Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert
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Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert
Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert Vereinfachung der Zuständigkeiten könnte Rechtsprobleme lösen Von Prof. Dr. Felix Welti I. Defizite und Grundlagen der Hilfsmittelversorgung Die Defizite der Versorgung mit Hilfsmitteln werden seit Jahren diskutiert. Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) hat in ihrer Expertise „Für eine optimierte Versorgung mit Hilfsmitteln“ aus dem Jahre 20061 zentrale Problemfelder identifiziert. Dazu gehören hohe eigene Kosten der Betroffenen, Qualitätsmängel, langwierige Verfahren, fehlende ärztliche Kompetenz und unzureichende Kommunikation und Kooperation der Beteiligten. Diese Probleme sind auch in der umfangreichen Rechtsprechung der Sozialgerichte erkennbar. Versorgungsmängel wurden in letzter Zeit sogar in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren beim Bundesverfassungsgericht2 und in einer Amtshaftungsentscheidung gegen eine Krankenkasse wegen unzureichender Sachverhaltsermittlung bei der Hilfsmittelversorgung3 offenbar. Die Rechtsgrundlagen der Hilfsmittelversorgung spiegeln die Vielfalt des gegliederten Systems der sozialen 4 Sicherung. 5 Hilfsmittel können Bestandteil der 6 Krankenbehandlung , der Pflege , der medizinischen Rehabilitation , der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben7 und der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft8 sein. In den letzteren drei Fällen sind sie Leistungen zur Teilhabe im Sinne des SGB IX. Es können insgesamt acht verschiedene Gruppen von 1 DVfR, Für eine optimierte Versorgung mit Hilfsmitteln, Oktober 2006, erarbeitet vom Ad-hocAusschuss „Aktuelle Probleme der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln“ unter Leitung von Dr. med. Matthias Schmidt-Ohlemann; abrufbar auf der Webseite www.dvfr.de unter „Stellungnahmen“. 2 BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009, Az. 1 BvR 120/09 gegen die Entscheidung des LSG NordrheinWestfalen vom 05.12.2008, Az. L 11 B 23/08 Kr ER, Pflegerecht 2009, 290. 3 LG Ellwangen, Urt. v. 13.02.2009, Az. 3 O 97/08, ZGMR 2009, 114 mit Anm. Anne-Christine Paul. 4 § 33 SGB V; § 31 SGB VII; § 48 SGB XII; § 13 BVG. 5 § 44 SGB VII; § 61 SGB XII; § 26c BVG; § 40 SGB XI. 6 § 31 SGB IX; § 33 SGB V; § 15 SGB VI; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII; § 13 BVG. 7 § 33 SGB IX; § 16 SGB VI; § 35 SGB VII; § 102 SGB III; § 16 SGB II; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII; § 26 BVG. 8 § 55 SGB IX; § 39 SGB VII; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII; § 27d BVG. 1 Leistungsträgern nach acht Leistungsgesetzen des Sozialgesetzbuchs zuständig sein. Daraus ergeben sich 24 mögliche Anspruchsgrundlagen für Hilfsmittel. Dieses System bietet die Möglichkeit, im Bedarfsfall Leistungen von einem Träger mit spezieller Sachkenntnis zu erhalten. Es stellt aber auch hohe Anforderungen an Koordination und Kooperation der beteiligten Sozialleistungsträger, damit alle Berechtigten die ihnen zustehenden Leistungen zügig, bedarfsgerecht, gleichmäßig, wirtschaftlich, wirksam, nachhaltig, barrierefrei und zeitgemäß erhalten, wie es die übergreifenden Rechtsgrundlagen des Sozialrechts fordern9. Die Gesetzgebung ist gefordert, auf die Konvergenz der Rechtsgrundlagen zu achten, damit behinderte Menschen unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung Leistungen erhalten, wie es das für alle geltende Verfassungsrecht (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die völkerrechtlichen Pflichten aus der Behindertenrechtskonvention (u.a. Art. 4 Abs. 1 lit. h BRK) nahe legen und es bereits im allgemeinen Sozialrecht angelegt ist (§ 10 SGB I, § 4 Abs. 1 SGB IX). Konvergenz und Kohärenz der Rechtsauslegung sind auch Aufgaben der Rechtsprechung, die zu beachten hat, dass die Anwendung der Rechtsnormen im Einzelfall nicht stärker divergiert, als es der Gesetzgeber gewollt und niedergelegt hat10. Anwendung und Auslegung des Rechts haben immer auch den systematischen Kontext zu beachten, der sich nicht nur aus dem jeweiligen Leistungsgesetz, sondern auch aus den insgesamt für behinderte Menschen geltenden Rechtsgrundlagen ergibt. II. SGB IX und Leistungsgesetze Die rechtliche Einordnung von Problemen in der Hilfsmittelversorgung hängt auch davon ab, wie das Verhältnis von SGB IX und Leistungsgesetzen bestimmt wird. Das SGB IX gilt für die Leistungen zur Teilhabe – also Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 5 SGB IX) – soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts anderes ergibt (§ 7 Satz 1 SGB IX). Für die Geltung des SGB IX ist also zunächst zu ermitteln, ob ein 9 §§ 2, 17 SGB I, § 69 SGB IV, §§ 10 Abs. 1, 19 SGB IX. Vgl. insgesamt Felix Welti, Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Zusammenarbeit der Leistungsträger und Koordination der Leistungen, SGb 2008, 321 ff. 10 2 Leistungsfall eine Leistung zur Teilhabe betrifft oder ob er die Krankenbehandlung oder Pflege betrifft und damit grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs des SGB IX steht. Eine Ausnahme kann sich wiederum ergeben, wenn das SGB IX – wie beim Persönlichen Budget – solche Leistungen ausdrücklich einbezieht. Damit gelten für das Verwaltungsverfahren und für die Leistungsinhalte im Regelfall die Normen des SGB IX. Insbesondere das Verfahren der Zuständigkeitsklärung nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX und die Regelungen zur koordinierten Bedarfsfeststellung nach §§ 10, 11 SGB IX können dabei helfen, dass aus der Trägervielfalt in der Hilfsmittelversorgung keine Nachteile für die Leistungsberechtigten entstehen. Jeder Träger, bei dem ein Hilfsmittel beantragt ist, ist danach verpflichtet, umfassend zu prüfen, ob er oder ein anderer Rehabilitationsträger für die beantragte Leistung zuständig ist. Erkennt er die Zuständigkeit eines anderen Rehabilitationsträgers, hat er den Antrag innerhalb von zwei Wochen weiterzuleiten. Leitet er den Antrag nicht weiter, hat er den Leistungsanspruch zur Teilhabe umfassend zu erfüllen und kann nach Maßgabe der Erstattungsvorschriften möglicherweise die Kosten vom eigentlich zuständigen Rehabilitationsträger erstattet bekommen11. Das BSG hat diese Vorschrift mittlerweile mehrfach in Fällen angewandt, die Hilfsmittel betrafen und bei denen insbesondere Zuständigkeitsfragen zwischen Krankenversicherung und Rentenversicherung im Streit standen12. Im Ausnahmefall gelten die Normen der Leistungsgesetze, nämlich dann, wenn dort Abweichendes geregelt ist. Im Einzelfall ist zu ermitteln, ob eine in den Leistungsgesetzen enthaltene Norm vom SGB IX abweicht. Im Sinne von Konvergenz und Kohärenz ist dabei zu beachten, dass das SGB IX auch die Auslegung der Leistungsgesetze beeinflussen kann, so dass letztere nicht von ersterem abweichen. Konvergenz der Rechtsgrundlagen entsteht auch durch ein 11 Vgl. ausführlich: Peter Ulrich, Die (Nicht-)Weiterleitung des Teilhabeantrags und ihre Folgen - § 14 SGB IX als gesetzesübergreifende Nahtstelle materiell- und verfassungsrechtlicher fragen, SGb 2008, 452 ff.; Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 2 und 3/2009. 12 BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 KR 16/08 R; BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 KN 4/07 KR R; BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, Sozialrecht und Praxis 2009, 44; Behindertenrecht 2009, 24; dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2009; BSG, Beschluss v. 19.102007, Az. B 11a AL 169/06 B. 3 gemeinsames Begriffsverständnis, wie es insbesondere im Behinderungsbegriff nach § 2 Abs. 1 SGB IX angelegt ist13. Die Zuständigkeit und die Leistungsvoraussetzungen ergeben sich alleine aus den Leistungsgesetzen (§ 7 Satz 2 SGB IX). Das betrifft Anforderungen wie den Versicherungsstatus in der Sozialversicherung und die Bedürftigkeit in der Sozialhilfe. Nicht jede Regelung in einem Leistungsgesetz ist aber Leistungsvoraussetzung im Sinne von § 7 Satz 2 SGB IX14. Gemeint sind hier nur diejenigen Regelungen, mit denen die Verantwortlichkeiten im gegliederten Sozialleistungssystem aufgeteilt werden. Verfahren und Leistungsinhalte sind dagegen nach § 7 Satz 1 SGB IX grundsätzlich in diesem geregelt, so dass die Abweichung vom SGB IX die Ausnahme ist, die Konvergenz des Rechts aller Rehabilitationsträger die Regel15. Das betrifft auch Hilfsmittel, die in allen Leistungsgruppen des SGB IX Leistungsinhalt sein können. Dieser Leistungsinhalt ist daher nach Maßgabe des SGB IX zu bestimmen, soweit kein trägerspezifisches Recht entgegensteht. III. Besonderheiten im SGB V Die in der Praxis berichteten und in der Rechtsprechung ersichtlichen Probleme der Rechtsanwendung und Rechtsauslegung konzentrieren sich auf die Krankenkassen als wohl wichtigsten Leistungsträger von Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich. Einige besondere Regelungen gibt es nur im Geltungsbereich des SGB V, so die Festbeträge, das Hilfsmittelverzeichnis und die Ausschreibung im Leistungserbringungsrecht. Hilfsmittel in der Leistungspflicht der Krankenkasse können nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V entweder dazu dienen, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder 13 Vgl. Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen Rehabilitation, 2008, 23; Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung, 2007, 92 f.; Dagmar Oppermann, Medizinische Rehabilitation, in: Luthe, Rehabilitationsrecht, 2009, Rz 13; vgl. weiterführend: Wolfgang Seger/ Hans-Martin Schian/ Bernd Steinke/ Wolfgang Heipertz/ Michael Schuntermann, Gesundheits-, sozial-, gesellschafts- und organisationspolitische Auswerkungen der Anwendung der ICF auf eine integrierte Rehabilitation – Vision der Umsetzung und ihrer Folgen, GesWes 2004, 393 ff. 14 Vgl. Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung, 2007, 125. 15 Vgl. Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen Rehabilitation, 2008, 29; Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung, 2007, 102. 4 einer Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Die erste Alternative ist eindeutig der Krankenbehandlung zuzuordnen und steht damit regelmäßig außerhalb der Geltung des SGB IX. Die auf Behinderung bezogenen Alternativen sind nicht explizit als medizinische Rehabilitation bezeichnet. Daher könnte bezweifelt werden, dass sie unter das SGB IX fallen. Für eine Zuordnung zur Rehabilitation spricht jedoch, dass Leistungen, die dazu bestimmt sind, eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten und ihre Folgen zu mindern für den Geltungsbereich des SGB V in § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V ausdrücklich als Leistungen der medizinischen Rehabilitation definiert sind16, bei denen das SGB IX zu beachten ist (§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), weil es sich bei dieser um einen eigenständigen Leistungssektor der Krankenkassen als Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) handelt17. In § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX sind Hilfsmittel zum Ausgleich und zur Abwendung einer Behinderung als Leistungen der medizinischen Rehabilitation definiert. Der Gesetzgeber hat dabei Formulierungen gewählt, die ausdrücklich an die Rechtsprechung des BSG zu § 33 Abs. 1 SGB V anknüpfen. Diese wechselseitigen Verweisungen zeigen, dass Hilfsmittel zur Abwendung und zum Ausgleich einer Behinderung Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 11 Abs. 2 SGB V und von § 26 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX sind. Das SGB IX gilt für sie, soweit im SGB V nichts anderes bestimmt ist. Medizinische Rehabilitation der Krankenversicherung ist systematisch nicht auf die so bezeichneten Leistungen in §§ 40-43 SGB V beschränkt, ansonsten bedürfte es der Regelung in § 11 Abs. 2 SGB V nicht18. Auch das BSG, dessen Rechtsprechung zum Verhältnis von SGB V und 16 Dazu BT-Drs. 12/1245, 61; 14/1977, 160. Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen Rehabilitation, 2008; Bianca Lüßenhop, Chronische Krankheit im Recht der medizinischen Rehabilitation und der gesetzlichen Krankenversicherung, 2008, 83; Renate Bieritz-Harder, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in: Neumann (Hrsg.), Handbuch SGB IX, 2004, § 10, Rz 29. 18 Bernd Marschang, Gesetzliche Krankenversicherung in: Luthe (Hrsg.), Rehabilitationsrecht, 2009, Rz 3. 17 5 SGB IX zum Teil unklar und kritikwürdig ist19, hat das SGB IX bereits auf Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung angewandt20. III. Probleme 1. Grundbedürfnisse des täglichen Lebens Ein zentraler Streitpunkt ist die Auslegung von § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, wonach Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation eine Behinderung „bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens“ ausgleichen sollen. Diese zunächst in der Rechtsprechung zum Krankenversicherungsrecht entwickelte Formel ist vom Gesetzgeber des SGB IX übernommen worden. Daraus haben weite Teile der Rechtsprechung und Literatur geschlossen, dass auch die in der bisherigen Rechtsprechung gefundenen Inhalte unverändert beibehalten werden sollten. Dabei könnte jedoch verkannt werden, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff wie derjenige der „Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“ in seinem gesamten normativen Zusammenhang auszulegen ist und dem Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und Anschauungen offen stehen muss. Das vorfindliche tägliche Leben und die normativen Anschauungen über Grundbedürfnisse von 1969 müssen nicht in allen Punkten mit den Verhältnissen und Anschauungen von 2009 übereinstimmen. a) Basisausgleich oder vollständiger Ausgleich? Unabhängig davon ist jedenfalls klarzustellen, dass der einschränkende Charakter der gesetzlichen Formulierung sich auf die anzuerkennenden Bedürfnisse bezieht, die für die behinderten Menschen grundlegend sein müssen, nicht jedoch auf die Qualität des Behinderungsausgleichs. Wird ein Bedürfnis als Grundbedürfnis erkannt, so ist dieses voll auszugleichen, nicht nur ein „Basisausgleich“ vorzunehmen, wie es oft missverständlich formuliert wird. Denn die Einschränkung im Leistungsanspruch bezieht sich auf die Bedürfnisse, nicht auf die Qualität ihres Ausgleichs. Dies hat auch der dritte Senat des BSG in seiner Entscheidung zur computergesteuerten Beinprothese („C-Leg“) anerkannt: 19 Vgl. BSG, Urt. v. 26.06.2007, Az. B 1 Kr 36/06 R; kritisch dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 10/2008. 20 BSG, Urt. v. 23.01.2003, Az. B 3 Kr 7/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 1; BSGE 90, 220; SGb 2003, 688. 6 „Solange der Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht worden ist im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend.“21 b) Funktions- oder teilhabeorientiertes Verständnis von Behinderung? Die zur Auslegung des Rechts nötige Definition und Differenzierung von Bedürfnissen – und damit der Qualität von Teilhabe – zeigt, dass der Wandel des Behinderungsbegriffs das Verständnis des Behinderungsausgleichs nicht unberührt lassen kann. Während Behinderung früher als Funktionseinschränkung verstanden wurde, ist es nach § 2 Abs. 1 SGB IX und der ICF die Teilhabestörung, die die Behinderung ausmacht. Entsprechend ist der Bedarf an Hilfsmitteln mit Blick auf die Teilhabestörung und nicht allein mit Blick auf die Funktionseinschränkung festzustellen. Dazu sind auch die individuellen Kontextfaktoren in den Blick zu nehmen, denn sie konstituieren erst zusammen mit der Funktionseinschränkung die auszugleichende Behinderung. Ein erster notwendiger Schritt in diese Richtung war die seit langem bestehende Rechtsprechung, wonach Entstellungen einen Hilfsmittelanspruch begründen können, also Störungen der gesundheitlichen Integrität, die erst im Zusammenwirken mit dem Kontext zu einer Teilhabestörung führen22. Relevante Kontextfaktoren sind insbesondere Familie Wohnung und Wohnort sowie Beruf und Arbeitsstelle. Von ihnen kann bei der Bedarfsfeststellung nicht abgesehen werden. Insbesondere in der Rechtsprechung zum Grundbedürfnis Mobilität wird aber von den Kontextfaktoren der Teilhabe abstrahiert. Der dritte Senat des BSG fasste zuletzt in seiner Entscheidung zum Kraftknotensystem am 20.11.2008 seine Rechtsprechung zusammen: „Das bezieht sich im Bereich der Mobilität auf den Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. (…) Dagegen hat er – von besonderen qualitativen Momenten abgesehen – grundsätzlich keinen Anspruch 21 BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 8; BSGE 93, 183, SGb 2005, 349; dazu: Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A NR. 2/2005; vgl. auch LSG Saarland, Urt. v. 28.11.2007, Az. L 11 Kr 22/06. 22 BSG, Urt. v. 23.7.2002, Az. B 3 Kr 66/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 45; Sozialrecht und Praxis 2003, 45.. 7 darauf, in Kombination von Auto und Rollstuhl den Radius der selbstständigen Fortbewegung (erheblich) zu erweitern. Dies gilt auch, wenn im Einzelfall die Stellen der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich liegen (…). Besonderheiten des Wohnorts können nicht maßgeblich sein.“23 Diese Rechtsprechung verfehlt den modernen und nach § 2 Abs. 1 SGB IX maßgeblichen Behinderungsbegriff. Bereits § 33 Satz 1 SGB I gebietet explizit, bei der Ausgestaltung von sozialen Rechten die persönlichen und örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Behinderte Menschen können mindestens im ländlichen Raum angesichts der heutigen Lebenswirklichkeit die eigene Versorgung für den täglichen Bedarf und erst recht die für sie nötige medizinische Versorgung nicht in dem Radius erreichen, den ein „Gesunder zu Fuß“ zurücklegt. Trotzdem erhalten sie nach der Rechtsprechung des BSG nicht die nötigen Einsteigehilfen, um mit einem Rollstuhl selbst ihr Auto zu nutzen24, es sei denn, diese dient der versicherten Person – weil im Wachkoma – ausschließlich zum Besuch von Ärzten und Therapeuten25. So wird selbstständiges Leben unmöglich oder erschwert. Bedarfsgerechte Hilfsmittel können eine wesentliche Unterstützung dabei sein, das Leben im Heim und den Verlust selbstbestimmten Lebens zu vermeiden. Diese Zielorientierung gerät aus dem Blick, wenn nur die Funktionseinschränkung und nicht die Teilhabe Maßstab des Hilfsmittelrechts ist. Ansatzpunkte für eine stärker an der konkreten Teilhabe orientierte Rechtsauslegung enthält immerhin das Urteil des BSG zum zweisitzigen Elektrorollstuhl, bei dem die konkret mögliche qualitative Erweiterung des persönlichen Freiraums als relevant anerkannt wurde26. Insgesamt ist noch gerade im Bereich der Mobilität schon die Definition des Grundbedürfnisses in der Rechtsprechung fragwürdig. Es wird faktisch ein Basisausgleich konstruiert, der individuell und gesellschaftlich relevante Ziele und Funktionen der Mobilität ausgrenzt. So hat der dritte Senat des BSG in seiner 23 BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 Kr 6/08 R; ebenso: BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 15/04 R, USK 2004-80 (schwenkbarer Autositz). 24 BSG, Urt. v. 19.04.2007, Az. B 3 Kr 9/06 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 15; BSGE 98, 213; SGb 2008, 112; dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 1/2008; BSG, Urt. v. 26.03.2003, Az. B 3 Kr 23/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 3; BSGE 91, 60; SGb 2004, 312. 25 BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 19/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 7; BSGE 93, 176. 26 BSG, Urt. v. 24.05.2006, Az. B 3 Kr 12/05 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 11; ähnlich: LSG RheinlandPfalz, Urt. v. 3.3.2006 (Rollfiets), dazu: Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2006. 8 Entscheidung zum Therapie-Tandem jedenfalls erwachsenen Versicherten ein Grundbedürfnis am Radfahren abgesprochen: „Das Radfahren, mag es in der Bevölkerung auch weit verbreitet sein, gehört nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. (…) dasselbe gilt für 27 Freizeitbeschäftigungen wie Wandern, Dauerlauf, Ausflüge.“ Diese Rechtsprechung wird nicht konsistenter dadurch, dass der Senat bei vergleichbaren Hilfsmitteln eine Ausnahme für Kinder und Jugendliche annimmt, die mit deren besonderen sozialen Entwicklungsbedürfnissen begründet wird28. c) Bildung als Grundbedürfnis? In der Rechtsprechung des für die Krankenversicherung zuständigen dritten Senats des BSG sind der Schulbesuch nach Ende der Schulpflicht und das Studium an einer Hochschule nicht als Grundbedürfnisse eingeordnet worden, für deren Ausgleich die Krankenkasse einzustehen hätte. Das Gericht lehnte entsprechend den Anspruch auf einen Notebook-PC für einen blinden Schüler ab und führte aus: „Die Schulfähigkeit ist aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem schulischen Allgemeinwissen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der Sonderschulpflicht geht. (…) Wenn die Krankenversicherung dafür einzustehen hat, Behinderten im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so muss sie zwar die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Behinderte das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß an Bildung erwerben können (…); darüber hinausgehende Bildungsziele hat sie aber nicht mehr zu fördern.“29 Entsprechend wurden auch Hilfsmittel für das Studium an einer Hochschule abgelehnt30. Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen31. Sie verfehlt 27 BSG, Urt. v. 21.11.2003, Az. B 3 Kr 8/02 R, kritische Besprechung von Norbert Schumacher in RdLH 2003, 25 ff.; ebenso BSG, Urt. v. 16.09.1999, Az. B 3 Kr 8/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 31; NZS 2000, 296; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.11.2008, Az. L 11 Kr 1952/08. 28 BSG, Urt. v. 23.07.2002, Az. B 3 Kr 3/02 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 46; RdLH 2002, 173; NZS 2003, 482. 29 BSG, Urt. v. 22.07.2004, Az. B 3 Kr 13/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 6; Sozialrecht und Praxis 2005, 389; Behindertenrecht 2005, 111; NZS 2005, 111. 30 BSG, Urt. v. 30.01.2001, Az. B 3 Kr 10/00 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 40; FEVS 52, 499. 9 die im SGB IX niedergelegten Ziele des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe, unterbewertet den hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert von Ausbildung und Beruf sowie die Ziele der Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 verbindliches Recht ist. Für die Rechtsprechung des BSG könnte nur vorgebracht werden, dass Bedürfnisse nach Bildung und Arbeit spezielleren Leistungsträgern zugeordnet seien32 und daher ohne Nachteil für die Betroffenen aus der krankenversicherungsrechtlichen Leistungspflicht herausgehalten werden könnten. Eine solche Sichtweise weicht jedoch der Aufgabe aus, einen zeitgemäßen Begriff der Grundbedürfnisse zu bestimmen. Sie verweist zudem für den Bereich von Schule und Studium vor allem auf die Trägerschaft der Sozialhilfe (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII), die jedoch vom Gesetzgeber als nachrangig (§ 2 Abs. 1 SGB XII) konzipiert ist. Im Ergebnis können Hilfsmittel für den Besuch weiterführender Schulen und Hochschulen regelmäßig nur bedürftigkeitsabhängig vom Träger der Sozialhilfe beansprucht werden. Den Trägern der Sozialhilfe fehlt es insoweit oft an spezialisierter Sachkunde, zumal in Ländern, in denen der örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig ist. d) Arbeit und Beruf als Grundbedürfnis? Auch die Teilhabe am Arbeitsleben wird nicht als Grundbedürfnis im Sinne des Hilfsmittelrechts angesehen33. Dies könnte zwar durch die Aufteilung der Leistungsgruppen und Zuständigkeiten zwischen medizinischer Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestützt werden. Doch ist zu beachten, dass die Erwerbsfähigkeit Ziel beider Leistungsgruppen ist und nur die konkrete Teilhabe am Arbeitsleben allein den Leistungen der beruflichen Rehabilitation zugewiesen ist. Der für die Rentenversicherung zuständige dreizehnte Senat des BSG hat daraus in einer Entscheidung zum Anspruch auf ein digitales Hörgerät geschlossen, dass ein beruflich begründeter Bedarf der Einordnung eines Hilfsmittels als Leistung der medizinischen Rehabilitation nicht entgegensteht und damit die zuvor vertretene generelle Einordnung beruflich erforderlicher Hörgeräte als 31 Johannes Reimann, Anmerkung in: Behindertenrecht 2005, 114 ff; IQPR-Diskussionsforum A Nr. 1/2005. 32 So Holger Blöcher, Juris-PR-SozR 49/2004, Anm. 3. 33 BSG, Urt. v. 8.3.1990, Az. 3 RK 13/89, USK 9056; BSG, Urt. v. 26.07.1994, Az. 11 Rar 115/93, SozR 3-4100 § 56 Nr. 15. 10 Hilfsmittel zur Teilhabe am Arbeitsleben34 abgelehnt. Der dreizehnte Senat hat, anknüpfend an ältere Entscheidungen des dritten Senats zum Krankenversicherungsrecht35, ausgeführt: „Zwar besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen nur für solche Hilfsmittel, die zur Ausübung eines elementaren Grundbedürfnisses erforderlich sind. Hierzu hat das BSG auch die Ausübung einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit gezählt. (…) diese Rechtsprechung gilt weiterhin. Sie war damit begründet worden, dass es zu den elementaren Grundbedürfnissen des Menschen zählt, eine berufliche oder andere gleichwertige Tätigkeit auszuüben.“36 2. Festbeträge Als bedeutsames Rechtsproblem erweisen sich die Festbeträge für Hilfsmittel, die nach § 36 SGB V vom GKV-Spitzenverband festgesetzt werden und mit denen nach dem Konzept des Gesetzgebers die Leistungspflicht der Krankenkassen erfüllt sein soll (§ 12 Abs. 2 SGB V). Mit der Einführung dieses Instruments stellte sich die Frage, ob durch die Festsetzung nicht bedarfsdeckender Festbeträge den Krankenkassen ein Mittel gegeben sein könnte, den Leistungsanspruch der Versicherten zu schmälern. Dies wäre eine problematische Relativierung des Gesetzesvorbehalts im Sozialrecht (§ 31 SGB I), der auch verfassungsrechtlich begründet ist, und der Leistungsansprüche der Versicherten. Entsprechend wird die Befugnis zur Setzung von Leistungserbringungsrechts Festbeträgen interpretiert, vor mit allem dem die als ein Kassen Mittel des angesichts problematischer Marktstrukturen bei Arzneimitteln und Hilfsmitteln überhöhten Preisen entgegenwirken können. Der Spitzenverband ist aber nicht ermächtigt, durch zu niedrige Festbeträge den Versicherten eine Eigenfinanzierung bedarfsgerechter Versorgung aufzuerlegen. Dies wird auch daran deutlich, dass die Zuzahlungsregelungen (bei Hilfsmitteln: § 33 Abs. 8 SGB V) in Kraft geblieben sind und die gesetzgeberische Einschätzung ausdrücken, welcher Eigenbeitrag den versicherten zugemutet werden soll. 34 LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 15.12.2005, Az. L 10 R 480/05, Behindertenrecht 2006, 201; LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 08.03.2007, Az. L 10 R 247/05. 35 BSG, Urt. v. 12.10.1988, Az. 3 RK 29/87, SozR 2200 § 182n Nr. 36; Behindertenrecht 1989, 622. 36 BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2009. 11 Das BVerfG hat diese Interpretation gestützt und in seiner Entscheidung zu den Festbeträgen 2002 ausgeführt: „Sollte sich ergeben, dass Versicherte, die Hilfsmittel benötigen, diese (…) nicht mehr als Sachleistung ohne Eigenbeteiligung beziehen könne, wären die Verbände ihren Aufgaben nach den §§ 35, 36 SGB V nicht gesetzeskonform nachgekommen. Unter diesem Aspekt gewinnt die gerichtliche Kontrolle der Festbetragsfestsetzung besondere Bedeutung. (…) Sie verhindert, dass der Festbetrag so niedrig festgesetzt wird, dass eine ausreichende Versorgung der Versicherten nicht mehr gewährleistet ist.“37 Umstritten ist jedoch, wie diese gerichtliche Kontrolle stattfinden soll. Der dreizehnte Senat des BSG hat in seiner Entscheidung über den Anspruch auf ein digitales Hörgerät auf Grund der Regelung in § 14 SGB IX auch Fragen des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsanspruchs geprüft und ausgeführt: „Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen nicht möglich ist. Der für ein Hilfsmittel festgesetzte Festbetrag begrenzt die Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht.“38 Mit dieser Entscheidung folgt das BSG zwar dem Hinweis des BVerfG, dass Festbeträge rechtswidrig sein können, bezieht ihn jedoch auf die konkrete Leistungspflicht im Einzelfall. Damit wäre jeder einzelne Versicherte darauf verwiesen, für seinen Einzelfall zu belegen, dass mit dem Festbetrag eine bedarfsgerechte Versorgung nicht möglich ist. Diese Lösung befriedigt nicht, weil sie aufwändige Rechtsstreitigkeiten voraussetzt und provoziert und dem GKVSpitzenverband die Möglichkeit belässt, Festbeträge festzusetzen, die in vielen Einzelfällen eine bedarfsgerechte Versorgung nicht ermöglichen. 37 BVerfG, Urt. v. 17.12.2002, Az. 1 BvL 28/95, 29/95, 30/95, BVerfGE 106, 275; NZS 2003, 144; SGb 2003, 458. 38 BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2009; ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 15.06.2005, Az. L 4 Kr 147/03, NZS 2006, 204. 12 Daher wird von verschiedenen Sozialgerichten und Landessozialgerichten die Auffassung vertreten, dass Festbeträge grundsätzlich wirksam und ausnahmslos anzuwenden sind, solange nicht ihre generelle Rechtswidrigkeit festgestellt ist, in diesem Fall dann aber ausnahmslos unwirksam sind39. Dieses Verständnis erscheint vorzugswürdig und eher geeignet, Rechtssicherheit und einen rechtmäßigen Leistungsumfang für alle Versicherten zu gewährleisten. Problematisch ist allerdings, dass das Verfahrensrecht trotz § 35 Abs. 7 SGB V auf eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit gegen die vom BVerfG als Allgemeinverfügungen qualifizierten Festbeträge nicht eingerichtet ist40. Betroffenheit und Rechtsschutzfristen fallen oft nicht zusammen. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass Festbeträge durch Nicht-Anpassung bei Preissteigerung rechtswidrig werden. In dieser Konstellation bleibt nur die inzidente Überprüfung im Leistungsfall. Es wäre hilfreich, wenn der Gesetzgeber für die – auch laufende - Überprüfung von Festbeträgen ein geeignetes Verfahren zur Verfügung stellen würde, das z.B. den in der Patientenbeteiligungsverordnung genannten Verbänden der chronisch kranken und behinderten Menschen über ihr Anhörungsrecht bei der Festbetragsfestsetzung (§ 140f Abs. 4 SGB V) hinaus eröffnet werden könnte. Konkret sind die Festbeträge für Hörgeräte besonders umstritten, weil die einem fortschrittlichen Stand der Technik entsprechenden digitalen Hörgeräte mit dem festgesetzten Festbetrag in Deutschland nicht zu beschaffen sind. Das BSG hatte in der genannten Entscheidung nach den Verhältnissen des Einzelfalls einen Anspruch auf ein digitales Hörgerät bejaht, da die verbesserte Hörfähigkeit zur Erwerbsfähigkeit und Arbeitssicherheit betrug. Das LSG Baden-Württemberg hat die geltenden Festbeträge als generell rechtmäßig41, das SG Neubrandenburg als generell rechtswidrig eingestuft42. Das SG Neubrandenburg begründet die Rechtswidrigkeit ausführlich und sorgfältig. Es sieht den Gebrauchsvorteil digitaler Hörgeräte im Bereich von Sprachverstehen und Richtungsgehör und der Vermeidung von Klangverzerrungen und Rückkopplungen als wesentlich an und schließt aus 39 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 08.03.2005, Az. L 11 Kr 1913/04; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 24.09.2008, Az. L 5 Kr 1539/07 (anhängig beim BSG, Az. B 3 Kr 20/08 R); LSG Bayern, Urt. v. 21.08.2008, Az. L 4 Kr 265/06; SG Neubrandenburg, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 RA 114/03. 40 Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 4 zu § 36. 41 LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 24.09.2008, Az. L 5 Kr 1539/07. 42 SG Neubrandenburg, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 RA 114/03, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 Kr 39/04. 13 vorliegenden Studien des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und des IKKBundesverbandes, dass in weit über 80% der Versorgungsfälle erhebliche Eigenbeteiligungen der Versicherten geleistet werden und die Festbeträge daher nicht mehr bedarfsgerecht sind. Das Gericht weist darauf hin, dass die nach §§ 36 Abs. 3, 35 Abs. 5 Satz 3 SGB V gebotene jährliche Überprüfung der Bedarfsgerechtigkeit des Festbeträge nicht erfolgt. 3. Ärztliche Verordnung Als Problem erscheint auch die rechtliche Bedeutung der in der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses genannten ärztlichen Verordnung eines Hilfsmittels. Das SGB IX setzt voraus, dass die Leistungsentscheidung für Leistungen zur Teilhabe vom jeweiligen Rehabilitationsträger nach einer eigenen Bedarfsfeststellung getroffen wird (§§ 14 Abs. 2 Satz 1 und 2, 10 Abs. 1 SGB IX). Jedenfalls für die Sozialversicherungsträger Krankenversicherung und Rentenversicherung wird diese Entscheidung durch einen Antrag der versicherten Person ausgelöst (§ 19 Satz 1 SGB IV). Bei Leistungen der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenkassen wird dieses Grundmuster zumeist durchbrochen: Die den Versicherten zustehenden Leistungen werden von Vertragsärzten konkretisiert und erbracht oder verordnet – z.B. Arzneimittel - , ohne dass es eines Antrags oder einer Verwaltungsentscheidung der Krankenkasse bedürfte. Die Vertragsärzte sind dabei an die Regelungen der Gesamtverträge und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gebunden. In der Krankenkassenpraxis wird diese Rechtslage oft auf Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich übertragen. Der G-BA ist nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ermächtigt, Richtlinien über die Verordnung von Hilfsmitteln zu beschließen. In diesen Richtlinien selbst ist erwähnt, dass die Krankenkasse in geeigneten Fällen vor Bewilligung durch den MDK prüfen lassen kann, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§ 5 Abs. 3 Hilfsmittel-RL); in § 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie wird ausdrücklich ein Leistungsantrag erwähnt. Bereits diese Formulierungen deuten darauf hin, dass die Konkretisierung des Leistungsanspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nicht beim Vertragsarzt, sondern bei der Krankenkasse liegt. Dies hat das BSG in mehreren Entscheidungen bestätigt: 14 „Die vertragsärztliche Verordnung eines bestimmten Hilfsmittels stellt sich rechtlich als ärztliche Empfehlung dar, bindet die Krankenkasse aber im Verhältnis zum Versicherten nicht.“43 Dies gilt sowohl zu Gunsten wie zu Lasten der versicherten Personen44. Der Vertragsarzt kann den Leistungsanspruch nicht konkretisieren, da er für den Teilhabeaspekt des Behinderungsausgleichs kein Experte ist. Seine Verordnung ist eine fachkundige Empfehlung, der insbesondere für die Erkenntnis der Funktionsstörung Indizwirkung zukommt. Die Krankenkasse muss für die Fragen des Behinderungsausgleichs ggf. im Rahmen der Amtsermittlung andere fachkundige Sachverständige heranziehen. Mit der Verordnung kommen Vertragsärzte zum Teil der in § 61 SGB IX normierten Beratungspflicht nach und unterstützen die Krankenkasse bei ihrer Prüfpflicht für einen Leistungsbedarf nach § 8 Abs. 1 SGB IX. Es wäre zweckmäßig, wenn der G-BA in der Hilfsmittel-RL deutlicher zwischen dem Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich und dem Hilfsmittel im Rahmen der Krankenbehandlung differenzieren würde. Beide Leistungsansprüche sind in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannt. Während beim Hilfsmittel im Rahmen der Krankenbehandlung ein echtes Verordnungsrecht des Vertragsarztes besteht, ist dies beim Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich – wie dargestellt – nicht der Fall. 4. Hilfsmittelverzeichnis Nach § 139 SGB V erstellt der GKV-Spitzenverband ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelsverzeichnis, in dem die von der Leistungspflicht der Krankenkassen erfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. In § 6 Abs. 5 der Hilfsmittel-RL wir ausgeführt, dass das Hilfsmittelverzeichnis insbesondere einer dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entsprechenden Verordnung dient. Hierbei dient es als Orientierungs- und Auslegungshilfe und bietet einen für Vergleichszwecke geeigneten Überblick. In der Verwaltungspraxis der Krankenkassen und zum Teil auch in der Literatur45 wird das Hilfsmittelverzeichnis als abschließend und verbindlich dargestellt. Dies entspricht jedoch nicht seiner Funktion, die allein einer schnellen Orientierung von Vertragsärzten 43 und Krankenkassen in typischen Fällen dient. Der GKV- BSG, Urt. v. 23.7.2002, Az. B 3 Kr 66/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 45; Sozialrecht und Praxis 2003, 45. 44 Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 8 zu § 33. 45 Becker/ Kingreen, Einleitung zur Textausgabe Gesundheitsrecht, 15. Aufl., 2008, XXIX. 15 Spitzenverband ist auch durch § 139 SGB V nicht ermächtigt, den Leistungsanspruch der Versicherten zu begrenzen46. Dies hat das BSG in ständiger Rechtsprechung geklärt, wie z.B. in der Entscheidung zum Elektromobil „Shoprider“ ausgeführt wurde: „Ein Ausschluss der Elektromobile aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ergibt sich auch nicht aus ihrer Nichtaufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis. Dieses dient nicht dazu, den Anspruch des Versicherten einzuschränken, sondern nur als Richtschnur und als unverbindliche Auslegungshilfe für die Gerichte.“47 5. Stationäre Einrichtungen Ein weiteres Rechtsproblem ist die Abgrenzung der Leistungspflichten zwischen der Krankenkasse und stationären Einrichtungen, in denen Versicherte leben. Nach Auffassung der Krankenkassen und Gerichte kann die Leistungspflicht von Pflegeund Behinderteneinrichtungen auch umfassen, den Bewohnerinnen und Bewohnern Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Der unmittelbare Leistungsanspruch der Versicherten soll dann mangels Bedarf entfallen. Dagegen kann jedoch vorgebracht werden, dass das Ziel von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe nicht erreicht wird, wenn Versicherte in Heimen keine Hilfsmittel zur eigenen Verfügung haben und dass den Versicherten kaum effektiver Rechtsschutz gegen ihren Heimträger zur Verfügung steht. In der Rechtsprechung wurde diese Streitfrage zugleich als Abgrenzung zwischen den Sphären der Pflege und der Rehabilitation ausgetragen. Der Versuch des dritten Senats des BSG, hierbei zu tauglichen Abgrenzungskriterien zu gelangen, zeigte, dass diese Abgrenzung Teil des eigentlichen Problems ist. Während ein Toilettenrollstuhl für einen Bewohner eine Pflegeheims wegen der größeren Selbstbestimmung geleistet werden sollte48, führte das Gericht in einem Streit über einen Lagerungsrollstuhl aus: „Entscheidend ist vielmehr, dass der Klägerin eine verantwortungsbewusste Entscheidung über das eigene Schicksal nicht mehr möglich ist, sie also wegen des Fehlens eigenbestimmter Bestimmungsmöglichkeiten quasi zum ‚Objekt der Pflege’ 46 Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 32 zu § 33. BSG, Urt. v. 03.11.1999, Az. B 3 Kr 16/99 R; auch für das Hilfsmittel zur Krankenbehandlung, BSG, Urt. v. 03.08.2006, Az. B 3 Kr 25/05 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 13; Sozialrecht und Praxis 2006, 782. 48 BSG, Urt. v. 28.5.2003, Az. B 3 Kr 30/02 R, FEVS 54, 499. 47 16 geworden ist. (…) Eine Rehabilitation ist dann mangels Erfolgsaussichten nicht mehr möglich, der Ist-Zustand der Behinderung nicht mehr behebbar.“49 Diese Ausführungen sind auf erhebliche berechtigte Kritik gestoßen50 und zeigen, dass die Differenzierung zwischen Rehabilitation und Pflege vom Gesetzgeber neu zu konzipieren und zu überwinden ist. In der Rechtsanwendung und Rechtsprechung wurden sie zum Teil auch auf Einrichtungen der Behindertenhilfe angewandt51. Im Gesetzgebungsverfahren zum GKV-WSG wurde eine gesetzgeberische Klarstellung versucht, die jedoch ihrerseits terminologisch zweifelhaft ist und die Streitfragen nicht abschließend klären kann: „Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt.“ (§ 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V) Geklärt erscheint jedenfalls, dass in allen Fällen, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen Hilfsmittel zu individuellen Zwecken innerhalb wie außerhalb der Heimsphäre benutzen, der Leistungsanspruch nicht durch eine Vorhaltepflicht geschmälert wird52. Richtigerweise wird man die Vorhaltepflicht der Heime auf Pflegehilfsmittel im Sinne des SGB XI und ggf. Hilfsmittel zur Krankenbehandlung im Sinne des SGB V beschränken müssen, während Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich stets vom ersten Teil des Satzes in § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V erfasst sein müssten. 6. Leistungserbringungsrecht Traditionell sind die Leistungserbringer von Hilfsmitteln Vertragspartner der Krankenkassen, 49 wobei diese mit allen geeigneten Leistungserbringern zu BSG, Urt. v. 22.07.2004, Az. B 3 Kr 5/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 5, FEVS 56, 1; NZS 2005, 533. Norbert Schumacher, RdLH 2004, 172; Robert Roßbruch, Pflegerecht 2005, 42. 51 SG Leipzig, Urt. v. 04.07.2006, Az. S 8 Kr 208/05. 52 BSG, Urt. v. 06.06.2002, Az. B 3 Kr 67/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 43; BSGE 89, 271; in Weiterentwicklung von BSG, Urt. v. 10.02.2000, Az. B 3 Kr 26/99 R, BSGE 85, 287. 50 17 kontrahieren haben53. Trotz der Festbeträge hat der Gesetzgeber die Möglichkeit einer wirtschaftlicheren Erbringung von Hilfsmitteln nicht als ausgeschöpft angesehen und mit dem GKV-WSG in § 127 Abs. 1 SGB V festgeschrieben, dass die Krankenkassen die Verträge ausschreiben sollten, wenn dies zur Gewährleistung einer wirtschaftlichen und in der Qualität gesicherten Versorgung zweckmäßig ist. Nach kontroversen Diskussionen hierüber ist diese Regelung durch das GKVOrgWG zum 1.1.2009 dahin geändert worden, dass die Krankenkassen die Verträge nicht mehr ausschreiben sollen, sondern können54. Unverändert geblieben ist die Festlegung, dass Ausschreibungen nicht zweckmäßig sind, wenn Hilfsmittel für einen bestimmten Versicherten individuell angefertigt werden oder wenn die Versorgung einen hohen Dienstleistungsanteil hat (§ 127 Abs. 1 Satz 4 SGB V). In diesem Fall bleibt es bei der bisherigen Form der Regelversorgung. Fraglich bleibt, ob durch Ausschreibungen das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten eingeschränkt werden darf. Eine solche Folge ist immer dann zu befürchten, wenn die Krankenkasse sich durch die Ausschreibung nicht zwischen völlig standardisierten, sondern zwischen unterschiedlichen Hilfsmitteln entscheidet. Auch in diesem Fall wäre es möglich, dass – wie beim Fehlen eines Leistungserbringungsvertrages – das Wunsch- und Wahlrecht der leistungserbringungsrechtlichen Regelung vorgeht, wenn der Versicherte das Hilfsmittel beim durch die Ausschreibung bestimmten Leistungserbringer nicht zu gleichen Bedingungen beziehen kann55 und daher ein berechtigtes Interesse hat, das Hilfsmittel nicht beim Ausschreibungsgewinner zu erhalten56. Es besteht gleichwohl faktisch die Gefahr, dass trotz des gesetzlichen Bekenntnisses zu Wirtschaftlichkeit nutzergesteuerter und Qualität die Qualitätswettbewerb Zahl der Anbieter eingeschränkt sinkt wird. und ein Die Selbstverwaltungsorgane der Krankenkassen sollten daher genau darauf achten, in welchen Fällen sie das Mittel der Ausschreibung nutzen wollen und in welchen Fällen 53 Vgl. Markus Plantholz, Sozialrecht aktuell 2009, 7, 12. Vgl. Markus Plantholz, Ausschreibungen von Hilfsmitteln nach § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V insbesondere für die Versorgung in stationären Einrichtungen, Sozialrecht aktuell 2009, 7 ff. 55 Dazu BSG, Urt. v. 23.01.2003, Az. B 3 Kr 7/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 1; BSGE 80, 220; SGb 2003, 688. 56 Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 11 zu § 33. 54 18 eine plural organisierte Versorgung Wirtschaftlichkeit und Qualität besser erreichen und fördern kann. IV. Ausblick Die vorgestellte Auswahl von Rechtsproblemen zeigt, dass das Hilfsmittelrecht insbesondere der Krankenkassen von zahlreichen Konflikten geprägt und vom Gesetzgeber nicht immer hinreichend klar strukturiert worden ist. Aus Sicht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen sollte geprüft werden, ob die Zuständigkeiten vereinfacht werden könnten, etwa indem Hilfsmittel einer Leistungsgruppe nur einem Träger zugeordnet werden. Gegenwärtig besteht nicht einmal eine Vorrangregelung zwischen Kranken- und Rentenversicherung, weil § 40 Abs. 4 SGB V nur für Rehabilitation in Einrichtungen gilt. Angesichts der Rechtsprechung des BSG, die meint, der Leistungsumfang beider Träger der medizinischen Rehabilitation könne divergieren57, ist den meisten erwerbstätigen Leistungsberechtigten zur Antragstellung bei der Rentenversicherung zu raten. Die rehabilitative Hilfsmittelversorgung sollte stärker mit anderen Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe vernetzt werden, wie dies nach der Norm zur Teilhabeplanung (§ 10 Abs. 1 SGB IX) bereits vorgesehen ist. Eine Vernetzung mit Pflege und Akutbehandlung ist ebenfalls erforderlich, setzt jedoch zunächst voraus, dass die Leistungsansprüche angemessen abgegrenzt werden, damit die Koordination nicht durch Zuständigkeitsstreit belastet wird58. Erforderlich ist auch, den Schutz der privaten Krankenversicherung an denjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung anzugleichen59. Um das Hilfsmittelrecht zum Behinderungsausgleich angemessen in das Recht der Rehabilitation und Teilhabe zu integrieren, sind der moderne Behinderungsbegriff mit seiner Teilhabeorientierung, der soziale und technische Fortschritt angemessen im Leistungsrecht zu rezipieren. Eine Hilfsmittelversorgung auf dem Niveau eines Basisausgleichs verfehlt Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe, belastet vor allem sozial schlechter gestellte Versicherte und verursacht Mehrkosten in 57 BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R; dazu Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2009. 58 Vgl. nur BSG, Urt. v. 15.11.2007, Az. B 3 A 1/07 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 16 zur Abgrenzung von Hilfsmitteln der Krankenkassen und der Pflegekassen. 59 Vgl. nur BSG, Urt. v. 10.11.2005, Az. B 3 P 10/04 R, SozR 4-3300 § 40 Nr. 2; SGb 2006, 488. 19 anderen Leistungsbereichen. Individuelle Leistungsansprüche müssen Vorrang vor Instrumenten des Leistungserbringungsrechts wie Festbeträgen, dem Hilfsmittelverzeichnis und Ausschreibungen haben. Das Leistungserbringungsrecht ist auf einen Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit auszurichten. Dazu kommt, dass der technische Fortschritt bei unterstützenden Technologien nicht – wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens – als Kostentreiber zu fürchten ist. Vielmehr können erhebliche Einsparungen erreicht werden, wenn behinderte Menschen unabhängiger von Medizin und Pflege werden und besser an Gesellschaft und Arbeitsleben teilhaben können. Nicht zuletzt deshalb zählt es nach Art. 4 Abs. 1 lit. g der Behindertenrechtskonvention zu den Pflichten der Vertragsstaaten „Forschung und Entwicklung für neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet Kommunikationstechnologien, sind, einschließlich Mobilitätshilfen, Geräten Informationsund und unterstützenden Technologien, zu betreiben oder zu fördern sowie ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern und dabei Technologien zu erschwinglichen Kosten den Vorrang zu geben.“ Gemessen an dem umfassenden Verständnis der Behindertenrechtskonvention ist auch zu prüfen, ob die Abgrenzung zwischen Hilfsmitteln als körperlichen Gegenständen und Dienstleistungen60 im Leistungsrecht noch zeitgemäß ist und dem Stand der Technik und Erkenntnisse entspricht. Oft führt eine Kombination aus Technik und Dienstleistungen zu bestmöglicher Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Will man nicht – wie bei den Gebärdensprachdolmetschern – die Dienstleistungsanteile wirksamer Unterstützung umständlich einzeln im Gesetz aufzählen, ist auch insoweit eine Reform zu erwägen. Eine strukturierte Neukodifikation des Hilfsmittelrechts bei begrenzter Sachreform wäre angezeigt. Barrierefreiheit beginnt hier mit einem einfacheren Recht. 60 Vgl. BSG, Urt. v. 28.6.2001, Az. B 3 Kr 3/00 R, SGb 2002, 401; BSG, Urt. v. 30.1.2001, Az. B 3 Kr 6/00 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 39; NZS 2001, 532. 20 Literatur: Becker, U/ Kingreen, T: SGB V. München: C.H. Beck, 2008 Fuchs, H: Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen Rehabilitation. Sankt Augustin: Asgard, 2009 Liebold, D: Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung. Baden-Baden: Nomos, 2007 Lüßenhop, B: Chronische Krankheit im Recht der medizinischen Rehabilitation und der gesetzlichen Krankenversicherung 21