Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert

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Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert
Hilfsmittelrecht ist nicht immer klar strukturiert
Vereinfachung der Zuständigkeiten könnte Rechtsprobleme lösen
Von Prof. Dr. Felix Welti
I. Defizite und Grundlagen der Hilfsmittelversorgung
Die Defizite der Versorgung mit Hilfsmitteln werden seit Jahren diskutiert. Die
Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) hat in ihrer Expertise „Für eine
optimierte Versorgung mit Hilfsmitteln“ aus dem Jahre 20061 zentrale Problemfelder
identifiziert. Dazu gehören hohe eigene Kosten der Betroffenen, Qualitätsmängel,
langwierige
Verfahren,
fehlende
ärztliche
Kompetenz
und
unzureichende
Kommunikation und Kooperation der Beteiligten. Diese Probleme sind auch in der
umfangreichen Rechtsprechung der Sozialgerichte erkennbar. Versorgungsmängel
wurden in letzter Zeit sogar in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren beim
Bundesverfassungsgericht2 und in einer Amtshaftungsentscheidung gegen eine
Krankenkasse
wegen
unzureichender
Sachverhaltsermittlung
bei
der
Hilfsmittelversorgung3 offenbar.
Die Rechtsgrundlagen der Hilfsmittelversorgung spiegeln die Vielfalt des gegliederten
Systems
der
sozialen
4
Sicherung.
5
Hilfsmittel
können
Bestandteil
der
6
Krankenbehandlung , der Pflege , der medizinischen Rehabilitation , der Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben7 und der Leistungen zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft8 sein. In den letzteren drei Fällen sind sie Leistungen zur Teilhabe im
Sinne des SGB IX. Es können insgesamt acht verschiedene Gruppen von
1
DVfR, Für eine optimierte Versorgung mit Hilfsmitteln, Oktober 2006, erarbeitet vom Ad-hocAusschuss „Aktuelle Probleme der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln“ unter Leitung von Dr. med.
Matthias Schmidt-Ohlemann; abrufbar auf der Webseite www.dvfr.de unter „Stellungnahmen“.
2
BVerfG, Beschluss vom 25.02.2009, Az. 1 BvR 120/09 gegen die Entscheidung des LSG NordrheinWestfalen vom 05.12.2008, Az. L 11 B 23/08 Kr ER, Pflegerecht 2009, 290.
3
LG Ellwangen, Urt. v. 13.02.2009, Az. 3 O 97/08, ZGMR 2009, 114 mit Anm. Anne-Christine Paul.
4
§ 33 SGB V; § 31 SGB VII; § 48 SGB XII; § 13 BVG.
5
§ 44 SGB VII; § 61 SGB XII; § 26c BVG; § 40 SGB XI.
6
§ 31 SGB IX; § 33 SGB V; § 15 SGB VI; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII; § 13 BVG.
7
§ 33 SGB IX; § 16 SGB VI; § 35 SGB VII; § 102 SGB III; § 16 SGB II; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII;
§ 26 BVG.
8
§ 55 SGB IX; § 39 SGB VII; § 54 SGB XII; § 35a SGB VIII; § 27d BVG.
1
Leistungsträgern nach acht Leistungsgesetzen des Sozialgesetzbuchs zuständig
sein. Daraus ergeben sich 24 mögliche Anspruchsgrundlagen für Hilfsmittel.
Dieses System bietet die Möglichkeit, im Bedarfsfall Leistungen von einem Träger mit
spezieller Sachkenntnis zu erhalten. Es stellt aber auch hohe Anforderungen an
Koordination und Kooperation der beteiligten Sozialleistungsträger, damit alle
Berechtigten die ihnen zustehenden Leistungen zügig, bedarfsgerecht, gleichmäßig,
wirtschaftlich, wirksam, nachhaltig, barrierefrei und zeitgemäß erhalten, wie es die
übergreifenden Rechtsgrundlagen des Sozialrechts fordern9. Die Gesetzgebung ist
gefordert, auf die Konvergenz der Rechtsgrundlagen zu achten, damit behinderte
Menschen unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung Leistungen erhalten, wie
es das für alle geltende Verfassungsrecht (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die
völkerrechtlichen Pflichten aus der Behindertenrechtskonvention (u.a. Art. 4 Abs. 1 lit.
h BRK) nahe legen und es bereits im allgemeinen Sozialrecht angelegt ist (§ 10
SGB I, § 4 Abs. 1 SGB IX).
Konvergenz und Kohärenz der Rechtsauslegung sind auch Aufgaben der
Rechtsprechung, die zu beachten hat, dass die Anwendung der Rechtsnormen im
Einzelfall nicht stärker divergiert, als es der Gesetzgeber gewollt und niedergelegt
hat10.
Anwendung
und
Auslegung
des
Rechts
haben
immer
auch
den
systematischen Kontext zu beachten, der sich nicht nur aus dem jeweiligen
Leistungsgesetz, sondern auch aus den insgesamt für behinderte Menschen
geltenden Rechtsgrundlagen ergibt.
II. SGB IX und Leistungsgesetze
Die rechtliche Einordnung von Problemen in der Hilfsmittelversorgung hängt auch
davon ab, wie das Verhältnis von SGB IX und Leistungsgesetzen bestimmt wird. Das
SGB IX gilt für die Leistungen zur Teilhabe – also Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft (§ 5 SGB IX) – soweit sich aus den für den jeweiligen
Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts anderes ergibt (§ 7 Satz 1
SGB IX). Für die Geltung des SGB IX ist also zunächst zu ermitteln, ob ein
9
§§ 2, 17 SGB I, § 69 SGB IV, §§ 10 Abs. 1, 19 SGB IX.
Vgl. insgesamt Felix Welti, Systematische Stellung des SGB IX im Sozialgesetzbuch Zusammenarbeit der Leistungsträger und Koordination der Leistungen, SGb 2008, 321 ff.
10
2
Leistungsfall eine Leistung zur Teilhabe betrifft oder ob er die Krankenbehandlung
oder Pflege betrifft und damit grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs des
SGB IX steht. Eine Ausnahme kann sich wiederum ergeben, wenn das SGB IX – wie
beim Persönlichen Budget – solche Leistungen ausdrücklich einbezieht.
Damit gelten für das Verwaltungsverfahren und für die Leistungsinhalte im Regelfall
die Normen des SGB IX. Insbesondere das Verfahren der Zuständigkeitsklärung
nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX und die Regelungen zur koordinierten
Bedarfsfeststellung nach §§ 10, 11 SGB IX können dabei helfen, dass aus der
Trägervielfalt
in
der
Hilfsmittelversorgung
keine
Nachteile
für
die
Leistungsberechtigten entstehen. Jeder Träger, bei dem ein Hilfsmittel beantragt ist,
ist
danach
verpflichtet,
umfassend
zu
prüfen,
ob
er
oder
ein
anderer
Rehabilitationsträger für die beantragte Leistung zuständig ist. Erkennt er die
Zuständigkeit eines anderen Rehabilitationsträgers, hat er den Antrag innerhalb von
zwei Wochen weiterzuleiten. Leitet er den Antrag nicht weiter, hat er den
Leistungsanspruch zur Teilhabe umfassend zu erfüllen und kann nach Maßgabe der
Erstattungsvorschriften möglicherweise die Kosten vom eigentlich zuständigen
Rehabilitationsträger
erstattet
bekommen11.
Das
BSG
hat
diese
Vorschrift
mittlerweile mehrfach in Fällen angewandt, die Hilfsmittel betrafen und bei denen
insbesondere
Zuständigkeitsfragen
zwischen
Krankenversicherung
und
Rentenversicherung im Streit standen12.
Im Ausnahmefall gelten die Normen der Leistungsgesetze, nämlich dann, wenn dort
Abweichendes geregelt ist. Im Einzelfall ist zu ermitteln, ob eine in den
Leistungsgesetzen enthaltene Norm vom SGB IX abweicht. Im Sinne von
Konvergenz und Kohärenz ist dabei zu beachten, dass das SGB IX auch die
Auslegung der Leistungsgesetze beeinflussen kann, so dass letztere nicht von
ersterem abweichen. Konvergenz der Rechtsgrundlagen entsteht auch durch ein
11
Vgl. ausführlich: Peter Ulrich, Die (Nicht-)Weiterleitung des Teilhabeantrags und ihre Folgen - § 14
SGB IX als gesetzesübergreifende Nahtstelle materiell- und verfassungsrechtlicher fragen, SGb 2008,
452 ff.; Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 2 und 3/2009.
12
BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 KR 16/08 R; BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 KN 4/07 KR R; BSG,
Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, Sozialrecht und Praxis 2009, 44; Behindertenrecht 2009, 24;
dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2009; BSG, Beschluss v. 19.102007, Az. B 11a AL
169/06 B.
3
gemeinsames Begriffsverständnis, wie es insbesondere im Behinderungsbegriff nach
§ 2 Abs. 1 SGB IX angelegt ist13.
Die Zuständigkeit und die Leistungsvoraussetzungen ergeben sich alleine aus den
Leistungsgesetzen (§ 7 Satz 2 SGB IX). Das betrifft Anforderungen wie den
Versicherungsstatus in der Sozialversicherung und die Bedürftigkeit in der
Sozialhilfe.
Nicht
jede
Regelung
in
einem
Leistungsgesetz
ist
aber
Leistungsvoraussetzung im Sinne von § 7 Satz 2 SGB IX14. Gemeint sind hier nur
diejenigen Regelungen, mit denen die Verantwortlichkeiten im gegliederten
Sozialleistungssystem aufgeteilt werden. Verfahren und Leistungsinhalte sind
dagegen nach § 7 Satz 1 SGB IX grundsätzlich in diesem geregelt, so dass die
Abweichung vom SGB IX die Ausnahme ist, die Konvergenz des Rechts aller
Rehabilitationsträger die Regel15. Das betrifft auch Hilfsmittel, die in allen
Leistungsgruppen des SGB IX Leistungsinhalt sein können. Dieser Leistungsinhalt ist
daher nach Maßgabe des SGB IX zu bestimmen, soweit kein trägerspezifisches
Recht entgegensteht.
III. Besonderheiten im SGB V
Die in der Praxis berichteten und in der Rechtsprechung ersichtlichen Probleme der
Rechtsanwendung und Rechtsauslegung konzentrieren sich auf die Krankenkassen
als wohl wichtigsten Leistungsträger von Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich.
Einige besondere Regelungen gibt es nur im Geltungsbereich des SGB V, so die
Festbeträge,
das
Hilfsmittelverzeichnis
und
die
Ausschreibung
im
Leistungserbringungsrecht.
Hilfsmittel in der Leistungspflicht der Krankenkasse können nach § 33 Abs. 1 Satz 1
SGB V entweder dazu dienen, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder
13
Vgl. Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen
Rehabilitation, 2008, 23; Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche
Krankenversicherung, 2007, 92 f.; Dagmar Oppermann, Medizinische Rehabilitation, in: Luthe,
Rehabilitationsrecht, 2009, Rz 13; vgl. weiterführend: Wolfgang Seger/ Hans-Martin Schian/ Bernd
Steinke/ Wolfgang Heipertz/ Michael Schuntermann, Gesundheits-, sozial-, gesellschafts- und
organisationspolitische Auswerkungen der Anwendung der ICF auf eine integrierte Rehabilitation –
Vision der Umsetzung und ihrer Folgen, GesWes 2004, 393 ff.
14
Vgl. Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung, 2007, 125.
15
Vgl. Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen
Rehabilitation, 2008, 29; Dirk Liebold, Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche
Krankenversicherung, 2007, 102.
4
einer Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Die erste
Alternative ist eindeutig der Krankenbehandlung zuzuordnen und steht damit
regelmäßig außerhalb der Geltung des SGB IX. Die auf Behinderung bezogenen
Alternativen sind nicht explizit als medizinische Rehabilitation bezeichnet. Daher
könnte bezweifelt werden, dass sie unter das SGB IX fallen. Für eine Zuordnung zur
Rehabilitation spricht jedoch, dass Leistungen, die dazu bestimmt sind, eine
Behinderung abzuwenden,
zu
beseitigen,
zu
mindern, auszugleichen,
ihre
Verschlimmerung zu verhüten und ihre Folgen zu mindern für den Geltungsbereich
des SGB V in § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V ausdrücklich als Leistungen der
medizinischen Rehabilitation definiert sind16, bei denen das SGB IX zu beachten ist
(§ 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), weil es sich bei dieser um einen eigenständigen
Leistungssektor der Krankenkassen als Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB
IX) handelt17.
In § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX sind Hilfsmittel zum Ausgleich und zur Abwendung einer
Behinderung als Leistungen der medizinischen Rehabilitation definiert. Der
Gesetzgeber
hat
dabei
Formulierungen
gewählt,
die
ausdrücklich
an
die
Rechtsprechung des BSG zu § 33 Abs. 1 SGB V anknüpfen. Diese wechselseitigen
Verweisungen zeigen, dass Hilfsmittel zur Abwendung und zum Ausgleich einer
Behinderung Leistungen der medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 11 Abs. 2
SGB V und von § 26 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX sind. Das SGB IX gilt für sie, soweit im
SGB
V
nichts
anderes
bestimmt
ist.
Medizinische
Rehabilitation
der
Krankenversicherung ist systematisch nicht auf die so bezeichneten Leistungen in §§
40-43 SGB V beschränkt, ansonsten bedürfte es der Regelung in § 11 Abs. 2 SGB V
nicht18. Auch das BSG, dessen Rechtsprechung zum Verhältnis von SGB V und
16
Dazu BT-Drs. 12/1245, 61; 14/1977, 160.
Harry Fuchs, Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen
Rehabilitation, 2008; Bianca Lüßenhop, Chronische Krankheit im Recht der medizinischen
Rehabilitation und der gesetzlichen Krankenversicherung, 2008, 83; Renate Bieritz-Harder,
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in: Neumann (Hrsg.), Handbuch SGB IX, 2004, § 10, Rz
29.
18
Bernd Marschang, Gesetzliche Krankenversicherung in: Luthe (Hrsg.), Rehabilitationsrecht, 2009,
Rz 3.
17
5
SGB IX zum Teil unklar und kritikwürdig ist19, hat das SGB IX bereits auf Hilfsmittel
der gesetzlichen Krankenversicherung angewandt20.
III. Probleme
1. Grundbedürfnisse des täglichen Lebens
Ein zentraler Streitpunkt ist die Auslegung von § 31 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX, wonach
Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation eine Behinderung „bei der Befriedigung
von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens“ ausgleichen sollen. Diese zunächst in
der Rechtsprechung zum Krankenversicherungsrecht entwickelte Formel ist vom
Gesetzgeber des SGB IX übernommen worden. Daraus haben weite Teile der
Rechtsprechung und Literatur geschlossen, dass auch die in der bisherigen
Rechtsprechung gefundenen Inhalte unverändert beibehalten werden sollten. Dabei
könnte jedoch verkannt werden, dass ein unbestimmter Rechtsbegriff wie derjenige
der „Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“ in seinem gesamten normativen
Zusammenhang auszulegen ist und dem Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse und
Anschauungen offen stehen muss. Das vorfindliche tägliche Leben und die
normativen Anschauungen über Grundbedürfnisse von 1969 müssen nicht in allen
Punkten mit den Verhältnissen und Anschauungen von 2009 übereinstimmen.
a) Basisausgleich oder vollständiger Ausgleich?
Unabhängig davon ist jedenfalls klarzustellen, dass der einschränkende Charakter
der gesetzlichen Formulierung sich auf die anzuerkennenden Bedürfnisse bezieht,
die für die behinderten Menschen grundlegend sein müssen, nicht jedoch auf die
Qualität des Behinderungsausgleichs. Wird ein Bedürfnis als Grundbedürfnis
erkannt, so ist dieses voll auszugleichen, nicht nur ein „Basisausgleich“
vorzunehmen, wie es oft missverständlich formuliert wird. Denn die Einschränkung
im Leistungsanspruch bezieht sich auf die Bedürfnisse, nicht auf die Qualität ihres
Ausgleichs. Dies hat auch der dritte Senat des BSG in seiner Entscheidung zur
computergesteuerten Beinprothese („C-Leg“) anerkannt:
19
Vgl. BSG, Urt. v. 26.06.2007, Az. B 1 Kr 36/06 R; kritisch dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum
A Nr. 10/2008.
20
BSG, Urt. v. 23.01.2003, Az. B 3 Kr 7/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 1; BSGE 90, 220; SGb 2003,
688.
6
„Solange der Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht worden ist im
Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen, kann die Versorgung mit
einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der
bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend.“21
b) Funktions- oder teilhabeorientiertes Verständnis von Behinderung?
Die zur Auslegung des Rechts nötige Definition und Differenzierung von
Bedürfnissen – und damit der Qualität von Teilhabe – zeigt, dass der Wandel des
Behinderungsbegriffs das Verständnis des Behinderungsausgleichs nicht unberührt
lassen kann. Während Behinderung früher als Funktionseinschränkung verstanden
wurde, ist es nach § 2 Abs. 1 SGB IX und der ICF die Teilhabestörung, die die
Behinderung ausmacht. Entsprechend ist der Bedarf an Hilfsmitteln mit Blick auf die
Teilhabestörung und nicht allein mit Blick auf die Funktionseinschränkung
festzustellen. Dazu sind auch die individuellen Kontextfaktoren in den Blick zu
nehmen, denn sie konstituieren erst zusammen mit der Funktionseinschränkung die
auszugleichende Behinderung. Ein erster notwendiger Schritt in diese Richtung war
die seit langem bestehende Rechtsprechung, wonach Entstellungen einen
Hilfsmittelanspruch begründen können, also Störungen der gesundheitlichen
Integrität, die erst im Zusammenwirken mit dem Kontext zu einer Teilhabestörung
führen22.
Relevante Kontextfaktoren sind insbesondere Familie Wohnung und Wohnort sowie
Beruf und Arbeitsstelle. Von ihnen kann bei der Bedarfsfeststellung nicht abgesehen
werden. Insbesondere in der Rechtsprechung zum Grundbedürfnis Mobilität wird
aber von den Kontextfaktoren der Teilhabe abstrahiert. Der dritte Senat des BSG
fasste zuletzt in seiner Entscheidung zum Kraftknotensystem am 20.11.2008 seine
Rechtsprechung zusammen:
„Das bezieht sich im Bereich der Mobilität auf den Bewegungsradius, den ein
Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. (…) Dagegen hat er – von
besonderen qualitativen Momenten abgesehen – grundsätzlich keinen Anspruch
21
BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 20/04 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 8; BSGE 93, 183, SGb 2005,
349; dazu: Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A NR. 2/2005; vgl. auch LSG Saarland, Urt. v.
28.11.2007, Az. L 11 Kr 22/06.
22
BSG, Urt. v. 23.7.2002, Az. B 3 Kr 66/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 45; Sozialrecht und Praxis 2003,
45..
7
darauf, in Kombination von Auto und Rollstuhl den Radius der selbstständigen
Fortbewegung (erheblich) zu erweitern. Dies gilt auch, wenn im Einzelfall die Stellen
der Alltagsgeschäfte nicht im Nahbereich liegen (…). Besonderheiten des Wohnorts
können nicht maßgeblich sein.“23
Diese Rechtsprechung verfehlt den modernen und nach § 2 Abs. 1 SGB IX
maßgeblichen Behinderungsbegriff. Bereits § 33 Satz 1 SGB I gebietet explizit, bei
der Ausgestaltung von sozialen Rechten die persönlichen und örtlichen Verhältnisse
zu berücksichtigen. Behinderte Menschen können mindestens im ländlichen Raum
angesichts der heutigen Lebenswirklichkeit die eigene Versorgung für den täglichen
Bedarf und erst recht die für sie nötige medizinische Versorgung nicht in dem Radius
erreichen, den ein „Gesunder zu Fuß“ zurücklegt. Trotzdem erhalten sie nach der
Rechtsprechung des BSG nicht die nötigen Einsteigehilfen, um mit einem Rollstuhl
selbst ihr Auto zu nutzen24, es sei denn, diese dient der versicherten Person – weil
im Wachkoma – ausschließlich zum Besuch von Ärzten und Therapeuten25.
So wird selbstständiges Leben unmöglich oder erschwert. Bedarfsgerechte Hilfsmittel
können eine wesentliche Unterstützung dabei sein, das Leben im Heim und den
Verlust selbstbestimmten Lebens zu vermeiden. Diese Zielorientierung gerät aus
dem Blick, wenn nur die Funktionseinschränkung und nicht die Teilhabe Maßstab
des Hilfsmittelrechts ist. Ansatzpunkte für eine stärker an der konkreten Teilhabe
orientierte Rechtsauslegung enthält immerhin das Urteil des BSG zum zweisitzigen
Elektrorollstuhl, bei dem die konkret mögliche qualitative Erweiterung des
persönlichen Freiraums als relevant anerkannt wurde26.
Insgesamt ist noch gerade im Bereich der Mobilität schon die Definition des
Grundbedürfnisses in der Rechtsprechung fragwürdig. Es wird faktisch ein
Basisausgleich konstruiert, der individuell und gesellschaftlich relevante Ziele und
Funktionen der Mobilität ausgrenzt. So hat der dritte Senat des BSG in seiner
23
BSG, Urt. v. 20.11.2008, Az. B 3 Kr 6/08 R; ebenso: BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 15/04 R,
USK 2004-80 (schwenkbarer Autositz).
24
BSG, Urt. v. 19.04.2007, Az. B 3 Kr 9/06 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 15; BSGE 98, 213; SGb 2008,
112; dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 1/2008; BSG, Urt. v. 26.03.2003, Az. B 3 Kr
23/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 3; BSGE 91, 60; SGb 2004, 312.
25
BSG, Urt. v. 16.09.2004, Az. B 3 Kr 19/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 7; BSGE 93, 176.
26
BSG, Urt. v. 24.05.2006, Az. B 3 Kr 12/05 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 11; ähnlich: LSG RheinlandPfalz, Urt. v. 3.3.2006 (Rollfiets), dazu: Alexander Gagel, IQPR-Diskussionsforum A Nr. 7/2006.
8
Entscheidung zum Therapie-Tandem jedenfalls erwachsenen Versicherten ein
Grundbedürfnis am Radfahren abgesprochen:
„Das Radfahren, mag es in der Bevölkerung auch weit verbreitet sein, gehört nicht zu
den
Grundbedürfnissen
des
täglichen
Lebens.
(…)
dasselbe
gilt
für
27
Freizeitbeschäftigungen wie Wandern, Dauerlauf, Ausflüge.“
Diese Rechtsprechung wird nicht konsistenter dadurch, dass der Senat bei
vergleichbaren Hilfsmitteln eine Ausnahme für Kinder und Jugendliche annimmt, die
mit deren besonderen sozialen Entwicklungsbedürfnissen begründet wird28.
c) Bildung als Grundbedürfnis?
In der Rechtsprechung des für die Krankenversicherung zuständigen dritten Senats
des BSG sind der Schulbesuch nach Ende der Schulpflicht und das Studium an einer
Hochschule nicht als Grundbedürfnisse eingeordnet worden, für deren Ausgleich die
Krankenkasse einzustehen hätte. Das Gericht lehnte entsprechend den Anspruch
auf einen Notebook-PC für einen blinden Schüler ab und führte aus:
„Die Schulfähigkeit ist aber nur insoweit als allgemeines Grundbedürfnis des
täglichen Lebens anzusehen, als es um die Vermittlung von grundlegendem
schulischen Allgemeinwissen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder der
Sonderschulpflicht geht. (…) Wenn die Krankenversicherung dafür einzustehen hat,
Behinderten im Wege der medizinischen Rehabilitation die notwendige Kompetenz
zur Bewältigung des Alltags zu vermitteln, so muss sie zwar die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass Behinderte das staatlicherseits als Minimum angesehene Maß
an Bildung erwerben können (…); darüber hinausgehende Bildungsziele hat sie aber
nicht mehr zu fördern.“29
Entsprechend wurden auch Hilfsmittel für das Studium an einer Hochschule
abgelehnt30. Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen31. Sie verfehlt
27
BSG, Urt. v. 21.11.2003, Az. B 3 Kr 8/02 R, kritische Besprechung von Norbert Schumacher in
RdLH 2003, 25 ff.; ebenso BSG, Urt. v. 16.09.1999, Az. B 3 Kr 8/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 31;
NZS 2000, 296; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.11.2008, Az. L 11 Kr 1952/08.
28
BSG, Urt. v. 23.07.2002, Az. B 3 Kr 3/02 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 46; RdLH 2002, 173; NZS 2003,
482.
29
BSG, Urt. v. 22.07.2004, Az. B 3 Kr 13/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 6; Sozialrecht und Praxis 2005,
389; Behindertenrecht 2005, 111; NZS 2005, 111.
30
BSG, Urt. v. 30.01.2001, Az. B 3 Kr 10/00 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 40; FEVS 52, 499.
9
die im SGB IX niedergelegten Ziele des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe,
unterbewertet den hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert von Ausbildung und
Beruf sowie die Ziele der Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009
verbindliches Recht ist. Für die Rechtsprechung des BSG könnte nur vorgebracht
werden, dass Bedürfnisse nach Bildung und Arbeit spezielleren Leistungsträgern
zugeordnet seien32 und daher ohne Nachteil für die Betroffenen aus der
krankenversicherungsrechtlichen Leistungspflicht herausgehalten werden könnten.
Eine solche Sichtweise weicht jedoch der Aufgabe aus, einen zeitgemäßen Begriff
der Grundbedürfnisse zu bestimmen. Sie verweist zudem für den Bereich von Schule
und Studium vor allem auf die Trägerschaft der Sozialhilfe (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 SGB
XII), die jedoch vom Gesetzgeber als nachrangig (§ 2 Abs. 1 SGB XII) konzipiert ist.
Im Ergebnis können Hilfsmittel für den Besuch weiterführender Schulen und
Hochschulen regelmäßig nur bedürftigkeitsabhängig vom Träger der Sozialhilfe
beansprucht werden. Den Trägern der Sozialhilfe fehlt es insoweit oft an
spezialisierter Sachkunde, zumal in Ländern, in denen der örtliche Träger der
Sozialhilfe zuständig ist.
d) Arbeit und Beruf als Grundbedürfnis?
Auch die Teilhabe am Arbeitsleben wird nicht als Grundbedürfnis im Sinne des
Hilfsmittelrechts angesehen33. Dies könnte zwar durch die Aufteilung der
Leistungsgruppen und Zuständigkeiten zwischen medizinischer Rehabilitation und
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gestützt werden. Doch ist zu beachten,
dass die Erwerbsfähigkeit Ziel beider Leistungsgruppen ist und nur die konkrete
Teilhabe am Arbeitsleben allein den Leistungen der beruflichen Rehabilitation
zugewiesen ist. Der für die Rentenversicherung zuständige dreizehnte Senat des
BSG hat daraus in einer Entscheidung zum Anspruch auf ein digitales Hörgerät
geschlossen, dass ein beruflich begründeter Bedarf der Einordnung eines Hilfsmittels
als Leistung der medizinischen Rehabilitation nicht entgegensteht und damit die
zuvor vertretene generelle Einordnung beruflich erforderlicher Hörgeräte als
31
Johannes Reimann, Anmerkung in: Behindertenrecht 2005, 114 ff; IQPR-Diskussionsforum A Nr.
1/2005.
32
So Holger Blöcher, Juris-PR-SozR 49/2004, Anm. 3.
33
BSG, Urt. v. 8.3.1990, Az. 3 RK 13/89, USK 9056; BSG, Urt. v. 26.07.1994, Az. 11 Rar 115/93,
SozR 3-4100 § 56 Nr. 15.
10
Hilfsmittel zur Teilhabe am Arbeitsleben34 abgelehnt. Der dreizehnte Senat hat,
anknüpfend
an
ältere
Entscheidungen
des
dritten
Senats
zum
Krankenversicherungsrecht35, ausgeführt:
„Zwar besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen nur für solche Hilfsmittel, die
zur Ausübung eines elementaren Grundbedürfnisses erforderlich sind. Hierzu hat das
BSG auch die Ausübung einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit gezählt. (…) diese
Rechtsprechung gilt weiterhin. Sie war damit begründet worden, dass es zu den
elementaren Grundbedürfnissen des Menschen zählt, eine berufliche oder andere
gleichwertige Tätigkeit auszuüben.“36
2. Festbeträge
Als bedeutsames Rechtsproblem erweisen sich die Festbeträge für Hilfsmittel, die
nach § 36 SGB V vom GKV-Spitzenverband festgesetzt werden und mit denen nach
dem Konzept des Gesetzgebers die Leistungspflicht der Krankenkassen erfüllt sein
soll (§ 12 Abs. 2 SGB V). Mit der Einführung dieses Instruments stellte sich die
Frage, ob durch die Festsetzung nicht bedarfsdeckender Festbeträge den
Krankenkassen ein Mittel gegeben sein könnte, den Leistungsanspruch der
Versicherten zu schmälern. Dies wäre eine problematische Relativierung des
Gesetzesvorbehalts im Sozialrecht (§ 31 SGB I), der auch verfassungsrechtlich
begründet ist, und der Leistungsansprüche der Versicherten. Entsprechend wird die
Befugnis
zur
Setzung
von
Leistungserbringungsrechts
Festbeträgen
interpretiert,
vor
mit
allem
dem
die
als
ein
Kassen
Mittel
des
angesichts
problematischer Marktstrukturen bei Arzneimitteln und Hilfsmitteln überhöhten
Preisen entgegenwirken können. Der Spitzenverband ist aber nicht ermächtigt, durch
zu niedrige Festbeträge den Versicherten eine Eigenfinanzierung bedarfsgerechter
Versorgung
aufzuerlegen.
Dies
wird
auch
daran
deutlich,
dass
die
Zuzahlungsregelungen (bei Hilfsmitteln: § 33 Abs. 8 SGB V) in Kraft geblieben sind
und die gesetzgeberische Einschätzung ausdrücken, welcher Eigenbeitrag den
versicherten zugemutet werden soll.
34
LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 15.12.2005, Az. L 10 R 480/05, Behindertenrecht 2006, 201;
LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 08.03.2007, Az. L 10 R 247/05.
35
BSG, Urt. v. 12.10.1988, Az. 3 RK 29/87, SozR 2200 § 182n Nr. 36; Behindertenrecht 1989, 622.
36
BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr.
7/2009.
11
Das BVerfG hat diese Interpretation gestützt und in seiner Entscheidung zu den
Festbeträgen 2002 ausgeführt:
„Sollte sich ergeben, dass Versicherte, die Hilfsmittel benötigen, diese (…) nicht
mehr als Sachleistung ohne Eigenbeteiligung beziehen könne, wären die Verbände
ihren Aufgaben nach den §§ 35, 36 SGB V nicht gesetzeskonform nachgekommen.
Unter diesem Aspekt gewinnt die gerichtliche Kontrolle der Festbetragsfestsetzung
besondere Bedeutung. (…) Sie verhindert, dass der Festbetrag so niedrig festgesetzt
wird, dass eine ausreichende Versorgung der Versicherten nicht mehr gewährleistet
ist.“37
Umstritten ist jedoch, wie diese gerichtliche Kontrolle stattfinden soll. Der dreizehnte
Senat des BSG hat in seiner Entscheidung über den Anspruch auf ein digitales
Hörgerät auf Grund der Regelung in § 14 SGB IX auch Fragen des
krankenversicherungsrechtlichen Leistungsanspruchs geprüft und ausgeführt:
„Dies ist grundsätzlich verfassungsgemäß, gilt jedoch in dieser Form nur, wenn eine
sachgerechte Versorgung des Versicherten zu den festgesetzten Festbeträgen nicht
möglich
ist.
Der
für
ein
Hilfsmittel
festgesetzte
Festbetrag
begrenzt
die
Leistungspflicht der Krankenkasse nämlich dann nicht, wenn er für den Ausgleich der
konkret vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht.“38
Mit dieser Entscheidung folgt das BSG zwar dem Hinweis des BVerfG, dass
Festbeträge rechtswidrig sein können, bezieht ihn jedoch auf die konkrete
Leistungspflicht im Einzelfall. Damit wäre jeder einzelne Versicherte darauf
verwiesen, für seinen Einzelfall zu belegen, dass mit dem Festbetrag eine
bedarfsgerechte Versorgung nicht möglich ist. Diese Lösung befriedigt nicht, weil sie
aufwändige Rechtsstreitigkeiten voraussetzt und provoziert und dem GKVSpitzenverband die Möglichkeit belässt, Festbeträge festzusetzen, die in vielen
Einzelfällen eine bedarfsgerechte Versorgung nicht ermöglichen.
37
BVerfG, Urt. v. 17.12.2002, Az. 1 BvL 28/95, 29/95, 30/95, BVerfGE 106, 275; NZS 2003, 144; SGb
2003, 458.
38
BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R, dazu: Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr.
7/2009; ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 15.06.2005, Az. L 4 Kr 147/03, NZS 2006, 204.
12
Daher wird von verschiedenen Sozialgerichten und Landessozialgerichten die
Auffassung vertreten, dass Festbeträge grundsätzlich wirksam und ausnahmslos
anzuwenden sind, solange nicht ihre generelle Rechtswidrigkeit festgestellt ist, in
diesem Fall dann aber ausnahmslos unwirksam sind39. Dieses Verständnis erscheint
vorzugswürdig und eher geeignet, Rechtssicherheit und einen rechtmäßigen
Leistungsumfang für alle Versicherten zu gewährleisten.
Problematisch ist allerdings, dass das Verfahrensrecht trotz § 35 Abs. 7 SGB V auf
eine
effektive
Rechtsschutzmöglichkeit
gegen
die
vom
BVerfG
als
Allgemeinverfügungen qualifizierten Festbeträge nicht eingerichtet ist40. Betroffenheit
und Rechtsschutzfristen fallen oft nicht zusammen. Dies gilt insbesondere für den
Fall, dass Festbeträge durch Nicht-Anpassung bei Preissteigerung rechtswidrig
werden. In dieser Konstellation bleibt nur die inzidente Überprüfung im Leistungsfall.
Es wäre hilfreich, wenn der Gesetzgeber für die – auch laufende - Überprüfung von
Festbeträgen ein geeignetes Verfahren zur Verfügung stellen würde, das z.B. den in
der Patientenbeteiligungsverordnung genannten Verbänden der chronisch kranken
und behinderten Menschen über ihr Anhörungsrecht bei der Festbetragsfestsetzung
(§ 140f Abs. 4 SGB V) hinaus eröffnet werden könnte.
Konkret sind die Festbeträge für Hörgeräte besonders umstritten, weil die einem
fortschrittlichen Stand der Technik entsprechenden digitalen Hörgeräte mit dem
festgesetzten Festbetrag in Deutschland nicht zu beschaffen sind. Das BSG hatte in
der genannten Entscheidung nach den Verhältnissen des Einzelfalls einen Anspruch
auf
ein
digitales
Hörgerät
bejaht,
da
die
verbesserte
Hörfähigkeit
zur
Erwerbsfähigkeit und Arbeitssicherheit betrug. Das LSG Baden-Württemberg hat die
geltenden Festbeträge als generell rechtmäßig41, das SG Neubrandenburg als
generell rechtswidrig
eingestuft42.
Das
SG
Neubrandenburg begründet
die
Rechtswidrigkeit ausführlich und sorgfältig. Es sieht den Gebrauchsvorteil digitaler
Hörgeräte im Bereich von Sprachverstehen und Richtungsgehör und der Vermeidung
von Klangverzerrungen und Rückkopplungen als wesentlich an und schließt aus
39
LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 08.03.2005, Az. L 11 Kr 1913/04; LSG Baden-Württemberg, Urt. v.
24.09.2008, Az. L 5 Kr 1539/07 (anhängig beim BSG, Az. B 3 Kr 20/08 R); LSG Bayern, Urt. v.
21.08.2008, Az. L 4 Kr 265/06; SG Neubrandenburg, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 RA 114/03.
40
Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 4 zu § 36.
41
LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 24.09.2008, Az. L 5 Kr 1539/07.
42
SG Neubrandenburg, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 RA 114/03, Urt. v. 10.06.2008, Az. S 4 Kr 39/04.
13
vorliegenden Studien des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und des IKKBundesverbandes, dass in weit über 80% der Versorgungsfälle erhebliche
Eigenbeteiligungen der Versicherten geleistet werden und die Festbeträge daher
nicht mehr bedarfsgerecht sind. Das Gericht weist darauf hin, dass die nach §§ 36
Abs. 3, 35 Abs. 5 Satz 3 SGB V gebotene jährliche Überprüfung der
Bedarfsgerechtigkeit des Festbeträge nicht erfolgt.
3. Ärztliche Verordnung
Als Problem erscheint auch die rechtliche Bedeutung der in der Hilfsmittel-Richtlinie
des Gemeinsamen Bundesausschusses genannten ärztlichen Verordnung eines
Hilfsmittels. Das SGB IX setzt voraus, dass die Leistungsentscheidung für
Leistungen zur Teilhabe vom jeweiligen Rehabilitationsträger nach einer eigenen
Bedarfsfeststellung getroffen wird (§§ 14 Abs. 2 Satz 1 und 2, 10 Abs. 1 SGB IX).
Jedenfalls
für
die
Sozialversicherungsträger
Krankenversicherung
und
Rentenversicherung wird diese Entscheidung durch einen Antrag der versicherten
Person ausgelöst (§ 19 Satz 1 SGB IV).
Bei Leistungen der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenkassen wird dieses
Grundmuster zumeist durchbrochen: Die den Versicherten zustehenden Leistungen
werden von Vertragsärzten konkretisiert und erbracht oder verordnet – z.B.
Arzneimittel - , ohne dass es eines Antrags oder einer Verwaltungsentscheidung der
Krankenkasse bedürfte. Die Vertragsärzte sind dabei an die Regelungen der
Gesamtverträge und die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses
gebunden. In der Krankenkassenpraxis wird diese Rechtslage oft auf Hilfsmittel zum
Behinderungsausgleich übertragen. Der G-BA ist nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB
V ermächtigt, Richtlinien über die Verordnung von Hilfsmitteln zu beschließen. In
diesen Richtlinien selbst ist erwähnt, dass die Krankenkasse in geeigneten Fällen vor
Bewilligung durch den MDK prüfen lassen kann, ob das Hilfsmittel erforderlich ist (§ 5
Abs. 3 Hilfsmittel-RL); in § 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie wird ausdrücklich ein
Leistungsantrag erwähnt. Bereits diese Formulierungen deuten darauf hin, dass die
Konkretisierung
des
Leistungsanspruchs
auf
ein
Hilfsmittel
zum
Behinderungsausgleich nicht beim Vertragsarzt, sondern bei der Krankenkasse liegt.
Dies hat das BSG in mehreren Entscheidungen bestätigt:
14
„Die vertragsärztliche Verordnung eines bestimmten Hilfsmittels stellt sich rechtlich
als ärztliche Empfehlung dar, bindet die Krankenkasse aber im Verhältnis zum
Versicherten nicht.“43
Dies gilt sowohl zu Gunsten wie zu Lasten der versicherten Personen44. Der
Vertragsarzt kann den Leistungsanspruch nicht konkretisieren, da er für den
Teilhabeaspekt des Behinderungsausgleichs kein Experte ist. Seine Verordnung ist
eine
fachkundige
Empfehlung,
der
insbesondere
für
die
Erkenntnis
der
Funktionsstörung Indizwirkung zukommt. Die Krankenkasse muss für die Fragen des
Behinderungsausgleichs ggf. im Rahmen der Amtsermittlung andere fachkundige
Sachverständige heranziehen. Mit der Verordnung kommen Vertragsärzte zum Teil
der in § 61 SGB IX normierten Beratungspflicht nach und unterstützen die
Krankenkasse bei ihrer Prüfpflicht für einen Leistungsbedarf nach § 8 Abs. 1 SGB IX.
Es wäre zweckmäßig, wenn der G-BA in der Hilfsmittel-RL deutlicher zwischen dem
Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich und dem Hilfsmittel im Rahmen der
Krankenbehandlung differenzieren würde. Beide Leistungsansprüche sind in § 33
Abs. 1 Satz 1 SGB V genannt. Während beim Hilfsmittel im Rahmen der
Krankenbehandlung ein echtes Verordnungsrecht des Vertragsarztes besteht, ist
dies beim Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich – wie dargestellt – nicht der Fall.
4. Hilfsmittelverzeichnis
Nach § 139 SGB V erstellt der GKV-Spitzenverband ein systematisch strukturiertes
Hilfsmittelsverzeichnis, in dem die von der Leistungspflicht der Krankenkassen
erfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. In § 6 Abs. 5 der Hilfsmittel-RL wir ausgeführt,
dass das Hilfsmittelverzeichnis insbesondere einer dem Gebot der Wirtschaftlichkeit
entsprechenden Verordnung dient. Hierbei dient es als Orientierungs- und
Auslegungshilfe und bietet einen für Vergleichszwecke geeigneten Überblick. In der
Verwaltungspraxis der Krankenkassen und zum Teil auch in der Literatur45 wird das
Hilfsmittelverzeichnis als abschließend und verbindlich dargestellt. Dies entspricht
jedoch nicht seiner Funktion, die allein einer schnellen Orientierung von
Vertragsärzten
43
und
Krankenkassen
in
typischen
Fällen
dient.
Der
GKV-
BSG, Urt. v. 23.7.2002, Az. B 3 Kr 66/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 45; Sozialrecht und Praxis 2003,
45.
44
Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 8 zu § 33.
45
Becker/ Kingreen, Einleitung zur Textausgabe Gesundheitsrecht, 15. Aufl., 2008, XXIX.
15
Spitzenverband
ist
auch
durch
§
139
SGB
V
nicht
ermächtigt,
den
Leistungsanspruch der Versicherten zu begrenzen46. Dies hat das BSG in ständiger
Rechtsprechung geklärt, wie z.B. in der Entscheidung zum Elektromobil „Shoprider“
ausgeführt wurde:
„Ein Ausschluss der Elektromobile aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ergibt
sich auch nicht aus ihrer Nichtaufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis. Dieses dient
nicht dazu, den Anspruch des Versicherten einzuschränken, sondern nur als
Richtschnur und als unverbindliche Auslegungshilfe für die Gerichte.“47
5. Stationäre Einrichtungen
Ein weiteres Rechtsproblem ist die Abgrenzung der Leistungspflichten zwischen der
Krankenkasse und stationären Einrichtungen, in denen Versicherte leben. Nach
Auffassung der Krankenkassen und Gerichte kann die Leistungspflicht von Pflegeund Behinderteneinrichtungen auch umfassen, den Bewohnerinnen und Bewohnern
Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Der unmittelbare Leistungsanspruch der
Versicherten soll dann mangels Bedarf entfallen. Dagegen kann jedoch vorgebracht
werden, dass das Ziel von Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe nicht
erreicht wird, wenn Versicherte in Heimen keine Hilfsmittel zur eigenen Verfügung
haben und dass den Versicherten kaum effektiver Rechtsschutz gegen ihren
Heimträger zur Verfügung steht. In der Rechtsprechung wurde diese Streitfrage
zugleich als Abgrenzung zwischen den Sphären der Pflege und der Rehabilitation
ausgetragen. Der Versuch des dritten Senats des BSG, hierbei zu tauglichen
Abgrenzungskriterien zu gelangen, zeigte, dass diese Abgrenzung Teil des
eigentlichen Problems ist. Während ein Toilettenrollstuhl für einen Bewohner eine
Pflegeheims wegen der größeren Selbstbestimmung geleistet werden sollte48, führte
das Gericht in einem Streit über einen Lagerungsrollstuhl aus:
„Entscheidend ist vielmehr, dass der Klägerin eine verantwortungsbewusste
Entscheidung über das eigene Schicksal nicht mehr möglich ist, sie also wegen des
Fehlens eigenbestimmter Bestimmungsmöglichkeiten quasi zum ‚Objekt der Pflege’
46
Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 32 zu § 33.
BSG, Urt. v. 03.11.1999, Az. B 3 Kr 16/99 R; auch für das Hilfsmittel zur Krankenbehandlung, BSG,
Urt. v. 03.08.2006, Az. B 3 Kr 25/05 R, SozR 4-2500 § 33 Nr 13; Sozialrecht und Praxis 2006, 782.
48
BSG, Urt. v. 28.5.2003, Az. B 3 Kr 30/02 R, FEVS 54, 499.
47
16
geworden ist. (…) Eine Rehabilitation ist dann mangels Erfolgsaussichten nicht mehr
möglich, der Ist-Zustand der Behinderung nicht mehr behebbar.“49
Diese Ausführungen sind auf erhebliche berechtigte Kritik gestoßen50 und zeigen,
dass die Differenzierung zwischen Rehabilitation und Pflege vom Gesetzgeber neu
zu konzipieren und zu überwinden ist. In der Rechtsanwendung und Rechtsprechung
wurden sie zum Teil auch auf Einrichtungen der Behindertenhilfe angewandt51.
Im
Gesetzgebungsverfahren
zum
GKV-WSG
wurde
eine
gesetzgeberische
Klarstellung versucht, die jedoch ihrerseits terminologisch zweifelhaft ist und die
Streitfragen nicht abschließend klären kann:
„Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei
stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der
Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur
Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb
jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt.“ (§ 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V)
Geklärt erscheint jedenfalls, dass in allen Fällen, in denen die Bewohnerinnen und
Bewohner von Heimen Hilfsmittel zu individuellen Zwecken innerhalb wie außerhalb
der Heimsphäre benutzen, der Leistungsanspruch nicht durch eine Vorhaltepflicht
geschmälert wird52. Richtigerweise wird man die Vorhaltepflicht der Heime auf
Pflegehilfsmittel im Sinne des SGB XI und ggf. Hilfsmittel zur Krankenbehandlung im
Sinne
des
SGB
V
beschränken
müssen,
während
Hilfsmittel
zum
Behinderungsausgleich stets vom ersten Teil des Satzes in § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB
V erfasst sein müssten.
6. Leistungserbringungsrecht
Traditionell sind die Leistungserbringer von Hilfsmitteln Vertragspartner der
Krankenkassen,
49
wobei
diese
mit
allen
geeigneten
Leistungserbringern
zu
BSG, Urt. v. 22.07.2004, Az. B 3 Kr 5/03 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 5, FEVS 56, 1; NZS 2005, 533.
Norbert Schumacher, RdLH 2004, 172; Robert Roßbruch, Pflegerecht 2005, 42.
51
SG Leipzig, Urt. v. 04.07.2006, Az. S 8 Kr 208/05.
52
BSG, Urt. v. 06.06.2002, Az. B 3 Kr 67/01 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 43; BSGE 89, 271; in
Weiterentwicklung von BSG, Urt. v. 10.02.2000, Az. B 3 Kr 26/99 R, BSGE 85, 287.
50
17
kontrahieren haben53. Trotz der Festbeträge hat der Gesetzgeber die Möglichkeit
einer
wirtschaftlicheren
Erbringung
von
Hilfsmitteln
nicht
als
ausgeschöpft
angesehen und mit dem GKV-WSG in § 127 Abs. 1 SGB V festgeschrieben, dass die
Krankenkassen die Verträge ausschreiben sollten, wenn dies zur Gewährleistung
einer wirtschaftlichen und in der Qualität gesicherten Versorgung zweckmäßig ist.
Nach kontroversen Diskussionen hierüber ist diese Regelung durch das GKVOrgWG zum 1.1.2009 dahin geändert worden, dass die Krankenkassen die Verträge
nicht mehr ausschreiben sollen, sondern können54. Unverändert geblieben ist die
Festlegung, dass Ausschreibungen nicht zweckmäßig sind, wenn Hilfsmittel für einen
bestimmten Versicherten individuell angefertigt werden oder wenn die Versorgung
einen hohen Dienstleistungsanteil hat (§ 127 Abs. 1 Satz 4 SGB V). In diesem Fall
bleibt es bei der bisherigen Form der Regelversorgung.
Fraglich bleibt, ob durch Ausschreibungen das Wunsch- und Wahlrecht der
Versicherten eingeschränkt werden darf. Eine solche Folge ist immer dann zu
befürchten, wenn die Krankenkasse sich durch die Ausschreibung nicht zwischen
völlig standardisierten, sondern zwischen unterschiedlichen Hilfsmitteln entscheidet.
Auch in diesem Fall wäre es möglich, dass – wie beim Fehlen eines
Leistungserbringungsvertrages
–
das
Wunsch-
und
Wahlrecht
der
leistungserbringungsrechtlichen Regelung vorgeht, wenn der Versicherte das
Hilfsmittel beim durch die Ausschreibung bestimmten Leistungserbringer nicht zu
gleichen Bedingungen beziehen kann55 und daher ein berechtigtes Interesse hat, das
Hilfsmittel nicht beim Ausschreibungsgewinner zu erhalten56.
Es besteht gleichwohl faktisch die Gefahr, dass trotz des gesetzlichen Bekenntnisses
zu
Wirtschaftlichkeit
nutzergesteuerter
und
Qualität
die
Qualitätswettbewerb
Zahl
der
Anbieter
eingeschränkt
sinkt
wird.
und
ein
Die
Selbstverwaltungsorgane der Krankenkassen sollten daher genau darauf achten, in
welchen Fällen sie das Mittel der Ausschreibung nutzen wollen und in welchen Fällen
53
Vgl. Markus Plantholz, Sozialrecht aktuell 2009, 7, 12.
Vgl. Markus Plantholz, Ausschreibungen von Hilfsmitteln nach § 127 Abs. 1 Satz 1 SGB V
insbesondere für die Versorgung in stationären Einrichtungen, Sozialrecht aktuell 2009, 7 ff.
55
Dazu BSG, Urt. v. 23.01.2003, Az. B 3 Kr 7/02 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 1; BSGE 80, 220; SGb
2003, 688.
56
Vgl. Butzer in: Becker/ Kingreen, SGB V, Rz 11 zu § 33.
54
18
eine plural organisierte Versorgung Wirtschaftlichkeit und Qualität besser erreichen
und fördern kann.
IV. Ausblick
Die vorgestellte Auswahl von Rechtsproblemen zeigt, dass das Hilfsmittelrecht
insbesondere der Krankenkassen von zahlreichen Konflikten geprägt und vom
Gesetzgeber nicht immer hinreichend klar strukturiert worden ist. Aus Sicht der
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen sollte geprüft werden, ob die
Zuständigkeiten
vereinfacht
werden
könnten,
etwa
indem
Hilfsmittel
einer
Leistungsgruppe nur einem Träger zugeordnet werden. Gegenwärtig besteht nicht
einmal eine Vorrangregelung zwischen Kranken- und Rentenversicherung, weil § 40
Abs. 4 SGB V nur für Rehabilitation in Einrichtungen gilt. Angesichts der
Rechtsprechung des BSG, die meint, der Leistungsumfang beider Träger der
medizinischen Rehabilitation könne divergieren57, ist den meisten erwerbstätigen
Leistungsberechtigten zur Antragstellung bei der Rentenversicherung zu raten.
Die rehabilitative Hilfsmittelversorgung sollte stärker mit anderen Leistungen der
Rehabilitation und Teilhabe vernetzt werden, wie dies nach der Norm zur
Teilhabeplanung (§ 10 Abs. 1 SGB IX) bereits vorgesehen ist. Eine Vernetzung mit
Pflege und Akutbehandlung ist ebenfalls erforderlich, setzt jedoch zunächst voraus,
dass
die
Leistungsansprüche
angemessen
abgegrenzt
werden,
damit
die
Koordination nicht durch Zuständigkeitsstreit belastet wird58. Erforderlich ist auch,
den Schutz der privaten Krankenversicherung an denjenigen der gesetzlichen
Krankenversicherung anzugleichen59.
Um das Hilfsmittelrecht zum Behinderungsausgleich angemessen in das Recht der
Rehabilitation und Teilhabe zu integrieren, sind der moderne Behinderungsbegriff mit
seiner Teilhabeorientierung, der soziale und technische Fortschritt angemessen im
Leistungsrecht zu rezipieren. Eine Hilfsmittelversorgung auf dem Niveau eines
Basisausgleichs verfehlt Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe, belastet
vor allem sozial schlechter gestellte Versicherte und verursacht Mehrkosten in
57
BSG, Urt. v. 21.08.2008, Az. B 13 R 33/07 R; dazu Felix Welti, IQPR-Diskussionsforum A Nr.
7/2009.
58
Vgl. nur BSG, Urt. v. 15.11.2007, Az. B 3 A 1/07 R, SozR 4-2500 § 33 Nr. 16 zur Abgrenzung von
Hilfsmitteln der Krankenkassen und der Pflegekassen.
59
Vgl. nur BSG, Urt. v. 10.11.2005, Az. B 3 P 10/04 R, SozR 4-3300 § 40 Nr. 2; SGb 2006, 488.
19
anderen Leistungsbereichen. Individuelle Leistungsansprüche müssen Vorrang vor
Instrumenten
des
Leistungserbringungsrechts
wie
Festbeträgen,
dem
Hilfsmittelverzeichnis und Ausschreibungen haben. Das Leistungserbringungsrecht
ist auf einen Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit auszurichten.
Dazu kommt, dass der technische Fortschritt bei unterstützenden Technologien nicht
– wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens – als Kostentreiber zu fürchten
ist. Vielmehr können erhebliche Einsparungen erreicht werden, wenn behinderte
Menschen unabhängiger von Medizin und Pflege werden und besser an Gesellschaft
und Arbeitsleben teilhaben können. Nicht zuletzt deshalb zählt es nach Art. 4 Abs. 1
lit. g der Behindertenrechtskonvention zu den Pflichten der Vertragsstaaten
„Forschung und Entwicklung für neue Technologien, die für Menschen mit
Behinderungen
geeignet
Kommunikationstechnologien,
sind,
einschließlich
Mobilitätshilfen,
Geräten
Informationsund
und
unterstützenden
Technologien, zu betreiben oder zu fördern sowie ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu
fördern und dabei Technologien zu erschwinglichen Kosten den Vorrang zu geben.“
Gemessen an dem umfassenden Verständnis der Behindertenrechtskonvention ist
auch zu prüfen, ob die Abgrenzung zwischen Hilfsmitteln als körperlichen
Gegenständen und Dienstleistungen60 im Leistungsrecht noch zeitgemäß ist und
dem Stand der Technik und Erkenntnisse entspricht. Oft führt eine Kombination aus
Technik und Dienstleistungen zu bestmöglicher Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit.
Will
man
nicht
–
wie
bei
den
Gebärdensprachdolmetschern
–
die
Dienstleistungsanteile wirksamer Unterstützung umständlich einzeln im Gesetz
aufzählen, ist auch insoweit eine Reform zu erwägen.
Eine strukturierte Neukodifikation des Hilfsmittelrechts bei begrenzter Sachreform
wäre angezeigt. Barrierefreiheit beginnt hier mit einem einfacheren Recht.
60
Vgl. BSG, Urt. v. 28.6.2001, Az. B 3 Kr 3/00 R, SGb 2002, 401; BSG, Urt. v. 30.1.2001, Az. B 3 Kr
6/00 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 39; NZS 2001, 532.
20
Literatur:
Becker, U/ Kingreen, T: SGB V. München: C.H. Beck, 2008
Fuchs, H: Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der
medizinischen Rehabilitation. Sankt Augustin: Asgard, 2009
Liebold, D: Auswirkungen des SGB IX auf die gesetzliche Krankenversicherung.
Baden-Baden: Nomos, 2007
Lüßenhop, B: Chronische Krankheit im Recht der medizinischen Rehabilitation und
der gesetzlichen Krankenversicherung
21