Rechtsdienst - Bundesvereinigung Lebenshilfe

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Rechtsdienst - Bundesvereinigung Lebenshilfe
Rechtsdienst
der Lebenshilfe
Praxis gestalten – Innovation wagen
Nr. 2/04, Juni 2004
ISSN 0944–5579
Postvertriebsstück: D 13263 F
Zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz in der
Endabstimmung der Ministerien
Anfang Mai 2004 ist ein interministeriell noch nicht abgestimmter
erster Entwurf eines Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung
bekannt geworden. Mit dem Gesetz sollen drei EU-Richtlinien in
deutsches Recht umgesetzt werden, die zum Ziel haben, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft,
des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu beseitigen oder
zu verhindern.
Neu in die Diskussion eingeführt wird mit Artikel 1 des Entwurfs
die Schaffung einer Bundesstelle zum Schutz vor Diskriminierungen. Diese Stelle soll die Aufgabe erhalten, von Diskriminierung
betroffene Menschen hinsichtlich ihrer Ansprüche und des rechtlichen Vorgehens zu beraten. Artikel 2 enthält ein Gesetz zum
Schutz vor Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf. Die
Regelungen entsprechen weitgehend der Vorschrift des § 81 SGB
IX.
In Artikel 3 des Entwurfs wird in das Bürgerliche Gesetzbuch ein
fünfter Untertitel „Unzulässige Benachteiligung“ (§§ 319a bis 319g)
eingefügt. § 319a enthält ein allgemeines Benachteiligungsverbot
aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft oder wegen einer Behinderung. Ein besonderes Benachteiligungsverbot (§ 319
d) wegen einer Behinderung soll für Unternehmer gegenüber Verbrauchern bei der Begründung, Ausgestaltung, Durchführung und
Beendigung von rechtsgeschäftlichen und rechtsgeschäftsähnlichen
Schuldverhältnissen gelten, die regelmäßig in einer Vielzahl von
Fällen zu gleichen Bedingungen zustande kommen. Eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Behinderung soll jedoch zulässig sein, wenn sie der Verhütung von Schäden, der Berücksichtigung eines Risikos oder anderen Zwecken vergleichbarer Art dient.
Aus dem Inhalt:
 Rechtlicher Meinungsstreit und bioethische
Debatte - Anmerkungen von Robert Antretter
 Hat die Eingliederungshilfe eine Zukunft?
 Neuordnung gerichtlicher Zuständigkeiten
durch das 7. Sozialgerichts-Änderungsgesetz
 Neue Heilmittel-Richtlinien ab 01. Juli 2004
 Erstattung von Entgelt für Verpflegung bei
Heimbewohnern mit Sondenernährung
 Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates
über die Arbeitszeit bei Freizeitmaßnahmen
Stichwortregister
Das Stichwortregister des Rechtsdienstes der Lebenshilfe 2003 kann ab sofort gegen Einsendung
von 1,44 EURO in Briefmarken bei der Redaktion des Rechtsdienstes angefordert werden oder
ist im Internet unter www.lebenshilfe.de in der
Rubrik „Publikationen/Medien“ - Rechtsdienst Rechtsdienst-Jahresregister 2003 - abrufbar.
Erfahrungsgemäß wird sich dieser erste Entwurf im Laufe der
Diskussion noch verändern.
Vorsichtiger Optimismus sollte jedoch zulässig sein.
Herausgegeben
von der
Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
geistiger Behinderung e. V.
Unter Beteiligung von:
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.
(CBP)
Bundesverband Evangelische
Behindertenhilfe e. V. (BEB)
Verband für Anthroposophische Heilpädagogik
49
Sozialtherapie und Soziale Arbeit e. V.
INHALT
Rechtspolitik
Rechtlicher Meinungsstreit und bioethische Debatte Anmerkungen (auch über den „Stil im Recht“)
von Robert Antretter ....................................................................... 51
Sozialpolitik
Hat die Eingliederungshilfe eine Zukunft?
von Klaus Lachwitz ........................................................................ 52
Die Sozialhilfe steht vor großen Veränderungen
- Teil 2
Rentenversicherung
Änderungen im Rentenrecht ....................................... 77
Betreuungsrecht
Gesetzesänderungen mit Auswirkungen im Betreuungsrecht ......................................................................... 77
Arbeitsrecht
Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates über
die Arbeitszeit bei Freizeitmaßnahmen ..................... 79
von Dr. Sabine Wendt .................................................................... 55
Berichtigung zu dem Verhältnis der Geldleistungen
gem. SGB XII und SGB II zueinander,
RdLh 1/2004, S.8 .......................................................... 59
Kein Wohngeld für Bezieher von unterhaltssichernder Sozialhilfe ................................................................ 60
Neuordnung der gerichtlichen Zuständigkeit für Verfahren nach dem SGB XII und SGB II durch das
7. Sozialgerichts-ÄnderungsG (7. SGGÄndG)
von Dr. Sabine Wendt .................................................................... 60
Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in Kraft .......... 62
Heimgesetz
Erstattung von Entgelt für Verpflegung bei Heimbewohnern mit Sondenernährung
von Prof. Dr. Peter Trenk-Hinterberger ..................................... 81
Zur Abgrenzung eines Heimes vom Betreuten
Wohnen ............................................................................ 83
Grundsicherung
Kindergeldanrechnung auf die Grundsicherung
weiter im Streit ............................................................... 63
Kindergeld
Hilfe zum Lebensunterhalt ist beim Kindergeld anrechenbar ......................................................................... 85
Beim Kindergeld für volljährige behinderte Kinder
ist auf den Kalendermonat abzustellen ..................... 85
Sozialhilfe
Vorleistungspflicht für Leistungen eines Familienentlastenden Dienstes (FED) ..................................... 64
Zum Verhältnis von Entlastungspflege zur Inanspruchnahme eines Familienentlastenden Dienstes nach
BSHG und Leistungen der Pflegeversicherung ....... 65
Neue Regelsatzverordnung: Senkung des Existenzminimums? ..................................................................... 66
Anspruch auf gekürztes Pflegegeld auch bei häuslicher Pflege rund um die Uhr ..................................... 67
Kostenübernahme für die Urlaubspflege durch
Sozialhilfeträger ............................................................. 67
Pflegeversicherung
Richterliche Schätzung des Hilfebedarfs der Pflegeversicherung, Anerkennung von Wegen zur Ergotherapie ........................................................................... 68
Gesetzliche Krankenversicherung
Neue Heilmittel-Richtlinien ab 01. 07. 2004
von Norbert Schumacher ............................................................... 70
Lagerungsrollstuhl als Hilfsmittel der Krankenversicherung ............................................................................ 72
Petö-Therapie ist keine Kassenleistung ..................... 74
Behindertengerechter Umbau eines KFZ ist kein
Hilfsmittel i. S. von § 33 SGB V ................................. 76
50
Steuerrecht
Aufwendungen für Aufzug keine „außergewöhnliche Belastung“ im Sinne des Einkommenssteuergesetzes ........................................................................... 84
Recht und Ethik
Übersicht: Parlamentarisch-politische Beratungen
im Bereich Gentechnik und (Bio-)Medizin ............. 87
Therapeutisches Klonen - verfassungsrechtliche
und verfassungsprozessuale Interventionsmöglichkeiten (des Bundespräsidenten)?
von Margareta Burgard .................................................................. 89
Internationales
Die Vereinten Nationen arbeiten zügig an einer
Konvention für behinderte Menschen ....................... 91
Bücherschau ................................................................. 93
Impressum .................................................................... 95
Dieser Ausgabe liegt eine Beilage für Abonnementwerbung für die Zeitschrift „Praxishandbuch Sozialmanagement“, Bonn, (Postvertriebskennzeichen: G 48794) bei.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
RECHTSPOLITIK
Rechtlicher Meinungsstreit und bioethische Debatte – Anmerkungen (auch über den ”Stil im Recht”)
von Robert Antretter
I. Juristische Diskussionskultur
Juristen, so sagt man, können alles – dazu gehört die
Fähigkeit, alles in Frage zu stellen. Häufig zu vernehmen ist zudem der Hinweis, man könne zu einem Problem zwei Juristen befragen und erhalte (mindestens)
drei Auffassungen. Also: Vagheit, mangelnde Verbindlichkeit als Primär(un)tugenden der Juristen? Diese
Behauptung wäre allzu oberflächlich. Und doch weisen solche Vorurteile auf Fragen hin, deren Betrachtung lohnt. Ist es eine Schwierigkeit der modernen Juristerei, angesichts aktueller Problemlagen klare
Antworten zu geben? Verdeckt die juristische
Diskussionskultur klare Maßstäbe, und erschwert das
”ewige” Debattieren eine klare Orientierung? Diese
schwierigen Fragen, zumal konkretisiert für den rechtlichen Bereich der modernen Ethikdebatte, sind kaum
in einigen Zeilen zu beantworten. Zu erkennen sind
aber die Schwierigkeiten, die sich den Juristen stellen.
In dieses Bild passt, dass die (verfassungs-)rechtlichen
Schranken, die der Laie als ethische Grenzen gegenüber medizinischem Fortschrittsstreben zu erkennen
glaubt, niemals sicher davor sind, von Juristen in ihrer
Verbindlichkeit in Zweifel gezogen zu werden.
Dieser ”Stil im Recht” ist meiner Meinung nach in dem
hier interessierenden Bereich der juristisch geführten
Biomedizindebatte in einem besonderen Zusammenhang zu sehen. Einige Gründe: Aus dem breiten Spektrum der Fachdisziplinen ragt die Jurisprudenz in diesem Diskurs als Entscheidungswissenschaft heraus. Die
Gentechnikdebatte ist (zumeist) normativ angelegt. Sie
sucht nach Regeln, nach Grenzen für den gentechnischen Fortschritt und weist diese Aufgabe in letzter Konsequenz dem Recht zu, weil nur dieses
Steuerungsinstrument allgemein anerkannt oder zumindest qua Verfassung anzuerkennen ist (vgl. Verbandsdienst 2/02, S. 27 ff.). Der inhaltliche Streit um die ”richtige” juristische Auslegung und die argumentativen
Grundlagen ihrer Durchführung haben also gerade im
Bereich der Bioethik große Bedeutung. Es lohnt sich
deshalb, den skizzierten ”Stil im Recht” allein schon
wegen seiner Konsequenzen näher zu betrachten. Der
Nichtjurist ist dabei ”im Vorteil”, weil er nicht der Gefahr einer ”Betriebsblindheit” unterliegt und Fragen
stellt, die dem Juristen vielleicht so nicht in den Sinn
kommen. Dieser ”Vorteil” gilt aber nur dann, wenn der
juristisch interessierte Laie seine eigenen Grenzen achtet: Es geht im Folgenden daher nicht um eine kaum
leistbare fachliche Auseinandersetzung mit den Prinzipien juristischer Auslegungs- und Argumentationstechnik. Aufgegriffen wird vielmehr ein Beispiel aus
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
dem Katalog juristischer Beiträge innerhalb der
Biomedizindebatte, nämlich Prof. Matthias Herdegens
Ausführungen zum Menschenwürdeschutz des menschlichen Embryos. Ziel meiner Ausführungen ist eine
Differenzierung, eine Abgrenzung der Felder eines notwendig kontroversen rechtsethischen Diskurses von
solchen ”Positionen”, die meinungsunabhängig außerhalb (auch rechtlich) akzeptabler und tolerabler Kategorien liegen.
II. Diskussion über den Schutz des
menschlichen Embryos
Im Februar 2003 erregte die Neukommentierung der
Menschenwürdevorschrift in dem führenden
Grundgesetzkommentar (”Maunz-Dürig”) Aufsehen.
”Art und Maß des Würdeschutzes” in Art. 1 GG, so die
neue Botschaft von Bearbeiter Matthias Herdegen, seien – ”trotz des kategorischen Würdeanspruchs aller
Menschen” – ”für Differenzierungen durchaus offen,
die den konkreten Umständen Rechnung tragen.”
(Maunz/Dürig-Herdegen, Art. 1, Rdnr. 50). Für Prof.
Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe, ist dieser Schlüsselsatz
das zentrale Indiz für einen Paradigmenwechsel innerhalb des juristischen Standardwerks, da sich die dort
nun vorgenommene Gegenüberstellung (Würdeschutz
geborener Menschen einerseits, pränataler Würdeschutz
andererseits) bewusst von einem traditionellen Diskurs
”verabschiedet”, wobei es Herdegen mit seiner relativierenden Interpretation des Art. 1 GG letztlich ”um
den Freiraum für die Gewährung und den Abbau von
Würdeschutz nach Angemessenheitsvorstellungen”
gehe (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Würde des
Menschen war unantastbar, FAZ vom 3. September
2003, S. 33). Nun sind weder die Ansicht Herdegens
(vgl. Herdegen, Die Menschwürde im Fluß des
bioethischen Diskurses, JZ 2001, S. 774) noch dessen
grundsätzliche Argumentationslinien (vgl. Verbandsdienst, a. a. O., S. 29) wirklich neu. Gleichwohl: Der
Kritik Böckenfördes ist in ihrem Kern zuzustimmen.
Zu Recht weist er auf die Konsequenzen einer folgenorientierten Auslegung des Menschenwürdeschutzes
hin, die sich kurzsichtigen Forderungen nach ”Liberalisierung” und ”Machbarkeit” verschreibt (= Folgenorientierung), ohne die damit drohenden Erosionen der
Verfassungsordnung (etwa für Ewigkeitsgarantie) im
Blick zu haben (vgl. Böckenförde, a. a. O., S. 35).
51
RECHTSPOLITIK/SOZIALPOLITIK
Beispielhaft benannt ist damit auch das mich an dieser
Stelle interessierende Problem: Natürlich bewegt sich
die skizzierte Auseinandersetzung um Artikel 1 GG
trotz aller Heftigkeit auf der Ebene eines klassischen
(rechtswissenschaftlichen) Diskurses. Ich sage dies,
obwohl auch ich Positionen, wie die von Herdegen,
massiv kritisiere und als nicht tragbar ablehne. Ich gehe
noch weiter: Da es hier um wirklich drängende, um
elementar wichtige Problemstellungen geht, halte ich
es auch für legitim, Fragen aufzuwerfen und kontrovers Debatten mit klaren Positionen zuzuspitzen. Bei
dieser Erkenntnis kann man aber nicht stehen bleiben;
denn ”Herdegensche Ansätze” entwickeln – ob bewusst
oder unbewusst – auch außerhalb des unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten natürlich zu akzeptierenden Diskurses weitere Botschaften. Folgendes Problem
schließt sich nämlich an: Die scheinbar voraussetzungslose Art der juristischen Diskussion verschleiert, dass
bereits gewisse Fragestellungen per se ein Präjudiz enthalten. Differenzierungen in Bezug auf den
Menschenwürdeschutz des Embryos (in vitro) formulieren eben nicht nur ein Bemühen um eine wissenschaftlich tragfähige Definition des Schutzbereichs,
sondern stellen auch in Frage, ob eine Rechtsordnung
zu demjenigen steht, über dessen Schutzwürdigkeit
gestritten wird. Anders formuliert: Eine verkürzte Darstellung rechtsethischer Streitpunkte als klassischer
”Meinungsstreit” (geführt wie z. B. die Debatte um die
Frage, ob der Bundespräsident bei neuen Gesetzen ein
Prüfungsrecht hat) berücksichtigt zu wenig die Konsequenzen, die allein schon die Diskussion als solche
hervorruft. Gemeint sind damit die Auswirkungen auf
diejenigen, über die in der Bioethikdebatte (auch immer) gesprochen wird. Es ist also nicht die Existenz
des ”abweichenden Arguments” kritikwürdig, sondern
die Unbedarftheit oder Blindheit einzelner Meinungsäußerungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen. Herdegens Flucht aus diskursethischen Deutungen (vgl.
Maunz/Dürig-Herdegen, Art. 1, Rdnr. 55), genauer:
seine Umdeutungen des Würdeschutzes hin zu einem
flexiblem Instrumentarium, berühren allein schon durch
ihre Formulierungen das gesellschaftliche Bild vom
ungeborenen Menschen und die Einstellung gegenüber
Menschen mit Behinderungen, über deren
Menschenwürdeschutz (im vorgeburtlichen Stadium)
– natürlich rein ”wissenschaftlich” – ”diskutiert” wird.
Dieser Tatsache muss sich bewusst werden, wer an der
Debatte teilnimmt. Gefordert ist – unabhängig von der
eingenommenen Position – eine Sensibilität und ein
Verantwortungsbewusstsein. Das heißt auch: Wer einer relativierenden Definition des Menschenwürdeschutzes das Wort redet, der muss sich jenseits des Kriteriums wissenschaftlicher Konsistenz den ethischen
Auswirkungen seiner Position stellen. Hier hat die juristische Argumentationstechnik meines Erachtens
Nachholbedarf.
III. Abgrenzung: Keine latente Diskussion
über den ”Lebenswert” menschlichen
Lebens!
Ich fasse zusammen und formuliere ein Ergebnis: Ausdrücklich anzuerkennen ist die zentrale Bedeutung
kontroverser Diskussionen im juristisch-wissenschaftlichen Bereich. Zu berücksichtigen bleibt aber auch:
Bei allen Unterschieden innerhalb ethisch-rechtlicher
Positionsbestimmungen existiert eine ausnahmslos
gültige Wertentscheidung unserer Rechts- und Verfassungsordnung, die Zurückhaltung verlangt. Diese Grenze dessen, was erlaubt ist, das Unverfügbare definiert
Art. 1 GG. Deshalb liegen relativierende Überlegungen über die Existenzberechtigung menschlichen Lebens außerhalb des Wertesystems unseres Grundgesetzes und damit auch außerhalb dessen, was diskursfähig
sein kann. Diese Grenze ist zu achten, und bei Diskussionen über die Grenzbestimmung muss deshalb sensibel und mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung
dieser Wertentscheidung vorgegangen werden. Für den
juristisch-wissenschaftlichen Diskurs muss somit unabhängig von inhaltlichen Positionen gelten: Eine (latente) Diskussion über den ”Lebenswert” menschlichen
Lebens darf es nicht geben.
Hat die Eingliederungshilfe eine Zukunft?
CDU/CSU-regierte Bundesländer wollen im Herbst 2004 ein eigenes Leistungsgesetz
für behinderte Menschen vorstellen
von Klaus Lachwitz
Noch ist das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts
(SGB XII) nicht in Kraft getreten. Noch steht in den
Sternen, ob es bis zum 01. Januar 2005 gelingt, die im
vergangenen Jahr im Vermittlungsausschuss beschlossene Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslo52
senhilfe in einem Sozialgesetzbuch-Zweites Buch (SGB
II) rechtzeitig und praxisgerecht umzusetzen. Dennoch
zeichnet sich schon jetzt ein neues Gesetzesvorhaben
ab, das auf eine Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Eingliederungshilfe zielt und derzeit in eiRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK
ner im Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg angesiedelten Arbeitsgruppe vorbereitet wird. Die
inzwischen bekannt gewordenen Überlegungen der
Arbeitsgruppe lassen erkennen, dass weniger die Inhalte der Eingliederungshilfe als die Finanzierungsprobleme die Kommunen im Blickpunkt der Reformüberlegungen stehen.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Zahl der
Leistungsbezieher von Eingliederungshilfe zwischen
1995 und 2002 von 405.146 Personen auf 578.320 Personen gestiegen ist. Dem steht ein Kostenanstieg von
1995 bis 2002 von 47 % gegenüber, nämlich von 6,171
Milliarden EURO auf 9,071 Milliarden EURO.
Damit stehe fest, dass seit 2001 bundesweit mehr für
die Eingliederungshilfe aufgewendet wird als für die
Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), die bislang immer
als der klassische Aufgabenbereich der Sozialhilfe galt.
Für die kommenden 10 – 15 Jahre wird mit einer Verdoppelung der Zahl der Leistungsempfänger gerechnet. Bei einer angenommenen Kostensteigerung von
rund 4 % und einer Preissteigerung von 1,5 % pro Jahr
wird ein Anstieg der Aufwendungen der Eingliederungshilfe von derzeit 9,1 Milliarden auf 12,6 Milliarden im
Jahr 2008 prognostiziert. Als Ursachen der progressiven Kostenentwicklung werden u. a. benannt:
- Demografische Gründe: Aufgrund der Euthanasie,
die während der Zeit des Nationalsozialismus bis zu
300.000 behinderten Menschen das Leben gekostet hat,
liegt das Durchschnittsalter der behinderten Leistungsempfänger, die Eingliederungshilfen erhalten, erheblich
unter dem Altersdurchschnitt der Gesamtbevölkerung.
Die Zahl der behinderten Menschen, die im
Erwachsenenalter ambulante, teilstationäre und vollstationäre Eingliederungshilfe benötigen, wächst deshalb in den nächsten Jahren kontinuierlich.
- Die Lebenserwartung behinderter Menschen gleicht
sich der steigenden allgemeinen Lebenserwartung an.
- Aufgrund des medizinischen Fortschritts steigt die
Lebenserwartung und nimmt der Anteil behinderter
Menschen und hier insbesondere der schwer mehrfach
behinderten Menschen zu.
Die Arbeitsgruppe, der insbesondere Vertreter der
CDU/CSU-regierten Bundesländer, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der Deutsche Landkreistag und – bisher allerdings nur als Beobachter – auch SP D-regierte
Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und das BMGS
angehören, befasst sich deshalb vor allem mit der Neuordnung der Finanzierungsgrundlagen. Dazu wird kri-
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
tisch angemerkt, dass die Eingliederungshilfe bisher ausschließlich aus kommunalen Mitteln (z. B. Bayern,
Baden-Württemberg), Landesmitteln (z. B. Berlin) oder
quotal aus Kommunal- und Landesmitteln (z. B. Niedersachsen) finanziert wird, eine direkte Beteiligung des
Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe jedoch
bislang nicht vorgesehen sei. Es müsse deshalb vorrangig an einem Modell gearbeitet werden (Modell I), das
folgende Ziele verfolge:
- Finanzbeteiligung des Bundes,
- Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten in der Eingliederungshilfe und
- Stärkung des Nachrangs.
Ein Leistungsgesetz zur Neuregelung der Eingliederungshilfe in der Ausgestaltung als einkommensund vermögensunabhängiges Leistungssystem wird von
der Arbeitsgruppe derzeit nicht für durchsetzbar gehalten. Aufbauend auf der im Bereich der Fürsorge verhafteten Eingliederungshilfe soll eine aus Bundesmitteln finanzierte Teilhabeleistung unter dem Begriff
”Bundesbehindertengeld” eingeführt werden. Dieser
Geldbetrag soll bedürftigen volljährigen wesentlich behinderten Menschen nach Abschluss der Schulausbildung in Höhe von 600 EURO monatlich zustehen.
In Anlehnung an die Strukturen der Sozialhilfe soll eine
volle Anrechnung des Behindertengeldes erfolgen,
wenn zweckgleiche Leistungen vom Träger der Sozialhilfe erbracht werden. Außerdem sei eine Nachrangigkeit im Verhältnis zu zweckgleichen Leistungen anderer Rehabilitationsträger vorzusehen. Eine Prüfung der
zweckentsprechenden Verwendung des Behindertengeldes soll entfallen. Sofern verfassungsrechtlich möglich, soll die Administration durch die Stadt- und Landkreise erfolgen.
In einem Modell II soll geprüft werden, ob es möglich
ist, die Aufgaben- und Finanzverantwortung für die
gesamten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, also
z. B. auch für die Werkstätten für behinderte Menschen,
auf den Bund zu verlagern. Einzelheiten zu diesem Modell sind bisher nicht bekannt geworden.
Die Arbeitsgruppe hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt,
sich bereits im Juni 2004 für ein Modell zu entscheiden, im Juli 2004 einen konkreten Gesetzentwurf zu
erarbeiten und diesen möglichst noch im Oktober 2004
über den Bundesrat in die politische Diskussion einzubringen.
53
SOZIALPOLITIK
Auch der Deutsche Verein arbeitet an
neuen Finanzierungskonzepten für die
Eingliederungshilfe
Der Vorschlag der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-regierten Bundesländer, die Beteiligung des Bundes an den
Kosten der Eingliederungshilfe über die Gewährung
eines Behindertengeldes aus Bundesmitteln sicherzustellen, ist im Herbst 2003 in einer Arbeitsgruppe des
Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge: ”Finanzierungsfragen der Eingliederungshilfe” erarbeitet worden. Er geht auf die Überlegung zurück,
dass der Bund Menschen, die infolge von Kriegsereignissen behindert sind, die notwendigen Hilfen, die in
ihrer Substanz häufig den Leistungen der Eingliederungshilfe gleichen, über die Versorgungsämter
nach Maßgabe des Bundesversorgungsgesetzes gewährt. Diese aus rechtlicher Sicht als ”Entschädigungsleistungen” qualifizierten Hilfen werden aus Bundesmitteln finanziert.
Da die Zahl der leistungsberechtigten Kriegsopfer kontinuierlich abnimmt, sei es gerechtfertigt, Überlegungen anzustellen, die vom Bund im Bereich des
Entschädigungsrechts eingesparten Mittel zur Entlastung der Eingliederungshilfe einzusetzen.
Die Zahlung eines ohne großen bürokratischen Aufwand festzusetzenden Behindertengeldes an wesentlich behinderte Menschen i. S. d. § 39 BSHG entspreche der Grundidee einer Behindertenrente, die in einer
ganzen Reihe von europäischen Ländern an behinderte Menschen ausgezahlt wird und aufgrund des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
auch behinderten Bürgern aus der früheren DDR zusteht, die im Zeitpunkt des Abschlusses des Einigungsvertrages einen Rechtsanspruch auf Invalidenrente erworben hatten.
Das Behindertengeld sei als Teilhabeleistung zu qualifizieren, weil es – vergleichbar mit dem persönlichen
Budget nach § 17 SGB IX – den behinderten Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung
überlassen werde.
Position der Fachverbände für Menschen
mit geistiger Behinderung
Die an der Herausgabe des Rechtsdienstes der Lebenshilfe beteiligten Fachverbände für Menschen mit geistiger Behinderung haben sich bereits in den 90-iger
Jahren gemeinsam mit anderen Behindertenverbänden
in ”Denkanstößen für ein eigenes Leistungsgesetz” dafür ausgesprochen, die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung aus der Sozialhilfe (Fürsorge)
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herauszulösen und in einem eigenständigen Bundesgesetz zu regeln. Maßgebend dafür war insbesondere
die Überlegung, dass das seit 1994 in Art. 3 Abs. 3 Satz
2 GG verankerte Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen den Gesetzgeber dazu aufruft, einen Beitrag dazu zu leisten, dass behinderte Menschen als vollwertige Bürger am gesellschaftlichen Leben teilnehmen
können.
Gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen lasse sich nur verwirklichen, wenn Nachteile, die auf eine
Behinderung zurückzuführen sind, beseitigt werden.
Ein Leistungsgesetz für behinderte Menschen müsse
deshalb künftig auf den Grundgedanken des Nachteilsausgleichs und der Teilhabe gestützt werden.
In einer gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe veröffentlichten Presseerklärung vom 03. Juni
2003 haben die Fachverbände erklärt, dass der aufgrund
wachsender Fallzahlen bis zum Jahr 2008 zu erwartende erhebliche Kostenanstieg in der Eingliederungshilfe
finanziell nur zu bewältigen ist, wenn die Eingliederungshilfe als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
anerkannt wird. Insofern sei es folgerichtig, auch den
Bund an der Finanzierung der Eingliederungshilfe beteiligen zu wollen. Der Gedanke, ein Behindertengeld
einzuführen, sei eine von mehreren Optionen, die inhaltlich geprüft werden müssen.
Die Fachverbände stehen deshalb den Beratungen in
der Arbeitsgruppe des CDU/CSU-regierten Bundesländer grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber: Die Initiative der CDU/CSU-regierten Länder kann auch einen
Beitrag dazu leisten, die Ursachen der Kostenentwicklung in der Eingliederungshilfe in der Öffentlichkeit
darzustellen. Auf keinen Fall kann ein schleichender
Abbau von Leistungsstandards in der Eingliederungshilfe hingenommen werden, indem in den nächsten
Jahren steigende Fallzahlen in der Eingliederungshilfe
von den Kommunen einfach ignoriert werden und die
Kostenentwicklung ”gedeckelt” wird. Dabei ist auch zu
berücksichtigen, dass die Städte und Gemeinden im
Bereich der Sozialhilfe nicht nur durch die Einführung
der Sozialen Pflegeversicherung erheblich entlastet
worden sind, sondern auch durch die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und die Zahlung eines Arbeitslosengeldes II (ALG II) aus Bundesmitteln vor einer weiteren finanziellen Entlastung im
Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt für Langzeitarbeitslose stehen. Dies wird zwar von den kommunalen Spitzenverbänden vehement bestritten, ist aber
zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Verhandlungen nicht
völlig auszuschließen.
Es geht um behinderte Menschen, ihre Zukunftschancen und um die Verwirklichung der im SozialRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK
gesetzbuch-Neuntes Buch (SGB IX) gesetzten Ziele:
Selbstbestimmung und Teilhabe! Es muss verhindert
werden, dass diese Ziele durch Standardabsenkungen
und Qualitätsabbau unterlaufen werden, wie dies in
einigen Bundesländern bereits praktiziert wird (Beispiel:
Das Standardflexibilisierungsgesetz des Saarlandes,
Landtags-Drs. 12/755 vom 28.10.2002). Stattdessen
muss ein auf den Grundgedanken der Teilhabe und des
Nachteilsausgleichs gestütztes Leistungssystem geschaffen werden, das dem Prinzip folgt, Bewährtes zu erhalten, aber auch Innovation und flexibles Reagieren auf
zukünftige Entwicklungen ermöglicht. Weitgehend unstrittig ist, dass sich die als offenes Leistungssystem kon-
struierte Eingliederungshilfe als eine der anpassungsfähigsten Anspruchsgrundlagen des Sozialrechts erwiesen hat. Dieses ”Gut” gilt es abzusichern. Ob es gelingen kann, die Leistungen der Eingliederungshilfe
zukunftsfest zu gestalten, indem sie in ein Leistungssystem eingebracht werden, das mehr und mehr auf sog.
persönliche Budgets i. S. d. § 17 SGB IX setzt und verstärkt dem Grundsatz ”ambulant vor stationär” Folge
leistet, muss in den nächsten Jahren sorgfältig erprobt
werden. Aus der Sicht von Menschen mit geistiger bzw.
mehrfacher Behinderung sind dazu noch viele Fragen
offen (vgl. RdLh 4/03 S. 149 ff., RdLh 1/04 S. 9 ff.).
Die Sozialhilfe steht vor großen Veränderungen – Teil II
Neuregelung des Übergangs von Unterhaltsansprüchen gegen Eltern behinderter
Kinder im Gesetz zur Reform der Sozialhilfe (SGB XII)
von Dr. Sabine Wendt
Der Übergang von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen in § 91 BSHG
ist ab 01.01.2005 in § 94 SGB XII geregelt.
Während § 94 Abs. 1, 4 und 5 SGB XII die Regelungen
aus § 91 Abs. 1, 3 und 4 BSHG übernimmt, weicht der
Unterhaltsregress gegenüber Eltern behinderter Kinder
in § 94 Abs. 2 von § 91 Abs. 2 BSHG ab. Der Unterhaltsbeitrag wird nicht nur für die Eingliederungshilfe
und die Hilfe zur Pflege auf 26 EURO begrenzt, sondern auch für die Hilfe zum Lebensunterhalt auf 20
EURO (§ 94 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Diese Beträge verändern sich zum gleichen Zeitpunkt um denselben
Vomhundertsatz, um den sich das Kindergeld verändert (§ 94 Abs. 2 S. 3 SGB XII).
Die erst im Zuge der Gesetzgebung des SGB IX umgestaltete Unterhaltsregressregelung in § 91 Abs. 2 BSHG
vom 01.01.2002 war in die Kritik geraten, weil sie zwar
den Unterhaltsbeitrag für die vollstationäre Heimbetreuung mit nur noch monatlich 26 EURO erheblich
absenkte, aber den Unterhaltsanspruch im ambulant
betreuten Wohnen nicht durch einen Festbetrag beschränkte. Dies war als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz angesehen worden1 . Diesem Anliegen hat
der Gesetzgeber jetzt dadurch Rechnung getragen, dass
er die Begrenzung des Unterhalts auf einen Festbetrag
nicht mehr an der Art der Betreuung (vollstationär oder
ambulant) orientiert, sondern an der Eigenschaft der
volljährigen unterhaltsberechtigten Person, die behindert im Sinne von § 53 SGB XII oder pflegebedürftig
im Sinne von § 61 SGB XII sein muss. In der Gesetzesbegründung2 wird ausgeführt, das Hauptziel der Neuregelung sei die damit erreichte Gleichbehandlung bei
ambulanter und stationärer Unterbringung.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Beschränkung des Forderungsübergangs
wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit
Der Begriff der Behinderung in § 53 Abs. 1 SGB XII
entspricht der Regelung in § 39 Abs. 1 BSHG und
knüpft an die Regelung in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX an,
wonach Personen behindert sind, deren körperliche
Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit
mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate
von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher in ihrer Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt sind. Liegt eine wesentliche
Behinderung i. S. d. Verordnung zu § 60 SGB XII vor
oder droht sie, gibt es einen Rechtsanspruch auf eine
Eingliederungsmaßnahme, bei einer leichteren Behinderung wird sie als Ermessensleistung gewährt. Da
§ 94 SGB XII beide Varianten umfasst, wird bereits bei
einer leichten Behinderung (z. B. Lernbehinderung) der
Anspruchsübergang nicht nur für die Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege, sondern auch für die Hilfe
zum Lebensunterhalt beschränkt. Einbezogen sind alle
Inhaber eines Schwerbehindertenausweises, §§ 2 Abs.
2, 69 SGB IX, was den begünstigten Personenkreis gegenüber dem bisher geltenden Recht des § 91 BSHG
erheblich ausweitet. Dieser wird aber häufig die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II erhalten, wenn er mehr als drei Stunden unter Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein
kann, § 8 Abs. 1 SGB II. Liegt hingegen eine dauerhafte Erwerbsminderung vor, hat der Bezug der Grundsicherung nach §§ 41 ff SGB XII Vorrang vor der Gewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt. Der
Forderungsübergang für die Hilfe zum Lebensunterhalt
im Rahmen des Kindesunterhalts für Volljährige setzt
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SOZIALPOLITIK
daher zunächst die Prüfung voraus, ob die unterhaltsberechtigte Person behindert oder pflegebedürftig ist.
Erst nach dieser Feststellung lässt sich die Aussage treffen, ob die Festbetragsregelung nach § 94 Abs. 2 SGB
XII anzuwenden ist, oder der volle Unterhaltsregress
geltend gemacht werden kann.
Wird Unterhalt für eine Eingliederungshilfeleistung
verlangt, erübrigt sich die Prüfung der Behinderteneigenschaft der unterhaltsberechtigten Person, weil diese sich inzidenter aus der Gewährung der Eingliederungshilfe ergibt, die gewährt wird, um einen
behinderungsbedingten Bedarf abzudecken. Das Gleiche gilt für den Forderungsübergang für Pflegeleistungen. Pflegebedürftigkeit i. S. v. § 61 SGB XII ist gegeben, wenn die Person wegen einer körperlichen,
geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung
für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf
Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monaten in erheblichen oder höherem Maße der Hilfe bedarf. In aller Regel wird das Vorliegen eines Schwerbehindertenausweises aber den Nachweis der Pflegebedürftigkeit
überflüssig machen.
Anspruchsübergang für die Eingliederungshilfe
Nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII ist der Unterhaltsregress auf eine Höhe von 26 Euro für alle Leistungen
der Eingliederungshilfe im 6. Kapitel begrenzt.
Bei der Regelung in § 91 Abs. 2 BSHG galt diese Festbetragsbegrenzung nur für die Eingliederungshilfe in
stationären Einrichtungen, für alle anderen Eingliederungsmaßnahmen wurde geprüft, ob eine „unbillige Härte“ vorlag. Dabei wurden nach Empfehlungen
der überörtlichen Sozialhilfeträger für behinderte Kinder von 22 bis 27 Jahren der dreifache Einkommensund Vermögensfreibeitrag nach § 81 BSHG und der
VO zu § 88 BSHG angerechnet, und ab Vollendung
des 27. Lebensjahres der sechsfache Freibetrag.3 Eltern
mit höherem Einkommen und Vermögen waren daher
im vollen Umfang für die ambulante Eingliederungshilfe unterhaltspflichtig. Diese Ausweitung der Festbetragsregelung auf alle Eingliederungshilfemaßnahmen soll den Anreiz beenden, wegen der
günstigeren Unterhaltsregelung eine stationäre statt
einer ambulanten Betreuungsform für das Wohnen zu
wählen. Damit werden jedoch auch die Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft nach §§ 55 Abs.
2 Nr. 7, 58 SGB IX i. V. m. § 54 Abs. 1 S. 1 SGB XII
oder die Inanspruchnahme eines familienentlastenden
Dienstes nach § 65 Abs. 1 SGB XII erheblich verbilligt: gleich, wie hoch das von dem Sozialhilfeträger als
Eingliederungshilfe oder Hilfe zur Pflege bewilligte
Stundenkontingent ist, mehr als 26 EURO müssen un56
terhaltspflichtige Eltern nicht zahlen, deren volljähriges Kind eine solche Leistung in Anspruch nimmt. 4 Es
ist zu befürchten, dass diese Kostensteigerung von den
Sozialhilfeträgern mit einer Kürzung der Leistungszusagen beantwortet werden wird, und vermehrte Rechtsstreitigkeiten um die Bedarfsfeststellung die Folge sind.
Der Unterhaltsübergang für die vollstationäre Eingliederungshilfe unterscheidet sich von der Pauschalierung des Unterhalts in gleicher Höhe nach § 91 Abs.
2 Satz 3 BSHG dadurch, dass der Leistungskatalog der
Eingliederungshilfe in Einrichtungen im SGB XII enger gefasst ist. Die Regelung des § 27 Abs. 3 BSHG,
wonach die Hilfe in besonderen Lebenslagen auch den
in der Einrichtung gewährten Lebensunterhalt umfasst,
wurde nicht in das SGB XII übernommen. Dies hat
zur Folge, dass neben der Pauschale für die Eingliederungshilfe in Höhe von 26 EURO zusätzlich die
Pauschale für den Lebensunterhalt in der Einrichtung
von bis zu 20 EURO monatlich geltend gemacht werden kann, und sich der Unterhaltsbeitrag für vollstationäre Betreuung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand damit fast verdoppelt. In der Gesetzesbegründung5 wird jedoch darauf hingewiesen, dass dieser Betrag weniger als 1/3 des Kindergeldes ausmacht,
das den Kindergeldberechtigten bei vollstationärer Betreuung verbleibt. Da die meisten vollstationär in der
Eingliederungshilfe Betreuten auch leistungsberechtigt
für die Grundsicherung sind, wird für sie wegen der
Verrechnung mit der Hilfe zum Lebensunterhalt in der
Regel kein Unterhaltsbedarf in Höhe von 20 EURO
nachweisbar sein, wie später darzustellen sein wird.
Anspruchsübergang für die Hilfe zur
Pflege
Da Bedarfe aus der Eingliederungshilfe und der Hilfe
zur Pflege nach § 55 SGB XII einheitlicher Bestandteil
der vollstationären Hilfe sind, erübrigt sich eine Aufgliederung in Anteile der Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege für den Bereich des Unterhalts. Für den
vollstationären Bereich spielt es daher auch keine Rolle, dass nach dem gegenwärtigen Wortlaut von § 94
Abs. 2 SGB XII nur Leistungen nach dem 5. und 6.
Kapitel SGB XII berücksichtigt sind, also nicht Leistungen nach dem 7. Kapitel, Hilfe zur Pflege. Es ist
nach Verlautbarungen des für diese Gesetzgebung zuständigen Ministeriums für Gesundheit und Soziale
Sicherung davon auszugehen, dass es sich hierbei um
ein gesetzgeberisches Versehen handelt, das noch vor
Inkrafttreten des SGB XII bereinigt werden soll.6 Dies
ergibt sich daraus, dass in dem Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN7 die in
§ 89 Abs. 2 Satz 1 SGB XII benannten 5. und 6. Kapitel noch die Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege
umfassten. Durch die Einfügung der Grundsicherung
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK
als 4. Kapitel im Rahmen des Vermittlungsverfahrens
hat sich die Nummerierung der Kapitel geändert. Dabei wurde übersehen, dass die Hilfe zur Pflege als 7.
Kapitel nicht mehr in den begrenzten Unterhaltsregress
einbezogen war, sondern statt dessen die Hilfe zur
Gesundheit als 5. Kapitel.
Der Anwendungsbereich des Anspruchsübergangs des
Unterhalts für die Hilfe zur Pflege für volljährige Kinder ist erheblich kleiner als im Rahmen der Eingliederungshilfe. Dies ergibt sich daraus, dass der ambulante Pflegebedarf vorrangig über Leistungen der
Pflegeversicherung abgedeckt wird, und die Betreuung
behinderter Menschen in Pflegeeinrichtungen, für die
ergänzend Sozialhilfe erbracht wird, nach § 55 Satz 2
SGB XII nur ausnahmsweise erfolgen soll, wenn die
Pflege in der Eingliederungshilfeeinrichtung nicht sichergestellt werden kann. Ergänzende Assistenzpflege
durch die Sozialhilfe für Pflegekräfte zu Hause (§ 65
Abs. 1 S. 2 SGB XII) fällt in der Regel nur für volljährige körperbehinderte Menschen an, die selbstständig
leben können und diese Pflegekräfte als Arbeitgeber
beschäftigen. In diesem Fall kann es zu einem Übergang der Unterhaltsforderung kommen. Wird die häusliche Pflege hingegen durch Unterhaltspflichtige in
Natura geleistet, fehlt es insoweit an einem Unterhaltsbedarf8 für das Pflegegeld, einem Aufwendungsersatz der Pflegeperson oder für die Übernahme von Beiträgen für die Alterssicherung, § 65 Abs. 1 S. 1 SGB
XII. Dies gilt jedoch nicht für die Inanspruchnahme
eines familienentlastenden Dienstes (§ 65 Abs. 1 S. 2
SGB XII), weil diese Dienstleistung zusätzlich zu der
Pflegetätigkeit des unterhaltspflichtigen Elternteils erbracht wird.
Anspruchsübergang für die Hilfe zum
Lebensunterhalt
Ein Anspruchsübergang für den Unterhaltsbedarf „Lebensunterhalt in Einrichtungen“ setzt voraus, dass der
Unterhaltsgläubiger einen entsprechenden Bedarf nachweist. Der notwendige Lebensunterhalt in Einrichtungen ist in § 35 SGB XII beschrieben, er umfasst den
darin erbrachten sowie den weiteren notwendigen Lebensunterhalt, insbesondere Kleidung und einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung (§ 35
Abs. 2 SGB XII). Auf diesen Unterhaltsbedarf werden
jedoch die Grundsicherungsleistungen angerechnet.
Diese umfassen bei Leistungen in stationären und teilstationären Einrichtungen nach § 42 Nr. 2 SGB XII
neben dem maßgebenden Regelsatz Unterkunftskosten
in Höhe der durchschnittlichen angemessenen tatsächlichen Aufwendungen für die Warmmiete eines EinPersonen-Haushaltes im Bereich des zuständigen Trägers der Sozialhilfe. Der Sozialhilfeträger als
Unterhaltsgläubiger muss also nachweisen, dass die verRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
einnahmte Grundsicherungsleistung den notwendigen
Lebensunterhalt in der Einrichtung nicht abdeckt. Es
ist davon auszugehen, dass die Sozialhilfeträger nicht
den hohen Verwaltungsaufwand betreiben werden, solche Einzelnachweise für einen offenen Unterhaltsbedarf
zu erbringen. Denn der Bedarf des Lebensunterhalts in
der Einrichtung muss aus der Vergütung ermittelt werden, die die Einrichtung nach § 75 Abs. 3 Nr. 2 SGB
XII erhält, zuzüglich des individuell gewährten Barbetrags und der Bekleidungshilfe. Nach § 76 Abs. 2 SGB
XII bestehen die Vergütungen mindestens aus den Pauschalen für Unterkunft und Verpflegung (Grundpauschale) für die Maßnahme (Maßnahmepauschale)
sowie aus einem Betrag für die betriebsnotwendigen
Anlagen einschl. ihrer Ausstattung (Investitionsbetrag).
Die Höhe der für den Leistungsberechtigten gezahlten
Vergütung ergibt sich aus dem individuellen Kostenanerkenntnis für die vollstationäre Hilfe und dem Heimvertrag, § 4 Abs. 2 HeimG. Heimbewohner können
verlangen, dass dort getrennte Positionen für die Eingliederungshilfe, Unterkunft und Verpflegung ausgewiesen werden, wenn es Streit um den Nachweis des Unterhaltsbedarfs für den Lebensunterhalt gibt.
Unklar ist allerdings, wie der in der Vergütung enthaltene Investitionsbetrag (§ 76 Abs. 2 SGB XII) anteilig
in Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt und der
Eingliederungshilfe aufzugliedern ist. Für den Nachweis eines Unterhaltsbedarfs für die Hilfe zum Lebensunterhalt kann dies jedoch nur dann von Bedeutung
sein, wenn die Differenz zwischen der in Anspruch
genommener Grundsicherungsleistung und der Grundpauschale und damit der ungedeckte Unterhaltsbedarf
höher ist als 20 EURO: Nur in diesen Fällen müsste
dann der Nachweis erbracht werden, dass auch in dem
Investitionsbetrag neben der Unterkunft etwa für eine
Küche oder eine Wäscherei Positionen enthalten sind,
die der Hilfe zum Lebensunterhalt zuzuordnen wären.
Soweit bei vollstationärer Unterbringung Krankenversicherungsbeiträge nach § 13 BSHG von dem Sozialhilfeträger entrichtet wurden, hat die Rechtsprechung9
entschieden, dass diese in vollem Umfang im Rahmen
des Unterhalts zu berücksichtigen seien, weil sie nicht
§ 27 Abs. 3 BSHG und somit der Unterhaltsbegrenzung
in § 91 Abs. 2 BSHG unterfallen, sondern der Hilfe
zum Lebensunterhalt. Werden diese Beiträge in Zukunft
nach § 32 SGB XII von der Sozialhilfe im Rahmen der
Hilfe zum Lebensunterhalt übernommen, kann der bisher geleistete Unterhaltsbeitrag auf 20 EURO abgesenkt werden, wenn die versicherte Person behindert
oder pflegebedürftig ist.
Der Lebensunterhalt unterliegt dem Unterhaltsregress
nur für Leistungen nach dem dritten Kapitel, § 94 Abs.
2 S. 1 SGB XII. Er umfasst nicht die Grundsicherung
aus dem 4. Kapitel des SGB XII, weil dort bereits bei
der Leistungsgewährung besondere Regelungen für den
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SOZIALPOLITIK
Unterhaltsanspruch gelten, die Vorrang haben. In § 43
Abs. 2 SGB XII wurde die Regelung aus dem Grundsicherungsgesetz übernommen, dass Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren
Kindern und Eltern unberücksichtigt bleiben, sofern
deren jährliches Gesamteinkommen i. S. d. § 16 SGB
IV unter einem Betrag von 100.000 EURO liegt. Für
den Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen
kann es also nur um Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für volljährige Kinder gehen, die zwar behindert oder pflegebedürftig sind, aber nicht dauerhaft voll
erwerbsgemindert. Für Werkstattbeschäftigte wurde in
§ 45 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII die Vermutungsregelung
über das Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung ohne Überprüfung durch die Rentenversicherung jetzt gesetzlich normiert, die bisher nur den
Auslegungshinweisen des zust ändigen Fachministeriums zu entnehmen war. Es reicht jetzt die
Abgabe einer Stellungnahme des Fachausschusses aus,
der jetzt bereits vor Aufnahme in die Werkstatt nach
§ 2 Abs. 2 Werkstättenverordnung angehört werden
muss, so dass bereits vor der Kostenzusage Grundsicherungsleistungen bezogen werden können.10 Wer
allerdings mehr als drei Stunden unter Bedingungen
des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann und als
erwerbsfähig gilt, wird Grundsicherung für Arbeitsuchende nach §§ 1 ff SGB II statt der Hilfe zum Lebensunterhalt beanspruchen können. Diese unterliegt dem
vollen Unterhaltsregress, wenn die unterhaltsberechtigte Person mit dem Verpflichteten in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, bei Unterhaltsansprüchen Minderjähriger oder von Hilfebedürftigen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet und die Erstausbildung
noch nicht abgeschlossen haben, § 33 Abs. 2 Nr. 1 SGB
II. Für die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem dritten Buch SGB XII bleibt somit der Personenkreis übrig, der vorübergehend (z. B. wegen Krankheit) nicht
erwerbsfähig sein kann, und bei dem eine dauerhafte
Erwerbsminderung noch nicht festgestellt werden kann
oder der auf eine solche Erwerbsfähigkeit erst durch
Maßnahmen der Rehabilitation vorbereitet werden
muss. Es wird wesentlich auf die Auslegung von § 11
Abs. 4 Nr. 1 SGB XII ankommen, wonach dem Leistungsberechtigten eine Tätigkeit nicht zugemutet werden darf, wenn er wegen Erwerbsminderung, Krankheit, Behinderung oder Pflege hierzu nicht in der Lage
ist. Hinzu kommt der Personenkreis mit Kleinkindern,
§ 11 Abs. 4 Nr. 3 SGB XII.
Diese Rechtslage macht es wahrscheinlich, dass Eltern
nach Möglichkeit versuchen werden, eine Aufnahme
ihres behinderten Kindes in die Werkstatt zu erreichen,
um somit für Leistungen zum Lebensunterhalt nicht
unterhaltspflichtig zu werden, was ihnen nur die Grundsicherung einräumt.
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Ein weiteres ist zu Beachten: Besteht aufgrund einer
vertraglichen Verpflichtung oder eines gerichtlichen
Titels eine Pflicht zur Unterhaltszahlung, gilt dieser
Unterhalt als Einkommen, der nach § 82 SGB XII
bedarfsmindernd auf die Hilfe zum Lebensunterhalt
nach dem dritten Kapitel und die Grundsicherung, und
nach § 11 SGB II auf die Grundsicherung für Erwerbsfähige angerechnet wird. Unterhaltspflichtige werden
daher begünstigt, wenn sie gegenüber einem erwachsenen behinderten Kind Unterhaltszahlungen verweigern, da sie bei einer Leistungsgewährung durch den
Sozialhilfeträger nur die verminderten Beträge aus dem
übergegangenen Unterhaltsanspruch schulden, bei
Grundsicherungsbezug sogar garnichts zahlen müssen.11 Dies gilt zwar nur befristet, weil der Unterhaltsberechtigte im Rahmen der Selbsthilfe (§ 2 SGB XII)
verpflichtet ist, solche Unterhaltsansprüche einzuklagen. Dennoch ist es unbefriedigend, dass dieser „Mangel an bereiten Mitteln“ letztlich denjenigen begünstigt,
der sich rechtswidrig verhält.
Kein Forderungsübergang bei unbilliger
Härte
Nach § 94 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII gehen Ansprüche nach
§ 94 Abs. 1 und 2 nicht über, soweit eine unbillige Härte vorliegt. Für behinderte und pflegebedürftige Kinder
wird dies wohl bei der Begrenzung des Unterhalts auf
Festbeträge von 26 bzw. 20 EURO zumeist nicht in
Frage kommen, da diese Begrenzung selbst einer Konkretisierung dieser unbilligen Härte, die durch den Gesetzgeber vorgegeben ist, angesehen werden kann.
Durch die ausdrückliche Einbeziehung des § 94 Abs. 2
in § 94 Abs. 3 Satz 1 ist aber eine Härtefallprüfung
jedenfalls vom Gesetzeswortlaut nicht ausgeschlossen.
Dennoch wird deutlich, wenn man sich die Ausführungen des BGH zu Härtefällen im Rahmen des Unterhalts für behinderte Kinder in einem Urteil vom
23.07.2003, Az. XII ZR 339/0012 vergegenwärtigt, dass
damit doch eine erhebliche finanzielle Unterhaltslast
gemeint ist, die vermieden werden soll. In dem zu entscheidenden Fall hatte das Sozialamt Unterhaltsansprüche in Höhe von insgesamt 50.021,55 DM geltend
gemacht, wovon bereits 32.000 DM von der unterhaltspflichtigen Mutter erstattet worden waren. Der BGH
kam daher zu dem Ergebnis, dass es als unbillige Härte
anzusehen sei, wenn die Mutter auch für die Zeit nach
dem Eintritt in den Ruhestand in voller Höhe Unterhalt zahlen müsse, so dass der Restbetrag von 18.027
DM wegen Vorliegens einer unbilligen Härte nicht gefordert werden könne.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK
Leistungsfähigkeit der unterhaltspflichtigen Eltern
Nach § 1603 Abs. 2 BGB ist die Gefährdung des angemessenen Eigenunterhalts die Leistungsgrenze, die nach
den Selbstbehalten (Eigenbedarfen) der OLG-Unterhaltstabellen und nicht anhand des Sozialhilfebedarfs
ermittelt werden. § 94 Abs. 3 SGB XII hat in Nr. 1
einen Forderungsübergang ausgeschlossen, wenn die
unterhaltspflichtige Person Leistungsberechtigte nach
dem 3. Kapitel (Hilfe zum Lebensunterhalt) ist oder
bei der Erfüllung des Anspruchs würde. Gegenwärtig
beträgt der angemessene Eigenbedarf (Selbstbehalt)
nach der Düsseldorfer Unterhaltstabelle13 gegenüber
volljährigen Kindern monatlich 1.000 EURO, in denen
eine Warmmiete bis 440 EURO enthalten ist. Im Regelfall liegt der angemessene Eigenbedarf daher über
dem Sozialhilfebedarf, so dass die Leistungsfähigkeit
neben der Regelung des § 94 Abs. 3 SGB XII gesondert zu überprüfen ist. Nach den Unterhaltsempfehlungen des Deutschen Vereins14 haben die Eltern nach
Rnr. 19 b ihre Leistungsunfähigkeit nachzuweisen. Dies
entspricht der Regelung in § 94 Abs. 2 S. 2, wonach
eine widerlegliche Vermutung für den Anspruchsübergang vorgesehen ist. Zu beachten ist, dass nach § 94
Abs. 2 S. 2 SGB XII mehrere Unterhaltspflichtige nicht
mehr anteilig (§ 1606 Abs. 3 BGB), sondern zu gleichen Teilen haften. Durch diese Formulierung ist zugleich klargestellt, dass der Betrag von 26 EURO nicht
von jedem Elternteil, sondern nur einmal von beiden
gefordert werden kann.
1) Zeitler, Die Heranziehung behinderter Menschen und ihrer
Eltern zu den Kosten der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, NDV 2001, 320; Wendt: Ambulant vor stationär: Reformbedarf für die Rechtsgrundlagen ambulanter Dienste der Eingliederungshilfe, ZfSH/SGB IV 2000, S. 195 ff., 197 sowie Wendt:
Neuregelung des Kindesunterhalts für ambulante, teil- und vollstationäre Hilfen durch das SGB IX (§ 91 Abs. 2 BSHG) RsdE
Heft 53 2003 S. 27 ff., 36.
2) BT-Drucksache 15/1514 S. 66 zu § 89
3) Siehe Berechnungsbeispiele bei Wendt, Neuregelung des
Kindesunterhalts für ambulante, teil- und vollstationäre Hilfen
durch das SGB IX (§ 91 Abs. 2 BSHG) RsDE Heft 53 2003,
S. 27 ff., S. 33-35
4) Die damit verbundene Frage, ob die Leistungen von Familienentlastenden Diensten der Pflege oder der Eingliederungshilfe
zuzuordnen sind, verliert damit für den Unterhaltsregress an
Bedeutung, siehe Schleswig-Holsteinisches VG, Urteile vom
11.05.2000, RdLh 3-2000, S. 125
5) BT-Drucksache 15/1514 zu § 89
6) Mitteilung des Parlamentarischen Staatssekretärs F. Thönnes
vom 17.03.2004 an die Lebenshilfe
7) BT-Drucksache 15/1514 vom 05.09.2003
8) Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der
Sozialhilfe NDV 5-2002, S.161 f. Rdnr. 7
9) OLG Stuttgart, Urteil vom 28.11.2000 Az. 18 UF 329/00,
RdLh 2-01, S. 69 f.
10) § 2 WVO wurde durch Art.4 des Gesetzes zur Förderung
der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen
vom 23.4.04 geändert. Da die Stellungnahme des Fachausschusses schon vor dem Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich
eingeholt werden muss, ist damit auch die Frage überholt, ob für
diese Zeit eine Feststellung durch die Rentenversicherung getroffen werden muss, ob von einer dauerhaften Erwerbsminderung ausgegangen werden kann. Die Stellungnahme reicht jetzt
aus, wobei ihr Inhalt ohne Belang ist: auch für eine zeitlich befristete Aufnahme muss Grundsicherung gewährt werden.
11) Schoch, Unterhaltspflicht und Grundsicherung, ZfF 03, S. 1 f.
12) FamRZ 19-2003, S. 1468, RdLh 4/03, S. 178
13) Stand: 01.07.2003, FamRZ 2003, 811
14) NDV 2002, S. 161 ff.
15) Groß in HK SGG, Baden-Baden 2003 § 19 Rn.7
16) Geiger, in Eyermann, VwGO, § 19 Rdnr. 1
Berichtigung zu dem Verhältnis der Geldleistungen gem. SGB XII
und SGB II zueinander, RdLh 1/2004, S. 8
In dem Beitrag von Klaus Lachwitz, „Die Sozialhilfe
steht vor großen Veränderungen!“ RdLh 1/2004 wurde
auf S. 8 ausgeführt, der Ausschluss eines Anspruchs auf
Hilfe zum Lebensunterhalt durch den Bezug von
Grundsicherung für Arbeitssuchende gelte nach § 5 Abs.
2 SGB II nicht für Leistungen nach § 35 Abs. 2 SGB
XII, den in der Einrichtung erbrachten notwendigen
Lebensunterhalt. Rechtsanwalt Conradis (Duisburg)
weist in einer Zuschrift darauf hin, dass insoweit ein
Redaktionsversehen des Gesetzgebers vorliegen müsse, da statt § 35 Abs. 2 SGB XII § 34 SGB XII in § 5
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Abs. 2 SGB II aufgenommen werden müsse. Dies ergebe sich aus § 21 SGB XII, Sonderregelungen für
Leistungsberechtigte nach dem Zweiten Buch, in dem
auf § 34 Bezug genommen werde. Diese Vorschrift entspreche in ihrem Regelungsgehalt § 5 Abs. 2 SGB II.
Das Versehen sei dadurch zu Stande gekommen, dass
in der früheren Gesetzesfassung des SGB XII die Nachfolgeregelung für Hilfe zum Lebensunterhalt in Sonderfällen (ehemals § 15 a BSHG) in § 35 SGB XII geregelt war, und die Verschiebung in § 34 SGB XII nicht
in § 5 Abs. 2 SGB II nachvollzogen wurde.
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SOZIALPOLITIK
Ein weiteres Indiz für das gesetzgeberische Versehen
sei der Sachverhalt, dass in § 5 Abs. 2 S. 2, zweiter
Halbsatz SGB II auf die Übernahme von Mietschulden
nach § 22 Abs. 5 SGB II Bezug genommen werde.
Mietschulden seien aber in § 34 SGB XII, nicht in § 35
SGB XII geregelt.
Kein Wohngeld für Bezieher von unterhaltssichernder Sozialhilfe
Mit dem Inkrafttreten des SGB XII und des SGB II am
1. Januar 2005 ändert sich auch das Wohngeldgesetz.
Nach § 1 Abs. 2 dieses Gesetzes findet das Wohngeldgesetz auf Bezieher von unterhaltssichernder Sozialhilfe keine Anwendung. Die tatsächlichen angemessenen Unterkunftskosten werden jeweils nach dem
entsprechenden Leistungsgesetz (SGB II, SGB XII)
übernommen. Ein Nachteil für bisherige Wohngeldempfänger ist hiermit nicht verbunden, da das Wohngeld lediglich einen Zuschuss zu den Unterkunftskosten
darstellt, das bei Sozialhilfebeziehern auch bisher schon
aus Mitteln der Sozialhilfe aufgestockt wurde.
Neuordnung der gerichtlichen Zuständigkeit für Verfahren nach
dem SGB XII und SGB II durch das 7. Sozialgerichts-ÄnderungsG
(7. SGGÄndG)
von Dr. Sabine Wendt
Die Zusammenlegung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zu der Grundsicherung für Erwerbsfähige
durch die Hartz-Reformen hat einen Streit darüber ausgelöst, welche Gerichtsbarkeit die Zuständigkeit für
Rechtstreitigkeiten erhalten soll. Die Bundesregierung
hatte in ihrem Gesetzentwurf zur Einordnung der Sozialhilfe in das Sozialgesetzbuch (SGB XII) zunächst
die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. Der Bundestag entschied sich aber dann für
eine Zuordnung zu der Sozialgerichtsbarkeit. In dem
Vermittlungsverfahren im Dezember 2003 wurde dies
bestätigt: In § 51 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
wurde durch die Einfügung von Nr. 6 a die Anwendung des Sozialgerichtsgesetzes für die Angelegenheiten der Sozialhilfe festgelegt.
In einer Protokollnotiz wurde die Bundesregierung jedoch aufgefordert, bis zum 30.06.2004 einen Gesetzentwurf vorzulegen, der es zum Ausgleich von Auslastungsunterschieden zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit den Ländern
ermöglicht, die Sozialgerichtsbarkeit durch besondere
Spruchkörper der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte auszuüben. Für diese gilt dann das
SGG.
Zu den Auslastungsunterschieden trug die Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries, bei einer Fachveranstaltung am 24.04.2004 auf Einladung des DGB
folgende abgerundeten Zahlen vor: 2.700 Verwaltungsrichter sind durch die gesunkenen Fallzahlen der Asylbewerber von 40.000 Klageverfahren entlastet, während
1.200 Sozialrichter mit einem Verfahrensanstieg von
30.000 konfrontiert sind. Durch das Inkrafttreten des
S GB I I rechnet man mit einem Anstieg der
Sozialgerichtsverfahren um 25 % und eine Minderung
solcher Verfahren um 15 % bei den Verwaltungsgerich60
ten. Besonders betroffen von dieser Problematik seien
die kleinen Flächenstaaten. Ein Ausgleich dieser Diskrepanzen durch eine Richterversetzung verbietet der
Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97
Abs.1 GG) und das Deutsche Richtergesetz (DRiG):
Nach Art. 97 Abs. 2 GG, §§ 30, 32 DRiG kann ein
Richter nicht gegen seinen Willen in eine andere Gerichtsbarkeit versetzt werden. Die dringend benötigten
neuen Richterstellen bei den Sozialgerichten können
daher nur durch freiwillige Versetzungsanträge von
Richtern geschaffen werden, für zusätzliche neue
Richterstellen fehlt den Landesjustizministerien das
Geld.
In dieser Situation bildete sich eine große Koalition von
einer Mehrheit der Länderjustizministerien und der
Bundesjustizministerin, die die Schaffung einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit, gebildet
aus Verwaltungsgerichten, Sozialgerichten und Finanzgerichten, vorschlug. Dr. Jürgen Kühling, Richter am
Bundesverfassungsgericht a. D., machte bei der o. g.
Fachveranstaltung verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solche Zusammenlegung deutlich. Art. 95 Abs.
1 GG sehe fünf Säulen der Gerichtsbarkeiten vor und
verpflichte den Bund, als oberste Gerichtshilfe den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, den
Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das
Bundessozialgericht zu errichten. Es sei zwar eine Zusammenlegung für Sachgebiete denkbar, nicht aber eine
Änderung der Kernzuständigkeit der einzelnen
Gerichtszweige. Dazu sei eine Verfassungsänderung
notwendig. Diesen Bedenken hat sich das Bundesjustizministerium angeschlossen, durch einen Kabinettsbeschluss vom 21.04.2003 wurde dieser sog. „großen Lösung“ eine Absage erteilt, und die „kleine
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK
Lösung“ des Vermittlungsausschusses befürwortet. Es
wurde in Folge ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
eines siebten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetz vorgelegt (7. SGGÄndG), der folgenden Inhalt
hat (Stand: April 2004, Volltext: www.bmj.bund.de):
Länderoption der Bildung besonderer
Spruchkörper bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Befristet bis 2008 (Art. 4 Abs. 4 SGGÄndG) können
durch Landesgesetze besondere Spruchkörper für Verfahren nach dem SGB II und SGB XII bei den Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten gebildet
werden (5. Abschnitt SGG, §§ 50 a-d). Dies gilt nach
§ 50 a SGG für Angelegenheiten der Sozialhilfe und
des Asylbewerberleistungsgesetzes (§ 51 Abs.1 Nr. 6 a
SGG n. F.) und für Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende.
Nach Ablauf dieser Frist ist also eine alleinige Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit vorgesehen, mit der
Möglichkeit, dass bis dahin eine einheitliche öffentliche Gerichtsbarkeit nach einer Änderung des Art. 95
GG geschaffen wird.
Diese neuen Spruchkörper werden wie bei den Sozialgerichten mit einem Berufsrichter und zwei Laienrichtern besetzt, § 12 Abs.1 SGG. Damit werden Richterkapazitäten frei, weil bisher Kammern mit drei
Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern vorgesehen sind, § 5 Abs. 3 VwGO. Dies schafft für bisher
für Sozialhilfeangelegenheiten zuständige Verwaltungsrichter die Möglichkeit, sich nach § 11 Abs. 4 SGG n.
F. für die jetzt bei den Sozialgerichten zu bildenden
Kammern für Sozialhilfeangelegenheiten (§ 10 Abs. 1
S. 1 SGG n. F.) für mindestens zwei Jahre, längstens
jedoch bis 2008 (siehe oben) als Richter im Nebenamt
ernennen zu lassen, oder durch Versetzungsantrag die
Gerichtsbarkeit dauerhaft zu wechseln. Ihr Zuständigkeitsbereich bliebe der gleiche, da auch bei den Sozialgerichten Kammern mit identischen Zuständigkeiten
wie bei den besonderen Spruchkörpern der Verwaltungsgerichte geschaffen werden, § 10 Abs. 1 S. 1 SGG
n. F. Ansonsten wäre der mit dem Gesetzentwurf beabsichtigte bundesweite gleichwertige Rechtsschutz (so
die Begründung, allg. Teil) nicht zu gewährleisten.
Analog dazu werden auch die Fachsenate des LSG in
§ 31 Abs. 1 S. 1 SGG n. F. erweitert, die in der Besetzung und Zuständigkeit ihre Entsprechung in befristet
eingerichteten Spruchkörpern der OVG haben, § 50 a
SGG n. F.
Allerdings entscheidet für beide Gerichtszweige das
BSG in Revisionsverfahren, § 52 SGG n. F. Dies hat
zur Folge, dass das BVerwG ab 2005 nur noch für Verfahren zuständig ist, die vor dem 30.04.2004 bei Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit anhängig geworden sind, da alle Verfahren danach in dem Stadium, in
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
dem sie sich befinden, auf die Sozialgerichtsbarkeit
übergehen, § 206 Abs. 1 SGG n. F. Dies bedeutet den
Verlust des hohen Sachverstands der Richter des
BVerwG in den Sozialhilfeangelegenheiten und eine
große Verantwortung für die Richter des BSG, eine
Rechtsprechung in gleicher Qualität zu entwickeln. Ein
Novum ist, dass ein Revisionsgericht damit Entscheidungen bewerten muss, die in einer anderen Gerichtsbarkeit getroffen wurde: Sozialrichter bewerten Entscheidungen von Verwaltungsrichtern, wenn auch nur
drei Jahre lang. Da bei dem BSG die Senate in gleicher
Weise wie bei dem LSG besetzt werden, wirken dort
neben den drei Berufsrichtern auch zwei ehrenamtliche Richter mit, während im BVerwG fünf Berufsrichter
entscheidungsbefugt sind. Das Element der ehrenamtlichen Richter in Angelegenheiten der Sozialhilfe wird
damit erheblich gestärkt.
Ausweitung der Einbeziehung ehrenamtlicher Richter in Sozialhilfeangelegenheiten
Die verstärkte Einbeziehung ehrenamtlicher Richter in
Angelegenheiten, die zuvor maßgeblich von Berufsrichtern entschieden wurden, wirft die Frage auf, welchen Einflüssen die Rechtsprechung damit ausgesetzt
wird. Nach § 19 SGG haben die ehrenamtlichen Richter die gleichen Rechte bei der Amtsausübung wie die
Berufsrichter, und können somit in der ersten Instanz
den Berufsrichter überstimmen. Sie sind in ihrer Mitwirkung allerdings auf die mündliche Verhandlung beschränkt: Zwar können Akten vor der Sitzung eingesehen werden, aber nicht nach Hause mitgenommen
werden.1 Bei Beschlüssen außerhalb von mündlichen
Verfahren, also in Eilverfahren, wirken sie demnach
nicht mit. Da bisher 70 v. H. der Rechtsstreitigkeiten
der Hilfe zum Lebensunterhalt als Eilverfahren entschieden wurden, obliegt diese Rechtsprechung in Zukunft einem Einzelrichter, und nicht mehr drei Berufsrichtern. Da die Ehrenamtlichen in Kammern der
Grundsicherung für Arbeitssuchenden auf Vorschlagslisten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgewählt
werden und die Ehrenamtlichen in Kammern der Sozialhilfe durch Vorschlagslisten der Kreise und kreisfreien Städte2 (§ 12 Abs. 5 SGG n. F.), wird deutlich,
dass die klassische Hilfe zum Lebensunterhalt in Zukunft von zwei verschiedenen Kammern bewertet werden wird, mit Ehrenamtlichen, die aus unterschiedlichen Lebensbereichen kommen. Soweit die Grundsicherung für Arbeitssuchende daraus geworden ist,
haben die Gewerkschaften an Einfluss gewonnen, soweit Leistungen für nicht erwerbsfähige Personen betroffen sind, von den Städten und Landkreisen benannte
Vertreter, wobei diese zugleich die Leistungsträger für
Sozialhilfeleistungen sind! Die Regelung aus § 12 Abs.
61
SOZIALPOLITIK
2 SGG für Kammern der Arbeitsförderung und Sozialversicherung, die Ehrenamtliche aus dem Kreis der
Versicherten und Arbeitgeber vorsieht, wurde für die
Grundsicherung für Erwerbsfähige nicht übernommen,
da es sich nicht um eine Versicherungsleistung handele, und Arbeitnehmer betroffen seien, so die Gesetzesbegründung. Diese Regelung soll über die Existenz der
besonderen Spruchkörper bei den Verwaltungsgerichten hinaus andauern. Für diese gibt es nach § 50 d SGG
n. F. eine Übergangsregelung: bis zum 31.12.2005 sollen die bereits gewählten ehrenamtlichen Richter bleiben. Das Auswahlverfahren für Ehrenamtliche nach
§ 28 VwGO bleibt also erhalten, wobei allerdings nicht
mehr für vier Jahre gewählt wird, sondern für 5, wie in
§ 13 Abs.1 SGG vorgesehen.
Da §§ 45, 46 SGG nicht geändert wurden, bleibt es
(vorbehaltlich von Änderungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens) hinsichtlich der Berufung ehrenamtlicher Richter an dem Bundessozialgericht beim geltenden Recht, ohne Berücksichtigung von Vorschlägen
der Städte und Landkreise, die Ernennung erfolgt durch
das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung.
Zulassung der Berufung entfällt
In der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist eine Berufung nur
nach einem besonderen Zulassungsverfahren bei dem
OVG zulässig. Diese müssen sich jetzt für vier Jahre
wieder auf erheblich mehr Verfahren einstellen, weil
durch die Geltung des S GG kein gesondertes
Zulassungsverfahren für Berufungen mehr vorgesehen
ist, sofern das Bundesland von der Bildung von Spruchkörpern bei den VG und OVG Gebrauch gemacht hat.
Nach § 206 SGG n. F. gelten fristgerecht vor dem
01.01.2005 eingereichte Anträge auf Zulassung der
Berufung in Sozialhilfeangelegenheiten als durch das
OVG zugelassen.
Gerichtskosten in Sozialgerichtsverfahren
drohen
Hinzu kommt, dass dem Bundestag ein Gesetz zur
Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 17.03.2004
vorliegt (BT-Drs. 15/2722). Ziel des Gesetzesentwurfs
der Bundesländer ist die Änderung der kosten-
rechtlichen Vorschrift des Sozialgerichtsgesetzes, um die
Eingangs- und Kostenflut der sozialgerichtlichen Verfahren bewältigen und zumutbare Verfahrenslaufzeiten
gewährleisten zu können. Neu vorgesehen sind Pauschalgebühren, die im Unterliegensfall von den Klägern
zu zahlen sind. Diese Gebühren sollen zusätzlich zu
den Pauschalgebühren erhoben werden, die bereits nach
geltendem Recht von den am Verfahren beteiligten
Sozialleistungsträgern zu entrichten sind. Zwar erstreckt
sich die Prozesskostenhilfe auch auf diese neuen
Gerichtsgebühren, die aber ebenfalls nur bei hinreichenden Erfolgsaussichten des Rechtschutzbegehrens gewährt wird.
Diese Regelung wird auch auf die gesonderten Spruchkörper für Sozialhilfeverfahren bei den VG und OVG
Anwendung finden, so dass damit auch für Verwaltungsgerichtsverfahren in diesem Bereich, die bisher
kostenfrei waren, Gerichtsgebühren erhoben werden
können.
Die Justiz vor großen Herausforderungen
Da gegenwärtig bereits Mängel in der Umsetzung der
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Hilfe zum
Lebensunterhalt in der Grundsicherung für Arbeitssuchende deutlich werden, ist abzusehen, dass Pannen in
der Organisation zu einer Flut von Gerichtsverfahren
führen können. Fehler in der Leistungsberechnung
werden Rechtsmittel zur Folge haben, die die Gerichte
so umfänglich beschäftigen werden, dass für Rechtsfragen behinderter Menschen aus dem Bereich der Eingliederungshilfe kaum Kapazitäten frei sein werden. Die
Verteilung von Rechtsstreitigkeiten gleicher Art auf verschiedene Gerichtszweige, je nach dem, ob das Bundesland neben den Sozialgerichten befristet eine Zuständigkeit eines Teils der Verwaltungsgerichtsbarkeit
gesetzlich regelt, lassen Befürchtungen für eine divergierende Rechtsprechung aufkommen, die die Bürger
weiter verunsichern werden. Die Erfahrungen mit der
Pflegeversicherung zeigen, dass es vier Jahre lang dauern kann, bis diese Divergenz in der Rechtsprechung
durch eine Entscheidung des BSG geklärt ist.
1) Groß in HK SGG,Baden-Baden 2003 § 19 Rdnr. 7
2) Geiger, in Eyermann, VwGO, § 19 Rdnr. 1
Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen in Kraft
Nach Einigung im Vermittlungsausschuss ist das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigter
schwerbehinderter Menschen am 23.04.2004 in Kraft
getreten (Bundesgesetzblatt I S. 106). Die Neuregelung
62
für Werkstätten (Regeldauer des Eingangsverfahrens
3 Monate, § 40 Abs. 2 SGB IX, obligatorische Einschaltung des Fachausschusses nach einem Jahr Berufsbildungsbereich, § 40 Abs. 3 SGB IX) wurden bereits
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALPOLITIK/GRUNDSICHERUNG
ausführlich in RdLh 1/2004, S. 15 ff. dargestellt; hierzu haben sich durch das Vermittlungsverfahren keine
Änderungen ergeben.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt des Gesetzes ist
die Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten
schwerbehinderter Jugendlicher. So sieht das Gesetz
vor, betriebliche und überbetriebliche Ausbildungen
besser miteinander zu verzahnen: Durch eine Änderung in § 35 Abs. 2 SGB IX sollen möglichst viele Jugendliche, die sich in überbetrieblichen Ausbildungen
befinden (z. B. in einem Berufsbildungswerk), in Zukunft Teile ihrer Ausbildung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes absolvieren.
Durch eine Änderung der Schwerbehindertenausgleichsabgabenverordnung (SchwbAV) können Arbeitgeber Zuschüsse zur Abgeltung außergewöhnlicher
Belastungen erhalten, die mit der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im Anschluss an eine Beschäftigung in einer anerkannten Werkstatt für behinderte
Menschen verbunden sind. Dies gilt auch für Probebeschäftigungen und Praktika dieser Personen (§ 27
Abs. 1 SchwbAV).
Eine Änderung von § 6 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung ermöglicht die unbefristete Ausstellung eines solchen Ausweisen in Fällen, in
denen eine Neufeststellung wegen einer wesentlichen
Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, die
für die Feststellung maßgebend gewesen sind, nicht zu
erwarten ist.
Wesentliche Änderungen betreffen die Integrationsfachdienste, für die die Bundesagentur für Arbeit nur noch
bis zum 31.12.2004 die Strukturverantwortung trägt.
Diese geht dann über auf die Integrationsämter (Änderungen in §§ 109, 111 und 113 SGB IX). Außerdem
wird der Aufgabenkreis der Integrationsfachdienste erweitert: Nach § 110 Abs. 2 Nr. 1 a sollen sie die Bundesagentur für Arbeit auf deren Anforderung bei der Berufsorientierung und Berufsberatung in den Schulen,
einschließlich der auf jeden einzelnen Jugendlichen bezogenen Dokumentation der Ergebnisse unterstützen
und nach Nr. 1 b die betriebliche Ausbildung Schwerbehinderter, insbesondere seelisch- und lernbehinderter Jugendlicher, begleiten. Die Finanzierung wird neu
geregelt: Bis zum 31.12.2004 gilt noch die mit der
Bundesagentur für Arbeit abgeschlossene Mustervereinbarung, danach gelten Empfehlungen zur Inanspruchnahme der IFD durch die Reha-Träger zur Zusammenarbeit und zur Finanzierung der Kosten, die
unter Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen gegenwärtig bei der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation verhandelt werden.
Durch eine Änderung von § 68 Abgabenverordnung
wird sichergestellt, dass Integrationsbetriebe als gemeinnützige Zweckbetriebe angesehen werden können,
wenn mindestens 40 v. H. der Beschäftigten besonders
betroffene schwerbehinderte Menschen i. S. v. § 132
Abs. 1 SGB IX sind (s. dazu auch RdLh 4/2003, S. 177
ff.)
Kindergeldanrechnung auf die Grundsicherung weiter im Streit
In Sachen Anrechnung des Kindergeldes auf die Grundsicherung entwickelt sich eine divergierende Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte, so dass Rechtsklarheit erst durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erzielt werden kann.
Die Mehrheit der Oberverwaltungsgerichte lehnt die
Anrechnung ab. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in drei Entscheidungen (Urteile vom 05.02.2004
– Az: 12 BV 03.3282; vom 09.02.2004 – Az: 2 B 03.2219;
vom 19.02.2004 – Az: 12 BV 03.2219) folgendes entschieden: Das Kindergeld sei nicht als Einkommen des
Kindes, sondern als Einkommen des kindergeldberechtigten Elternteils zu bewerten. Einkommen des
Kindes könne es nur dadurch werden, dass der
Kindergeldberechtigte das Kindergeld oder Teile dessen durch einen weiteren Zuwendungsakt an das Kind
zweckorientiert weitergebe. Dafür genüge es nicht, es
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
dem Kind durch das Wirtschaften ”aus einem Topf”
zugute kommen zu lassen. Erforderlich sei viel mehr,
dass durch den Zuwendungsakt der notwendige
Lebensbedarf des Kindes gerade mit Rücksicht auf das
für das Kind gewährte Kindergeld gedeckt werde. Das
Kind müsse den weitergegebenen Betrag zur Abdekkung seines Bedarfs benötigen. Zwar bewirke diese
Wirtschaftweise, dass dem Kind auch anteiliges Kindergeld letztlich zugewendet werde. Dies reiche jedoch
nicht für die Feststellung aus, dass durch die Befriedigung des notwendigen Lebensbedarfs gerade anteiliges
Kindergeld zugewendet worden sei. Jedenfalls sei dies
nicht mit der Bestimmtheit möglich, die nach Art und
zeitlicher Zurechenbarkeit bei der Feststellung von
anrechenbarem Einkommen nach dem 4. Abschnitt des
BSHG zu fordern sei (BVerwG vom 07.02.1980,
BVerwGE 60,7).
63
GRUNDSICHERUNG/SOZIALHILFE
Die Zuwendung an das Kind könne auch nicht gem.
§ 16 BSHG vermutet werden. Eine derartige Regelung
sei zwar zunächst im Entwurf des Grundsicherungsgesetzes vorgesehen gewesen, aber nicht durch das
Gesetz übernommen worden. Es liege daher keine
Gesetzeslücke vor, die durch eine entsprechende Anwendung des § 16 BSHG geschlossen werden könnte.
Aus der Nichtanwendung des § 16 BSHG auf die
Grundsicherung schließt der VGH auch, dass nach § 3
Abs. 1 Nr. 2 GSiG ”die tatsächlichen Aufwendungen”
für Unterkunft als Grundsicherungsleistung zu berücksichtigen seien und zwar bis zur angemessenen Höhe,
unbeschadet dessen, ob sie sich aus einer Aufteilung
nach Köpfen oder aus einem Mietvertrag ergeben (so
in der Entscheidung, Az. 12 BV 03.3282, vom
05.02.2004).
Dieser Auffassung folgt auch das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom
08.01.2004, Az. 2 MB 168/03). Das Kindergeld kann
demnach nur dann als Einkommen auf die Grundsicherungsleistung des Kindes angerechnet werden,
wenn es als Geldbetrag an das Kind weitergeleitet wird,
da nur tatsächliche Zuflüsse berücksichtigt werden
könnten.
Zum gleichen Ergebnis kommt auch das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom
25.02.2004, Az. 3 L 386/03. Mangels zielgerichteter
Zuwendungen sei das Kindergeld nicht auf die Grundsicherung anrechenbar. Die Wirtschaftsweise der Mutter des Klägers sei von der Vermischung verschiedener
Einkünfte einschl. des Kindergeldes und von einem
undifferenzierten Bestreiten des eigenen und des Lebensunterhalts des Klägers geprägt, ohne dass eine spezifische, dem Kindergeld entsprechende Sachzuwendung stattfinde. Diesem Ergebnis stehe auch nicht
entgegen, dass der Kläger im Hause seiner Mutter eine
abgeschlossene Wohnung für sich alleine habe. Er werde auch dort umfassend betreut.
Das OVG NRW kommt durch seinen Beschluss vom
02.04.2004, Az. 12 B 1577/03 jedoch zu einer anderen
Bewertung. Die tatsächliche Unterhaltsgewährung in
einer Haushaltsgemeinschaft sei zwar nicht als
Einkommenszufluss nach § 3 Abs. 2 GSiG i. V. m. § 76
BSHG zu berücksichtigen. Sie decke aber bei lebensnaher Betrachtung unmittelbar den entsprechenden
Bedarf, für den die Leistungen der Grundsicherung nach
§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 bestimmt seien. Insoweit gelte
nichts anderes als im Bereich des Sozialhilferechts
(BVerwGE 108, 36). Eine andere Beurteilung führe zu
einer nicht gerechtfertigten Besserstellung gegenüber
Antragsberechtigten, an die nach § 74 Abs. 1 EStG das
Kindergeld unmittelbar ausgezahlt werde, weil ihre Eltern ihre grundsätzliche Unterhaltspflicht nicht erfüllten, und die entsprechend geringere Grundsicherungsleistungen erhalten. Daher komme es nicht entscheidungserheblich darauf an, dass eine Anrechnung
des Kindergelds als Einkommen des nichtbezugsberechtigten Kindes im Bereich des Sozialhilferechts nach
§ 76 BSHG einen zweckorientierten Zuwendungsakt
voraussetze.
Anmerkung
Die Entscheidung des OVG NRW vermag nicht zu überzeugen. Es schließt, wie die anderen Oberverwaltungsgerichte, eine Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen des Kindes aus, setzt sich aber nicht mit der
Frage auseinander, ob dann eine Anrechnung über
§ 16 BSHG in analoger Anwendung erfolgen könne,
was mit guten Gründen von den anderen OVG abgelehnt wurde. Allein der Hinweis, es komme sonst zu
einer Ungleichbehandlung mit Grundleistungsbeziehern, an die das Kindergeld direkt ausgezahlt werde, beantwortet diese Frage nicht. Billigkeitserwägungen
helfen nicht über die Tatsache hinweg, dass es gegenwärtig an einer eindeutigen Rechtsgrundlage für die
Anrechnung des Kindergeldes auf die Grundsicherung
fehlt.
(We)
Vorleistungspflicht für Leistungen eines Familienentlastenden
Dienstes (FED)
VG Lüneburg, Beschluss vom 08.03.2004 – Az: 6 B 21/04
Der Antragsteller zu 1) lebt mit seinem mehrfach behinderten Bruder, dem Antragsteller zu 2), gemeinsam
im Haushalt der Eltern. Der Sozialhilfeträger bewilligte die Übernahme der Betreuungskosten durch einen
FED für 8 Stunden pro Woche, verlangte jedoch einen
Eigenanteil von den Eltern in Höhe von 344 EURO.
64
Diesbezüglich ist ein Klagehauptsacheverfahren anhängig.
Das VG entschied, dass im Rahmen von § 29 BSHG
die Hilfe auch dann bewilligt werden könne, wenn den
Eltern im Rahmen von § 28 BSHG nach Abschluss des
Klageverfahrens die Zahlung eines Eigenbeitrags zuRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALHILFE
zumuten sei. Es liege ein begründeter Fall der Vorleistung vor, da die Eltern geltend gemacht hätten, finanziell nicht in der Lage zu sein, die Eigenleistung zu erbringen.
Die Lebenshilfe als Maßnahmeträger wolle die
Betreuungsleistung nur gegen Zahlung im vollen Umfang erbringen, nachdem die seit Gewährung der Hilfe
ab Oktober 2003 vom Antragsgegner bezahlten Kosten
nur in der um den geforderten Eigenanteil verringerten Höhe übernommen worden sei. Es stehe zwar
grundsätzlich im Ermessen des Trägers der Sozialhilfe,
ob er erweiterte Hilfe i. S. v. § 29 BSHG leiste. Würde
die Hilfe aber ohne die Kostenübernahme gefährdet,
so sei es im Hinblick auf die in §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1
und 4 BSHG enthaltenden Grundsätze ermessensfehlerhaft, wenn von der Möglichkeit des § 29 BSHG
kein Gebrauch gemacht würde. Da die Hilfe für den
Antragsteller zu 1). gefährdet wäre, wenn die Übernahme der Kosten für seine ambulante Betreuung zunächst
nicht im vollen Umfang gewährleistet würde, sei das
Ermessen des Antragsgegners dahingehend reduziert,
dass er die erweiterte Hilfe leisten müsse. Diese Verpflichtung könne jedoch lediglich für die Zeit seit Antragstellung bei Gericht ausgesprochen werden. Im
Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei
es nicht möglich, den Träger der Sozialhilfe zu verpflichten, Sozialhilfe für die Vergangenheit zu bewilligen, da
es für die vergangenen Zeiträume an einer gegenwärtigen Notlage fehle. Der Zeitraum davor könne daher
lediglich im Hauptsacheverfahren zum Gegenstand der
gerichtlichen Entscheidung gemacht werden. Im Rahmen dieses Verfahrens sei zu klären, ob und welcher
Höhe von den Eltern Eigenanteil zu fordern sei.
Anmerkung
Nach Inkrafttreten des SGB XII wird eine solche Vorleistung der Hilfe nicht mehr möglich sein. Mit dem
Wegfall der Hilfe in besonderen Lebenslagen ist auch
diese Sonderregelung des § 29 BSHG zur Vermeidung
von Notlagen durch Vorleistungen für Leistungsberechtigte der Eingliederungshilfe, die erst in langwierigen Rechtstreitigkeiten die Zulässigkeit eines Eigenanteils klären lassen, gestrichen worden. Die Erhebung
eines Eigenanteils für Personen der Bedarfsgemeinschaften ist jetzt in § 19 SGB XII für alle Hilfen
zusammengefasst. Dies schränkt den Rechtsschutz und
die Bedarfsdeckung für Leistungen der Eingliederungshilfe ein. Nur noch für die in § 43 Abs. 2 BSHG genannten Hilfen (in Zukunft: § 92 Abs. 2 SGB XII) bleibt
die Vorleistungspflicht des Trägers der Sozialhilfe erhalten.
(We)
Zum Verhältnis von Entlastungspflege zur Inanspruchnahme eines
Familienentlastenden Dienstes nach BSHG und Leistungen der
Pflegeversicherung
OVG Lüneburg, Beschluss vom 17.09.2002 – Az: 4 ME 407/02
Ein Anspruch auf Gewährung von Entlastungspflege
für die Inanspruchnahme eines Familienentlastenden
Dienstes gem. § 69 b Abs. 1 Satz 2 BSHG kann nicht
erst dann im Verfahren auf Erlangung einstweiligen
Rechtsschutzes durchgesetzt werden, wenn der seitens
der Pflegekasse für die Ersatzpflege max. zu übernehmende Betrag der Ersatzpflege nach § 39 SGB XI aufgebraucht ist. Dem Antragsteller sei es im Hinblick auf
die Schwere seiner Behinderung und das hohe Maß an
Pflege, das er benötigt, nicht zuzumuten, eine mögliche akute Erkrankung der Mutter vorzutragen, um Leistungen der Entlastungspflege von der Sozialhilfe in
Anspruch nehmen zu können. Es könne von dem Antragsteller nicht verlangt werden, eine solche Situation
abzuwarten, da die Entlastungspflege den Zweck habe,
einer Erkrankung der Pflegeperson in Folge von Belastungen, die mit der Pflege verbunden seien, vorzubeugen. Der Antragsteller dürfe deshalb auch nicht darauf
verwiesen werden, zunächst die Leistungen der Pflegekasse nach § 39 SGB XI auszuschöpfen, weil die Ersatzpflege der Pflegeversicherung und die EntlastungsRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
pflege der Sozialhilfe nicht der Deckung des gleichen
Bedarfs zu dienen bestimmt seien. Wortlaut und Systematik des § 39 SGB XI zeigten, dass der Gesetzgeber
die Situation der vorübergehenden, zeitlich begrenzten Verhinderung der Pflegeperson vor Augen hatte und
regeln wollte. Angesichts der zeitlichen und betragsmäßigen Deckelung der Leistung nach § 39 SGB XI
sei eine nicht nur für einen kurzen Zeitraum erforderliche, regelmäßige tägliche Entlastung der Pflegeperson
gerade nicht durch die Ersatzpflege sicherzustellen. Die
Leistungen der Sozialhilfe nach den §§ 69 Satz 1, 69 b
Abs. 1 Satz 2 BSHG seien also unbeschadet ihrer Subsidiarität gegenüber den Leistungen nach dem SGB XI
in solchen Fällen neben den Leistungen nach § 39 SGB
XI zu gewähren und nicht erst dann, wenn es darum
gehe, die Leistungen der Pflegekasse aufzustocken. Aus
diesem Grund dürfe der Antragssteller erst recht nicht
auf die Inanspruchnahme von vollstationärer Kurzzeitpflege nach § 42 SGB XI als vorrangiger Leistung verwiesen werden.
65
SOZIALHILFE
VG Lüneburg, Beschluss vom 10.03.2004 –
Az: 6 B 26/04
Nach Ansicht des VG Lüneburg darf das Pflegegeld
der Pflegeversicherung nicht auf Leistungen des
Familienentlastenden Dienstes als Eigenanteil angerechnet werden.
Die Antragstellerin erhält im Rahmen der Pflegestufe
III Pflegeleistungen in Höhe von 695 EURO. Sie erhält von einem Familienentlastenden Dienst 15
Wochenstunden als Dienstleistung, und muss einen
Eigenanteil in Höhe von 129 EURO aus dem Pflegegeld zahlen.
Das VG Lüneburg stellt fest, dass entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin die Antragstellerin nicht verpflichtet sei, nach § 69 c Abs. 4 Satz 2, 2. Halbsatz
BSHG das Pflegegeld, das sie gem. § 37 SGB XI er-
hält, anteilig zur Finanzierung der Betreuungsstunden
einzusetzen. Nach dieser Vorschrift sei ein nach dem
SGB XI geleistetes Pflegegeld vorrangig auf die Leistungen nach § 69 b Abs. 1 BSHG anzurechnen, wenn der
Pflegebedürftige seine Pflege durch von ihm beschäftigte besondere Pflegekräfte sicherstelle. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nicht vor, da die Antragstellerin
ihre Pflege nicht durch von ihr beschäftigte besondere
Pflegekräfte sicherstelle, sondern durch ihre Mutter.
Diese sei nicht als Beschäftigte anzusehen. Einer solchen Wertung stehe auch die Vorschrift des § 77 Abs. 1
SGB XI entgegen, wonach die zuständige Pflegkasse
zur Sicherung der häuslichen Pflege und hauswirtschaftlichen Versorgung einer Einzelperson Verträge mit Verwandten des Pflegebedürftigen bis zum 3. Grad sowie
mit Personen, die mit dem Pflegebedürftigen in häuslicher Gemeinschaft leben, nicht schließen dürfe. (We)
Neue Regelsatzverordnung (RSV): Senkung des Existenzminimums ?
Der Bundesrat hat am 14.05.2004 der im Januar 2004
von der Bundesregierung vorgelegten Regelsatzverordnung (R SV) zugestimmt, die damit zum
01.01.2005 in Kraft tritt. Damit erhalten 2 Mio. Langzeitarbeitslose, 2,7 Mio. Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt und 327.000 Leistungsempfänger der
Grundsicherung Leistungen, der als Referenzgröße für
das Existenzminimum der Regelsatz von 345 EURO
(im Westen) und 331 EURO (im Osten ) für den Haushaltsvorstand zu Grunde liegt (diese Beträge stehen
nicht in der RSV, die nur die Bemessungsgrundlage
benennt, sondern wurden bereits in § 20 Abs. 2 SGB
II für das Arbeitslosengeld II festgelegt). Kinder bis 14
erhalten 60 v. H., Haushaltsangehörige ab 14 80 v. H.
des Regelsatzes (§ 3 Abs. 2 RSV). Grundlage der Bemessung ist nicht mehr der sog. „Warenkorb“, sondern
die Einkommens- und Verbrauchstichprobe (EVS) von
1998, (§ 5 RSV), die alle 5 Jahre erhoben wird.
Der höchste Regelsatz für den Hauhaltsvorstand liegt
seit Juli 2003 je nach Bundesland zwischen 297 und
282 EURO, für 2004 ist keine Anhebung vorgesehen,
da es keine Rentensteigerung gibt, an die die Regelsätze jährlich angeglichen wurden. Bei einem Plus von
48 EURO für den Höchstsatz scheint die Bundesregierung auf den ersten Blick Recht zu haben, die mit
einer Pressemeldung vom 16.05.2004 den neuen Regelsatz als Verbesserung preist.
Demgegenüber sehen Wohlfahrtsverbände und Wissenschaftler ein Absenken des Existenzminimums, und
nennen dafür u. a. folgende Gründe:
66
- Der Wegfall der bisher zusätzlich zum Regelsatz geleisteten einmaligen Leistungen wird durch die Anhebung der Regelsätze nicht kompensiert. So werden z.
B. die seit Januar 2004 eingetretenen Mehrausgaben in
Folge der Gesundheitsreform (Steigerung um 17,6 v. H.
gegenüber dem Vorjahresmonat) erst 2008 in der EVS
erfasst: die letzte EVS von 2003 berücksichtigt sie noch
nicht. Demgegenüber ist die EVS von 1998, die mangels Auswertung der EVS von 2003 der Regelsatzbemessung zu Grunde gelegt wurde, veraltet.
- Von den einzelnen in Abteilungen zusammengefassten
Bedarfspositionen der EVS werden willkürliche Abschläge vorgenommen. So werden nach § 2 Abs. 2 RSV
für die bisher als einmalige Beihilfe bedarfsdeckend
angesetzte Abteilung Bekleidung und Schuhe nur 89 v.
H. anerkannt, weil in der EVS auch die Ausgaben für
Maßkleidung und Pelze enthalten seien.
- Nach § 2 Abs. 1 RSV bestimmen die Länder, ob sie
bundeseinheitliche oder regionale Auswertungen der
EVS zu Grunde legen. Damit kann z. B. der Regelsatz
im Osten auch unter 331 EURO abgesenkt werden,
wenn das Bundesland zu einer niedrigeren Auswertung
kommt, was dann auch ein niedrigeres Arbeitslosengeld II und Grundsicherungsleistungen zu Folge hätte.
(We)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SOZIALHILFE
Anspruch auf gekürztes Pflegegeld auch bei häuslicher Pflege
rund um die Uhr
Hessischer VGH, Beschluss vom 03.02.2004 – Az: 10 UZ 2985/02
Der VGH hat die Berufung gegen ein erstinstanzliches
Urteil zugelassen, da er ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils für begründet hält.
Der Kläger erhält volle häusliche Pflege rund um die
Uhr durch professionelle Pflegekräfte nach § 69 b Abs.
1 Satz 2 BSHG. Den vom Kläger geltend gemachten
Anspruch auf ein gekürztes Pflegegeld nach §§ 69 a
Abs. 3, 69 c Abs. 2 Satz 2 BSHG lehnte der Sozialhilfeträger und ihm folgend das VG ab (VG Darmstadt, Urteil
vom 07.08.2002, Az: 9 E 625/01 (2)).
Nach Auffassung des VGH hat das VG zu Unrecht den
vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf das gekürzte Pflegegeld verneint. Neben den Leistungen für
eine besondere Pflegekraft nach § 69 b Abs. 1 Satz 2
BSHG besteht gemäß § 69 c Abs. 2 Satz 1 BSHG auch
der Anspruch auf Pflegegeld nach § 69 a BSHG, das
aber nach § 69 c Abs. 2 Satz 2 BSHG um bis zu zwei
Drittel gekürzt werden kann. Das VG habe zwar zunächst zutreffend anerkannt – so der VGH -, dass auch
bei einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung ein Anspruch auf
das Pflegegeld bestehen könne, verweise jedoch auf §
69 a Abs. 5 Satz 1 BSHG, wonach der Anspruch auf
das Pflegegeld voraussetze, dass der Pflegebedürftige
mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die
erforderliche Pflege in geeigneter Weise selbst sicherstellen könne. Dabei müsse – so die Auffassung des
VG - die konkrete Notwendigkeit, die Pflegebereitschaft
dritter Personen zu fördern bzw. zu erhalten, nachgewiesen werden. Dieser Ansicht des VG widerspricht
der VGH. Bei der Auslegung des § 69 a Abs. 5 Satz 1
BSHG sei auf den Charakter des Pflegegeldes abzustellen, das nicht auf die Entlohnung von Pflege-
personen ziele. Mit ihm solle auch nicht unmittelbar
der Pflegebedarf gedeckt werden. Wirtschaftlich messbare Belastungen durch die Pflege selbst stünden nicht
im Vordergrund. Der Gesetzgeber gehe vielmehr davon aus, dass die Pflege durch nahestehende Personen
unentgeltlich geleistet werde. Nur für die erforderliche
Heranziehung einer besonderen Pflegekraft sei vom
Gesetz eine Kostenübernahme vorgesehen. Das pauschalierte Pflegegeld des § 69 a BSHG diene folglich
dazu, es dem Pflegebedürftigen zu ermöglichen, sich
die unentgeltliche Pflegebereitschaft einer nahestehenden Person durch Übernahme von deren Aufwendungen oder auch durch kleinere Zuwendungen zu erhalten. Die tatsächliche Inanspruchnahme der Pflege durch
nahestehende Personen sei nicht Voraussetzung (OVG
Münster, Urteil vom 20.06.2001). Dementsprechend
könne vom Hilfesuchenden nicht verlangt werden – so
führt der VGH weiter aus -, konkret und im Einzelnen
nachzuweisen, ob, in welcher Weise und mit welchen
Aufwendungen der Bedarf bisher gedeckt worden sei.
Die eigenverantwortliche Sicherstellung der Pflege im
Sinne von § 69 a Abs. 5 Satz 1 BSHG könne dann nur
so verstanden werden, dass dem Pflegebedürftigen die
Organisation seiner Pflege durch das Pflegegeld möglich sein müsse. Er müsse die Fähigkeit besitzen, sich
mit dem Pflegegeld gegenüber pflegenden und auf andere Art engagierten Verwandten, Nachbarn und Laienhelfern erkenntlich zu zeigen.
(Di)
Das Berufungsverfahren wird nicht fortgesetzt, da der
Sozialhilfeträger dem Antrag des Klägers inzwischen
statt gegeben hat.
Mitgeteilt von Rechtsanwalt Gottfried Krutzki, Frankfurt
Kostenübernahme für Urlaubspflege durch Sozialhilfeträger
BSG, Urteil vom 01.07.2003 – Az: B 1 KR 13/02 R
Streitig ist, ob der Sozialhilfeträger gegenüber der Krankenkasse des Versicherten einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der auswärtigen Unterbringung und
Pflege eines behinderten Menschen hat.
Ein 1967 geborener geistig und körperlich behinderter
Mann war im Jahre 1996 vorübergehend in einem
Wohnpflegeheim untergebracht. Die Unterbringung war
erforderlich geworden, weil die Mutter als Pflegeperson
kurbedingt von zu Hause abwesend war. Die Pflegekasse hat von den Kosten auf der Grundlage des § 39
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
SGB XI (Verhinderungspflege) einen Teilbetrag von
2.800 DM (jetzt 1.432 EURO) übernommen. Dieser
Betrag entspricht dem jährlichen Höchstbetrag für
Urlaubspflege. Die restlichen Kosten in Höhe von ca.
4.000 EURO hatte der überörtliche Sozialhilfeträger im
Rahmen der vorläufigen Hilfeleistung gemäß § 44
BSHG zunächst übernommen. Die beklagte Krankenkasse hat den Antrag der Pflegeperson und Mutter, die
verbleibenden Kosten als Haushaltshilfe nach § 38 SGB
V zu erstatten, abgelehnt.
67
SOZIALHILFE/PFLEGEVERSICHERUNG
Das SG München hat die Klage abgewiesen, da es sich
bei der auswärtigen Unterbringung und Pflege um Eingliederungshilfe gemäß § 39 BSHG handele. Da die
Haushaltshilfe nach SGB V keine gleichartige Leistung
sei, fehle es an einem Vorrang/Nachrang-Verhältnis (Az.
S 18 KR 188/97). Die Berufung beim Bayerischen LSG
hatte keinen Erfolg. Nach Wortlaut und Zweck der
Haushaltshilfe habe die Krankenkasse nur die Weiterführung des Haushalts, nicht aber eine auswärtige Unterbringung der bisher im Haushalt betreuten Person
zu ermöglichen. Seit der Einführung der Pflegeversicherung, die für die in Rede stehende Bedarfssituation in der Gestalt der Verhinderungspflege und der
Kurzzeitpflege adäquate Leistungen vorsehe, gebe es
für eine Ausweitung des krankenversicherungsrechtlichen Anspruchs auf Haushaltshilfe keine Notwendigkeit (Az. L 4 KR 128/99). Mit der Revision trägt
der Sozialhilfeträger vor, dass der Erstattungsanspruch
nicht an fehlender Gleichartigkeit der beiderseitigen
Leistungen scheitere. Die lediglich als Vorleistung gemäß § 44 BSHG erbrachte Sozialhilfe habe schon wegen der kurzen Zeitdauer von vier Wochen keine Eingliederung des behinderten Menschen, sondern
lediglich eine vorübergehende Hilfestellung in einer
Notsituation bezweckt.
Das BSG hat die vorinstanzlichen Urteile bestätigt und
die Klage abgewiesen. Die Krankenkasse habe für die
Kosten einer außerhäuslichen Pflege und Betreuung des
von dem krankheitsbedingten Ausfall der Pflegeperson
betroffenen behinderten Menschen nicht aufzukommen. Die Krankenkasse müsse somit den vorübergehenden Ausfall nicht als Ersatz für eine Haushaltshilfe
bezahlen.
Die Voraussetzungen und die Ausgestaltung der Leistung machten deutlich, dass dem Versicherten speziell die Weiterführung seines Haushalts und nicht allgemein irgendeine Versorgung seiner Kinder ermöglicht
werden solle. Da sich die Regelungen des § 38 SGB V
ausschließlich auf die durch den Krankenhaus- bzw.
Kuraufenthalt nicht mehr sichergestellte Haushaltsführung bezögen, wäre eine Ausdehnung der Leistungspflicht der Krankenkasse auf die auswärtige Unterbringung und Pflege des behinderten Kindes nur im Wege
einer Analogie möglich. Dafür fehle es aber an der erforderlichen Regelungslücke. Das speziell bei Menschen
mit Behinderung eine Versorgung außerhalb des Haushaltes notwendig werden könne, sei dem Gesetzgeber
seit langem bekannt gewesen. Wenn er im SGB V von
weiterreichenden Regelungen abgesehen habe, könne
das nur bedeuten, dass dies bewusst geschehen sei, damit die Krankenversicherung nicht mit zusätzlichen
Kosten belastet werden sollte.
Anmerkung
Für den vorübergehenden, durch den Ausfall der Pflegeperson bedingten Heimaufenthalt eines pflegebedürftigen behinderten Menschen sind die Pflegekassen und
ergänzend die Sozialhilfeträger zuständig. Das BSG hat
allerdings offen gelassen, ob es sich bei der Haushaltshilfe nach § 38 SGB V und der als Leistung der Eingliederungshilfe nach § 39 ff. BSHG gewährten auswärtigen Unterbringung und Pflege um inhaltlich
gleichartige Leistungen handelt.
Richterliche Schätzung des Hilfebedarfs der Pflegeversicherung,
Anerkennung von Wegen zur Ergotherapie
BSG, Urteil vom 28.05.2003 – Az: B 3 P 6/02 R (SGb 3-2004 S. 194 ff.)
Der 6 Jahre alte Kläger leidet an einer schwer einstellbaren Zuckerkrankheit und einer Entwicklungsstörung,
wegen der er zweimal wöchentlich eine Ergotherapie
besucht. Im Streit ist die Gewährung von Pflegegeld
der Pflegestufe I. Während der MdK einen Grundpflegebedarf von nur 30 Minuten täglich annahm, hat das
Sozialgericht nach Einholung eines Gutachtens von Dr.
D. einen täglichen Hilfebedarf bei der Grundpflege von
81 – 104 Minuten angenommen, zzgl. 30 Minuten für
die hauswirtschaftliche Versorgung. Das LSG vertrat
die Auffassung, dass das Gutachten von Dr. D. insgesamt nicht brauchbar sei und kam nach Anhörung der
Mutter des Klägers und darauf gestützte eigene Schät68
zung des Zeitaufwands zu geringeren Zeiten für die
Pflegestufe I, die nur für die von dem Gericht benannten Zeiträume erreicht werde. Die beklagte Pflegekasse
legte gegen das Urteil Revision ein, da das LSG gegen
die Grundsätze der Amtsermittlung und der freien richterlichen Beweisführung verstoßen habe. Es habe sich
nicht mit dem Gutachten des MdK auseinander gesetzt,
die Abweichung von diesem nicht ausreichend begründet und sich ausschließlich auf die Angaben der Mutter des Klägers gestützt und den Pflegebedarf selbst
geschätzt. Bei der Feststellung des Pflegebedarfs sei eine
besondere Sachkunde erforderlich, über die das LSG
nicht verfüge.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
PFLEGEVERSICHERUNG
Das BSG gab der Revision teilweise statt und verwies
den Rechtsstreit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück.
Nach Ansicht des BSG war das LSG im Rahmen seiner freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128
Abs. 2 SGG) berechtigt, weder dem Gutachten des Dr.
D. noch dem MdK-Gutachten zu folgen. Die vom LSG
vorgenommene Schätzung des Zeitaufwands aufgrund
einer Anhörung der Pflegeperson ohne erneute Untersuchung im häuslichen Bereich sei grundsätzlich ein
zulässiger Weg zur Ermittlung des Pflegebedarfs, weil
konkrete Zeitermittlungen über die Dauer der Hilfe bei
zahlreichen Verrichtungen besondere Sachkunde nicht
erfordern. Das Gericht müsse aber in den Entscheidungsgründen seines Urteils nachvollziehbar darlegen, warum es einen bestimmten Weg eingeschlagen,
andere Wege verworfen habe und warum es zu welchem Ergebnis gekommen sei. Die Feststellung eines
Pflegebedarfs ohne Heranziehung von Fachkräften
(Ärzte, Pflegefachkräfte usw.) sei dabei besonders sorgfältig zu begründen. Diesen Begründungsanforderungen
sei das LSG nicht durchweg gerecht geworden, weil
die mit Hilfe der Mutter des Klägers ermittelten Hilfebedarfszeiten von den bisher durch ärztliche Gutachten ermittelten Werten teilweise stark abwichen, ohne
dass die jeweiligen zeitlichen Anhaltspunkte dafür genannt würden. Bevor eine Schätzung zu vertreten sei,
müsste versucht werden, die erforderlichen Zeiten für
die einzelnen Verrichtungen so genau wie möglich zu
ermitteln. Diese Zeiten seien daher grundsätzlich zu
messen. Dafür reiche es aus, wenn die Pflegeperson
selbst die Messung vornehme und dies dem Gericht
nachweise. Nur wenn sich Zweifel an der Richtigkeit
ergäben, könne es sich anbieten, weitere, auch sachverständige, Zeugen dazu zu hören. Es sei unverzichtbar, dass von der Pflegeperson ein minutiös geführtes
Pflegetagebuch mit konkreten Zeitmessungen vorgelegt
werde. Die Auswertung des Tagebuchs, die Feststellung
des Pflegebedarfs und die Gegenüberstellung mit dem
Pflegebedarf gesunder Kinder sei von dem LSG vorzunehmen. (.....)
Bei der vom Kläger besuchten Ergotherapie entstehe
wegen der Notwendigkeit der Begleitung ein Hilfebedarf, der als Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI)
berücksichtigt werden könne. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung müsse für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zuhause unerlässlich sein.
Dazu zählen Arztbesuche, aber auch Wege zur Krankengymnastik oder zum Logopäden, soweit sie der
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Behandlung einer Krankheit dienen und nicht die Stärkung oder Verbesserung der Fähigkeiten zur eigenständigen Lebensführung im Vordergrund stehen. Maßnahmen der sozialen oder beruflichen Rehabilitation seien
daher nicht zu berücksichtigen; bei Maßnahmen der
medizinischen Rehabilitation komme es darauf an, dass
sie der notwendigen Behandlung einer Krankheit dienen.
Im vorliegenden Fall diene die Ergotherapie nach Feststellung des LSG einer vom Arzt verordneten Behandlung einer Entwicklungsstörung.
Es bestünden deshalb keine Bedenken, den dadurch
erforderlichen Pflegeaufwand zu berücksichtigen, soweit er mindestens einmal wöchentlich anfalle. (.....)
(Gekürzte Wiedergabe der Entscheidungsgründe auf die
genannten Aspekte).
Anmerkung
Das Urteil stärkt den Tatsachenvortrag der Klagepartei,
die Pflegegeld begehrt. Indem es das Pflegetagebuch
zu einem ausschlaggebenden Beweismittel macht, erkennt es an, dass die Langzeitbeobachtung durch die
Pflegeperson mit genauen Zeitangaben den Pflegebedarf
plausibler ermitteln kann als die Momentaufnahme des
Gutachtens des Medizinischen Dienstes, das sich sehr
stark an der Tagesform orientiert. Es ist daher notwendig, dass den Betroffenen Anleitungen an die Hand
gegeben werden, solche Pflegetagebücher für eine gerichtliche Verwertung zu erstellen (siehe dazu Wendt:
Richtig begutachten, gerecht beurteilen. Die Begutachtung geistig behinderter Menschen zur Erlangung von
Pflegeleistungen. 6. Auflage 2003, S. 37 ff.). Weiter ist
bedeutsam, dass die Anerkennung von Wegezeiten für
die Ergotherapie eines Kindes aufgrund der ärztlichen
Verordnung jetzt verbesserte Möglichkeiten schafft, die
Wegezeiten zu ähnlich gelagerten Frühfördermaßnahmen anerkannt zu bekommen. Dabei wird die Rechtsprechung des BSG nicht aufgegeben, dass bei Maßnahmen der sozialen und beruflichen Rehabilitation
solche Wegezeiten nicht anzuerkennen sind (BSG SozR
3-3300 § 14 Nr. 5, 6 u. 8). Bei Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation, wozu nach dem SGB IX auch
die Frühförderung zählt, kommt es darauf an, dass sie
der notwendigen Behandlung einer Krankheit dienen.
Für Personen, die im ländlichen Bereich gleichgelagerte Frühfördermaßnahmen mit erheblichen Wegezeiten
in Anspruch nehmen, könnte es daher lohnend sein,
für die Anerkennung dieser Wegezeiten als Pflegezeiten
zu streiten.
(We)
69
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Neue Heilmittel-Richtlinien ab 01.07.2004
von Norbert Schumacher
Der gemeinsame Bundesausschuss hat im März 2004
die Neufassung der Heilmittel-Richtlinien (HMR) beschlossen. Die Richtlinien bilden die Grundlage für die
gesamte Versorgung mit Heilmitteln (z. B. Physiotherapie, Sprachtherapie, Ergotherapie). Sie sind für alle
an der gesundheitlichen Versorgung beteiligten
Leistungserbringer (Ärzte und Therapeuten) verbindlich. Damit haben die Richtlinien auch unmittelbare
Auswirkungen für die Versicherten. Weil der Anspruch
auf Versorgung mit Heilmitteln in §§ 27 Abs. 1, 32 SGB
V nur dem Grunde nach geregelt ist, kommt den HMR
eine herausragende Bedeutung für die Versorgung zu.
Überarbeitung wegen gestiegener Ausgaben
Nach Auskunft des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung (BMGS) war eine Neufassung notwendig geworden, weil es seit der letzten Änderung im Jahre 2001 einen überproportionalen
Ausgabenanstieg der Kosten bei der Heilmittelversorgung gegeben habe. Diese seien um mehr als 20
% gestiegen, ohne dass hierfür medizinische Gründe
erkennbar seien. Ursächlich seien vielmehr Probleme
in der praktischen Anwendung der Heilmittel-Richtlinien. Das Bundesgesundheitsministerium habe daraufhin den gemeinsamen Bundesausschuss aufgefordert,
die Ursachen des Ausgabenanstiegs zu analysieren und
entsprechende Konsequenzen in den Heilmittel-Richtlinien zu ergreifen.
Bedingt durch diese Vorgabe (Begrenzung des Ausgabenanstiegs) hat der Bundesausschuss zunächst einen
Entwurf vorgelegt, der bei allen Menschen, die auf Versorgung mit Heilmitteln angewiesen sind, größte Besorgnis hervorrufen musste. Aufgrund des massiven
Protestes von Seiten der Behindertenverbände, von
Selbsthilfegruppen und Verbraucherschutzorganisationen sowie auch von Seiten der Leistungserbringer
hatte das Bundesgesundheitsministerium zu Beginn d.J.
den gemeinsamen Bundesausschuss aufgefordert, den
Entwurf in mehreren Punkten zu ändern bzw. zu ergänzen.
Insgesamt betrachtet handelt es sich auf der einen Seite vom Umfang her besehen um relativ geringfügige
Änderungen. Dies erklärt sich vor allem aus der Tatsache, dass die Heilmittel-Richtlinien infolge der Abtrennung von den Hilfsmittel-Richtlinien im Jahre 2001,
also vor relativ kurzer Zeit, völlig neu bearbeitet worden sind. Auf der anderen Seite können auch kleine
70
Änderungen große Auswirkungen im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung haben.
Die Heilmittel-Richtlinien sind weiterhin zweigeteilt:
Der erste Teil enthält den Richtlinientext, der zweite
Teil den Katalog verordnungsfähiger Heilmittel nach §
92 Abs. 6 SGB V. In einer Anlage sind Heilmittel aufgeführt, die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht verordnungsfähig sind.
Grundsätze der Heilmittel-Verordnung
In den ”Allgemeinen Grundsätzen” hat der Verordnungsgeber nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Die bisher bekannten drei Heilmittel der Physikalischen Therapie, der Ergotherapie und der Stimm-,
Sprech- und Sprachtherapie sind um die Podologische
Therapie ergänzt worden.
Die Richtlinien regeln ausschließlich die Verordnung
von Heilmitteln im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung.
Heilmittel müssen als medizinische Leistung persönlich erbracht werden und dürfen nur verordnet werden, wenn sie notwendig sind
- eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu
verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern
- eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer
Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde,
zu beseitigen
- einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung
eines Kindes entgegenzuwirken oder
- Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern.
Regelfall
Ausgangspunkt und Grundlage für eine Heilmittel-Verordnung ist ein definierter Regelfall, dem somit eine
hohe Bedeutung zukommt. Dieser Regelfall geht von
der Vorstellung aus, dass mit dem Heilmittel im Rahmen der Gesamtverordnungsmenge des Regelfalls das
angestrebte Therapieziel erreicht werden kann. Die
Gesamtverordnungsmenge und die Anzahl der Behandlungen je Verordnung im Regelfall ergeben sich aus dem
Heilmittelkatalog. Die Verordnungsmenge hat sich nach
dem medizinischen Erfordernis des Einzelfalls zu richten (vgl. Ziff. 11). Heilmittel-Verordnungen außerhalb
des Regelfalls sind bis auf die in den Richtlinien genannten Ausnahmen nicht zulässig. Die Ausnahmen
sind im Heilmittelkatalog aufgeführt.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Erst- und Folgeverordnungen
Die Heilmittel sind im Regelfall nunmehr nur noch als
Erst- oder Folgeverordnung verordnungsfähig (vgl. Ziff.
11.2.). Hierbei gilt nach einer Erstverordnung jede weitere Verordnung zur Behandlung der selben Erkrankung als Folgeverordnung. Sowohl bei Erst- wie auch
bei Folgeverordnungen beträgt die jeweilige maximale
Verordnungsmenge in der Physikalischen Therapie bis
zu sechs und in der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie
bis zu zehn und in der Ergotherapie ebenfalls bis zu
zehn Einheiten.
Folgeverordnungen sind nur zulässig, wenn sich der
behandelnde Vertragsarzt zuvor erneut vom Zustand
des Patienten überzeugt hat. Bei der Entscheidung des
Vertragsarztes über Folgeverordnungen sind der bisherige Therapieverlauf sowie zwischenzeitlich erhobene Befunde zu berücksichtigen.
Längerfristige Verordnung
Als Ausnahme, also außerhalb des Regelfalls, sind über
die im Heilmittelkatalog begrenzten Folgeverordnungen
hinaus auch längerfristige Verordnungen möglich (vgl.
Ziff. 11.3.). Dies setzt voraus, dass sich die Behandlung mit der nach Maßgabe des Heilmittelkataloges bestimmten Gesamtverordnungsmenge nicht abschließen
lässt. Längerfristige Verordnungen bedürfen einer besonderen Begründung mit prognostischer Einschätzung.
Die Verordnungsmenge ist abhängig von der Behandlungsfrequenz so zu bemessen, dass mindestens eine
ärztliche Untersuchung innerhalb einer Zeitspanne von
zwölf Wochen nach der Verordnung gewährleistet ist.
Das Gesagte bedeutet auch, dass bei längerfristigen
Verordnungen der Arzt die sonst geltende maximale
Verordnungsmenge überschreiten darf, damit der Patient nicht mehr als einmal im Quartal die ärztliche Praxis aufsuchen muss. Bei Verordnungen außerhalb des
Regelfalls hat der Vertragsarzt zudem störungsbildabhängig eine weiterführende Diagnostik durchzuführen, um auf der Basis des festgestellten Therapiebedarfs,
der Therapiefähigkeit, der Therapieprognose und des
Therapieziels die Heilmitteltherapie fortzuführen.
Keine Unterbrechung der Behandlung
Damit sichergestellt ist, dass durch das Genehmigungsverfahren bei der Krankenkasse keine Behandlungsunterbrechungen entstehen, übernimmt die Krankenkasse nach Vorlage der Verordnung durch den
Versicherten die Kosten des Heilmittels bis zum Zugang einer Entscheidung über die Ablehnung der Genehmigung beim Versicherten. Eine Rückforderung der
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Kosten bereits erbrachter Leistungen ist in diesem Zusammenhang unzulässig (vgl. Ziff. 11.5.).
Abgabe von Heilmitteln nur bei Wirtschaftlichkeit
Der Vertragsarzt hat wie bisher vor jeder Verordnung
zu prüfen, ob entsprechend dem Gebot der Wirtschaftlichkeit das angestrebte Behandlungsziel auch durch
eigenverantwortliche Maßnahmen des Patienten, durch
eine Hilfsmittelversorgung oder durch Verordnung eines Arzneimittels qualitativ gleichwertig und kostengünstiger erreicht werden kann. Für diesen Fall haben
die genannten Maßnahmen Vorrang gegenüber einer
Heilmittel-Verordnung (vgl. Ziff. 13.)
Keine Hausbesuche in Einrichtungen
Behandlungen sind grundsätzlich in der Praxis des Therapeuten durchzuführen. Die Richtlinien schließen jedoch nicht aus, dass der Therapeut die Leistung außerhalb seiner Praxisräume erbringt. Die besondere
Verordnung der Heilmittelerbringung außerhalb der
Praxis als sog. Hausbesuch ist nur dann zulässig, wenn
der Patient aus medizinischen Gründen den Therapeuten nicht aufsuchen kann oder wenn der Hausbesuch
aus sonstigen medizinischen Gründen zwingend notwendig ist (vgl. Ziff. 16.2.).
Die Behandlung in einer Einrichtung (z. B. Tagesstrukturierende Fördereinrichtung) allein ist nach dem
Richtlinientext keine ausreichende Begründung für die
Verordnung eines Hausbesuches. Das Gleiche gilt für
Gründe wie die Vermeidung organisatorischer Unannehmlichkeiten oder fehlende Gelegenheit zur Begleitung des Patienten. Mangels medizinischer Notwendigkeit ist die Verordnung von Hausbesuchen für die
Behandlung behinderter Menschen in Einrichtungen
der Behindertenhilfe und Schulen i.d.R. somit nicht
mehr möglich. Durch die Neuregelung insbesondere für
die Therapeuten entstehende finanzielle Nachteile (z.
B. Wegfall der Hausbesuchspauschalen, Fahrtkostenerstattung) müssen entweder von diesen selbst oder von
den Einrichtungen getragen werden. In vielen Fällen
werden individuelle Regelungen vor Ort erforderlich
sein.
Auswahl der Heilmittel
Die Wahl der (zu verordnenden) Heilmittel richtet sich
nach dem therapeutisch im Vordergrund stehenden
Behandlungsziel.
71
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Abgrenzung zu heil- und sonderpädagogischen Maßnahmen
Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit zentralen Bewegungsstörungen
In der Vergangenheit wurden behinderten Menschen
immer wieder notwendige Heilmittel von den Krankenkassen mit der Begründung verweigert, dass die Behandlung behinderungsbedingt, aber nicht krankheitsbedingt notwendig sei. Die Richtlinien geben nunmehr
vor, dass Heilmittel bei Kindern nicht verordnet werden dürfen, wenn an sich störungsbildspezifische heilbzw. sonderpädagogische Maßnahmen zur Beeinflussung von Schädigungen geboten sind. Neben heil- bzw.
sonderpädagogischen Maßnahmen dürfen Heilmittel
nur bei entsprechender medizinischer Indikation außerhalb der pädagogischen Maßnahmen verordnet
werden. Falls pädagogische Maßnahmen nicht durchführbar sind, dürfen Heilmittel auch nicht an deren Stelle verordnet werden.
Kinder und Jugendliche mit zentralen Bewegungsstörungen erhalten eine spezielle auf ihre Altersgruppe
ausgerichtete Krankengymnastik nach Bobath oder
Vojta (KG-ZNS-Kinder).
Nach den Richtlinien soll ausgeschlossen werden, dass
anstelle notwendiger heil- bzw. sonderpädagogischer
Maßnahmen medizinisch-therapeutische Maßnahmen
eingesetzt werden. Das bedeutet zugleich, dass behinderte Kinder, die Einrichtungen oder Schulen besuchen
und dort heil- oder sonderpädagogische Maßnahmen
erhalten, daneben auch Heilmittel der gesetzlichen
Krankenversicherung verordnet bekommen können.
Wechselwirkung mit Frühförderung
Heilmittel dürfen nicht verordnet werden, soweit diese
im Rahmen der Früherkennung und Frühförderung
gemäß § 30 SGB IX i. V. m. der Frühförderungsverordnung als therapeutische Leistungen bereits erbracht werden (vgl. Ziff. 16.3.). Die Heilmittel-Richtlinien schließen damit nur den denkbaren doppelten
Leistungsbezug aus. Kleinkinder, die Leistungen der
Frühförderung erhalten, haben danach auch weiterhin
Anspruch auf Versorgung mit einem Heilmittel, wenn
die Versorgung mit diesem Heilmittel im Rahmen der
Frühförderung nicht sichergestellt ist.
Die Krankengymnastik für Kinder unterscheidet sich
von der Erwachsenenform durch längere Richtwerte
für die Regelbehandlungszeit (30 bis 45 Minuten statt
25 bis 35 Minuten) und eine höhere Qualifikation des
Therapeuten (spezielle Weiterbildung).
Da der Therapeut mit Qualifikation für die kindgerechte
Form auch immer die Qualifikation für die
Erwachsenenform der Krankengymnastik hat, kann ein
Patient auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres
durch seinen bisherigen Therapeuten weiterbehandelt
werden.
Ausblick
Die Richtlinien treten zum 1.7.2004 in Kraft. Ob sich
aus den Neuregelungen im praktischen Alltag konkrete Benachteiligungen für Menschen mit Behinderung
ergeben, lässt sich daher zum jetzigen Zeitpunkt noch
nicht sagen. Nach den Bekundungen des BMGS ist mit
der Neufassung der Heilmittel-Richtlinien eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung
der Versicherten mit Heilmitteln gewährleistet, wobei
den besonderen Erfordernissen der Versorgung behinderter Menschen Rechnung getragen werde. Vieles wird
vom richtigen Verordnungsverhalten der Ärzte abhängen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Ärzte neben den Richtlinien aus ihrer Sicht auch die Vergütung
der Leistung im Blick haben müssen. Behauptete Einschränkungen in der Heilmittelversorgung durch die
neuen Richtlinien können daher ihre Ursache auch in
der Budgetierung der ärztlichen Leistungen haben.
Bestehen Zweifel, sollte bei der Krankenkasse nachgefragt werden.
Lagerungsrollstuhl als Hilfsmittel der Krankenversicherung
LSG NRW, Urteil vom 26.02.2003 – Az: L 5 KR 33/02
Streitig ist die Versorgung der in einem Pflegeheim lebenden 1912 geborenen Klägerin mit einem Lagerungsrollstuhl. Die Klägerin leidet an einer fortgeschrittenen
senilen Demenz und ist in die Pflegestufe III als Härtefall eingestuft. Mit einer vertragsärztlichen Verordnung
beantragte die Klägerin die Versorgung mit einem
72
Faltrollstuhl mit verstellbarer Rückenlehne und Fußstützen sowie mit einer Fixationsweste für den Oberkörper. Ausweislich des ärztlichen Attestes wird die
Klägerin zur Dekubitus- und Pneumonieprophylaxe
regelmäßig in einen Rollstuhl gesetzt. Ein Lagerungsrollstuhl sei erforderlich, da die Klägerin aus einem
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
herkömmlichen Faltrollstuhl mehrfach herausgefallen
sei. Nach Auskunft des Pflegeheimes verbringt die Klägerin täglich fünf bis sechs Stunden im Rollstuhl.
zurückzulegenden Weg selbst zu bestimmen, aber zu
verneinen, wenn diese geistige Fähigkeit nicht mehr vorhanden sei, sei nicht erkennbar.
Das SG Duisburg hat die Klage mit Urteil vom
28.01.2002 abgewiesen (Az. S 7 (9) KR 91/00). Zur
Begründung hatte das Gericht ausgeführt, der Rollstuhl
zähle zu den Hilfsmitteln, die der Träger des Heimes
zur Verfügung zu stellen habe, da der Rollstuhl ausschließlich innerhalb des Heims benötigt werde. Im
Berufungsverfahren hat die Klägerin ihren Vortrag wiederholt, dass sie nur mittels dieses Rollstuhls am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Sie benötige
einen speziell an ihre Behinderung angepassten Rollstuhl, ohne den sie das Zimmer nicht verlassen könne.
Der Klägerin sei eine Teilnahme am Leben im Heim
nur mittels des in Frage stehenden Rollstuhls möglich
gewesen. Im Zeitpunkt der Beschaffung des Rollstuhls
sei die Klägerin mehrfach wöchentlich vormittags und
nachmittags für jeweils ein bis eineinhalb Stunden mittels des Rollstuhls in den Gemeinschaftsraum gebracht
worden. Ihr Sohn habe mit ihr die Cafeteria und den
Garten des Pflegeheimes aufgesucht. Die Klägerin habe
zwar aktiv mit anderen nicht mehr kommunizieren
können, sie habe aber sichtbar durch ihre Mimik auf
die Anwesenheit anderer Personen reagiert.
Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und
dem Klageantrag stattgegeben. Das Gericht hält es für
zutreffend, dass ungeachtet eines Heimaufenthalts die
Krankenkassen dem Versicherten die Hilfsmittel zur
Verfügung zu stellen haben, die wesentlich der Befriedigung von Grundbedürfnissen dienten. Das sei hinsichtlich des Lagerungsrollstuhls der Fall, auch wenn
die Klägerin sich nicht mehr aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligen könne. In der Auseinandersetzung mit
den Urteilen des BSG vom 6.6.2002 (vgl. RdLh 4/2002,
S. 168 ff.) und vom 24.9.2002 (vgl. RdLh 1/2003, S. 24
f.) führt das Gericht aus, dass seiner Ansicht nach bei
Versicherten, die aktiv am Leben in der Gesellschaft
nicht mehr teilnehmen könnten, nicht zwangsläufig
immer die Pflege im Vordergrund stehe. Bei der Beschaffung des Rollstuhls habe die Pflegeerleichterung
schon deshalb nicht im Vordergrund gestanden, da die
Pflege auch im Bett hätte durchgeführt werden können.
Auch wenn der Rollstuhl nicht im Sinne der Urteile
des BSG als individuell angepasstes Hilfsmittel anzusehen sei, sei er doch speziell an die Bedürfnisse der
Klägerin angepasst worden und für keinen anderen
Heimbewohner einsetzbar. Es bedürfe keiner näheren
Begründung, dass angesichts einer erforderlichen Umrüstzeit von mind. 60 Minuten es nicht möglich gewesen sei, jeweils im Einzelfall ein Grundmodell an die
Bedürfnisse der Klägerin anzupassen. Rollstuhl und
Fixationsweste seien zur Herstellung der Mobilität und
zur Ermöglichung eines Aufenthalts in der Gesellschaft
erforderlich gewesen.
Anspruch auf Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft
Auch wenn mangels Erfolgsaussicht eine Rehabilitation nicht mehr in Betracht komme, bedeute dies nicht,
dass damit das Grundbedürfnis auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entfallen wäre. Auch die Gruppe der geistig verwirrten oder hirnorganisch geschädigten Versicherten habe Anspruch auf ein Zusammensein mit anderen und eine Teilhabe an gesellschaftlichen Veranstaltungen. Das Gericht hält es ausdrücklich für den Leistungsanspruch für irrelevant, ob die
Klägerin selbst noch über die Wege und Aufenthaltsorte im Heim entscheiden könne oder vom Pflegepersonal bzw. Angehörigen mit Mitbewohnern zusammengebracht werde. Ein sachlicher Grund dafür, die
Leistungspflicht der Krankenkasse für einen im individuellen Fall erforderlichen Rollstuhl zu bejahen, nur
wenn der Versicherte geistig noch in der Lage sei, den
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Anmerkung
Die Entscheidung verdient volle Zustimmung. Überzeugend führt das Gericht aus, dass es für den Anspruch
auf einen individuell angepassten Rollstuhl weder darauf ankommen könne, ob der Rollstuhlfahrer das Heim
noch verlassen könne, noch ob er in der Lage sei, Aufenthaltsorte und Wege innerhalb des Heimes selbst und
aktiv zu bestimmen. Schließlich dürfe die Versorgung
mit einem individuell angepassten Rollstuhl nicht davon abhängen, ob der Versicherte zu rehabilitativen
Maßnahmen noch in der Lage sei. Das Grundbedürfnis auf Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft sei
nicht davon abhängig, ob der behinderte Mensch noch
Leistungen der Rehabilitation in Anspruch nehmen
kann. Eine andere Betrachtung würde vielen Menschen,
die eine schwere geistige Behinderung haben oder
schwerstpflegebedürftig sind, den Anspruch auf Zusammensein mit Anderen verneinen oder zumindest unmöglich machen.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Rechtsstreits
hat das Gericht die Revision zugelassen (Az. beim BSG
B 3 KR 5/03 R).
(Sch)
73
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Petö-Therapie ist keine Kassenleistung
BSG, Urteile vom 03.09.2003 – Az: B 1 KR 34/01 R und B 1 KR 19/02 R
Das BSG hatte in zwei Verfahren darüber zu entscheiden, ob die sog. konduktive Förderung nach Petö als
Kassenleistung von den Krankenkassen zu finanzieren
ist.
Im Verfahren B 1 KR 34/01 R klagte ein 1992 geborenes Kind, das an einer infantilen Cerebralparese leidet
und spastisch gelähmt ist. Neben den üblichen krankengymnastischen Übungsbehandlungen hat sie sich zur
Verbesserung insbesondere ihrer motorischen Fähigkeiten mehrfach der konduktiven Förderung nach Petö in
Budapest (Ungarn) unterzogen.
Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben.
Nach Auffassung des LSG München (Az. L 4 KR 35/
99) kommt eine Kostenerstattung nicht in Betracht, weil
der Klägerin im Inland ausreichende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten. Im Übrigen sei bei der Behandlung nach der Petö-Methode der
Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 SGB V nicht gewahrt.
Die Therapie werde unbeschadet der ärztlichen Leitung des Institutes von den Konduktorinnen selbstständig und ohne Überwachung durch einen Arzt geplant und durchgeführt. Die Klägerin ist der Auffassung,
die konduktive Förderung nach Petö müsse als Heilmittel i. S. v. § 32 SGB V aufgefasst werden. Entgegen
dem angefochtenen Urteil handele es sich auch um medizinische Behandlung und nicht um rein pädagogische
Leistungen. Ungeachtet der erzieherischen Elemente
und Zielsetzungen erfülle die konduktive Förderung die
Voraussetzungen einer neuro-physiologisch begründeten Behandlungsmethode bei cerebralen Paresen.
Behandlungsmöglichkeit in Deutschland
schließt Behandlung im Ausland aus
Nach Ansicht des BSG haben die Vorinstanzen einen
Kostenerstattungsanspruch zu Recht verneint. Bei einer Behandlung, zu der sich der Versicherte ins Ausland begebe, komme eine Kostenübernahme durch die
Krankenkasse nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 SGB V erfüllt seien und der Versicherte die Kostenübernahme vor Behandlungsbeginn
beantragt und der Kasse Gelegenheit zur Prüfung und
Entscheidung gegeben habe. Auch für Behandlungen
im Ausland bleibe es somit bei dem allgemein für außervertragliche Behandlungen geltenden Grundsatz, dass
der Krankenkasse eine Möglichkeit zur Überprüfung
des Leistungsbegehrens einzuräumen sei, bevor dem
Versicherten erlaubt werde, sich die benötigte Leistung
außerhalb des Sachleistungssystems selbst zu beschaf74
fen. Dass dies gerade bei Auslandsbehandlungen auch
zum eigenen Schutz des Versicherten sinnvoll sei, liege
auf der Hand.
Werde die vom Versicherten beanspruchte Therapie
auch im Inland angeboten, scheide eine Erstattung der
für die Auslandsbehandlung aufgewendeten Kosten aus,
und zwar nach dem klaren Wortlaut der Regelung in
jedem Fall, also auch dann, wenn die Behandlung im
Inland ebenfalls nur als außervertragliche Leistung erhältlich sei. Etwas anderes könne nur dann gelten, wenn
die in Deutschland bestehenden Kapazitäten nicht ausreichten und der Versicherte gezwungen sei, für einzelne Behandlungsabschnitte ins Ausland auszuweichen.
Vorliegend bestehe schon deshalb kein Erstattungsanspruch, weil die konduktive Förderung nach Petö nicht
zu den Behandlungsmethoden gehöre, auf die sich die
Leistungspflicht der Krankenkassen erstrecke.
Die konduktive Förderung nach Petö sei unabhängig
von den speziellen Voraussetzungen einer Kostenerstattung bei Auslandsbehandlungen keine Kassenleistung, weil ihr therapeutischer Nutzen bisher nicht
auf dem vom Gesetz vorgeschriebenen Weg durch den
gemeinsamen Bundesausschuss festgestellt worden sei.
Förderung nach Petö kann medizinische
Leistung sein
Das Gericht teilt allerdings nicht die Einschätzung, dass
die konduktive Förderung wegen ihrer vorwiegend pädagogischen Ausrichtung nicht als medizinische Behandlung oder Rehabilitation einzustufen sei und deshalb
von vornherein nicht zum Versicherungsgegenstand der
Krankenversicherung gehören könne. Für die Abgrenzung zwischen medizinischen und nichtmedizinischen
Maßnahmen und damit für die Zuständigkeit der Krankenversicherung komme es in erster Linie auf die Zielsetzung der Maßnahme an. Falls eine Methode eines
der in den §§ 27 oder 11 Abs. 2 SGB V genannten
Ziele (z. B. Erkennen oder Heilen einer Krankheit; Vermeidung, Beseitigung oder Besserung einer Behinderung) verfolge und dabei an der Krankheit selbst bzw.
an ihren Ursachen ansetze, verliere der Umstand an
Bedeutung, dass bei der konduktiven Förderung für die
Behandlung vorwiegend pädagogische Mittel eingesetzt
würden und das Berufsbild des Therapeuten eher dem
eines Lehrers und Erziehers als dem eines klassischen
Heil-Hilfsberufes ähnele. Ein derartiger unmittelbarer
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Krankheitsbezug sei ein hinreichendes Indiz dafür, dass
keine anderen Zwecke wie die soziale Eingliederung
oder die Verbesserung schulischer oder beruflicher Fähigkeiten im Vordergrund stünden.
Medizinische und nichtmedizinische Behandlungszwecke ließen sich gerade bei komplexen
Rehabilitationsangeboten oft nur schwer oder gar nicht
voneinander abgrenzen, wie der Senat im Zusammenhang mit der Förderung behinderter Kinder in Sozialpädiatrischen Zentren im Urteil vom 31.03.1998 (Az.
B 1 KR 12/96 R) näher dargelegt habe. Wesentlich sei
in diesem Zusammenhang, welche Erwartungen der
Leistungserbringer selbst mit seinem Vorgehen verbinde. Die Petö-Methode erhebe den Anspruch, durch einen aktiven Lernprozess die motorischen Fähigkeiten
der cerebralgeschädigten Kinder zu verbessern und
dabei physiologische und anatomische Veränderungen
im Zentralnervensystem zu bewirken. Da es nicht darum gehe, lediglich Auswirkungen der Behinderung auf
die Lebensgestaltung aufzufangen oder abzumildern,
sei von einem medizinischen Charakter der Fördermaßnahmen auszugehen.
Petö-Therapie ist Heilmittel
Da es sich bei ihnen nicht um ärztliche Behandlung,
sondern um medizinische Dienstleistungen handele, die
auf Verordnung eines Arztes erbracht würden, seien sie
rechtlich als Heilmittel i.S. des § 32 SGB V einzustufen. Neue Heilmittel dürfen die an der vertragsärztlichen
Versorgung teilnehmenden Ärzte nur verordnen, wenn
der gemeinsame Bundesausschuss zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt und in den Richtlinien
nach § 92 Abs. 1 SGB V Empfehlungen für die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung abgegeben
habe. Die konduktive Förderung nach Petö sei in der
Vergangenheit keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen und unterliege deshalb als
”neues” Heilmittel dem Erlaubnisvorbehalt.
Soweit die Krankenkasse einen Teil der Kosten übernommen habe, ließen sich hieraus keine weitergehenden Ansprüche herleiten. Der Versicherte könne aus
einer früheren rechtswidrigen Handhabung der Krankenkasse keine Rechte in einem neuen Leistungsfall
herleiten.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Anmerkung
Das Urteil ist in seiner rechtlichen Argumentation nicht
zu beanstanden. Es ist nachvollziehbar, dass das höchste deutsche Sozialgericht die Entscheidung über die
Erstattungsfähigkeit der Petö-Therapie dem hierfür gesetzlich vorgesehenen Expertengremium im gemeinsamen Bundesausschuss überlässt.
Die konduktive Förderung nach Petö ist in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen sowohl der Verwaltungs- als auch
der Sozialgerichtsbarkeit gewesen. Nach Ansicht des
BVerwG kann die Petö-Therapie als heilpädagogische
Maßnahme im Rahmen der Eingliederungshilfe eine
Leistung der Sozialhilfe sein, wenn die Therapie erforderlich und geeignet ist, dem behinderten Menschen
den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern (vgl. BVerwG,
Urteil vom 30.05.2002, Az. 5 C 36/01 in RdLh Nr. 3/
02, S. 110 f.).
Das Beispiel der konduktiven Förderung nach Petö
belegt einmal mehr die Notwendigkeit der Erbringung
medizinisch-therapeutischer und heilpädagogischer
Leistungen im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Komplexleistung, bei der nicht Fragen der Zuständigkeit des richtigen Leistungsträgers im Vordergrund
stehen. Für die Behandlung und Betreuung von behinderten Kindern müsste dies eigentlich längst selbstverständlich sein.
Auf Initiative mehrerer Krankenkassen ist das Behandlungskonzept der Petö-Methode zwischen 1996 und
2001 in einem Modellvorhaben erprobt und begutachtet worden. Der Abschlussbericht kommt zu der Einschätzung, dass rund 70 % der Arbeit mit den behinderten Kindern auf eine Verbesserung der motorischen
Fähigkeiten, also ein therapeutisches Ziel, gerichtet sei
(Blank/von Voss, Konduktive Förderung nach Petö,
München 2002). Seit dem Jahr 2002 ist beim gemeinsamen Bundesausschuss ein Antrag auf Anerkennung
der Petö-Methode als therapeutisch wirksames Heilmittel anhängig, über den noch in diesem Jahr entschieden werden soll. Das BSG hat mit dem hier vorgestellten Urteil den Weg für eine Anerkennung der
Petö-Methode als Heilmittel i.S. des SGB V geebnet.
Nun hängt alles vom Votum des gemeinsamen Bundesausschusses ab.
(Sch)
75
GESETZLICHE KRANKENVERSICHERUNG
Behindertengerechter Umbau eines KFZ ist kein Hilfsmittel i. S.
von § 33 SGB V
VGH Mannheim, Urteil vom 13.02.2003 – Az: 7 S 1952/01
In einem Kostenerstattungsverfahren zwischen einem
Sozialhilfeträger und der Krankenkasse des Versicherten hatte das Gericht die Frage zu entscheiden, ob der
behindertengerechte Umbau eines KFZ zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
gehören könne.
Der im Jahre 1986 geborene Versicherte ist schwerbehindert, er kann weder frei gehen noch stehen, ist
inkontinent und benötigt für alle Verrichtungen im
Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang
fremde Hilfe. Er ist dauerhaft auf die Benutzung eines
Rollstuhls mit Sitzschale angewiesen, wobei sein Oberkörper in einer Haltevorrichtung fixiert werden muss.
Die Eltern des Versicherten beantragten im Jahre 1998
beim Sozialhilfeträger die Übernahme der Kosten für
den behindertengerechten Umbau eines KFZ. Das Fahrzeug sollte mit einer Absenkhydraulik umgebaut werden, so dass ein Rollstuhl in das Auto gerollt werden
kann. Der Sozialhilfeträger forderte die Eltern des Versicherten auf, wegen des Nachrangprinzips der Sozialhilfe bei der Krankenkasse einen Leistungsantrag zu
stellen. Diese lehnte jedoch ab. Daraufhin bewilligte
der Sozialhilfeträger gemäß §§ 39, 40 i. V. m. § 44
BSHG im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten
für den KFZ-Umbau. Mit Schreiben vom gleichen Tag
machte der Sozialhilfeträger gegenüber der Krankenkasse des Versicherten die Erstattung der von ihm seiner Auffassung nach nur vorläufig übernommenen
Kosten geltend.
Das VG hat die Klage abgewiesen, auch das Berufungsverfahren blieb aus Sicht des klagenden Sozialhilfeträgers ohne Erfolg. Nach Ansicht des Berufungsgerichts
hat der Sozialhilfeträger zwar nach § 44 Abs. 1 BSHG,
also aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung, vorläufig Sozialhilfeleistungen erbracht. Er
könne aber mit seinem Erstattungsbegehren nicht
durchdringen, weil die beklagte Krankenkasse nicht
verpflichtet gewesen sei, die KFZ-Umrüstung als Sachleistung der Krankenversicherung zu gewähren.
Nach der allein als Anspruchsgrundlage in Betracht
kommenden Vorschrift des § 33 Abs. 1 SGB V hätten
Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln,
die im Einzelfall erforderlich seien, den Erfolg einer
Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung
auszugleichen. Der Umbau eines KFZ stelle kein zum
Ausgleich einer Behinderung erforderliches Hilfsmittel i. S. d. § 33 Abs. 1 SGB V dar. Ein Hilfsmittel sei nur
dann ”erforderlich”, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen (elementaren)
76
Grundbedürfnisse benötigt werde. Wenn und soweit
Hilfsmittel nur mittelbar bzw. teilweise Organfunktionen ersetzten, würden sie nur dann als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen, wenn sie die Auswirkung der Behinderung nicht
nur in einem bestimmten Lebensbereich, sondern im
gesamten Leben beseitigten oder zumindest milderten.
Der behindertengerechte Umbau des KFZ und die sich
daraus ergebende Möglichkeit des Mitfahrens diene
nicht der Befriedigung eines derartigen Grundbedürfnisses.
Der behindertengerechte Umbau sei zunächst nicht
notwendig, um das elementare Grundbedürfnis des
Versicherten im Rahmen seiner Fortbewegungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Das Grundbedürfnis
der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes sei nur im Sinne eines Basisausgleichs zu verstehen. Dieser umfasse insoweit die Fähigkeit, sich in der
Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen,
um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft
zu gelangen. Der Versicherte vermöge – mit fremder
Hilfe – mittels seines Rollstuhls das Grundbedürfnis
auf Fortbewegung hinreichend zu befriedigen. Der
Wunsch der Familie, das Kind auch in die außerhäuslichen Aktivitäten der Familie einzubinden, möge
geeignet sein, eine Maßnahme der sozialen Rehabilitation zu rechtfertigen (vgl. §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG).
Es könne aber nicht zur Verpflichtung der GKV führen, die Kosten für die behindertengerechte Fahrzeugumrüstung als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zu übernehmen.
Anmerkung
Das Urteil des VGH liegt auf der Linie der Rechtsprechung des BSG. Das BSG hat am 06.08.1998 (Az. B 3
KR 3/97 und B3 KR 8/97 R) entschieden, dass der
behindertengerechte Umbau eines KFZ grundsätzlich
nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehöre. Im Urteil vom 26.02.1991 (Az. 8
RKN 13/90) hatte das BSG dargelegt, dass ein schwenkbarer Autositz ein Hilfsmittel sein könne, wenn erst
durch ihn die Benutzung eines PKW zur Befriedigung
der elementaren Grundbedürfnisse und Lebensbetätigungen möglich werde. Das OVG Lüneburg hat
mit Urteil vom 12.12.2001 (Az. 4 LB 1133/01) entschieden, dass der behindertengerechte Umbau eines KFZ
ein Hilfsmittel der GKV sein könne, wenn das KFZ
der Ermöglichung des Schulbesuchs eines schulpflichtigen Kindes diene (vgl. RdLh 2002, S. 75 und 116).
(Sch)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
RENTENVERSICHERUNG/BETREUUNGSRECHT
Änderungen im Rentenrecht
Der Gesetzgeber hat im Zuge der beabsichtigten Rentenreform erneut einige rentenrechtliche Vorschriften
geändert, die bereits am 01.01.2004 und am 01.04.2004
wirksam geworden sind oder in Kürze in Kraft treten
werden. Mit Wirkung zum 01.04.2004 haben Rentner
den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung in Höhe von
1,7 % der monatlichen Bruttorente zu tragen. Auch der
Auszahlungsmodus der Renten hat sich geringfügig verändert. So wird die Rente nicht mehr wie bisher am
vorletzten Banktag des Monats dem Konto gutgeschrieben, sondern erst am letzten. Bei Rentnern, die ab dem
01.04.2004 Rente beziehen, wird die Rente nicht mehr
monatlich im Voraus gezahlt, sondern erst am Ende
des Monats. Bereits seit dem 01.01.2004 müssen Rentner auf ihre Betriebsrenten den vollen Krankenversicherungsbeitrag entrichten.
Dem Ziel der Verminderung von Ausgaben der Rentenversicherung dient auch die Streichung der rentenrechtlichen pauschalen Bewertung der ersten 36 Monate von Zeiten einer schulischen Ausbildung. Bisher
wurden nach Vollendung des 17. Lebensjahres drei
Ausbildungsjahre (Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildung) pro Jahr mit 0,75 Entgeltpunkten bewertet. Mit einer Übergangszeit bis 2008 wird nunmehr
nur noch die berufliche Ausbildung berücksichtigt. Zeiten einer Schul-, Fachschul- und Hochschulausbildung
werden lediglich als bewertungsfreie Anrechnungszeiten anerkannt. Nach der Gesetzesbegründung soll
damit eine bestehende Privilegierung der akademischen
Ausbildung beseitigt werden.
Anhebung des Renteneintrittsalters
Absenkung des Rentenniveaus
In dem vom Bundestag am 11.03.2004 verabschiedeten Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz – BT-Drs. 15/2149,
15/2678) hat der Gesetzgeber gravierende Einschnitte
in das bisherige Rentenrecht vorgenommen. Mit diesem Gesetz wird ein sog. Nachhaltigkeitsfaktor in der
Rentenformel eingeführt, der die Relation zwischen
Rentnern und Beitragszahlern wiedergibt. Durch das
Ansteigen der Rentenbezieher und die gleichzeitige Abnahme der Beitragszahler wird eine allmähliche Absenkung des Rentenniveaus bewirkt. Die Absenkung
des Rentenniveaus wirkt sich auch auf die Renten die
wegen voller Erwerbsminderung gezahlt werden, aus,
da die Berechnung der Erwerbsminderungsrenten mittels der Rentenformel einschließlich des Nachhaltigkeitsfaktors erfolgt.
Um das tatsächliche Renteneintrittsalter zu erhöhen,
sollen Anreize zur Frühverrentung vermindert werden.
Daher wird ab 2006 bis 2008 die Altersgrenze für die
frühest mögliche Inanspruchnahme der Altersrente
wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit in
Monatsschritten von 60 auf 63 Jahre angehoben. Aus
Gründen des Vertrauensschutzes können Versicherte
die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit weiter mit 60
Jahren in Anspruch nehmen, wenn sie am 01.01.2004
arbeitslos waren oder die zu diesem Stichtag verbindlich Altersteilzeit vereinbart hatten.
Dieses Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates. Es kann somit davon ausgegangen werden,
dass die Neuregelungen inhaltlich unverändert in Kürze in Kraft treten werden.
(Di)
Gesetzesänderungen mit Auswirkungen im Betreuungsrecht
Unabhängig von dem kontrovers diskutierten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts (2.
BtÄndG, BT-Drs. 15/2494 vom 12.02.2004; aktuell
dazu unter www.lebenshilfe.de) sind in verschiedenen
Gesetzgebungsverfahren Regelungen mit Auswirkungen für das Betreuungswesen beschlossen worden.
Kostenrechtsmodernisierungsgesetz
Der Bundesrat hat am 12.03.2004 dem vom Deutschen
Bundestag am 20.02.2004 beschlossenen KostenrechtsRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
modernisierungsgesetz (BGBl. I 2004, S. 718) zugestimmt, welches am 01.07.2004 in Kraft tritt. Es führt
zu Änderungen beim Aufwendungsersatz, der Aufwendungspauschale sowie bei der Vergütung für Betreuer, Vormünder und Pfleger.
In § 1835 BGB wurde bei den Fahrtkosten der Verweis
auf § 9 ZSEG durch einen Verweis auf § 5 des neue
Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG)
ersetzt. Diese Vorschrift regelt in Abs. 2 Nr. 1 mit Wirkung vom 01.07.2004 die Erhöhung der Kilometerpauschale bei Benutzung eines Privat-PKW von 0,27 EURO
77
BETREUUNGSRECHT
auf 0,30 EURO. Die Höchstbegrenzung zulässiger
PKW-Nutzung auf Dienstreisen von 230 km entfällt.
Dies gilt entsprechend den Übergangsvorschriften für
alle Fahrten nach dem 30.06.2004 (§§ 24, 25 JVEG).
Die Aufwendungspauschale für ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer nach § 1835 a BGB beträgt bislang das 24-fache des Höchstsatzes der Zeugenentschädigung von 13 EURO, also 312 EURO pro
Betreuungsjahr. Mit § 22 JVEG wird der Höchstsatz ab
01.07.2004 auf 17 EURO erhöht. Zugleich wird jedoch
der Multiplikator in § 1835 BGB auf den 19-fachen
Betrag gesenkt. Dieses bedeutet eine Erhöhung der Aufwandspauschale auf 323 EURO pro Jahr, soweit diese
nach dem 30.06.2004 fällig wird.
Gestrichen wurde Artikel 4 des 1. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes von 1999. Dies führt zum Wegfall
des ”Ostabschlag” in Höhe von 10 % der Vergütung für
berufliche Betreuung hinsichtlich aller Tätigkeiten, die
nach dem 30.06.2004 geleistet werden.
Sozialgesetzbuch XII
Die Vorschrift des § 1836 c BGB über die Heranziehung des betreuten Menschen zu den Kosten der Betreuung wird mit Wirkung vom 01.01.2005 auf die §§
82, 85 – 87 sowie 90 Sozialgesetzbuch XII (SGB XII)
verweisen. Der Einkommensfreibetrag (zuzüglich
Unterkunftskosten) für den betreuten Menschen wird
sich danach auf den 2-fachen Eckregelsatz der Sozialhilfe reduzieren, der in den westlichen Bundesländern
ab 01.01.2005 zunächst 690 EURO und in den östlichen Bundesländern 662 EURO betragen wird. Auch
der Familienzuschlag für Ehegatten, Lebenspartner und
überwiegend unterhaltene Personen wird von derzeit
80 % des Regelsatzes auf 70 % gesenkt. Demgegenüber
erhöht sich der Vermögensfreibetrag des betreuten
Menschen von bisher 2.301 EURO ab dem 01.01.2005
auf 2.600 EURO. Weil in der derzeit geltenden Fassung des § 1836 c BGB allgemein auf die Anwendbarkeit des § 88 BSHG verwiesen wird, gilt nach herrschender Rechtsprechung bei der Frage der
Heranziehung des Vermögens des betreuten Menschen
für die Betreuungskosten gemäß § 88 Abs. 3 Satz 3
BSHG der erhöhte Vermögensfreibetrag von 25.311
EURO, soweit die oder der Betreute in einer Werkstatt
für behinderte Menschen beschäftigt ist. Im Sozialhilferecht wird bereits nach § 43 Abs. 2 Nr. 7 auf die Heranziehung der Betroffenen zu den Kosten der Werkstatt
verzichtet. Diese Ausnahme von der Heranziehung zu
Kostenbeiträgen aus eigenem Vermögen wird künftig
in § 92 Abs. 2 Satz 2 SGB XII geregelt sein, auf den die
Neufassung des § 1836 c BGB nicht verweist. Damit
entfällt ab 2005 der erhöhte Vermögensfreibetrag für
78
Werkstattbeschäftigte im Hinblick auf die Heranziehung
zu den Kosten der rechtlichen Betreuung.
Der Regress der Staatskasse gegen den Erben des betreuten Menschen ist bislang in § 1836 e BGB mit Verweis auf § 92 c Abs. 3 BSHG (Beschränkung auf den
Wert des Nachlasses) geregelt. Gegenwärtig beträgt der
Erbenfreibetrag 1.706 EURO (2-fache Summe des Freibetrages nach § 81 Abs. 1 BSHG). Ab 01.01.2005
bemisst sich der Freibetrag nach § 102 Abs. 1 auf den
dreifachen Grundbetrag nach § 85 Abs. 1 SGB XII.
Daher erhöht sich der Freibetrag in den westlichen Bundesländern auf 2.070 EURO und in den östlichen Bundesländern auf 1.986 EURO. Der besondere Freibetrag von 15.340 EURO für den bisherigen pflegenden
Angehörigen bleibt unverändert.
Zentrales Vorsorgeregister, elektronische
Vordrucke für Vergütung
Durch das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über
die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht
von Bezugspersonen des Kindes, zur Registrierung von
Vorsorgeverfügungen und zur Einführung von Vordrukken für die Vergütung von Berufsbetreuern (BGBl. I
Nr. 18 v. 28.04.2004) werden weitere Bestimmungen
mit Auswirkungen für das Betreuungswesen geändert.
Der § 69 e FGG wird um einen Absatz 2 ergänzt, mit
dem die Landesregierungen ermächtigt werden, ”durch
Rechtsverordnung für Anträge und Erklärungen auf
Ersatz von Aufwendungen und Bewilligung von Vergütung Vordrucke einzuführen. Soweit Vordrucke eingeführt sind, müssen sich Personen, die die Betreuung
innerhalb der Berufsausübung führen, ihrer bedienen
und als elektronisches Dokument einreichen, wenn
dieses für die automatische Bearbeitung durch das Gericht geeignet ist. Anderenfalls liegt keine ordnungsgemäße Geltendmachung i. S. v. § 1836 Abs. 2 Satz 4
BGB vor. Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die Landesjustizverwaltung übertragen.
Bislang liegen keine Informationen darüber vor, ob in
einzelnen Bundesländern Rechtsverordnungen zur Einführung solcher Vordrucke auf der Grundlage dieser
am 30.04.2004 wirksam gewordenen Gesetzesänderung
in Vorbereitung sind.
Mit Wirkung vom 31.07.2004 wird die Bundesnotarordnung um die §§ 78 a bis 78 c ergänzt. Nach § 78 a
Abs. 1 führt die Bundesnotarkammer ein automatisches
Register über Vorsorgevollmachten (zentrales Vorsorgeregister) ein. In dieses Register dürfen Angaben über
Vollmachtgeber, Bevollmächtigten, die Vollmacht und
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
BETREUUNGSRECHT/ARBEITSRECHT
deren Inhalt aufgenommen werden. Das Bundesministerium der Justiz führt die Rechtsaufsicht über die
Registerbehörde. Nach § 78 a Abs. 2 wird dem Vormundschaftsgericht auf Ersuchen Auskunft aus dem
Register erteilt. Das Bundesministerium der Justiz hat
durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die näheren Bestimmungen über die Einrichtung
und Führung des Registers, die Auskunft aus dem Register und über Anmeldung, Änderung, Eintragung,
Widerruf und Löschen von Eintragungen zu treffen. Die
§§ 78 b sowie 78 c beinhalten Regelungen über Gebühren sowie über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der
Bundesnotarkammer.
Zwecks Förderung der Aufnahme von Vorsorgevollmachten in das zentrale Vorsorgeregister wurde das
Urkundungsgesetz um einen § 20 a ergänzt. Nach dieser Vorschrift soll der Notar auf die Möglichkeit der
Registrierung bei dem zentralen Vorsorgeregister nach
§ 78 a Abs. 1 Bundesnotarordnung hinweisen, wenn er
eine Vorsorgevollmacht beurkundet.
Das zentrale Vorsorgeregister ist bereits voll funktionsfähig und verzeichnet monatlich mehr als 10.000 Neueinträge – mit steigender Tendenz.
Nach derzeitiger Rechtslage können nur Notare
Registereintragungen anmelden. Die Bundesnotarkammer hat erklärt, keine Einwände gegen die Ermöglichung der Eintragung auch privatschriftlicher Vollmachten zu erheben. Es bleibt abzuwarten, ob mit einer
durch das BMJ zu erlassenden Rechtsverordnung auch
die Hinterlegung von nicht notariell beglaubigten Vorsorgevollmachten ermöglicht wird. Nach dem Wortlaut
der endgültigen Fassung des § 78 a Abs. 1 BNotO können ausdrücklich nur Vorsorgevollmachten registriert
werden, also keine Betreuungsverfügungen oder
Patientenverfügungen. Demgegenüber wird auf der
Homepage der Bundesnotarkammer (www.vorsorgeregister.de) nach wie vor über die Registrierfähigkeit
auch von Betreuungsverfügungen informiert. Unproblematisch dürfte dies sein, soweit eine Betreuungsverfügung als nachrangige Option in die Vorsorgevollmacht integriert wird. Im übrigen bleibt abzuwarten,
ob und wie auch die zentrale Registrierung von anderen Vorsorgeverfügungen eröffnet wird. In mehreren
Bundesländern ist die Hinterlegung einer Betreuungsverfügung beim zuständigen Amtsgericht möglich.
(He)
Kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates über die Arbeitszeit
bei Freizeitmaßnahmen
LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.01.2004 – Az 15 TaBV 6/03,
Bestätigung von ArbG Ulm, Beschluss vom 03.06.2003 - Az 5 BV 1/03
Der Betriebsrat einer Lebenshilfe-Einrichtung hatte
beim Arbeitsgericht die Feststellung beantragt, dass ihm
ein Mitbestimmungsrecht zusteht bezüglich Beginn und
Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen für die vom Arbeitgeber bei Ferien-, Wochenendund Kurzfreizeiten eingesetzten Arbeitnehmer. Der
Verein führt u. a. Freizeiten zwischen 3 und 15 Tagen
für behinderte Menschen durch, bei denen diese mit
ihren Betreuerinnen und Betreuern gemeinsam am jeweiligen Urlaubsort untergebracht werden und ihre
Freizeit verbringen. In einer Betriebsvereinbarung waren dafür konkrete Regelungen über Freizeitausgleich
und finanzielle Vergütung festgelegt. Der Betriebsrat hat
geltend gemacht, bei der Teilnahme an diesen Freizeiten handele es sich für die Arbeitnehmer des Vereins
nicht um Freizeit im arbeitsrechtlichen Sinne. Die Betreuung während der Ferienfreizeiten stelle eine Arbeitsleistung dar und damit die Erfüllung der sich aus dem
Arbeitsvertrag ergebenen Arbeitspflicht, auch wenn die
Teilnahme an der Freizeit freiwillig sei. Die Situation
sei vergleichbar mit der bei freiwillig erbrachten Überstunden. Der Betriebsrat sieht einen Regelungsbedarf
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
für Schichtpläne, um die Einhaltung der gesetzlichen
Arbeitszeitbestimmungen sicherzustellen und die Verantwortlichkeiten der im Dienst befindlichen Arbeitnehmer zu regeln. Eine Einschränkung des Mitbestimmungsrechts nach den einschlägigen Vorschriften des
Betriebsverfassungsgesetzes sei nicht gegeben.
Der Arbeitgeber hat sich demgegenüber auf den
Tendenzschutz nach § 118 BetrVG aufgrund seiner
ausschließlich karitativen Zielsetzung berufen. Die Teilnahme der Arbeitnehmer an den Freizeiten sei kein
Dienst und erfolge freiwillig. Für die Dauer der Teilnahme an diesen Freizeiten würden die Beschäftigten
unter Fortzahlung der Bezüge von ihrer sonstigen Arbeit freigestellt. Ein besonders Merkmal der Freizeiten
sei, dass die beteiligten behinderten Menschen und die
Betreuer Urlaub gemeinsam erlebten. Dienstpläne
könnten sinnvollerweise für die Freizeit nicht erstellt
werden, weil vor dem Hintergrund der sozialen Ausrichtung dieser Veranstaltungen die Betreuer praktisch
immer für die benötigte Hilfe zur Verfügung stehen
müssten. Die Gestaltung des Tagesablaufes werde von
79
ARBEITSRECHT
Betreuern und behinderten Menschen jeweils selbst vor
Ort unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten, insbesondere auch des Wetters, festgelegt. Die
Aufstellung eines festen Dienstplanes würde den Charakter als Ferienfreizeit völlig zerstören. Der karitative
Zweck der Freizeiten würde aufgrund eines Mitbestimmungsrechts vereitelt. Der Arbeitgeber meint darüber
hinaus, die Betreuer und die behinderten Menschen
lebten für die Dauer der Freizeit in einer häuslichen
Gemeinschaft, so dass das Arbeitszeitgesetz keine Anwendung finde.
Das LAG hat die erstinstanzliche Zurückweisung des
Antrages des Betriebsrates bestätigt. Der Arbeitgeber
sei nach den abgeschlossenen Heimverträgen nicht zur
Durchführung von Freizeitmaßnahmen verpflichtet. Es
unterliege damit allein der unternehmerischen Entscheidung, ob solche Maßnahmen durchgeführt werden und
wie viele behinderte Menschen jeweils von einem an
der Freizeit teilnehmenden Mitarbeiter betreut werden.
Entgegen der Auffassung des Betriebsrates erfolge die
Betreuung während der Freizeiten nicht in Erfüllung
der sich aus § 611 BGB ergebenden Arbeitspflicht.
Wenn auch die Betreuer auf den Freizeiten teilweise
ähnliche Leistungen wie im betrieblichen Bereich erbrächten, sei das Spektrum der Tätigkeiten für alle Betreuer unabhängig davon, in welchem betrieblichen
Bereich sie ihre vertragliche Arbeitsleistung ansonsten
erbringen, auf Freizeiten erheblich weiter. Ein Vergleich
der freiwilligen Teilnahme an Freizeiten mit freiwillig
erbrachten Überstunden sei verfehlt.
In dem rein karitativen Tendenzunternehmen hätten
die zur Freizeitbetreuung – bei Freistellung von ihren
üblichen arbeitsvertraglichen Pflichten unter Fortzahlung der Vergütung – eingesetzten Beschäftigten
einen der Tendenzträgereigenschaft entsprechenden
Gestaltungsspielraum, weil der gesamte Tagesablauf von
den betreuten Personen und ihren Betreuern jeweils
vor Ort unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten festgelegt werde. Zutreffend verweise die Arbeitgeberin darauf, die Aufstellung eines festen Dienstplanes für die Betreuer würde den Charakter einer
Ferienfreizeit zerstören. Soweit der Betriebsrat meine,
Wanderungen, Gaststättenbesuche und sonstige Aktivitäten könnten auch innerhalb einer geregelten Arbeitszeit durchgeführt werden, verkenne er zum einen,
dass es sich bei den von den Betreuern anlässlich der
Freizeiten erbrachten Leistungen nicht um die nach dem
Arbeitsvertrag geschuldete Arbeitsleistung handele, und
dass sich zum anderen die auf den Freizeiten durchgeführten Aktivitäten hinsichtlich ihres zeitlichen Ablaufes nicht wie eine betriebliche Arbeit planen ließen.
Das LAG folgt der Einschätzung des ArbG Ulm, bei
den Freizeiten handele es sich um tendenzbezogene
80
Maßnahmen im Sinne von § 118 BetrVG: Dem Antragsgegner müsse die Entscheidung vorbehalten bleiben, wie er seinem satzungsgemäßen Auftrag, der „Förderung aller Maßnahmen und Einrichtungen, die eine
wirksame Lebenshilfe für geistig und körperlich Behinderte aller Altersstufen bedeuten“, nachkomme. Die
Entscheidung zum Angebot der Freizeitmaßnahmen
stelle eine tendenzbezogene Maßnahme dar, da sie der
Erfüllung des karitativen Satzungszweckes diene.
Die Ausübung des Beteiligungsrechts des Betriebsrates
nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG würde die Tendenzverwirklichung ernstlich beeinträchtigen. Im Falle der
vorherigen Festlegung der Arbeitszeit der teilnehmenden Betreuer durch Schichtpläne müssten die Freizeiten in Arbeitszeiten und Erholungszeiten geteilt werden. Dies widerspreche jedoch gerade dem Konzept,
ein gemeinsames Urlaubserlebnis von behinderten und
nicht behinderten Menschen zu ermöglichen. Wann
eine tatsächliche Arbeitsleistung und wann lediglich
Bereitschaft zur Erbringung von Arbeitsleistung erforderlich sei, lasse sich aufgrund des Charakters der Ferienzeiten, in denen jeden Morgen erst entschieden werde, was tagsüber gemacht werde, nicht „vorhersagen“.
Der Urlaubscharakter, der gerade nicht auf einen durchgeplanten Tagesablauf ziele, wie er zu Hause in den
Einrichtungen des Vereins erforderlich sei, würde
schwinden, wenn Dienst- und Schichtpläne, die Beginn
und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie Pausen regelten, vom Betriebsrat durchgesetzt werden könnten.
Wenn der Arbeitgeber sich vor dem Hintergrund, dass
er gerade keinen Ablauf - weder in arbeitszeitrechtlicher
noch in finanzieller Hinsicht - wie in den Einrichtungen anbieten könne, dazu entscheide, die Freizeiten nur
dann anzubieten, wenn die Bereitschaft von Arbeitnehmern besteht, in einer gemeinsamen Freizeit mit behinderten Menschen keine Arbeitsleistung, sondern ein
gemeinsames Urlaubserlebnis zu sehen, bei dem die
Betreuung in Anlehnung an § 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG
zum Miteinanderleben gehöre, so könne dieses Konzept nur aufrecht erhalten werden, wenn dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2
BetrVG zustehe. In der Tatsache, dass der gemeinsame
Urlaub als Arbeitszeit angerechnet wird und zudem Ausgleichstage sowie finanzielle Entschädigungen gewährt
werden, sieht das ArbG auch keine Umgehung der Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG). Das Anbieten eines Anreizes an die Arbeitnehmer, an diesen Freizeiten teilzunehmen, ändere nichts an der Entscheidung
des Arbeitgebers, behinderten Menschen ein Urlaubserlebnis überhaupt erst zu ermöglichen, indem behinderte und nicht behinderte Menschen gemeinsam verreisen. Das hierfür über die bloße Arbeitspflicht
hinausgehende und erforderliche soziale Engagement
der Arbeitnehmer solle diesen dabei nicht nachteilig
werden, indem sie finanzielle Einbußen zu gewärtigen
hätten.
(He)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
HEIMGESETZ
Erstattung von Entgelt für Verpflegung bei Heimbewohnern mit
Sondenernährung
Anmerkung zum Urteil des BGH vom 22. Januar 2004, Az. III ZR 68/03
von Prof. Dr. Peter Trenk-Hinterberger
Leitsatz
Zum Anspruch des Heimträgers auf Entgelt für Verpflegung, wenn der Heimbewohner die angebotene
Kostform nicht entgegennimmt, weil er auf Sondennahrung angewiesen ist, die von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert wird.
A. Problemstellung
Die wichtigsten Finanzierungsquellen für die betriebsnotwendigen Aufwendungen der Pflegeheime sind
- der Pflegesatz (mit dem die allgemeinen Pflegeleistungen einschließlich medizinischer Behandlungspflege und sozialer Betreuung vergütet werden, § 84
Abs. 1 SGB XI; zahlungspflichtig ist die pflegebedürftige Person oder ihr Kostenträger, insbesondere die
Pflegekasse bzw. der Sozialhilfeträger), ferner
- das (vom Pflegesatz abgegrenzte) Entgelt für Unterkunft und Verpflegung (sog. Hotelkosten, § 87 SGB
XI; zahlungspflichtig ist die pflegebedürftige Person
bzw. bei Bedürftigkeit der Sozialhilfeträger),
wobei für beide (Pflegesatz und Hotelkosten) in Rahmenverträgen zwischen den Landesverbänden der
Pflegekassen und den Vereinigungen der Träger der
Pflegeeinrichtungen Mindeststandards vereinbart sind
(§ 75 SGB XI).
Rechtsgrundlage für die Geltendmachung des Pflegesatzes und der Hotelkosten gegenüber der pflegebedürftigen Person sind zum einen der Heimvertrag (vgl. § 4e
HeimG; ab 01.01.2002 § 5 Abs. 5 HeimG) für Versicherte der sozialen Pflegever-sicherung), zum anderen
die genannten Rahmenverträge sowie die Pflegesatzvereinbarung (§ 85 SGB XI) und die Hotelkostenvereinbarung (§ 87 SGB XI), die sämtlich für die
Pflegeheimträger verbindlich sind.
Zahlreiche Pflegeheimbewohner können die übliche
Verpflegung („Vollpension“) nicht in Anspruch nehmen,
sondern müssen (nach ärztlicher Verordnung) über eine
Magensonde ernährt werden, weil sie gesundheitlich
oder behinderungsbedingt nicht mehr in der Lage sind,
Nahrung auf dem üblichen Weg zu sich zu nehmen.
Die Kosten für diese Sondenernährung werden von der
gesetzlichen Krankenversicherung getragen (vgl. § 31
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Abs. 1 Satz 2 SGB V); in der Praxis erfolgt dies so, dass
die Heimträger die Sondennahrung unter Nachweis der
ärztlichen Verordnung auf Kosten der zuständigen
Krankenkasse kaufen. Gleichwohl lassen sich die Heimträger die nicht erbrachte Verpflegungsleistung (im Rahmen der oben genannten Rechtsgrundlagen) vergüten.
So war es auch im vorliegenden Fall: Der (inzwischen
verstorbene) Ehemann der Klägerin konnte - als Bewohner eines Pflegeheims - rund 2 1/2 Jahre
behinderungsbedingt nur über eine Magensonde ernährt
werden. Das Pflegeheim erwarb die Sondennahrung zu
Lasten der Krankenkasse (also ohne eigene Kosten) und
erbrachte dann die Sondenernährung durch das Pflegepersonal, berechnete aber dem Ehemann die üblichen
Verpflegungskosten. Der BGH hatte sich nunmehr mit
der Frage zu befassen, ob die Zahlung für eine Leistung
(hier: Verpflegung), die gar nicht erbracht wird, rechtmäßig ist.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin macht als Erbin ihres verstorbenen Ehemannes wegen ersparter Verpflegung für 900 Tage gegen die Beklagte (Trägerin eines Pflegeheims) einen
Anspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812
Abs. 1 Satz 1 BGB) in Höhe von 3.150 Euro nebst Zinsen geltend, weil ihr Ehemann von Beginn seines Heimaufenthalts an - wegen der Sondenernährung - nicht
die normale Verpflegung in Anspruch genommen hatte.
Der III. Zivilsenat des BGH sieht den Anspruch - gemessen an den Normen des BGB, des HeimG und des
SGB XI - für begründet an; nicht gelten lässt er das
Vorbringen der Beklagten, die maßgeblichen Bestimmungen des SGB XI (§ 75 SGB XI: Rahmenvertrag für
die Hotelkosten; § 87 S G B X I: Hotelkostenvereinbarung) sähen eine Entgeltreduzierung wegen der
pauschalen Verabredung der Leistungsinhalte nicht vor
und gestatteten dem Pflegeheim keinen Preisnachlass
für nicht in Anspruch genommene Leistungen:
- Der maßgebliche Rahmenvertrag enthalte zwar - in
Erfüllung des § 75 Abs. 2 Nr. 5 SGB XI - eine Regelung
über Abschläge des Entgelts für Unterkunft und Verpflegung in Fällen vorübergehender ganztätiger Abwesenheit. Es bestünden aber keine Anhaltspunkte dafür,
dass die Beteiligten des Rahmenvertrages über die ausdrückliche Regelung dieses Vertrages hinaus die hier
81
HEIMGESETZ
zu entscheidende Frage hätten regeln wollen, ob auch
im Falle einer von der Krankenkasse finanzierten
Sondennahrung Abschläge beim Entgelt für Verpflegung zu machen seien.
- Ferner würden die hier maßgeblichen Vereinbarungen über Pflegesätze und über Hotelkosten keine Abreden darüber enthalten, wie zu verfahren sei, wenn
die normale Verpflegung aus gesundheitlichen oder
behinderungsbedingten Gründen durch eine Sondenernährung ersetzt werden müsse.
- Den Vorschriften des SGB XI lasse sich schließlich
nicht entnehmen, dass im Interesse der Wirtschaftlichkeit und Berechenbarkeit der Kosten ein System pauschaler Berechnungsgrößen vereinbart sei, für dessen
Anwendung es keine Rolle spiele, ob bestimmte angebotene Leistungen nachgefragt werden oder nicht. Es
sei vielmehr sehr wohl entscheidend, dass der Heimbewohner die benötigten Leistungen tatsächlich erhält,
wobei speziell für die Verpflegungsaufwendungen Folgendes zu beachten sei: Das Heim sei, um geordnet
wirtschaften zu können, nicht darauf angewiesen, dass
jeder Heimbewohner seine Mahlzeiten täglich einnimmt. Könne das Heim sich, wie in Zeiten längerer
Abwesenheit, darauf einstellen, dass die Verpflegung
nicht abgenommen wird, erleide es bei einer Reduzierung des Entgelts keine Einbußen, weil es sich beim
Einkauf der Lebensmittel entsprechend einrichten könne. Gleiches gelte, wenn - wie hier - aus gesundheitlichen Gründen über eine längeren Zeitraum nur eine
Sondenernährung vorgenommen und die im Heimvertrag vorgesehene Kostform nicht verabreicht werden könne.
- Auch wenn der vorliegende Heimvertrag die Hotelkosten (Unterkunft und Verpflegung) in einem Kostenblock (vgl. § 4e HeimG; ab 01.01.2002 § 5 HeimG)
zusammenfasse, käme es sehr wohl darauf an, ob in
diesem einheitlichen Kostenblock überhaupt Verpflegung gewährt werde.
- Würden mithin die Vorschriften des HeimG und des
SGB XI die hier zu entscheidende Frage nicht zum
Nachteil der Klägerin beantworten, sei der Rückgriff
auf § 615 Satz 2 BGB nicht verschlossen, weil der
Schwerpunkt der im Heimvertrag übernommenen
Pflichten im dienstvertraglichen Bereich liege. Aus
§ 615 Satz 2 BGB folge aber, dass sich die Beklagte die
Ersparnisse bei der Verpflegung anrechnen lassen müsse. Auch wenn man den hier maßgeblichen Heimvertrag
dahin auslege, dass er eine Klausel enthalte, die eine
Entgeltreduzierung ausschließe, so sei diese vorformulierte Vertragsklausel (im Sinne einer allgemeinen Geschäftsbedingung) aufgrund der dann gebotenen Inhaltskontrolle unangemessen und unwirksam,
weil dieser Klausel Grundprinzipien des bürgerlichen
Rechts entgegenstünden und der durch § 87 SGB XI
82
grundsätzlich vorgesehene Schutz des Heimbewohners
unvollkommen wäre.
- Schließlich bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin und ihrem Ehemann die im Hinblick auf das Zusammenwirken der Vorschriften des
BGB, des Heimgesetzes und des SGB XI komplizierte
Rechtslage im Zeitpunkt der Zahlung des Heimentgelts
bereits bekannt war; für die Prüfung eines Ausschlusses des Bereicherungsanspruchs nach § 814 BGB bestünde damit kein Anlass.
C. Kontext der Entscheidung
Das Urteil des III. Zivilsenats, das zum ersten Mal
höchstrichterlich die komplexe Gemengelage zwischen
Heimvertragsrecht, BGB und SGB XI sehr sorgfältig
analysiert und elementaren Grundprinzipien des BGB
im Rahmen des heim- und sozialrechtlichen Normengefüges zum Durchbruch verhilft, gelangt zu einer überzeugenden Lösung, die der bislang gängigen Praxis einen Riegel vorschiebt: Obwohl viele Pflegebedürftige
auf die „Vollpension“ verzichten mussten und ihre
Sondennahrung von der Krankenkasse bezahlt wurde,
verweigerten die Heimträger eine selbst geringe Kostenreduzierung kategorisch und berechneten hilflosen,
meist bettlägerigen Menschen eine Verpflegungsleistung, die gar nicht erbracht wurde.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Pflegeheime müssen künftig darauf verzichten, bei
sondenernährten pflegebedürftigen Heimbewohnern
Verpflegungskosten zu verlangen. Die Heimverträge
werden entsprechend geändert werden müssen; denkbar wäre auch eine entsprechende Ergänzung der Rahmenverträge (§ 75 Abs. 2 SGB XI). Offen bleibt freilich, in welchen Fällen, für welche Zeiträume und in
welchem Umfang allgemein (also unabhängig von
Sondenernährung) nicht in Anspruch genommene Verpflegung vom Pflegeheim gutzuschreiben ist.
Darüber hinaus werden sich die Pflegeheime zahlreichen Klagen auf Rückerstattung für die Vergangenheit
(von gezahlten, aber nicht in Anspruch genommenen
Verpflegungskosten) wegen ungerechtfertigter Bereicherung ausgesetzt sehen, die sie in nicht geringe finanzielle Schwierigkeiten bringen dürften: Es gibt Pflegeheime, in denen 100 und mehr sondenernährte Heimbewohner leben. Man kann sich vorstellen, welche Summen auf die Heimträger hier zukommen.
(Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in Juris Praxisreport Sozialrecht, Ausgabe 14/2004 vom 01.04.2004)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
HEIMGESETZ
Zur Abgrenzung eines Heimes vom Betreuten Wohnen
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.06.2003 – Az: 14 S 2775/02
Streitig ist, ob der Betrieb der Klägerin unter den Geltungsbereich des Heimgesetzes fällt.
Bei Besichtigungen durch die Heimaufsichtsbehörde
hatte diese festgestellt, dass in der Einrichtung auch
pflegebedürftige und bettlägerige Personen untergebracht sind. Die Klägerin hatte geltend gemacht, dass
die überwiegende Zahl der Bewohner nicht pflegebedürftig sei und die Pflegeleistungen von auswärtigen
Pflegediensten erledigt würden. Sie biete lediglich ”Betreutes Wohnen” an.
Daraufhin untersagte die zuständige Behörde der Klägerin den Betrieb, der hiergegen erhobene Widerspruch
wurde zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im
Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei der Einrichtung um ein Heim i.S. von § 1 Heimgesetz handele.
Nach der Neufassung des Heimgesetzes sei für Kurzzeitheime nicht erforderlich, dass dort auch gepflegt
werde. Es genüge, dass eine heimmäßige Betreuung und
Verpflegung zur Verfügung gestellt oder vorgehalten
würde. Die Betreuungsleistungen der Klägerin gingen
über den sog. Grundservice, wie er für Einrichtungen
des Betreuten Wohnens typisch sei, hinaus.
Das VG Stuttgart hat mit Urteil vom 08.11.2002 (Az.
10 K 1340/02) die Klage gegen die Untersagungsverfügung abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht u.a. ausgeführt, dass für das Vorliegen eines Heimes bereits Alter und Gesundheitszustand der
Bewohner sprächen. Hinsichtlich der Pflege und der
Betreuung bestünde eine Situation wie im Heim. Die
Bewohner seien darauf angewiesen, Leistungen zu erhalten, die erheblich über die beim Betreuten Wohnen
zu erwartenden Leistungen hinausgingen. Dem entspreche auch das von den Bewohnern zu leistende Entgelt.
In der Berufungsbegründung hat die Klägerin vorgetragen, dass eine Betreuungspauschale nicht vereinbart
sei. Das Haus weise keine heimmäßige Ausstattung auf,
noch finde eine Tagesstrukturierung statt. Für die Einordnung einer Einrichtung als Heim seien schließlich
die Pflegestufen der Bewohner irrelevant. Ihren Bedürfnissen werde durch die von diesen eingeschalteten ambulanten Pflegediensten Rechnung getragen.
gesetz für ein Heim konstitutiven Merkmalen wären
die Entgeltlichkeit des Betriebs und die Unabhängigkeit von Wechsel und Zahl der Bewohner erfüllt. Eine
Wohngemeinschaft liege nicht vor, denn diese beruhe
immer auf einem gemeinsamen Willensentschluss ihrer Mitglieder. Im vorliegenden Fall hätten die Bewohner des Hauses auf die personelle Zusammensetzung
keinen bestimmenden Einfluss.
Der Einrichtungszweck ist entscheidend
Der Einrichtungszweck sei unter Beachtung der konkreten Betriebsform nach objektiven Merkmalen, die
den schutzwürdigen Erwartungshorizont der Bewohner und der Angehörigen maßgeblich mitbestimmen,
festzustellen. Subjektive Vorstellungen und Selbsteinschätzungen der Betreiber seien unerheblich. Es komme auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Danach sei
die Einrichtung der Klägerin auf den in § 1 Abs. 1 Heimgesetz genannten Personenkreis zugeschnitten und die
Einrichtung decke das gesamte für ein Heim kennzeichnende Leistungsspektrum ab. Zum Leistungsumfang der
Klägerin gehöre auch Betreuung. Betreuung sei als
Oberbegriff zu verstehen und schließe die Pflege ein.
Eine andere Beurteilung sei auch nicht deshalb gerechtfertigt, soweit die pflegebedürftigen Bewohner externe
Pflegedienste in Anspruch nähmen. Denn hierdurch sei
der allgemeine Betreuungs- und Pflegebedarf noch nicht
vollständig gedeckt. Die Klägerin selbst habe in der
mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie den Bewohnern ein Zuhause gebe. Dies sei bei pflegebedürftigen
und behinderten Menschen ohne individuelle Betreuung nicht möglich.
Zudem bestehe im Haus der Klägerin nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit einer eigenständigen Haushaltsführung. Schließlich übersteige der Kostenanteil
für die Betreuung den in der Gesetzesbegründung als
Orientierungswert genannten Prozentsatz von 20 % bei
weitem. Bei einer Gesamtwürdigung sei festzuhalten,
dass die von der Klägerin erbrachten Betreuungsleistungen deren Einrichtung das für ein Heim bestimmende Gepräge geben.
Anmerkung
Der VGH hat die Berufung zurückgewiesen und das
erstinstanzliche Urteil bestätigt. Die Untersagung des
Heimbetriebs sei rechtmäßig, da die von der Klägerin
betriebene Einrichtung dem Anwendungsbereich des
Heimgesetzes unterfalle. Diese erfülle die in § 1 Abs. 1
Heimgesetz genannten tatbestandlichen Voraussetzungen eines Heims. Von den gemäß § 1 Abs. 2 HeimRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Mit mehreren rechtlichen Vorgaben hat der Gesetzgeber
im Rahmen des dritten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes zum 01.01.2002 Heime vom Betreuten Wohnen
abgegrenzt. Im Interesse einer Entwicklungsoffenheit hat
der Gesetzgeber allerdings auf eine klare Definition des
Begriffs des Betreuten Wohnens verzichtet.
83
HEIMGESETZ/STEUERRECHT
Nach der Abgrenzungsvorschrift des § 1 Abs. 2 Heimgesetz begründet die Tatsache, dass ein Vermieter von
Wohnraum durch Verträge mit Dritten oder auf andere
Weise sicherstellt, dass den Mietern Betreuung und
Verpflegung angeboten werden, noch nicht die Anwendung des Heimgesetzes. Selbst die vertragliche Verpflichtung, allgemeine Betreuungsleistungen von bestimmten Anbietern anzunehmen, führt nicht zur
Anwendung des Heimgesetzes, wenn das dafür zu zahlende Entgelt (Pauschale für Betreuungsleistungen) im
Verhältnis zur Miete von untergeordneter Bedeutung
ist. Das Heimgesetz ist allerdings ausnahmslos dann
anzuwenden, wenn eine vertragliche Verpflichtung der
Mieter besteht, sowohl die Verpflegungs- als auch andere Betreuungsleistungen von bestimmten Anbietern
abzunehmen.
(Sch)
Aufwendungen für Aufzug keine ”außergewöhnliche Belastung”
im Sinne des Einkommenssteuergesetzes
FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.01.2004 – Az: 2 K 1430/03
Gegenstand der Klage ist, ob Aufwendungen von
182.482,11 DM für eine Fahrstuhlanlage im selbstbewohnten Einfamilienhaus als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigungsfähig sind.
Der Kläger erhält als Ruhestandsbeamter Versorgungsbezüge von 152.566 DM. Er ist mit einem GdB von
100 ständig hilflos und pflegebedürftig. Zusammen mit
seiner Ehefrau bewohnt er seit 1971 ein in steiler Hanglage gelegenes Einfamilienhaus, das etwa 10 m über
Straßenniveau liegt. Der Hauszugang von der Straße
aus ist nur über eine steile und schmale Außentreppe
zu erreichen. Der Kläger ist außer Stande, die Außentreppe zu benutzen. Nach Ausschluss aller anderen
Möglichkeiten errichteten die Eheleute einen Außenaufzug, der mit einem Gewicht bis zu 250 kg belastet
werden kann. Er ist zum Transport entweder für eine
Person sowie für eine weitere Person mit einem Rollstuhl oder für drei Personen zugelassen. Die gesamten
Baukosten einschließlich umfangreicher Hangsicherungsmaßnahmen beliefen sich auf 187.482,11
DM. Der Kläger machte im Rahmen der Veranlagung
für das Jahr 2001 vergeblich den Betrag von 182.482,11
DM als außergewöhnliche Belastung geltend.
Die beim Finanzgericht erhobene Klage wurde als unbegründet zurückgewiesen.
Die geltend gemachten Aufwendungen für die
Fahrstuhlanlage sind danach steuerlich nicht zu berücksichtigen. Nach Auffassung des Gerichts sind die Voraussetzungen der Anspruchsnorm des § 33 Abs. 1 EStG
nicht erfüllt, da es an einer ”Belastung” sowie an der
”Außergewöhnlichkeit” der Aufwendungen fehlt. Nach
st. Rechtsprechung - so das Gericht - liege eine ”Belastung” im Sinne des § 33 Abs. 1 EStG nicht vor, wenn
der Steuerpflichtige Gegenstände anschaffe oder herstellen lasse, die einen wirtschaftlich messbaren Gegenwert oder einen nicht nur vorübergehenden wirtschaftlichen Vorteil zu den aufgewandten Kosten
84
darstellten, also eine gewisse Marktfähigkeit besäßen.
Dies sei bei medizinischen Hilfsmitteln nicht der Fall,
da diese ausschließlich dem Erkrankten zu dienen bestimmt seien und nicht auch von Dritten benutzt würden. Dagegen könnten die Mehraufwendungen wegen
der behindertengerechten Gestaltung eines für den eigenen Wohnbedarf errichteten Hauses nur dann ”außergewöhnliche Belastungen” sein, wenn eine eindeutige und anhand objektiver Merkmale durchgeführte
Unterscheidung zwischen den steuerlich irrelevanten
Motiven für die Errichtung und Gestaltung eines Hauses und den ausschließlich durch eine Krankheit oder
einen Unfall verursachten Aufwendungen möglich sei,
und wenn ausgeschlossen sei, dass die durch diese Aufwendungen geschaffenen Einrichtungen jeweils wertbildende Faktoren für das Haus darstellen könnten. Dies
werde etwa bei einem Treppenschräglift anerkannt, da
dieser quasi Ersatz für einen Rollstuhl auf einer Treppe, also medizinisches Hilfsmittel darstelle. Für den hier
streitbefangenen Fahrstuhl komme dies allerdings nicht
in Betracht. In Anbetracht der Steilheit der Treppe und
ihrer Vielzahl von Stufen sei davon auszugehen, dass
zumindest im Winter bei Schnee oder Glatteis oder bei
einem Einkauf der Fahrstuhl auch von der Ehefrau des
Klägers bzw. auch von Besuchern des Grundstücks genutzt werde. Um ein rein medizinisches Hilfsmittel allein für den Kläger handele es sich bei dieser Anlage
nicht. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Fahrstuhl einen werterhöhenden Faktor bilde, der sich bei
Verkauf des Grundstücks entsprechend auswirke. Denn
hierdurch werde auch älteren und gehbehinderten Menschen das dortige Wohnen, nämlich in Hanglage, erst
ermöglicht.
Die Aufwendungen seien auch nicht ”außergewöhnlich” - so fährt das Gericht fort -, denn viele ältere
Menschen veräußerten schwer zugängliche Wohngebäude mit großen Gartengrundstücken, um ebenerdig
wohnen zu können, weil ihnen das Ersteigen von TrepRechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
STEUERRECHT/KINDERGELD
pen bzw. die Gartenpflege aus Altersgründen nicht mehr
möglich sei. Daher erscheine unabhängig von der
Krankheit des Klägers der Einbau eines Fahrstuhls im
Hinblick auf das Alter der Ehefrau des Klägers von 68
Jahren nicht außergewöhnlich. Schließlich werde hierdurch auch der Klägerin ermöglicht, im Alter das Wohngebäude weiter nutzen zu können.
Eine Berufung wurde nicht zugelassen.
(Di)
Hilfe zum Lebensunterhalt ist beim Kindergeld anrechenbar
BFH, Urteil vom 26.11.2003 – Az: VIII R 32/02
Streitig ist, ob für ein erwachsenes behindertes Kind
(Grad der Erwerbsminderung 80 v.H.), das bei seinem
Vater lebt und Sozialhilfeleistungen in Form der Hilfe
zum Lebensunterhalt erhält, Anspruch auf Kindergeld
besteht. Die Familienkasse hatte dies verneint, das FG
Münster den Anspruch mit Urteil vom 26. März 2002
bejaht (Az. 15 K 5612/98 KG). Nach Ansicht des FG
führt die Sozialhilfe nicht dazu, dass der Kindergeldanspruch entfällt. Hilfe zum Lebensunterhalt stelle nach
der Systematik des Einkommenssteuerrechts keinen anrechenbaren Bezug dar.
Der Bundesfinanzhof hat die Vorentscheidung aufgehoben. Ein Anspruch auf Kindergeld bestehe nicht, da
das behinderte Kind imstande sei, sich selbst zu unterhalten. Der Qualifizierung einer Sozialleistung als Bezug i. S. d. § 32 Abs. 4 EStG stehe nicht entgegen, dass
die Sozialleistung nicht in § 32 b Abs. 1 Nr. 1 EStG
aufgeführt sei. Die steuerfreie Hilfe zum Lebensunterhalt sei den eigenen Bezügen des Kindes zuzuordnen.
Etwas anderes müsse unter Berücksichtigung des
Zweckes des Kindergeldes nur dann gelten, wenn die
Eltern des Kindes vom Sozialhilfeträger in Regress genommen würden. Das Kindergeld diene der steuerlichen Entlastung der Eltern. Diesem Zweck würde es
zuwiderlaufen, wenn bei den Bezügen eines Kindes
dessen Rechtsanspruch gegen seine Eltern auf Zahlung
von Unterhalt erfasst würde. Dann dürften auch sol-
che Leistungen Dritter nicht als Bezüge des Kindes
angesehen werden, die zu einer Belastung der Eltern
führten, weil der Sozialleistungsträger aufgrund seiner
Leistungen an das Kind einen Regressanspruch gegen
die Eltern habe.
Schließlich finde die Auffassung des Sozialhilfeträgers,
die Hilfe zum Lebensunterhalt bei der Prüfung, ob ein
volljähriges Kind außerstande sei, sich selbst zu unterhalten, generell außer Acht zu lassen, weder im EStG
noch im BSHG eine gesetzliche Grundlage. Sie lasse
sich auch nicht aus der Gesetzessystematik ableiten.
Da das erwachsene behinderte Kind aufgrund der
Sozialhilfeleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt) imstande war, sich selbst zu unterhalten, habe dem Vater
kein Anspruch auf Kindergeld zugestanden.
Anmerkung
Es ist davon auszugehen, dass für die Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
nach dem Grundsicherungsgesetz die gleichen Grundsätze gelten. Die Grundsicherung ist an die Stelle der
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG getreten.
Die dem volljährigen behinderten Kind gewährten
Grundsicherungsleistungen sind für die Prüfung, ob das
Kind außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, zu
berücksichtigen.
(Sch)
Beim Kindergeld für volljährige behinderte Kinder ist auf den
Kalendermonat abzustellen
BFH, Urteil vom 04.11.2003 – Az: VIII R 43/02
Die seit 1990 verwitwete Klägerin bezieht für ihre 1964
geborene und seit Geburt dauerhaft behinderte Tochter Kindergeld. Die Tochter ist in einer Werkstatt für
behinderte Menschen beschäftigt und erhielt im Jahre
2001 ein monatliches Arbeitsentgelt von ca. 350 DM.
Im Mai 2001 erhielt die Tochter rückwirkend eine
Nachzahlung der ihr zustehenden Waisenrente für den
Zeitraum Januar 1995 bis Dezember 2000 von insgesamt ca. 44.200 DM. Der Klägerin und ihrer Tochter
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
war zunächst nicht bekannt gewesen, dass der Tochter
eine Halbwaisenrente zustand. Der Beklagte änderte
daraufhin die bisherige Kindergeldfestsetzung und setzte das Kindergeld ab Januar 2001 auf 0 fest. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung begründete der Beklagte damit, dass das Einkommen der Tochter aufgrund
der Nachzahlung des Waisengeldes den kindergeldschädlichen Jahresgrenzbetrag übersteige. Angesichts
der im Mai 2001 erfolgten Rentennachzahlung und des
seit Januar 2001 monatlich laufend gezahlten Waisen85
KINDERGELD
geldes in Höhe von ca. 715 DM brutto sei die Tochter
fähig, sich selbst zu unterhalten. Die Einkommensgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz
(EStG) gelte auch für behinderte Kinder.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, dass der
in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genannte Jahresgrenzbetrag
nicht behinderte Kinder erfasse. Zudem ergebe sich eine
finanzielle Bestrafung, wenn die nachgezahlte Waisenrente bei der Einkommensgrenze berücksichtigt werde.
Das Schleswig-Holsteinische FG hat mit Urteil vom
22. April 2002 (Az. II 319/01) der Klage stattgegeben.
Es hatte entschieden, dass die behinderte Tochter außer Stande sei, sich selbst zu unterhalten, da die im
Jahre 2001 erfolgte Nachzahlung der Waisenrente außer Ansatz bleiben müsse.
Die Revision führte zur teilweisen Aufhebung der Vorentscheidung. Nach Ansicht des BFH hat der Beklagte
die Kindergeldfestsetzung für die Monate Juni bis Dezember 2001 zu Recht aufgehoben. Der Klägerin stehe
für diesen Zeitraum kein Kindergeldanspruch für ihre
Tochter zu, da diese während dieser Monate nicht aufgrund ihrer Behinderung außer Stande gewesen sei, sich
selbst zu unterhalten.
Entgegen der Auffassung der Klägerin sei die Nachzahlung der Waisenrente in voller Höhe im Jahr des
Zuflusses zu erfassen. Eine Verteilung des Rentenbetrages auf den Zeitraum, für den er gezahlt wurde,
komme nicht in Betracht. Insoweit gelte das Zuflussprinzip.
Der gesamte existenzielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes setze sich aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf ) und dem individuellen
behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das
Jahr 2001 sei der Grundbedarf mit 14.040 DM zu bemessen. Erbringe der Steuerpflichtige bezüglich des
individuellen behinderungsbedingten Mehraufwandes
keinen Einzelnachweis, könne der maßgebliche
Behindertenpauschbetrag als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen. Die in diesem Zusammenhang
anzustellende Berechnung habe nach dem Monatsprinzip zu erfolgen. Zum einen werde die für behinderte Kinder maßgebliche Vorschrift des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG von der Jahresgrenzbetragsregelung
nicht erfasst. Zum anderen sei das Kindergeld als ein
Monatsbetrag bezeichnet und werde gemäß § 66 Abs.
2 EStG vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die
Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien, bis zum Ende
des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen
86
wegfielen. Der erkennende Senat habe daraus den
Schluss gezogen, dass der Gesetzgeber das für die Einkommensteuer grundsätzlich maßgebliche Jahressteuerprinzip für das Kindergeld durchbrochen habe, so dass
auf das Monatsprinzip abzustellen sei.
Das der 6. Senat des BFH in seinen Grundsatzurteilen
vom 15.10.19 99 (RdLh 1/2 000, S. 42 ff.) den
Jahresgrenzbetrag für entsprechend anwendbar erklärt
habe, habe nicht zur Folge, dass die in § 32 Abs. 4 Satz
2 EStG angeordnete Abweichung vom Monatsprinzip
auch für behinderte Kinder i. S. v. § 32 Abs. 4 Nr. 3
EStG gelten solle.
Bei Anwendung dieser Grundsätze sei davon auszugehen, dass die Tochter im Jahre 2001 nur in den Monaten Januar bis einschließlich Mai zum Selbstunterhalt
außerstande gewesen sei. Die ab Januar 2001 monatlich gewährte Waisenrente versetze die Tochter nicht
in den Stand, sich selbst unterhalten zu können. Die
Nachzahlung könne sich erst im Juni 2001 auswirken,
weil das Kindergeld gemäß § 66 Abs. 2 EStG bis zum
Ende des Monats gezahlt werde, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfielen.
Anmerkung
Die Entscheidung kann nur teilweise überzeugen. Zum
einen spricht sich der 8. Senat des BFH für das Monatsprinzip aus, wenn es um die Prüfung geht, ob ein volljähriges behindertes Kind außer Stande ist, sich selbst
zu unterhalten. Auf der anderen Seite wird mittelbar
das Jahresprinzip herangezogen, da das Gericht offensichtlich davon ausgeht, dass das Kind infolge der
Rentennachzahlung bis zum Jahresende imstande ist,
sich selbst zu unterhalten. Eine direkte oder analoge
Anwendung des in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG angeordneten Jahresprinzips hätte zur Folge gehabt, dass der Klägerin für das gesamte Jahr 2001 kein Kindergeld für
ihre behinderte Tochter zugestanden hätte.
Diese Sichtweise führt dazu, dass es für Kindergeldberechtigte vorteilhaft ist, wenn ihre volljährigen behinderten Kinder größere Nach- oder Einmalzahlungen
am Ende eines Kalenderjahres erhalten. Denn in den
Folgejahren darf die Nachzahlung nicht mehr zum
Ausschluss des Kindergeldanspruchs führen. Die Nachzahlung ist dann ggf. als nichtberücksichtigungsfähiges
Vermögen zu bewerten (vgl. Urteile des BFH vom
19.08.2002 – Rechtsdienst der Lebenshilfe Nr. 1/03,
S. 37 f.). Berücksichtigt werden dürfen jedoch Zinserträge, falls die Nachzahlung angelegt wurde.
(Sch)
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
RECHT UND ETHIK
Übersicht: Parlamentarisch-politische Beratungen im Bereich
Gentechnik und (Bio-)Medizin
Themenfelder im Überblick
Die Dynamik der ”Bioethikdebatte” scheint ungebrochen, und die Bandbreite der im Bereich Gentechnologie und Biomedizin geführten Diskussionen ist kaum
noch zu überschauen. Eine ”Übersicht” kann daher
nicht vollständig sein, sie muss sich beschränken. Im
Blick sind im Folgenden daher nur Themenfelder, die
im politisch-parlamentarischen Diskurs verankert sind.
Entsprechend behandelt werden derzeit Fragen der
Stammzellforschung (hier: Erörterungen über den Bestand des Stammzellgesetzes), das geplante Gentestbzw. Gendiagnosegesetz (gekoppelt mit Detailfragen der
Pränataldiagnostik; ein Regierungsentwurf soll im
Herbst 2004 vorliegen), Diskussionen über die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen (aktuell in der
Zwölften Novelle des Arzneimittelgesetzes), die Problematik der ”Biopatente”, der Streit um eine Zulassung
der Präimplantationsdiagnostik (FDP-Gesetzentwurf
vom 24.06.2003, BT-Drucks. 15/1234), Fragen der Verschärfung des Embryonenschutzgesetzes bzw. des
Stammzellgesetzes, Gedanken über eine Reform der
Regelungen zur Spätabtreibung (Antrag der CDU/CSUFraktion, BT-Drucks. 15/1566) und Debatten über (aktive) Sterbehilfe.
Gemeinsame Klammer dieser Entwicklungen ist der
offensichtliche Druck, den Forderungen nach ”Liberalisierung” und ”Marktöffnung” nachzugeben. Der Bestand einmal festgelegter Grenzen erscheint damit geschwächt, Kampagnen für eine restriktive Ausrichtung
der Politik auf dem Gebiet der Genmedizin sind immer wieder in der Defensive (vgl. Gisela Klinkhammer,
Klonen/Stammzellen II. Politische Trendwende [vorerst] nicht in Sicht, Deutsches Ärzteblatt vom 23. April
2004, A-1136 f.).
Die Vielzahl der angesprochenen Fragestellungen
täuscht über den Umstand hinweg, dass die parlamentarischen Aktivitäten auf dem Feld der Biomedizin die
oben beschriebene Dynamik nur teilweise widerspiegeln. Ein Grund hierfür mag sein, dass die Gentechnikdebatte derzeit von den gesundheits- und sozialpolitischen Reformdiskussionen überlagert wird (vgl.
Reinhard Damm, Gesetzgebungsprojekt Gentestgesetz
– Regelungsprinzipien und Regelungsmaterien, MedR
2004, 19).
Details
Zu benennen sind zunächst aktuelle Gesetzgebungsvorhaben mit Bezügen zur Bioethikdebatte, so die
Biopatentgesetzgebung und die Novelle des AMG.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Mit dem ”Biopatent-Gesetz” (BT-Drucks. 15/1709, erste Lesung im Bundestag: 11. März 2004) soll die Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz
biotechnologischer Erfindungen – EG-Biopatentrichtlinie – in nationales Recht umgesetzt werden. Die
Richtlinienumsetzung ist in europäischen Ländern bis
heute nur zögerlich erfolgt – umgesetzt haben etwa
Dänemark, Spanien und Großbritannien, obschon nach
der erfolglosen Nichtigkeitsklage der Niederlande bzw.
mit dem entsprechenden EuGH-Urteil vom 9. Oktober 2001 (NJW 2002, 2455) die Rechtmäßigkeit der
Richtlinie bestätigt und damit Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland mit Blick auf die abgelaufene Umsetzungsfrist (30. Juli 2000, vgl. Artikel 15 Abs. 1 Satz
1 der Richtlinie) endgültig in Verzug geraten sind. Bislang haben nur sechs von 15 Staaten das Regelwerk
entsprechend der Vorgaben in nationales Recht transformiert. Wachsender Druck, so das im Dezember 2002
von der Kommission gegen Deutschland eingeleitete
Vertragsverletzungsverfahren, hat in Deutschland nicht
zu einem Ende der Diskussion über die Umsetzung
geführt. Im Kern ungeklärt ist die Auseinandersetzung
um die Frage, inwieweit Erkenntnisse der gentechnischen Forschung patentierbar sind und sein sollen. Im Detail geht es um den patentrechtlichen Stoffschutz, ”der nicht […] auf die Patentierung eines
technischen Procederes, sondern eines chemischen
Stoffes als solchem zielt”, und der für die Genforschung
die Frage aufwirft, ob ”auch ein Gen oder eine Gensequenz unter bestimmten Voraussetzungen patentiert
werden kann” (Tade M. Spranger, Die Biopatent-Debatte – kein Ende in Sicht?, in: Zeitschrift für Biopolitik
2003, 85 f.). Unter dem Schlagwort ”Patente auf Leben” sehen die Kritiker in der Patentrichtlinie eine
Monopolisierung des Humangenoms und deshalb eine
Gefährdung individueller Rechtspositionen. Gerade in
diesem wesentlichen Punkt konnte bisher keine Einigung erzielt werden. Die Frage des Stoffschutzes wird
daher im weiteren parlamentarischen Verfahren, dessen Ende nicht absehbar ist, eine Rolle spielen.
Mit der aktuellen Novelle des Arzneimittelgesetzes (vgl.
RdLh 2003, 185; 2004, 42) wird die EU-Richtlinie über
die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der klinischen Prüfung von Humanarzneimitteln umgesetzt.
Umstritten in dem Gesetz war und ist vor allem die
Aufnahme der ”gruppennützigen Forschung” und in
diesem Zusammenhang die Entwürfe der neuen §§ 4042 AMG, mit denen die Anforderungen an die Zulässigkeit klinischer Prüfung von Arzneimitteln am Menschen umgesetzt werden (Einzelheiten: RdLh 2003,
a. a. O.).
87
RECHT UND ETHIK
Bedeutsam sind darüber hinaus geplante, genauer: noch
nicht konkretisierte Gesetzesvorhaben. An erster Stelle zu nennen ist das Konzept für ein Gentest- bzw. Gendiagnostik-Gesetz (dazu RdLh 2003, 85; Damm, a. a.
O., 1 ff.). Das Gesetz soll die Zulässigkeit und Durchführung genetischer Untersuchungen am Menschen
sowie die Erhebung und Weitergabe genetischer Daten
regeln. Das fachlich in dieser Sache federführende Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat
einen entsprechenden Entwurf mehrfach angekündigt.
Der zuletzt aktuelle Termin (April 2004) ist jedoch nicht
eingehalten worden; neuerdings wird auf den Herbst
dieses Jahres verwiesen, wenngleich die Fülle der zu
regelnden Sachfragen und gesetzgeberische Passivität
im Bereich der Gentechnologie vermuten lassen, dass
an einer Umsetzung des Projekts noch in dieser Wahlperiode zu zweifeln ist (vgl. auch Damm, a. a. O., 19).
Eine Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik
(PID) ist derzeit nicht zu erwarten (Überblick zum aktuellen Diskussionsstand: Rudolf Ratzel, Zulässigkeit
der Präimplantationsdiagnostik?, GesR 2004, 77 ff.).
In diesem Punkt scheint die FDP mit ihrem Gesetzentwurf (vgl. dazu RdLh 2003, 136) noch immer alleine
zu stehen. An diesem Befund ändert auch nicht, dass
sich der Nationale Ethikrat in seinem Mehrheitsvotum
vom 23. Januar 2003 (vgl. RdLh 2003, 40 f.) für eine
begrenzte Zulassung der PID ausgesprochen hat.
Ebenfalls noch immer in der Diskussion ist das Projekt
eines ”Fortpflanzungsmedizingesetzes”. Diese Debatte
begann bereits vor zehn Jahren mit der Übertragung
der Gesetzgebungskompetenz für die assistierten
Reproduktionstechnologien von den Ländern auf den
Bund im Jahre 1994 (vgl. Damm, a. a. O., 4). Dahinter
stand die Absicht, ein umfassendes ”Fortpflanzungsmedizingesetz” zu erlassen, mit dem alle medizinrechtlichen Fragen der Reproduktionsassistenz geregelt
werden. Bereits in den Jahren 1996/1997 befasste sich
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Federführung
des Bundesministeriums für Gesundheit mit der Erarbeitung eines solchen Gesetzes, ohne jedoch zu einem
Ergebnis zu kommen. Das Bundesministerium für Gesundheit legte im Dezember 2000 ein ”Eckpunktepapier” für ein Fortpflanzungsmedizingesetz vor, das
in der Folgezeit allerdings nicht weiter verfolgt wurde.
Ungeachtet unterschiedlicher Stellungnahmen zu einzelnen Fragen der modernen Biomedizin haben zudem
sowohl die Enquetekommission ”Recht und Ethik der
Modernen Medizin” (2002) als auch der Nationale
Ethikrat (2003) empfohlen, die Techniken assistierter
Reproduktion in einem speziellen ”Fortpflanzungsmedizingesetz” zu regeln. Derzeit wird jedoch von keiner der im Bundestag vertretenen Fraktionen dieses
Gesetzgebungsprojekt aktiv vorangetrieben (vgl. auch
Klinkhammer, a. a. O., A. 1137).
88
Eine dritte Gruppe parlamentarischer Initiativen betrifft Debatten um die Revision bereits abgeschlossener Gesetzgebungen. Hierzu zählen der (wiederholte)
Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion betreffend
”Spätabtreibung” (BT-Drucks. 15/1566), die Diskussionen um eine Novellierung des von manchen als zu
streng kritisierten Embryonenschutzgesetzes (vgl. dazu
Damm, a. a. O., 4) sowie immer neue Überlegungen,
auch die erst 2002 im Stammzellgesetz erfolgten Regelungen einer neuerlichen Überprüfung zu unterziehen
(auch hierzu: Klinkhammer, a. a. O., vgl. ferner: Friedhelm Hufen, Erosion der Menschenwürde?, in: JZ 2004,
318). So hat Bundeswirtschaftsminister Wolfgang
Clement erst vor wenigen Wochen (vgl. FAZ vom 3.
Mai 2004, 39) die Überprüfung der im Stammzellgesetz
(BGBl. 2002 I, 2277) festgelegten ”Stichtagsregelung”
gefordert, in der die ausnahmsweise gestattete Verwendung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken
auf solche Zelllinien beschränkt wird, ”die vor dem 1.
Januar 2002 gewonnen wurden” (§ 4 Abs. 2 Ziffer 1. a]
StZG). Auch wenn, wie auch schon bei entsprechenden Überlegungen der Bundesjustizministerin im Oktober letzten Jahres (vgl. RdLh 2003, 189), auf den
Charakter als Einzelmeinung zu verweisen ist, zeigt sich
an dem Beispiel der Stammzellenforschung erneut die
Tendenz, beschränkende Standards politisch unter
Druck zu setzen.
In die dritte Kategorie gehört schließlich auch die Diskussion über eine Lockerung des Verbots aktiver Sterbehilfe. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass derzeit kein
politischer Wille erkennbar ist, die bestehenden rechtlichen Regelungen zu revidieren. Gleichwohl: In
Deutschland wird die Sterbehilfe-Debatte zunehmend
institutionalisiert. So ist im vergangenen Jahr durch das
Bundesministerium der Justiz eine Arbeitsgruppe eingerichtet worden. Ziel der Kommission ist (neben der
Klärung einer rechtlichen Klarstellung der Patientenverfügung) auch, ob und inwieweit ein gesetzgeberischer Bedarf für eine (Neu-)Regelung ärztlicher Maßnahmen am Lebensende besteht. Zudem hat nunmehr
der Bundestagsabgeordnete Rolf Stöckel am 31. März
2004 den Entwurf eines Antrags vorgelegt, der unter
dem Titel ”Autonomie am Lebensende” Ideen für eine
Art ‚Liberalisierung des Sterbehilferechts’ auf der parlamentarischen Ebene präsentiert. In strafrechtlicher
Hinsicht stellt der Stöckel-Antrag darauf ab, § 216 StGB
um einen neuen Abs. 3 zu erweitern. Danach soll gelten: ”Ein Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, der auf Wunsch der/des
Verstorbenen beruhte, ist nicht rechtswidrig, wenn dieser Verzicht von der/dem Gestorbenen ausdrücklich
oder durch eine gültige Patientenverfügung erklärt ist.”
Beachtlich in diesem Zusammenhang ist zudem, dass
die Bundesärztekammer Anfang Mai dieses Jahres neue
Richtlinien zur Sterbebegleitung vorgelegt hat (Deutsches Ärzteblatt vom 7. Mai 2004, A-1298). Einerseits
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
RECHT UND ETHIK
wird darin das gesetzliche Verbot aktiver Sterbehilfe
hervorgehoben, andererseits stärkt das Papier die
Bindungswirkung des Patientenwillens, ”selbst wenn
sich dieser Wille nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnose- und Therapiemaßnahmen deckt.”
Patientenverfügungen sind danach ”eine wesentliche
Hilfe für das Handeln des Arztes.” Latent wird mit den
Richtlinien der in der ”Sterbehilfedebatte” häufig zu
hörende Vorwurf aufgegriffen, Ärzte nähmen den Willen der Patienten nicht ernst genug (siehe taz vom 5.
Mai 2004, 1). Gleichzeitig reagiert die Bundesärztekammer damit indirekt auch auf die oben genannten Diskussionen und auf Forderungen, die Verbindlichkeit der Patientenverfügung zu fixieren, wobei
jedoch klar bleibt: ”Die deutsche Ärzteschaft hält […]
an ihrem strikten ‚Nein’ zur aktiven Sterbehilfe fest”
(Eggert Beleites, Bundesärztekammer: Grundsätze zur
Sterbebegleitung neu gefasst, Deutsches Ärzteblatt vom
07. Mai 2004, A-1297).
Therapeutisches Klonen – verfassungsrechtliche und verfassungsprozessuale Interventionsmöglichkeiten (des Bundespräsidenten)?
von Margareta Burgard
Bundespräsident Johannes Rau hat sich im vergangenen Jahr gegen eine rechtliche Zulassung des therapeutischen Klonens ausgesprochen und darüber spekuliert, ein solches Gesetz, sollte es ihm vorgelegt
werden, wahrscheinlich nicht unterzeichnen zu können.1 Diese hypothetischen Überlegungen geben Anlass,
einen genaueren Blick auf die Hintergründe und die
Zulässigkeit einer solchen präsidialen Weigerung zu
werfen.
Ausgangslage
Unterzeichnung und Ausfertigung von Gesetzen durch
den Bundespräsidenten sind Bestandteile des Gesetzgebungsverfahrens. Gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten
nach Gegenzeichnung ausgefertigt und verkündet.
Ohne die Gegenzeichnung und Ausfertigung kann das
Gesetz also nicht in Kraft treten. Inwieweit hierbei dem
Bundespräsidenten ein Recht zusteht, das Gesetz auf
seine Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen und aus
welchen Gründen er die Unterzeichnung verweigern
darf, ist nicht ausdrücklich geregelt und Gegenstand
eines „klassischen“ Meinungsstreites unter Juristen.
Einigkeit herrscht dahingehend, dass der Bundespräsident jedenfalls keine politische Prüfungskompetenz
besitzt.2 Aus rein politischen Erwägungen darf er die
Ausfertigung von Gesetzen nicht verweigern. Ebenfalls
weitgehend einig ist man sich darüber, dass er ein Gesetz auf seine formelle Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen darf.3 Dies folge schon eindeutig aus der Formulierung des Art. 82 GG, wonach er die „nach den
Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen
Gesetze“ ausfertige.4
Der Bundespräsident wendet sich jedoch inhaltlich gegen eine Zulassung des therapeutischen Klonens. Dies
betrifft das materielle Prüfungsrecht. Ob auch eine solche materielle Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten besteht, wird kontrovers diskutiert. Dabei wird
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
das Wortlautargument sowohl für als auch gegen das
Bestehen eines materiellen Prüfungsrechts vorgebracht.
Nach Art. 82 Abs. 1 GG werden die „nach dem Grundgesetz zustande gekommenen Gesetze“ vom Bundespräsidenten unterzeichnet. Von einigen wird diese Formulierung dahingehend ausgelegt, dass damit eindeutig
nur die Vorschriften, die das Gesetzgebungsverfahren
betreffen, gemeint sind,5 andere wiederum weisen darauf hin, dass der Wortlaut auch in einem weiteren Sinn
verstanden werden kann und damit sämtliche Bestimmungen des Grundgesetzes, also auch die materiellen,
gemeint sein können.6 Die herrschende Meinung befürwortet ein materielles Prüfungsrecht. Hauptargument
ist die Bindung aller Staatsorgane und damit auch des
Bundespräsidenten an die Verfassung nach Art. 20 Abs.
3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG. Würde dem Bundespräsidenten als Verfassungsorgan keine materielle Prüfungskompetenz zustehen, wäre er gezwungen, „sehenden
Auges“ ein verfassungswidriges Gesetz auszufertigen.7
Die materielle Prüfungskompetenz soll jedoch auf evidente Verfassungsverstöße begrenzt sein;8 es müssen
zumindest Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit
des Gesetzes bestehen. In einem solchen Fall ist der
Bundespräsident also – so die herrschende Meinung –
berechtigt, die Ausfertigung des Gesetzes zu verweigern.
Verletzung materiellen Verfassungsrechts?
Um auf dieser Grundlage hinsichtlich eines Gesetzes
zur Zulassung des therapeutischen Klonens ein
Weigerungsrecht des Bundespräsidenten bejahen zu
können, müssten Zweifel an der sachlichen Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit der Verfassung bestehen bzw.
vertretbar erscheinen.
Zur Klärung dieser Frage ist zunächst das Prinzip des
therapeutischen Klonens näher zu betrachten. Im Rahmen dieses Verfahrens wird das Erbgut aus der Körperzelle eines Menschen in eine entkernte Eizelle über89
RECHT UND ETHIK
tragen, wodurch eine neue embryonale Entwicklung
einsetzt.9 Dieser Embryo im Frühstadium hat nun die
Anlage, sich zu einem vollständigen Organismus zu entwickeln (sogenannte Totipotenz). Beim therapeutischen
Klonen wird – im Gegensatz zum reproduktiven Klonen – diese Entwicklung dann gestoppt, indem dem
Embryo Stammzellen entnommen werden, die man in
bestimmte Zelltypen ausdifferenzieren lässt. Ziel ist es,
so Zellen oder sogar Organe zu gewinnen, die im Falle
einer Transplantation beim Patienten keine Abstoßreaktion hervorrufen würden, da sie genetisch identisch
mit den Zellen des Patienten wären. Der Embryo selbst
stirbt bei der Entnahme der Stammzellen ab.
Im Zusammenhang mit der Zulassung dieses Verfahrens werden Verstöße gegen die Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und gegen das Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG diskutiert. Eine
Verletzung der Menschenwürde wird beim therapeutischen Klonen hauptsächlich darin gesehen, dass ein
Embryo als menschliches „Ersatzteillager“ benutzt
wird.10 Zentrales Problem in dieser Diskussion ist, ebenso wie in anderen Bereichen der Gentechnikdebatte,
ob der im Wege des therapeutischen Klonens erzeugte
Embryo im Frühstadium überhaupt Träger der Menschenwürde ist. Folgt man der einer häufig vertretenen
Ansicht und erkennt den Embryo als Grundrechtsträger
an, so könnte auf der Grundlage der sogenannten
Objektformel – der Mensch darf nicht zum bloßen
Objekt herabgewürdigt werden – hier ein Verstoß gegen die Menschenwürde angenommen werden. Der
Embryo wird nämlich nur zu dem Zweck erzeugt, um
ihn in bestimmte Zelltypen oder Organe und nicht als
Mensch heranwachsen zu lassen. Er wird damit als
Mittel zur Heilung von Krankheiten Anderer benutzt
und sein Menschsein wird in schwerwiegender Weise
missachtet. Da die Menschenwürde unantastbar ist und
keinen Schranken unterliegt, kann auch der Zweck des
therapeutischen Klonens keine Rechtfertigung darstellen.
Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen das Recht auf
Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG vorliegt, hängt ebenfalls entscheidend von der Grundrechtsträgerschaft des
Embryos ab. Hierzu werden ähnliche Positionen vertreten und Argumente vorgebracht wie bei der Diskussion in Bezug auf die Menschenwürde.11 Demnach ist
es rechtlich vertretbar, auch eine Verletzung des Art. 2
Abs. 2 S. 1 GG zu erkennen.
Die skizzierten Diskussionen zeigen, dass jedenfalls
erhebliche Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zur Zulassung des therapeutischen Klonens bestehen. Sofern sich der Bundespräsident auf
diese Zweifel stützt, steht ihm somit ein Verweigerungsrecht zu.
90
Verfassungsprozessuale Einzelfragen
Unterstellt man nun, der Bundespräsident bekäme tatsächlich ein solches Gesetz vorgelegt, und er würde
die Unterzeichnung verweigern, stellt sich die Frage,
welche verfassungsrechtliche Möglichkeit besteht, um
die Rechtmäßigkeit dieser Weigerung zu überprüfen.
Bei Streitigkeiten über den Umfang der verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten oberster Bundesorgane
ist das Organstreitverfahren im Sinne des Art. 93 Abs.
1 Nr. 1 GG einschlägig. Der Bundestag könnte in einem solchen Verfahren durch das Bundesverfassungsgericht prüfen lassen, ob seine Rechte durch die Weigerung des Bundespräsidenten verletzt sind.
Unterstellt man weiter, dass trotz aller Bedenken das
Gesetz eines Tages in Kraft getreten sein sollte, ist zu
fragen, welche Möglichkeiten der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Gesetzes dann bestehen würden. In Betracht kommt eine abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Bei
Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten über die
formelle oder sachliche Vereinbarkeit eines Gesetzes
mit dem Grundgesetz können die Bundesregierung,
Landesregierungen sowie ein Drittel der Mitglieder des
Bundestages die Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht beantragen. Problematischer ist dagegen, ob auch der einzelne Bürger eine Überprüfung
des Gesetzes veranlassen könnte. Eine grundsätzliche
Möglichkeit hierzu ist die Verfassungsbeschwerde. Eine
solche kann aber nur derjenige einlegen, der selbst
unmittelbar durch die Regelung in seinen Grundrechten betroffen ist. Daher käme hier nur die Einlegung
einer Verfassungsbeschwerde durch den Embryo in
Betracht. Bejaht man die Grundrechtsträgerschaft des
Embryos, so muss man ihn konsequenterweise auch
als beschwerdeberechtigt ansehen;12 praktisch ist die
Einlegung einer solchen Verfassungsbeschwerde jedoch
kaum vorstellbar.
1) Vgl. dpa Pressemitteilung vom 16.06.2003, AOL-NewsBote.
2) Michael Brenner, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 82, Rdnr. 22; Hartmut Bauer, in Dreier, GG- Kommentar, Art. 82, Rdnr. 12.
3) Brun-Otto Bryde, in v. Münch/Kunig, GG-Kommentar,
Art. 82, Rdnr. 3; Brenner (Fn. 2), Art. 82, Rdnr. 23.
4) Brenner (Fn. 2), Art. 82, Rdnr. 23.
5) Z. B. Jörg Lücke, in Sachs, GG-Kommentar, Art. 82, Rdnr. 3.
6) Z. B. Bryde (Fn. 3), Art. 82, Rdnr. 4.
7) Klaus Stern, Staatsrecht Bd. II, 30 III 4.
8) Brenner (Fn. 2), Art. 82, Rdnr. 27; Ulrich Ramsauer, in AKGG, Art. 82, Rdnr. 17a; Wolfgang Heyde,
Zum Umfang der materiellen Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten, DÖV 1971, 797 (800).
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
RECHT UND ETHIK/INTERNATIONALES
9) Vgl. zum Verfahren des therapeutischen Klonens: Jeanne Nicklas-Faust, Risiken und Chancen diverser Therapien und gentechnischer Verfahren, Verbandsdienst der Lebenshilfe 2002, 10;
Hans-Georg Dederer, Menschenwürde des Embryo in vitro, AöR
127 (2002), 1 (2 f.).
10) Dederer (Fn. 9), S. 4; vgl. auch Jochen Taupitz, Der rechtliche
Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001,
3433 (3438).
11) Vgl. z. B. Horst Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, 377; Rainer Beckmann, Embryonenschutz
und Grundgesetz, ZRP 1987, 80.
12) Vgl. Bruno Schmidt-Bleibtreu, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/
Klein/Bethge, BVerfGG-Kommentar, § 90, Rdnr. 23; Christian
Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. A., München 1991, § 12,
Rdnr. 18.
Die Vereinten Nationen arbeiten zügig an einer Konvention für
behinderte Menschen!
Bemerkenswerte Vorschläge zum Schutz von Menschen mit geistiger Behinderung
von Klaus Lachwitz
Für viele Beobachter überraschend und unter dem skeptischen Blick insbesondere der Vertreter der Industrienationen hat die Generalversammlung der Vereinten
Nationen am 19.12.2001 auf der Grundlage einer Initiative des Staates Mexico beschlossen, ein Ad-hocKomitee einzusetzen, das eine umfassende und vom
Leitgedanken der Integration geprägte Internationale
Konvention zum Schutz und zur Förderung der Rechte und der Würde von behinderten Menschen erarbeiten soll (”Draft Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of
the Rights an Dignity of Persons with Disabilities”).
Dieses mit Regierungsvertretern aus aller Welt besetzte
internationale Gremium hat bisher zweimal getagt und
sich im Juni 2003 darauf verständigt, eine Arbeitsgruppe unter Einbeziehung von Experten der Internationalen Behindertenbewegung einzusetzen, die den Auftrag
erhalten hat, einen Entwurf für eine völkerrechtlich
verbindliche Konvention zum Schutz behinderter Menschen vorzulegen.
Die Arbeitsgruppe ist Anfang Januar 2004 für zwei
Wochen in New York zusammengetreten und hat einen bemerkenswerten Entwurfstext erarbeitet, der ab
23. Mai 2004 von dem von der Generalversammlung
der Vereinten Nationen eingesetzten Ad-hoc-Komitee
weiter beraten wird.
An der Arbeitsgruppe sind 27 Regierungsvertreter aus
allen Erdteilen beteiligt (Deutschland war im Januar
2004 durch Frau Prof. Dr. Theresia Degener, Universität Bochum vertreten). Außerdem konnten 12 Vertreter internationaler Behindertenorganisationen teilnehmen, darunter Klaus Lachwitz, Justitiar der
Bundesvereinigung Lebenshilfe, Marburg, als Vertreter von Inclusion International, dem Internationalen
Dachverband aller Vereinigungen für Menschen mit
geistiger Behinderung, London, und Robert Martin,
Neuseeland, der die Interessen geistig behinderter Menschen im Vorstand von Inclusion International repräsentiert und selbst 20 Jahre in einer Großeinrichtung
in Neuseeland untergebracht war.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Der Entwurf der Konvention umfasst nach dem gegenwärtigen Stand der Beratungen in der Arbeitsgruppe
insgesamt 25 Artikel. Fast genauso wichtig wie die Textentwürfe zur Gestaltung der einzelnen Artikel sind die
über 100 Fußnoten, deren Inhalt widerspiegelt, dass die
Bedeutung der einzelnen Rechte zum Teil unterschiedlich gewichtet wird, und die häufig in konkrete Empfehlungen an das Ad-hoc-Komitee einmünden, die Diskussion entweder neu aufzurollen oder fortzuführen.
So verzichtet der Entwurf z. B. auf eine Definition des
Begriffs der ”Behinderung” und stellt in einer Fußnote
die Argumente ”Pro und Contra” Behindertendefinition
zusammen, allerdings mit dem Hinweis, dass in der
Arbeitsgruppe Übereinstimmung darüber bestand, den
Begriff der Behinderung nur auf der Grundlage eines
sozialen Modells, nicht aber nach Maßgabe medizinischer Kriterien zu definieren.
Wie in allen Menschenrechtskonventionen üblich, beginnt der Text mit einer umfangreichen Präambel, die
teilweise auf bereits bestehende Menschenrechtskonventionen Bezug nimmt, teilweise aber auch als
”Auffangbecken” für Grundsatzfragen dient, die möglicherweise in der Konvention selbst nicht detailliert
geregelt werden sollen.
Dies gilt insbesondere für den Hinweis unter Buchstabe i) der Präambel, in der ”die Wichtigkeit von internationaler Zusammenarbeit” betont wird, „um den vollen Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten
für Menschen mit Behinderungen zu fördern“.
Hinter dem Begriff „Internationale Zusammenarbeit“
(International Cooperation) verbirgt sich eine
Grundsatzdiskussion, von deren Ausgang das ”Wohl
und Wehe” der Konvention abhängen kann. Im Völkerrecht findet der Begriff ”International Cooperation”
vor allem dann Anwendung, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Verwirklichung des internationalen Schutzes von Menschenrechten in vielen
Teilen der Welt (Afrika, Südamerika, Asien u. a.) da91
INTERNATIONALES
von abhängt, dass die Industrienationen einen Beitrag
zum Abbau der Armut in Entwicklungsländern leisten.
Während die Vertreter der Europäischen Union, Nordamerikas u. a. finanzielle Verpflichtungen aus der Konvention möglichst vermeiden wollen, verweisen insbesondere die Vertreter der afrikanischen Länder darauf,
dass die Schaffung von ”Barrierefreiheit” z. B. für körperbehinderte Menschen, die auf dem Land leben, mit
ungeheuren finanziellen Kosten verbunden ist. Auch
könne sich kein „armes Land” verpflichten, behinderte
Kinder zu beschulen, wenn nicht zugleich das NordSüd-Gefälle zwischen ”Arm und Reich” abgebaut werde.
Aus der Sicht von Menschen mit geistiger Behinderung
verdient insbesondere Art. 9 des Entwurfs besondere
Erwähnung, der folgenden Wortlaut hat:
Art. 9 (Gleiche Anerkennung als Person vor dem Gesetz)
Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich
(a) Menschen mit Behinderung als Individuen anzuerkennen, die in der Rechtsordnung die gleichen Rechte haben wie alle anderen Menschen;
(b) zu akzeptieren, dass Menschen mit Behinderungen die volle Rechtsfähigkeit auf der gleichen Basis
wie andere Menschen besitzen und sicherzustellen, dass
diese volle Rechtsfähigkeit auch finanzielle Angelegenheiten einschließt (Anmerkung: Der im englischen
Originaltext verwendete Begriff ”Full Legal Capacity”
ist weitergehend als der deutsche Begriff der Geschäftsfähigkeit; er umschließt alle Rechtsbereiche und bringt
zum Ausdruck, dass behinderte Menschen rechtlich
gleich zu behandeln sind. Beispiele, die über die Geschäftsfähigkeit hinausgehen: Die Deliktsfähigkeit, die
Prozessfähigkeit usw. In der Fußnote zu Art. 9 heißt
es, die Einfügungen des Begriffs ”volle Rechtsfähigkeit
auf gleicher Basis” z. B. bedeute, dass behinderte Kinder rechtlich grundsätzlich nicht schlechter und nicht
besser gestellt werden sollten als nichtbehinderte Kinder. Der Sinn des Begriffs ”volle Rechtsfähigkeit” bestehe darin, deutlich zu machen, dass Personen mit
Behinderungen so zu behandeln sind, dass keine Diskriminierung aufgrund ihrer Behinderung eintritt);
(c) sicherzustellen, dass immer dann, wenn zur Ausübung der vollen Rechtsfähigkeit Assistenz notwendig
ist;
i) diese Assistenz so zu gestalten ist, dass sie den notwendigen Assistenzbedarf unter Berücksichtigung der
jeweiligen Umstände des Einzelfalles deckt und nicht
92
die volle Rechtsfähigkeit, die Rechte und Freiheiten
der Personen beeinträchtigt;
ii) Entscheidungen, die auf die Errichtung von Assistenz gerichtet sind, nur in Übereinstimmung mit entsprechenden prozessualen Regelungen und unter Anwendung entsprechender Schutzvorschriften für
behinderte Menschen getroffen werden; (Anmerkung:
In der Fußnote zu dieser Vorschrift wird ausdrücklich
klargestellt, dass die Assistenz ausschließlich darauf
zielt, dem behinderten Menschen die Ausübung seiner
vollen Rechtsfähigkeit zu ermöglichen und auf der Annahme beruht, dass jeder Mensch volle Rechtsfähigkeit besitzt, und zwar auch dann, wenn er zur Geltendmachung seiner Rechte Unterstützung benötigt).
d) sicherzustellen, dass behinderte Menschen, die
Schwierigkeiten haben, ihre Rechte geltend zu machen,
Informationen zu verstehen und ihre Anliegen zu kommunizieren, Zugang zu einer Assistenz haben, die es
ihnen ermöglicht, Informationen, die ihnen unterbreitet werden, aufzunehmen und zu verarbeiten und ihre
Entscheidungen, Wünsche und Präferenzen auszudrükken sowie in bindende Vereinbarungen und Verträge
einzutreten, Dokumente zu unterzeichnen und als Zeugen aufzutreten;
e) alle notwendigen und effektiven Maßnahmen einzuleiten, die gewährleisten, dass behinderte Menschen
das gleiche Recht wie andere besitzen, Eigentums- oder
Erbrechte auszuüben, ihre eigenen finanziellen Angelegenheiten zu kontrollieren und Zugang zu haben zu
Darlehen, Hypotheken und anderen Formen finanzieller Kredite;
f) sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen
nicht willkürlich ihr Eigentum entzogen wird.
Diese Formulierung des Artikel 9 ist eine klare Absage
an jede Form der Entmündigung und an althergebrachte
Vormundschaftsrechte, die Menschen im Rechtsverkehr
für ”unfähig” oder für ”beschränkt rechtsfähig” erklären. Insoweit kann darauf verwiesen werden, dass das
deutsche Betreuungsrecht, das 1992 in Kraft getreten
ist und das Vormundschaftsrecht alter Prägung abgelöst hat, Pate gestanden hat für die Formulierung des
Artikel 9! Andererseits darf nicht verkannt werden, dass
der Begriff der ”Assistenz” wesentlich deutlicher als der
Begriff der ”Betreuung” zum Ausdruck bringt, dass auch
bei einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung jede Form von Ausgrenzung zu vermeiden
und stattdessen auf die ”Befähigung” des Menschen
abzustellen ist, so selbstbestimmt wie möglich am Leben der Gesellschaft teilzuhaben.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
INTERNATIONALES/BÜCHERSCHAU
Unvereinbar mit dem Grundgedanken des Art. 9 des
Entwurfs ist das in § 104 f. BGB geregelte Recht der
Geschäftsfähigkeit, das die Willenserklärungen geschäftsunfähiger Menschen für nichtig ansieht. Daran
ändert auch nichts, dass der Gesetzgeber inzwischen
Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens und von geringfügigem Wert unter bestimmten Voraussetzungen für
gültig erklärt, wenn die Person, die sich rechtlich binden will, geschäftsunfähig ist (§ 105 a BGB).
Das letzte Wort zur Konvention ist noch lange nicht
gesprochen. Ähnlich wie die Vorschrift des Art. 9 werden auch alle anderen Rechte, z. B. die Sozialen Rechte (Art. 17 – Erziehung, Art. 22 – Recht auf Arbeit, Art.
23 – Soziale Sicherheit und adäquater Lebensstandard)
noch große Diskussionen auslösen.
Unbearbeitet ist bisher die Fragestellung, inwieweit die
Konvention Regelungen enthalten soll, die gewährleisten, dass die Unterzeichnerstaaten die rechtlichen Verpflichtungen, die sie mit der Ratifizierung einer Konvention eingehen, auch einlösen. Unter dem Begriff
”Monitoring” (Überwachung, Kontrolle) wird das Adhoc-Komitee vor allem diskutieren, ob Individual-
beschwerden ermöglicht werden sollen und ob ein internationales Komitee zum Schutz der Rechte behinderter Menschen durch die Generalversammlung der
Vereinten Nation etabliert werden soll, das die Umsetzung der Konvention weltweit begleitet.
Noch liegt ein langer Weg vor der Konvention. Die internationalen Mühlen mahlen langsam. So hat z. B. die
Erarbeitung der Kinderkonvention 10 Jahre gedauert.
Der eigentliche Wert des Auftrags der Generalversammlung der Vereinten Nationen liegt darin, der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt zu haben, dass Millionen von Menschen aufgrund ihrer Behinderung noch
immer diskriminiert werden und deshalb eine eigene –
völkerrechtlich verbindliche – Konvention zum Schutz
und zur Förderung ihrer Rechte benötigen.
Deutschland unterstützt die Konvention. Das federführende Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die den
Entstehungsprozess der Konvention mit eigenen Vorschlägen begleitet und an der u. a. Vertreter des Deutschen Behindertenrates beteiligt sind.
Bücherschau
Gutachten „Die Hilfekonferenzen der Region Hannover als Instrument zur Hilfebedarfsfeststellung bei
Menschen mit seelischer Behinderung“
(Autorin: Frau Prof. Pöld-Krämer)
30163 Hannover, Tel. 0511-66 3 0 6 0, [email protected] zum Versand- und Druckkostenpreis
von 10,— EURO bezogen werden.
Wegen der gesetzlich geforderten Zuordnung des hilfebedürftigen Menschen in Gruppen von Hilfeempfängern mit vergleichbarem Hilfebedarf (vgl. § 93a
Abs. 2 BSHG) hat die Frage nach einer verlässlichen
Feststellung des Hilfebedarfs an Gewicht gewonnen.
In den letzten Jahren sind bundesweit Aktivitäten der
Sozialhilfeträger zur Neugestaltung des Verfahrens zur
Feststellung des individuellen Hilfebedarfs behinderter Menschen zu verzeichnen. Für diesen Personenkreis
gibt es – anders als bei pflegebedürftigen Menschen –
bisher kein vorgeschriebenes oder allgemein anerkanntes Instrumentarium zur Hilfebedarfsfeststellung. Das
Gutachten, das im Auftrag des Vereins zur Förderung
seelisch Behinderter e.V. erstellt wurde, prüft die Fragestellung, ob das vom Niedersächsischen Ministerium angedachte und in der Region Hannover bereits
umgesetzte Verfahren der „Hilfekonferenzen“ mit den
geltenden sozialrechtlichen Bestimmungen im Einklang
steht.
Rainer Wagner, Daniel Kaiser: Einführung in das
Behindertenrecht; Berlin 2004: Springer Verlag, 219
Seiten, 24,95 EURO, ISBN 3-540-20367-2
Das Gutachten kann beim Verein zur Förderung seelisch Behinderter e.V., Ferdinand-Wallbrecht-Str. 28,
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Rainer Wagner ist als Oberrechtsrat beschäftigt im Bischöflichen Ordinariat Mainz, Daniel Kaiser ist Rechtsanwalt. Die Einführung in das Behindertenrecht bietet
eine gestraffte Übersicht über das auf die unterschiedlichsten Rechtsgebiete verteilte Recht der behinderten
Menschen. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger im Sozialrecht, das SGB IX wird nur im Bezug auf das
Schwerbehindertenrecht wiedergegeben. Wertvoll ist
das zivilrechtliche Kapitel, das sich neben dem Erbrecht, und dem zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetz auch mit dem Behindertengleichstellungsgesetz
befasst sowie mit den Landesgesetzen zur Gleichstellung behinderter Menschen. Außerdem wird im Bereich
öffentlichen Rechts über das Baurecht, Nachbarrecht
und Schulrecht informiert. Im Anhang ist eine
Integrationsvereinbarung für den kirchlichen Bereich
wiedergegeben.
93
BÜCHERSCHAU
Rolf Winkel: Sozialhilfe - Der Ratgeber zum Umgang
mit dem Sozialamt, Frankfurt/M. 2003: Bund-Verlag,
2. Auflage, 139 Seiten, 8,90 EURO, ISBN 3-76633495-6
Das Buch informiert über die Antragstellung im Rahmen der Sozialhilfe sehr praxisnah, der Autor ist Journalist. Schwerpunkt sind die Leistungen der Hilfe zum
Lebensunterhalt gekoppelt mit der Perspektive, wie
Sozialhilfebedürftigkeit überwunden werden kann
durch Aufnahme einer Beschäftigung. Hilfreich ist auch
das Kapitel ‚Datenschutz konkret’ über die datenschutzrechtlichen Schutzvorschriften bei Sozialhilfebezug.
Das Buch ist daher eine Hilfe für alle, die sich über die
Leistungsgewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt
informieren wollen.
Claus Loos: Die Sozialhilfe, der Tod und das Recht Schriften zum deutschen und europäischen Sozialrecht 4; Baden-Baden 2 00 4: Nomos-Verlagsgesellschaft, 167 Seiten, 34,– EURO, ISBN 3-83290473-5
Die Dissertation von Claus Loos befasst sich mit der
Übernahme von Bestattungskosten gem. § 15 BSHG,
offenen Ansprüchen des Verstorbenen auf Sozialhilfe
sowie offene Ansprüche des Sozialhilfeträgers (Erbenhaftung) einschl. des Rückforderungsanspruchs auf
Schenkungen. Besonders bedeutsam ist das Kapitel über
erbrechtliche Gestaltung zugunsten behinderter Kinder und zulasten der Sozialhilfe. Es wird ausführlich
über die Debatte um das Behindertentestament informiert, wobei der Stand der Rechtsprechung bis Dezember 2002 berücksichtigt wurde. Die Schrift ist daher
eine wichtige Hilfe für alle diejenigen, die Erbrechtsberatung für behinderte Menschen betreiben.
Otto Jehle, Helmut Linhard, Olgierd Adolph, Olaf
Gröschel-Gundermann: Bundessozialhilfegesetz mit
Asylbewerberleistungsgesetz und Grundsicherungsgesetz. 27. Aktualisierung, Stand: Dezember 2003, Heidelberg, 2003: Verlagsgruppe Hüthig-Jehle-Rehm, 94
Seiten, 26,80 EURO, ISBN 3-7825-0160-8
Die Autoren sind Richter in der Bayerischen
Verwaltungsgerichtsbarkeit. Kernstück der Aktualisierung ist die Überarbeitung des 11. Abschnitts Bundessozialhilfegesetz, §§ 119-122 a. Hinzugefügt ist eine
vollständige Neubearbeitung des Schrifttumsverzeichnisses.
Axel Hollenbach: Grundrechtsschutz im Arzt-Patienten-Verhältnis - Eine Untersuchung zur Umsetzung
verfassungsrechtlicher Vorgaben im einfachen Recht;
Berlin 2003: Duncker & Humblot Verlag, 413 Seiten,
94
Schriften zum Öffentlichen Recht –Band 920, 76
EURO, ISBN 3-428-11040-4
Hollenbachs Dissertation stellt darauf ab, dass zwischen
Arzt und Patient nicht nur eine rechtliche Beziehung,
sondern im Kern zunächst ein auf die Heilung des Patienten gerichtetes Vertrauensverhältnis besteht. Bei der
Verfolgung dieses Ziels kommt in der denkbaren zivilund strafrechtlichen Arzthaftung allerdings ein „latenter Interessengegensatz“ zum Vorschein, der einer rechtlichen Ordnung bedarf. Die einschlägigen einfachgesetzlichen und auf verschiedene Rechtsgebiete
verteilten Vorschriften entziehen sich bislang einer systematischen Erfassung. Diese entwickelt Hollenbach
unter dem vereinheitlichenden Leitgedanken einer
„grundrechtlichen Schutzpflicht“, über die er die Rolle
des Staates und dessen Verantwortung für das ArztPatienten-Verhältnis bestimmt. Der Autor macht zahlreiche Vorschläge zur verfassungskonformen Schutzgestaltung des einfachen Rechts, die auch durch die
weitreichende Judikatur der Fachgerichte bislang nicht
gegeben ist. Die aktuelle und materialreiche Untersuchung bezieht weiter den Schutz Ungeborener und die
Sterbehilfe sowie das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung mit ein.
Deinert/Lütgens/Meier: Die Haftung des Betreuers
– Ein Praxishandbuch für Betreuer, Köln 2004: Bundesanzeiger Verlag, 360 Seiten, 39 EURO, ISBN 389817-304-6
Dieses Handbuch bereitet ausführlich und auf der
Grundlage der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung den Themenkomplex der zahlreichen Haftungsrisiken auf, denen Betreuer in ihrer Amtsausübung unterliegen. Die Autoren stellen neben den einschlägigen
Rechtsgrundlagen auch ausgewählte Haftungssituationen aus typischen Aufgabenbereichen der Betreuung dar und geben wertvolle Hinweise, wie
Haftungsrisiken wirksam begegnet werden kann. Das
Buch geht auch auf die Bandbreite von Haftpflichtversicherungen ein und ist damit ein empfehlenswertes
Nachschlagewerk für alle im Betreuungsrecht tätigen
Personen.
Franz Otto Kierig, Jutta Kretz: Formularbuch
Betreuungsrecht; München 2004: Verlag C. H. Beck,
2. überarbeitete Auflage, 424 Seiten mit CD-ROM,
38 EURO, ISBN 3-406-51868-0
Dieses Buch bietet eine reiche Auswahl an Formularmustern und erläutert diese allgemeinverständlich unter Zitierung der wichtigsten Rechtsvorschriften und
einschlägiger Gerichtsentscheidungen. In der Neuauflage finden insbesondere Aspekte des Vorgehens eines
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
BÜCHERSCHAUEDITORIAL
Betreuers bei Vorliegen einer Patientenverfügung, die
neueste Rechtsprechung zur Sterbehilfe, die Notwendigkeit der Anhörung des Betroffenen in der eigenen
Wohnung, Mittel zur Verhinderung einer Unterbringung, ambulante Zwangsmedikation nicht untergebrachter Betreuter, die Begründung des erhöhten
Stundensatzes wegen schwieriger Betreuungsaufgaben
sowie der Umfang der Vorsorgevollmacht besondere
Berücksichtigung. Das Buch ist für alle Personen geeignet, die sich beruflich oder ehrenamtlich intensiv mit
rechtlichen Betreuungen befassen.
Andreas Jürgens/Thomas Niermann: Handbuch für
Pflegeeinrichtungen, Gesetze, Erläuterungen, Musterverträge für Pflegeheime, Pflegedienste, Pflegekräfte,
Loseblatt-Ausgabe, Starnberg: RS Schulz Verlag, 27.
Ergänzungslieferung mit CD-ROM, Stand März 2004,
84 EURO, ISBN 3-7962-0434-1
Mit der 27. Ergänzungslieferung wird das Standardwerk
zum Pflegerecht auf den Stand März 2004 gebracht.
Umfangreiche Änderungen im Gesetzesteil wurden auf-
genommen. Damit steht den Nutzern des Handbuches
wieder die aktuellste Information zu allen einschlägigen Rechtsvorschriften zur Verfügung. Das Landesrecht
ist ebenfalls weiter aktualisiert worden. Das Handbuch
kann daher weiterhin uneingeschränkt für die Praxis
empfohlen werden.
Karl Hauck/Wolfgang Noftz: Sozialgesetzbuch SGB
III – Arbeitsförderung, Kommentar, Berlin: ErichSchmidt Verlag, 36. – 38. Lieferung 2004, 5411 S.
einschl. 3 Ordnern, 138 EURO, ISBN 3-503-04341-1
Der Kommentar verfolgt das Ziel, alle mit dem SGB
III Befassten methodisch und inhaltlich optimal zu
bedienen. Das Werk wird durch Ergänzungslieferungen
zügig und zuverlässig fortgeführt. Die 36. und 37. Lieferung fügt zahlreiche neue Kommentierungen (z.B. §§
140 und 376 ff.) in das Werk ein. Zugleich werden mehrere Kommentierungen aktualisiert. Die 38. Lieferung
enthält u.a. die Neufassung des Gesetzestextes. Dem
Nutzer steht somit eine aktuelle und kompetente Kommentierung zu allen Fragen der Arbeitsförderung zur
Verfügung.
Gestaltung: Dieter Jeuck
Druck: Andreas Seip, Hausdruckerei
Vertrieb: Lahn-Werkstätten Marburg
Rechtsdienst der Lebenshilfe (RdLh)
Herausgeber:
Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung e. V.
Raiffeisenstr. 18
35043 Marburg
Telefon: (06421) 491-0
Telefax: (06421) 491-167
Internet: http://www.lebenshilfe.de
E-mail: [email protected]
Vorsitzender: Robert Antretter
Bundesgeschäftsführer: Dr. Bernhard Conrads
Chefredakteur: Klaus Lachwitz (La), Justitiar
Redaktion:
Ulrich Hellmann (He), (geschäftsführender Redakteur)
Peter Dietrich (Di)
Renate Heinz-Grimm (HG)
Norbert Schumacher (Sch)
Dr. Sabine Wendt (We)
Mit Autorennamen ausgewiesene Beiträge geben die
Meinung der Verfasser/-innen wieder und sind urheberrechtlich geschützt. Außerhalb der Grenzen des Urheberrechts sind Reproduktionen - durch Fotokopie, Nachdruck
oder andere Verfahren - bzw. die Übertragung oder
Veröffentlichung dieser Beiträge in Datenverarbeitungsanlagen ohne Einwilligung der Autoren nicht statthaft.
Im Übrigen ist der Nachdruck von Beiträgen mit Quellenangabe honorarfrei gestattet - zwei Belegexemplare
erbeten.
Rechtsdienst der Lebenshilfe 2/04
Postvertriebsstück: D 13263 F
Auflage: 5.150
Redaktionsschluss: 10.05.04
Erscheinungsweise: 1 x pro Quartal
ISSN: 0944 - 5579
Jahresabonnement einschl. Zustellgebühr und gesetzlich
vorgeschriebener MwSt. 20,00 EURO, für Mitglieder der
Lebenshilfe 15,00 EURO; Einzelheft 6,00 EURO;
Mitglieder der Lebenshilfe 4,00 EURO.
Sparkasse Marburg-Biedenkopf
60070 BLZ 533 500 00
Am Rechtsdienst der Lebenshilfe sind ebenfalls beteiligt:
Verband für Anthroposophische Heilpädagogik
Sozialtherapie und Soziale Arbeit e. V.
Tel.: (0 60 35) 81-1 90,
Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe e. V.
Tel.: (07 11) 2159-425
Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie
CBP e. V.
Tel.: (07 61) 2 00-0
Die vier Fachverbände repräsentieren über 90 % der
Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung und
treffen sich regelmäßig in einem gemeinsamen Arbeitskreis
Behindertenrecht sowie in Kontaktgesprächen.
Dieser Rechtsdienst ist auf chlorfrei gebleichtem Papier
gedruckt.
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Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung e.V.
ISSN: 0944 – 5579
Raiffeisenstr. 18
35043 Marburg
Telefon: (06421) 491-0
Telefax: (06421) 491-167
Postvertriebsstück: D 13263 F
Entgelt bezahlt
SOMMER-ANGEBOTE
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in 100 % Baumwolle,
Größen: M, L, XL und XXL.
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Gerne informieren wir Sie über das komplette Angebot unserer Lebenshilfe-Kollektion.
Prospekte und Artikel erhalten Sie bei Ihrer örtlichen Lebenshilfe oder bei der
Bundesvereinigung Lebenshilfe, Telefon: (0 64 21) 4 91-1 16, Fax: (0 64 21) 4 91-6 16,
E-Mail: [email protected], Internet: www.lebenshilfe.de/rudi.htm
Vereinigungen und Einrichtungen der Lebenshilfe erhalten als Wiederverkäufer gesonderte Preise. Bitte fragen Sie uns!
Neu im Internet: Kaufen mit Herz
Kaufen per Mausklick wird immer beliebter. Keine Ladenschlusszeiten, keine lange
Parkplatzsuche, kein Anstehen an der Kasse. Sie sitzen bequem zu Hause am Computer, surfen durch die Warenwelt des Internets und bestellen online das neue Handy
oder den aktuellen Harry Potter. Genau so funktioniert „Kaufen mit Herz“, nur dass
Sie hier mit jedem Kauf die Lebenshilfe und damit Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien unterstützen können.
Das Prinzip ist ganz einfach: Über www.lebenshilfe-shop.de oder www.kaufen-mit-herz.de erreichen Sie einen
virtuellen Marktplatz, wo Sie wie bisher alle Lebenshilfe-Produkte (Rudi-Design, SEH-WEISEN-Kalender etc.)
beziehen können. Gleichzeitig haben Sie nun Zugang zu mehr als 400 unabhängigen Online-Anbietern wie z. B.
Amazon, Tchibo oder OTTO, mit denen die Lebenshilfe über ihren Partner „Shop to Support“ zusammenarbeitet. Hier können Sie jetzt zugunsten behinderter Menschen auf Einkaufstour gehen. Bei jeder Bestellung werden
der Lebenshilfe durchschnittlich drei Prozent des Kaufpreises gutgeschrieben. Für Sie als Kundin oder Kunde
entstehen dabei keinerlei Mehrkosten. Ihre Daten bleiben geschützt, Sie müssen nichts unterzeichnen.
Sie müssen nur an eins denken: Wenn Sie künftig bei Amazon, Tchibo, OTTO oder anderen Online-Anbietern
einkaufen möchten, wählen Sie immer den Weg über www.lebenshilfe-shop.de oder www.kaufen-mit-herz.de.
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