreifung 1933 als
Korrespondent des „Berliner Tageblattes“ in Warschau eine Gruppe des
Nachrichtendienstes der Roten Armee auf. Für ihn ist das eine
Widerstandsgruppe gegen den bevorstehenden Krieg.
Beim Angriff Deutschlands auf Polen emigriert er in die Sowjetunion. Erst
dort lernt er die deutschen kommunistischen Emigranten kennen. Für ihn
eine Enttäuschung, denn er kannte die in Disziplinierung und Intrigen
vielfach eingeengte KPD bisher nicht, er war und blieb ein selbständig
denkender Intellektueller. Sie brauchen ihn von Anfang an wegen seiner
Fähigkeiten zu arbeiten und zu formulieren. Er ist glücklich, nützlich zu sein,
gebraucht zu werden, hat aber von Beginn an Auseinandersetzungen mit
ihnen, weil er gerade die Männer an der Spitze dogmatisch findet und in der
Partei Selbstkritik vermißt.
Es beginnt die Zeit der großen deutschen Niederlagen im Krieg, die Zeit, in
der hunderttausende deutsche Kriegsgefangene sich plötzlich in der
Sowjetunion befinden. 1943 gehört Herrnstadt in Moskau zu den Gründern
des „Nationalkomitees Freies Deutschland“, das den Widerstand gegen Hitler
in Deutschland unterstützen soll, er baut die Zeitung des Nationalkomitees
auf, kommt mit der Roten Armee bereits in den letzten Kriegstagen in Berlin
an, begründet dort die Presse der sowjetisch besetzten Zone, den Berliner
Verlag mit allen seinen Zeitungen, ist Chef des Verlages, ist Chefredakteur
der „Berliner Zeitung“ , erlebt in dieser Position die zunehmende
Konfrontation der Siegermächte und die Stalinisierung der Ostzone.
Aber auch in dieser Zeit bleibt er ein Mann, auf den sich die Sowjets restlos
verlassen können. Für ihn bleibt es das Wichtigste, daß ohne die Sowjetunion
der Faschismus niemals geschlagen worden wäre. Bei aller Kritik, die er im
Einzelnen hat, ist er überzeugt davon, daß die Russen den Neuaufbau in
Deutschland ehrlich meinen, und er ohne sie auch nicht möglich wäre.
Denn wie alle Kommunisten damals ist er ja zutiefst überzeugt davon, daß
Kapitalismus immer wieder zu Kriegen führen muß, da es im Kapitalismus
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um Profit und Konkurrenz geht. Darum sehen die Kommunisten – und nicht
nur sie – 1945 nur im Übergang der Großindustrie in Staatseigentum einen
Weg, eine Wiederholung der Weltkriege zu verhindern. Aber da das im
Westen Deutschlands nicht geschieht, können sie dort keinen grundlegenden
Neuanfang erkennen, zumal viele alten Nazis in ihren Positionen bleiben.
Das sind die Ansichten der Kommunisten in der Nachkriegszeit, die
Herrnstadt vollkommen teilt.
Dagegen verblassen für ihn anfänglich Dinge wie fehlende Demokratie,
persönliche Ungerechtigkeit und Chaos. So kurz nach dem Krieg hält er das
für vorübergehende Erscheinungen.
Als „führender Journalist der Ostzone“ steigt Rudolf Herrnstadt nach 1945
auch in der SED auf, übernimmt ab 1949 das „Neue Deutschland“ als
Chefredakteur und wird damit einer der maßgebenden Propagandisten seiner
Partei und Kandidat des Politbüros der SED. Alle Kampagnen, die „Neues
Deutschland“ in seiner Zeit als Chefredakteur propagiert, hat auch er
mitgetragen, das ist ganz klar.
Aber seine starke Position – Chefredakteur der größten Zeitung des Landes
zu sein und Mitglied der zentralistischen Parteiführung - nutzte er auch immer
wieder für Kritik an seinen Genossen, Kritik am Funktionärsstil, an der
Mißachtung der Menschen.
Das beginnt schon im Mai 1949, steigert sich 1951 in großen Artikeln,
verstummt 1952, wenn der Westen Stalins Angebot für einen Friedensvertrag
mit Deutschland ablehnt. Danach betreibt die Sowjetunion einen Kurs der
verstärkten Abgrenzung, Aufrüstung und Kollektivierung in der DDR.
Gerade dieser Kurs führt die DDR in die Krise vom Juni 1953.
Rudolf Herrnstadt ist also einer der Männer, die die DDR aufgebaut haben,
die für die neue Ordnung standen, und so kam er am 17. Juni auch nach
Karlshorst.
Das Motto im Osten war damals: Von Deutschland darf nie wieder ein Krieg
ausgehen. Drehpunkt Faschismus also, die Losung zeigt es, auch in der
Nachkriegszeit – für Herrnstadt wie für viele seiner Genossen.
Sie alle, die da am 17. Juni in Karlshorst saßen, hatten Emigration,
Konzentrationslager oder Gefängnis erlebt. (Nur O. Grotewohl war nicht
verfolgt worden.)
Wir sind ja hier in der Stadt Brandenburg.
Wie in einem Wassertropfen ist deutsche Geschichte von 1000 Jahren in
Brandenburg konzentriert. Man muß nur einen Spaziergang durch die Stadt
machen: Die wunderbar poetische Havellandschaft, der stille Kern um den
Dom herum, die großen Namen deutscher Geschichte, die dort drinnen auf
den Bronzetafeln stehen – eine typische, eine alte deutsche Stadt, mit deren
Namen ein Mann wie mein Vater noch 1930 als ehemaliger preußischer
Gymnasiast wahrscheinlich nur den Kleistschen Satz „ ..In Staub mit allen
Feinden Brandenburgs!“ assoziiert hätte.
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Aber es kam eben einiges dazu - der Zuchthausneubau, zuerst das modernste
Gefängnis in Europa, bald auch eines der schrecklichsten, wo beinahe
zweitausend Gefangene starben oder hingerichtet wurden, auch die große
Psychiatrie wurde ein Ort des Schreckens, wo Ärzte das Vertrauen der
Kranken und Angehörigen entsetzlich mißbraucht haben, wo sie in schöner
Werktätigkeit Menschen ausgesondert und zum Töten ins alte Zuchthaus
überwiesen, ja und die Zerstörungen durch die Bomben kamen dazu und
danach als Symbol des Neuaufbaus im kommunistischen Osten, der anfangs
Bleche und Stahl nicht herstellen konnte, weil die deutsche Schwerindustrie
damals an Rhein und an Ruhr lag – der Neuaufbau eines Stahl- und
Walzwerkes gerade hier, bei Brandenburg. Hier in der Nähe hatte sich
durchaus auch eine Zeitlang ein Symbol der jungen DDR befunden.
Das alles ist Brandenburg, keine Stadt wie jede andere, nicht einmal in
Deutschland, und heute sind wir hier.
Glücklicher als unsere Väter, weniger geplagt von Ideologien auf jeden Fall, ja
geradezu immunisiert gegen sie – eben durch deren Schicksal. Das gilt
jedenfalls für mich.
Wir können mit Abstand auf diese bizarre Vergangenheit blicken, in der
ehemalige Häftlingen bald selber verhaften ließen, und wo sogar Menschen
verhaftet wurden, die gerade noch in den Zuchthäusern der
Nationalsozialisten gesessen hatten. Eine Verknäuelung und Verstrickung
von Personen und Ereignissen in kürzester Zeit.
Denn 1950 – das war fünf Jahre nach 1945, 1951 – das war sechs Jahre
danach, 1952 – sieben Jahre!
Und fünf Jahre nach 1945 – das bedeutete für diese, die am 17. Juni in
Karlshorst saßen oft: fünf Jahre nach der Befreiung aus dem
Konzentrationslager, aus dem Gefängnis, oder fünf Jahre nach der
Emigration. Ohne die Siegerarmeen wäre ihnen auch 1945, 1951 oder 1953 in
Deutschland Tod oder Verhaftung sicher gewesen wäre.
Denn Deutschland hat sich nicht selbst befreit. Es war besiegt worden, in
Häuserkämpfen sogar bis zur letzten Bastion – und das war die
Schultheißbrauerei an der Schönhauser Allee in Berlin.
Ja, die Geschichte des deutschen Faschismus läßt sich auch als eine
Geschichte vom Hofbräuhaus bis zur Schultheißbrauerei schreiben, aber das
wäre etwas zu niedlich, denn in Wahrheit ist es die Geschichte des
verheerendsten Krieges der Menschheit und eines ganz neuen Kampfes,
nämlich des Kampfes um die Aufhebung des Tötungsverbotes an Menschen.
Deswegen war Deutschland nach 1945 weltweit geächtet und verachtet, aber
die von Krieg und Überlebenskampf verschreckten Menschen nahmen das
kaum wahr. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie verständnislos für das, was
sie angerichtet hatten – man kann das nachlesen.
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Deswegen hatten alle Siegermächte sich das Ziel gesetzt, die Deutschen
umzuerziehen. Aber wie dachten sie wirklich im Jahr 1950, 1951, 1953 - die
Krankenschwestern und Polizisten, die Postbeamten und Hausmeister, die
noch vor kurzem Hitler zugejubelt hatten?
Schon deswegen kann man von den aus Emigration und KZ
Zurückgekehrten vermuten, daß sie durchaus auch Furcht hatten vor den
Menschen, mit denen sie nun zusammenleben, und die sie anführen sollten.
Anführen!
Im Auftrag ihrer Siegermacht.
Fünf Jahre nach 1945 – Was bedeutete das für die Menschen in
Brandenburg? Auf jeden Fall vor allem, daß der Krieg vorbei war. Und die
Lektion: Ich werde in meinem ganzen Leben nie wieder eine Waffe anfassen,
hatten damals viele gelernt.
Fünf Jahre nach 1945, das bedeutete auch, fünf Jahre Besatzungsmacht, fünf
Jahre Lebensmittelmarken, Stromsperren, Schlange stehen, und dann eben
sechs Jahre - sieben Jahre - acht Jahre....
Mit der vergehenden Zeit vergrößerte sich der Unterschied im Leben der
Ost- und der Westzonenbewohner, zukunftsgewisse Losungen wurden nicht
eingelöst – im Gegenteil: Ungerechtigkeiten und Zwangsmaßnahmen
nahmen zu, Verhaftungen und Verbote. Denn der erhoffte demokratische
Neuanfang kam nicht zustande, die Kommunisten hatten ein neues
Unterdrückungssystem geschaffen.
Wer waren also die Leute, die sich hier vor dem Hause versammelt hatten?
Allgemein gesprochen waren es Menschen, die ein Leben in Sicherheit und
wachsendem Wohlstand wollten. Mehr Rechte und keine Ulbricht-Regierung.
Konkret waren es Leute aus der Stadt Brandenburg. „Die Werktätigen“ wie
es immer so schön hieß. Ganz gewiß wollten sie freier leben, ihre Meinung
sagen dürfen, gehört werden, und die meisten wollten leben wie im Westen
Deutschlands.
Aber seit die Siegermächte sich feindlich gegenüberstanden, wurde die
Interzonengrenze immer unüberwindlicher, seit die Stalin-Note abgelehnt
war und die neuen Gegner Deutschland offen aufrüsteten, begann sie, zu
einer Grenze zwischen zwei Militärblöcken zu werden, zu einer Weltgrenze.
Dieser Prozeß war im Frühjahr 1953 gerade ein Jahr alt. Er war
möglicherweise noch rückgängig zu machen. Auch davon träumten die
Demonstranten am 17. Juni, und einige Genossen im Politbüro träumten
auch davon, darunter Rudolf Herrnstadt.
Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war zustande gekommen, nachdem die neue
Führung in Moskau nach Stalins Tod einen Politikwandel beschloß, und aus
diesem Grunde Ulbricht nach Moskau rief und anwies, alle verschärften
Maßnahmen seit der Stalin-Note zurückzunehmen und eine
Demokratisierung der DDR einzuleiten. Das war am 5. Juni.
Vom 6. Juni an debattiert das SED-Politbüro diese überraschende Wendung
und die große Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung.
Schon in der ersten Debatte stellt Rudolf Herrnstadt die allgemeine Krise der
DDR in den Zusammenhang zur Deutschlandpolitik. Als einziger spricht er
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darüber, daß die bisherige Politik der SED der friedlichen Lösung der
Deutschlandfrage durch schwere politische und ökonomische Fehler im
Wege stand, er spricht davon, „daß wir uns mit der Notlage breiter werktätiger
Massen als einer Dauererscheinung abfanden, (siehe das ständige Chaos in der
Lebensmittelversorgung, nicht einmal gesicherte Kartenbelieferung als Dauererscheinung)“,
er spricht von „gleichgültigem, oft zynischem Verhalten gegenüber den Massen“, nennt
eine ganze Reihe von Angriffspunkten und sagt: „…und das Schlimmste: es wird
innerhalb der Partei kein Kampf dagegen entfaltet, außer einem „Kampf“ der aus
Lippenbekenntnissen besteht und den ich nicht zähle.“
(Wilfriede Otto, Die DDR im Juni 1953, S. 84)
Hier beginnt also der innere Kampf. Erst von jetzt an – 6. Juni - werden
einige Wochen lang Kommunisten darüber reden, wie so etwas Bizarres
geschehen kann, daß eine Arbeiterregierung – denn so sahen sie sich - von
Arbeitern angegriffen wird.
In diesen Debatten wird auch berührt, was später für immer in der
Versenkung verschwinden muß: Feind ist, wer anders denkt!
„Warum kommen bei uns die Unfähigen, die Bürokraten so schnell nach Oben? Warum
diese unsinnige Feindschaft zu den Arbeitern?“ – Das ruft übrigens einer der
ehemaligen Häftlinge von Brandenburg-Görden: Otto Buchwitz.
Warum war das so? Warum das ewige Suchen der Kommunisten nach
Feinden und Verrätern?
Es gibt viele Gründe, der Wichtigste sicherlich der: Weil hier eine Minderheit
regierte, die nicht frei gewählt worden war.
Die Angst vor der unkontrollierten Bewegung des Anderen - das war der
Preis dafür, niemals frei gewählt worden zu sein. Hinzu kam die Vorstellung
der Kommunisten, die Lösung für alle Probleme der Gesellschaft zu kennen,
und ihre feste Absicht, die Macht niemals, niemals, niemals mehr freiwillig
abzugeben.
Wer so denkt, der kann Feinde nur noch überzeugen oder ausschalten.
Klare Fronten schaffen. Klare Freundschaft, klare Feindschaft. Und Feind ist
eben schon, wer anders denkt.
Das aber dachte mein Vater wiederum nicht.
Das macht ihn besonders in dieser Zeit und Umgebung. Er dachte ja selber
viel zu oft anders. Und er glaubte daran, daß der Sozialismus, den sie
aufbauen, unendlich viele „Anders-Denkende“ überhaupt erstmal
hervorbringen wird, er glaubte auch, die von Marx versprochene höhere
Produktivität dieser neuen Gesellschaft könnte überhaupt nur daraus
erwachsen: aus dem Anders-denken. Das war sein Dilemma.
Am 11. Juni also, nur wenige Tage nach dem Kurswechsel in Moskau,
erscheint ein Beschluß der SED, in dem die Maßnahmen aufgezählt werden,
die nicht mehr gelten, es ist alles dabei, was die Menschen gequält und erregt
hat, Rücknahme von Enteignungen, Entschädigungen für
Republikflüchtlinge, Lockerung des Reiseverkehrs über die
Interzonengrenzen, Verbesserung der Lebensmittelversorgung, usw., usw.,
nur eines nicht: Die erst kürzlich beschlossenen Normerhöhungen für die
Arbeiter der Großbetriebe bleiben in Kraft.
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Wenn dann am 16. Juni für die Bauarbeiter der Stalinallee die erste
Lohnauszahlung nach der neuen Normerhöhung fällig ist, kommt es zu
spontanen Protesten und einer Demonstration.
So beginnt es. Da aber die Lage seit dem 11. Juni überall im Land angespannt
ist, denn es ist ja klar – die SED ist gescheitert – kommt es am folgenden Tag
überall zu Protestaktionen. Das ist der 17. Juni.
Am 17. Juni in Karlshorst treffen ständig Nachrichten aus der ganzen DDR
ein, Nachrichten von gestürmten Parteizentralen und brennenden Betrieben,
eine „KZ-Kommandeuse“ soll aus der Haft befreit worden sein, die
deutschen Parteiführer dort drinnen können nicht raus, sie müssen es
glauben, und Herrnstadt als Chefredakteur bekommt den Auftrag eine
Interpretation der Ereignisse zu schreiben unter dem Titel: Putsch. Ein
faschistischer Putsch ist gescheitert. Das tut er. Er schreibt den Leitartikel und
glaubt, dass die eigentliche offene Auseinandersetzung noch bevorsteht.
Denn seit dem 6. Juni hat er vom Politbüro noch einen anderen Auftrag: Er
soll einen Beschlußentwurf dafür schreiben, wie es weitergehen soll im
Lande. Das sieht er als Gelegenheit, alles auf den Prüfstand zu stellen, was in
die Krise geführt hat.
Der Aufstand wird mit Waffengewalt niedergeschlagen, es ist der erste von
vielen weiteren Aufständen gegen die stalinistische Art, die Länder
Osteuropas zu verwalten. Die Opfer der Bevölkerung in der DDR sind groß
– etwa 50 Tote.
Das Politbüro aber tagt weiter. Es zieht sich über Wochen. Herrnstadt
verlangt, daß Ulbricht zurücktritt, andere sind der gleichen Meinung. Der
verspricht das. Wenn das Zentralkomitee endlich einberufen wird, wird auch
hier zum ersten Mal offen diskutiert, was vorher unmöglich war.
In diesen Tagen, wenn die DDR politisch und ökonomisch bankrott ist, und
die Sowjetunion einen neuen Kurs fordert, benennt Rudolf Herrnstadt den
Zusammenhang zwischen einer Demokratisierung der SED und der
Entwicklung in Mitteleuropa. Wenn die DDR demokratischer ist, wenn
niemand mehr von hier zu fliehen braucht, dann ist auch der Weg frei für
eine Vereinigung Deutschlands, das sieht er und er scheint überzeugt zu sein,
daß die Sowjetunion diesen Weg unterstützen könnte.
In seinen Texten dieser Tage ist die deutsche Einheit 1953 daher nicht nur
ein greifbares politisches Ziel, es ist DAS Ziel überhaupt, und er formuliert es
in seinem Beschlußentwurf für die SED so:
„Das Ziel des neuen Kurses besteht darin, die Wirtschaft der DDR zu festigen, die
Lebenshaltung der Bevölkerung entschieden zu verbessern, die Rechtssicherheit in der
DDR zu gewährleisten und die DDR zu einem vorbildlichen, demokratischen Staat zu
machen. Eine beispielhafte Entwicklung in der DDR wird die Verständigung unter den
Deutschen fördern, die Herstellung der Einheit Deutschlands näherrücken und den
bedrohten Frieden festigen...“und an anderer Stelle: „die neue politische Linie unserer
Partei geht vom obersten Ziel aller ehrlichen Deutschen aus: Der baldigen Herstellung eines
einheitlichen, demokratischen, fortschrittlichen Deutschlands.“
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Da wir hier heute die Befreiung der Häftlinge begehen, noch ein Zitat zur
Rechtssicherheit: „Der falsche Kurs führte dazu, daß die Prinzipien der Rechtssicherheit
schwer verletzt wurden. Zahlreiche Personen wurden ohne ausreichenden Grund für längere
oder kürzere Zeit inhaftiert. In vielen Fällen wurden unvertretbar hohe Strafen verhängt,
insbesondere bei Anwendung des Gesetzes zum Schutze des Volkseigentums, dessen Spitze
häufig statt gegen Schieber und Spekulanten gegen Werktätige gerichtet wurde. Die
Rechtsunsicherheit zeigt sich insbesondere auch darin, daß Personen, die hierzu nicht befugt
sind, wie Sekretäre unserer Partei oder Vorsitzende von Bezirks- und Kreisräten, in
kategorischer Form Anträge auf Erlaß von Haftbefehlen stellten, und daß von Seiten der
Richter und Staatsanwälte solchen Anträgen ohne genügende Kontrolle stattgegeben wurde.“
(Wilfriede Otto, Die DDR im Juni, S. 221)
Herrnstadt stellte schließlich einen Katalog von Forderungen zur
Veränderung der SED auf.
Das war auch mutig. Denn er konnte am Verlauf der Debatten im Politbüro
zuletzt schon sehen, daß er in der Minderheit sein würde.
Es gab Menschen im Politbüro, mit deren Unterstützung er rechnen konnte,
Wilhelm Zaisser vor allem. Aber eigentlich zielte der Text auf die Masse der
SED-Genossen. Damals zwei Millionen Menschen.
Diese jedoch erfuhren nichts von den Kämpfen in der Spitze ihrer Partei.
Warum ist er so weit gegangen?
Ich denke, die Zeit seiner eigenen Kompromisse war ausgeschöpft.
Ich denke, er war sie eingegangen, weil die Opfer vorher so groß gewesen
waren und weil er noch daran glaubte, daß die Fehlentwicklungen
korrigierbare „Kinderkrankheiten“ sind nach einer unglaublichen allgemeinen
Katastrophe.
Ohne Demokratisierung aber waren die bisherigen Opfer nicht nur
vergeblich, nein, dann würden immer neue dazukommen, und darum wagte
er die Herausforderung.
Schon anderthalb Jahre vorher hatte er geschrieben, „an der Frage der
Demokratie wird sich entscheiden, was aus dem neuen Staat wird“.
„Hic rhodus, hic salta! - jetzt muß gesprungen werden! Jetzt muß der ganze Restbestand
entwürdigender, von der Vergangenheit erzeugter Eigenschaften überwunden werden, das
bängliche Schwanken in der Vertretung des Rechts, der Zweifel am Sieg des richtigen
Standpunkts, die engstirnige Freude am Kommandieren.“ (ND, 10. 2.1952)
Nichts dergleichen.
Der Text, an dem er in den Tagen nach dem 17. Juni gearbeitet hatte, und der
als Beschlussvorlage von der ganzen Partei in dieser Krise diskutiert werden
sollte, blieb geheim, nur den 14 Mitgliedern des Politbüros bekannt.
Als Anfang Juli in Moskau die Freunde Walter Ulbrichts die Oberhand
gewinnen, und der „Neue Kurs“ widerrufen wird, wird Herrnstadt gerade
anhand dieser Beschlussvorlage als ein „Feind“ festgemacht, angegriffen, aus
der SED ausgeschlossen, und geächtet bis zu seinem Tode 1966.
In der Öffentlichkeit wurde fortan behauptet, Herrnstadt habe die Partei
verraten, eine endlose Fehlerdiskussion verlangt, er sei „den Massen
hinterhergelaufen und habe sie angebetet“ und sich selbst an die Spitze der
Partei setzen wollen.
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So endete Rudolf Herrnstadts Einsatz für eine demokratische Entwicklung in
Deutschland.
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