Mitschrift ab 3.2.09

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Mitschrift ab 3.2.09
Mitschrift
3.2.2009
In den letzten Tagen habe ich mit Unterbrechungen an einer
Geschichte geschrieben, die ich Wartezimmerlegende genannt
habe. Da war zum Mitschreiben keine Zeit. Doch jetzt ist sie
fertig und steht unter /Prosa zum Lesen bereit. Und ich bin
wieder hier zugange…
Die übertragbare Gesundheit
Wer in diesen Zeiten der Influenza seine Impfung noch nicht
empfangen hat, der hat vielleicht Ohren für die Geschichte von
Göran, dem Holzfäller. Göran lebte in einem Dorf nahe dem
Polarkreis und war niemals krank. Wenn Husten und Schleim
wieder mal reihum gingen, war Göran jeden Tag im Wald.
Auch als Kind hatte er nur im Bett gelegen, um zu schlafen. Er
war um die zwanzig, als sich im Dorf herumsprach, dass seine
Gesundheit ansteckend war. Die Nachbarin, zu der Göran
zweimal die Woche ging, um Eier zu kaufen, hatte als erste so
eine Vermutung. Wenn Göran die Eier holen kam, blieb sie
vom Schnupfen verschont, da konnte ihr Mann niesen, soviel
er wollte. War Göran aber längere Zeit fort, erwischte sie’s
auch. Trotzdem hätte sie nie so weit gedacht, wäre ihr nicht
schon länger aufgefallen, dass auch Görans Eltern stets munter
waren, und wenn der Rest der Welt darniederlag. So steckte sie
es eines Tages dem Ladenbesitzer, dem plötzlich aufging - obwohl er ansonsten nicht mystisch veranlagt war -, warum auch
ihm die Bazillen nichts anhaben konnten, wann immer Göran
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eingekauft hatte. Wie man es von Ladenbesitzern kennt, machte die Geschichte von Görans ansteckender Gesundheit bald
die Runde im Dorf.
Die Leute teilten sich darauf in zwei Lager. Die einen sagten, ja
wenn er einem die Grippe vom Hals hält, dann vielleicht auch
andere Krankheiten, oder überhaupt alle. Und sie passten ihn
auf der Straße ab, um ihm die Hand zu schütteln, was man nur
zu seltenen Gelegenheiten tat. Andere klingelten an der Haustür und redeten nicht um den heißen Brei herum, wobei sie
möglichst nahe bei ihm standen. Das ging so lange, bis es sich
die Eltern verbaten. Da kamen die Leute, die inzwischen einhellig festgestellt hatten, dass sie keinem leeren Gerede aufgesessen waren, mit einem Plan. Göran sollte an drei Abenden in
der Woche bei jeweils einer Familie zum Essen kommen, etwa
dienstags bei den Sjöbergs, donnerstags bei Svenssons, samstags bei Olsons usw. Nur drei Abende, damit ihn seine Eltern
nicht zu lange entbehren mussten. Göran willigte ein, und auch
seine Eltern hatten nichts einzuwenden. Er war ein guter Esser, versteht sich, bei seiner Arbeit. So kamen sie miteinander
ins Geschäft. Göran aß sich an den Tischen der Dorfbewohner
satt und machte sie und vor allem die Kinder für eine Weile
immun. Die Wirkung hielt nicht länger als höchstens zwei Wochen an, aber mehr war auch nicht nötig, denn sie wollten
nicht für ewig gesund sein. Außerdem - und für besondere
Fälle – war er ja nicht aus der Welt, und die Reihe ohnehin
bald wieder an ihnen.
Und das andere Lager? Dem gehörten nur drei Personen an,
das waren der Arzt, der Apotheker und der Pfarrer.
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9.2.2009
Eine Frau besteigt den Zug, 50 bis 60 Jahre alt, Haare grau,
kurzer, fast sportlicher Schnitt, schmale, mittelgroße Gestalt,
Hose und Jacke schwarz, Erscheinung alles in allem nicht ungepflegt. Während sie den Gang herankommt auf der Suche
nach einem Sitz, murrt sie laut vor sich hin.
„…zeigen euch an ihr Schweine – Wartezeit bis Krieg – rumstehen – funktioniert nichts - permanente Kamera – lässt man
sich trotzdem nicht gefallen…“
Sie geht an einigen leeren Plätzen vorbei - das Abteil ist gerade
nur halbvoll – und entscheidet sich dann für den Platz vor
meinem. Und sofort ändert sich ihr Ton. Die, zu denen sie
jetzt redet, sieht man nicht. Sie nimmt sie an die kurze Leine.
„…so und dich schalt ich jetzt aus – und dich pack ich ein –
und warte du kommst auch noch dran…“
Aber so schnell setzt sie sich nicht. Sie will, dass ich sie ansehe,
und für einen kurzen Moment tue ich ihr den Gefallen, blicke
in kleine, wie von kaltem Wind gerötete Augen. Ihr graues,
zart-faltiges Gesicht könnte einmal hübsch gewesen sein. Und
sie lamentiert halb zu mir, halb ins Nichts, da ich wegsehe:
„…Schild ‚closed’ kurz und bündig – das ist doch Dreck Viehzeug – ja verrückt – von wegen - ist nicht gleich jeder verrückt…“
Aber ich stehe nicht zur Verfügung. Das registriert sie sehr
wohl und setzt sich und ist still.
Der Zug fährt lautlos dahin, keine äußeren Reize erregen ihr
Gemüt bis auf die vorbeiziehende Landschaft. So sitzt sie und
hantiert von Zeit zu Zeit in ihrer Tasche. Dann kommt der
Schaffner, und sofort hebt ihr Lamento wieder an, allerdings
noch verhalten, bis er ihren Fahrschein kontrolliert hat. Er
scheint ihr Respekt einzuflößen. Als er weitergeht, wird sie
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lauter; dann wieder leiser, als er sich dem Wagenende nähert,
bis sie sich schließlich wieder beruhigt.
Ich wundere mich, wie es möglich ist, dass sie allein reist. Dazu
muss sie planen, pünktlich am Bahnhof sein, eine gültige Fahrkarte lösen usw. Doch ich lebe nicht in einer Welt, in der mir
der Sitz unterm Hintern angebohrt wird.
„…großes Loch im Sitz…“, erklärt sie und fährt hoch.
„…überall Löcher drin, durch die sie pumpen – da – sieht man
doch – jaja verrückt – aber das ist nicht so…“
Entschlossen schnappt sie ihre Sachen und zieht weiter.
13.2.2009
Flugzeug stürzt in Wohngebiet in Clarence/Buffalo/N.Y., 49
Tote usw. Keine 12 Stunden später großangelegte Pressekonferenz. Die Kamera wechselt zwischen den gezeichneten Gesichtern der Verantwortlichen von Feuerwehr, Rettungsdienst,
Polizei, Politik, FBI. Darunter tickern Mutmaßungen: „Vermutlich alle Insassen tot. Frau und Kind offenbar in Lebensgefahr. Maschine galt als zuverlässig…usw.“ Woher die Befremdung beim Zuschauen? Weil es nicht um das Leiden der Opfer
geht, sondern um das Spektakel, das Drama als solches. Nicht
die Toten sind wichtig, sondern das Publikum, das mit Hilfe
der Toten vor dem TV fixiert wird. Man muss begreifen – und
das ist so schwierig - , dass Information Ware ist! Wäre sie es
nicht, bliebe die Angelegenheit unter den Beteiligten. Mitgefühl, Bestürzung, Trauer, Heldentum, all die großen Gefühle
sind Heuchelei der Medien, in Wahrheit ist die Katastrophe
erwünscht, da Geschäft (der Jurist würde sagen: billigend in
Kauf nehmen).
Die scheinheilige Frage der Radiomoderatorin an den Korrespondenten vor Ort: Ob man denn nun von weiteren Doping-
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fällen im Biathlonsport ausgehen müsse, der sich hierzulande
doch steigender Beliebtheit erfreue. Ob nicht sogar die gesamte
Sportart…- Natürlich denkt sie genau das. Nur hängt ihr Job
dran. Deswegen werden wir von ihnen niemals mehr erfahren,
als ohnehin feststeht. Mitwisser und Profiteure, die sie sind,
werden sie die Wahrheit vertuschen, wie die ARD das Doping
der Tour de France für sich behalten hat, während die Reporter den Siegern enthusiastisch zujubelten (denn der Sport ist
ihre Leidenschaft) und die Verlierer abwinkten. In dubio pro reo:
Alle verschanzen sich achselzuckend und Hände hebend dahinter. Man installiert eine Alibi-Verfolgungsbehörde, die entweder nichts verfolgt oder noch mitmischt (wie Madoff und
SEC); weil somit nicht ernsthaft ermittelt wird, gibt es auch
keine Beweise, daher der dauernde Zweifel, daraus wiederum
die Rechtfertigung.
Wie kommt es, dass der schwerkranke Patrick Swayze mit seinem Krebs weltweit eine Fortsetzungsstory ist? Während er
noch wenige Wochen zu leben hat, mahnt er bei der Regierung
Milliarden an Beihilfe für die Krebsforschung an (das sei eine
nationale Angelegenheit). Wie kommt man so ohne Umschweife vom Krebs zum Dollar? Welchem Umstand haben wir die
lückenlose Kette von Stars und Sportlerinnen in jungen Jahren
zu verdanken, die an Brustkrebs erkranken, umgehend therapiert und geheilt werden, um dann die weibliche Bevölkerung
zur Vorsorge zu ermahnen? Von wem bekommen gesunde
Mädchen 4000 € dafür, dass sie kahlgeschoren herumlaufen?
Wer oder was hat den Tod im Anschluss an eine Gebärmutterhalskrebsimpfung (Zervixkarzinom) zu verantworten? Die letzten toten Mädchen gab es jetzt in Spanien, zwei waren es, und
die Gesundheitsbehörde verbot den Impfstoff.
Wenn man das alles sieht, muss man gestehen, man schreibt
noch viel zu lasch.
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5.3.2009
Gerhard Wisnewski: Verheimlicht, vertuscht, vergessen – was 2008
nicht in der Zeitung stand. Wisnewski hat recht. Man darf nicht
glauben, was die Medien anbieten. Man soll es so ernst nehmen
wie Unterhaltung. Außerdem ist es Rohmaterial, aus dem man,
von den Produzenten unbemerkt und –erwünscht, doch ein
eigenes Bild zusammenstellen kann, indem man es sortiert,
skeptisch interpretiert, besonders zwischen den Zeilen und
dort, wo garnichts steht. Vieles davon kann man „sehen“, obwohl es unsichtbar sein soll. Vom Chaos in der Welt ist das
meiste inszeniert, der Gang der Dinge ist viel betulicher, als
man uns weismachen will. 99 % der Menschen sollen in Verwirrung und Angst gehalten werden, damit 1 % sie umso besser kontrollieren können. Aber erstens: Wer sind die 1 %? Und
zweitens: Wie schaffen sie es, nicht selbst vom Chaos erfasst
zu werden? Verlieren nicht vielmehr auch sie die Kontrolle?
Traum: Wir waren eine Gruppe von Männern, unter ihnen
meine Brüder. Und dann war da ein Mann, der allgemein als
zwielichtig angesehen wurde. Die Sache war die, wir bekamen
ein Land geschenkt, es war Slowenien. Wir berieten, was zu tun
war. Ich drang darauf, zuerst eine Verfassung zu beschließen,
damit das Land unseren Interessen dienen konnte und für die
Bevölkerung Recht und Ordnung garantiert war. Es wurde so
beschlossen. Auch der Zwielichtige votierte dafür, überhaupt
erwies er sich als so kooperativ wie die anderen, was erfreulich
war. Im Anschluss an die Konferenz musste ich weit fahren.
Ich besaß mehrere Fahrzeuge, ein einfaches für kurze Strecken
sowie zwei luxuriöse für die langen, einer davon ein Phaeton.
Ende.
Jörg Haider wurde in einem Phaeton gefunden; ermordet,
glaubt Wisnewski.
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18.3.2009
Rebellion ohne Wagnis
Hermann Hesse: Eigensinn macht Spaß – Individuation und Anpassung. Texte und Textstellen zum Thema. Nur ein winziger
Hinweis vor dem Impressum lässt erkennen, dass es kein Werk
Hermann Hesses ist, sondern eine Zusammenstellung des
Suhrkamp Verlags. Absicht? Den gelehrt-prätentiösen Ausdruck Individuation hätte er wohl kaum gewählt. Doch dass
Eigensinn Spaß macht, stammt von ihm. Kein geistvoller Gedanke, darum als Titel zunächst irritierend. Es war keine spaßige Sache, als sein Eigensinn anfing, um sich zu schlagen. Hesse
versuchte, sich umzubringen! Er war ein Rebell und was für
einer! Aber von der Sorte, die den Humanwissenschaften und
Historikern nicht in den Kram passt. Selbst Camus nahm ihn
nicht in seine Sammlung auf. Warum, sieht man daran, wie
schwer sich seine Biographen tun, seine Rebellion zu rechtfertigen. Unterdrückung, Zwang, Gewalt, Manipulation, mangelnde Liebe, zerrüttete Familienverhältnisse, Armut? Nichts
davon, vielmehr das Gegenteil. Von Beginn an, als er in einen
lichten, warmen Sommer geboren wurde, von „Jupiter freundlich bestrahlt“, war das Leben auf seiner Seite. Da war keine
Bastille, für deren Sprengung ihm die Guillotine gedroht hätte.
Etwas wird dann doch aufgetrieben, das der „Auflehnung“
wert sein soll: die fromm-pietistische Grundhaltung des Elternhauses. Er selbst, aufrichtiger als seine Apologeten, spricht
von einer Art Allergie gegen jede Form der Weisung, zuallererst gegen das vierte Gebot, du sollst Vater und Mutter ehren,
die er zärtlich liebte. In Schule und Lehre wimmelte es natürlich von Geboten, die er, würde man seit den 60ern sagen, alle
nicht einsah. Dann gab es die eine oder andere Ungerechtigkeit, oh weh, man bezichtigte ihn irgendeines Schulvergehens,
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das er nicht begangen hatte, und als er sich weigerte, zu gestehen, schlug man ihn. Nochmal oh weh.
20.3.2009
Ein Tag auf Skiern über Grindelwald, unter Eiger, Mönch,
Jungfrau. Wenige Menschen, sonnenbeschienene, gebahnte
Pisten. Ich voraus, M. hinterher, nach 200 Metern Stop, Kuss,
dann so weiter und weiter. Immer nur die Männlichen-6erBahn hinauf, was brauchen wir mehr? Auf der Hütte erst Bier,
dann, was soll’s, Jagertee. Der Bierschaum friert zu Flocken,
der Jagertee muss gleich getrunken werden. Die Schlussabfahrt,
auf der unteren Hälfte sulzig, zwingt M. fast zur Kapitulation.
Noch zwei Tage später fühlen sich ihre Oberschenkel an, als
wäre Stahl darin. Zum Abendessen nach Bern, man fährt ja
dran vorbei.
Bern: gelassen, tief, freizügig, unbestimmten Alters. Hübsche,
charmante, ganz verschiedenartige Häuser. Die lange Kehre
hinab zum Fluss, vorbei an den riesenhaften, scheckigen, nackten Platanen. Tief unten fließt der Strom, darüber schwebt die
hoch gebogene Konstruktion der Brücke, die in die Altstadt
führt. Auf traulichem Kopfsteinpflaster fährt man schnurgerade und leicht ansteigend in ein bräunlich steinernes
Bautenmeer. Unter trutzigen Arkaden reiht sich ein Geschäft
ans andere, aber es weht ein kalter Wind, und wir sind müde
und hungrig. Bald finden wir ein Restaurant, Belle Epoque, wo
wir Huhn mit Reis auf indisch essen. An der Wand Bilder wie
das des blondbärtigen, lorbeerbekränzten Bacchanten mit roter
Nase, der selig und leuchtenden Auges auf eine mächtige
Amphore hinablächelt, die er wie ein Kind in den Armen
wiegt. Unaufdringliche, rücksichtsvolle, genießerische Schweizer Bürgersleute. Als wir erwärmt und satt auf die Gasse hin-
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austreten, zieht gemächlich ein Oldtimerkorso vorbei, einer
schöner und wertvoller als der andere. Wie wenden unseren
Jeep und fahren hinaus, wieder über die jetzt illuminierte Brücke, uns entgegen die nicht endende Reihe eleganter, blitzblank
polierter Karossen. Die Insassen lachen und winken aus den
Fenstern, sie wissen, warum sie ihre Sternfahrt in dieser Stadt
enden lassen. Die unschuldige Lust am Besitz schöner Dinge!
Ich träume – nicht zum ersten Mal – von einem E-Type. Wir
kommen wieder, bestimmt.
23.3.2009
Gedanken sind Brei.
27.3.2009
Golo Mann
Es heißt allgemein, die Trennung der Eltern, das Auseinanderfallen der Familie verwundet die Kinderseele unheilbar. Doch
aufzuwachsen in einer felsenfest gefügten Familie, unter ständiger Präsenz von Eltern und Geschwistern, in aller erdenklichen materiellen Sicherheit kann einen Menschen offenbar
ebenso zerstören. Überhaupt stößt man auf soviel Distanz,
Verachtung, ja Hass den Eltern gegenüber – den Eltern, die nie
abwesend und nie getrennt waren. Wonach sich jene, die es
entbehrten, ein Leben lang sehnen, bleibt für viele, die es hatten, ewig ein Gefängnis. Der Mensch – ein komisches Tier und
unfähig, sich selbst zu begreifen. Sieht man die Tragik der
Mann-Kinder und so vieler anderer aus „intakten“ Familien
(Tim K.), dann wird klar, dass die Grundlagen für Lebensglück
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und heile Psyche viel komplizierter und individueller sind als
die herrschenden Erklärungsmuster.
Prägende Formen: Rückenflosse und Zahn des Hais sind gleich
geformt. Schneidend, zerteilend.
H(artz)IV - HIV
30.3.2009
Er ist verändert, aber es ist sicher unser Garten. Mein Blick
geht immer wieder zur linken Grenze. Dort steht ein schöner
Nussbaum mit heller Rinde. Mir ist nicht klar, ob er hüben
oder drüben steht. Dann ist da noch ein leuchtend rosa blühender, kegelförmiger Busch, den ich immer wieder anschauen
muss, so schön ist er. Plötzlich kommt Frau Schröder mit zerzaustem, weißem Haar aus der Kompostecke. Sie tut, als wäre
es ihr Garten, und ich wäre Luft. Sie schleppt eine frisch geschlagene Blautanne auf dem Rücken, die offenbar auf dem
Komposthaufen gelegen hat, und nun, wo sie gemerkt hat, dass
ich da bin, will sie sie aus meinem Garten entfernen. Aber die
Tanne ist sieben, acht Meter lang – Frau Schröder muss riesenhafte Kräfte besitzen! Da fällt ihr der Baum auch schon
vom Rücken. Ich gehe zu ihr - ich muss doch sehen, was da los
ist. An der Grenze zu ihrem Garten liegen noch weitere Bäume, die sie offenbar nicht hinüberschaffen konnte. Auch auf
dem Komposthaufen liegen Blautannen, und jenseits der
Grenze zum anderen Nachbarn liegen schon entastete und auf
zwei, drei Meter Länge zugerichtete Stämme säuberlich gestapelt. Aber wie ist es möglich, dass ich sie sehen kann? Dort ist
doch der Zaun aus Schalungsplatten! Aber der ist jetzt auf ganzer Länge abmontiert, und auch ein Stück auf Schröders Seite
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fehlt. An der Stelle steht nun Frau Schröder, und ich stelle sie
zur Rede. Sie habe die Bäume auf ihrem Grundstück schlagen
lassen, und damit sie zu mir herübergeschafft werden konnten,
musste der Zaun abmontiert werden. Na wunderbar! Aber
noch bevor ich gegen diese Anmaßung protestieren kann, fangen mehrere Männer an, neue Platten zu montieren. Frau
Schröder sagt, selbstverständlich werde alles wieder gerichtet.
Ich bin erleichtert und versöhnt. Wenn das so ist – und ich
bekomme noch einen neuen Zaun! Wieder einmal hat sich ein
Ärgernis, in diesem Fall eine freche Missachtung meiner Souveränität, als halb so schlimm herausgestellt. Alles regelt sich
von allein, ich muss nicht kämpfen und mich verteidigen.
14.9.2009
Wenn du gefragt wirst, was ist das für eine Zeit, in der wir leben, dann solltest du zuerst fragen: Wer ist wir, wessen Zeit?
Denn es gibt so viele Zeiten, besser Welten, wie es Menschen
gibt. Ob einer als Fischer am Polarkreis, als Museumswärter in
Madrid oder Tagelöhner in Bolivien lebt – immer ist es eine
andere, geprägt von den jeweiligen Lebensbedingungen, weniger von dem, was anderswo auf diesem Planeten geschieht,
denn das weiß er doch - wenn überhaupt - nur aus den Medien
oder sonstwie aus zweiter Hand. Selbst Menschen, die dieselbe
Umgebung teilen, etwa die Mannschaft des Trawlers im
Nordmeer, entwickeln unterschiedliche Auffassungen, weil das
Erlebte jeden auf andere Weise berührt. Ja nicht einmal ein
einzelner Mensch bleibt im Laufe seines Lebens einer einmal
gefassten Weltsicht treu, befragt man ihn dazu im Alter von 19,
50, und 80.
Über unsere Zeit oder Welt lässt sich nichts allgemeines sagen,
weil „der Mensch“ als Festlegung nicht existiert. Und doch,
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wendest du ein, sind darüber die dicksten Bücher geschrieben
worden. Zahllose kluge Leute ganz verschiedener Statur, allen
voran die Philosophen und Klerikalen, neuerdings die Neurobiologen und auch die Astrophysiker, haben enorm viel über
den Menschen als eine Art Modell nachgedacht, und je mehr
so einer, der ja auch bloß ein Mensch ist, über seinesgleichen
sinniert, je weiter er in die letzten Verästelungen alles Denkbaren vordringt, je konsequenter, je erbarmungsloser zum Ende
hin er sein Denken treibt, desto fester wird seine Überzeugung,
dass seine Definition die letztgültige ist. Er sagt: Es kann nicht
anders sein. Dabei übersehen sie alle die ungezählten Spielarten
außerhalb ihres Gesichtskreises, den listigen mongolischen
Nomaden oder den tasmanischen Perlentaucher und was noch
so auf Gottes Erdboden wandelt. Auf die Formeln der großen
Generalisierer angesprochen, würden die vielleicht sagen: Was
sind das für Leute, was reden die? Und wie wäre es Nietzsche
bekommen, hätte er sein „Gott ist tot“ unter persischen Kameltreibern an den Mann bringen müssen? Vielleicht garnicht
so übel.
Man sollte immer hübsch im Konjunktiv bleiben.
Was man vielleicht sagen kann über die Summe all dessen, was
unsereins unter diesem Himmel fabriziert, ist, dass niemals so
viele Optionen und Erscheinungsformen nebeneinander existiert haben, krasseste Gegensätze eingeschlossen. Das Unerklärliche, Chaotische, Himmelkreischende wächst sich aus –
aber es scheint uns nicht umzubringen. Waren die Zeiten jemals hektischer und lethargischer, aufgeklärter und verblendeter, verbrecherischer und tugendhafter, rätselvoller und elendslangweiliger? Muss nicht jeder Versuch einer Zusammenfassung in der Anstalt enden? Was wäre da weiser, als sein Weißbier zu genießen und sich seinen Zweifel an allem zu bewahren, was als Weltdeutung daherkommt?
Aber bitte, das ist nur die Meinung eines einzelnen.
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29.9.2009
Die Bundestagswahlen eigenartig unaufgeregt, ja windstill. Ergebnisse klar und unumkämpft, wie im Vorübergehen eingesammelt, wo doch angeblich die schwerste Generalkrise der
Republikgeschichte grassiert. Schon 1 % „Wachstum“ wurde,
noch nicht lange her, als problematisch für das Funktionieren
des Systems angesehen, ein Schrumpfen von 4 oder gar 6 %
müsste nach noch immer gepflegter, breitester Konvention den
Zusammenbruch dieser Gesellschaft zur Folge haben. Ohne
Wachstum geht es nicht, hieß es immer. Hätte man da nicht
wüsten Aufruhr erwarten müssen, mindestens massenhafte
Wahlverweigerung? Stattdessen noch immer 72 %! Und die
wussten genau, wen oder was sie wählen sollten, und wen
nicht: die Radikalen.
Es gab keine wirklichen Überraschungen. Oder doch? Ausgerechnet die Liberalen marschieren durch bis ins Kabinett,
nachdem seit fast 20 Jahren liberalisiert wird, was das Zeug
hält, und gerade diese Liberalisierung es war, die die Krise auslöste. (Wem klingt das zu unbewiesen, unkorrekt, zu sehr gegen die Freiheit? Sagen wir stattdessen, die Liberalisierung ging
der Krise voraus und hat sie nicht verhindert – wie wäre es
damit?) Und was machen denn jetzt all jene „Regierungen“?
Staatswirtschaft und Regulation, denn alles schreit nach besseren
Regeln.
Aber vielleicht müssen wir den Liberalisierern für die Krise
dankbar sein, vielleicht ist der Wahlsieg angemessener Lohn.
Schon für die Erkenntnis, dass uns der Himmel nicht auf den
Kopf fällt, wenn wir weniger produzieren. Denn die Krise existiert wohl in den Medien, doch nicht in der Bevölkerung. Letztere war wohl, gemessen am jeweiligen „Wachstum“, nie besonnener und zufriedener als heute. Und hier und da kommt
konsens-zersetzendes Gedankengut zum Vorschein. Sogar in
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sonst stramm linientreuen Großen Tageszeitungen. Nur eine Minderheit (freilich noch in einem anderen Land, in Frankreich)
glaubt noch den offiziellen Statistiken. Die Menschen meinen,
sagt Sarkozy, wir lügen sie an, und sie haben Grund dazu. Und
einem renommierten Ökonomen wird eine Drittelseite spendiert für
seine Ansicht (die er schon immer vertrat), dass das BIP kein
angemessener Indikator für das Wohlergehen eines Volkes ist.
Die Kosten für Wachstum werden nicht abgezogen, sagt er.
Zerstörung durch Krieg oder Industrieunfälle, so in etwa seine
Argumentation, erzeugt Bedarf für den Wiederaufbau und steigert so das BIP (dasselbe mit der Steigerung der Krankheiten
usw.).
So gesehen: danke, Westerwelle.
Was jetzt natürlich kommt, und das scheint für das Wählervolk
ganz okay, das ist die Rolle rückwärts bei der Atompolitik. Anti-Atomkraft hat keine Mehrheit mehr – tragisch für uns und
alle nach uns. Allein die „Endlagerung“. Hat man je eine irgendwie gelagerte bauliche Einrichtung von Menschenhand
gesehen, die 26.000 Jahre bestanden hätte? Die Pyramiden,
irgendein Staudamm in der nordafrikanischen Wüste: 5000,
8000 Jahre. Und ihr Zustand heute? Die „Endlagerstätten“
aber müssen ihre Funktion in vollem Umfang erfüllen, und das
unter radioaktivem Dauerbeschuss, Erdbeben, geologischen
Verwerfungen, Fluten. Und nach 26.000 Jahren hat sich die
Strahlung nur halbiert. In welcher Sprache auch immer man die
Fässer etikettiert, sie wird schon in 1000 Jahren nicht mehr
verstanden werden. Champollion entzifferte die Hieroglyphen
mit großer Mühe weniger als 2000 Jahre, nachdem sie noch in
Gebrauch waren. Sollen wir die Behälter also ausgraben und
updaten, sagen wir so alle 500 Jahre? Wahrscheinlich müssen wir
es viel früher, nicht der Beschriftung wegen, sondern weil sie
kaputt sind, die Stätten bröckelig. Den Hoover-Staudamm reißen sie noch in diesem Jahrhundert ab, sie haben keine Wahl.
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1.10.2009
In seinem Garten war er sich sicher, die Welt zu beherrschen.
Die andere, jenseits der Hecke, war ihm suspekt. Nicht dass er
sich beherrscht und düpiert vorgekommen wäre, er wusste ja
nicht einmal zu sagen, wer die Herrschenden waren. Es war
diese Verwirrung, die ihn hinter die Hecke trieb. Dabei
schwante ihm, dass die Komplexität der Zusammenhänge nur
eine Tarnung für das fast abstoßend Banale an ihnen war. Aber
vielleicht, hier traute er sich selber nicht ganz, war dies nur ein
billiger Vorwand, um nicht hinauszugehen in den Kampf.
Er kämpfte ja hier in den Beeten, und seine Waffe heute war
die Hacke. Er hatte es schon mit schwarzer Abdeckfolie, mit
Gift, ja mit der Flamme versucht – umsonst. Der Giersch ließ
sich nicht vertreiben. Wie stark und unbeirrbar dieses pflanzliche Leben, dachte er, und der Schweiß tropfte ihm in die Brille.
Man sieht keinen Anfang und kein Ende. Es sind nicht hunderte Pflanzen, es ist eine. Jeder Hieb brachte einen weiteren
Knäuel des krampfadrigen Rhizoms zu Tage. Ganz leicht ließ
es sich herausziehen - aber ein Tor, wer meint, damit dem
Giersch den Garaus zu machen! Ein übersehenes Teilstück
reicht aus, um einen neuen Trieb nach oben zu schicken, und
von dort bohren sich elastische Ausläufer in alle Richtungen,
bilden Kolonien, ganze Imperien. Und dann verschanzt sich
der Giersch noch in den Wurzeln der anderen Pflanzen – will
man die etwa alle ausbuddeln und sein Rhizom herausfieseln?
Überhaupt Rhizom: Das klingt pilzartig, wuchernd, verborgenbösartig, bedeutet aber bloß Wurzel. Die Bezeichnung ist eine
Erfindung irgendeines Gelehrten, wahrscheinlich Botanikers,
und er bediente sich des Griechischen, weil es Erfindungen
wichtig macht. Die Pflanze braucht den Namen nicht, wir
brauchen ihn. Risse man uns die Wurzeln aus, würden wir auf
der Stelle verenden, aber die weißen Adern des Giersch werden
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noch die Krume durchnetzen, wenn von unsereins nur Fossilien künden.
5.9.2009
Manche klugen Leute werden in hellen Momenten von der
Versuchung befallen, sich für klüger zu halten als alle anderen.
Die Beglückung, hervorgerufen durch kreatives Gelingen, steigert sich in die Euphorie, erwählt zu sein. Ab und zu die eigene
Einzigartigkeit zu bestaunen, geht ja noch an, ist doch jede
Kreatur ein Unikat. Dabei bleibt es aber nicht. Fast zwanghaft
verabsolutiert sich das Ich, setzt sich in Bezug – nein, nicht zur
Dorfgemeinschaft, zur Familie, zum Freundeskreis - zur
Menschheit, und zwar nicht mittenhinein, sondern geradewegs
drüber. Wenn es bei Kafka mit dem Schreiben mal gut lief,
glaubte er, tiefer, wahrhaftiger zu schreiben sei einem Menschen nicht möglich. Und er war sicher, es noch besser zu
können, wenn nur die äußeren Umstände ideal arrangiert wären. Sein Ideal bestand darin, in einen entleerten, weitläufigen
Keller gesperrt zu sein, ausgestattet nur mit einem Tisch, einem
Stuhl und einem elektrischen Licht darüber. Weitläufig, damit
noch die Nahrungsversorgung (durch eine Klappe in der Tür)
als einzig unumgänglicher Kontakt zur Außenwelt in größtmöglicher Entfernung zum Arbeitsplatz vonstatten ging.
Die Rede ist zunächst von der Versuchung, und wie viele
schöpferische Geister ihr widerstanden haben, weiß man nicht.
Dafür gebührt ihnen kaum das Attribut Größe, aber doch
Standhaftigkeit, vielleicht Weisheit. Man weiß aber von denen,
die ihr erlegen sind, weil sie es öffentlich kundtaten. Das wiederum ist sicher kein Zeichen von Größe, doch bezeichnenderweise werden gerade diese Leute für groß gehalten. Nietzsche
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z.B. schrieb, und die Adressatin war die Menschheit, mit seinem Zarathustra sei ihr das tiefste aller Bücher gegeben worden.
Von C.G. Jung wird nun anlässlich der Veröffentlichung seines
Roten Buches bekannt, dass er sich als Messias empfand. In einem Selbstgespräch, aus dem er einen Dialog konstruiert, indem er sich teilt und das Ich zur Seele sprechen lässt (gerne
wird an diese Stelle auch Gottes Stimme gesetzt), empfängt er
die Gewissheit, seine Berufung sei die Verkündigung einer
neuen Religion. Niemand außer ihm selbst war zugegen, und er
hätte es für sich behalten können. Doch drängte es ihn, sich
der Welt mitzuteilen (im Schwarzen Buch). Das ist peinlich, und
es steigert die Irritation derjenigen, die sich schon immer fragten, wer oder was C.G. Jung eigentlich war, worin seine Leistung bestand. Er wird der Begründer der analytischen Psychologie genannt - ein Missverständnis, wie wir jetzt wissen.
Nicht weit davon gefunden:
Niemals versuchen, zu gefallen.
Hoch zielen, maximale Falltiefe riskieren.
(Schätzings Empfehlungen für Erfolg)
13.10.2009
André Stern: Und ich war nie in der Schule. Für mich das bedeutendste Buch seit langem. Nicht, weil es gut gemacht ist und
der Autor wirklich schreiben kann. Sondern wegen der Aussage, die so fundiert wie überraschend ist. Die Schule als Instrument der Indoktrination, das Bildungsmonopol des Staates
nicht nur Fürsorge, sondern auch Stütze seiner Macht. Das
habe ich übersehen, wahrscheinlich, weil ich immer gerne zur
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Schule ging. Ich habe immer Bildung als Voraussetzung für Unabhängigkeit und Immunität gegen Manipulation durch Staat
und „Private“ - und das fatale Gemenge aus beiden – gesehen.
Aber es muss heißen: Wissen. Auf welche Weise und wann ein
Mensch an dieses Wissen gelangt, und was er davon für sich
nimmt, ist eine andere Frage. Es muss nicht nach Maßgabe des
Staates geschehen. Und es ist eine gezielt ins Massenbewusstsein geschleuste Drohung, man könne es ohne Abschlüsse und
Titel nie zu etwas bringen. Aber die Bildung des Kindes durch
Laissez faire, durch Angebots- und Bereitstellungserziehung
ohne Kritik, Lob, Druck innerhalb der Familie zu bewerkstelligen, setzt zweierlei voraus. Erstens dass man den ganzen Tag
zusammen sein kann, zweitens dass das Kind die Impulse der
Eltern annimmt.
Das eine – wer würde sich das wünschen? Wir Eltern waren
froh, wenn die Kinder einen gewissen Teil des Tages anderswo
aufgehoben waren. Man lebt unter einem Dach, ja, aber man
will nicht unaufhörlich aneinander hängen. Jeder kann und
muss auch für sich sein. Es gibt für Eltern mehr im Leben als
Kinder - und umgekehrt. Kinder müssen Eigeninitiative entwickeln, doch wie, wenn alle Initiative rund um die Uhr von den
Eltern kommt? Dazu gehört, dass man sie regelmäßig sich
selbst überlässt, aber auch ihren Versuchen widersteht, einen in
Anspruch zu nehmen. Wer sich dauernd einspannen lässt, als
Organisator, Animateur, Erfüllungsgehilfe, ja Gehirn, dem kann
es passieren, dass er ein bis zur Apathie ratloses Kind erlebt,
wenn es einmal auf sich allein gestellt ist – wohlgemerkt ohne
Fernsehen, Internet usw.
Und das andere? Na ja, wenn, dann nie direkt. Die direkte,
offene Methode – ich möchte dir was erklären – rief fast immer
Widerstand hervor. Das war so absurd, dass es fast schmerzte,
denn war man nicht der Mensch, den sie am meisten liebten
und achteten? Und hieß nicht die Mahnung der Tugendwacht,
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heute mehr denn je, man solle sich seinen Kindern ganz zuwenden, ihnen Zeit schenken, nicht nur einfache Aufmerksamkeit,
sondern ungeteilte? Annahmeverweigerung hatte bei den Eltern
keine Konsequenzen, außerhalb der Familie schon. Deshalb
musste ich manchmal frustriert zusehen, wie Andere meinen
Kindern kurzerhand etwas beibrachten, woran ich mich vergeblich abmühte. Andererseits verstand ich damit, warum es
Lehrer gab. Das eine oder andere Mal war man erfolgreich mit
einer Taktik á la unbeteiligtes Vorleben, Vormachen – man
machte einfach, was man eben machte, so als ob sie nicht da
wären. Und sie probierten es selbst, ahmten einen nach. Auf
Sicht wird man wohl doch zur einflussreichsten Person für die
eigenen Kinder, solange sie eben Kinder sind, aber auf welch
seltsamen Pfaden! Und merkwürdigerweise nicht auf dem Gebiet, das als Schulwissen bezeichnet wird. Da sind Fremde oft
besser geeignet.
14.11.2009
Die Offenbarung des Robert Enke
Ich habe die Meldung sehr früh im Internet gelesen. Vielleicht
waren sie da noch mit der Bergung seiner Überreste beschäftigt. Etwas traf mich unmittelbar und tief. Starke Gefühle. Aber
welche? In den Medien und auch anderswo benutzt man Formulierungen wie betroffen, berührt, ergriffen, schockiert,
Trauer. Trauer? Vielleicht am ehesten. Aber wie kann das sein?
Ich kannte ihn nicht und er interessierte mich nicht. Ich interessiere mich für Fußball, von daher wusste ich, dass es ihn
gab. Ein paar Mal habe ich ihn im Fernsehen in Aktion gesehen – souverän, exzellent, wichtig für die Mannschaft. Auch an
ein (immer banales) Kurzinterview nach irgendeinem Spiel
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kann ich mich erinnern. Da wirkte er auf mich unscheinbar,
seine geschorene Glatze fand ich zu hart. Aber kann ich deshalb sagen, ich hatte ein Bild von ihm? Ich muss aufpassen,
dass ich die Mediendarstellung seiner Person nicht im nachhinein dazu mache. Als hätte ich gewusst, wie bescheiden, hilfsbereit, uneitel etc. er war.
Warum dann Trauer oder so etwas?
Aber ich nehme es auf, als hätte ich es gewusst. Es scheint mir
willkommen, dass er so war. Und sein Gesicht, dieses fehlende
Lächeln. Würde ich mir den Schädel rasieren, mich breitbeinig
beim Mannschaftsfoto in die hinterste Reihe stellen und keine
Miene verziehen, ich könnte als Roberts Bruder durchgehen.
Es fällt mir leicht, mir vorzustellen, wie er auf den Gleisen zu
gehen.
Der Anprall des Zuges auf Roberts Körper war der Augenblick
größtmöglicher Offenbarung, vollkommener Nacktheit. Alle
Hüllen fliegen weg, und der Kern, wie er ist, wird für alle
sichtbar. Egal, wie man es nennt - Wesen, Seele, Essenz - diesen Kern hat jeder, und er ist unveränderlich. Wir decken ihn
ab, betten ihn ein, jeder auf seine Weise. Daran ist nichts Falsches, wir machen es, um besser mit ihm zu leben, und auch
wenn es einer nicht schafft, ist es nicht falsch. Dieses Drumherum, sagen wir, ist unsere Erscheinung, unsere Persönlichkeit.
Aber über den Kern sagt es nichts.
Roberts Tat bringt mich für einen Moment in Kontakt mit
diesem meinen inneren Bezirk. Ich weiß nicht, warum es irgendwie weh und irgendwie gut tut, warum so viele dabei weinen oder es unterdrücken. Tränen müssen kein Zeichen von
Trauer sein, können auch Öffnung bedeuten, Öffnung des
Nucleus. Und wir sehen kurz drauf.
Ich weiß nur, dass es mehr mit mir als mit Robert Enke zu tun
hat. Er ist eine Art Stellvertreter und seine einsame, kühne,
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verzweifelte Unbedingtheit löst es in uns aus. So gesehen sind
wir wirklich alle eins, wie es heißt.
Wie kann einer mit dieser Versagensangst auf so grandiose Weise nicht
versagen?
15.9.2010
T/error
War er doch mal ein großer Zeitungsleser
Medien, besonders Zeitungen, sind wie der Film Und täglich
grüßt das Murmeltier. Ein ewiger Zyklus öder Wiederkehr. Morgens schlägt man die Zeitung auf und fühlt sich wie der komische Held Phil Connors beim Ertönen des Weckers. Zwar wird
dem Film eine religiöse Botschaft zugeschrieben, eine Parabel
von Verfehlung, Strafe, Läuterung, aber ich glaube, er spielt
nicht umsonst im TV-Milieu. Rettung verspricht auch nicht der
Wechsel des Blattes (des Radio-, des TV-Senders etc.), denn sie
sagen alle das Gleiche. Wenn man ein gewisses Maß an Erfahrung gesammelt hat, sprich den Umlauf einige Male mitgegangen ist, und das kann Jahrzehnte dauern, dann liest man keinen
Satz mehr, ohne diesen Ton zu hören, diesen unweigerlichen,
banalen Gleichklang.
Trotzdem wagt man noch nicht den Schnitt, weil man glaubt,
man braucht es, um in dieser Welt zurecht zu kommen. Man
fürchtet, nicht mehr mitreden zu können, zu veralten, in allem
zurückzufallen, bis man irgendwann raus ist ohne jede Chance,
wiederzukommen, weil der Rückstand unaufholbar geworden
ist. Eine Weile ist man so in der beschämenden Situation, et-
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was weiter zu praktizieren, an das man nicht mehr glaubt. So
viele Zwänge kommen von außen, aber hier hätte man es selbst
in der Hand, wäre man frei. Und doch scheut man sich. Denn
noch immer meint man, was hier vorgetragen wird, wäre die
Realität, die große, einzige, allgemeinverbindliche. Die Welt, in
der wir leben! Doch irgendwann, dem Zweifel sei dank, fällt
auch dieser Glaube von einem ab. Man erkennt, es ist nicht die
Realität. Nicht meine. Nicht deine. Wenn man diesem riesigen
Bausch, dieser Wolke überhaupt die Ehre dieses Begriffs erweisen will. Vielleicht ist es doch mehr eine Projektion, ein Bild
(und der Name der betreffenden Zeitung insofern von tiefer
Einsicht geprägt), jedenfalls etwas nicht Reales, und so auf eine
schwer zu fassende Art ohne Belang. Was aber nicht relevant
ist, darüber lohnt es sich weder zu schreiben, noch zu reden.
Schweigen wäre das Beste.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Warum wirkt Sport bei allen
altbekannten Begleitübeln auch in den Medien noch so authentisch? Warum packt es einen sofort, wenn man Fußball oder
ein Match mit Federer einschaltet? Warum gelingt hier nicht
die Distanz zum Geschehen wie bei der übrigen Blase, wo man
überhaupt das Gefühl hat, es liegt kein wirkliches Geschehen
zugrunde. Irgendetwas mag geschehen sein – oder auch nichts,
oft genug – doch nicht so, nicht in diesem Kontext, nicht mit
dieser Aufladung.
30.11.2010
Atlantic Episode
Das Portal, überkrönt von einem durchhängenden, mit welligen Volants bekränzten Baldachin - von dem man unwillkürlich annahm, er müsse aus Samt sein, was natürlich unmöglich
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war -, dieses Portal hätte einen weitläufigen Vorplatz, eine geschwungene Auffahrt erfordert, jedoch es lag an einer Seitenstraße. Ich stellte den Jeep just davor ab, denn zum einen war
der Randstreifen frei, auch fehlte ein gebieterischer Portier,
zudem säumte weiter hinten eine Reihe Baucontainer den
Gehweg, und die waren dem Ensemble sicher weniger angemessen als der Wagen eines Gastes, der Gepäck auszuladen
hatte. Kaum dass wir den Fuß auf die erste Stufe gesetzt hatten, war schon ein Livrierter herbeigeeilt, ich weiß nicht woher.
Er trug einen langen, dunkelblauen Mantel, richtiger wohl
Gehrock, und hatte einen Zylinder auf - die Kutscher der Leute von Stand mögen einst so gewandet gewesen sein. Ich stellte
mir vor, dass er aus einem verborgenen Türchen, einem Verschlag neben dem Portal, wo er auf Beobachtungsposten gehockt hatte, hervorgeschossen war. Wie die Kutscher hatte er
eine triefende Nase und ein rotes Gesicht, letzteres wohl nicht
von der frischen Luft. Da er sich zunächst die Nase wischte,
kam ich ihm zuvor und erklärte ihm die Situation, während mir
bewusst wurde, wie albern es war, mich zu rechtfertigen, anstatt ihm einfach den Wagenschlüssel zu übergeben, nein steckenzulassen. Das hätte ich wissen müssen. Man kennt das aus
alten Filmen, da wurden die Schlüssel auch mal geworfen, ich
glaube, in den 60ern besonders häufig. Also überließ ich ihm
die Schlüssel, aber erst nachdem er die Hand aufgehalten hatte.
Mein Gott, so einfach gibt man einem Fremden nicht seinen
Schlüsselbund, außerdem wollten wir ja nur einchecken, gleich
darauf hätte ich umgeparkt! Aber ich war doch überrascht, wie
leicht ich ihn hergab. Ich hatte also Vertrauen.
Dann nahm uns die Drehtür auf, gemessen am Ruf des Hotels
und dem über unseren Köpfen lastenden Baldachin ein etwas
klein geratenes, fast wackliges Modell. Die Halle wiederum war
imposant, der Blick wurde hinauf zur Decke gelockt, wo viel
Stuck und Glas und Licht war, das aber abwärts schwächer
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wurde durch das dunkle Holz überall und die gravitätischen
Gemälde. Fern am jenseitigen Ende, in Kacheln gebrannt hoch
über einem Kamin so trutzig wie ein Bunkereinlass stand der
Kaiser, ein Bein vor, die Faust in die Hüfte gestemmt. Die
Dame am Empfang, jung und adrett, hatte gleich Zeit für uns,
sie lächelte und fragte, ob die Anreise angenehm war, und während sie ihre Eingaben machte, sah ich draußen im Jeep den
Livrierten, wie er sich mit der Zündung mühte. Ich machte die
üblichen Angaben im Formular, und ja, wir hätten alles gut
gefunden und jetzt würden wir uns auf das Musical freuen.
Draußen lösten sie sich ab, ein anderer Blaumantel stieg ein
und versuchte sein Glück. Sie gab mir den Zimmerschlüssel,
Lovis bekam einen Lutscher, und der zweite Mann hatte den
Trick mit der Kupplung herausbekommen und setzte den
Wagen zurück.
Der Aufzug datierte irgendwo zwischen dem Kaiser und der
Empfangsdame, die Tür schloss leise scharrend, aber er tat
seinen Dienst, über die Jahre und Jahre wohl so unauffällig,
dass man ihn vergessen hatte. Im dritten Stock stiegen wir aus
und gingen durch ein Treppengeschoss vom Ausmaß eines
Tanzsaals weiter in einen Flur, so breit und hoch wie ein Straßentunnel, und ich bin durch einige gefahren, die kürzer waren
als dieser Flur. Unser Zimmer lag ziemlich am Ende, und es
war ein ganzes Stück Weg bis dort. Lang genug, um zu beobachten, wie eine ältere Dame im sandfarbenen Kostüm aus
ihrem Zimmer trat, abschloss und sich mit Trolley und Mantel
überm Arm Richtung Aufzug begab. In diesem Flur war es
eine grußlose Begegnung auf Abstand.
Türen halten länger als Schlösser, aber diese Türen hatten
schon mehrere Schlösser überlebt, das sah man. Unseres war
leichtgängig, und wir betraten ein weitläufiges Gemach,
hochwandig wie alles hier, sauber doch die Kanten abgewetzt,
vollgesogen mit dem Tabakqualm von Jahrzehnten. Die Heiz-
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körper waren hoch und liefen auf vollen Touren, sie waren mit
Verschlägen aus Mahagoni o.ä. umbaut, und auf der Marmorplatte obenauf lag ein etwas abgegriffener Bildband über das
Haus, daneben stand ein Kärtchen Ihr persönliches Exemplar. Ich
blätterte ein wenig darin. Ein paar Fotos zeigten die Männer in
den Mänteln draußen vor der Tür, mit ihnen posierte immer
irgendein berühmter Gast (nicht: prominenter), und ich erfuhr
ihren Titel: Wagenmeister. Ich dachte, das klingt wirklich originell, hanseatisch nüchtern, deutsch.
Das Zimmer verließen wir bald wieder, denn in einer dreiviertel Stunde begann das Musical, und es war noch ein Stück zu
fahren dorthin. Den Jeep fanden wir bei den Baucontainern,
der Schlüssel steckte. Sie ziehen ihn immer ab, sagte der zweite
Wagenmeister, auch er wie aus dem Nichts plötzlich neben der
Fahrertür erschienen, aber den hier konnten sie nicht abziehen.
Er war vielleicht halb so alt wie sein Kollege, der noch die alten
Zeiten mitbekommen hatte, aber wie man den Schlüssel bei
einem Cherokee abzieht, das wusste auch er nicht, obwohl der
Wagen gerade 10 Jahre alt und mit all dieser Sicherheit ausgestattet war, die ein großes Merkmal unserer Zeit ist. Ich ließ ihn
den Druckknopf hinter dem Lenkradschloss ertasten, den man
mit dem Mittelfinger drücken muss, während man den Schlüssel zieht, was einige Übung erfordert. Der 5-€-Schein, den ich
vorsorglich in die Hosentasche gesteckt hatte, blieb dort, ich
konnte ihn hinter dem Lenkrad sitzend schlecht herausfingern,
außerdem hatte ich, unsicher in dieser Angelegenheit, nicht
definitiv vor, Trinkgeld zu geben, sondern wollte nur vorbereitet sein, falls eine Situation entstand, in der es peinlich gewesen
wäre, keins zu geben. Doch welch verquerer Gedanke, das
Nichtgeben von Trinkgeld wie falsches Benehmen zu behandeln. Als reichte es nicht aus, freundlich zu denen zu sein, die
einem erbringen, was man bezahlt hat. Gepflogenheiten vergangener Tage, wenn überholt, werden zu Ballast.
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Im Theater saßen wir Rang, aber in diesem Theater war alles
Rang, auch das Parkett. Wie in einem riesigen Trog fielen die
Sitzreihen steil ab, tief unten lag die Bühne, für jedermann
vollkommen einsehbar. Das Spektakel nahm den ganzen Raum
in Anspruch, immer wieder kamen Affen hinter uns aus dem
Dunkel hervor, klinkten sich in Lianen ein und schwangen
hinunter auf den Waldboden oder verschwanden seitwärts im
Kronendach. Schillernde Dschungelgeschöpfe wurden von
lautlosen Seilwinden herabgelassen und entfalteten selbstverliebt ihr Gepränge in Reichweite der Zuschauer. Ganz nach
Affenart war das Spiel eine Mischung aus Zirkusakrobatik und
Turnerei. Ich bewunderte Tarzan. Vor Jahren war er Sieger
einer Castingshow gewesen, und auf mich hatte er wie ein blasser, ordentlich singender Gymnasiast gewirkt. Hier präsentierte
er den Körper eines austrainierten Mittelgewichtlers, ging auf
Händen mit gekreuzten Beinen, schlug Purzelbäume und sang
dabei ohne Fehler. Am Schluss schnappte er sich Jane, schäkelte sie in seine Liane ein und entschwand mit ihr gut zwanzig
Meter in die höchsten Wipfel, wobei sie beide eine bildhauerische Gruppe bildeten, lächelnd und mit anmutig gestreckten
Gliedern. Jane ersparte Tarzan, anders als im Roman, den
Umweg über England und blieb gleich bei ihm und seinen Affen. Ein bündiger, angemessener Schluss. Die Story wird kurzerhand passend gemacht, weil die Show nichts als sich selbst
zelebriert, ihre Melodien und Effekte, das Lichtspiel, die ausgefeilte Bühnentechnik, die verblüffend verwickelten physischen
Abläufe. Nischt diese Blick, sagt Kerchak zum bettelnden Tarzan
im Slang eines Kreuzberger Türken.
Der Roman von Burroughs ist in etwa so alt wie das Atlantic.
Abends gingen Lovis und ich die Wände der Lounge ab, wo
überall Likörelle von Udo Lindenberg hingen. Happy birthday
altes Haus waren drei oder vier Bilder betitelt. Das war letztes
Jahr. Ich erklärte Lovis, wer Udo war. Der Barkeeper bestätig-
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te, dass Udo immer noch im Atlantic wohnte, er sei aber viel
unterwegs. Wir nahmen noch einen Aperitif an der Bar, dazu
ist eine Bar doch da, weil aber sonst niemand dort saß, machte
es nicht so viel Spaß.
Es roch im ganzen Haus nach Kamin, wenigstens vermutete
ich, dass es der Kaiser-Kamin war. Wenn die Luft von oben
drückt, kann das vorkommen, für diesen Fall gibt es eine
Klappe, die man schließen kann. Diese war wohl offen, dafür
war das Hausrestaurant geschlossen, weil heute Sonntag war.
Gastronomische Einrichtungen, die geschlossen sind, irritieren
mich (wie Kellner, die einen nicht bedienen). Aber Lovis hatte
großen Hunger, mit seinen elf Jahren hat er selten keinen. Er
mag dann nicht weit laufen. Im Hause gab es noch das chinesische Restaurant. Der Eingang war direkt gegenüber der Rezeption, und man ging – es hätte auch am Hafen sein können einen schmalen Flur entlang, der mit einem altmodischen
Ziehharmonika-Gitter abgesperrt werden konnte und es auch,
da bin ich sicher, wurde. Die jungen Damen waren für Chinesinnen sehr groß, vielleicht waren es auch keine Chinesinnen,
jedenfalls waren sie hübsch und nett, sprachen Hamburgisch
reinsten Wassers und hatten von Wein keine Ahnung, weshalb
ich Bier trank, was ohnehin zuerst dran gewesen wäre. Das
Essen war gleichmäßig scharf, bei meinem stand das in der
Karte, bei Lovis‘ Gericht jedoch nicht. Aber er war eisern und
putzte alles weg, es war ja ansonsten gut. Nur die Schleimhut
hängt mir in Fetzen runter, kommentierte er, und ich war still ein
bißchen stolz auf ihn.
Ein weiteres Mal zeigte er seine Mannhaftigkeit, als ein Paar
sich an den Nebentisch setzte. Die Frau war von der Art, die,
sobald ein Kind in der Nähe ist, zwanghaft demonstrieren
muss, wie gut sie mit Kindern umgehen kann (wahrscheinlich
in erster Linie sich selbst, da kinderlos, aber das ist nur Theorie). Also fing sie ein Gespräch mit Lovis an, der zunächst ein-
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silbig antwortete, wodurch der Dialog gleich wieder erstarb
und sie mit einer neuen Frage ansetzen musste. Dabei lächelte
sie, dass es Falten in ihr Gesicht schnitt, und beteuerte mehrfach, sie wolle sich nicht aufdrängen. Eine dieser hastigen Fragen war, wie man mit Stäbchen isst. Wenn Lovis eine Sache
erklären soll, die er beherrscht, dann wird er gesprächig, und so
setzte er der Dame detailliert auseinander, wie er es machte (es
sei vielleicht nicht original, aber er würde es so machen). Ich
schaute ihm fasziniert zu, wie er mit den Dingern hantierte,
denn ich wusste nicht, woher er das hatte. Als wir das letzte
Mal beim Chinesen waren, war er sechs.
Mit dem Mann, in seiner gelassenen, beleibten, verschmitzten
Natur ein echter Gegenentwurf zu seiner Frau, sprach ich über
den seltsamen Geruch im Hotel und über Udo. Dass ich gehofft hatte, an der Bar mit Udo einen zu nehmen, was natürlich Blödsinn war. Mit Kaminen würde er sich nicht auskennen, sagte der Mann, aber mit Udo sei es ihm mal ähnlich ergangen wie mir. Udo sei da auch nicht zu sehen gewesen, er
aber habe stattdessen einen Stumpen mitgenommen, der in
einem verlassenen Aschenbecher auf einem Tisch in der Ecke
gelegen habe. Einen abgerauchten, stinkenden? Genau so einen.
Und der sei von Udo gewesen? Exakt, aber das habe er erst
hinterher vom Barkeeper erfahren. D.h., Sie haben den Stumpen auf Verdacht mitgenommen? Nein, einfach so, das hatte
nichts mit Udo zu tun. Sie sammeln also - fremde Stumpen?
Darauf lächelte er.
Wir gingen dann bald aufs Zimmer, wo Lovis noch Fernsehen
guckte / fern sah/ glotzte (verfügt jemand über bessere Worte
dafür?), während ich besagten persönlichen Bildband durchblätterte, den ich ja doch nicht, o ich wusste es, einfach mitnehmen
konnte. Zuckmayer jovial an der Bar. Ein Royal telefoniert aus
der Badewanne durch eine eigens errichtete Standleitung (dauerte in der 30er Jahren Stunden) mit Buckingham. Jopi Hees-
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ters 1984 auf dem Eis der Alster – wer konnte ahnen, dass er
noch 20 Jahre später auf der Bühne stehen würde. Sydne
Rome, frei von Starallüren. Und in den Jahren nach dem Krieg
der Hoteldirektor, nachdem die Engländer das Gebäude endlich wieder freigegeben hatten, wie niedergeschlagen er über
den Zustand des Hauses war! Nicht so sehr wegen der Engländer, sondern weil Jahrzehnte nichts gemacht wurde.
Jeder mit seiner eigenen Show im Kopf schliefen wir ein und
wir schliefen gut in dieser Nacht.
Das Publikum dieser Tage - man könnte auch sagen, die Akteure – sahen wir am nächsten Morgen im Frühstückssaal. Ich
erinnere mich an einen untersetzen, schwarzbärtigen Mann im
Mantel, der seinen Kaffee am Tischende stehend einnahm. Er
hätte ein teheranischer Bombenleger sein können, aber ebensogut ein Sprachwissenschaftler. Dann gab es ein badisch
schwätzendes Paar in Jeans und Schmuddel-Shirt; seine, des
Mannes, demonstrativ bequeme Körperhaltung am Tisch
schien eine gezielte Verhöhnung dieses Ortes zu sein. Und so
weiter. Kaum ist man unter Menschen, schon verteilt man Etiketten. Es ist völlig belanglos, ein Spiel. Ich hätte gerne gewusst, wie Lovis all das wahrnahm, doch was hätte er auf solch
eine Frage antworten sollen? Ich wusste es ja selbst noch ein
wenig aus meinen Jungentagen. Die Gedanken sind einfacher,
man hat weniger unnützes Zeug im Kopf, die Dinge und Menschen, das Geschehen nimmt man ernst, aber man nimmt es
auch hin, wertet nicht. Unsereins gelangt nach vielen geistigen
Wandlungen vielleicht irgendwann in einen Status permanenter
Verwunderung, weil das, was man Welt nennt oder Leben,
weder logisch noch erklärbar ist. Wir haben die Beliebigkeit
und unvermeidliche Vorläufigkeit, schlicht den Bankrott aller
Erklärungsversuche erlebt. Wenn danach, was fraglich ist, je
noch etwas festgestellt werden kann, dann wäre es vielleicht
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eine unvorstellbar bunte Vermischung und Verwirrung und, ja,
ein Streifen von Komik, der alles durchzieht.
Dass die Wirklichkeit, nennen wir es diesmal so, etwas von
einem Dschungel hat, hätte ich Lovis gern erklärt. Dass man
das Gefühl des Getrenntseins (nicht schlimm), des Außenstehens bekommt, weil jedes Engagement, jede innere Beteiligung, jeder Versuch eines Eingriffs unweigerlich zur Folge hat,
dass dieses besagte Phänomen, für das ich kein weiteres Wort
habe, zurückweicht wie magnetisch abgestoßen. Und dass es
deshalb für die Gesundheit gut ist, wenn man eine innere Distanz bewahrt und, nicht zu vergessen, Humor.
Doch warum vorgreifen?
Epilog
Zwei Tage nach unserem Trip erhielt ich eine Email von einer
Marktforschungsfirma Survey im Auftrag von Kempinski, dem
Eigentümer des Atlantic. Man bat mich, Fragen zu unserem
Aufenthalt im Atlantic zu beantworten. Das war das zweite
Mal, dass ich danach gefragt wurde. Das erste Mal war, als wir
auscheckten. Es war dieselbe junge Dame an der Rezeption.
Wie es uns gefallen hätte? Wollen Sie das wirklich wissen, fragte ich. Sie wollte, doch doch, also erzählte ich es ihr. Nachdem
ich damit fertig war, sagte sie in einem professionell schuldbewussten Ausdruck, den sie wirklich sehr charmant darbot: Ja,
das wissen wir.
Um zum Thema Survey zurückzukehren: Ich klickte durch ca.
20 Fragebögen, die allesamt sehr (wiederum) professionell aufbereitet waren, was sicher eine teure Angelegenheit für Kempinski war. Ganz am Schluss, auf dem allerletzten Blatt, bekam
ich Gelegenheit, einen Kommentar abzugeben, was mich überraschte, weil dies bei Umfragen meistens vermieden wird, da es
sich um subjektives Material handelt, das in der Disziplin Sta-
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tistik als nicht verwertbar gilt. Ich schrieb: Wie hätte es Ihnen
gefallen?
17.1.2011
My Way or Highway (Spruch an der Wand hinter Nick Bollettieris Schreibtisch)
Die Story erzählte uns Peter Dietrich, ein Mann gebürtig aus
Ettenheim, der in Berlin ein großes Tenniscenter betreibt, die
Havellandhalle. Peter war in jungen Jahren als Tennistrainer bei
Bollettieri angestellt. Bollettieri ist einer der bekanntesten und
vielleicht der erfolgreichste Tennislehrer. Peter erzählte uns,
dass Bollettieri selbst kaum Tennis spielen kann. Man findet
das auf seiner Internetseite bestätigt. Das widerspricht so sehr
aller Lebenserfahrung, wonach man unmöglich etwas lehren
kann, was man nicht selbst versteht bzw. beherrscht, dass man
in einer Art Umkehrschluss meinen könnte, gerade das Fehlen
dieser Fähigkeit sei Voraussetzung für seinen Erfolg. Bollettieri
hat ein unglaubliches Auge. Sein Tenniscamp in Florida ist so
riesig, dass er Beobachtungstürme zwischen den Plätzen errichtet hat, um alles im Blick zu haben. Während eines Trainings
hörte Peter einmal Nicks Stimme über Lautsprecher. Nick saß
in einem der Türme einige Plätze entfernt. Ob ihm nicht aufgefallen sei, dass sein Schüler einen falschen Rückhandgriff habe?
Von da an, sagte Peter, sei ihm das mit dem Rückhandgriff nie
mehr passiert.
Was nun anstelle eigener Tennisqualitäten Bollettieri dazu befähigt, serienweise Weltklassespieler zu formen, weiß ich nicht,
auch Peter konnte dazu nicht viel sagen. Offensichtlich hat
Bollettieri eine ganz bestimmte Methode, was man daran sieht,
dass er keinen Widerspruch duldet, wofür wiederum sprechen
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könnte, dass er bisher acht Mal verheiratet war. Das ist es, was
mich an Nick interessiert: Dieser Zusammenhang zwischen
einer granitharten, gänzlich eigenen Überzeugung (My Way),
Lebensgenuss und hohem Alter (77), Frauen (8 at least) und
natürlich – Erfolg. Kann mir das mal jemand erklären?
Der richtige Rückhandgriff wurde mir schon ein paar Mal erklärt, aber seit wann muss das heißen, dass ich ihn auch kapiere? Und dann: Als wenn es mit dem richtigen Griff getan wäre!
Eine ganz normale, einhändige, überrissene Rückhand (von der
unterschnittenen reden wir jetzt nicht), nur so für den Hausgebrauch, besteht aus tausend Details, die ausnahmslos und zur
selben Zeit richtig ausgeführt werden müssen. Gelingt nur ein
einziges nicht, haut man den Ball in die Wicken. Mein Stand ist
momentan so eins zu zwei, das heißt von zehn Versuchen gehen fünf ins Feld, mal mehr mal weniger, je nachdem, wer mir
gegenübersteht. Dabei ist noch nichts darüber gesagt, wie sie
ins Feld kommen. Und ich habe sechs Jahre dafür gebraucht!
Ich fragte Peter, ob Nick vielleicht meine Quote signifikant erhöhen würde. Peter sagte, klar kannst du dich im Camp anmelden, aber das macht bei dir keinen Sinn, denn Nick kümmert
sich nur um die absolut Besten, die anderen überlässt er seinen
Angestellten. Ne, sagte ich, dann will ich das auch nicht.
28.1.2011
Vom Umgang
Wir saßen nach dem Tennis bei Michele und aßen genüsslich
unsere Pizze, als überraschend ein junger Mann an unseren
Tisch trat. Er wolle mir herzlichen Dank von seinem Bekannten ausrichten. Ich hätte dem doch vor einiger Zeit mal Arnika
angeboten, als er so verletzt gewesen sei. Schon im Auto, als
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sie ihn ins Krankenhaus fuhren, habe er sich Vorwürfe gemacht, dass er die Globuli nicht nehmen wollte. Arnika hätte
ihm in der Situation sicher gut getan. Er sei wohl etwas durcheinander gewesen, als ich zu ihm kam. Da er selten im Sportpark sei, habe er ihn (den jungen sympathischen Mann hier)
gebeten, mir seinen Dank auszurichten.
Ich war etwas perplex, erinnerte mich aber sofort an den Vorfall. Wir hatten gerade gespielt und tranken unser Bier, als er
aus der Halle humpelte, beiderseits gestützt von Mitspielern.
Man sah sofort, dass irgendwas kaputt sein musste. Ich habe in
meiner Tennistasche immer Arnika, und wenn jemand sich
verletzt, biete ich es meistens an.
Auf meine Frage stellte sich heraus, dass der Mann sich das
Außenband gerissen hatte. Er war bald darauf erfolgreich operiert worden und jetzt fast wiederhergestellt. Ich wollte für den
Fall, dass er hier doch einmal auftauchte, seinen Namen wissen.
„Dirk“, sagte der junge Mann.
Ich erzähle das, weil es zeigt, wie feinfühlig Leute sein können.
Die Sache mit den Kügelchen war nur eine Kleinigkeit, ihm
aber doch so wichtig, dass es ihn drängte, sich zu bedanken.
Dafür beauftragte er sogar noch jemanden, und dieser Bote –
von der Sorte Vater wünscht sich so einen für seine Töchter – macht
seine Sache noch so locker formvollendet, dass es einfach eine
Freude ist.
Ich muss aber auch eine andere Geschichte erzählen, die mir
gerade zuvor passiert war. Ich hatte geduscht und ging wie
immer an den Tresen, um den Spintschlüssel abzugeben und
zu zahlen. Die Dame hinterm Tresen, nennen wir sie Carmen,
unterhielt sich mit einer Kollegin, sagen wir Cordula, die an der
Tür zum Büro stand. Hierzulande sagt man dazu ganz wertfrei
schwätze. Die beiden schwätzen also über meine Schulter hinweg, denn Cordula stand irgendwo in meinem Rücken. Wäh-
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© Dierk Knechtel, D-33378 Rheda-Wiedenbrück. 10/2008
rend Carmen (geschätzt Mitte 20) etwas von einer blöden Geschichte erzählte, die sie da hatte, weswegen sie jetzt nicht
mehr bei dem und dem sei sondern beim Osteopathen, ging
ihre Hand wie in Zeitlupe zum Spintschlüssel, den ich auf den
Tresen gelegt hatte. Dort hielt sie dann inne, denn Cordula war
jetzt an der Reihe und redete von etwas anderem, von ihrem
Stundenlohn von 9,36 €, und guck mal, was da ne normale
Putzfrau heutzutag verdient. Ja da würd ich nicht für aufstehen, das sag ich dir aber, meinte Carmen wiederum, und so
ging das weiter und weiter. Ich wich ein wenig zur Seite, damit
die Damen nicht unnötigerweise an mir vorbei schwätzen
mussten. Weiter dachte ich, das schau ich mir jetzt mal an. Man
sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass Cordula eine
Art Leitungsfunktion beim Sportpark innehat. Welche es genau
ist, kann ich nicht sagen, dass es aber ein wichtige ist, erkennt
man daran, wie Cordula mit den Kollegen umgeht. - Nun ja,
das dauerte eine Weile an, und ich blickte mal zur einen, mal
zur anderen, und mal die, mal jene schaute auch zurück, ohne
jedoch ihr Geschwätz zu unterbrechen. Kennst Du das? Jemand sieht Dich an und spricht dabei mit jemand anderem?
Schließlich sagte ich: „Na gut, wenn Ihr mein Geld nicht wollt.
Ich muss nicht zahlen.“
Cordula fuhr indes fort. Doch Carmen zeigte eine Art Erwachen und stellt milde bestürzt fest, dass die Getränkebons noch
nicht addiert waren. Und was die Platzstunden ausmachten,
wisse sie nicht. Darauf rannte sie zu Torsten (heißt auch anders), der draußen eine rauchte. Torsten kam gleich herein und
kassierte.
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