Kinderaussagen - wie glaubwürdig sind sie?1

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Kinderaussagen - wie glaubwürdig sind sie?1
Josef Klein/ Jochen Jäger
Kinderaussagen - wie glaubwürdig sind sie?1
Motivated by the growing significance of children’s statements in criminal proceedings (child abuse) and divorce proceedings, a growing number of investigations
into children’s suggestibility exists. The mainly psychologically dominated mainstream research is mostly satisfied with the tracing of errors based on suggestion. A
complete valuation of the susceptibility of errors needs, however, the consideration
of errors not based on suggestion. Consequently, our investigation on the basis of
theoretical and methodical potential of the practical linguistics considers additional
questions and uses methods that have been neglected immensely. Thus, the conventional method of simply asking questions is enlarged considerably by other speech
acts, which can be used with the intention and effect of suggestion. The implementation of suggestion, measuring and comparison with non-suggestible susceptibility
of error is not carried out through a laboratory study but through a field-test with 24
children aged 4 till 8 in kindergartens and primary schools in Coblenz. The investigation shows that suggestibility is even higher under conditions of everyday life than
it is under forensic conditions. The number and answers of the children who commit
errors under suggestive influence is higher than it is in the case of non-suggestible
susceptibility of errors.
Very surprising is that the variable age is not the decisive factor of influence on the
probability of errors. While suggestible error is most dependent on the variable medium of experience, the telling-element types are dominant in case of nonsuggestible errors.
1. Fragestellungen und Zielsetzung
1
Dieser Aufsatz ist das Ergebnis eines durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft
und Weiterbildung des Landes Rheinland-Pfalz finanzierten interdisziplinären Koblenzer
Projektes, an dem neben den germanistisch-linguistischen Autoren die Grundschulpädagogin und Kindheitsforscherin Sigrid von den Steinen beteiligt war. Wir danken ihr
und den als weiteren an Konzipierung und Durchführung der Tests Beteiligten Ingrid
Stein und Sabine Müller sowie den beteiligten Lehrerinnen, Erzieherinnen und Kindern in
den Koblenzer Institutionen: Hochschulnaher Kindergarten; Kindergarten St. Hedwig;
Grundschule Schenkendorf und Grundschule Neukarthause.
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Offenbar motiviert durch die wachsende Bedeutung von Kinderaussagen in
Strafrechtsverfahren (Kindesmissbrauch) und in Scheidungsverfahren gibt es
in den letzten Jahren eine wachsende Zahl von Untersuchungen zur Suggestibilität von Kindern.
Auffällig – und aus unserer Sicht ein Defizit – ist, dass dabei so gut wie nie
das Verhältnis zwischen Suggestibilität und nicht-suggestionsbedingter ‚Irrtumsanfälligkeit’, wie wir dies nennen möchten, untersucht wurde. Wenn es
um die Glaubwürdigkeit von Kinderaussagen geht, ist es jedoch unabdingbar,
neben suggestionsbedingten auch anderweitig bedingte unkorrekte Aussagen
in den Blick zu nehmen.
Die forensische Psychologie diskutiert vor allem, unter welchen Bedingungen
Aussagen, insbesondere solche von Kindern, in Gerichtsverfahren glaubwürdig sind, während die universitäre Aussagenpsychologie Suggestibilität
durchweg auf der Basis von Laborexperimenten thematisiert (vgl. Greuel/
Fabian/ Stadler 1997, Greuel et al. 1998). Orientiert an der prototypischen
forensischen Situation der Befragung bzw. Zeugenvernehmung wird Suggestibilität dabei weit überwiegend auf die Auswirkungen suggestiven Fragens
bezogen. In dieser Untersuchung werden – vor allem auch auf der Basis theoretischer und methodischer Potenziale der Angewandten Linguistik – Fragen
gestellt und Methoden verwendet, die im forensisch-aussagenpsychologischen
Mainstream vernachlässigt worden sind. Die Basisfrage lautet:
Wie steht es mit Suggestibilität und Irrtumsanfälligkeit bei nicht-belastenden Themen im kindlichen Alltag, d.h. außerhalb der thematischen und situationellen Sonderbedingungen von Laborexperimenten
und forensischen Befragungen?
Damit erweitert sich auch die Perspektive über das suggestive Fragen hinaus
auf andere mit Suggestionsabsicht und -wirkung einsetzbare Sprechhandlungen.
Die Forschung zur kindlichen Suggestibilität ist bisher eine Domäne der Psychologie. Sie hat ihren Gegenstand vor allem in Abhängigkeit von Alter der
Kinder, von der Intensität und von der Häufigkeit suggestiver Einwirkung untersucht.
Für eine primär linguistische Untersuchung liegen andere Fragen nahe:
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(1) Inwieweit haben die Medien, in denen die Kinder ein Geschehen erfahren,
Einfluss auf Suggestibilität?
(2) Inwieweit hängt Suggestibilität vom narrativen Status der darzustellenden
Geschehensaspekte ab? Daneben stellen wir uns
(3) die (auch in psychologischen Untersuchungen übliche) Frage: Inwieweit
spielen für Suggestibilität Altersunterschiede innerhalb der präoperationalen Entwicklungsphase des „anschaulichen Denkens“ (4.-7./8. Lebensjahr)2
eine Rolle?
(4) Welche dieser drei Dimensionen (Medium der Erfahrung; narrativer Status
der dargestellten Geschehensaspekte; Alter) hat den größten Einfluss auf
Suggestibilität?
(5) In welchem Verhältnis stehen - bezogen auf die drei Dimensionen – Suggestibilität und allgemeine Irrtumsanfälligkeit zueinander?
Diese Fragen für den durch Operationalisierung (vgl. Kap. 3) abzudeckenden
Rahmen zu beantworten, ist das Ziel der Untersuchung.
2. Forschungslage
2.1 Aussagenpsychologie
Spätestens seit den Siebziger Jahren ist – dominiert von US-amerikanischer
Forschung – ein starkes Interesse an der Wirkung von Suggestibilität festzustellen. In vielen Studien wird konstatiert, dass besonders sehr junge Kinder
im Vorschulalter als verstärkt suggestionsanfällig gelten. In einer größeren
Untersuchung mit 208 Kindern im Alter von 4 bis 6 Jahren erwiesen sich nur
55 (26,4%) Kinder gegenüber suggestiver Befragung als suggestionsfest; ein
Drittel der Kinder war „ausgesprochen suggestibel“. (Michaelis-Arntzen 1997,
205). Von 17 referierten Untersuchungen konstatieren 14 eine höhere Suggestibilität von Vorschulkindern im Vergleich zu Schulkindern (Ceci/ Bruck
1993). Da im Falle von Suggestibilität Gedächtnis- und/ oder Befragungsaspekte eine wichtige Rolle spielen, bilden kognitions- und sozialpsychologische Fragestellungen, die in komplementärem Verhältnis zueinander stehen,
den Mainstream aussagepsychologischer Erklärungsansätze.
Arbeiten auf diesem Gebiet konstatieren die Möglichkeiten suggestiver Einflussmaßnahme besonders unter dem Aspekt der Häufigkeit der Suggestionsversuche und der zeitlichen Distanz zwischen fraglichem Ereignis und Befragungssituation(en). Je öfter Gespräche über ein Ereignis geführt werden, desto
2
Vgl. Piaget 1975 u.ö.
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eher ist eine suggestive Verzerrung möglich, die dann auch zentrale Aspekte
des Ereignisses betrifft. Können jüngere Kinder ihre Wahrnehmung dagegen
frei reproduzieren, so sind sie nicht schlechtere Zeugen als Erwachsene. Gleiches gilt, wenn die Kinder in kurzem Zeitabstand zum Ereignis suggestiv befragt werden: Auch dann ist der Anteil nicht zutreffender Angaben bei Kindern nicht größer als bei Erwachsenen (Pool/ White 1991). Mit zunehmender
Rate suggestiver Befragungen und vergrößertem zeitlichen Abstand können
allerdings beträchtliche suggestive Verzerrungen induziert werden. Diese
können so weitreichend sein, dass Suggestion nicht nur im Detail wirksam ist,
sondern auch falsche Erinnerungen erzeugen kann, die als authentisch erlebte
berichtet werden (Loftus/ Ketcham 1994). In diesen Zusammenhang fällt die
Entdeckung, dass – wenn auch unter erheblichen methodischen Aufwand –
selbst persönlich bedeutsame Ereignisse suggestiv verzerrbar sind. Einmalige
Befragungen zu derartigen Ergebnissen sollen allerdings nur bedingt Wirkung
zeigen (Greuel 1998). Die Darbietungen suggerierter Information erfolgen
zumeist nach einem bestimmten Ereignis. Umstritten, da mit gegenläufigen
Untersuchungsergebnissen konfrontiert, ist die Hypothese, dass an einem Geschehen aktiv beteiligte Kinder – im Gegensatz zur bloßen Beobachtung – weniger dem Einfluss von Suggestivfragen erliegen. Die Kognitionspsychologie
bietet drei Modelle der Wirksamkeit von Suggestion an: Suggestion führt im
Gedächtnis zur Integration der suggerierten Information, die später nicht mehr
von der ursprünglichen Information zu unterscheiden ist (sogenannte Integrationsthese), zur Überschreibung der ursprünglichen Situation (Substitutionshypothese) oder zu erschwertem Abruf der tatsächlichen Information, indem
es schwer fällt, die ursprünglich richtige Quellsituation zu erkennen (These
von der fehlerhaften Quellattribuierung).
Untersuchungen mit mehr sozialpsychologischer Orientierung berücksichtigen
die Wechselwirkung zwischen Befrager und Befragten. Bestimmte Faktoren
von Befragungssituationen (z.B. Erwartungshaltung des Interviewers) können
zu kindlichem Nachgeben gegenüber Suggestionsdruck der erwachsenen Autorität führen, insbesondere wenn die Beziehung zum Erwachsenen so ist, dass
das Kind Informationen geben will, um diesem zu gefallen. Für kleine Kinder
sind Erwachsene vielfach unbegrenzt glaubwürdig. Während der Befragungen
gehen Kinder davon aus, dass das, was der Erwachsene fragt, vernünftig und
wahr ist (Ceci/ Bruck 1993). Selbst im Falle von Nonsense-Fragen, die Kinder
bereitwillig beantworten, scheinen diese dem Verhalten von Erwachsenen
Seriöses abgewinnen zu wollen.
2.2 Entwicklungspsychologie
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Nicht durch Suggestion verursachte kindliche Irrtümer, um die es in dieser
Untersuchung ebenfalls – wenn auch nur in zweiter Linie – geht, sind weniger
Thema der Aussagenpsychologe als – indirekter – Gegenstand der Entwicklungspsychologie Jean Piagets, genauer: seines Egozentrismuskonzepts. Seine
Arbeiten zur kognitiven Entwicklung in der Kindheit wurden lange und werden auch heute vielfach noch als grundlegend angesehen. Das gilt im Hinblick
auf die soziale Kognition allerdings nur mit Einschränkung. (Zur Entwicklung
der sozialen Kognition vgl. Silbereisen 1998). So lässt sich die Behauptung,
Egozentrismus, der aus mangelnder kognitiver Reife resultiere, mache es für
alle kognitive Bereiche dem Vor- und Grundschulkind unmöglich, die Perspektive des anderen zu übernehmen, zumindest pauschal nicht mehr aufrecht
erhalten: Bereits Vierjährige passen ihre Sprache dem Alter des Hörers bis zu
einem gewissen Grade an. In Interaktionen mit Puppen korrigieren sie einander und berücksichtigen die Informationsbedürfnisse der Mitspieler(innen)
(Foster 1990). Auch die Befunde „strategischen“ Argumentierens bei Kleinkindern zeigen, dass sie zumindest in typischen Situationen kindlichen Alltags
eigenes Wissen vom Wissen anderer zu unterscheiden vermögen (Völzing
1982).
Im kognitiven Umgang mit Wirklichkeit, in die Kinder nicht unmittelbar als
kommunikativ Handelnde involviert sind, gilt allerdings durchaus, was Piaget
in vielerlei Experimenten gezeigt hat: Es gelingt Kindern in dieser Phase nicht
oder nur sehr begrenzt, zwei oder mehr partiell gegenläufige oder einander
ausschließende Aspekte gleichzeitig zu beachten und in ihrer Wechselwirkung
zu verrechnen – sie neigen zur „Zentrierung“ eines der Aspekte (Piaget 1975,
358 u.ö.).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass nach Erhebungen des
Bochumer Instituts für Gerichtsmedizin – bezogen auf die Aussagen von Kindern im thematisch und situationell belastenden Rahmen von Gerichtsverfahren – der Anteil der 4- bis 6-jährigen, die für das jeweilige Verfahren „brauchbare und zuverlässige Aussagen“ machten, bei höchstens 50,4% lag. Je jünger
die Kinder waren, desto niedriger war der Anteil (s. Tabelle 1)3, wobei aus der
Untersuchung nicht hervorgeht, wie viel Anteil an den unzuverlässigen Aussagen auf Suggestionseinwirkungen zurückzuführen sind.
3
nach Michaelis-Arntzen 1997, 206.
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Tabelle 1: Anteil der Kleinkinder, die brauchbare und zuverlässige Aussagen
machten (Statistik des Bochumer Instituts für Gerichtspsychologie)
Altersgruppe
Vierjährige
Fünfjährige
Sechsjährige
Zeitraum 1967 bis 1973
34,9% (N = 83)
44,4% (N = 133)
50,4% (N = 256)
Zeitraum 1990 bis 1995
35,2% (N = 105)
40,0% (N = 135)
46,0% (N = 222)
2.3 Linguistik
Obwohl die Fragen der Abhängigkeit kindlicher Glaubwürdigkeit von medialen und erzählstrukturellen Gegebenheiten erhebliche linguistische Implikationen besitzen, liegen linguistische Forschungen zur Glaubwürdigkeit kindlicher
Aussagen bisher nicht vor. Gleichwohl sind für deren Untersuchung vor allem
linguistische Forschungsergebnisse zur Entwicklung der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit von Kindern, insbesondere der Erzähl- und Darstellungskompetenz von erheblichem Belang.
Schon Vierjährige verfügen über ein beachtliches Inventar von Sprechhandlungstypen (u.a. Behaupten, Bewerten, Fragen, Begründen und Erzählen)
(Zaefferer/ Frenz 1979, Grimm 1998). Sie erkennen die „Bennungsflexibilität“
(Grimm), die mit Sprechhandlungen vorgenommen wird, das heißt, dass eine
Form – insbesondere der Aussagesatz – unterschiedliche kommunikative
Funktionen übernehmen kann (Feststellung, Behauptung, Vorwurf etc). Dies
darf allerdings nicht den Blick dafür versperren, dass Kinder
Sprechhandlungen aufgrund unterschiedlicher kognitiver Schwierigkeitsgrade
nicht immer angemessen in allen möglichen Kontexten vollziehen können. So
ist es beispielsweise für Vorschulkinder aufgrund fehlender sprachlicher
Mittel schwierig, erfolgreiche Kooperationsangebote zu machen oder auf
Missverständnisse hinzuweisen (Kraft 1995). Ferner haben Vor- und frühe
Grundschulkinder größere Probleme, selbstverpflichtende Sprechhandlungen
(Versprechen) angemessener zu vollziehen als Aufforderungen, also
Sprechhandlungen, in denen versucht wird, den Hörer zu verpflichten (Grimm
1998).
Sprechaktbezogene Ansätze, deren analytische Grundeinheit in den meisten
Fällen nicht über die Einheit Satz hinaus geht und die in ihrer Sprecherzentrierung die Reaktionen des Hörers oft unbeachtet lassen – ein Manko, das besonders im Bezug auf Erzählen als interaktive Tätigkeit auffällt –, werden zuneh-
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mend durch gesprächsanalytische Ansätze ergänzt, die größere sprachliche
Einheiten thematisieren. Von besonderer Bedeutung sind die Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Erzählkompetenz. Vor allem ist untersucht
worden, wie sich die Erzählfähigkeit von den Anfängen in Form lakonischer
Ein- und Zwei-Satz-Äußerungen bis hin zu längeren Texten, die sämtliche
zum Schema der Textsorte (mündliche) Erzählung gehörigen Komponenten
enthält, entwickelt. Diesem Schema entsprechend gehören zu einer Erzählung
mindestens die Komponenten:4
(1) Orientierung (= Einführung von Person(en), örtlichen und zeitlichen Umständen),
(2) Komplikation (= Eintritt eines Ereignisses, das das Geschehen erzählenswert macht),
(3) Auflösung (= Darstellung des mit Beendigung der Komplikation gegebenen Zustands),
(4) Evaluation (= Stellungnahme des Erzählers).
Vor allem junge Kinder sind noch nicht in der Lage, ein Geschehen in seiner
Mehrgliedrigkeit in Form kontinuierlichen Erzählens kohärent wiederzugeben
und dabei sämtliche Komponenten des Erzählschemas zu realisieren (vgl.
Meng, 1994, 389f).
Im Hinblick auf das Durchhalten eines Themas stehen zwar bereits Dreijährigen mit Modalpartikeln und Intonation am Ende eines Beitrags sprachliche
Mittel zur Verfügung (Lindner 1983), doch reicht die Kapazität zur Erzählplanung und Themensteuerung normalerweise nicht, um über mehrere Gesprächszüge hinweg zu erzählen. Probleme beim sachgerechten und konsistenten Erzählen haben nicht nur kognitive, sondern auch sprachstrukturelle
Gründe. Noch bis zum Alter von neun Jahren haben Kinder Probleme, Personen, Orte und Ereignisse so einzuführen und beizubehalten, dass der Hörer
ohne Verstehensprobleme folgen kann, weil ihnen beispielsweise die Verwendungsweisen des bestimmten und unbestimmten Artikels noch nicht in allen
Nuancen vertraut sind (Hickman/ Liang/ Hendriks 1989).
Ein anderes – für die methodische Anlage unserer Untersuchung bedeutsames
– Bild ergibt sich allerdings, wenn man Erzählen nicht als monologische
Textsorte betrachtet, sondern als interaktiv realisierbare Kommunikationsaufgabe. Es gehört zur kommunikativen Kompetenz Erwachsener im Umgang
mit Kindern, durch Fragen nach kohärenzsichernden Geschehenszügen und
fehlenden Komponenten des Erzählschemas oder durch andere zum Weiter4
Vgl. Labov/ Waletzky 1967.
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erzählen stimulierende Anstöße umso mehr narrativ strukturierende Hilfen zu
geben, je jünger die Kinder sind bzw. je unvollständiger sie erzählen. So zeigen neuere Untersuchungen unterschiedliche Gesprächsaktivitäten erwachsener Hörer gegenüber Fünf- und Siebenjährigen (Quasthoff/ Hausendorff 1996,
vgl. auch Meng et al. 1991). In einer frühen Phase unterstützen Erwachsene
Kinder bei Problemen mit der Orientierung in Hinblick auf Personen, Orte und
Zeiten (Hoffmann 1984). Später helfen sie dem Kind bei der Herausarbeitung
zentraler Themen und deren Beibehaltung. „Scaffolding“ – ursprünglich von
Bruner (1978, 254) als Bezeichnung für früheste sprachliche Austauschroutinen zwischen Müttern und Säuglingen verwendet – ist der Terminus für
solche Strukturierungshilfen durch die Gesprächspartner. „Scaffolding“ besagt, dass Erwachsene einen Orientierungsrahmen als Grundgerüst bereitstellen, in den Kinder Einzelbeiträge einordnen können.
Scaffolding ist für unsere Untersuchung vor allem methodisch relevant. Wir
benutzen es als Technik, um den Kindern, die keine kontinuierlich-kohärente
narrative Darstellung des von ihnen erfahrenen Geschehens geben (können),
dennoch die Möglichkeit zur Rekonstruktion des Geschehens zu eröffnen.
Es sind bestimmte Aspekte eines Geschehens, die Kinder besonders gern narrativ thematisieren. Als solche zeigten sich bei der Untersuchung des kommunikativen Umgangs 4- bis 6-jähriger Kinder mit einer Kinderfernsehsendung
folgende „Merkmalsdimensionen“...:
-
-
Konfliktstruktur (z.B. in Form aggressiven Verhaltens),
emotionale Qualität (z.B. Angst oder Wut),
moralische Bedeutung (z.B. Verbot übertreten),
Nähe zu wichtigen eigenen Erfahrungen (z.B. gleiche oder gegensätzliche
Vorlieben oder Abneigungen),
dramaturgische Funktion (z.B. Movens oder Wendepunkt der Handlung).
Um zur Spitzengruppe der meistthematisierten Einzelzug-Items (= Geschehensmomente, J.K./ J.J.) zu gehören, genügt es nicht, über lediglich ein oder
zwei dieser Merkmale zu verfügen. Dort treten mindestens vier Merkmale zusammen“ (Gornik/ Klein 1991, 236). Das ist in unserer Untersuchung sowohl
bei der Operationalisierung der Dimension „narrativer Status von
Geschehensaspekten“ (vgl. Kap. 4.1) als auch bei der Vorbereitung des an der
Scaffolding-Technik orientierten halb-standardisierten Abschlussinterviews zu
beachten (vgl. Kap. 4.2).
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2.4 Medienpsychologie
In unserer Untersuchung wird – beschränkt auf die Aspekte Suggestibilität
und Irrtumsanfälligkeit – die Wiedergabe von unmittelbar Erlebtem verglichen
mit der Wiedergabe von televisionär und von auditiv Vermitteltem. Dies
bedeutet, den semiotischen Charakter des unmittelbaren Erlebens ernst zu
nehmen: Personen erleben und erinnern ein Geschehen – vor allem wenn sie
nicht selbst Hauptakteur sind – über visuelle, auditive und gegebenenfalls
haptische Sinneseindrücke. Das legt einen Vergleich zwischen Verarbeitung
und Erinnerung von Selbst-Erlebtem und von medial Vermitteltem nahe – ein
in der Forschung wenig beachtetes Thema.
Ausgiebiger untersucht ist dagegen das Verhältnis von Text und Bild, allerdings mehr im Hinblick auf Schrifttexte und stehende Bilder als im Hinblick
auf mündliche Texte und Laufbilder – letzteres typisch für Fernsehen. In der
psychologischen Forschung besteht Uneinigkeit über die Verarbeitung von
Text und Bild, insbesondere zwischen den Vertretern der „dualen Kodierungstheorie“ (insbesondere Paivio 1986, auch Clark/ Paivio 1991) und den
Vertretern einer „integrierten Theorie des Text- und Bildverstehens“ (z.B.
Schnotz/ Bannert 1999). Für unsere Untersuchung sind allerdings die
Forschungen zu den funktionalen Beziehungen zwischen Text und Bild von
größerem Interesse. Levin (1981) unterscheidet als Hauptfunktionen, die
Bilder im Hinblick auf zugehörige Texte haben, darstellende, organisierende,
interpretative, transformierende und dekorative Funktion. In Levin/ Anglin/
Carnay (1987) wurde gezeigt, dass die vier erstgenannten Funktionen positive
Auswirkungen auf Verstehen und Behalten haben.
Die „verständnisfördernde Funktion von Bildern in Texten ... ist ... dann zu
erwarten, wenn Text und Bilder explanativ sind, wenn verbale und piktoriale
Information aufeinander bezogen sind sowie räumlich oder zeitlich koordiniert
dargeboten werden und wenn das Individuum nur geringes domänen-spezifisches Vorwissen besitzt“ (Mayer, 1993 und 1997; nach Schnotz/ Bannert
1999, 218). In umgekehrter Richtung vermögen Texte das Verstehen und
Behalten von Bildern zu verbessern. Manchmal, z.B. im Falle des „Drudel“ (=
rätselhaftes Bild), ermöglichen sie das Bildverständnis überhaupt erst (Bower/
Karlin/ Dueck 1975). Im Normalfall bedienen sich Rezipienten beider Medien
und nehmen die Chance wahr, Verstehenslücken und -schwierigkeiten des
einen mit Hilfe des anderen zu kompensieren und/oder Verstehensprozesse auf
der Basis des einen Mediums durch gleichgerichtete auf der Basis des anderen
Mediums zu festigen (vgl. Ballstaedt/ Molitor/ Mandl 1987).
Für Verstehen und Behalten von Fernsehdarbietungen gilt das in einer besonderen Weise. Dort wird die Bildfolge vielfach erst kohärent durch den beglei-
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tenden Text. Darüber hinaus bedarf es zum Verstehen dessen, was zwischen
Schnitten, Zooms und Schwenks abläuft, der „inneren Verbalisierung“, die
allerdings nur möglich ist, wenn das Tempo der Bildfolgen den Rezipienten
die für diese kognitiv-verbale Operation notwendige „Halbsekunde“ lässt
(Sturm 1991, 115ff u. öfter).
3. Hypothesen
Auf der Basis der eingangs aufgeworfenen Fragen und der im Forschungsüberblick skizzierten Theoriekonzepte und Ergebnisse empirischer Forschung
wollen wir folgende Hypothesen überprüfen:
(1) Bei nicht belastenden Geschehnissen, die Kinder innerhalb ihres Alltagsrahmens erleben, per Video sehen oder die ihnen erzählt werden, liegt die
Suggestibilität niedriger als unter den Bedingungen forensischer Befragung. Das gilt zumindest, wenn suggestive Beeinflussung durch Falschinformation einen Tag später als das Geschehnis liegt und der Suggestionsversuch im Rahmen eines natürlichen Gesprächs erfolgt.
(2) Wird unter den ansonsten gleichen Bedingungen wie unter (1) auf suggestive Beeinflussung verzichtet, so ist die Zahl der Kinder, die im Hinblick auf dieselben Items Irrtumsanfälligkeit zeigen, wie auch die Anzahl
irrtümlicher Aussagen geringer als die Zahlen für suggestionsbedingte
Irrtümer im Falle von suggestiver Einwirkung.
(3) Die Anfälligkeit für suggestionsbedingten Irrtum ist abhängig vom Medium, in dem die Kinder das Geschehen wahrnehmen. Können Probanden
bei der Erinnerung auf multimodale, mehrkanalige Wahrnehmung zurückgreifen, so ist die Resistenz gegenüber Suggestion größer als in Fällen
zweikanaliger und in diesen Fällen wiederum größer als in Fällen monomodaler, einkanaliger Wahrnehmung.
(4) Unterschiede im narrativen Status eines von den Kindern zu
rekonstruierenden Geschehensaspekts wirken sich auf die
Suggestionschancen aus. Bei der Erinnerung an Details werden mehr
suggestionsbedingte Fehler gemacht als bei der Rekonstruktion zentraler
Gelenkstellen des Geschehens und dort wiederum mehr als bei der
Bewertung von Akteuren.
(5) Mit steigendem Alter lässt die Anfälligkeit der Kinder für
suggestionsbedingten Irrtum deutlich nach.
(6) Das Ausmaß von Suggestibilität hängt – entsprechend den überwiegenden
Befunden bei forensischen Befragungen – am meisten von der Variablen
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„Alter“ ab. Es folgen die Variablen „narrativer Status des
Geschehensaspekts“ und „Medium des Erlebens“.
(7) Die Suggestibilität ist da höher, wo auch die nicht-suggestionsbedingte
Irrtumsanfälligkeit höher ist.
4. Operationalisierung
4.1 Begriffsklärung und -spezifizierung
Vor allem folgende Begriffe bedürfen der Klärung und/ oder der Spezifizierung in überprüfbare Kategorien:
(1) Alltagsrahmen
(2) Suggestibilität
(3) Irrtumsanfälligkeit
(4) Altersstufen in der präoperationalen Entwicklungsphase des anschaulichen
Denkens
(5) Medien des Erlebens
(6) Narrativer Status von Geschehensaspekten.
4.1.1 Alltagsrahmen
Unsere Untersuchung befasst sich nicht mit Kindern in den Ausnahmesituationen von Missbrauchs- und Scheidungsprozessen. Untersucht werden die
Aussagen von Kindern über nicht-belastende Geschehnisse, mit denen sie innerhalb ihres Kindergarten- oder Grundschulalltags unmittelbar oder medial
konfrontiert werden. Anders, als es im Kontext von Prozessen häufig
geschieht, und anders als in den meisten psychologischen Tests zur Suggestibilität werden die Kinder – genauer: die Kinder einer der beiden von uns
gebildeten Gruppen (Näheres in Kap. 4.2.1) – zu jedem Geschehen nur einer
Suggestionskommunikation ausgesetzt, und zwar jeweils einen Tag nach
diesem Geschehen. Wiederum einen Tag später werden die Kinder veranlasst,
das Geschehen in einem nicht-suggestiv geführten halb-standardisierten Interview wiederzugeben. Dennoch dürften die Ergebnisse einer Untersuchung,
welche Suggestibilität und Irrtumsanfälligkeit von Kindern in unbelasteten
Normalkontexten zum Gegenstand hat, auch für die Frage nach Suggestibilität
und Irrtumsanfälligkeit in den oben genannten belastungsintensiven, oft durch
massive Suggestionsbemühungen gekennzeichneten Ausnahmesituationen von
Belang sein.
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4.1.2 Suggestibilität
Mit Endres/ Scholz/ Summa (1997, 84) definieren wir Suggestibilität (dort:
„Aussagensuggestibilität“) als „das Ausmaß..., in welchem eine Person Informationen in ihre Aussage über ein Ereignis übernimmt, die ihr durch Befragung oder nachträgliche Information in einem sozialen Kontext übermittelt
worden ist.“ In unserer Untersuchung handelt es sich bei den Informationen,
die den Probanden zur Übernahme suggeriert werden, ausschließlich um
nachweisbar falsche Informationen. Suggestive Beeinflussung ist durch mancherlei Sprechhandlungen möglich. Im Fokus der Forschung stand – bedingt
durch das Interesse an dem forensischen Gesprächstyp der Zeugenvernehmung – das suggestive Fragen5. Allerdings sind Suggestionsversuche – gerade
auch im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch und Scheidung – weder auf
Vernehmungssituationen noch auf den Sprechakttyp Frage beschränkt. Bevor
es zu Vernehmungen durch Personen der Jugend- und/ oder Rechtspflege
kommt, gibt es seitens Täter, Scheidungsbeteiligter o.a. neben Versprechungen, Bitten, Drohungen u.Ä. auch Suggestionsversuche, etwa indem dem Kind
die Korrektheit seiner Erinnerung bestritten und statt dessen ein anderer Geschehensablauf einzureden versucht wird. Wieweit solche Suggestionsversuche auch bei anschließender nicht-suggestiver Befragung wirksam sind, ist
bisher nicht ausreichend untersucht worden. Für uns ist die Kategorie der
Suggestibilität daher vor allem unter dem Aspekt von Interesse, inwieweit
schon einmalige, nicht-massive, möglichst unauffällige Suggestionsversuche
in einer späteren nicht-suggestiven Befragung Wirkung zeigen. Unter mehreren möglichen Formen der Darbietung nachträglicher Falschinformation beschränken wir uns auf verbale Formen im unauffälligen Kontext eines scheinbar zufällig sich ergebenden Gesprächs (Näheres in Kap. 4.2). Dabei wurde
die aussagenpsychologische Erkenntnis beachtet, dass beiläufig suggerierte Informationen verlässlicher Wirkung erzielen als Informationen, die sprachlich
auffälliger dargeboten werden (vgl. Endres et al. 1997). Die Falschinformation
5
Hier einige wichtige Typen suggestiver Fragen mit Beispielen aus dem forensischen Bereich (nach Endres/ Scholz/ Summa 1997, 195): Vorhaltfragen mit vorausgesetzten Fakten („Hat er das gestohlene Geld eingesteckt?“); Eingekleidete Wertungen und Deskriptionen („Wie schnell ist der X gerannt, als du ihn aus dem Laden flüchten sahst?“); Konformitätsdruck (sozialer Vergleich) („A und B haben auch gesagt, dass... hast du das nicht
auch gesehen?“); Illokutive Partikeln und Wendungen, eine bestimmte epistemische oder
evaluative Einstellung zur Sache implizierend („Du hast ja wohl den Schuß gehört,
oder?“); Fragewiederholung („Bist du wirklich sicher? Hat er das Geld genommen?“);
Negatives Feedback („Das gibt’s doch nicht, dass du das nicht mehr weißt!“); Drohungen
und Versprechungen („Ich frage dich so lange, bis du mir sagst, was der X mit dir gemacht hat. Vorher lasse ich keine Ruhe. Es wird dir gut tun, wenn du es endlich sagst.“).
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
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wurde mittels folgender Sprechhandlungen suggeriert: Behauptung, Feststellung, Korrektur, Vermutung, Begründung, Norm-Setzen, Bedauern, Präsupposition (= Teil einer Aussage, der als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt
wird, unabhängig davon, ob die Aussage wahr oder falsch ist).6
4.1.3 Irrtumsanfälligkeit
Die hier eingeführte Kategorie „Irrtumsanfälligkeit“ beziehen wir auf Grice’
Theorie der Kommunikation als kooperativem Handeln. (vgl. Grice 1975,
insbesondere 45ff). Nach Grice gehört zu den Maximen, in denen sich das für
Kommunikation konstitutive „cooperative principle“ manifestiert, die Obermaxime „Try to make your contribution one that is true“ und als eine ihrer
beiden Untermaximen: „Do not say that for which you lack adequate
evidence.“ Wer gegen diese Untermaxime verstößt, behauptet oder unterstellt
etwas unbegründeter Weise; er lügt zwar nicht7, aber er redet unfundiert. Da
solches Reden die rationale („reasonable“) Basis von Kommunikation als kooperativem Handeln (vgl. Grice 1975, 48) verletzt, ist es unter mündigen
Kommunikationsteilnehmern vorwerfbar. Der Begriff der Irrtumsanfälligkeit
meint diesen Fall, neutralisiert ihn aber im Hinblick auf Vorwerfbarkeit, da es
in dieser Untersuchung um Aussagen von Kindern in der präoperationalen
Entwicklungsphase geht.
Mit dem Begriff des Irrtums gerät man unweigerlich in die Wahrheitsproblematik. Um den Gefahren von Unerkennbarkeit oder Unentscheidbarkeit im
Hinblick auf Wahrheit so weit wie möglich zu entgehen, werden in dieser
Untersuchung zwei Vorkehrungen getroffen:
(1) Die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der kindlichen Äußerungen wird
ausschließlich an klar entscheidbaren Fällen vorgenommen, z.B. ob ein
Clown ein Jojo bei sich hatte oder nicht.
(2) Das Geschehen, über das die Kinder später berichten – die eine Gruppe
nach suggestiven Einwirkungsversuchen, die andere ohne solche – ist auf
Videofilm dokumentiert, so dass ein optimaler Maßstab zur Nachprüfbarkeit der Realitätsgerechtigkeit der kindlichen Aussagen vorliegt.
6
7
Vgl. die Suggestionstexte im Anhang. Aus Platzgründen wurde der Anhang ins Internet
gestellt, wo er ab Anfang 2001 auf der Internetseite des Instituts für Germanistik der
Universität Koblenz-Landau, Abt. Koblenz (Redaktion ZfAL; http://www.unikoblenz.de/~diekmann/linguistik/redaktion_zfal.html) abgerufen werden kann.
Auf Lügen bezieht sich die andere Untermaxime: „Do not say, what you believe to be
false.“
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Irrtumsanfälligkeit und Suggestibilität sind Dispositionsbegriffe. Es geht in
dieser Untersuchung darum, Bedingungen zu ermitteln, unter denen diese Dispositionen aktualisiert werden.
4.1.4 Altersstufen in der Phase des präoperational-anschaulichen Denkens
In der Entwicklungspsychologie pflegt die kognitive Entwicklung im Alter
zwischen 4 und 7 bzw. 8 Jahren nach Piaget als Hauptperiode in der präoperativen Phase, nämlich als Periode des „anschaulichen Denken“ zusammengefasst zu werden (vgl. Piaget 1975, 358ff u.ö.). Weil - bei aller phasenspezifischen Einheitlichkeit der kognitiven Struktur - für die Frage nach der
Glaubwürdigkeit kindlicher Aussagen unter forensischen Befragungsbedingungen altersbedingte Unterschiede festgestellt wurden (vgl. oben Tabelle 1),
haben wir 4-, 6- und 8-jährige Kinder als Probanden ausgewählt, d.h. Jahrgänge, die der durchschnittlichen unteren und oberen Grenze sowie der Mitte
der genannten Entwicklungsphase entsprechen.
4.1.5 Medien des Erlebens
Wir unterscheiden Medien des Erlebens nach den Sinnesmodalitäten, über die
die kindlichen Probanden das Geschehen, über das sie später befragt werden,
erfahren. Das sind
-
unmittelbares Erleben (visuelle, auditive und haptische Modalität)
Fernsehrezeption (visuelle und auditive Modalität)
mündliche Erzählung (auditive Modalität).
Angesichts der dürftigen Forschungslage gehen wir von der Alltagsbeobachtung aus, dass - analog zu der gut nachgewiesenen wechselseitigen Verstärkung von Text und Bild beim Verstehen und Behalten - das Vorhandensein
visueller, auditiv-verbaler und gegebenenfalls haptischer Information auch
beim unmittelbaren Erleben Verstehen und Behalten positiv beeinflussen,
während das bloße mündliche Erzählen ungünstigere Bedingungen bietet.
Bei der Auswahl des audio-visuell dargebotenen Geschehens war darauf zu
achten, dass die für die Integration von Text und Bild notwendigen Bedingungen (s.o.) vorlagen. Diese sind bei der in ruhigem Bild- und Erzählfluss und in
kindgerechter Sprache konzipierten Geschichte von kleinen Drachen Fauch
aus der TV-Kindersendung „Siebenstein“ ohne Abstriche gegeben. (Text siehe
Anhang)
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
41
4.1.6 Narrativer Status von Geschehensaspekten
Das Geschehen, das den Kindern zu präsentieren ist, muss, wenn sie eine
Chance zur narrativen Rekonstruktion haben sollen, kindgerecht sein. Geschichten sind kindgerecht, wenn sie einen einfachen chronologisch präsentierten Handlungsstrang mit einer oder zwei Hauptpersonen und wenigen Nebenpersonen in klar unterscheidbaren Rollen beinhalten, und zwar bezogen
auf Themen, mit denen Kinder sich identifizieren können.
Drei besonders wichtige Dimensionen zur Bestimmung narrativ rekonstruierten Geschehens spannen sich auf zwischen den Polen
-
tragendes Handlungsmoment – nebensächliche Einzelheit
Prozess (Geschehen) – Person (Akteur)
Darstellung – Bewertung.
Daher konzentriert die Untersuchung sich auf die Suggestibilitäts- und Irrtumsbetroffenheit von
-
-
Gelenkstellen des Geschehens, d.h. Stellen, die für die innere Logik (Kohärenz) des Geschehens bedeutsam sind,
Details, die für die innere Logik des Geschehens nebensächlich sind,
Bewertung von Akteuren.
Da die erfolgreiche Beeinflussung komplexer, persönlich bedeutsamer Ereignisse einen höheren kognitiven Überschreibungsaufwand fordert als Suggestion zu peripheren Bereichen, gehen wir in Hypothese 4 von einer unterschiedlichen Verteilung der Suggestionswirkung für die drei relevanten Variablen Gelenkstelle, Detail und Bewertung aus. Erwartet werden mehr Irrtümer
in der Kategorie „Detail“ als in der auf größere Sinneinheiten abzielenden
Kategorie „Gelenkstelle des Geschehens“ und in dieser wiederum mehr als in
der Kategorie „Bewertung“, – womit hier immer Personen-Bewertung gemeint
ist – weil wir bei Wertungen eine größere Involviertheit annehmen als bei
wertneutralen Sachverhaltensaussagen. Ein analoges Verhältnis wird auch für
nicht auf Suggestion zurückzuführende Fehler bei der Kontrollgruppe erwartet.
Im Hinblick auf das Verstehen von Personenkonstellationen und Interaktionen
sind die Ergebnisse der Forschungen zur sozialen Kognition (vgl. Silbereisen
1998) und zur kindlichen Argumentationsfähigkeit (Völzing 1982) wichtig.
Aus ihnen ergibt sich im Hinblick auf Arrangement bzw. Auswahl der Geschehnisse, in die die Probanden involviert bzw. die ihnen präsentiert werden,
42
ZfAL 34, 2001. 27-61.
dass Kinder auch schon in der Phase des präoperational-anschaulichen Denkens in der Lage sind, zumindest in einfachen, der Kinderwelt nahen Fällen
-
-
-
rollen- und interessenbedingte Standpunkte zu begreifen, z.B. Neid derjenigen, die etwas Schönes nicht haben, im Unterschied zur Freude derer, die
es haben;
absichtliche von unabsichtlichen Regelverstößen zu unterscheiden, etwa
wenn ein kleiner Drachen mit seinem Feueratem unbeabsichtigt Brände
verursacht;
zu begreifen, dass die Geltungsstärke von Normen von Bedingungen abhängt, z.B. dass man etwas nicht verraten darf, wenn man das einer Freundin fest versprochen hat, oder: dass einer vor allem dann nicht lügen darf,
wenn man damit einem anderen Leid zufügt.
4.2 Methode und Anlage der Untersuchung
In dieser Untersuchung werden mehrere Methoden miteinander verknüpft. Wir
unterscheiden Methoden der Datengewinnung, der Datenrepräsentation und
der Datenauswertung.
4.2.1 Methoden der Datengewinnung
In der Aussagenpsychologie herrscht das Laborexperiment vor. Im Unterschied dazu verknüpfen wir zur Datengewinnung ein Feldexperiment mit
einem abschließenden halbstandardisierten Interview. Die Untersuchung
erfasst 24 Kinder aus Koblenzer Kindergärten und Grundschulen, wovon 12
Kinder Suggestionen ausgesetzt werden (S-Gruppe) und 12 Kinder nicht
(Kontrollgruppe = K-Gruppe). Beide Gruppen setzen sich zu gleichen Teilen
zusammen aus Vier-, Sechs- und Achtjährigen, je zur Hälfte Jungen und Mädchen. Es wurde darauf geachtet, dass die Kinder dem kognitiven Durchschnitt
ihrer Altersgruppen entsprachen und dass die soziale Herkunft der Kinder
relativ breit gestreut war. Als „Feld“ fungieren die Gruppenräume der Kindergärten und die Klassenräume der Schulen als alltägliche Umgebung der Probanden. Die Kinder beider Gruppen erleben drei durch unterschiedliche Medialität charakterisierte Situationen, über die sie zwei Tage später in einem halbstandardisierten Interview unter Einsatz der scaffolding-Technik befragt
werden.
Situation 1: Ein Clown taucht überraschend in der Kindergartengruppe/
Schulklasse auf, lädt die Kinder ein, mit ihm in den Zirkus zu kommen, verschwindet aber unverrichteter Dinge, während die Erzieherin/die Lehrerin bei
der Kindergarten-/Schulleitung um Genehmigung für den Zirkusbesuch fragt.
Situation 2: Die Kinder sehen einen Ausschnitt aus einer Folge der TV-Kin-
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
43
derserie ‚Siebenstein‘ (ZDF): die Geschichte vom kleinen Drachen Fauch, der
seine Insel verlässt und nach einigen unglücklich endenden Erlebnissen
schließlich im Zirkus auftreten darf und dort einen Freund gewinnt.
Situation 3: Die Erzieherin/Lehrerin erzählt eine Geschichte, die sie angeblich
selbst erlebt hat, nämlich wie sie in das Dilemma geriet, einerseits das Geheimnis ihrer Freundin – den Diebstahl eines Kuscheltieres – nicht zu
verraten, andererseits die Mutter des bestohlenen Kindes über den Verbleib
des Kuscheltieres nicht zu belügen.8
Die Kinder der S-Gruppe werden jeweils am Tag nach dem Erleben einer Situation unauffällig in ein Gespräch verwickelt, in dem ihnen etwas suggeriert
wird, das mit der tags zuvor erlebten Situation nicht übereinstimmt, und zwar
jeweils ein Detail, eine zentrale Gelenkstelle des Geschehens und eine Personenbewertung. Das geschieht folgendermaßen: Eine freundliche, jedoch den
Kindern unbekannte erwachsene Person macht sich mit denjenigen Kindern
vertraut, die der Suggestion ausgesetzt werden sollen und bittet sie zu einem
kleinen Gespräch in einen Raum der jeweiligen Institution, der den Kindern
bekannt ist. Als Vorwand dient Interesse an allgemeinen Umständen des kindlichen Lebens in Schulen und Kindergärten, an Ablauf und Organisation der
Institutionen, an Ereignissen im sozialen Umfeld der Kinder etc. Kommt während dieses in freundlichem Plauderton geführten Gesprächs die Rede auf das
Ereignis des Vortags, so präsentiert die erwachsene Person einen suggestiven
Text, der die Geschehnisse in Hinblick auf die Aspekte „Detail“, „Gelenkstelle der Handlungsstruktur“ und „Bewertung“ verzerrt: So wird zur Situation 1 (Clownauftritt) auf der Ebene der Details wahrheitswidrig behauptet,
der Clown habe auch ein Jojo dabei gehabt und es den Kindern gezeigt. Die
Struktur der Geschichte wird dahin gehend verändert, dass unterstellt wird, es
sei der Clown gewesen, der die Kinder gebeten habe, die jeweilige Leiterin
der betreffenden Schule oder des Kindergartens um Erlaubnis zu fragen, ob sie
mit ihm den Zirkus besuchen dürften. In Wahrheit war es die jeweilige Erzieherin bzw. Lehrerin, die dies getan hatte. Zur suggestiven Beeinflussung auf
der Ebene der Bewertung wird den Lehrerinnen/ Erzieherinnen Neid unterstellt, weil sie angeblich nicht in den Zirkus hätten mitgehen dürfen. Letzteres
sei als Beispiel für Suggestion im informellen Gespräch wörtlich wiedergegeben:
8
Die standardisierten Texte des Clowns (Sit. 1) und der Erzählung der Erzieherin/ Lehrerin
(Sit. 3) sowie der Text der TV-Geschichte (Sit. 2) sind im Anhang (vgl. Anm. 7) abgedruckt.
44
ZfAL 34, 2001. 27-61.
„Was hat eure Erzieherin/Lehrerin (Name) denn dazu gesagt? Fand die
das gut? Ich glaub, die fand das nicht gut. Weißt du warum? Die war
wohl ein bisschen neidisch. Denn wenn ihr in den Zirkus gegangen
wärt, hätte sie im Kindergarten (in der Schule) bleiben müssen. Denn
Erzieherinnen (Lehrerinnen) dürfen das nicht einfach: in den Zirkus
gehen, wenn sie im Kindergarten (in der Schule) arbeiten müssen.“9
An diesem Suggestionstext lässt sich verdeutlichen, welche Rolle sprachliche
Mittel beim Suggerieren spielen. Es sind die unauffälligen „kleinen“ Wörter –
Modalpartikel und Konjunktionen –, die hier die Funktion der kognitiven
Steuerung leisten. Die Modalpartikel „denn“ (im ersten Satz) signalisiert eine
Antwortpflichtigkeit des angesprochenen Kindes als Selbstverständlichkeit.
Die Modalpartikel „wohl“ („Die war wohl ein bisschen neidisch“) führt die
suggerierte Falschinformation nicht hart als Behauptung, sondern als zur Bestätigung einladende Vermutung ein, die dann sofort durch zwei aufeinander
aufbauende Begründungen (jeweils mit der Konjunktion „denn“ beginnend)
plausibel gemacht wird.
Sollten Kinder den Wahrheitsgehalt der Situationsdeutung durch die locker
plaudernde Erwachsene anzweifeln, war vorgesehen, mangelnde kindliche
Aufmerksamkeit zu unterstellen:
Erw.:
Kind:
Erw.:
Kind:
Ja, und ′n Jojo hatte der auch dabei, ne?
(verneinend) Mm. Das hat er uns nicht gezeigt. Weiß ich jetzt
nicht. Das kann / das weiß ich jetzt nicht.
Ja, vielleicht hast du auch nicht so genau Acht gegeben, weiß
man nicht.
(unsicher): Mhm.
Jeweils zwei Tage nach dem Erleben einer Situation wurden die Kinder beider
Gruppen – für die S-Gruppe war dies gleichzeitig jeweils ein Tag nach der
suggestiven Einwirkung – in einem halb-standardisierten nicht-suggestiven
Interview nach den erlebten Situationen befragt, und zwar konzentriert auf die
Kategorien Detail, Gelenkstelle der Handlungsstruktur und Personenbewertung.10 Als Interviewform wurde das halbstandardisierte Interview gewählt,
weil einerseits die Einheitlichkeit der erfragten Kategorien zu gewährleisten
war (insoweit Standardisierung), andererseits aber genügend kommunikative
Flexibilität gelassen werden musste, um mit den Kindern ein natürlich er9
Die vollständigen Suggestionstexte zu allen Ereignissituationen sowie alle Fragen der
formellen Abschlussinterviews erscheinen ebenfalls im Anhang.
10
Der Leitfaden für das halbstandardisierte Interview ist im Anhang abgedruckt.
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
45
scheinendes Gespräch unter Verwendung der scaffolding-Technik (s.o.) führen zu können.11
Der Ablauf im Einzelnen war folgendermaßen: Nachdem sich die Interviewerin als eine freundliche Person vorgestellt hat, die mit Kindern arbeitet und
gerne wissen möchte, wie diese erzählen und behalten können, kommt sie darauf zu sprechen, dass sie gehört habe, vorgestern habe es etwas ganz Besonderes gegeben. Aus zeitlichen Gründen und aufgrund des Wissens um die Probleme jüngerer Kinder mit der Einführung von Zeit, Person und Ort übernimmt
sie die Orientierung:
„Da war doch vorgestern ein Clown bei euch, in der Klasse.“
Erfolgt - wie in allen Fällen - eine positive Rückmeldung, gibt sie zu verstehen, sie wisse nichts genaueres und rekonstruiert dann zusammen mit dem
Probanden die vor zwei Tagen stattgefundene Erlebnissituation. Dabei verwendet sie eine nicht-suggestive Fragetechnik, die auf Vorschlägen von
Arntzen (1989) und Sporer/ Franzen (1994) beruht und in forensischer Begutachtungspraxis prominent ist. Damit sich die Kinder zu Beginn des Interviews
nicht vorschnell festlegen müssen und Zeit zum Erinnern bekommen, wird
sehr allgemein gefragt:
„Was war denn da los?“
In den meisten Fällen reicht dies aus, um den Probanden einen erfolgreichen
Erzählbeginn zu entlocken. Reagieren diese jedoch noch nicht, was vor allem
bei den Vierjährigen geschehen kann, so wird in Form einer „Trichtertechnik“
spezieller gefragt:
„Da ging doch plötzlich die Tür auf?“
Offene Fragen (Leerfragen) dieser Art bilden einen Typ nicht suggestiver
Befragung. Andere verwendete Fragen sind Bestimmungsfragen, die als
Gedächtnisstütze Alternativen anbieten. In Hinblick auf das zu berichtende
Ereignis dürfen – als Bedingung für Suggestionsfreiheit – die angebotenen
Alternativen nicht zutreffen:
Interviewerin: „Wollte der (Clown) mit euch auf den Hof, in den
Garten, oder wo solltet ihr mit ihm hingehen?“
Kind:
„In den Zirkus.“
Andere nicht suggestive Fragetypen wie Ja-Nein-Fragen („Hat die Lehrerin
etwas gesagt?“) und Bestimmungsfragen („Wann war der Clown bei euch?“)
11
Es bedarf keiner näheren Erläuterung, warum bei Kindern dieses Alters ein standardisiertes Interview nicht in Frage kam.
46
ZfAL 34, 2001. 27-61.
spielten in unseren Interviews nur eine untergeordnete Rolle, da sie durch die
offeneren Frageformen weitgehend überflüssig wurden.
Die innerhalb der Interviewsituation durchgeführte Befragungstechnik, die im
Sinne der „Trichtertechnik“ von offenen Fragen ausgeht und erst allmählich
spezifischer wird, zeigt nicht nur in Hinblick auf weitgehend suggestionsfreie
Befragung, sondern auch in Hinblick auf die Erzählkompetenz ihre Vorteile.
Besonders die jüngste Altersgruppe profitiert von einem seitens der Interviewerin geleisteten Verzicht, bereits die ersten Beiträge in eine kohärente Abfolge zu bringen. Die durch scaffolding-Techniken unterstützte Strategie des
So-Tuns, als sei es von Beginn an kindliche Intention, zusammenhängend zu
erzählen, gepaart mit dem Wunsch, die Kinder mögen der Interviewerin doch
helfen, das Erlebte richtig zu verstehen, stellt gute Erinnerungshilfen bereit,
die auch angenommen werden. Dadurch ist es möglich, die Kinder zur Abarbeitung von mehr Erzählzügen zu veranlassen. Gedächtnispsychologisch wird
so der Tatsache Rechnung getragen, dass kleine Kinder mehr Einzelheiten und
Gesprächsteile reproduzieren können, wenn sie Gelegenheit haben, während
der ersten Äußerungen nicht unbedingt die Chronologie des zu berichtenden
Ereignisses einhalten zu müssen.
4.2.2 Methoden der Datenrepräsentation
Um den Realitätsgehalt der kindlichen Darstellungen überprüfen zu können,
wurden die im Feldexperiment realisierten Ereignisse auf Videoband, die verbalen Anteile dann als Schrifttext festgehalten. Die späteren Interviews mit
den Kindern wurden per Kassettenrecorder dokumentiert und dann verschriftet.
4.2.3 Methoden der Datenauswertung
Die Daten aus den Verschriftungen wurden quantitativ ausgewertet. Die Codierung, d.h. die Zuordnung der Kindertexte zu den Auswertungskategorien
hat qualitativen Charakter, d.h. hier spielt die sprachliche Kompetenz und die
Kontextkenntnis der Codierer bei der Zuordnung der kindlichen Äußerungen
zu einer Kategorie die entscheidende Rolle.
5. Ergebnisse
Zur Erleichterung des Verständnisses sind die Hypothesen vor der Darstellung
der einzelnen Untersuchungsergebnisse jeweils nochmals abgedruckt.
Hypothese 1: Bei nicht belastenden Geschehnissen, die Kinder innerhalb ihres
Alltagrahmens erleben, per Video sehen oder die ihnen erzählt werden, liegt
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
47
die Suggestibilität niedriger als unter den Bedingungen forensischer Befragung. Das gilt zumindest, wenn suggestive Beeinflussung durch Falschinformation einen Tag später als das Geschehnis liegt und der Suggestionsversuch
im Rahmen eines natürlichen Gesprächs erfolgt.
Obwohl die Kinder die Geschehnisse in den drei Situationen in ihrer natürlichen Umgebung, also anders als unter forensischen oder unter Laborbedingungen, erlebt, gesehen, und/oder gehört haben, war die Suggestionswirkung
beträchtlich. Die nur 24 Stunden später erfolgte Darbietung geschickt suggerierter Falschinformationen bewirkte, dass sich 83,3% der Kinder in mindestens 11,1% der Antworten irrten. 50% der Kinder irrten sich sogar in
mindestens 22,2% der Antworten (siehe Tabelle 2).16 Insgesamt wurden 21
Falschantworten gegeben. Bezogen auf die Gesamtzahl der Antworten der SGruppe (n=108) waren dies 19,4%.
Tabelle 2: Suggestionsbedingte Falschantworten der Suggestionsgruppe (SGruppe)
Kinder: n =12, Frage-Items: n = 917
Suggestionsbedingte
Falschantworten pro Kind
absolut Anteil an Gesamtmenge der Antworten
0
(0,0%)
1
(11,1%)
2
(22,2%)
3
(33,3%)
4
(44,4%)
5
(55,5%)
6
(66,6%)
7-9
(77,8%) – (100,0%)
16
Kinder
absolut
2
4
4
1
1
-
Anteil an Gesamtmenge der Antworten
(16,7%)
(33,3%)
(33,3%)
(8,3%)
(0%)
(0%)
(8,3%)
(0%)
Im Folgenden geben wir aus Gründen der Verständlichkeit unsere Angaben in Prozent
an, obwohl die Anzahl der Probanden unter 100 lag. Um zu demonstrieren wie die
Tabelle zu lesen ist, geben wir ein Beispiel für die zweite Zeile: „4 Kinder, das sind
33,3% der Probanden, beantworten jeweils eine von neun möglichen Fragen falsch. Eine
falsche Antwort entspricht einem Anteil von 11,1%“.
17
n = 9 ergibt sich daraus, dass suggestive Beeinflussung bei jeder der drei Situationen
(unmittelbares Erleben; Video-Vorführung; mündliches Erzählen) jeweils bezüglich
dreier Erzählelemente (Detail, zentrale Gelenkstelle, Personenbewertung) versucht und in
der Abschlussbefragung auf ihre Wirkung hin überprüft wird.
48
ZfAL 34, 2001. 27-61.
Überraschend waren vor allem zwei Befunde: erstens dass sich auch zentrale
Aspekte eines Ereignisses durch geringfügigen methodischen Aufwand stark
verzerren ließen (Näheres dazu unten bei den Ergebnissen zu Hypothese 4),
zweitens dass die Anzahl suggestionsresistenter Probanden trotz Situationen,
die für die Kinder alles andere als angstbesetzt erfahren wurden, gering war,
und zwar mit nur 16,7% deutlich geringer als in den vorliegenden aussagenpsychologisch-forensischen Untersuchungen. Dort schwankt der Anteil der
suggestionsresistenten Probanden zwischen 42% (Ceci et al.; nach Greuel et
al. 1997, 182) und 26,4% (nach Michaelis-Arntzen 1997, 205 auf der Basis
hoher Probandenzahlen). Damit ist die erste Hypothese nicht bestätigt. Die
Suggestibilität erwies sich unter Alltagsbedingungen höher als unter
forensischen Bedingungen.
Hypothese 2: Wird unter den ansonsten gleichen Bedingungen wie unter
Hypothese 1 auf suggestive Beeinflussung verzichtet, so ist die Zahl der
Kinder, die im Hinblick auf dieselben Items Irrtumsanfälligkeit zeigen, wie
auch die Anzahl irrtümlicher Aussagen geringer als die Zahlen für
suggestionsbedingte Irrtümer im Falle von suggestiver Einwirkung.
Diese Hypothese wird bestätigt. Zum einen zeigt der Vergleich von Tabelle 3
mit Tabelle 2, dass mit 25% immerhin 8,3% mehr Kinder in allen Befragungen zu den relevanten Items irrtumsfrei antworteten. Zum anderen liegt die
Irrtumsrate, bezogen auf alle Antworten der K-Gruppe (n=108), bei 16 Antworten (=14,8%), ein Unterschied zur S-Gruppe (21 Antworten, 19,4%) von 5
Antworten oder 4,6% weniger. Dieser Befund ist insofern von Bedeutung, als
er zeigt, dass suggestionsbedingte Fehlerhaftigkeit kein Randphänomen einer
umfassenden kindlichen Irrtumsanfälligkeit ist. Dazu sind die Zahlen für
nicht-suggestionsbedingten Irrtum zu gering.
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
49
Tabelle 3: Nicht suggestionsbedingte Falschantworten der Kontrollgruppe (KGruppe)
Kinder: n=12, Frage-Items: n=9
Nicht suggestionsbedingte Falschantwor- Kinder
ten pro Kind
absolut
Anteil an Gesamtmenge der absolut
Antworten
0
0,0%
3
Anteil an Gesamtmenge der
Kinder
25,0%
1
11,1%
4
33,3%
2
22,2%
3
25,0%
3
33,3%
2
16,7%
4-9
44,4% - 100,0%
-
-
Exkurs:
Es wäre interessant gewesen, auch bei der S- Gruppe die nicht suggestionsbedingten Irrtümer zu messen. Wir haben diese Befunde erhoben. Es stellte sich
heraus, dass die Kinder der S-Gruppe durchgängig weniger nicht-suggestionsbedingte Irrtümer begingen als die K-Gruppe. Unsere erste Vermutung war,
dass bei K-Gruppe und S-Gruppe ein unterschiedliches kognitives Niveau
vorliege. Aber abgesehen davon, dass alle anderen Indikatoren dagegen sprachen, wurde uns klar, dass die S-Gruppe unter dem Aspekt nicht suggestionsbedingter Falschaussagen durch die Versuchsanordnung sehr viel günstigere
Bedingungen vorfand als die K-Gruppe: während die Kinder der K-Gruppe
zwischen dem Tag der erlebten Situation und der Befragung (am übernächsten
Tag) keinerlei Erinnerungshilfen hatten, brachte das Suggestionsgespräch ja
nicht nur die Implementierung von Suggestion, sondern darüber hinaus eine
Vergegenwärtigung des erlebten Geschehens und damit eine erhebliche
Erinnerungshilfe genau in der zeitlichen Mitte zwischen Erleben und
Erzählen.
Hypothese 3: Die Anfälligkeit für suggestionsbedingten Irrtum ist abhängig
vom Medium, in dem die Kinder das Geschehen wahrnehmen. Können
Probanden bei der Erinnerung auf multimodale, mehrkanalige Wahrnehmung
zurückgreifen, so ist die Resistenz gegenüber Suggestion größer als in Fällen
zweikanaliger und in diesen Fällen wiederum größer als in Fällen
monomodaler, einkanaliger Wahrnehmung.
50
ZfAL 34, 2001. 27-61.
Aus unseren Daten geht hervor, dass sich die Medien des Erlebens unterschiedlich stark auf den Suggestionserfolg auswirken. Tabelle 4 zeigt die
Werte für die S-Gruppe, wobei wir besonders den Blick insbesondere auf die
Spalte „suggestionsbedingter Irrtum“ richten möchten.
Tabelle 4: Medien des Erlebens und Suggestion
Antworten der S-Gruppe (n=108)
nicht suggestionsbedingter
Irrtum
absolut
%
Situation 1
(Erleben)
(n=36)
Situation 2
(TV-Sendung)
(n=36)
Situation 3
(Mündliche Erzählung) (n=36)
suggestionsbedingter Irrtum
korrekte Antworten
nicht brauchbar
absolut
%
absolut
%
absolut
%
2
5,6
4
11,1
29
80,6
1
2,8
1
2,8
6
16,7
24
66,7
5
13,9
1
2,8
11
30,6
13
36,2
11
30,6
30,6% von 36 Antworten zur mündlichen Erzählung, 16,7% Antworten zur
Fernsehsendung und 11,1% der Antworten zur selbsterlebten Clownsituation
zeigten Suggestionswirkung. Das bedeutet: Am meisten sind Kinder suggestionsgefährdet, wenn sie etwas nur gehört haben, am wenigsten, wenn sie ein
Geschehen in mehreren Sinnesmodalitäten (Auge, Ohr, Hand) unmittelbar
erfahren haben. Dieser Befund wird durch die Korrektheitswerte noch verstärkt. Zu der selbst erlebten Situation geben die S-Kinder 80,6% richtige
Antworten, zu der nur gehörten mündlichen Erzählung nur 36,2%. Die SGruppe zeigt demnach in ihrer Suggestionsresistenz das in der Hypothese
prognostizierte Verhalten: geringere Suggestionsresistenz bei einkanaliger
Wahrnehmung der Situation, höhere Resistenz bei zweikanaliger und höchste
Resistenz in Fällen mehrkanaliger Wahrnehmung. Auffallend ist der Anstieg
der nicht brauchbaren Antworten relativ zur Wahrnehmungsmöglichkeit der
Quellensituation, ein Phänomen, das auch bei der K-Gruppe auftritt.
Innerhalb der Situation 1, des Clownauftrittes, waren die Kinder stark in das
Geschehen involviert. Nicht nur die auditive und visuelle, sondern auch die
haptische Modalität konnte die nachfolgende Erinnerung beeinflussen, da der
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
51
Clown einige Kleinigkeiten an die anwesenden Schul- bzw. Kindergartenkinder verteilt hatte.
Innerhalb der aussagenpsychologischen Forschung stößt man auf die Beobachtung, dass Ereignisse oder Aspekte, die nicht peripher und die persönlich
eher bedeutsam sind, mit geringerer Anfälligkeit für Falschinformationseffekte verknüpft sind. (Saywitz et al. 1991, 682.) Dieser Befund kann durch unsere Ergebnisse bestätigt und präzisiert werden: Die aktive Teilnahme an
einem persönlich bedeutsamen Ereignis (der Clownauftritt der Situation 1)
unter der Bedingung, dieses multimodal wahrzunehmen, verringert – im Gegensatz zur bloßen Beobachtung – die Wirksamkeit suggestiver Beeinflussung, ohne diese vollends zu eliminieren.
Hypothese 4: Unterschiede im narrativen Status eines von den Kindern zu
rekonstruierenden Geschehensaspekts wirken sich auf die Suggestionschancen
aus. Bei der Erinnerung an Details werden mehr suggestionsbedingte Fehler
gemacht als bei der Rekonstruktion zentraler Gelenkstellen des Geschehens
und dort wiederum mehr als bei der Bewertung von Akteuren.
Die Frage, ob das Ausmaß von Suggestibilität und Irrtumsanfälligkeit davon
abhängt, ob man falsche Details, ob man falsche Informationen über zentrale
Gelenkstellen des Geschehens oder ob man falsche Bewertungen über Personen suggeriert, ist von besonderem linguistischen Interesse. Denn damit ist der
narrative Status der darzustellenden Geschehensmomente angesprochen:
Betrifft die Wiedergabe der induzierten Falschinformation stärker Details und
damit auf der Textebene eher die Domäne objektbezogener, überwiegend
substantivischer Einzelzeichen oder mehr Handlungsorganisation und/ oder
Personenbewertungen und damit unter linguistischen Aspekten überwiegend
mehr oder weniger komplexe Prädikatsstrukturen?
Hypothese 4 wurde im ersten Teil bestätigt: am stärksten wirken suggestive
Falschinformationen über Details. Von 36 Antworten zum Erzählelementetyp
Detail waren 27,8% der Antworten suggestionsbedingt falsch. Es folgen die
Kategorien „Gelenkstelle“ mit 19,4% und Personenbewertung mit 11,1%
suggestionsbedingten Falschantworten (vgl. Tabelle 5).
52
ZfAL 34, 2001. 27-61.
Tabelle 5: Narrativer Status und Suggestion
Antworten der S-Gruppe in allen Situationen (n=108)
nicht suggestions- suggestionsbedingter Irrtum
bedingter Irrtum
absolut
%
absolut
%
Detail
(n=36)
Zentrale
Gelenkstelle (=36)
Bewertung
(n=36)
korrekte Antworten
absolut
%
nicht brauchbar
absolut
%
2
5,6
10
27,8
22
61,1
2
5,6
-
-
7
19,4
24
66,7
5
13,9
2
5,6
4
11,1
20
55,6
10
27,8
Das in Tab. 5 vorhandene Gesamtbild einer deutlichen Abstufung mit den
Details als Spitzenreiter bei den suggestionsbedingten Irrtümern (27,8%) und
der Personenbewertung als suggestionsresistentester Kategorie (11,1%)
differenziert sich etwas, wenn man die situationsspezifischen Ergebnisse
betrachtet. Denn die suggestionsbedingten Irrtümer sind unterschiedlich über
die einzelnen Situationen verteilt. Für die Kategorie Detail betragen sie 16,7%
(Clownssituation), 25,0% (TV-Sendung) und 41,7% (mündliche Erzählung)
Für die zentrale Gelenkstelle betragen die Werte 8,3%, 8,3% und 41,7%. Für
die Bewertung lauten die Zahlen 8,3%, 16,7% und 8,3%. Dass die Detailirrtümer von den Kategorien des Erzählstatus am zahlreichsten auftreten, liegt
insbesondere am Abschneiden der S-Gruppe in der Situation 3. Hier zeigt sich
offensichtlich die kognitive Überforderung, wenn zu der Erinnerung an eine
einkanalig wahrgenommene Dilemmageschichte noch suggestive Intervention
hinzutritt. In der Situation 1, in der die Kinder selbst ins Geschehen involviert
waren, lag die Suggestibilität dagegen deutlich darunter. Die geringere Zahl
der suggestionsbedingten Irrtümer dort – jeweils nur 8,3% bei der zentralen
Gelenkstelle und der Bewertung – resultieren wohl aus starker Involviertheit
in die Situation. Da alle Kinder den Wunsch hatten, den Clown in den Zirkus
zu begleiten, beobachteten sie die Reaktion der Erzieherin/ Lehrerin, von
deren Entscheidung die Erfüllung dieses Wunsches abhängen konnte, sehr
genau. In diesem Moment zeigte sich die Fähigkeit erfolgreicher
Perspektivübernahme auch bei den jüngeren Kindern. Die Rollenübernahme
gelingt offenbar früh und angemessen, wenn Kinder in Handlungen involviert
sind und strategische Interessen verfolgen (Völzing, 1982, 111ff).
53
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
Hypothese 5: Mit steigendem Alter lässt die Anfälligkeit der Kinder für
suggestions- und nicht suggestionsbedingten Irrtum deutlich nach.
Davon ausgehend, dass das Alter eine zentrale Rolle bei der Anfälligkeit gegenüber Suggestion spielt, waren die in Tabelle 6 ausgewiesenen Ergebnisse
der S-Gruppe eine Überraschung. Es ließ sich zwar in Hinblick auf die korrekten Antworten eine altersbedingte Zunahme feststellen: so waren bei den
Vierjährigen 52,8% von 36 Antworten richtig, bei den Sechsjährigen 58,3%
und bei den Achtjährigen 72,2%. (vgl. Tabelle 6).
Tabelle 6: Alter und Suggestion
Antworten der S-Gruppe in allen Situationen (n=108)
nicht suggestib- suggestibler
korrekte Antnicht brauchbar
ler Irrtum
Irrtum
worten
absolut
%
absolut
%
absolut
%
absolut
%
4-jährige
(n=36)
6-jährige
(n=36)
8-jährige
(n=36)
2
5,6
5
13,9
19
52,8
10
27,8
2
5,6
8
22,2
21
58,3
5
13,9
-
-
8
22,2
26
72,2
2
5,6
Im Hinblick auf die Suggestibilität blieb dieses Altersgefälle jedoch aus: Die
Vierjährigen zeigten sich mit 13,9% Falschantworten sogar weniger suggestibel als die Sechs- und Achtjährigen, die auf jeweils 22,2% Irrtümer kamen. In
dieser Hinsicht wurde die Hypothese also nicht bestätigt. Hier muss allerdings
bedacht werden, dass ein deutlich größerer Anteil der Antworten der Vierjährigen infolge Ausweichens oder Nichterinnerns nicht verwertbar war. Als
ausgemachter „Ausreißer“ erschien diese Gruppe allerdings in den Aussagen
zur Situation 1 (der Clown), in die sie selbst involviert gewesen war. Hier
waren von 12 gegebenen Antworten 83,3% richtig. Auch unter sehr jungen
Kindern findet sich demnach unter der Voraussetzung multimodaler
Wahrnehmung der Quellensituation, Involviertheit ins Geschehen und nicht
suggestiver Befragung Suggestionsresistenz.
54
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Exkurs: Egozentrismus und sprachliche Verstehensdefizite als Suggestionsbarrieren.
Dass der in der Forschung häufiger ermittelte Effekt erhöhter Suggestibilität
der jüngsten Proband(inn)en sich in unserer Untersuchung nicht einstellte,
dürfte in ihrem – verglichen mit älteren Kindern – stärkeren kommunikativen
Egozentrismus begründet sein: Wenn der Egozentrismus auch geringer ist, als
in der Piagetschen Entwicklungspsychologie angenommen (s.o.), so manifestieren sich egozentristische Tendenzen doch in der geringeren Fähigkeit
von Kindern im Vorschulalter, beiläufig Gesagtes zu beachten und indirekt,
d.h. in Form von Andeutungen, Implikaturen, Implikationen und Präsuppositionen Gesagtes angemessen zu verstehen. In unserem Feldexperiment wurden
die Suggestionsversuche beiläufig eingestreut, und zwar nur einmal, und das
innerhalb eines lockeren Gesprächs in natürlicher Umgebung – wohingegen
beim Gros der vorliegenden Untersuchungen mit experimentellen Designs
gearbeitet wird, die forensische Situationen dadurch zu simulieren versuchen,
dass die Probanden den gleichen suggestiven Fragen mehrfach ausgesetzt
werden, und zwar keineswegs beiläufig.
Dazu kam in dem suggestionsinduzierenden Gespräch zur Situation 1 (ClownBesuch), wo den Probanden suggeriert wurde, der Clown habe ein Jojo dabei
gehabt, Folgendes: Falls Kinder äußerten, sie hätten kein Jojo gesehen, wurde
dies seitens der erwachsenen Gesprächspartnerin kommentiert: „Dann hast du
sicher nicht darauf geachtet.“ Entsprechend der auch früher schon gemachten
Beobachtung, dass in Fällen linguistisch defizitären Wissens Kinder infolge
ungenügenden Sprachverständnisses gegenüber Suggestionsversuchen
resistent bleiben können (Ceci/ Bruck, 1993, 414), scheinen einige unserer 4jährigen Probanden die semantische Implikation des Verbgefüges „auf etwas
achten“ – nämlich dass darin ein Bemühen um Aufmerksamkeit steckt – nicht
vollzogen zu haben.
Dass dies bei den älteren Probanden anders aussah, beruht neben dem geringerem Maß an Egozentrismus und höherer Sprachkompetenz möglicherweise
auch auf institutionsbedingten Unterschieden im sozialen Wissen: Im Normensystem des Kindergartens spielt der Wert, die Umwelt als Lernwelt wahrzunehmen, noch keine große Rolle. Das sieht in der Schule anders aus. Infolge
ihrer Sozialisation in die Institution Schule haben bereits die 6-Jährigen gelernt, dass es zu negativen Reaktionen kommen kann, wenn auf die Präsentation bestimmter Gegenstände und Sachverhalte im Unterricht nicht geachtet
wird. So ist eine kognitive Überlegenheit, die in Hinblick auf Gedächtnisstrategien und Weltwissen bei den 6- und 8-Jährigen besteht, in sozialpsychologischer Hinsicht zu relativieren, wenn ein Erwachsener innerhalb der Institu-
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
55
tion Schule Unsicherheiten der Erinnerung dahin gehend verstärkt, dass er
beiläufig unterstellt, das Schulkind habe vielleicht nicht auf bestimmte Aspekte – hier auf ein Detail – geachtet.
In unserer Untersuchung führte der beiläufige Hinweis auf Nicht-Achtgeben
dazu, dass einige Proband(inn)en dazu neigten, die Antworten zu geben, von
denen sie annahmen, sie seien sozial erwünscht. Diese in der Forschung berichtete Einstellung (vgl. Endres/ Scholz/ Summa 1997, 204) findet sich allerdings nicht bei allen Schulkindern. Vielmehr liegt ein Spektrum von bereitwilliger Übernahme von Falschinformation bis zu deren dezidierter Zurückweisung vor. Im ersten Fall liefert ein 8-Jähriger Proband während der Abschlussbefragung das falsche Detail bereitwillig, indem er es unter spekulativer Ausschmückung in seinen Bericht integriert. Auf die Frage, was denn der
Clown dabei gehabt habe, antwortet er:
„Dann hatte er noch ein Jojo dabei, hat ein Bisschen Jojo gespielt.“
Konträr dazu steht die kurze, aber bestimmte Abwehr des Suggestionsversuchs, ebenfalls durch einen 8-Jährigen:
Erwachsene: Und ein Jojo hatte er auch dabei, ne.
Proband: Ein Jojo? Nicht, dass ich wüsste.
Hypothese 6: Das Ausmaß von Suggestibilität hängt – entsprechend den
überwiegenden Befunden bei forensischen Befragungen – am meisten von der
Variablen „Alter“ ab. Es folgen die Variablen „narrativer Status des
Geschehensaspekts“ und „Medium des Erlebens“.
Aus den bisher angeführten Zahlen lässt sich ableiten, welcher der drei
Variablen den größten Einfluss darauf hat, in welchem Ausmaß Suggestion
wirksam wird. Am meisten ändert sich das Ausmaß der Suggestionswirkung,
wenn das Medium, in dem die Kinder ein Geschehen erfahren, wechselt. (Vgl.
Tab. 4) Bei der Rekonstruktion des bloß Erzählten gab es 30,6%, bei der
Wiedergabe eigenen Erlebens nur 11,1% suggestionsbedingte Falschantworten
– ein Unterschied von 19,5%. Am geringsten wirkte sich überraschenderweise
das Alter aus (vgl. Tab. 6): Die suggestionsbedingten Falschantworten liegen
bei den Sechs- und Achtjährigen mit 22,2% gleichauf, bei den Vierjährigen
sind es nur 13,9%, ein Unterschied von 8,3%, und zwar ein Unterschied, der
umgekehrt-proportinal zur These von der mit dem Alter abnehmenden
Suggestibilität verläuft. (Nur wenn man die Zahlen für Suggestibilität und
Unsicherheit zusammenzählt, ergibt sich wieder eine Altersabhängigkeit.)
Dazwischen liegen die Unterschiede beim narrativen Status (vgl. Tab. 5): Hier
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wurde zwischen dem Aspekt Detail mit 27,8% suggestionsbedingten Irrtümern
und dem Aspekt Bewertung mit 11,1% ein Unterschied von 16,7% ermittelt.
Hypothese 7: Die Suggestibilität ist da höher, wo auch die nicht-suggestionsbedingte Irrtumsanfälligkeit höher ist.
Diese Hypothese wurde überwiegend nicht bestätigt. Das gilt sowohl für die
Abhängigkeit der Befunde von den drei Variablen ‚Medium des Erlebens’,
‚narrativer Status des zu rekonstruierenden Geschehensaspekts’ und ‚Alter’ als
auch für die Abhängigkeit der Befunde von den jeweiligen Ausprägungen der
Variablen (unmittelbares Erleben/ TV-Bildgeschichte/ mündliche Erzählung
für ‚Medium des Erlebens’; Detail/ Gelenkstelle des Geschehens/ Personalbewertung für ‚narrativen Status’ und 4-/6-/8-Jährigkeit für ‚Alter’).
Während die Häufigkeit wirksamer Suggestion am stärksten vom Medium des
Erlebens abhängt, am zweitstärksten vom narrativen Status des suggerierten
Items und am wenigsten vom Alter, verhält es sich bei den nicht suggestiv bedingten, nicht stimulierten Irrtümern der K-Gruppe anders. Dort zeigte sich
folgende Abhängigkeitshierarchie:
(1) Narrativer Status des zu rekonstruierenden Geschehensaspekts: Die Zahlen
streuen zwischen 2,8% Irrtümern bei den zentralen Gelenkstellen und
27,8% Irrtümern bei der Angabe von Details: eine Differenz von 25%.
(2) Alter: Die Abhängigkeit vom Alter ist demgegenüber mit 16,6% Differenz
(5,8% Irrtümer bei den 8-jährigen gegenüber 22,8% bei den 4-jährigen)
geringer.
(3) Medium des Erlebens: Mit einer Streuung von nur 5,6% zwischen einer
Irrtumsrate von 16,7% bei der Darstellung von unmittelbar Erlebtem und
von 11,1% bei der Auskunft über die mündliche Erzählung hat das Medium des Erlebens den geringsten Einfluss auf die Häufigkeit nicht suggestionsbedinger Irrtümer.
Auch hier zeigt sich Alter nicht als entscheidender Einflussfaktor auf die
Irrtumswahrscheinlichkeit. Es ist vielmehr in erster Linie vom Typus des
jeweiligen Geschehensaspekts abhängig, wie wahrscheinlich ein kindlicher
Irrtum ist.18
18
Unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten bedeuten unsere Ergebnisse, dass
zumindest in der Altersspanne zwischen 4 und 8 Jahren das Alter nicht der primäre
Einflussfaktor im Hinblick auf die Wahrheitsqualität kindlicher Aussagen ist – weder für
suggestionsbedingte noch für nicht suggestionsbedingte Irrtümer. Ob dies eine Bestäti-
J. Klein/ J. Jäger: Kinderaussagen – Wie glaubwürdig sind sie?
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Im Rahmen dieser Untersuchung wurden die Befunde zu den nicht suggestionsbedingten Irrtümern in der K-Gruppe als Folie für die Erforschung von
Suggestionswirkungen (in der S-Gruppe) benötigt. Da genügt es, die generellen quantitativen Verhältnisse zwischen suggestions- und nicht suggestionsbedingten Irrtümern zu ermitteln sowie die Frage zu klären, ob es gleiche oder
analoge Wahrscheinlichkeiten bei der Abhängigkeit von Faktoren gibt. Wäre
Letzteres der Fall, so handelte es sich um Gleichursächlichkeit, bei der der
suggestionsbedingte Irrtum derselben Logik wie der nicht suggestionsbedingte
folgen würde. Dem stehen allerdings die referierten Ergebnisse entgegen. Sie
zeigen die Eigenständigkeit des suggestionsbedingten Irrtums. Gerade deshalb
wäre es reizvoll, auch die nicht suggestionsbedingten Irrtümer der K-Gruppe
genauer zu untersuchen. Die Daten – 58% korrekte kindliche Rekonstruktionen in den Interviews bei 15% nicht suggestionsbedingter Irrtümer – sprechen
dafür, dass sich an diesem Material etliche Argumente für ein Bild kindlicher
Kommunikation finden lassen, in dessen Zentrum nicht mehr der Begriff Egozentrismus steht, das aber gleichwohl einige – an bestimmte sozio-kommunikative Konstellationen und/ oder kognitive Aufgabenstellungen gebundene –
egozentrische Züge enthält. Dies genauer zu untersuchen, behalten wir einem
anderen Beitrag vor.
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Entwicklungsphase (hier der präoperationalen Phase) eher gering sind, und
Altersabstände nur bzw. in erster Linie zwischen unterschiedlichen Entwicklungsphasen
von großer kognitiver Relevanz sind, muss hier offen bleiben – um dies zu entscheiden,
müsste eine vergleichende Untersuchung mit älteren Kindern jenseits der präoperationalen Phase durchgeführt werden.
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Prof. Dr. Josef Klein
Universität Koblenz-Landau
Der Präsident
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Abt. Koblenz
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