Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung
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Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung
Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung Grundmuster der Kommunikation Thesen und Beispiele Dissertation an der Universität Kassel Fachbereich Kunstwissenschaft Werner Pelikan Kassel, 03.02.2005 2 I. Einleitung 4 a. Allgemeine Projektbegründung 4 b. Ausgangsthesen 8 II. Das Phänomen Mythos 14 a. Das Mitteilungssystem 17 b. Die Deutungsansätze 21 1. Allegorismus und Symbolismus 2. Die Dialektik des mythischen Bewusstseins und die Dialektik der Aufklärung 3. 25 Psychologische und ritualistisch-soziologische Mythos-Deutungen 4. 22 29 Deutungen mittels numinoser Erfahrung und strukturalistischer Analyse 32 c. Die Kernelemente des Mythos 36 d. Die Erscheinungsformen des Mythos 40 III. Mythos und Werbung a. Die Entstehung werblicher Mythenbilder 44 45 1. Die Rahmenbedingungen für die Werbung 45 1.1. Allgemeine Rahmenbedingungen 45 1.2. Verbraucherspezifische Rahmenbedingungen 47 1.3. Anbieterspezifische Rahmenbedingungen 54 2. Die Werbekonzeption als Fundament der Markenbildung 56 2.1. Grundlagen der Werbekonzeption 57 2.2. Marken, Beispiele werblicher Mythenbildung 60 b. Die Manifestation der Mythen in der Werbung 68 1. Die Wirkungsweise der Markenmythen 68 2. Die Werbung als Makromythos 74 3. Abwehr- und Relativierungsstrategien 80 3 IV. Mythos und Kunst a. Der Kunstbetrieb 81 1. Der kulturelle Hintergrund 81 2. Der aktuelle Bedingungskanon des Kunstbetriebs 84 b. Die Manifestation des Mythos in der Kunst 1. Der einzelne Mythos-Stoff im Wandel 93 93 1.1. Die Nympha 94 1.2. Die Medusa 113 2. Der Mythos und einzelne Künstler 128 2.1. Picasso und Duchamp 129 2.2. Magritte und Warhol 139 2.3. Beuys und Broodthaers 147 2.4. Barney und Cattelan 156 2.5. … und mehr 165 c. Wesentliche Mythoselemente in der Kunst im Überblick V. 81 171 1. Mythos ,abstrakt’ 172 2. Mythos ,im Modell’ 183 Mythosanalyse als Orientierungshilfe zur Standortbestimmung von Kunst und Werbung 190 a. Das verflixte Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Werbung und die Rolle des Mythos 190 1. Gemeinsames und Differenzierendes 190 2. Die Liebe zur Werbekritik 202 b. Entmythologisierung oder Remythologisierung VI. 208 1. Die mythische Postmoderne 208 2. Mythosanalyse und praktische Philosophie 212 Schlussbemerkungen 216 Abbildungsverzeichnis 222 Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder 231 Literaturverzeichnis 232 4 I. Einleitung Der Rückblick auf das letzte Jahrhundert und die ersten Jahre des neuen Jahrtausends macht deutlich, dass die rationalisierte Welt noch nicht ausreichend vernünftig ist. Wir sprechen von Postmoderne, sollten wir auch von Post-Aufklärung sprechen? Wenn wir uns an dieser Stelle mit dem Mythos in Kunst und Werbung auseinandersetzen, so hat dies zweifellos mit einem gespaltenen Mythosbewusstsein in unserer Gesellschaft zu tun. Die einen werden sagen: Hoffentlich ist der Mythos endlich mal weg; die anderen werden argumentieren: Davon ist uns zu wenig geblieben. Diese völlig gegensätzlichen Einschätzungen führen zu differenzierten Lösungsvorschlägen, wenn es um Ideen zur Bessergestaltung unseres Zusammenlebens geht. Ein Projekt, das sich auf die Begriffe Mythos, Kunst, Werbung und Kommunikation stützen will, muss sich nunmehr zu den einzelnen Gründen für gerade dieses Vorhaben in dieser Zusammenstellung erklären. a. Allgemeine Projektbegründung Zur Projektbegründung und ihren Fragestellungen lassen sich anschaulich zwei Betrachtungsweisen anführen: Zum ersten möchten wir dazu mit Hilfe von drei Beispielen aus der formalen Objektgestaltung – nennen wir es von der Ästhetik im strengen Sinn – ausgehen: 1. Zwei Künstler malen im Jahr 2000 gleichzeitig Mona L.: Einer, weil er sie einfach schön findet, der andere, weil er einen Auftrag erhält. Es entstehen zwei ausdrucksstarke, rätselhaft lächelnde Porträts. In beiden Fällen liegt der Gestaltung das geheimnisvolle Lächeln der Gioconda zu Grunde, jenes ursprüngliche, tiefsinnige Lächeln, das neben seiner bildhaften Subtilität zur zeitlosen Idealisierung des WeiblichGeheimnisvollen geworden ist. Ein lebendiger Mythos also, der auf griechische Vorbilder (z.B. Kora von Chios, ca. 520 v.Chr., Akropolis-Museum Athen) zurückgehen könnte, aber abgewandelt durch diese beiden Künstler, aktuell benutzt wird. – Ist eines der Bilder Kunst, das andere nicht? Nun wandert ersteres ins Museum und wird zusätzlich vielfach reproduziert (Kataloge, Postkarten), das zweite wird als Titelbild einer Wochenzeitschrift abgebildet. Ändert sich der Kunstcharakter? Wohl kaum. Eine offenkundig neue Situation aber tritt ein, wenn eines der Bilder auf der Rückseite des Magazins eine zusätzliche Dimension erhält: L’Oréal-Lippenstift oder Lux-Seife. Das künstlerische Objekt an sich bleibt bestehen, es wird jedoch untergeordnet bzw. Mittel zum Zweck in einem neuen Gefüge. 5 Jener lebendige Mythos wird mindestens erneut abgewandelt, wenn nicht gar durch Bereicherung verarmt. 2. Zwei zeitgenössische Fotografen, Richard Prince und Oliviero Toscani, beschreiben jeder auf seine Art den Verbrauch der Natur und den Hedonismus unserer Tage (vgl. Abb.1, 2 und Tabl.1): Abb.1a: Richard Prince, Boat, full yard, next to GNH Lumber Yard in Norton Hill, Fotografie, 1966/99 Abb.1b: Richard Prince, Untitled (Party), Fotografie, 1966/99 Abb.2a: Oliviero Toscani, United Colors of Benetton, Ente, 1992/93 Abb.2b: Oliviero Toscani, United Colors of Benetton, HIV, 1992/93 R. Prince O. Toscani Mythos Amerika Mythos Benetton Landschaft Ente Party HIV Naturverbrauch Abb. 1a + 2a Hedonismus / „Ausleben“ Abb. 1b + 2b Tabl.1: Mythen im Vergleich: R. Prince und O. Toscani 6 Prince demonstriert auf seine Art – in Frage stellend, wenn nicht subversiv – einen Teil der heutigen US-Identität, die allgemeinhin als ,Mythos Amerika’ beschrieben werden kann, mittels deren Umgang mit Natur und mittels deren Partygestalt: eine Aussage gegen die Konditionierungen der Massenkultur und deren Verbindlichkeiten.1 Toscanis Problemgestalten ,Ente’ oder ,HIV-Körper’ bezeichnen allgemeine Zeiterscheinungen, die ebenso Amerika betreffen können, gleichzeitig aber durch den Zusatz United Colors of Benetton (à la United States of America) in eine andere Welt (Konsumwelt) befördert werden. Wiederum ist, wie bei Mona L., durch die Addition des Logos eine abweichende Struktur entstanden, auch wenn mancher mit JeanChristophe Ammann oder Julian Nida-Rümelin übereinstimmen wird, dass auch nach dem Markenzusatz künstlerische Elemente das Plakat dominieren (selbst wenn es auf einer journalistischen Vorlage beruht).2 3. Der Weg von Amor und Psyche durch die Jahrhunderte ist vielfältig. Eine Erzählung aus den Metamorphosen des römischen Dichters Apuleius (ca. 125 – 180) geht höchstwahrscheinlich auf einen alten griechischen Mythos zurück, der mit der Geschichte dieser beiden Figuren Höhen und Tiefen körperlicher und seelischer Liebe beschrieb. Aus dem stattlichen Jüngling und dem jungen Mädchen der Griechen werden in den Kunstwerken Roms niedliche Kinder. Die Renaissance und das Paris des 19. Jahrhunderts gestalten ihre zahlreichen Ausprägungen, bis wir bei Mel Ramos’ Parodie auf den neoklassischen Idealismus und schließlich dem Mythos-Motiv des Werbefotos für Betten – mit hinzugefügter Marke – ankommen3. Der Mythos scheint sich für Transformationen, gleichermaßen in Kunst und Werbung, zur Verfügung zu stellen. In allen drei Beispielen stoßen Kunst und Werbung zusammen. Ein Gleiches, das wir als Mythos bezeichnen können, bestimmt ihre Schnittmengen, sodass die Frage nach der Grenzziehung zwischen Kunst und Werbung und der Rolle des Mythos evident wird. Zum zweiten ergibt sich neben obigem streng ästhetischen Ansatz aus einer erweiterten kulturphilosophischen Perspektive die Frage, welche Interdependenzen 1 In diesem Zusammenhang halten wir fest, dass R. Prince bei seinen Arbeiten u. a. auch vorhandene Fotos erneut für seine Zwecke fotografiert, also „Fertigteile“ (Ready-mades) nach seinen Vorstellungen umgestaltet. Vgl. Noever, Peter; MAK Center, Wien (Hg): richard prince, the girl next door. Wien 2000, S. 63 – 67. 2 Nida-Rümelin, Julian: Werbung und Ethik. In: Bäumler, Susanne, Münchner Stadtmuseum (Hg): Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame, DuMont, Köln 1996, S. 327 – 335, hier: S. 333. 3 Vgl. Zänker, Jürgen: Amor & Psyche. In: Hartmann, Hans A.; Haubl, Rolf (Hg): Bilderflut und Sprachmagie, Westdeutscher Verlag, Opladen 1992, S. 123 – 140. – Übrigens: Bei Apuleius darf Psyche Amor nicht ansehen, weil er sonst entschwindet. Das „Märchenhafte“ der Situation trägt dazu bei, dass Amor sein „Kindliches“ erhält. 7 zwischen mythischem Denken und dessen Widersacher bzw. Kontrastprogramm, dem aufgeklärten Rationalismus einerseits sowie Kunst und Werbung andererseits bestanden bzw. bestehen. Ist nicht affirmative Werbung mit ihren mythischen Bezügen eines der Resultate der sogenannten aufgeklärten Industrie-, Informations- und Erlebnisgesellschaften und haben diese nicht wiederum zu besonderen Formen der künstlerischen Darstellung – zum Beispiel verschiedenen Gradierungen der Abstraktion – geführt? Vor welchem Hintergrund benutzen die künstlerischen Avantgarden des letzten Jahrhunderts ihre – wie Peter Bürger es nennt – „Kategorien … [zur] Erfassung des avantgardistischen Kunstwerks“: das Neue, den Zufall, die Allegorie, die Montage?4 Welchen Anteil hat die Werbung an dem, was die Gesellschaft zu diesem unermesslichen Konglomerat selbstbezogener Individuen macht, woran die Kunst womöglich lediglich noch als kommerzieller Teilhaber fungiert? Oder gibt es Werte in dieser erlebnishungrigen Informationsgesellschaft, die die Werbung mythifizierend aufgreift und vervielfältigt, die die Kunst eventuell vernachlässigt hat? Erneut geht es bei diesen Fragestellungen um das Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Werbung, allerdings jetzt erweitert um eine imaginäre Stufenleiter der kulturrelevanten Orientierungen unter rationalen und nichtrationalen Aspekten und um entsprechende, verbindende Kommunikations- und Vermittlungsbezüge, letztlich zum Verstehen, wenn nicht gar zur Veränderung bestehender (Miss-)Verhältnisse. Eine Mythos-Diskussion kommt an einem Kritikansatz zur Aufklärung nicht vorbei. Unsere Fragestellung – wie Tabl.2 zeigt – wird komplexer: Mythos Werbung Kulturelle Wertestrukturen Kunst Aufklärung Tabl.2: Individuelle und gesellschaftliche (Kommunikations-/Vermittlungs-)Bezüge um Kunst/Werbung und Mythos/Aufklärung 4 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Suhrkamp 727, Frankfurt/M. 1974, S. 76 – 116. 8 b. Ausgangsthesen Vor diesem Hintergrund lässt sich der Zweck der Fragestellung unseres Projekts konkreter wie folgt zusammenfassen: 1. Eine Diskussion der Phänomene Kunst und Werbung zueinander – insbesondere unter dem Mythosaspekt – erscheint allein schon wegen ihrer jeweiligen gewaltigen Anteile am gegenwärtigen Kulturgeschehen eine Notwendigkeit zu sein; denn beide mischen sich dominant unter das enorme Unterhaltungsangebot unserer Erlebnisgesellschaft. Durchaus anders als die Gegenstände der Religion oder der Philosophie sind darüber hinaus in fast jeder Tages- oder Wochenzeitung ausdrücklich Themen des Mythos im Gespräch. Bezugspunkte sind dabei häufig Geschichten, die sich um Ereignisse, Personen und Vorstellungen im Rahmen des Zeitgeistes als ein begrenztes Stück Wirklichkeit entwickelt haben – also Geschehnisse (Untergang der Titanic, olympische Zeremonien), Personen (John F. Kennedy, Albert Einstein) oder Produkte (Marlboro, Chanel), daneben aber auch Rückgriffe auf allgemeine Vorstellungsbilder (Mythos Amerika, Mythos Jugendlichkeit, Mythos des Bösen) oder Rückgriffe auf Images der klassischen Antike (Sisyphos, Odysseus) oder solche auf Denkmuster der Ureinwohner unserer Erde (Mythen der Natur). Siehe Abb.3: Abb.3: Mythos-Spiegel 9 Dieser mythische Geist – singulär auf einen Mythos bezogen oder daneben als mythische Gesamtheit verstanden – scheint einen Sinnzusammenhang zu repräsentieren, der vor wie nach der Jahrtausendwende unsere Wahrnehmung erfasst und unser Verhalten steuern kann. Keine Zeitwende hat ihn aufgehalten, vielleicht verändert, aber nicht beseitigt. Oft hat er historisch-archaischen Charakter, manchmal tritt er im Seidenhemd eines Popstars auf, manchmal in der Verpackung eines begehrenswerten Konsumartikels, manchmal auf dem Podest eines Museums oder im Bilderrahmen einer Galerie, manchmal im akademischen Text eines Philosophen als zu erklärende Bewusstseinslage etc. These 1: Der Mythos tritt in verschiedenen Qualitäten bzw. Formen auf und stellt in seiner allgemeinsten Form den Träger einer Botschaft bzw. eines Sinnzusammenhanges dar, ist also ein Mitteilungssystem, das sich darüber hinaus auch als besondere, als mythische Bewusstseinsebene – neben dem rationalen Denken der Neuzeit – in Kunst und Werbung offenbart. Es ist daher notwendig, einen erweiterten Mythos-Begriff zu verfolgen. 2. Es ist viel über Autonomie der Kunst gesprochen worden, deren ideologischer Anspruch sich aus dem Absetzen von Alltags- und Massenkultur ableitet. Avantgarden suchten und suchen nach neuen formalen und inhaltlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Gerade weil aber werbliche ebenso wie künstlerische Bestrebungen auf neue, überraschende Darstellungen aus sind, bedarf es der Analyse der jeweils unterschiedlichen Zielprojektionen. Werbung folgt dem Ziel eines Auftraggebers nach Darlegung von Glück- und Machbarkeitsversprechen auf der Grundlage von Produkten im weitesten Sinn, die in der Regel durch Marken gekennzeichnet sind. Kunst hingegen sucht den Anlass der Reflexion, stößt den Betrachter neuerdings in Irritationen, die ihn bei Beteiligung Grenzüberschreitungen zu neuen Erkenntnissen für seine Lebensgestaltung ermöglichen können – an dieser Stelle gleichgültig, ob konservativ festhaltend oder progressiv erneuernd. Zur Bewältigung dieser unterschiedlichen Aufgaben benutzen beide mythische Ausdrucksformen, wobei Umformungen eines ursprünglichen oder vorhergehenden Mythosbildes entstehen. Dabei können künstlerische oder werbliche Gestaltungsprozesse selbst ein neues Mythengebilde wachsen lassen. These 2: Kunst und Werbung als wesentliche Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Zusammenlebens treten mit unterschiedlichen Zielsetzungen an (unter- 10 schiedliche Funktionen). Unter Einsatz mythischer Substanz führt dies jeweils zu gezielten Transformationsprozessen der Grundmaterie und zur Bildung neuer Mythen in beiden Segmenten, die Einfluss auf unsere Lebensverhältnisse ausüben können. 3. Bewusst oder unbewusst, zielgerecht, nachlässig oder mit Vorsatz verfremdet werden mythische Vorstellungsbilder also zur Illustration, als Beweis oder Gegenbeweis, als Beglaubigung oder als Weltanschauung rundum von jedermann zitiert, eine Gemengelage im aktuellen Medienkonzert, die auf fließende Grenzen zwischen Kunst und Werbung schließen lässt. Hieran knüpft sich die Frage, wie ein Künstler es dennoch schaffen könnte, nicht vom populären Mainstream vereinnahmt zu werden, selbst wenn – oder gerade weil – er sich der modernsten (in der finanzstarken Werbung entwickelten, erprobten und damit festgelegten) Techniken der neuen Medien bedient. Oder auch umgekehrt: Verschenkt der Künstler bei Anlehnung an Mythen orientierte Werbung ein Stück seiner selbst? These 3: Der Mythos bietet die Chance der illustrativen Darstellung von Ent- und Remythologisierungs-Prozessen im Sinne bestimmter Zweck- bzw. Wunschvorstellungen (s. auch These 2). Dabei entstehen bei der Kunst u.a. Gefahren der Vereinnahmung durch die allgemeinen Kulturbedingungen, bei der Werbung u.a. das Risiko der Überbewertung werblich vorgeschlagener Lösungen. 4. Das Auseinanderhalten von Kunst und Werbung ist also kein Selbstzweck, da beide - bei aller Nähe und Verästelung – unterschiedliche Funktionen ausüben, deren Erkennen zur Selbstorientierung, zur bewussten Entscheidung für oder gegen einen Sachverhalt von Bedeutung ist. Eine Mythosanalyse, das heißt die Feststellung und Beschreibung eines mythischen Zusammenhangs, ist daher notwendige Voraussetzung für einen differenzierten, freiheitsbewussten Lebensentscheid, da sich mythischer Geist – ausgestattet mit besonderer Gewichtigkeit (,Bedeutsamkeit’) – ja nicht nur direkt, sondern auch indirekt und zum Teil auf den ersten Blick unsichtbar, in diesen beiden Kulturphänomenen aufhält und von dort aus auch auf andere Lebensbereiche einwirkt, etwa die Politik. These 4: Die Verschachtelung von Kunst und Werbung und deren Bezug zum Mythos erfordert eine Mythosanalyse, um zu differenzierten Lebensentscheiden zu gelangen. 11 5. Die westliche Industriegesellschaft ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Informationsgesellschaft mutiert, wobei letztere zur Zeit ihr Lieblingskind hegt und pflegt: die Erlebnisgesellschaft, die alle anderen ,Gesellschaften’ (Minderheiten, Kirchen, selbst die Arbeitswelt) überstrahlt und in ihrem ichbezogenen Gegenwartskult mit immer neuen Krediten ihre sogenannte „Zukunft“ erhält. Diese Überlagerung wird im Besonderen den Massenmedien mit ihren exponierten Vertretern der Unterhaltungsindustrie sowie der Werbung und deren Initiatoren zugeschrieben. Angesichts der Entwicklung unserer Gesellschaft in Umfang und heterogenen Substrukturen einerseits und der ständig sich ausweitenden Informationsmöglichkeiten (TV, Internet, Buch, Presse, Events etc.) andererseits kann es kaum um die Frage gehen, ob es gut oder schlecht ist, dass es Massenmedien gibt; vielmehr geht es darum sicherzustellen, dass die Massenmedien ihre übermittelten kulturellen Werte verantworten können, nachdem die Industriegesellschaft jenes kommunikative Verhältnis, das als Gesamtheit der Massenmedien bekannt ist, unabwendbar gemacht hat5. Zur Betrachtung dieser kulturellen Werte gehört aber nicht nur das erforderliche Auseinanderhalten von Kunst und Werbung mittels einer Mythosanalyse, sondern für einen differenzierten Lebensentscheid ist es ebenso wichtig, dass diese fundierte Mythosbetrachtung auch zu einer (lebendigen) Mythoshierarchie führt und damit eine praktische Mythos-Philosophie ermöglichen kann, die Eingang finden sollte in eine allgemeine praktische Philosophie. Hierbei darf man nicht daran vorbei, dass die Lebendigkeit des Mythos nicht allein mit dem Wiedererscheinen ursprünglicher, historischer Vorstellungsprozesse erläutert werden kann, sondern dass der Mythos auch eine die Rationalität herausfordernde Qualität (Bewusstseinslage) besitzen könnte, die sich im Wertepluralismus unserer Tage bewegt oder bewegen sollte. Wenn man wie Peter Sloterdijk genug von Theorie und Praxis hat und nach einer noch höheren Intelligenz als der heutigen strebt, die uns in ihrem Aufgeklärtsein so viele Probleme geschaffen hat, wenn man also wie er „ins Medium einer geistesgegenwärtigen Mediativität“6 vordringen möchte, muss die Frage gestellt werden, ob dies ohne breite Mythosbetrachtung möglich ist. Wenn Lothar Knatz7 vor dem Hintergrund seiner Schelling-Studien die Komplementarität von aufklärerischer 5 Vgl. auch bei Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte, Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Fischer, Frankfurt/M. 1986, S. 48. 6 Sloterdijk, Peter: Taugenichts kehrt heim oder das Ende des Alibis. In: Friedrich, Heinz et al.: Ende der Kunst, Zukunft der Kunst. Deutscher Kunstverlag, München 1985, S. 133. 7 Knatz, Lothar: Geschichte, Kunst, Mythos; Schellings Philosophie und die Perspektive einer philosophischen Mythos-Theorie. Königshausen & Neumann, Würzburg 1999, S. 37 ff. 12 Rationalität und Mythos auf Basis einer philosophischen Mythostheorie einfordert, so unterstreicht dies die Notwendigkeit einer aktuellen, breiten Mythosbetrachtung, die auch an Kunst und Werbung nicht vorbei kann. Ob nun sinnvoll als Hinweis für eine praktische Lebensorientierung oder als Basis für eine philosophische Mythostheorie, die reichen könnte von einer radikalen MythosNegation bis zu einer völligen Wiederbelebung des Phänomens, in jedem Falle verlangt die Gegenwärtigkeit des Mythos seine nähere Bestimmung. Oder um mit Hans Blumenberg8 zu sprechen: eine ständige Arbeit am Mythos. These 5: Eine Mythosanalyse sollte zwangsläufig zu einer (lebendigen) Mythoshierarchie, einer praktischen Philosophie führen, um regulative Ideen zur Lösung grundsätzlicher oder aktueller gesellschaftlicher Probleme zu erhalten. 6. In Zusammenhang mit dem Mythischen ist der Begriff der Kommunikation ein ständiger Begleiter: jedenfalls betrachtet man Werbung als kommunikativen Vorgang, und Kunst ist zumindest dort am Anfang, wo Kommunikation endet und Vermittlung beginnt. Roland Barthes hat, bevor er die ideologische Seite des Mythos anprangerte, dessen strukturale Seite als Mitteilungssystem analysiert und Mythos als „Aussage“, als ein substantielles Element zur Kommunikation bezeichnet (These 1), dessen metasprachlicher Charakter nachgewiesen werden sollte9. Weniger um das ,Was’ der Kommunikation, sondern zunächst um das ,Das’ geht es Jürgen Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns, wobei der kommunikative Prozess (Diskurs), basierend auf rationaler Argumentation und deren Überlegenheit gegenüber dem Bezug zum historischen Mythos und seiner „magischen Einwirkung auf die Welt“10, zur Voraussetzung für Sinn gebendes Handeln oder für die Einlösung problematisierter Geltungsansprüche erklärt wird. Kommunikation in Kunst und Werbung kann demnach einmal auf eine zu übermittelnde Substanz – es sei dahin gestellt, ob erbaulich oder verwerflich – verweisen, darüber hinaus andererseits als Mittel betrachtet werden, Rationalität gegenüber „Irrationalem“ sinnvoll „wachsen“ zu lassen. Wir begegnen dabei einer Vorstellung, die seit der Entzauberung der Welt immer wieder in Zusammenhang mit dem Mythischen zum Zwecke ihrer gezielten Wiederverzauberung Verwendung findet. 8 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos [1979], 5. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990. Barthes, Roland: Mythen des Alltags [1957], sv 92, Frankfurt/M. 1964, S. 85 ff. 10 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (TKH), Bd. 1 [1981], Suhrkamp, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1999, S. 79. 9 13 These 6: Der Weg zu einer praktischen Mythos-Philosophie führt über die offene Begegnung mit dem Mythos notwendigerweise auch in Werbung und Kunst. Dies erfordert ein argumentatives, diskursives Verhalten. Beide können mit ihren äußersten (radikalen) Ansprüchen zur Vermittlung (Kunst) und des Versprechens (Werbung) letztlich nur im Diskurs bestehen. Dabei führt ein völliges, uneinsichtiges Negieren bzw. Verdrängen des Mythos zu Verlusten an Chancen zur Daseinsbewältigung. Aus diesen Fragestellungen ergibt sich folgender Aufbau unserer Arbeit: In Kapitel II wird der Versuch unternommen, Kriterien für eine Mythosbestimmung festzulegen. Dabei geht es nicht um eine Wiederholung der vorhandenen Beschreibungen zur Geschichte der Mythosdeutungen11. Vielmehr werden im Wesentlichen nur unserem Sachverhalt dienende Schwerpunkte und Begriffe eingeführt, um dann den in Kapitel III erläuterten Mythos in der Werbung und den in Kapitel IV zu besprechenden Mythos in der Kunst einkreisen und erklären zu helfen. In Kapitel V wird dann unter den eben dargestellten thesenartigen Fragestellungen zusammengeführt, was in Kapitel III und IV erarbeitet wurde. Dabei werden vor dem Hintergrund der Aktualität der Mythosfunktion Notwendigkeit und Ansätze einer praktisch orientierten philosophischen MythosTheorie erörtert. Als wesentlichen Bezugsrahmen für unsere Betrachtungen haben wir uns – von einigen notwendigen weiterführenden Rückblenden abgesehen – für die letzten 100 Jahre entschieden, in denen die Werbung ihre eigentliche Entwicklung nahm und während derer Kunst sich wie nie zuvor ständig neu zu orientieren und zu beweisen suchte. Materielle Grundlagen werden in erster Linie Arbeiten der bildenden Kunst mit Ausblicken in die neuen Medien bzw. Anzeigenwerbung mit Hinweisen auf Fernsehen und Plakatreklame sein. Die griechisch-römische Mythologie ist der bevorzugte Hintergrund für die spezifische historische Mythenbetrachtung. 11 Vgl. u.a.: Horstmann, A., in: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Schwabe, Basel 1986, S. 281 – 318. Oder: Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos, Bd. 2. Neuzeit und Gegenwart, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991. Oder: Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos, Beck, München 1985, S. 48 – 90. 14 II. Das Phänomen Mythos Bereits ein kurzer Streifzug durch Äußerungen der verschiedensten Wissenschaften, der Presse, der Politik, des Mitbürgers auf der Straße beweist, dass wir es mit einer nahezu unüberschaubaren Vieldeutigkeit des Mythosbegriffs zu tun haben. Die folgende längst nicht umfassende Zitatensammlung bestätigt diesen Eindruck zur aktuellen Verwendung des Mythosbegriffs (vgl. auch Abb.3): - Mythos ist die genuine Sprache der Religion.12 - Die falsche Klarheit ist nur ein anderer Ausdruck für den Mythos.13 - Im Extremfall ist der Mythos zum Fixpunkt einer radikalen Vernunftkritik und zum Schlagwort einer ,alternativen Vernunft’ avanciert.14 - Mythos ist das, was man erzählt und zwar so …, dass keiner daran auch nur zweifeln mag.15 - Mythos ist das allgemeinste Konkrete.16 - Der Mythos ist ein Mythos für sich.17 - Der Mythos ist eine Aussage.18 - … ist Ideologie, … ist Ammenmärchen. Im Rahmen einer kulturhistorischen Betrachtung – und hierüber wird es in dieser allgemeinen Formulierung wohl relativ wenig Widerspruch geben – bezeichnet Mythos die ersten Interpretationen zur Welt sowie der sie geschaffen habenden und steuernden Mächte. Weit vor der archaischen Welt, d.h. weit vor 1300 v.Chr., der Stunde des Aufkommens der Schriftkulturen, entwickelt sich das Menschendasein über ca. zwei Millionen Jahre: Gerhard Schlatter19 gebraucht das anschauliche Bild der Uhr, die, wenn die Menschheitsgeschichte darauf zwölf Stunden repräsentierte, nur wenige Sekunden für die Zeit von den Vorsokratikern (ab 600 v.Chr.) bis heute anzeigen würde. Anhand von „Spurensicherungen“ in aller Welt, Schriftanalysen und entsprechenden Zuordnungen und Vergleichen mit heute noch vorhandenen (Sub-)Kulturen 12 Petzoldt, Leander: Die Geburt des Mythos aus dem Geist des Irrationalismus. In: Europäische Märchengesellschaft Rheine: Antiker Mythos in unseren Märchen, Röth, Kassel 1984, S. 142. 13 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [1944], Fischer, Frankfurt/M. 1988, S. 4. 14 Knatz, Lothar: Geschichte, Kunst, Mythos, a.a.O., S. 43. 15 Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? In: Bayrische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Ende der Kunst – Zukunft der Kunst, Deutscher Fachverlag, München 1985, S. 19. 16 Kerényi, Karl (Hg.): Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, ein Lesebuch [1967], Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 5. unv. Auflage, Darmstadt 1996, S. 241. 17 Bismarck, Wolf-Bertram, von; Baumann, Stefan: Markenmythos [1995], 2. unv. Auflage, Lang, Frankfurt/M. 1995, S. 85. 18 Barthes, Roland: a.a.O., S. 85. 19 Schlatter, Gerhard: Mythos, Streifzüge durch Tradition und Gegenwart, Trickster, München 1989, S. 30. 15 ergeben sich Anhaltspunkte über Inhalte erster Weltinterpretationen und Lebensorientierungen von gewisser inhaltlicher Beständigkeit und Übereinstimmung, z.B. bezüglich der Urelemente Erde, Wasser, Feuer, Luft oder bezüglich der Gestirne und Jahreszeiten. Für diese Phänomene hat sich kulturhistorisch der Begriff ,Mythos’ etabliert. Ehe das wissenschaftliche Weltbild sich durchzusetzen begann – ausgehend von der griechischen Philosophie –, erzählten sich die Menschen Geschichten zur Welt- und Lebensorientierung: Mythen. Die Geschichte des (Weiter-)Erzählens ist gleichzeitig die Geschichte der Veränderungen und Erweiterungen der entsprechenden Inhalte, ganz im Sinne des jeweils Erzählenden. Dabei ist die z.T. drastische Bildhaftigkeit des Vortrags auffällig, sicherlich auch, um den innewohnenden Verhaltensregeln zum ,ordentlichen’ Stammes- und Gesellschaftsleben Nachdruck zu verleihen. Diese mythischen Erzählungen gehen schließlich in das reale Geschichtsbild der Griechen über; Homer und Hesoid arbeiten dichterisch das Erzählwerk auf, das griechische Theater benutzt die mythischen Figuren zur Aufarbeitung aktueller Probleme. Die hellenistischen Herrscher und später die römischen Kaiser nutzten den Mythos zur Untermauerung ihrer Macht, „indem sie sich in Kulten feiern ließen, wie sie früher nur den Heroen und den Göttern zugestanden“ waren20. Auch die Kulturepochen der Moderne seit der Renaissance benutzten die Mythenbilder z.T. zur Darstellung ihrer Weltbilder. Bis heute wirkt an der Oberfläche vieles aus diesen Geschichten nach, wenn man Tantalus-Qualen leidet oder eine Sisyphos-Arbeit vollbringt oder jemand becirct wird etc. Neben dieser ersten groben geschichtlichen Annäherung an den Mythos-Begriff können wir den linguistischen Zugang zum Mythos verfolgen: Die griechische Verbalform myein bedeutet „Geheimnisse sagen“, auch „kraftvoll reden“, sodass Mythos als Rede bzw. als Erzählung verstanden werden kann. Zwei Begriffspaare erweitern diesen ersten Zugang zum Mythos-Verständnis: Mythos vs. logos: Beide Begriffe deuten ursprünglich auf Ähnliches: „Wort, Rede, Aussage“. Spätestens aber seit Platon entwickelt sich die heute geläufige Gegensätzlichkeit: Mit Einstufung des Mythos als Lüge und als kindliches Bewusstsein erhält dieser den Status einer unverbindlichen Erzählung im Gegensatz zu Logos, der Rede als argumentativem und begründendem Akt21. 20 Dommermuth-Gudrich, Gerold: 50 Klassiker Mythen [2000], 3. Aufl., Gerstenberg, Hildesheim 2001, S. 17. 21 Beachtenswert ist allerdings, dass Platon selbst im Timaios-Dialog in dichterischer Form einen eigenen Mythos beschwört, wonach der Demiurg, der Weltenschöpfer, die Weltseele geschaffen habe, gleichermaßen das Reich der unveränderbaren Ideen und Erscheinungen. 16 Unter vielen anderen Diskussionsbeiträgen hat Wilhelm Nestle die Spannung dieses Begriffspaares als lineare Entwicklung des einen zum anderen beschrieben, wobei das aufklärerische Denken der Moderne Pate steht und die Richtung angibt.22 „Die Konfrontation von Mythos und Logos hat sich [dann u.a.] am Ausgang der Moderne in der Antithese von Aufklärung und Romantik wiederholt“23 sowie sich in zahllosen philosophischen und kulturanalytischen Beiträgen gespiegelt, wobei diese Ansätze einmal die Subordination des einen unter den jeweils anderen – bis hin zur jeweiligen Verwerfung – sowie daneben auch die Komplementarität beider beschworen haben. In diesen Beiträgen ist ein wichtiger Orientierungspunkt zum Mythenverständnis, ob der Begriff im Singular oder Plural gebraucht wird: Im Plural verwendet, verweist der Ausdruck auf die oben erwähnten zahlreichen Erzählungen und Erscheinungen in den verschiedenen Kulturräumen und -epochen bis hinein in unsere Tage. Gleichzeitig aber erlaubt der Singular den Zugang zu einem übergreifenden Funktionalitätsverständnis, etwa in Zusammenhang mit dem aufklärerischen Diskurs. Mythos vs. poiesis: Im erweiterten Sinn wird nach Platon mythos auch als mythos legein oder mythologia gebraucht. Platon versteht darunter die Tätigkeit des Dichtens, poiesis, wir können sagen ,bildende Literatur’, und wertet diese wie alle Kunst als falsches (Gottes-Vor-)Bild und als pädagogisch ungeeignet ab, es sei denn, sie hält seinen strengen Zensurmaßstäben stand – wie er es etwa Homer zubilligt. Karl Kerényi (1897 – 1973) filtert aus dieser Gegenüberstellung bei Platon heraus, dass es neben dem „Machen, das erst nachträglich in etwas Gemachtes und demzufolge Vorhandenes … das Werk … mündet“, ein primäres Urbildhaftes geben müsse: nämlich die überlieferte Stoffmasse der Erzählungen über Gottwesen und deren Taten.24 Auch bei Klaus Heinrich (geb. 1927) finden wir diesen Gedankengang, wenn er den Stoff über Götter, Dämonen, Heroen und unterweltliche Wesen als Ursprungsmächtiges bezeichnet und diesen Stoff 22 Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart 1942. – Bei Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die „Mythologie [ist] die archaischste Form einer Stützkonzeption und Legitimation von Sinnwelten.“ Dies.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Eine Theorie der Wissenssoziologie [1966], Fischer, Frankfurt/M. 1994, S. 118. 23 Knatz, Lothar: a.a.O., S. 46. 24 Kerényi, Karl: a.a.O., S. 215. 17 als Fundament für eine daraus erwachsene Geisteslage bezeichnet, die bei ihm allerdings weiter reicht als dichterische Verklärung.25 Aus praktisch sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es noch einen weiteren interessanten Verweis, der einen ersten Zugang zum Mythenverständnis bietet: George Grey, der 1845 in Britanniens Auftrag Neuseeland kolonialisieren sollte, berichtet von seinen Erfahrungen bei diesem Unterfangen: Er versteht seine neuen Untertanen nicht, und er lernt mühsam ihre Sprache, ohne dass ihm dies in seinen Unterhandlungen entscheidend weiter hilft. Zu häufig waren deren Äußerungen nämlich in Formen und Bilder gekleidet, die auf einem alten mythologischen System beruhten, sodass er als nächstes – quasi das eigentliche Sprachsystem überragend – für eine erfolgreiche Kommunikation die polynesische mythologische Bilder-Sprache erforschen und erlernen musste26. Nach diesen einführenden Anmerkungen sollten wir nunmehr in der Lage sein, eine genauere Annäherung an das Mythos-Phänomen vorzunehmen; denn diese Hinweise lassen eine Ausgangshypothese zur Mythosorientierung zu, die wir anschließend mittels der Kurzdarstellung einschlägiger Deutungsversuche, durch die daraus abgeleiteten mythischen Kernfunktionen und die unterschiedlichen Mythos-Erscheinungsformen untermauern werden (vgl. Aufbau unserer Argumentation in Tabl.4 – S. 19). a. Das Mitteilungssystem Wie bei Greys neuseeländischen Untertanen nachzuvollziehen ist, lassen sich mythologische Elemente als Grundlage für einen Verständigungsprozess ausmachen, die sich gleichermaßen aus den Worten der Alltagssprache und den darüber liegenden Wortbildern zusammensetzen. Oder: aus einem ,Stoff’ und einer darauf aufbauenden Geisteslage besonderer Prägung, wie bei Klaus Heinrich angesprochen. Oder: aus dem Ursprungsmaterial zur Weltorientierung und der Dichtung, die sich dieses reine Material für ihre spezifischen Aussagen zu Nutze macht. Daraus ergibt sich nunmehr unsere Ausgangshypothese, dass der Mythos einen Aufbau hat, der eine primäre Ebene mit einer sekundären zu einer Mitteilung bzw. zu einer gebündelten Aussage verknüpft. Dabei ist zunächst nichts über die Aussage selbst bzw. über eine inhaltliche Substanz 25 Heinrich, Klaus: Vernunft und Mythos, Die Funktion der Genealogie im Mythos/1963 [1982], Stroemfeld/Roter Stern, Basel, Frankfrut/M. 1992, 11/12. 26 Grey, Sir George: Vorwort zur polynesischen Mythologie. In: Kerényi, Karl (Hg.): a.a.O., S. 103 – 109, hier: S. 105. 18 ausgesagt, wohl aber über die Existenz einer Doppelstruktur des Phänomens, dessen zweite Ebene eine herausragende Bedeutung erlangt hat oder gezielt erlangen soll. Beachtet man, dass sowohl die primäre wie auch die sekundäre Ebene mit völlig unterschiedlichen Gegenständen besetzt werden können, dann wird deutlich, dass dieser Aufbau eine geradezu unendliche Vielzahl an Aussagemöglichkeiten eröffnet. Genau diese Feststellung wird nun von Roland Barthes als Ausgangspunkt für seine späteren ideologie-kritischen Ausführungen benutzt (s. auch S. 34/5). Er bezeichnet den Mythos als „sekundäres semiologisches System“, das auf einem ersten, primären Zeichensystem aufbaut, wobei er die beiden Ebenen als Objektsprache (O) und Metasprache (M) bezeichnet (Tabl.3)27: 1. Bedeutendes Signifikant a 2. Bedeutetes Signifikat a O 3. Zeichen (Sinn) I. Bedeutendes b Signifikant b II: Bedeutetes b Signifikat b M III. Zeichen (Bedeutung/Form) O= Objektsprache, M = Metasprache Tabl.3: Sekundäres semiologisches System nach R. Barthes In Anlehnung an Andreas Hirseland28 kann das folgende Beispiel dieses System verdeutlichen. Die Korrelationen der in der Abbildung platzierten Signifikanten und Signifikate bilden jeweils Zeichen, etwa: 1. Signifikant a ist die Buchstabenfolge A-U-T-O 2. Signifikat a ist ein Fahrzeug auf 4 Rädern hieraus (aus 1. + 2.) wird 3. das Zeichen (Sinnbild) „Auto“ Jetzt wird in der Folge ein neues Signifikat b aus einem kollektiv vorhandenen kulturellen Wertekanon hinzugefügt, wie er in einer bestimmten Epoche (hier der unseren) besteht (verfolge auf Seite 20): 27 28 Barthes, Roland: a.a.O., 92/3. Hirseland, Andreas: Vertreibung ins Paradies. In: Hartmann, Hans A.; Haubl, Rolf (Hg): a.a.O, S. 225 – 244, hier: S. 229. 19 a. Das Mitteilungssystem b. Die Deutungsansätze (selektiv) Ausgangshypothese: Mythos ist eine betont herausgehobene Aussage in einem Mitteilungssystem zweier Ebenen, z.B.: 1. Allegorismus - Symbolismus Bei R. Barthes: Objektsprache Metasprache 2. Dialektik des mythologischen Bewusstseins Dialektik der Aufklärung Bei K. Heinrich: Stoff Geisteslage 3. Psychologie - Ritual und Soziologie 4. Numinose - Strukturalismus Mythos d. Die Erscheinungsformen 1. Authentischer/hist. Mythos - 2. Reflektierter Mythos 3. Zeitgeist-Mythos 4. Alltagsmythos - Auf Basis von Erzählungen, Abgesetzt von Märchen, Objekten und Personen, Legende/Sage, Bes. Ereignissen und Ideen, Mysterien, Verhalten (Ritus, Kultus) Magie/Mystik, ------Aufklärung Tabl.4: Das Phänomen , Mythos’: Orientierungskriterien (Definitionsersatz) c. Die Kernelemente 1. Formbezogene Funktionen Bildhaftigkeit im Transformationskontext Transport von Bedeutsamkeit durch Doppeldeutigkeit 2. Inhaltsbezogene Funktionen Chaos- und Angstbewältigung Indentitätsverleihung Rationalitätskritik (Ent-/Remythologisierung) 20 I. Signifikant b ist identisch mit 3. = „Auto“ II. NEUES Signifikat b ist (z. B.) Status oder Freiheit hieraus (aus I. + II.) wird III. Zweites Zeichen (Bedeutung, Form): Statussymbol „Auto“. Sind nun aber diese zwei Ebenen auch identifizierbar, wenn es nicht um ein derartig profanes Beispiel geht, sondern um Zusammenhänge, die den Mythos nicht in der Alltagswelt, wohl aber in den von uns als mythisch bezeichneten Göttererzählungen platziert sehen? Dazu zwei Beispiele: Anton Grabner-Haider29 beschreibt, als unter den Grundworten archaischer Glaubenssprache vorhanden, die melanesische Bezeichnung ,Mana’ als „das unverfügbare Kraftfeld, dem Menschen sich ausgesetzt wissen … ein Kraftfeld, das von außerhalb in die Lebenswelt der Menschen einwirkt“. Danach ist z.B. die ,Erde’ ein derartiges Kraftfeld, das in der Frühzeit der Ackerbaukulturen als Mythos ,Urmutter Erde’ verehrt wurde. Auf einem einfachen gedanklichen Umweg lassen sich die zwei Barthesschen Ebenen nachweisen: 1. Steine, Sand, Acker + 2. ergiebiger Boden wird zu 3. = I. = fruchtbarer Erde + II. Lebensspender wird zu III. Urmutter Erde. Erwähnen wir schließlich ein weiteres einfaches allegorisches Beispiel aus der griechischen Mythologie, den Prometheus-Mythos, dessen Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit Hans Blumenberg in ausführlicher Weise nachgeht: 1. Ein Titan schafft eine menschliche Form 3. = I. = Prometheus, dem Menschenbildner + wird zu + 2. veranlasst eine Göttin (Athene), dieser Form Leben zu geben II. Beschaffer für das Feuer wird zu III. Prometheus, dem „Urheber des Menschen“. Die Doppelschichtigkeit des mythischen Systems lässt sich auch – deutlich weniger formalistisch – als Vertiefung oder Erweiterung einer auf einer Grundmaterie beruhenden Erfahrung begreifen bzw. als ein System von Denotation und Konnotation, wobei 29 Grabner-Haider, Anton: Strukturen des Mythos, Theorie einer Lebenswelt, Echter, Würzburg; Oros, Altenberge 1993, S. 23 ff. 21 unter ersterer die für jedermann erfahrbare Bedeutung eines Objekts, unter letzterer eine schlussendlich subjektive Interpretation oder zusätzlich begleitende (Be-) Deutung zu verstehen sind. Hieraus ergibt sich für uns die Bestätigung der Hypothese, dass der Mythos ein Mitteilungssystem mit einer Doppelstruktur über zwei Ebenen darstellt, die inhaltlich wie Materie und zu deutender Sinn zueinander stehen. Interessant ist nun festzustellen, dass dieses strukturale Charakteristikum auch bei anderen Annäherungsversuchen an den Mythos zu konstatieren ist. Wir haben in unserem Schaubild Nr. 4 in diesem Zusammenhang Klaus Heinrich erwähnt: Auch er als Religionswissenschaftler erkennt als mythosspezifisches Kriterium zu dessen Verständnis, dass man zunächst eine BasisStoffmasse ausmachen müsse, auf der sich eine „Geisteslage“, ein weiteres Gerüst erhebt, das es zu erfassen gilt. Wir werden sehen, dass hierauf verweisende weitere Deutungsversuche uns der entscheidenden Mythosfunktion näher bringen, die über alle Definitionsversuche zum Mythos hinaus das eigentliche Mythosverständnis erschließen helfen. Denn: Unsere Ausgangshypothese zum Mythenverständnis umfasst ja nicht nur die Erkennung einer formalen Doppelschichtigkeit des Mythossystems; der zweite Aspekt dieses Systems ist seine entscheidende inhaltliche Komponente mit seiner gewichteten Bedeutung, deren (individuelle) Besonderheiten uns die folgenden Deutungsversuche beispielhaft aufzeigen können. Aus unseren Bemerkungen zu ,mythos/logos’ lässt sich ferner vermuten, dass das mythische Denken ein permanenter Austausch innerhalb des menschlichen Wertedenkens ist – entweder linear wie bei Wilhelm Nestle oder im Hin und Zurück eines Prozesses. – Welche wesentlichen Aussagen hat nun die Geschichte der Mythosdeutung bezüglich der Metasprache gemacht? b. Die Deutungsansätze Der Titel des Buches von Hans Blumenberg, „Arbeit am Mythos“, kann uns vorgeben, dass es nicht die eine Deutung des Mythos gibt. In der Tat ist die Historie des Umgangs mit dem Begriff und seinen Inhalten Jahrtausende alt, und es gibt zahlreiche entsprechende Darstellungen, die sich mit nahezu jedem Jahrzehnt verlängern lassen. Die Deutung der Mythen ist so alt wie philosophisches Denken, so alt wie die Abkehr von unkritischer Akzeptanz überlieferter Geschichten. Da Kunst und Werbung – wie wir sehen werden – sich nicht nur der Mythos-Strukturen bedienen, sondern sich dabei auch auf verschiedene Deutungsansätze berufen, wollen wir einige wichtige Stationen 22 dieser Ansätze und ihre Verflechtungen herausheben, um damit das umfangreiche Spektrum mythischer Formen, Inhalte und Erfahrungen sowie letztlich – entscheidend – deren Funktionalität hervor treten zu lassen. Wir bedienen uns dabei einiger z.T. polarisierender Gegenüberstellungen, um diesen Komplex in Kürze schwerpunktmäßig zu erhellen. 1. Allegorismus und Symbolismus Zu den ältesten Mythos-Deutungen zählen die allegorischen, die den Mythos als „Anderssagen“, das Einkleiden, das Verstellen oder das Verhüllen von Wahrheit zu erklären versuchen. Dabei wird eine gedankliche Beziehung zwischen den bildhaft dargestellten Signifikanten und dem gemeinten Signifikat aufgebaut, wenn z.B. die olympischen Götterstreitigkeiten als Kampf der Elemente (Theagenes von Rhegion, 539 – 450 v.Chr.) oder die Naturelemente Feuer, Luft, Erde und Wasser als Zeus, Hera, Hades und Nestis (Empedokles aus Agrigent, ca. 490 – 430 v.Chr.) erscheinen30. Eng verwandt mit der allegorischen ist die euhemeristische Deutungsweise, die auf Euhemeros (ca. 340 – 270 v.Chr.) zurückgeht, wonach Mythen für historische Ereignisse oder vergöttlichte Personen eintreten – wie z.B. in der mittelalterlichen Darstellung König Davids als Vorfahr Christi. Das oben thesenhaft beschriebene formale Mythoskriterium einer dualen Struktur ist unschwer in dieser allegorischen Methode auszumachen. Sie leitet uns einerseits zu einer Art Rationalisierung des Weltgeschehens und dadurch weiterhin zu einer nachvollziehbaren (primitiven) Schreckensbehauptung und Identifikationsmöglichkeit des Menschen, wodurch diese bildhafte Methodik ein wesentliches mythisches Funktionsgrundmuster erkennen lässt. Weit nachhaltiger greift das Mythosverständnis des Symbolismus. Obwohl dieser seine Verwandtschaft zum auf direkte Sinn-Bild-Verhältnisse abhebenden Allegorismus nicht leugnen kann, ist er in seiner vielfältigen Ausprägung jedoch ständig auf der Suche nach einem beziehungsreicheren, tieferen Sinn, die bis in die Religionswissenschaft zur Beschreibung göttlicher Gegenwärtigkeit reicht31. Aus der großen Zahl der Vertreter dieses Denkansatzes sollen hier einige heraus gegriffen werden, die ihre Ergebnissuche in punkto mythischer Funktionalität nicht nur über den bereits bekannten 30 31 S. hierzu im einzelnen Schlatter, Gerhard: a.a.O., S. 40. Ebd., S. 45. 23 dualen Ansatz ableiten, sondern die Abgrenzung zu allegorischem Denken besonders deutlich machen: Auf der Schwelle vom allegorischen zum symbolischen Deutungsakt können wir Giambattista Vico (1688 – 1744) einordnen. Er verwirft den Gedanken einer mythischallegorischen Verhüllung wahrer Gestalten und findet die innere ,Logik’ der Mythen der antiken Epochen darin, dass sich in ihr Sprachbilder bzw. Ähnlichkeitsbeziehungen offenbaren, die in poetischer Weise Bedürfnisse der alten Völker widerspiegeln.32 Christoph Jamme33 hebt die stimulierende Bedeutung von Karl-Philipp Moritz (1756 – 1793) für die Mythologie der Klassik und Romantik hervor: Während das MythosAllegorische der Kunst Ornamente und Formelemente liefere, repräsentiert für ihn der antike Mythos symbolhaft die Sprache der Phantasie: „Mythen sind als [symbolisch] bildende Kraft in der Welt im menschlichen Dasein wirksam und können als Kunstwerke ästhetische Autonomie beanspruchen … Hauptzweck der Mythologie ist die Schönheit.“ Das Verständnis des antik-mythologischen Geschehens und seiner Repräsentanten im Sinne von Poesie und Dichtung – wie sie in besonderer Weise von Goethe übernommen bzw. weiter entwickelt wurde – zeugt von dem kunstorientierten Symbolansatz zur Mythenbestimmung bei Moritz. Zum Kreis der herausragenden Symboliker ist vor allem Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) zu rechnen, der mit der Abkehr von der Allegorie dem romantischen Weltbild Fundamente legte. Es geht ihm bei der Mythosbetrachtung nicht mehr um irgendeinen phantasievollen Abbau an Erklärungsbedarf zum Weltgeschehen, sondern für ihn ist Mythos Poesie, „und wichtig: geglaubte Poesie…die ganze Schöpfung ist [für ihn] nichts als ein Symbol, eine Hieroglyphe Gottes“34. Symbole sind für ihn Zeichen, die nicht einfach für sich rationalistisch interpretierbar sind, sondern solche, die einen Übersinn aufgreifen, der sich aus den Glaubensinhalten der Zeitepoche, hier der antikmythischen Periode, ergeben und nur über das Durchdringen dieser Zusammenhänge zu begreifen sind. Georg Friedrich Creuzer (1771 – 1858), einer der Vertreter der Heidelberger Romantik, steht stark unter dem Einfluss ethnologisch bestimmter symbolischer Mythenbetrachtung. U.a. auf der Grundlage orientalischer und griechischer Überlieferungen und seiner Zuwendung an die Astrologie repräsentieren Mythen für Creuzer ,alten Glauben und alte Lehre’ in religiösem Sinn; das Symbol aber, das sich darüber 32 Jamme, Christoph (1991): a.a.O., S.13. Ebd., S. 42 - 44. 34 Schlatter, Gerhard: a.a.O., S. 45/46. 33 24 erhebt, ist die „versinnlichte, verkörperlichte Idee selbst“35. Für ihn sind die alten Mythen ausgesprochene Symbole, die als versinnlichte Ideen den Menschen ergreifen. Es ist hier nicht der Ort, im Einzelnen darzulegen, dass - vor dem Hintergrund des parallelen aufklärerischen Denkens seiner Zeit – Creuzer die heftigste Kritik u.a. wegen seines Rückfalls in den Allegorismus erfahren hat.36 Letztlich wollen wir bei dieser Gegenüberstellung von allegorischen und symbolischen Ansätzen zur Mythendeutung nicht Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775 – 1854) übergehen, der sich strikt gegen das allegorische Prinzip wendet und – gewissermaßen tautologisch – die Mythosbestimmung aus dem Mythos selbst heraus fordert. Seine ,Philosophie der Mythologie’ „versucht, die Notwendigkeit wirklicher Wesen, die zugleich Principien, allgemeine und ewige Begriffe – nicht bloß bedeuten, sondern sind…, philosophisch zu erweisen“.37 Die Mythologie verweist nach Schelling nicht auf irgendein anderes „Wahres“, sondern sie ist das Wahre selbst.38 – Getrieben von der Notwendigkeit einer neuen allgemeinen philosophischen Darstellungsform – einer ,Neu-Mythologie’ – orientiert sich der späte Schelling, nachdem er anfänglich aufklärerisch den Mythos als Zustand des menschlichen Kindheitsalters auffasste, an der Idee der Evolution des Göttlichen: In einem geschichtlichen theogonischen Prozess entwickelt sich die ursprüngliche Gottgestalt im menschlichen Bewusstsein über mehrere Phasen des Mono- und Polytheismus: als Mythos. Es muss hervorgehoben werden, dass in diesem Prozess nicht die Direktheit archaischer Mythologie Pate steht, sondern dass das mythische Bewusstsein, gewonnen aus jenem Ablauf der Bewusstwerdung zum Göttlichen, die Grundlage seiner Mythosbestimmung ist. In der Symboldiskussion des 20. Jahrhunderts schließlich spielt Ernst Cassirer (1874 – 1945) eine zentrale Rolle. Auf der Suche nach einem übergreifenden umfassenden Ansatz für eine Kulturphilosophie bestimmt er – durchaus in Anknüpfung an Schelling – einen weitreichenden Symbolbegriff. Auch Aby Warburgs Bibliothek und Denken stehen ihm zur Seite, wenn er unter „symbolischer Form“ eine Energie des Geistes versteht, durch welche ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches 35 Jamme, Christoph (1991): a.a.O., S.52/53. Karl Kerényi bezeichnet Creuzers Symbolik als im Grunde „eine Allegorie, die höheren, philosophischen und religiösen Ansprüchen genügen sollte“. Das hermeneutische Bedürfnis betrüge sich durch selbst erschaffene Symbolik. Vgl. Kerényi, Karl: a.a.O., S. XIV. 37 Jamme, Christoph: „Gott hat an ein Gewand“, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, S. 81, Anmerkungen 15 und 16. 38 Es ist hier nicht der Ort, um diese Haltung Schellings mit der Hegels im Einzelnen und im Zeitablauf abzugleichen, der letztendlich die Historizität des Mythos vertritt. S. Jamme, Christoph (1991): a.a.O., S. 58 ff. 36 25 Zeichen geknüpft wird. Dabei sind für ihn vor allem die Sprache, aber auch die Kunst Beispiel symbolischer Formungen. Mit Ernst Cassirer haben wir nicht nur noch einmal den Wechsel des mythischen Dualismus von der allegorischen Deutung zur symbolischen nachvollzogen, sondern nähern uns einem weiteren Begriffspaar, das uns die Substanz des Mythosbegriffs weiter erhellen hilft: 2. Die Dialektik des mythischen Bewusstseins und die Dialektik der Aufklärung Etwas kurzsichtig könnte man unterstellen, Dialektik der Mythologie und Dialektik der Aufklärung würden eine grundsätzliche Gegensätzlichkeit signalisieren; dennoch wird sich zeigen, dass eine kurze Analyse, wie sich beide Begriffe zum Mythos verhalten, interessante Gemeinsamkeiten offenbart. Dabei führt uns Cassirers Auseinandersetzung mit dem Symbolischen zu einer Annäherung an den Mythos, die erneut keine Pluralbildung des Begriffs erlaubt, die den Mythos vielmehr als allgemeines Ganzes, als Einheit im menschlichen Bewusstsein, als Gegenspieler zum aufklärerischen Denken interpretiert: Cassirer bezieht sich zunächst auf die von Comte vertretene positivistische Philosophietheorie, nach der der Mensch durch mehrere verschiedene Bewusstseinsphasen von einem Primitivzustand „zur vollendeten geistigen Beherrschung der Wirklichkeit empor geführt wird“39. Während nun allerdings der positivistische Ansatz davon ausgeht, dass bei Erreichen einer höheren Stufe der menschlichen Bewusstwerdung zum Weltgeschehen die vorangegangenen Stufen entbehrlich bzw. abgestorben seien, unterstellt Cassirer eine Dialektik des mythischen Bewusstseins derart, dass während des genannten Fortschrittsprozesses dieses Bewusstsein stets als Negation wie auch als Position anwesend ist. Der Prozess der Vernichtung mythischer Substanz kann nicht stattfinden, wenn er nicht in einen Prozess der mythischen Selbstbehauptung gegen das wissenschaftliche Denkschema eingebunden wäre: Während anfänglich die Absetzung des Mythos von der Dingwelt das Ausschlaggebende ist, führt im weiteren historischen Verlauf die geistige Denkaktivität zu neuen Formen des (teilweise anderen oder eingeschränkten) mythischen Elements selbst (Tausch an Gestalten und Bildern). In jenem anfänglichen 39 Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken [1924], Meiner, Hamburg 2002, S. 276. – Die drei Phasen nach Cassirer sind: 1. Die subjektiven Wünsche und Vorstellungen der Menschen werden zu Götterwesen und Dämonen. 2. Wünsche und Vorstellungen werden zu abstrakten Begriffen. 3. Innere und äußere Erfahrungen werden streng geschieden. 26 mythischen Bewusstsein ist das Subjekt von dem Glauben an die objektive Wesenheit und an die objektive Kraft des mythischen Zeichens durchdrungen. In der Vorstellungswelt des Menschen bilden demnach Dingmoment und Dingbedeutung zunächst („konkreszierend“) eine Einheit; wesentlicher Bestandteil aktueller Mythenbetrachtung aber ist nach Cassirer die trennende Analyse, mittels derer sich der Mythos später geistig über die Dingwelt erhebt. Der fortschrittliche, Freiheit suchende Geist empfindet jede neue Stufe dieser Entwicklung zu seiner Zeit als Zwang, setzt sich zu der Welt der Bilder und Zeichen in ein neues freies Verhältnis und hebt damit das Ergebnis der vorausgegangenen Etappe teilweise auf („logische Genese“40). Cassirers Mythosbegriff wird in besonderer Weise anschaulich, wenn er Mythos mit Sprache – in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt – vergleicht: so wie Sprache das Bindeglied zwischen Mensch und auf ihn wirkender Natur darstellt, so spielt für ihn der Mythos die vermittelnde Rolle zwischen Individuen und Umwelt und ist in stetiger Dynamik mittels aktiver geistiger auf sie einwirkender Kräfte auf dem Wege zu größerer Vielgestaltigkeit und Freiheit. Für Cassirer ist diese Dialektik mythischer geistiger Formen charakterisiert durch ihre jeweilige Formsprache, d.h. durch ihre Symbolik – so wie die Naturwissenschaft sich der mathematischen Symbolsprache bedient. Für Cassirer sind Existenz und Rechtfertigung des Mythos unbestritten, allerdings auf jeder seiner transformativen Etappen als eine der höheren Vernunft vorgelagerte Instanz. In der Betrachtung der „Dialektik der Aufklärung“ wird nunmehr entfaltet, wohin dieser Prozess führen könnte: Die „Dialektik der Aufklärung“ Max Horkheimers (1895 – 1973) und Theodor Adornos (1903 – 1969) möchte zwei Thesen unter Beweis stellen41: „Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ und „schon der Mythos ist Aufklärung“. Beide Formeln setzen wiederum den ganzheitlichen Mythosbegriff (ohne Plural!) voraus, wenn auch – interessanterweise – gleichzeitig spezifische Mytheninterpretationen bei der Beweisführung herangezogen werden. Hintergrund des Forderns der Autoren nach einem kritischen Denkansatz im Sinne einer „Parteinahme für die Residuen von Freiheit für Tendenzen zur realen Humanität“42 ist die alles steuernde gesellschaftliche Zweckrationalität westbürgerlichen Handelns, das die Welt entzaubert und ohnmächtig werden lässt. Hatte 40 Ebd., S. 17. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor: a.a.O., S. 6. 42 Ebd., S. IX. 41 27 Cassirer seine Dialektik des mythischen Bewusstseins als Auf und Ab innerhalb eines permanenten Prozesses zwischen Mythos und aufgeklärter Rationalität beschrieben, so wird bei Adorno/Horkheimer der Begriff Dialektik derart in Zusammenhang mit Aufklärung benutzt, dass eben diese Aufklärung das Spannungsfeld zwischen sich und dem Mythos benutzt, um dabei auf einen mythischen Endpunkt zurückzufallen. Ihr Mythosverständnis ist auch auf dem Feld der Bemühungen zu suchen, die nach einer Neubegründung der Rationalität streben, nach einer Ausdifferenzierung des Rationalitätsbegriffs; dabei betreten sie allerdings das philosophische Parkett – anders als Cassirer – von dem dem Mythos gegenüberliegenden Ufer, dem Ufer der Aufklärung. Die zunehmende Macht der Zweckrationalität im heutigen Weltgeschehen ist es, die die Mythenbildung geradezu forciere: „Das von Dämonen [durch die Aufklärung] gereinigte Dasein nimmt in seiner blanken Natürlichkeit den numinosen Charakter an, den die Vorwelt den Dämonen zuschob“43; der detaillierte Nachweis wird u.a. im Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“44 geführt. Aufklärung schlägt in Mythologie zurück! Die zweite These „Mythos ist Aufklärung“ wird am Einzelmythos der Odyssee nachvollzogen. Das vorweltliche Modell aktuellen Durchsetzungsvermögens gegenüber dem Uneinschätzbaren, Unberechenbaren und Unheimlichen ist für Adorno/Horkheimer der Odysseus-Mythos mit der Szene der Überlistung der Sirenen, in der der instrumentale, rationale Verstand die beherrschende Kraft darstellt. Die Autoren bezeichnen Odysseus’ Vorkehrungen, die er zur erfolgreichen Überwindung der Sirenen einsetzt, – es sind für Adorno/Horkheimer die Verlockungen des noch vorhandenen, schon ,Vergangenen’ – „als ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“: Das wohl durchdachte Verstopfen der Ohren seiner Gefährten vor den Sirenen-Gesängen (daraus ergibt sich ihr Part als willfährig, hart arbeitende Ruderer) und seine Mast-Fesselung (hieraus leitet sich seine Rolle als dem System gegenüber ohnmächtiger Herrscher ab) sind nicht nur Ausdruck eines planvollen, aufgeklärten Verstandes, sondern gleichzeitig durch ihr Eingebundensein in das gesellschaftliche Sirenenkonzert Paradebeispiele für den „Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts“45, der in die unaufhaltsame Regression führen werde. Indem Adorno/Horkheimer hiermit in erster Linie eine politischideologisch durchsetzte Rationalität stigmatisieren, wird die Beschwörung des Mythos als überwunden geglaubtes Vergangenes benutzt, um nach einer neuen Aufklärungs43 Ebd., S 34. Ebd., S. 128 – 176. 45 Ebd., S. 41 f. 44 28 Begrifflichkeit zu fahnden. – Damit sind letztendlich beide von den Autoren gesetzte Thesen zum Mythosbegriff entfaltet: „Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt sich Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer in Mythologie“.46 In erhellender Weise setzt sich Hans Blumenberg (geb. 1953) mit diesem Wechselspiel zwischen Mythos und Aufklärung auseinander. Seine Formulierung ,Arbeit am Mythos’ statt ,Arbeit des Mythos’ weist zwar – ähnlich wie bei Horkheimer/Adorno – auf die Notwendigkeit aufklärerischen Denkens hin, ohne dass für ihn damit ein erfolgreiches einseitiges Finale eben dieses Denkens zu erwarten steht. Für ihn ist Prometheus die Kernfigur des Mythos, die er als Symbol für Selbstbehauptung und Angstbewältigung beschreibt. Dabei benutzt er den Begriff der „Bedeutsamkeit“ 47 als Ausdrucksmittel des Mythos sich zu profilieren und diesen über eine einfachere Sinnproduktion hinaus zu erheben. Und wir fügen hinzu, dass diese Bedeutsamkeit zur Erfüllung vielfältiger Zwecke nicht nur kontinuierlich gewachsen sein muss, sondern –auf der Grundlage sozio-kultureller Werte und deren kollektiver Erfahrungsprozesse – bewusst wesentlich gemacht bzw. gesteuert werden kann (vgl. insb. Kap. III). Auf die Frage, auf welche Art und Weise der Mythos ein derart bedeutsames Profil erreicht, zählt Blumenberg als entscheidende Wirkungsmittel auf: - Latente Identität (unerwartete Koinzidenz von Ereignissen, das Unerwartete wird möglich und sinnvoll), - Steigerung (Haupt der Medusa, s.u.) und Depotenzierung (göttliche Verwandlungen nach Lust und Laune) von Fakten, - Erschwerung des Vollzugs von Handlungen (Odysseus als Bewältiger schwerster Widerstände, Sisyphos als Figur der Vergeblichkeit), - Indifferenz von Raum und Zeit (Perseus’ geflügelte Sandalen und Tarnkappe), - Gleichzeitigkeit von Ereignissen (Stern bei Geburt Jesu). Ein weiterer Aspekt ist im Zusammenhang mit Blumenbergs Punkt der ,Steigerung von Fakten’ anzuführen: Der durch die Arbeit am Mythos anzustrebende Distanzgewinn gegenüber dem ursprünglich Unfassbaren und den darin schwelenden Katastrophen, wie sie Bilder von Sintfluten, Drachenbedrohungen oder Götterrache beschwören, dieser Distanzgewinn hat nie das originär Schreckliche und Terror-Verbreitende des Mythos (denken wir an Atlantis oder Titanic) völlig ausgegrenzt. D.h.: Vor die Angstbewältigung hat der Mythos oft das Angsterregende gesetzt. 46 47 Ebd., S. 18. Blumenberg, Hans: a.a.O., S. 68 ff. 29 3. Psychologische und ritualistisch-soziologische Mythos-Deutungen Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) stellt in frühen Jahren (1872) vor dem Hintergrund der griechischen Tragödie durch das Apollinische (Apoll, der klare Weltenordner) und das Dionysische (Dionysos, der personifizierte, triebgesteuerte Daseinswille) das Spannungsfeld dar, das das Menschenbild bestimme. Während er das Apollinische als Göttertraum, als schönen Schein apostrophiert, degeneriert letztlich das Dionysische zum psychologischen Merkmal des menschlichen Machtwillens. Nietzsches Auftritt stimuliert den psychologischen Deutungsansatz, der im mythischen Bild Erklärungen zu menschlichem Verhalten sieht. Es ist vor allem Sigmund Freud (1856 – 1939), der Meilensteine für die Psychoanalyse setzt, indem er sexuelle Komplexe anhand von mythischen Erscheinungen und Handlungen illustrierend fest macht. Narkissos (Narziss), Sohn der Nymphe Leiriope und des Flussgottes Kephissos, gibt dem hoffnungslosen Selbstverliebtsein seinen Namen. Ödipus steht für die unbewusste, infantil-archaische Sehnsucht jeden Sohnes, Vatermord aus eifersüchtiger Konkurrenz um die eigene Mutter zu begehen.48 Bemerkenswert ist, dass Freud 1912/13 seine vierteilige Schrift Totem und Tabu zu einer Zeit des unbedingten Avantgardismus vorlegt, als die romantischen Seelenanspannungen und die subjektiv-impressionistischen Äußerungen sich allenthalben auf der Anklagebank befinden. Freud bemerkt dort, dass die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung drei große Weltanschauungen hervorgebracht hat: „Die animistische (mythologische), die religiöse und die wissenschaftliche“.49 Die erste – für ihn die „erschöpfendste“ – die animistisch-mythologische bezeichnet er als psychologische Theorie, deren Hauptstruktur in der janusköpfigen, tabuisierten Verflechtung von Libido-Verlangen und versagender Realität der Individuen liegt. Freud beruft sich auf die urgeschichtlichen Tabus menschlichen Zusammenlebens, die sich gleichzeitig auf Glauben an und Furcht vor dämonischen Mächten und deren Anrufung beziehen und dabei einen Sektor von unabdingbaren Wert- und Verhaltenskodices festlegen, die von Ge- und Verboten bestimmt sind, ein Tabubereich also, der umfasst, „was zugleich heilig, über das Gewöhnliche erhaben, wie auch gefährlich, unrein, unheimlich“ ist50. Dieses Freudsche Dokument entsteht in einer Zeit 48 Bei dieser Ödipus-Illustration nimmt Freud allerdings in Kauf, dass er den Kern des mythischen Ödipus insofern nicht trifft, als dieser weniger aus seelischen Zwängen verfehlte, sondern sich nicht den z.T. orakel-behafteten Fallstricken seiner Vergangenheit entziehen konnte. 49 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Bd. IX, Totem und Tabu [Imago 1913], Fischer, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1978, S. 96. 50 Ebd., S. 31. 30 der Tabubrüche, in der die heiligen Kühe des 19. Jahrhunderts geschlachtet, einschränkende Verbote gefällt oder zumindest die heilige Scheu vor vorhandenen, aber überholten Werten in Frage gestellt werden. Werner Hofmann erkennt hierin die Spiegelung der „ambivalenten (atavistischen) Züge der Moderne“51. Carl G. Jung (1875 – 1961) geht von den Freudschen Thesen aus, dass der Mythos Konturen des menschlichen Inneren abbildet, die sich ständig wiederholen und deren Erkenntnis der Befreiung von Seelenlasten dienen kann. Dadurch wird das Mythosverständnis von einer allgemeinen geschichtlichen Ebene ebenfalls auf die Stufe subjektiver, dem einzelnen Mythos folgender Zwangsläufigkeit verlagert. Darüber hinaus aber hat Jung neben den individuellen Mythenbildern, die uns als Einzelperson unbewusst traumhaft begleiten, das „kollektive Unbewusste“ ausgemacht, in dem hinter dem ersteren vermutet – die Archetypen, die Mythen bildenden Strukturelemente als Antriebskräfte menschlicher Handlungen angesiedelt sind. Mythos ist danach eine Art Aufsummierung kollektiver, von Vorfahren hinterlassener Inhalte des Unbewussten (Archetypen, in Träumen und Phantasien aufscheinend). Während die psychologische Betrachtung dem Mythenverständnis durch die Traumanalyse näher kommen möchte, packten es die ritualistisch-soziologischen und politischen Modelle praktischer an. Diese stellen den Mythos als eine Daseinsform praktischer Lebenswirklichkeit und als Basis menschlicher Gemeinschaft dar. Bronislaw Malinowski (1884 – 1942) beruft sich auf den Vorteil des Ethnologen, der per Augenschein und Literatur die primitiven Gesellschaften studiert und feststellt, dass der Mythos nicht allein erzählte Geschichte, sondern „gelebte Realität“ ist52. Im Vergleich zu Märchen als Akten der Geselligkeit und zu Legenden als vergangenen historischen Ausblicken sind Mythen für ihn heilige Geschichten, die nicht nur als Kommentierung zu rituellen Handlungen, sondern als „Bürgschaft, Grundgesetz und oft sogar als praktische Anleitung bei der [rituellen] Tätigkeit angesehen werden müssen. Darüber hinaus enthalten zeremonielle Riten und die Gesellschaftsordnung als solche direkte Bezüge auf den Mythos; sie werden als das Ergebnis mythischer Ereignisse angesehen … und bilden … das Rückgrat einer primitiven Zivilisation“53. Obwohl diese Betrachtungsweise des Mythos eher als traditionell bezeichnet werden könnte, lenkt sie durch den rückgreifenden Verweis auf das zeremonielle, rituelle 51 Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst, 4. erg. Aufl., Kröner, Stuttgart 2003, S. 526. Malinowski, Bronislaw: Die Rolle des Mythos im Leben [1926]. In: Kerényi, Karl: a.a.O., S. 181 ff. 53 Die Ansicht, dass der Mythos als das grundlegende Element der Riten anzusehen ist, ist nicht unbestritten. Zum Beispiel hat G. Murray umgekehrt das Ritual als die Quelle des Mythos bezeichnet. Vgl. Hübner, Kurt: a.a.O., S. 56. 52 31 Gebaren der Primitiven, das sich im griechischen Festmahl wiederholt, doch die Aufmerksamkeit auf einen für unsere weitere Betrachtung relevanten Punkt, nämlich die starke Gebundenheit des Mythos an das Kollektiv, das an der rituellen Handlung teilnimmt und dabei zum Teil aktiv die Nähe zum wie auch immer definierten Göttlichen sucht und erlebt. Dabei bilden neben dem Gebet vor allem das Opfer und das Opfermahl die zentralen Punkte des rituellen Geschehens. Das (blutende Tier-)Opfer tritt als Mittler zwischen Vorfahr/Gott und dem aktuell Menschlichen auf und schafft ein gemeinschaftliches Ganzes, eine Vereinigung – mit dem Ziel der Erlösung von Angst oder Not. Cassirer spricht zum Beispiel von einer entstehenden ,Blutsgemeinschaft’54 und sieht letztlich die Bedeutung des Opfervollzugs nicht alleine in dem Darbieten eines Opfers an den Gott, sondern darüber hinaus in dem Opfern des Gottes selbst, der dadurch seine Unsterblichkeit erlangt. Ein vorrangiges Sinnmerkmal ist dabei also die Befreiung vom Tode durch Wiedergeburt, wie es in besonderer Weise auch in den geheimnisvollen Mysterienkulten gefeiert wird, etwa den eleusinischen, oder den Mysterien der ägyptischen Isis/Osiris und des persischen Mithra. Je intensiver diese Mysterien erlebt wurden, desto stärker wurden sie zum Opferbetrug benutzt, wie sehr anschaulich der von Hans Kloft berichtete Skandal aus Kaiser Tiberius’ Zeiten beweisen kann, wobei einer reichen Römerin in ihrer Isisverehrung der Beischlaf des Sohnes der Göttin zuteil wurde; allerdings verbarg sich hinter dem Gottessohn lediglich ein zahlungskräftiger Verehrer der Dame, der mit dem willigen Priester gemeinsame Sache gemacht hatte.55 In den planmäßig betriebenen menschlichen Opferhandlungen ist in der Regel jedoch ein Betrug am göttlichen Adressaten involviert, da diese Opferhandlungen in erster Linie menschlichen Zwecken dienen sollen. Opferbetrug und Opferbegrenzung gehen ein nicht immer klar voneinander zu unterscheidendes Verhältnis ein. Die Mythenexplikation in soziologischer Hinsicht aber verweist uns auf eine weitere höchst aktuelle Mythos-Theorie: die politische. Christopher G. Flood56 z.B. meint mit seinem Begriff des Politischen nicht nur die äußerst wichtigen politikwissenschaftlichen Reviere von Staat und Staatenformationen, sondern auch den allgemeinen Komplex 54 Cassirer, Ernst: a.a.O., S. 267. Kloft, Hans: Mysterienkulte der Antike. Götter, Menschen, Rituale, Beck, München 1999, S. 48. 56 Bei dieser Betrachtungsweise ist Mythos nicht nur (wie auch das Religiöse) ein Grundelement des Politischen, sondern die politisch erfahrbare kulturelle Gesellschaft als Ganze wird als von ihr, ihren Urbildern und Ritualen geschaffener politischer Mythos verstanden. Christopher G. Flood führt als Beispiel für die Schaffung eines politischen Mythos eine von Charles de Gaulle 1946 gehaltene Grundsatzrede an, die letztlich die Basis für die Verfassung der Fünften Republik bildete. Vgl. Flood, Christopher G.: Politischer Mythos, eine theoretische Einführung [1996]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): Texte zur modernen Mythen-Theorie, Reclam, Stuttgart 2003, S. 301 – 315, hier: S. 305 f und 314. 55 32 „der Gesellschaftsordnung und des gesellschaftlichen Handelns“, zu dem u.a. Wirtschaft, Recht, Kunst, Bildung und Volkstum zählen und der die von uns erwähnte praktische Lebenswirklichkeit spiegelt. Selbstverständlich beeinflussen neben anderen auch sakrale Kulturelemente (für Flood: „sakraler Mythos“) dieses politisch motivierte Mythen-Bewusstsein, gleichzeitig aber herrscht der politische Mythos auch durch seine Ideologie, die durch ein politisch-soziologisches ,Überzeugungssystem’ (Faschismus, Bolschewismus) oder auch nur durch „allgemeine Kennzeichen getragen werden, die unterschiedlichen politischen Überzeugungssystemen gemeinsam sind“. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Verweis von Flood, im Einzelfall genau analysieren zu müssen, inwieweit zielgerichtete propagandistische Manipulation sich einseitig der Irrationalität und Selbsttäuschung bedient. „Wenn die Idee des politischen Mythos so weit eingegrenzt wird, dass sie kaum mehr als irrationale oder sonstwie politisch entstellte Glaubensüberzeugungen einschließt – wie es üblicherweise bei dieser Denkrichtung geschieht –, dann wird sie identisch mit der Vorstellung von Ideologie in einer weniger technischen als kritischen Auslegung“.57 Flood fordert an dieser Stelle eine mythische (politisch motivierte) Rangordnung, ausgehend davon, dass Mythenbildung im Politischen ein normaler Grundzug jeweiliger Gemeinschaften sei. Dies wird dann zutreffen, wenn neben dem dominierenden gleichzeitig das konkurrierende politische Modell Existenzchancen erhält, andernfalls gibt es nur den ersten Rang, die Ideologie, und keine Rangordnung. 4. Deutungen mittels numinoser Erfahrung und strukturalistischer Analyse Wenn wir den von Kurt Hübner explizit eingesetzten Begriff des Numinosen58 übernehmen, so soll dieser hier stehen für das u.a. von Walter Friedrich Otto (1874 – 1958) und Mircea Eliade (1907 – 1986) bis zu Karl Kerényi und Klaus Heinrich sich spannende Spektrum religionswissenschaftlich orientierter Betrachtungsweisen zum Mythos, das sich gegen psychoanalytische und rationalistisch aufklärerische Modelle wendet und z.T. den romantischen Faden wieder aufgreift. Während Otto den Mythos als „Bild der Gottheit. Ein Gespräch mit Gott“59 und dadurch mit dem Kultus als „eins“ festlegt, betont Eliade, dass jeder Mythos von einem Urereignis ausgehe und in ständiger Wiederholung Handlungsorientierung biete, wobei dieser Hinweis auf das Archetypische das aktuelle Leiden erleichtern soll. „Die Wieder57 Ebd., S. 310 und 312. Hübner, Kurt: a.a.O., S. 76 ff und S. 129 ff. 59 Kerényi, Karl: a.a.O., S. 278. 58 33 holung bringt die Aufhebung der profanen Zeit mit sich und stellt den Menschen in eine magisch-religiöse Zeit hinein, die die ewige Gegenwart der mythischen Zeit ist.“60 Kerényis Mythosanschauung lässt sich als Handlungs- oder Lebensreligion ausweisen, wenn er betont, dass Mythologie gelebt wird; sie ist für ihn „eine Ausdrucks-, Denk- und Lebensform, d.h. zugleich auch Handlungsform“.61 In der Zeit, in der Glauben und Nichtglauben noch nicht dominierten, gab es kein Auseinander von Denken und Leben. Mythos zeigte den wahren Weg, dem Göttlichen zugewandt. Hier knüpft Kerényi mit religiösem Sinn an das symbolhafte Doppelwesen des Mythos an, der in seiner eigentlichen Geschichtlichkeit die Lebensrolle des Menschen steuert, wenn nicht wiederholt. Kerényi macht auch darauf aufmerksam, dass diese Analyse zum echten, ständig lebenden, sich erneuernden Mythos führe, den man von unechten, politisch-ideologischen, zweckgebundenen unterscheiden müsse. Ein weiteres Beispiel religionskritischer Auseinandersetzung mit dem Mythos liefert Heinrich. Ausgehend von der einfachsten Bestimmung des Mythos als Göttergeschichte, wendet er sich der Ambivalenz des Begriffs zu, der nicht nur einen Stoff, sondern gleichzeitig „eine besondere Geisteslage“ darstellt, die in jenen „Erzählungen ein unbedingtes, d.h. religiöses Interesse findet“.62 Dieses Interesse beruht auf der besonderen Ausdruckskraft der Gestalten und Orte des Stoffes, weil diese die ursprünglichen Kräfte und Mächte darstellen und mobilisieren. Wir blicken erneut auf die uns bereits geläufigen zwei Ebenen, die – und dies ist die qualifizierende Aussage Heinrichs – durch den Mythos genealogisierend „überbrückt“ bzw. verknüpft werden: Dieser Brückenschlag zwischen dem göttlichen Ursprünglichen und der Aktualität, dem „Losgerissensein etwa von heimatlichen Boden oder dem mütterlichen Schoß der Familie oder dem väterlichen Schutz“ gewähre Geborgenheit vor Ängsten und Bedrohungen, führe auf die eigene Identität und stelle die Funktion des Mythos dar. Ahnenkult und Totemismus sind Beispiele für diese genealogische Struktur. Gleichzeitig mahnt er in seinem Text ,Mytheninterpretation bei Francis Bacon’63, einer Auseinandersetzung mit den Mythenüberlegungen des aufklärerischen Philosophen (Wissen ist Macht), die Erkennung einer naturfeindlichen Hybris an, wie er sie auch Bacons Interpretationen entnehmen kann. 60 Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte, Frankfurt/M. 1984, S. 10. Zitiert nach: Jamme, Christoph, 1991, a.a.O., S. 143. 61 Kerényi, Karl: a.a.O., S. 221. 62 Heinrich, Klaus: a.a.O., S. 11 und 13. 63 Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona [1982], Stroemfeld/Roter Stern, Basel, Frankfurt/M. 1992, S. 29 – 60. 34 Heinrich führt dazu illustrierend u.a. das Beispiel der Atalanta an, die als Ars (menschliche Kunstfertigkeit) das Wettrennen gegen Hippomenes (Natur) verliert, der ihr beim Wettlauf goldene Äpfel (höchste wissenschaftliche Errungenschaft – der Alchemie) vor die Füße wirft, sodass sie abgelenkt wird und den Wettkampf verliert. Die überkluge, übereifrige Atalanta ist laut Bacon/Heinrich der aufgeklärte Geist, nicht der Apfel werfende Hippomenes – eine Einsicht, die bei manchen der deutschen Renaissancephilosophen im aufklärerischen Überschwang nicht erscheinen würde. Jene hätten in ihrer eigenen Verwerfung mythischer Allegorien Bacons Warnung, den Wiederholungsbann des Mythos zu durchbrechen, nicht wahrgenommen. Man sollte dies maßvolle Entmythologisierung nennen. Die Mythendeutung im Sinne des Numinosen, wie hier eingeordnet, lässt erneut die mythische Doppelstruktur erkennen: Dabei spiegelt der Erzählstoff das bewusst und betont Herauszuhebende, das Heilige (Eliade), ist Muster für Gott zugewandtes Handeln (Kerényi) oder ist die Bühne für eine bedeutsame Geisteslage (Heinrich), die sich entlastend an dem Urmächtigen orientiert. Gerade an dieser Stelle möchten wir darauf verweisen, dass die e strukturalistische Mythenbetrachtung zunächst als die der numinosen Analyse diametral entgegengesetzte gelten könnte, da sie die allgemeinste und nüchternste Annäherung an den Mythos ist, weil sie inhaltlos ist. Sie ist jedoch nichts anderes als eine Methode zur Annäherung an den Mythos, die den formalen Rahmen für beliebige Deutungen (s. S. 18) bietet – z.B. Distanzgewinn zur Angstbewältigung im Sinne von Hans Blumenberg. Als Deutungsansatz verstanden, kann der Strukturalismus nur Unverbindlichkeit beanspruchen. Auch Roland Barthes sieht im mythischen Prinzip zunächst die Verwandlung von „Geschichte in Natur“64, womit der ursprüngliche Sinn wie in einem neuen ,Form’Container aufgesogen bzw. „deformiert“ wird und, die neue Wertbesetzung mit Signifikat b beherrschend, natürlich erscheint. Die Metasprache vernebelt allen vorgegebenen Sinn und gibt sich „den Anschein einer ,Natur’, ja, einer ewigen [absoluten] Begründung“65. Die Wertestrukturen der Metasprache entdeckt Barthes aber dann – politisierend – in den Leitformeln und Phänomenen der bürgerlichen (Konsum-)Gesellschaft mit deren Repräsentanten aus der Waren- oder Medienwelt und benutzt ,seine’ strukturalistische Methode zur Kritikfindung gegenüber der für ihn beherrschenden 64 65 Barthes, Roland: a.a.O., S. 113 und 129. Hübner, Kurt: a.a.O., S. 359. 35 Ideologie der Bourgeoisie.66 Die von ihm markierten Mythenbildungen („Alltagsmythen“) sind nach seiner Auffassung Verankerungen dieser Ideologie und verlangen nach einem entmythologisierenden Lesen.67 Claude Gustave Lévi-Strauss (geb. 1908), in der Tradition der französischen Religionswissenschaft mit starker ethnologischer Orientierung, entwickelt ein komplexes, sich ständig erweiterndes Werk zur Gewinnung eines Theoriemodells für die menschliche Gesellschaft. Allgemeiner Mythos und spezifische Mythen liefern ihm die archaischen Vorlagen für seine Analyse; denn der Mythos ist für ihn eine intellektuelle Leistung wie jede andere – zur Lösung der Grundprobleme: Selbsterhalt und Fortpflanzung, die in jedem Mythos substanziell vorhanden sind. Lévi-Strauss’ eigentlicher Ansatz ist die Verknüpfung dieses archaisch-religiös/mystischen Materials mit einem linguistisch-strukturalistischen Vorgehen. Es ist hier nicht die Aufgabe, diesen Ansatz detailliert zu beschreiben68, es mag der Hinweis genügen, dass er die einzelnen Erzählpunkte aller ihm vorliegender Mythen auf Kurzsätze, Mytheme, zusammenschrumpft, Sätze mit bestimmten Gemeinsamkeiten (z.B. ,tötet’, ,verwandelt sich’, ,schläft bei’) nummeriert, diese gruppiert und derart in Beziehungen zueinander setzt, dass Beziehungsbündel entstehen, die zu dem allgemein verbindlichen Mythos führen sollen. Unabhängig von aller kritischen Würdigung bleibt Lévi-Strauss’ Verweis auf die elementaren Strukturen des Mythos, die einen vielfachen Wechsel des Signifikats zulassen, also mit der Aufhebung spezieller inhaltlicher Verweise des Mythos letztlich dessen Unverbindlichkeit festmachen. Lévi-Strauss zitiert in diesem Zusammenhang den Mathematiker Jean-Claude Coquet: „Was das Zusammenwirken von Signifikat und Signifikant angeht, ist es klar, dass das im allgemeinen Fließen befindliche Signifikat den Signifikanten hervortreibt wie ein Gewächs, das sich ständig weiter verzweigt“.69 66 Eines seiner am häufigsten zitierten Beispiele für seine Betrachtung ist ein von ihm zitiertes Titelbild von Paris Match, das einen farbigen französischen Soldaten zeigt, der der Tricolore den militärischen Gruß erweist, womit auf der sekundären Bedeutungsebene die Größe Frankreichs symbolisiert wird, was darin gipfelt, dass alle Söhne Frankreichs treu und ergeben der Nation dienen – auch wenn sie zu den kolonial Unterdrückten zählen. S. bei Barthes, Roland: a.a.O., S. 95. 67 Kurt Hübner hält Roland Barthes entgegen, dass auch die anzustrebende, angeblich ,reine Materie’ der primären Stufe nicht mythenfrei sei, da es eine ,reine Natur’ an sich nicht gibt, „sondern nur verschiedene Deutungen der Wirklichkeit, von denen die nichtmythische keinerlei Vorrang vor der mythischen beanspruchen kann“. Hübner räumt ein, dass Barthes eine Theorie politischer Pseudomythen bereit stellt, also durchaus eine Theorie zu Mythen, die jedoch bewusst gemacht und lanciert werden und damit einen anderen Charakter haben als authentische Mythen. Vgl. bei Hübner, Kurt: a.a.O., S. 360. 68 S. bei Lévi-Strauss, Claude G.: Strukturale Anthropologie I, suhrkamp, Frankfurt/M. 1967. 69 Lévi-Strauss, Claude G.: Ein kleines mythisch-literarisches Rätsel. In: Lévi-Strauss, Claude G.; Vernant, Jean-Pierre; et al.: Mythos ohne Illusion, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1995, S. 117 – 126, hier: S. 122/3. 36 c. Die Kernelemente des Mythos Den Kernelementen des Mythos wollen wir uns jetzt über die Mythos-Funktionen nähern: Denn wie zur klärenden Beschreibung eines Gebäudes nicht nur die Aufzählung seiner materiellen Bestandteile, sondern auch die Bestimmung seiner Rolle (Funktion), z.B. als Kirche, Wohnhaus oder Hotel gehört, ergibt sich der Zugang zum Mythos über die Einsicht in seine Funktionalitäten. Aus unserer Kurzanalyse über die MythosDeutungen filtern wir zu deren Bestimmung im Einzelnen heraus: 1. Formbezogene Funktionen Unsere Ausgangshypothese bezüglich des dichotomen Charakters des Mythos ist voll bestätigt worden. Dies war zunächst ein Statement zur rein formalen Mythenstruktur, das sich jedoch unmittelbar in ein formal-inhaltliches verwandelt, wenn wir uns in Erinnerung rufen, welch große Breite der Interpretation bzw. Reflexion allein schon die von uns im Vorigen ausgeführten Deutungsversuche ausmachen, die sich auf dieser Grundstruktur ausleben. Die aktuelle Mythos-Theorie nimmt sich gerade dieses Aspektes der Mythen-Fortentwicklung an. Die Vielgestaltigkeit des Mythos und seine Korrelation mit aktuellen gesellschaftlichen Bezügen ist Basis für seine permanente Wiederbelebung und „ermöglicht es ihm …, Handlungsweisen und Vorstellungen von Gesellschaften [immer wieder neu] zu prägen und zu strukturieren, die auf rationalen Vorstellungen und Normen gründen“.70 Wir können hier vorwegnehmen, dass wir ebenso im Speziellen des Kunstkontextes (s. Kap. IV) dieses Phänomen der Mythentransformation und der Mythenbildung in vollem Umfang bestätigt finden werden. Für uns ist wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, dass sich sowohl in dem strukturalen Dualismus wie auch in der Komplexität der zitierten Deutungsmöglichkeiten diese Vielfältigkeit offenbart und damit eine Funktion der multiplen Instrumentalisierung über alle Kulturen, d.h. über die Geschichte hinweg nicht nur sich entwickelt und erhält, sondern sich sogar vervielfältigt. Wir erkennen hierin ein dekonstruktivistisches Element im Sinne von Ab- und Wiederaufbau mythischer Substanz. Es ist dabei nicht immer sicher, dass der Wiederaufbau geringer als der vorausgehende Abbau ausfällt. 70 Wunenburger, Jean-Jacques: Mytho-phorie, Formen und Transformationen des Mythos [1994]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 290 – 300, hier S. 290. Für uns ist dies allerdings ein eindeutiger Rückgriff auf Cassirers Überlegungen zum dialektischen Bewusstsein. 37 Unter eine formale Teilbestimmung des Mythos fällt noch ein besonderer Aspekt, der auf die Möglichkeiten der genannten Instrumentalisierung und deren Attraktionspotenzial zurückgeht: Die psychologische Interpretation des Mythos ist häufig als allegorisch-rationalistische bezeichnet worden. Wir halten jedoch den Standpunkt, dass hier der Ursprungsstoff zur Illustration einer psychologischen Diagnose benutzt wird, für Hinweis gebend dafür, dass dem Mythos nicht in erster Linie eine psychologische Funktion zuzuschreiben ist, sondern dass seine Elemente im Rahmen einer psychologischen Analyse instrumentalisiert werden. Hierbei handelt es sich also nicht um Tradierungen oder Transformationen eines Mythos, sondern um seine Dienstbarmachung für Inhalte, die nur sekundär mit dem Ursprungsstoff zu tun haben. Es ist jedoch nicht die Psychologie allein, die hierauf zurückgreift, auch Kunst und Werbung bedienen sich vielfach dieser „Illustrations“-Möglichkeit. Die dem Mythos innewohnende Dynamik und seine Profilierung durch ,Bedeutsamkeit’ für die am kommunikativen Geschehen Beteiligten – beschrieben durch seinen speziellen dualen Charakter und seine Tauglichkeit zur multiplen Instrumentalisierung für ,Wesentliches’ – bieten die gedankliche Öffnung, einen erweiterten Mythos-Begriff zu verfolgen, der über das Wesen traditioneller Erzählungen und ihre Tradierungen hinaus geht und der letztlich auch dieser unserer Betrachtung zu Grunde liegt, wenn wir mythische Substanz nicht nur in Stellungnahmen von Philosophie oder Kunst, sondern auch in aktuellen Ausdrucksformen, etwa auch im Werbekontext, vermuten. Dem Grundmuster traditioneller Mythen entsprechend, können sich mittels – auch bewusst lancierter – ,Bedeutsamkeit’ neue mythische Substanzen, neue Mythen bilden, die auf bewegenden Ereignissen, tragischen und berühmten Personen oder allgemeinen kulturellen Wertvorstellungen aufbauen. Würde, Bedeutsamkeit und Dauerhaftigkeit dieser (Neo-)Mythen mögen in philosophischer Hinsicht auf einem anderen, niedereren Sinnbild gebenden Niveau angesiedelt sein, die kollektiv erlebbare Wirklichkeit dieser Phänomene aber werden wir in den folgenden Kapiteln nachweisen können. Die genannte Mythen-Dynamik wird zu einer Mythen-Dramatik durch die in unserem Gedächtnisspeicher vorhandene gesteigerte Bildhaftigkeit der ursprünglichen Mythenerzählungen mit ihren drastischen, brutalen und überraschenden Elementen. Dazu zählen auch die zahlreichen Metamorphosen, die im Mythos eingebaut sind und zu Kehrtwendungen der Ereignisse bzw. Verdrehung der vorhandenen Normen führen können. Die einprägsame Aussagekraft des antiken Mythos aber hat den Weg in alle 38 Mythen-Diskurse geebnet: Diese Wirkungsquelle des Mythos (Blumenbergs ,Bedeutsamkeit’) ist auch eine Funktion eines permanenten und wiederholten Ins-BildSetzens eines entsprechenden Themas, gleichgültig um welche Erscheinungsform es sich dabei handelt, gleichgültig ob werblich, journalistisch oder philosophisch begründet (gemacht), entscheidend ist am Ende die kollektiv-rezeptive Wertigkeit der Aussage. Man kann verstehen, dass diese Dramatik Kräfte mobilisiert hat, die zum (aufklärerischen) Widerstand gegen manche dieser ,Bedeutsamkeiten’ angetreten sind. 2. Inhaltsbezogene Funktionen Blumenbergs erläuternder Begriff der Bedeutsamkeit des Mythos ist für ihn die Tragfläche der von ihm vertretenen, rezeptiv orientierten Mythenfunktion des „Distanzierungsgewinns“ gegenüber den übermächtigen Schrecknissen des aktuellen Weltgeschehens, der „Unheimlichkeit“71. Die Genese des Mythos ist für ihn ein Prozess der Entwicklung der Urmächte zu der olympischen Götterformation mit ihren deutlich menschenfreundlicheren und humaneren Inhalten. Jene unheimlichen, Angst forcierenden Prästrukturen, die zum Mythos-Verständnis ebenso gehören wie seine Furcht reduzierenden, werden ebenso gebrochen wie später die mittelalterlichen, im Namen Gottes aufgebauten Strukturen der Kirchenmächtigkeit. „Der Mythos schafft Vertrauensbedingungen nicht nur durch seine allzu menschlichen Geschichten von den Göttern, … sondern vor allem durch die Herabsetzung ihres Machtpegels“: Kronos wird verbannt, Uranus entmannt72. Die Auseinandersetzung mit dem Mythos führt zur Selbstbehauptung des Individuums, zu einer humaneren Teilnahme am Weltgeschehen, in dem Ängste und Bedrängnisse abgebaut werden können. Wir dürfen von einer Funktion der Entmythologisierung im Sinne von Angstbewältigung sprechen, die weder auf der Allmacht eines Aufklärers, aber ebenso wenig auch auf dem Ansatz absoluter mythischer Ergebenheit des einzelnen Subjekts beruht. Zur Bewältigung des Lebens mit allen seinen Stolpersteinen werden Vertrauensbedingungen, Haltepunkte durch den Mythos angeboten. Eine besondere Form der Lebensangstbewältigung ist – aus dem Cluster der Kontingenzangebote – der Neubeginn eines „Anderen“ nach dem Tode. An dieser Stelle erreichen wir – wie wir es hier verstehen wollen – eine noch höhere Formation der Mythenfunktion über die Angstbewältigung hinaus: die Bewältigung des Chaos. Statt des Chaos entsteht ein Kosmos im Kontext des Glaubens, der religiösen 71 72 Blumenberg, Hans: a.a.O., S. 132. Ebd., S. 137. 39 Einvernehmung. Wenn die mythische Substanz sich zum Glauben erhebt, ist das Endgültig-Wahre in Reichweite und eine grundlegende Ordnung entstanden. In einem großen Spagat möchten wir an dieser Stelle hierunter auch die transzendenten Erfahrungen rechnen, also jene über greifbare empirische Erlebnisse hinausreichenden Eingriffe in unsere Lebensumstände, die uns Sicherheit und Geborgenheit verheißen. Verwandt mit dieser Funktion der Chaosbewältigung ist jene der Verleihung von Legitimation und Orientierung durch die Konzipierung Sinn gebender Grundprinzipien menschlicher Werteorientierung. Hierbei wird die normative Energie des Mythos angesprochen, auch jenseits der streng religiösen Glaubensvorstellungen und -regeln. Zu dieser Funktion tragen in erster Linie die Symbol bezogenen und soziologischen Interpretationen bei. Eine spezielle Funktion ergibt sich vor allem aus der ritualistisch-soziologisch dominierten Betrachtungsweise des Mythos: die Identitätsverleihung, die über ein DaraufBerufen-Können bzw. das Abrufen gemeinsamer Verhaltensformeln den Zusammenhalt einer Gruppe ermöglicht und fördert. Dies spiegelt die normative Kraft des Mythos als Ordnungs- und Handlungsmuster. Gleichzeitig liefern emotionales Miterleben und Einbezogensein in ein (rituelles) kollektives Verhalten den Individuen Sicherheit vor Vereinsamung, Anfechtungen und überraschenden Herausforderungen. Wegen seiner Aktualität möchten wir gerade in Zusammenhang mit diesem Funktionsbild der Identitätsverleihung auf die Mythen bildende und Mythen empfangende Funktionalität aufmerksam machen: de Gaulle schafft mit einer Rede wesentlich den politischen Mythos der Fünften Republik (s. Flood), die Unterhaltungs- und Werbeindustrie gestalten wesentlich den soziopolitischen Mythos der Kulturindustrie (s. Adorno/ Horkheimer); diese Rollenbesetzungen fänden auf der Rezipientenseite keinen Applaus, wenn da nicht die Möglichkeiten von akzeptierten Problemlösungen angeboten werden würden. Dabei erscheint nicht nur die jeweils aktuelle gesellschaftliche Situation „fundierend“ im Beweis führenden Licht eines mythenbeladenen „kulturellen Gedächtnisses“, sondern gleichzeitig auch „kontrapräsentisch“, d.h. die Gegenwart relativierend, sobald nämlich deren Schwachstellen für die Rezipienten zu Tage treten und aus der Vergangenheit Großes rekapituliert bzw. ersatzweise/identitätsfördernd abgerufen werden kann.73 73 In Deutschland erlebt man im Jahre 2004 erneut den Fußball-Mythos von Bern („Das Wunder von Bern“, 1954) zur Relativierung des fußballerischen Misserfolges bei einer Meisterschaft 2004 in Portugal. – Die zitierten Begriffe hat Jan Assmann eingeführt. S. Assmann, Jan: Mythenmotorik der Erinnerung [1992]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 280 – 288, hier: S. 280. 40 Und schließlich geht es bei der Mythos-Funktion auch ganz wesentlich um das Verhältnis zwischen Mythos und Aufklärung. Unsere Deutungsansätze zeigten im Besonderen: Historisch gesehen darf man mit der Zunahme aufklärerischen Denkens das Verdrängen bzw. Einschränken der ursprünglich dominierenden mythischen Substanz im menschlichen Bewusstsein konstatieren, obwohl bereits mit dem ältesten Mythos selbst ein Stück Rationalisierung einherging (göttlicher Blitz!) und obwohl man nicht daran vorbeikommt, aktuell ein Zurückschlagen der Aufklärung in Mythologie und die damit verbundenen Opfer zu erkennen. Die Stellung des Mythos als Geisteslage oder Bewusstsein sieht sich im subjektiven Welterleben einer neuzeitlichen Rationalität gegenüber, welche in hohem Maße von einer Zweckrationalität unterlaufen ist. Mythos in seinem allgemeinsten inhaltlichen Ansatz erfüllt hier die Funktion der Kritik an eben dieser Rationalität, ganz unabhängig davon, ob innerhalb des wissenschaftlichrationalen Diskurses eine Suche nach anderen Begrifflichkeiten für Rationalität/Vernunft stattfindet. Hier knüpfen Überlegungen an, wie wir sie in Zusammenhang mit unseren Betrachtungen zu Cassirer/Adorno angeführt haben. d. Die Erscheinungsformen des Mythos Aus unseren bisherigen Betrachtungen zum Mythos ergibt sich ein zunächst theoretisches Bild von dessen Erscheinungsformen, das wir dann in den folgenden Kapiteln zu Werbung und Kunst im Einzelnen belegen wollen. Zunächst begegnen wir dem Mythos in seiner ursprünglichen Erzählform als Götterund Heroengeschichten, z.T. durchaus abgewandelt und im Geschichtsablauf verformt. Wir wollen dies den historischen oder authentischen Mythos nennen. Gleichzeitig haben uns die verschiedenen Deutungsversuche gezeigt, dass eben dieser historische Mythos zu zahlreichen, unterschiedlichen Reflexionen Anlass gibt bzw. die Grundlage liefert, wodurch ein jeweils anderes Mythenverständnis bzw. Mythenverhältnis entsteht. Die Erscheinung des Mythos in dieser Form erkennen wir als eine Mythos-Neubestimmung, die auf unterschiedlichen Rezeptionsansätzen beruht.74 Wir wollen im Folgenden diese Erscheinungsform des Mythos eine reflektierte nennen. Dabei müssen wir uns klar 74 Unter Berufung auf Hans H. Holz bezeichnet Christoph Jamme – in Zusammenhang mit der Diskussion der künstlerischen Aneignung des Mythischen – dieses Mythos-Bild als metamorphotisch, da es sich nicht mehr „um eine Nacherzählung des Mythos, sondern um eine Freisetzung der in ihm liegenden Erfahrung handelt.“ Der Mythos wird als „Wurzel-Zeichen“, als Mythem, verwendet. S. Jamme, Christoph (1999): a.a.O., S. 292/3. 41 machen, dass diese Reflexion eine bestimmte Programmatik ausdrückt, die die Neubestimmung zu einer – vom authentischen Mythos aus betrachtet – reduzierten Mythenhaftigkeit mutieren lässt. Für Jean-Jacques Wunenburger (geb. 1946) ist Mythos eine Konkretisierung des Imaginären im sich verändernden Spannungsgebiet des kollektiven Umfeldes und damit „eine imaginäre Form, die in ihrem Wesen selbstbildend und kreativ ist. Die Kreativität des Mythos basiert paradoxerweise auf Entmythologisierung“75. – Hier im Bereich der Mythenreflexion können wir die relevanten Abgrenzungsstrategien von dem traditionellen Mythosphänomen als philosophische Auseinandersetzung auf der Grundlage gesellschaftlicher Veränderungen erklären: religiöse und allgemein metaphysische Denkstrukturen sind es ebenso wie andererseits naturwissenschaftliche, objektiv-rationale, aufgeklärte Vernunftstrategien, die die Mythos-Debatte begleiten. Dies führt in der Regel zwar zu einem Prozess der Entmythologisierung, manchmal aber wird auch der Rückwärtsgang im Sinne einer Remythologisierung, vor allem im politischen Bereich, eingeschaltet. Der Verdacht auf einen Remythologisierungs-Prozess besteht allerdings auch, wenn Adorno/Horkheimer pessimistisch feststellen, dass in unserem Industrie-/Informationszeitalter Aufklärung in Mythos zurückfällt. Wenn wir nunmehr die Zeitung aufschlagen oder uns auf der Straße umhören, wird Mythos auch sehr aktuell aus dem Zeitgeist heraus verwendet. Dies ist das Gebiet der aktuellen Mythenbildung über den traditionell-historischen Mythos und seine Tradierungen hinaus, das letztlich ein Bekenntnis zu einem erweiterten Mythos-Begriff herausfordert. Mit dem Schlachten-/Kriegsmythos ,Tannenberg’, dem Unglücks-Mythos ,Titanic’, dem Großstadt-Mythos der Neuen Sachlichkeit oder dem PersönlichkeitsMythos ,Albert Schweitzer’ beruft sich unser Gedächtnis auf besondere Ereignisse und Personen, die einen solchen Zeitgeist-Mythos haben entstehen lassen. Weniger pessimistisch als Adorno/Horkheimer, ja eher optimistisch, führt der Kanadier Marshall McLuhan (1911 - 1980) 1959 einen neuen Begriff ein, mit dem er eine besondere Form dieses Zeitgeistmythos beschreiben möchte: den Makromythos. Damit bezeichnet er das heterogene Gebilde der Massenmedien, die aktuellen Mittel der Massenkommunikation, wie z.B. TV, Film, Presse, Radio – Internet würde er heute hinzufügen. Nach seiner Einschätzung verschmelzen bzw. reduzieren sich lang andauernde gesellschaftliche Vorgänge „auf eine abgeschlossene, zeitlose Vorstellung“, z.B. den Gorgonen- oder Kadmos-Mythos; in gleicher Weise würden die (Mythen-)Produktionen der 75 Wunenburger, Jean-Jacques: a.a.O., S. 300. 42 Unterhaltungs- (Hollywood) und Werbe-Industrie (Madison Avenue) in einem „totalen Bild“ auftreten, das ein vorhandenes oder gewünschtes Sozialverhalten wiedergibt76. Diese Grundüberlegungen veranlassen ihn zu der Feststellung „The Medium is the Message“, woraus er acht Jahre später „The Medium is the Massage“ (siehe Abb.4, hier links) macht. Botschaft und ,Massage’ erfahren eine doppelsinnige Beziehung: Durch die massive, gebündelte Erscheinung der Medien in der heutigen Erlebniswelt führt nach seiner Meinung die Art und Weise der Kommunikation zu einem stärkeren Einfluss auf die Rezipienten als die Mitteilungssubstanz im engeren Sinn selbst.77 Der Begriff des Makromythos fordert die Frage heraus, ob wir auch von Mikromythen sprechen können. Hierauf ist eine positive Antwort möglich, wenn wir uns vor Augen führen, dass wir es neben ganzheitlichen mythischen Erzählungen oft auch nur mit deren Konzentrat oder einzelnen Elementen dieser Geschichten – denken wir an die Archetypen von Jung – zu tun haben. Ferner gibt uns Roland Barthes eine entsprechende Antwort, wenn er 1964 vom Alltags-Mythos spricht, den wir in Kap. III genauer analysieren wollen. Dabei wird sich zeigen, dass damit vor allem auch aktuelle Bedürfnislagen und zum Teil kurzfristige, aber herrschende Wert- und Wunschvorstellungen ,bedeutsam’ gemacht werden. Generell halten wir fest, dass – wie wir gesehen haben – die Mythos-Grundlage, auf der sich der Mythos selbst erhebt, unterschiedlich sein kann: Es sind einmal die genannten Berichte von Göttern, Heroen oder die damit verbundenen Naturereignisse. Es sind aber auch Objekte wie die Erde oder das Universum. Wichtig sind daneben Personen, die die Schultern für erhöhte mythische Substanz anbieten: Götter der Antike, Könige oder andere, auch aktuelle Berühmtheiten. Ein breites Spektrum der MythenGrundlage bieten besondere Themen und Probleme sowie Ereignisse, auf denen Mythen 76 McLuhan, Marshall: Mythos und Massenmedien [Daedalus 1959]. In: Barner, Wilfried; Detken, Anke; Wesche, Jörg (Hg): a.a.O., S. 120 – 134, hier S. 121 ff. - Gerade diese einprägsame Formel des „The Medium is the Message“ hat weitgehende Anerkennung gefunden, wenngleich seine Argumentation umstritten ist, mit Gutenbergs Einführung der Buchdruckerei sei unterbrochen worden (Entpersönlichung durch industrielle Gesellschaft), was vorher in einer audiovisuellen Welt an Werten zu erfahren und nunmehr durch die aktuellen Medien wieder aufgenommen werden würde. Vgl. auch: Hauser, Arnold: Soziologie der Kunst [1974], 3. Aufl., Beck, München 1988, S. 650 ff. – Boris Groys hat sich gerade dieser Frage, was unter Art und Weise der Kommunikation zu verstehen ist, angenommen und analysiert, dass das Mediale selbst ein Begehren ausdrückt, ein Begehren nach Fortschritt, wie es im Verständnis der Moderne wurzelt, dem McLuhans Optimismus voll verbunden ist. Vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht, eine Phänomenologie der Medien, Hanser, München/Wien 2000, S. 89. 77 McLuhan, Marshall; Fiore, Quentin: The Medium is the Massage, Penguin Press, Watford 1967, Titel. 43 sich entwickeln: Kriege, Olympische Spiele, das Wunder von Bern (Nachkriegsdeutschland im Rausch) und dergleichen. Auch ein ritueller Ablauf – in der Gesamtheit der Riten: ein Kultgeschehen – ist die Basis für ein übergeordnetes Einverständnis oder gemeinsames Erleben, oftmals ausgedrückt in der Opferszene. Bedeutsam ist aber auch ferner, wenn sich auf der Basis von ersten Vorstellungen weitere Ideen aufbauen, dabei denken wir an Prometheus, der sich schon als Menschenbildner einen Namen gemacht hat, der aber durch die Feuerbereitstellung später noch die zusätzlich aufgeladene Position des „Urhebers des Menschen“ erfährt. Schließlich möchten wir der Vollständigkeit halber noch den Mythos von anderen Erscheinungsformen absetzen, die zum Verwechseln ähnlich sich in seiner Nähe aufhalten. Einmal ist es die Gruppe von Begriffen, die sich sprachlich in der Nachbarschaft des Mythos befindet. Während der Begriff Mythologie eher formal für die Erforschung und Darstellung von Mythen steht78, bezeichnen Mystik und Magie Handlungs- und Erfahrungsinhalte: Mystik steht in der Regel für ein unmittelbares, gefühlsbetontes Erfahren des Göttlichen oder eines letztlich Unbestimmbaren, das dem erzählenden Mythos an erlebbarer Bedeutung nahe kommt, Magie bedeutet Dienstbarmachung der übernatürlichen Mächte durch geheimnisvolle Beschwörungen mit religiösem Verständnis bei noch primitiven Kulturen. In diesem Zusammenhang erwähnen wir schließlich das Mysterium (z.B. von Eleusis), das ein Kultgeschehen (wiederholter ritueller Gottesdienst) darstellt, dessen Durchlaufen dem Beteiligten einen göttlichen Zustand im Jenseits verspricht. Zum anderen sind es Märchen, Legenden, Sagen und Fabeln, die eine Nähe zum Mythos signalisieren, aber doch abgegrenzt werden müssen, obwohl sie auch irrationale, phantastische Bezüge aufweisen. Während Legende als wundersame volkstümliche Erzählung von Helden, Sage als Erzählung ohne geklärte geschichtliche Orientierung und Fabel auf dem Umweg über nicht menschliche Gestalten Anwendungshilfe für Handlungen leisten möchten, kommt das Märchen dem Mythos am nächsten, jedoch ohne jeden historischen Hintergrund. Bei aller heftigen und dramatischen Eigenart ist dem Märchen letztlich doch ein Happyend zu eigen, was Zeus nicht immer zulässt; man kann Märchen als die niedere Stufe eines traditionellen Mythos mit Zwergen, Riesen und Wassermännern einordnen. 78 Mythologie wird auch oft als Bezeichnung für die Gesamtheit der mythischen Überlieferungen eines Volkes verwendet. 44 III. Mythos und Werbung „Werbung ist Kunst“79, Werbung ist „als Zweite Säkularisierung die zweifache Negation der Religion“80, Werbung ist ein Mythos. So lauten einige wenige Kurzbestimmungen zu diesem Themenkomplex. Was ist Werbung, wie setzt sie sich zusammen? Ist sie als Kommunikationsmittel Ursache oder Folge unserer ökonomisierten Kulturlandschaft? Wie ist ihr Verhältnis zu dem, was wir Marke nennen? Was hat das alles mit Mythos zu tun? Wenn Werbung schon nicht mythisch ist, sondern kühles, ökonomisches Kalkül, ist dann nicht doch in ihr etwas Zwiespältiges wie in der Figur des Götterboten Hermes, der als Schutzgott der Diebe und Händler eine Hypothek für Wirtschaft und Handel, für Werbung und Medien sein könnte? Werben hat sprachlich seinen Ursprung im Althochdeutschen und bedeutete etwa „sich drehen, sich wenden“ und wurde von daher zu „sich bewegen, sich um etwas bemühen“. Diese Tätigkeit ist im menschlichen Verhalten fest verankert; denn man kann in der Regel davon ausgehen, dass der durchschnittliche Zeitgenosse weniger seine schwachen, als vielmehr seine positiven Seiten darstellen, sprich für sich werben möchte. Dieser Vorgang des Werbens greift weit zurück ins Menschwerden und gewinnt Gestalt mit den arbeitsteiligen Produktionsweisen. Verkaufsförderndes Ausrufen und Herzeigen von Schildern waren die ersten entsprechenden kommerziellen Modelle, auch das ,Reclamare’, das Dagegenanschreien gehörte dazu. Propagieren, die Propaganda, half und hilft, politische oder religiöse Zielsetzungen zu verfolgen, die Warenwerbung der Industrie-/Dienstleistungs- und Informationsepochen begegnet uns täglich seit den technischen Entwicklungen der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert in einer Vielzahl von Medien. An dieser Stelle möchten wir einleitend in grober Form Werbung als Teil kommunikativen Handelns, als Teil von Bedeutungsvermittlung zwischen Menschen beschreiben, die allerdings über die reine Verständigung dadurch hinausgeht, dass sie einer spezifischen Interessenrealisierung nachgehen möchte. Wir werden uns in dieser Arbeit vor allem auf die Formgestalt der sogenannten klassischen Werbung beziehen, bei der in der Kommunikationssituation das Produkt oder die Dienstleistung nicht tatsächlich greifbar sind wie etwa beim direkten Verkauf, sondern mittels Zeichen, Symbolen und Abbildungen in den verschiedenen Medien wiedergegeben werden. Um 79 80 Schirner, Michael: Werbung ist Kunst, Klinkhardt & Biermann, 2. Aufl., München 1991, Titel. Cöster, Oskar: AD’AGE, Der Himmel auf Erden, Doc’s, Hamburg 1990, S. 87. 45 der Frage nach einem mythischen Gehalt dieser Werbeerscheinung und dessen Charakter auf den Grund zu kommen, möchten wir eine kurze analytische Plattform zu den Werbephänomenen formulieren, die ihre aktuellen Bedingungen und Ziele erläutert. Auf dieser Basis erfahren wir dann etwas über ihre strategischen Ansätze und Techniken, bei deren Diskussion der Mythen-Ansatz und vor allem dessen Ausmaß und Wirkungsweise sichtbar werden können. a. Die Entstehung werblicher Mythenbilder Naturgemäß hat Werbung immer etwas mit den beiden Kategorien ,Anbieter’ (Industrie und Handel) und ,Verbraucher’ (Haushalt und Industrie) zu tun. Nur im Schlaraffenland, dem wunderbaren Reich des Überflusses von Allem, dem Mythos vom verlorenen Paradies gibt es streng genommen allein den Verbraucher, da von Natur aus alles vorhanden ist. Das Angebot ist dort sozusagen Gott gegeben, nur dieser braucht sich darum zu kümmern. Die Wirklichkeit hat nicht erst im 21. Jahrhundert dieser Faulenzer-Märchenwelt abgesagt und sich von Wald, Wiese und Fluss in die Welt der Metropolen und Ballungszentren auf dem ganzen Globus verlagert. Bei aller Komplexität der Zusammenhänge können wir den Kern der Entstehung werblicher Mythenbilder im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden sich gegenüberstehenden Kategorien und deren Verhältnis zueinander suchen. 1. Die Rahmenbedingungen für die Werbung Verbraucher und Anbieter definieren neben dem Staat das Bild heutiger Konsumgesellschaften. Ihre Traditionen und Erfahrungen, ihre Einstellungen und ihr Verhalten bestimmen ihr wechselseitiges Kommunikationsgebaren, d.h. letztlich auch die Rahmenbedingungen für die Werbung und – wie wir sehen werden – deren Kinder, die Marken, die dem Verbraucher auf den Leib rücken. 1.1. Allgemeine Rahmenbedingungen Das dominierende Faktum der modernen Werbegeschichte ist die in den letzten 150 Jahren nicht nur in der westlichen Welt gewaltig gestiegene Nachfrage nach Verbrauchs- und Investitionsgütern. Los Angeles und Johannesburg bestanden vorher so gut wie noch nicht, die Wege nach Tokio oder Sao Paulo waren x-fach länger, die Entwicklung in unsere heutige Welt wurde begleitet von ungeahnten wirtschaftlichen Wachstumsschüben und sozialen Veränderungen. Neben nationalen entstanden globale 46 Märkte, sozialistische und kapitalistische Wirtschaftsordnungen entfalteten sich und verloren zum Teil ihre Vormachtstellungen. Die Industriegesellschaften werden von ihren Informationsbedürfnissen überlagert. Die Bedürfnisse nach zwischenmenschlicher Korrespondenz befriedigt ein gewaltiger neuer Medienapparat mit Nachrichtenübermittlung, Unterhaltung und – auch Werbung. Roland Burkart bezeichnet diesen Apparat als „Informationsnetze“ in Zusammenhang mit drei grundlegenden Etappen gesellschaftlicher Evolution: 81 Drei Stufen gesellschaftlicher Evolution Problem Problemlösung Gesellschaftstyp Transport von Materie Verkehrsnetze Vorindustrielle Gesellschaft Transport von Energie Verbundnetze Industrielle Gesellschaft Transport von Information Informationsnetze Postindustrielle Gesellschaft Tabl.5: Stufen gesellschaftlicher Evolution nach Roland Burkart Der jeweilige Beitrag zu den Problemlösungen, die Burkart den Stufen der gesellschaftlichen Evolution zugeschrieben hat, lässt völlig neue Marktstrukturen entstehen, von denen eine ihrer wichtigsten aktuellen Erscheinungskriterien die Entwicklung von regionalen/nationalen zu multinationalen/globalen Märkten ist. Die Entstehung der Netze im Zusammenhang mit politisch-ökonomischen Einflussfaktoren – z.B. Schaffung des europäischen Binnenmarktes und der amerikanischen oder asiatischen Wirtschaftszonen oder der Grenzabbau zu Osteuropa – forcieren bei gleichzeitiger Sättigung westlicher Inlandsmärkte internationale Wachstumsstrategien, unternehmerisch ausgeführt, politisch unterstützt. Die Öffnung des osteuropäischen Marktes bis weit nach Asien hinein im Gefolge des Zusammenbruchs der sozialistischen Planwirtschaften veränderte auch die dortigen Werbeäußerungen, die sich im Wesentlichen auf (Partei-)Propaganda, PropagandaKunst und Werbung unter der Hand beschränkten. Heute hat sich der Gegensatz kapitalistisch/mit Werbung zu sozialistisch/ohne Werbung weitgehend verflüchtigt. Nahezu werbefreie Zonen gibt es wohl nur noch in Ländern wie Nordkorea oder in der (Ant-)Arktis. 81 Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft, Grundlagen und Problemfelder [1983], 3. Aufl., Böhlau, Wien, Köln, Weimar 1998, S. 180. Burkart stützt sich nach eigenen Angaben auf Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Campus, Frankfurt/M., New York, 2. Aufl., 1976. 47 Ungeachtet dieser Weltbeherrschung der Werbung ist ihre Berechtigung – oder wohlwollender: ihr Umfang und ihr Erscheinungsbild – auch an der kapitalistischen Front nicht unbestritten. Die Vorwürfe reichen von Volksverdummung und Manipulation bis zu ungerechtfertigter Kostenverursachung und Wettbewerbsverzerrung. Die Werbewirtschaft wehrt sich mit Argumenten wie: Schaffung neuer innovativer Märkte und Erhalt von Arbeitsplätzen, Werbung als Bestandteil der Meinungsfreiheit (ähnlich wie bei der Unterhaltungsindustrie), notwendige Information zur Bedürfnisbefriedigung, selbst auferlegte Kontrollen bzw. antizipative Selbstdisziplin (in Deutschland etwa durch den Zentralausschuss der Werbewirtschaft und dessen Deutschen Werberates). Bei aller organisierten Kontrolle jedoch wird die wichtigste urteilsbildende Grenzziehung in unserer offenen Gesellschaft die permanente öffentliche Auseinandersetzung im Sinne eines Feedbacks auf das jeweils aktuelle Werbebild sein – ein grundsätzlicher Diskurs, der auch der Kunst (s. Die zehn Gebote in einer Bremer Kirche) und der Unterhaltung (s. Gewaltszenen im Fernsehen) nicht fremd ist. Von besonderer, inhärent allgemeiner Bedeutung für das Erscheinungsbild der Werbung in einem Markt sind letztlich die Bedingungen, die auf den Grad der Marktentwicklung zurückzuführen sind: ein gesättigter Markt mit seinen Produkt-Differenzierungszwängen (Waschpulver in Westeuropa) kreiert andere Werbekonzeptionen als ein Wachstumsmarkt (mobile Telefone in USA). An dieser Stelle betreten wir den Bereich der verbraucherspezifischen Rahmenbedingungen für die Werbung: 1.2. Verbraucherspezifische Rahmenbedingungen Der Verbraucher als Mikrokosmos in unserer Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten auf vielfältige Weise durchleuchtet und antizipiert worden, so dass wir uns in unserem Zusammenhang auf ein paar wesentliche Kriterien beschränken können. Bei seiner Bestimmung werden neben den demografischen Charakteristika – Alter, Familienstatus, verfügbares Einkommen, Mobilität – vor allem seine Bedürfnislagen und Werteorientierungen erfasst. Wenn wir uns hier auf Letztere konzentrieren, so halten wir uns dabei zunächst zur Orientierung an die bewährte Maslowsche Bedürfnishierarchie, wie sie im folgenden Schaubild wiedergegeben ist.82 82 Maslow, Abraham H.: Motivation and Personality, Harper & Row, New York 1954, S. 80 – 106. In: Kotler, Philip: Marketing Management [1967], 9th ed., Prentice Hall International, New Jersey 1997, S. 184/5. 48 Selbstverwirklichung Anerkennung, Selbstachtung (Status) Soziale Bedürfnisse (Liebe, Fürsorge, Geborgenheit) Sicherheitsbedürfnisse (Sorge um das physische Bestehen) Physiologische Bedürfnisse, Grundlagen des Überlebens (Hunger, Durst, Schlaf) Tabl.6: Bedürfnisskala nach Abraham Maslow Mag auch Abraham Maslow davon ausgegangen sein, dass nach der Erfüllung des ersten Verbrauchermotivs an der Grundlinie seiner Pyramide in schöner Reihenfolge das jeweils nächste angestrebt werden würde, und mögen wir heute auch dagegen konstatieren, dass viele Motive schlichtweg situationsbedingt sind und nicht in theoretischer Grundformation und -abfolge auftreten, so bildet doch seine Struktur ein überschaubares Gerüst zur Erkennung unserer Bedürfnisse. Selbstverständlich ist die Motivforschung nicht auf diesem Status stehen geblieben. Aus der Vielzahl der weiterführenden Motive, die auf bestimmte Personen bzw. Zielgruppen zutreffen können, rechnet man u.a. folgende wesentliche: Sparsamkeit (Preisbewusstsein), Rationalität, soziale Wünschbarkeit, Moral, Neugier, Lust, Erotik, Angst (Sicherheitsbedürfnis), Individualität etc.83 83 Vgl. hierzu die ausführlichen Bemerkungen bei: Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften, Ueberreuter, Wien, Frankfurt/M. 1998, S. 67 ff. Oder: Trommsdorff, Volker: Konsumverhalten, 3. Aufl., Stuttgart 1998. 49 Da die gewünschte Zielgenauigkeit bei der Motivanalyse häufig nicht erreicht wird, greift man ferner zur Messung von Verbrauchereinstellungen, die als erlernte, z.T. dauerhafte Reaktions-Bereitschaften zur Beurteilung eines Objektes verstanden werden und das Verhalten gegenüber diesem Gegenstand bestimmen können. Was man erwarten kann, ist auch empirisch belegt: Bei einer positiv geäußerten Einstellung zu einem Objekt x entspricht die Eigenschaft dieses Objektes durchaus den persönlichen Zielsetzungen des Verbrauchers und wird sein Kaufverhalten beeinflussen. Wenn verhaltensbestimmende Motive und Einstellungen auf die kulturelle bzw. soziologische Gesamtheit bezogen werden, spricht man von Wertorientierungen der Gesellschaft bzw. einer Gruppe (letztlich auch wieder des Individuums). KroeberRiel/Esch verstehen „darunter die in einer Kultur bestehenden Überzeugungen und Normen, an denen sich das Verhalten orientiert“84, d.h. Grundprogramme bzw. Leitvorstellungen für das Erstrebenswerte. Diese Wertvorstellungen unterliegen einem ständigen Wandlungsdruck, abhängig von kulturellen, gesellschaftlichen, familiären, personalen Veränderungsprozessen. Das Ergebnis sind erkennbare Trends des Verbraucherverhaltens, deren Charakteristika mit den zitierten Individualbedürfnissen konform gehen und damit eine ganz entscheidende Rahmenbedingung für die verbraucherorientierte Werbung darstellen. Kroeber-Riel/Esch machen aktuell für unser Land einen übergeordneten Trend zur Selbstverwirklichung aus, der auf folgenden Grundelementen beruht und noch stets trotz anhaltender hoher Arbeitslosigkeit dominiert85: (1a) – Erlebnis- und Genussorientierung, (2a) – Betonung der Freizeit, (3a) – Internationale und multikulturelle Ausrichtung, (4a) – Suche nach Individualität, (5a) – Gesundheits- und Umweltbewusstsein. Zur besseren Einordnung dieser aktuellen Trends stellen wir ihnen nachfolgend ihren jeweiligen Gegenentwurf zur Seite und konstatieren, dass – sollten Kroeber-Riel/Esch Recht haben – bei nahezu allen diesen Trends sich Hinweise auf aktuelle gesellschaftliche Mangelerscheinungen (vielleicht bis auf Punkt 5a) ergeben: 84 Kroeber-Riel, Werner; Esch, Franz-Rudolf: Strategie und Technik der Werbung, Verhaltenswissenschaftliche Ansätze [1988], 5. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 2000, S. 27. An dieser Stelle geben die Autoren zahlreiche Literaturhinweise in Bezug auf den Wertewandel in der Gesellschaft. 85 Ebd., S. 27. 50 (1b) – Sparsamkeit, Langfristigkeit, Zurückhaltung, (2b) – Lehre, Bildung, Arbeit, (3b) – Nähe, Heimat, (4b) – Solidarität, Familie, (5b) – Verbrauch an Ressourcen. Hieraus ergibt sich die These, dass – wenigstens als Grundlage für die vordergründigen werblichen Äußerungen – Bilder - geistiger Werte wie Menschenwürde, Grenzen der Freiheit, Toleranz, - moralischer Werte wie Sitten, Gesetze, Gewissen, - religiöser Werte wie Glaube, Gottesfürchtigkeit, Hoffnung deutlich geringere Bedeutung haben könnten. Keinesfalls möchten wir das Vorhandensein dieser letztgenannten Werte in unserer Gesellschaft bestreiten, jedoch liefern die sie polarisierenden Ideen ausreichend Raum für die praktische Werbegestaltung, zusätzlich davon ausgehend, dass nicht allein argumentative, rationale Einflussfaktoren den Verbraucher steuern, sondern dass ihn auch die konträren – mythischen – Kriterien bestimmen und damit die Werbung konditionieren. Wir erkennen hier Grundstrukturen unserer aktuellen Erlebnisgesellschaft86, in der die Individuen der Selbstverwirklichung höchste Priorität zumessen, deren Orientierungsnotwendigkeiten von den oben genannten Grundelementen diktiert und von der Werbung aufgegriffen werden. In diesem Zusammenhang müssen wir darauf aufmerksam machen, welcher Fülle an Eindrücken und Informationen der Verbraucher in der postindustriellen Gesellschaft ausgesetzt ist. Kroeber-Riel/Esch sprechen selbst von ständig zunehmender Informationsüberlastung, womit sie das Zuviel an verfügbarer Information meinen, das die entsprechende Verarbeitung erschwert und zum Abschalten führt. Diese Überlastung setzt sich aus Bild und Text zusammen.87 Der Verbraucher muss sich also zunächst in der Welt der Mächtigkeit der Bilder zurechtfinden. Obwohl in dieser Feststellung nichts eigentlich Neues liegt, da Bilder bereits in Altägypten (Grabbauten, Hieroglyphen), im 86 Wir verwenden hier den Begriff der Erlebnisgesellschaft im Sinne von Gerhard Schulze, der mit dieser Bezeichnung „nicht eine absolute, sondern komparative Charakterisierung der Gesellschaft“ erreichen will, deren Individuen im Übrigen auf ihrer Suche nach Glück stets einem Enttäuschungsrisiko ausgesetzt sind, welches allerdings wiederum ein Stachel für neuen Erlebnishunger bedeutet. Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft, Campus [1992], 8. Aufl., Frankfurt/M., New York 2000, S. 14/15 und 52. 87 Kroeber-Riel/Esch verweisen auf 1994 durchgeführte Untersuchungen, denen 600 Werbeanzeigen zu Grunde lagen, wonach 71 Prozent der Leser das Bild, 28 Prozent die Headline (Anzeigenüberschrift) wahrgenommen und lediglich 13 Prozent das Kleingedruckte (Copy) höchstens teilweise gelesen haben. S. Kroeber-Riel, Werner; Esch, Franz-Rudolf: a.a.O., S. 231 (Anm. 81). 51 antiken Griechenland (Tempel und Götterstatuen) und im Reich der Gläubigen (Kirchen und deren Ausstattung) Eindruck erzeugt und Geleit gegeben haben, erfahren sie doch in unserer Zeit im Sinne von Wiedererkennung und Aktualisierung ihrer Kräfte eine Renaissance.88 Selbst erzeugte Bilder schaffen Ordnungsmuster, die nicht nur Lebenserfahrung spiegeln, sondern durch ihre gewaltige Fülle und ausdrucksstarke Inszenierungen zu Orientierungsanweisungen werden. Bilder aus der Medizin (z.B. Computertomografie), aus der Weltraumforschung (z.B. Satellitenaufnahmen anderer Welten), aus der Computersimulation (z.B. virtuelle Bildwelten), aus dem Kreis der Medien (Fotografie, Video, Film, TV) erfassen nahezu alle Lebensbereiche und profitieren dabei von der inneren Energie ihrer Anschaulichkeit und direkten Erfassbarkeit. In diesen Merkmalen aber liegt nun auch eine besondere Stärke der Mythen, die – obwohl Erzählung oder Text – durch ihre anschauliche Dramaturgie grundsätzlicher Welt- und Lebenserfahrung eine unendliche Ausdauer beziehen. Zu den herausragenden Erfahrungswerten der antiken Mythologie gehören diejenigen, die mit Gewalt und Macht sowie mit Sexualität zu tun haben. Peter Sloterdijk spricht im Zusammenhang mit Gewalt und Macht „von zwei [bildhaften] Faszinationszentren … des ersten europäischen Massenmediums ,Mythos’ …: der innerfamiliären Gewalt und der kriegerischen Heftigkeit“89, die sich im postmodernen Gewaltbilderzyklus wieder finden und deren Opfer „symbolische Satisfaktion“ im Erkennen des Scheiterns erhalten. Es bedarf keiner besonderen Analyse, dass dieses Feld der Gewalt im Allgemeinen für die Werbung ausgegrenzt ist, es sei denn, man möchte eine Lösung der teilweisen Gewaltbeherrschung z.B. mittels Sicherheitssystemen anbieten. Von Ausdifferenzierung kann nun allerdings keinesfalls die Rede sein, wenn es um den zweiten mythischen Erfahrungswert, die Sexualität, geht. Die erotisch-sexuellen Praktiken, Leidenschaften und Probleme der Götter, Göttinnen, Heroen, Satyre und Mänaden bilden einen (unbewussten) festen Bestandteil im Orientierungskanon unserer Erlebnisgesellschaft und damit auch für deren werblichen Abdruck. Dabei darf man nicht verkennen, welchen besonderen Einfluss die Geschlechterbeziehung auf persönliches Aussehen (Haarfärbemittel, Fitness-Programme), Geruch (Deos), Ausstrahlung (Kleidung) oder 88 Dieser viel diskutierte Sachverhalt hat eine interdisziplinäre Aktualität durch die Diskussionsbeiträge zum Iconic Turn – eine Initiative von Christa Maar und Hubert Burda. Vgl. Burda, Hubert; Maar, Christa (Hg): Iconic Turn – Die neue Macht der Bilder, DuMont, Köln 2004. 89 Sloterdijk, Peter: Bilder der Gewalt – Gewalt der Bilder. In: Burda, Hubert; Maar, Christa (Hg): ebd., S. 333 – 348, hier: S. 333. 52 individuelles Verhalten (Drogen) hat, um als bedeutende Rahmenbedingung der Werbung zu fungieren. Neben der Welt der Bilder ist es vor allem auch die Informationsüberlast kreierende Text-Landschaft, in der sich unser Verbraucher bewegt und Orientierung angeboten erhält. Der Hinweis bei Kroeber-Riel/Esch, dass daher die Texte in der Werbung „kurz und klar“ sein sollten90, ist in seiner Allgemeinheit wohl richtig, kann aber in zahlreichen Fällen, bei denen ein breiteres Informationspaket gerade wünschenswert ist (z.B. Rezepte bei Nahrungsmitteln, technische Details bei Autoanzeigen), problematisch sein; nicht restlos befriedigend ist die Feststellung jedoch in Bezug auf eine wichtige Verbrauchereigenschaft, die in hohem Einverständnis mit den Anforderungen der Erlebnisgesellschaft steht: nämlich in Bezug auf die Erleichterung der Befriedigung der Erlebnis-Nachfrage aus der Vielzahl der fragmentarischen Angebote durch leichte, unterhaltende und weitgehend kritikfreie Erfassbarkeit. Dabei stellen „antikonventionelle Distinktion“ und Selbstverwirklichung relevante Bedeutungskriterien für den Verbraucher dar, die über die Unterhaltungsindustrie und Werbung vermittelt werden.91 Das spielerisch Leichte und Unterhaltende sowie dessen anerkennende Akzeptanz beim Verbraucher sind wohlverstandene Voraussetzungen für die erfolgreiche textliche Erfassung des Rezipienten und erinnert an die Freudschen Analysen über den Witz. Der Witz ist für Sigmund Freud ein sozial-kommunikativer Vorgang, der sich in eigenwillig komprimierter Form gegen alle Kritik und Zensur erfolgreich behauptet.92 Der (Unterhaltungs-)Wert eines Werbetextes besteht auch nicht nur in seiner Kurzfassung allein, sondern darüber hinaus in der darin eingebauten verblüffenden Verdichtung, die zum kritikfreien, eindeutigen Verständigungserfolg führt, wie das beim Witz zum befreienden Lachen in Unwidersprechlichkeit und Kritikfreiheit der Fall ist. Die Witz- und Werbe-Techniken des Sinns im Unsinn, der 90 Kroeber-Riel, Werner; /Esch, Franz-Josef: a.a.O., S. 239. Schulze, Gerhard: a.a.O, S. 326. Schulze beschreibt ausführlich verschiedene (Verbraucher-)Milieus – Niveau-, Harmonie-, Integrations-, Selbstverwirklichungs- und Unterhaltungsmilieu sowie deren alltagsästhetische Konditionierungen, wozu – nach unserer Meinung als Rahmenbedingungen für die Werbung herausragend – antikonventionelle Distinktion und Narzissmus gehören. 92 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Bd. 6, [1905 Imago], Fischer, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, s. u.a. S. 42 und 154. – Auch Jean Baudrillard (geb. 1929) hat sich um den Nachweis des Erfolges des Witzes bemüht, meint allerdings, dass der Lustbzw. Lacherfolg nicht, wie Freud angibt, aus einer ökonomisierenden Text(-dichte) resultiert, sondern auf der Anwendung der „Disziplin des Realitäts- und Rationalitätsprinzips“ beruht, d.h. auf der Abschaffung des Phantasmas. Siehe hierzu: Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, Matthes & Seitz, München [1976] 1991, S. 339 – 354, hier S. 348. Wir stellen für unseren Zusammenhang die These auf, dass beides auf ein- und dasselbe hinaus läuft, nämlich auf den wohlwollenden Zuspruch des Rezipienten – unter der Voraussetzung allerdings, dass die Inszenierung gelungen ist. 91 53 verdichteten, kurz gefassten Anspielung, der Verblüffung mit anschließender Erleuchtung entsprechen sich. Wir stellen der Einfachheit halber einmal gegenüber: - Bei Freud zum Witz: Der Doktor behandelt den Patienten „famillionär“ wie Salomon Rothschild (wie seinesgleichen)93. - Bei Schirner in der Werbung: „schreIBMaschinen“94. Das Verständnis des eigentlichen Zusammenhangs setzt ein allgemein Bekanntes voraus, etwas, was unbewusst oder bewusst abrufbar ist, gegebenenfalls wie bei Freud traumhaft verdichtet. Der psychologisch-mythische Zugriff auf das Verbraucherbewusstsein wird dabei erkennbar. Da manchmal unterstellt wird, dass der Mythos das eigentlich Wünschenswerte hinter dem erzählten Geschehen versteckt oder erst durch die Erschwerung der Zielsicherung möglich macht, können wir annehmen, dass das verspielt werbliche Unterhaltungskriterium eine verwandtschaftliche Beziehung zum griechisch-römischen Mythos unterhält. Werbeanzeige und Witz aber haben schließlich noch eine Gemeinsamkeit, die wir als verbraucherspezifisches Charakteristikum erfassen können: Beide erfahren bei dem gleichen Publikum nur einen rezeptiven Höhepunkt (und danach ein paar weniger sensationelle), verlangen daher nach ständiger abgewandelter Repetition im gleichen strategischen Rahmen. So wie eine Unmenge an Zitzewitz-Witzen im Umlauf ist, so gibt es zahlreiche Anzeigenausführungen zu den hier nochmals beispielhaft angeführten, selbst mit Werbepreisen ausgezeichneten Werbekampagnen Anti-Aids (Abb.5) und D1 (Abb.6), die sowohl unsere Bemerkungen zu den bildlichen wie auch den textlichen Rahmenbedingungen illustrieren: Abb.5: Aids-Aufklärung, 1990 93 94 Ebd., S. 14. Schirner, Michael: a.a.O., S. 38/39. Abb.6: D1, 1995 54 Im ersten Fall argumentiert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mittels sprachlicher Verdichtung mit leichter Modifikation: ,Wenn Sie wissen wollen, warum Mützen nützen, rufen Sie uns an.’ Bei Freud könnte das entsprechende Beispiel lauten: ,Sie hat eine große Zukunft hinter sich’.95 Im Falle der Telekom löst D1 ein Beziehungsproblem: die unbedingte Erreichbarkeit über mobiles Telefonieren führt zur definitiven Unerreichbarkeit: „Du bist nicht zu Hause, Du bist nicht im Büro. Aber eines weiß ich: Du bist jetzt Single.“ Freud – bei seiner Analyse des Witzes mit gewollter Unifizierung (im Falle der Werbung, hier: örtliche und personelle Zuordnungen) – bezeichnet dies als „Herstellung eines innigeren Zusammenhangs zwischen den Elementen der Aussage, als man nach deren Natur zu erwarten ein Recht hätte“, um den Erfolgscharakter der Aussage zu erläutern.96 1.3. Anbieterspezifische Rahmenbedingungen Die mikroökonomische unternehmensbezogene Angebotsfunktion, zu der die Kommunikationspolitik mit Werbe- und Markenpolitik entscheidend beiträgt, wird – bevor man Ziele und Strategie festlegt – von einer gründlichen Situationsanalyse gesteuert. Zunächst zur Beschreibung dieser Ausgangslage: Neben den externen Einflüssen, die zu einem wesentlichen Teil bereits im vorausgegangenen Abschnitt angesprochen wurden, müssen dabei die internen Unternehmensbedingungen stets aufgearbeitet werden, um letztendlich ein erfolgversprechendes Werbekonzept für den Anbieter zu erarbeiten. Diese Analyse umfasst demnach extern: Chancen und Risiken sowie intern: Stärken und Schwächen. Die Untersuchung externer Bedingungen enthält neben der Beschreibung des im Ziel befindlichen Verbrauchers die staatlich-rechtlichen und umweltbezogenen Leitlinien, aber vor allem auch die Erläuterung der Markt- und Wettbewerbssituation, z.B. Umfang und Entwicklung des Marktes, Marktanteile, reales und erwartetes Verhalten der Konkurrenten etc. Wichtig sind dabei die aktuelle Analyse der sogenannten Informationsbelastung im Allgemeinen und der relevanten Teilmärkte im Besonderen, eine Aussage zu eventuellen Marktsättigungen und deren Folgeerscheinungen, z.B. des 95 96 Freud, Sigmund: a.a.O, Bd VI, S. 25. Ebd., S. 40. – Wir möchten klarstellen, dass der Erfolg der Werbeaussage keinesfalls zwangsläufig durch witzige Texte erreicht werden kann. Es handelt sich im Falle von Humor/Witz vielmehr um ein Mittel, das allerdings aktuell häufig anzutreffen ist und dem Charakter der Erlebnisgesellschaft entspricht. 55 Verdrängungswettbewerbs bei möglicherweise veralteten Produkten und eine Aussage über einen eventuellen Wandel der Werteorientierungen der Verbraucher. Der interne Analysekatalog des Unternehmens dagegen muss eine Darstellung seiner manageriellen, technischen und finanziellen Kapazitäten, seiner spezifischen Kostensituation und seiner möglichen, sinnvollen externen Unterstützungs-Positionen (Lieferungen von Kapital und Materialien; Beratungen zu Technologien, Werbung, organisatorischen Prozessen etc.), seiner Produkt- und Dienstleistungs-Qualität (inkl. Preisstellung) und vor allem deren Spiegelbild im Markt umfassen, in der Regel ausgedrückt im Charakterbild seiner Produkte (Image der Produkt-Marken) und in der Profilierung des Unternehmens als Ganzem (Corporate Identity). Gerade Letztere sind in unserem Zusammenhang von Bedeutung, da Corporate Identity und Image sowie Firmen- und Markenposition nicht kurzfristig erkauft werden können, sondern in z.T. langfristigen Bewährungsproben der Verbrauchergunst ausgesetzt sind, wobei Qualität der Produkte inkl. ihrer Umweltverträglichkeit, Preise, Erreichbarkeit und (positive) Bekanntheit der Angebote – also auch Werbung als symbolische Kommunikation – die maßgeblichen, selbst zu beeinflussenden Bestimmungsfaktoren darstellen. Der zweite Abschnitt der strategischen Überlegungen, die der Anbieter nach dieser Situationsanalyse treffen kann und muss, um seiner Funktion gerecht zu werden, ist die Abwägung und Festlegung seiner periodischen (kontrollierbaren) Zielsetzungen. In unserem Zusammenhang der Erläuterung der Rahmenbedingungen der Werbung ist es ausreichend, als fundamentale Orientierung von der Zweiteilung nach quantitativen und qualitativen Zielformulierungen auszugehen. Die quantitative Kernaussage für die Willensbekundung eines Unternehmens ist in erster Linie der Quotient, der den angestrebten Gewinn mit dem erwarteten Umsatz (Umsatzrendite) oder dem einzusetzenden Kapital (Kapitalrendite) ins Verhältnis setzt, wobei also Gewinn, Umsatz, Kosten und Kapital gleichzeitig als Einzelgrößen festgelegt werden. Neben dem Umsatz und seiner Entwicklung ist ferner eine entscheidende Bestimmung für den Marktanteil erforderlich, um die Umsatzsituation gegenüber dem Wettbewerb einordnen zu können. In qualitativer Hinsicht stehen für den Anbieter notwendige Ziel-Bekenntnisse auf dem Programm, die z.B. Innovationsgerichtetheit, Glaubwürdigkeit, soziale Sensibilität, Umweltbewusstsein u.ä. betreffen. Hiermit werden Richtlinien erarbeitet, die entscheidend sind einmal für das Unternehmensprofil (dokumentiert im sogenannten ,Mission Statement’) bzw. zum anderen für spezielle Produkt-Identifikationen (Festlegung der gewünschten Produkt-Image-Vorstellungen im ,Brand Positioning Statement’). 56 Nunmehr, wenn Analyse und Ziele abgestimmt sind, geht es an die Fixierung der eigentlichen Unternehmensstrategie, wir wollen sagen an die Bestimmung der StrategieElemente. Diese betreffen im Einzelnen: - Allgemeine Festlegungen zu Kernaktivitäten, Fusionen, ggf. Verteilung der Investitionsmittel auf bestimmte Unternehmenszweige im Rahmen der finanzpolitischen Möglichkeiten, - Forschungsmaßnahmen (technologisch, marktbezogen), - Produktpolitik (inkl. Zielgruppen), - Markenpolitik, - Kommunikationspolitik (Werbung, Public Relations), - Preispolitik, - Verkaufs- und Distributionspolitik, - Produktionspolitik, - Einkaufspolitik, - Personalpolitik. Erst die Einsicht in Art und Gewichtung dieser strategischen Elemente innerhalb des Gesamtrahmens der Anbieterfunktion lässt letztendlich die Rolle der kommunikativen Äußerungen des Anbieters erkennen, von denen wir im folgenden Abschnitt Markenund Kommunikations-Politik herausgreifen und vertiefen wollen, um dem Mythos und seiner Entstehung in der Werbung auf die Spur zu kommen; denn Kommunikationsanstrengungen eines Unternehmens, in deren Rahmen sich Mythen aufhalten könnten, sind kein Selbstzweck. Sie müssen sich unter den gegebenen Zielsetzungen sinnvoll einfügen in die übrigen Elemente der Unternehmensstrategie, wie im Besonderen in das Produktkonzept mit Vor- und Nachteilen, das Preisgefüge, die Handelsaktivitäten etc. 2. Die Werbekonzeption als Fundament der Markenbildung Marken- und Kommunikationspolitik eines Unternehmens bedürfen einer permanenten Abstimmung untereinander zur Gewährleistung eines geschlossenen, integrierten Marktauftritts, um vom Verbraucher überhaupt oder womöglich optimal wahrgenommen zu werden. Die Verknüpfung beider ist am besten nachzuvollziehen, wenn wir uns zunächst den Prozess der Entwicklung einer Werbekampagne, in der Regel das Kernstück der kommunikationspolitischen Aktivitäten, vor Augen führen. 57 2.1. Grundlagen der Werbekonzeption Ausgangspunkt für alle werbestrategischen Überlegungen und Maßnahmen ist das sogenannte ,Briefing’ des Anbieters, das alle relevanten Informationen und Absichten unternehmensintern, aber darüber hinaus vor allem auch für die mit der Kampagnenrealisation zu beauftragende Werbeagentur zusammenfasst – ausgehend von den im vorigen Abschnitt dargelegten Rahmenbedingungen. Die Agentur muss von dem Anbieter zunächst ein klares Bild von den allgemeinen Company-Wünschen (,Mission Statement’), eine Erläuterung des relevanten Marktes bzw. dem für den Marktauftritt bestimmten Marktsegment (welche spezielle Zielgruppe mit welchen Motiven und Einstellungen kommt in Frage?), den Zielsetzungen und vor allem von dem ,Brand Positioning Statement’ inkl. des bevorzugten Hauptverkaufsarguments (USP = ,Unique Selling Proposition’) erhalten, sei dieses nun informativ, erinnernd oder überzeugend. Dieses Dokument erläutert nicht nur die funktionalen Eigenschaften des Produktes oder einer Produktgruppe, sondern auch seinen gewünschten Imagecharakter, der eventuell auch durch einen besonderen Zusatznutzen zur Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz definiert ist. Gemeinsam wird hieraus mit der Werbeagentur die eigentliche Werbestrategie (,Unique Advertising Proposition’) erstellt, d.h. der zentrale Verbrauchernutzen und dessen absichernde Beweisführung festgelegt, um sich dann auf dieser Basis mittels des kreativen Prozesses auf eine Appellationsweise zu verständigen. Diese Beschreibung der herauszustellenden Produktvorteile in Bild und Wort geschieht im Wesentlichen nach den von Philip Kotler benannten Grundkriterien für eine Werbebotschaft: Wünschbarkeit, Exklusivität und Glaubwürdigkeit97. Ziel ist dabei die Erstellung eines Positionierungsganzen, dessen Eigenschaften über die zentralen Grundfunktionen des Produktes, bestehend aus materieller Produktstruktur und Verpackung, hinausgehen, wie im ,Brand Positioning Statement’ vorgegeben (s. Tabl.798): 97 Kotler, Philip: a.a.O., S. 644. In Theorie und Praxis werden diese Kriterien im Rahmen von sogenannten Werbewirkungsmodellen zahlreich diskutiert. Die nach wie vor bekannteste wurde bereits 1898 von E. St. Elmo Lewis als strenges Abfolgemodell entwickelt: AIDA – Attention, Interest, Desire, Action. Vgl. Meffert, Heribert: Marketing, Einführung in die Absatzpolitik [1977], Gabler, 6. Aufl., Wiesbaden 1982, S. 422. Später wurde daraus AIDCAS - Attention, Interest, Desire, Confidence, Action, Satisfaction, d.h. eine Gruppierung von allgemeinen Positionierungsmerkmalen, deren Erfüllung den Werbeerfolg versprechen soll. 98 Vgl. auch Weinberg, Peter; Diehl, Sandra: Markenerlebnispyramide. In: Esch, Franz-Rudolf (Hg): Moderne Markenführung, Lehrbuch [1999], Gabler, 2. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 193. 58 Grundfunktion/ Physikalische Eigenschaften Verpackung/ Design Name + Marke(nzeichen) Logo Zusatzleistung/ Symbolische Wertigkeit Tabl.7: Bestandteile eines ,markierten’ und beworbenen Produktes (Markenartikel) Neben der eigentlichen Namensbezeichnung des Produktes (Fischstäbchen, Suppengewürze, Polo) gehört zu der Totalerscheinung eines Produktes zunächst seine Markenbezeichnung: Iglo von Unilever, Maggi von Nestlé, Polo von Volkswagen. Nachdem die Geschichte der Marken im Rahmen des Anwachsens der individuellen Massenproduktion und der Auflösung persönlicher Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer zunächst als Herkunftsnachweis begann, trägt man heute dem strategischen Modell der „Integration angebots- und nachfragebezogener Aspekte der Markenführung“ … mit „Konsistenz von Fremd- und Selbstbild der Markenidentität“ Rechnung.99 Bei der Bestimmung dieser Marken sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Selbst der antike Mythos tritt hilfreich auf, wenn Volkswagen ein Luxusauto Phaeton nennt und sich dabei auf den Phaëthon-Mythos stützt; denn trotz der Katastrophenfahrt des Namensinhabers des Mythos, bezeichnet inzwischen Phaeton eine Karosserieform für eine himmlische, leuchtende Limousine. Die Marke wird danach zu einem strategisch gesteuerten, langfristig gültigen Identitätsnachweis für einen Artikel bzw. eine Artikelgruppe. Das Gut, das sich hinter einer Marke verbirgt und mit dieser zum Markenartikel avanciert, ist also charakterisiert – im Sinne des Vorstellungsgehaltes der Marke – mit einem zeitlich relativ stabilen und prägnanten Eigenschaftskatalog. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass das äußere 99 Meffert, Heribert; Twardawa, Wolfgang; Wildner, Raimund: Aktuelle Trends im Verbraucherverhalten. In: Köhler, Richard; Majer, Wolfgang; Wiezorek, Heinz (Hg): Erfolgsfaktor Marke, Neue Strategien des Markenmanagements, Vahlen, München 2001, S. 3. 59 Erscheinungsbild der Marke neben einem Schriftzug häufig durch eine eindeutige, zusätzlich rechtlich geschützte Markierung, ein Logo, unterbaut wird. Das Produktganze aber ist in der Regel erst vollkommen mit der Festlegung und Sichtbarmachung der zusätzlichen symbolischen Wertigkeit, die auf den Wunschvorstellungen des Verbrauchers fußt und häufig durch langfristige (Markt-) Trendanalysen und kurzfristige marktforscherische Untersuchungen abgesichert wird.100 Dies ist eine Reflexion auf die maßgeblichen Wertorientierungen des aktuellen soziokulturellen Umfeldes und bildet den wesentlichen Maßstab für die auf dieser Basis zu erstellende Werbekampagne und deren zentraler Idee. Im Mittelpunkt dieser Leitidee steht in der Regel ein die Aufmerksamkeit bewegender, ein oft aus dem Gedächtnis der Verbraucher schnell abrufbarer ,Schlüsselreiz’, die Produktmitteilung informativ und/oder emotional stützend. Wenn Mythen und deren Inhalte bewusst und unbewusst unserem Erinnerungsvermögen in bestimmten Situationen abrufbar zur Verfügung stehen, so könnte deren Bildhaftigkeit und Direktheit einen approbaten Schlüsseldienst liefern. Wir werden in der Tat sehen, dass die Werbung und auch die Kunst häufig sich dieser Attraktivität aus dem kulturellen Gedächtnisspeicher dienstbar machen. Entscheidend jedoch bleibt, dass sich immer eine intelligente oder triviale Beziehung zu den aktuellen gesellschaftlichen Wertvorstellungen herstellen lässt, an die unbedingt angedockt werden muss, um Aufmerksamkeit, Interesse und Vertrauensbildung (s. AIDA u.a.) zu erzielen, d.h. um neben dem Gebrauchsnutzen des Angebots einen Zusatznutzen aufbauen zu können, der zum Verkehrswert bzw. Tauschwert entscheidend beitragen kann. Es wird immer wieder behauptet, dass in der Regel klassische Werbung nicht zu einem direkten Verkauf des angebotenen Produktes führt. Vielmehr ist heute mehr denn je ihr hervorragender Auftrag, Produkt-Marken, d.h. das in Tabl.7 dargestellte Angebots-Ganze mit all seinen Bestandteilen in den Köpfen der Verbraucher zu verankern bzw. auf dem Markt zu etablieren und eine dauerhafte Bindung, ein langfristiges Treueverhältnis zwischen Marken und Verbraucher herzustellen. Die Werbung hat also die Aufgabe, mit den anderen genannten Strategieelementen den Eigenschaftskatalog des Markenartikels ständig zu aktivieren. Ausgehend von dem genannten ,Brand Positioning Statement’ als Leitschnur für Marke und Werbung muss die Festlegung der als Schlüsselreiz anerkannten Konnotation die dauerhafte Kongruenz 100 Wir können hier nicht auf die großen Unsicherheiten, die mit der Vor- und Aufbereitung derartiger Analysen verbunden sind, eingehen. Der Entscheidungsträger wird sich immer wieder vor die Notwendigkeit sorgfältiger Abwägungen gestellt sehen, die letztlich sein ,Schlusswort’ bestimmen. 60 dieser Appellation mit dem Verständnis des Verbrauchers von der Marke und dem Markenkern beinhalten. „Die wahre Kunst der erfolgreichen Markenführung [im Sinne dauerhafter Mythenbildung] ist die Erhaltung der konzeptuellen Gleichheit in einer sich viel wandelnden, daher unterschiedlichen Umwelt“101, wie sie sich in den Werteorientierungen widerspiegelt. Anders formuliert: Der Werbung muss die Formung von Produktmarken und deren symbolischen Inhalten durch die Einbringung latent oder offen vorhandener Vorstellungen als Signifikate in Korrelation zu den ProduktSignifikanten auf der zweiten Ebene des Systems von Roland Barthes gelingen. Dann entsteht eine dauerhaft mythische Bedeutung, der Marken-Mythos. Es darf bezweifelt werden, ob der mythische Überhang der Werbeaussage immer eingelöst werden kann. Im Falle der ,Verfehlung’ ist allerdings jemand – einverständig – zum Opfer eines Versprechens geworden, woraus sich Enttäuschung entwickeln kann, die nach Kompensation durch neue Angebote verlangt (s. auch Anm. 86). Ein permanenter Prozess der Mythenkompensation, d.h. ein Prozess der Mythenbildung und -etablierung ist die Folge, durchaus im Sinne eines Selbstverschuldens der Verbraucher. Es ist in diesem Zusammenhang schließlich von Bedeutung, dass, sobald diese analytischen und kreativen Prozesse zur Mythenbildung abgelaufen sind, der Anbieter über die endgültige Form und den Inhalt der Kampagne entscheidet, d.h. über deren Umfang, inhaltliche Ausgestaltung in den Medien und vor allem über die Kompatibilität in Bezug auf die einzelnen Bestandteile des Produktganzen. Die Rolle des Gestalters, die meistens der des Ideenlieferanten für die gewählte Appellation entspricht, ist letztlich eine beratende, auch wenn seine Kreation noch so (autonom) künstlerisch daherkommen würde. 2.2. Marken, Beispiele werblicher Mythenbildung Wir wollen nunmehr an Hand einiger Beispiele deutlich machen, wie im Einzelnen über den Gebrauchswert eines Produktes hinaus durch den zusätzlichen emotionalen Mehrwert, den maßgeblich die Werbung aufbaut, der Tauschwert bzw. Verkehrswert eines (Marken-)Produktes entsteht. 101 Auf diesen Sachverhalt wird vor allem seitens des praktizierenden Managements hingewiesen. Vgl. u.a.: Brabeck-Lemanthe, Peter (Verwaltungsrat Nestlé AG): Perspektiven als Instrument der WerbeKommunikation. In: Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (Hg): 50 Jahre Zukunft der Werbung, edition ZAW, Bonn 1999, S. 37 – 55, hier S. 44/5. 61 Bei dieser Analyse möchten wir uns auf das von Roland Barthes vorgestellte Modell (s. Tabl.4) berufen. Nehmen wir den Fall ESSO: Die vier Buchstaben E-S-S-O korrelieren zunächst mit dem Produkt Kraftstoff/Benzin; dabei wird ESSO zu Benzin. Nunmehr wird in der Sekundärphase diesem ESSO-Benzin ein neues Signifikat aus der Sammlung der aktuellen Werte, ,individuelle Überlegenheit, Sieg, Kraft’, hinzugefügt und durch einen Schlüsselreiz, den Tiger, werblich illustriert (Abb.7). Abb.7: ESSO, Tankstelle in Bremen, 2003. Es entsteht mit Hilfe der Werbeaktivitäten der Markenmythos ESSO als kraftvolles, Überlegenheit verschaffendes Benzin, wobei die Großkatze als Symbol für Kraft und hinzugedachte Dienstbarkeit steht. Bei unserer Abbildung ist überraschend festzustellen, dass die Wiedererkennung auch ohne das Markenzeichen ESSO leicht gelingt. Es entsteht also ein Markenmythos, ein Signalmuster von stets gleich bleibender Grundaussage (wir sind ziemlich sicher, dass sich auch bald wieder der Tiger, der in den aktuellen Anzeigen Wir sparen gerne Energie fehlt, einfinden wird).102 Als Ergebnis hat sich laut Barthes „Geschichte in Natur“ verwandelt, d.h. es wird etwas als Absolutes festgestellt, für das es keinerlei schlüssiger, entstehungsgeschichtlicher Erklärungen bedarf. „Der Mythos ist eine exzessiv gerechtfertigte Aussage“103, die den Weg in ein Leben ohne Widerspruch, in „eine glückliche Klarheit“ ebnet104. Auch unabhängig von Barthes’ System können wir das nunmehr als Markenmythos bezeichnete Produktganze bestimmen als bestehend aus dem denotativen Begriffsinhalt des ESSO-Benzins, ergänzt durch die konnotative, assoziativ wertende Begleitvorstellung der Kräfte- und Überlegenheitsermächtigung (vgl. Tabl.8, S. 65). Wie unsere Übersicht in Tabl.8 zeigt, ist die Palette der Schlüsselreize, der vornehmlich bildbezogenen und universell-emotionalen Konzepte lang und reicht von 102 Vgl. ESSO-Anzeige, Herausforderung Energie: Packen wir’s an. In: Stern Nr. 27/2004, S. 119. Barthes, Roland: a.a.O., S. 113. 104 Ebd., S. 132. 103 62 der Nutzung des historischen Mythos (z.B. Nymphe, Drachen) über die sakrale Thematik (Paradies, Schutzengel), Motive der Kunst, vielerlei Symbole, personelle Typen, Tiere/Figuren, Lifestyle-Szenen (aus Natur, Familie usw.), Kurzgeschichten mit Witz und/oder Überraschungen bis hin zu wissenschaftlich-technischen Elementen verschiedener Produkt-Sektoren. Wir greifen aus unserem Tableau beispielhaft die Anzeigen von der Eiskrem-Marke Magnum (Streicheleinheit für das Ego), des Schmuck-Anbieters Cartier (Drache als Symbol für Unwiderstehlichkeit der Trägerin, die zugleich überwunden werden möchte) und eines Modedesigners (dauerhaft schön wie bei Gauguin) heraus (Abb.8, 9 und 10) . Abb.8: Magnum, 2000 Abb.9: Cartier, Dragon, 2004 Abb.10: elena miro, 2004 Anbieter (Entscheider) und Werbeagentur (Berater) haben dabei festzulegen, ob auf dem werblichen Weg zum inneren Markenbild, zum Kern des Marken-Mythos ein stärker informatives oder emotionsgeladenes Schlüsselbild den Vorrang haben soll. Wir können jedoch die Darstellung des Markenmythos nicht ohne Hinweis auf dessen besondere Code-Eigenschaft abschließen, die sich durch einen ausgeprägten Charakter des Markennamens und/oder ein zusätzliches (häufig grafisches) Symbol auszeichnet. Ausgehend von der zitierten verbraucherimmanenten Bilderfaszination, die von relevanten Bedeutungen und entsprechenden Erfahrungen aus der gelebten Welt zehrt, sind den Markenprodukten immer wiederkehrende symbolische Bild-Kürzel oder Codes zugefügt, deren Bestimmung es ist, „Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. Da Symbole [oder Codes] Phänomene sind, welche andere Phänomene ersetzen (,bedeuten’), ist die Kommunikation ein Ersatz: Sie ersetzt das Erlebnis des von ihr ,Gemeinten’“105 – in antizipativer Absicht. 105 Flusser, Vilém: Medienkultur, Fischer, Frankfurt/M. 1997, S. 23. 63 Abb.11: Langnese Abb.12: Frauenkirche Abb.13: Deutsche Bank Nehmen wir uns das Eiskrem-Langnese-Zeichen aus obiger Reihe der Beispiele zur weiteren Betrachtung heraus: Die Unilever-Eiskrem-Unternehmungen haben 1999 weltweit ein neues (Produktgruppen-)Markenlogo für Eiskrem eingeführt: Das oben abgebildete ,Herz’. Dazu hieß es erläuternd im Internet106: „Die Lust auf Eis gehört zum täglichen Leben und nicht mehr ausschließlich zu heißen Sommertagen, denn Glücksmomente gibt es jederzeit und überall auf der ganzen Welt. – Das zunehmende Bedürfnis nach mehr Nähe, Wärme und Natürlichkeit … bestimmt die Idee, Gefühle zu leben und zu teilen – und verlangt nach Innovation und Veränderung. Und genau das wollen wir auch zeigen – also machen wir uns gemeinsam auf in ein spannendes, aufregendes, neues Jahrtausend, mit jeder Menge peppiger, frischer Eis-Ideen. … Deshalb haben wir ein neues internationales Logo entwickelt.“ Diese Veröffentlichung liest sich wie ein Teil eines internationalen ,Brand Positioning Statements’ für Eiskrem, d.h. die Langfrist-Botschaft des Codes – der Erlebnisersatz (Gemeinsamkeit, Wärme, Spaß) – ist gleichzeitig emotionaler Kern der aktuellen Produkt- und Werbethematiken. Der Zweck dieser Codes mit ihrer durch sie getragenen Botschaft ergibt sich schließlich auch einleuchtend aus der kurzen philologischen Betrachtung zu dem Begriff Marke, wie sie sehr ausführlich von Pater Albert Ziegler vorgenommen worden ist.107 Das hethitische mark bedeutet ,teilen, verteilen’, woraus sich ,Grenze’ und ,Abgrenzen’ abgeleitet haben: „Wer teilt, grenzt ab.“ Wenn wir uns nun vorstellen, dass ,merken’ zunächst ,markieren’ oder sagen wir ,beachtlich machen’ bedeutet, dann ergibt 106 107 http//www.langnese.de/c-neueslogo.html. Ziegler, Albert: Mensch – Gesellschaft – Vertrauen – Marke, Ein Beitrag zur Erforschung des Markenwesens. In: GEM Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens e.V. (Hg): Marke: Erfolgsfaktor auch in Zukunft? Markendialog 2004, Chmielorz, Wiesbaden 2004, S. 195 -211. 64 sich daraus Zieglers Feststellung: „Was (durch eine Marke) gut markiert ist, lässt sich leicht merken“108, im Wirtschaftsleben also die – oft gesetzlich geschützte – Markierung. Da die menschliche Existenz räumlich und zeitlich definiert ist, bestimmen vertrauenswürdige Grenzen unser Leben. Auch wenn es darum gehen kann, diese gelegentlich zu versetzen (für Ziegler ist der homo domesticus auch immer ein homo viator), setzt dies die Kenntnis der Grenzlagen voraus. Bezogen auf das ökonomische Marktgeschehen entspricht dies der Kenntnis der Konturen von Marken als Persönlichkeiten, die zu Mythen werden bzw. geworden sind, Persönlichkeiten also, die zumindest die Chance haben, Überlebenskünstler zu sein oder zu werden dank ihrer erworbenen Bekanntheit, ihrer Erlebnisqualität und ihrer existenziellen Bedeutung. Gerade zu letzterer bietet es sich an, beispielhaft – wie Ziegler es auch tut – die katholische Kirche als Markenpersönlichkeit anzuführen. Diese Institution ist als Marke derart souverän und bedeutend, dass es genügt, dass die Menschen allein von der Möglichkeit ausgehen, es gäbe Gott, um ein Funktionieren der Kirche zu gewährleisten.109 Ihr Code ist das wohl berühmteste Markenzeichen aller Zeiten (Abb.12). Ein nicht unbedeutendes Detail ist die Feststellung, dass bei Markenmythen der kreative Grafiker – anders als der Künstler in seinem Kontext, wie wir noch sehen werden – i.d.R. unbekannt bleibt, in der Öffentlichkeit steht nur der Anbieter mit seiner Marke, der die letzte Entscheidung zu der Werbekonzeption getroffen hat. Glaub- und Vertrauenswürdigkeit für den längerfristigen Lebenslauf der Marke hängen daher letztendlich von den Entscheidungen der Wirtschaftsführer ab, sodass es gilt, Zieglers Mahnung zu verinnerlichen, dass Markenzugehörigkeit durch „Menschen, die selber Marken sind“110, wächst, Persönlichkeiten also, die vor allem durch ihr argumentatives und moralisches Verhalten – am allerwenigsten durch ihr grafisches Können – überzeugen können, sei es unter dem Kreuz oder unter dem Quadrat der Sicherheit mit dem inneren Zeichen für Wachstum (Abb.13). Diese Forderung nach höherer Glaubwürdigkeit und stärkerer sozialer und innovativer Intelligenz – eine Basis für langfristig erfolgreiche Markenführung – vertreten auch Repräsentanten aus der Gruppe der Markenmanager selbst, wenn sie z.B. die positive Vorstellung, die man allgemein von Spitzenmanagern hat, kritisch als Mythos bezeichnen.111 Hieran ändern letztlich auch nichts die außerordentlich hohen finanziellen Werte der Marken, die regelmäßig 108 Ebd., S. 196. Ebd., S. 201/2. 110 Ebd., S. 205. 111 Goeudevert, Daniel: Wie ein Vogel im Aquarium: Aus dem Leben eines Managers. Rowohlt, Berlin 1996, S. 15. 109 65 Produkt Dienstleistung SIGNIFIKAT Buchstabenfolge SIGNIFIKANT A Bild / Zeichen Schlüsselreiz WERBUNG Wertorientierung ZEITGEIST SIGNIFIKANT B SIGNIFIKAT B Denotation Konnotation Zeichen MARKENMYTHOS RR (Rolls Royce) Auto Cartier Schmuck Renault Auto Disney Park Bremen Hansestadt Magnum Eis am Stiel Marlboro Zigarette Esso Benzin Becks 1. Hist. Mythos: Nymphe Erotisches Schweben Drachen Unüberwindlichkeit 2. Sakrales: Paradies Stressfreies Glück 3. Symbole: Comics Fun, Erlebnis Schlüssel Befreiung, Selbständigkeit 4. Person / Typ: schön, erotisch Ego Cowboy Abenteuer, Freiheit 5. Tiere: Tiger Stärke, Energie, Sieg Bier 6. Lifestyle: Natur Unabhängigkeit (mask.) HB Zigarette 7. Geschichten / Klischees: Witz Golf Auto 8. Technik: Tabl. 8: Werbeanalyse im semiologischen System nach R. Barthes, Beispiele Neuerungen Machbarkeit Dynamik plus Komfort 66 die Branchenführer herausgegeben werden und die in hohem Maße von ihrem Goodwill-Anteil bestimmt werden112 und daher sich ohnehin kurzfristig, an den Börsenentwicklungen orientiert, ändern können. Abb.14: e-on, Ruhrgas, Partner des Museum Folkwang Glaubwürdiges Kultur-Sponsoring, durchaus anerkannt und notwendig, kann neben unternehmerischer und privater Unterstützung von Sport und Unterhaltungsprojekten zum Erleben sinnvoller Marken-Zugehörigkeiten einen bedeutenden Beitrag leisten. Dabei ist zunächst wohl unbestritten, dass z.B. Firmenmuseen (Wolfsburg!) oder Unternehmensausstellungen im Allgemeinen sich grundsätzlich nicht anders darstellen als Präsentationen in Tempeln und Kirchen mittels Reichtümern und Schätzen zur Selbstbestimmung sowie zu Macht- und Einfluss-Demonstrationen von Glaubensinstitutionen. Obwohl diese Art der Marken stützenden Tätigkeiten der Unternehmen im Vergleich zu ihren wirtschaftlichen Aktivitäten kein Kernanliegen ist und obwohl Kunst sich durchaus auf die Rolle des Ornaments einlässt und sich dadurch letztlich des freien Bestimmungsdiskurses begeben kann, ist für beide Parteien dieses Abenteuer der Zusammenarbeit ein Gewinn; manches Unternehmen wird die Kooperation mit einzelnen Künstlern verweigern, mancher Künstler wird andererseits gegen eine Vereinnahmung passiv oder aktiv protestieren. Respekt und Verständnis beider am Sponsoring beteiligter Seiten vor- und füreinander können helfen, diesen Auftritt in der Öffentlichkeit zu größerer Annäherung, d.h. zu größerem gesellschaftlichen Ausgleich zu benutzen; denn es heißt viel zu oft auf der einen Seite: ,Das machen wir auch noch 112 Laut Business Week gilt Coca-Cola zur Zeit als die wertvollste Marke der Welt, der Markenwert des weltgrößten Erfrischungsgetränke-Herstellers wird zurzeit mit 67,4 Mrd. Dollar angegeben, gefolgt von Microsoft. Als erstes deutsches Unternehmen erscheint Mercedes auf Platz elf dieser Rangliste. Vgl. Weser-Kurier, Nr. 174/2004: Weltmarken mit Kultstatus. 67 eben’, bzw. auf der anderen: ,Wir leben nur von deren Resten’. Aus der Vielzahl der Beispiele nennen wir hier die E-on-Unterstützung einer Ausstellung in Essen (Abb.14). Abschließend können wir die anbieterspezifischen Rahmenbedingungen (unter Berücksichtigung von Konsumenten und Wettbewerbern) im folgenden Schaubild zusammenfassen: Rahmenbedingungen der Werbung Verbraucher Anbieter Konkurrent, Staat Soziokulturelle Welt Mythen (historische, neue), Geschichte, Religion, Philosophie, Mode, Kunst, Unterhaltung, Politik, Naturwissenschaft, Sport etc. Prägende aktuelle Werteorientierungen Allgemeiner Erlebnisbedarf (nach Neuem), Freizeit, Erotik, Ego, Spaß, Unüberwindlichkeit, Machbarkeit, Erfolg, Schönheit, Anti-Aging etc. Schlüsselreize für werbliche Anwendungen Mythische Bilder, sakrale Vorstellungen, Typen/Personen, Symbole (z.B. Tiere), Lifestyle, Geschichten, Klischees/Witz, Technologien etc. Markenmythen Tabl.9: Der Weg zum Markenmythos 68 b. Die Manifestation der Mythen in der Werbung Wir möchten zunächst die individuelle Wirkungsweise der Alltagsmythen, die wir soeben in ihrem Entstehungsprozess geschildert haben, erläutern, um danach die Werbung und ihre Zöglinge, diese alltäglichen Markenmythen, in ihrer Gesamtheit als Werbemythos in ihrem makromythischen Auftritt kommentierend zu erfassen. 1. Die Wirkungsweise der Markenmythen Wir haben gesehen, dass für die Formulierung einer Werbekampagne, die den Markenmythos aufbaut und pflegt, die Verbildlichung von Wertvorstellungen durch die Schlüsselreize dient. Die allgemeinen Kennzeichen dieser Schlüsselthemen, wie wir sie im Einzelnen konkret in Tabl.8 aufgeführt haben, sind Kriterien, die weitgehend mit denen aus Blumenbergs Liste der Punkte zur mythischen Bedeutsamkeit identisch sind; allerdings werden innerhalb der Kollektion der aktuellen Wertesammlungen wegen des hohen Bedarfs an erlebnishafter Selbstverwirklichung weitgehend schwer zugängliche und fordernde Werte verdrängt. Das Hässliche (nur als Groteskes akzeptiert) oder das Verwundete, das Verzweifelte, das dem Tode Nahe hat allein unter großem Vorbehalt eine Chance, wenn es um jene allgemeinen Kriterien mythischen Profils geht: Eindringlichkeit und Ausdruckskraft der Bilder und Symbole (im Close-up, im Nacktzustand, in extremen Formen, von Farblichkeit und Musik unterstützt), übersteigerte Darstellung von Fakten, Angebot an Problemlösungen nach vorheriger Erschwerung der Problemsituation, Doppeldeutigkeit und Zweideutigkeit von Erzählungen, ständige Wiederkehr des Gleichen, Dramatisierung des völlig Unerwarteten, Überspringen von Raum und Zeit – all dies beschreibt Blumenberg als Mythen stützend. Bei diesem Prozess werden die Schlüsselreize zum Teil selbst zu mythischen Begriffen erhoben. So können wir von einem weit gespannten Mythos ,Großstadt’ oder von einem Mythos ,Frische’ sprechen, wenn z.B. mit dem ersten ,Aufregendes, Wechselndes, ständig auf Neues ausgerichtetes Leben einer Metropole’ (und nicht nur WolkenkratzerAnsammlungen – Abb.15113) identifiziert wird, mit dem zweiten ,anziehende, jugendliche Attraktivität’ (und nicht nur glatte Haut – Abb.16) gemeint ist. 113 Es sind insbesondere auch Künstler, die die Bildung dieses Mythos in verschiedenartigster Form unterstützen: Henri de Toulouse-Lautrec, Ernst Ludwig Kirchner oder George Grosz sind bekannte Beispiele aus dem ersten Abschnitt des letzten Jahrhunderts. 69 Abb.15: L’Horloge Champs Elysées, 1879 Abb.16: Nivea, 2003 Großstadt und Frische werden mythisch verklärt, deformiert, wie Barthes sagen würde. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus auch von zeitgenössischen Doppel-Mythen sprechen, wenn ein derartig etablierter Frische-Mythos sich weiter zu dem Markenmythos NIVEA empor schwingt (es kommt noch bei dieser Marke der Pflegeaspekt hinzu); übrigens kann auch umgekehrt NIVEA durch seinen inhaltlichen und dauerhaften Medienauftritt den allgemeinen Zeitgeist-Frische-Mythos verstärken. Beide, der Markenmythos sowie der i.d.R. zu Grunde liegende Zeitgeist-Mythos in Form von Objekten (Großstadt), Konzepten (Frische) oder Personen/Typen (Cowboy) dienen als idolatrischer Ersatz bzw. als Legitimation von Handlung wie beim traditionellen Mythos, der auf seine Art die Hilfestellung vor ein paar tausend Jahren leistete, etwa zur Bewältigung von Angst oder für persönlichen und weltlichen Fortbestand. Markenmythen stellen neue Zugehörigkeiten her und bieten Identifikationsmöglichkeiten. Gerade in einer aufgeklärten Welt voller rationaler Planungen und Abläufe ist die Nachfrage nach emotionalen Gütern groß – wie sie in den Markenmythen eingebaut sind –, um einen Beitrag zu Selbstbestimmung und Glück leisten zu können. Handlungshilfe und Machbarkeitsversprechen der Werbung erhalten ihre mythische Rechtfertigung durch den Zusatznutzen. Die Struktur des Markenmythos, wie die Werbung ihn aufbaut und besetzt, lässt daher die Funktionsweise des ritualistisch-soziologischen Mythenmodells erkennen, das zudem gleichzeitig Unterbauung durch das Material psychologischer Elemente als Triebfaktoren für die Verhaltensweisen erfährt: durch die Wunschvorstellungen und den Realisationsdruck zur Selbstverwirklichung mittels Erlebnisbeschaffung und Tabubrüchen. Die entsprechenden Normenbekenntnisse sind vielfältig und leicht erkennbar, wenn die jeweiligen Sinnsucher z.B. ihren Stars auf Events huldigen, wenn sie den Modedesignern und deren Ikonen, den Models, nacheifern, wenn sie in den Stadien 70 nationale oder Klubfarben schwenken, wenn sie im aggressiven Outfit von Radikalen randalieren oder wenn ihnen das LACOSTE-Krokodil am Pullover Dazugehörigkeit vermittelt.114 Es gibt Analysen, nach denen Produktmarken mythischen Gehalt haben oder eben nicht.115 Nach unseren bisherigen Überlegungen möchten wir uns eher an Barthes halten, der von starken und schwachen Mythen des Alltags spricht.116 Selbst Produkte, die auf den ersten Blick keinen mythengestützten Zusatznutzen zu erkennen geben, wie z.B. das ,Flüssige Waschmittel’ von ALDI oder ein Pullover von Quelle erhalten durch den ALDI-/Quelle-Sammeleffekt über zahlreiche angeblich markenlose Produkte hinweg indirekt den (Handels-)Markenmythos des „Qualität ganz oben – Preis ganz unten“ (ALDI) verliehen (Abb.17 und 18). Abb.17: ALDI, 2004 Abb.18: Quelle, 2003 Wir verkennen natürlich keinesfalls, dass es in der Praxis Entwicklungsstufen im Markenaufbau gibt – abhängig vom Produkt und seinen Begleitfaktoren, wie z.B. 114 Eine vollständige Liste zur Bestätigung zeichenhaften Konsums wäre lang. Zur Illustration benennen wir nur einige dieser Erscheinungen in allgemeiner Form: Marken-Exibitionismus bei Kids, Dress- und Beauty-Codes bei Frauen, Automarken-Fetischismus bei Männern, Markentreue bei Rauchern, Einkaufs- und Erlebnisparks (Disneyland etc.) – Hier findet durchaus eine Kontamination von Gebrauchs- und Tauschwerten statt. Walter Grasskamp beschreibt anschaulich das Ausmaß des Auftritts dieser (Marken-)Zeichen und bezeichnet es als Benutzeroberfläche. Gleichzeitig verweist er auf die (theoretische) Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit dem Gebrauchswert einer Ware, den es zu erneuern und zu reaktivieren gelte, weil daraus ein höherer „Freiheitsspielraum“ für den Menschen erwachsen würde. Dabei bekämpft er allerdings eher den Abbau des für ihn durch die Werbung überhöhten mythischen Tauschwertes, als dass die Möglichkeiten dieser Reaktivierung ausreichend beschrieben würden. Als Beispiel der Erneuerung des Gebrauchswertcharakters führt er die Aktivitäten des Sammlers an, der den Dingen einen Gebrauchswert zuweist „statt sich den ihren vorschreiben zu lassen“. S. Grasskamp, Walter: Konsumglück, Die Ware Erlösung, Beck, München 2000, S. 43/4. 115 Vgl. Bismarck, von, Wolf-Bertram; Baumann, Stefan: a.a.O., S. 101 ff. 116 Barthes, Roland: a.a.O., S. 132. 71 Verbreitung des angesprochenen Wertebegriffs oder Höhe des zur Verfügung stehenden Werbeaufwandes, die einen Marlboro- oder Coca Cola-Mythos weltweit (heute) sichtbarer machen als denjenigen von HARIBO. Dabei spielt folgender Gesichtspunkt eine entscheidende Rolle: In gesättigten Märkten, d.h. dort, wo Produkte bei entsprechenden Produktionskapazitäten ausreichend in vergleichbarer Qualität einer (inzwischen) relativ geringen oder sogar negativen Wachstumsnachfrage gegenüberstehen, nimmt der Druck des einzelnen Anbieters zu, sich von seinen Mitbewerbern zu differenzieren. Sehr oft ist eine solche Abgrenzung mit den physikalischen Grundwerten der angebotenen Produkte allein nicht mehr möglich, sodass dann der Zusatznutzen im Verband mit den entsprechenden werblichen Maßnahmen bei Nutzung der gewählten Schlüsselreize die absolute Herrschaft übernehmen kann. Es kann sich dabei z.B. durchaus auch um einen letzten – zunächst als sinnvoll erachteten – Rettungsversuch mit zusätzlichen Werbeanstrengungen vor einer drohenden wirtschaftlichen Kapitulation mit dazugehörigen Entlassungen oder um die Steuerung einer Neupositionierung des Produktportfolios in Zusammenhang mit verbesserten oder völlig neuen Produkten handeln. Wenn wir für unsere Betrachtung die innerhalb der verschiedenen Wirtschaftszweige selbstverständlich immer wieder auftretenden, strukturell notwendigen Revisions- und Anpassungsprozesse zur Mythenabsicherung der Marken für einen Augenblick außer Acht lassen, dann geben die folgenden Beispiele doch Indizien dafür ab, dass Vertreter der Entwicklungsbranchen, wie z.B. der Telekommunikation (Abb.19), des Gesundheitsmarktes (Abb.20) oder der Unterhaltungsartikel sich stärker auf die zentralen Produktvorteile (mit geringerem mythischen Extra-Versprechen) berufen als Anbieter auf den genannten gesättigten Märkten, wie z.B. im Falle der Zigaretten (Abb.21), Biere, Waschpulver oder Banken (Abb.22). Abb.19: Vodafone, 2004 Abb.20: Apothekenumschau, 2004 72 Abb.21: West, 1989 Abb.22: Sparkasse, 2004 Eine spezielle Gruppe stellen schließlich noch die Märkte dar, in denen im Sinne des Verkehrswerts der Gebrauchswert dem Tauschwert entspricht. Hierzu zählen z.B. in großer Anzahl Kosmetikartikel, Textilwaren oder Personenkraftwagen, vor allem der Mittel-, Ober- und Sportklassen, Warenmärkte also, auf denen die soziale Dimension der Gebrauchswerte besonders ausgeprägt ist, der symbolische Gebrauchswert geradezu gefordert wird. Rico Kehrer weist zu Recht darauf hin, dass Nobelmarken nach dem „Prinzip der natürlichen Verknappung“ verfahren, etwa durch ihre Preispolitik, um ein exklusives Marktsegment unter Verdrängung „sehnsüchtiger“, aber hilfloser NichtBenutzer zu schaffen, sodass die Gefahr „der Entmythisierung [des Markenmythos] durch Alltagsgebrauch“ nicht entsteht bzw. auf längere Sicht ausgeschlossen bleibt.117 Von besonderem Gewicht für die Schaffung mythischer Bedeutsamkeit über alle Branchen hinweg ist die ,Wiederholung des Gleichen’ in allen Medien, d.h. die geordnete Integration auf Basis eines Grundthemas in Werbung, PR, Sponsoring, Events, Beteiligungen an Unterhaltungs-Projekten aller Art etc. Wenn dabei die Beteiligung der Zielpersonen im Sinne von Sympathiegewinn, Annäherung oder Anteilnahme erreicht wird, ist nicht nur der (Mythenbildungs-)Erfolg näher, sondern auch die direkte Re-Aktion der Rezipienten, der Kauf. Kloepfer/Landbeck sprechen in diesem Zusammenhang von Sympraxis, um darzulegen, „dass Kommunikation nicht die Vermittlung von Inhalten, sondern wechselseitige Erweckung von Vermögen ist“118. 117 Kehrer, Rico: Marke und Mythos. In: Bruhn, Manfred (Hg): Die Marke, Symbolkraft eines Zeichensystems, Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 2001, S. 214/5. – Das Prinzip der Verknappung ist dem Kunstbetrieb nicht fremd, wo Not bzw. Beschränkung des qualitativen Druckens vom Holzstock oder von der Kupferplatte zur Not der Limitierung auf dem Markt führte. Letztlich kann man in diesem Zusammenhang auch von einer bewussten Verknappung von Einzelkunstwerken sprechen, die auf Auktionen für unwahrscheinlich gehaltene Verkaufspreise sorgen und die Budgetnöte der Museen offen legen. 118 Vgl. Kloepfer, Rolf; Landbeck, Hanne: Ästhetik der Werbung. Der Fernsehspot in Europa als Symptom neuer Macht, Fischer, Frankfurt/M. 1991, Anm. 37, S. 257. – Wir verweisen bereits hier auf Marcel Duchamp, der die Entstehung des (sozialen) Kunstwerks allein durch die Beteiligung des Rezipienten begreift; s. Kap. VI b 2. 73 Dennoch, ganz abgesehen von der dauerhaften Pflege einer erfolgreichen Marke: aller Anfang ist schwer. Wer meint, mit der Erkenntnis, dass durch die mythischüberhöhte Verklärung des Produktangebots sich die Umsetzung zum Markterfolg sozusagen allein einstellen werde, verkennt die Wirklichkeit mit all ihren zahlreichen Fehlentwicklungen, die das Marktgeschehen schnell unsichtbar hat werden lassen.119 Die angesprochenen Entwicklungsstufen des Markenmythos lassen sich an Hand einer historischen Analyse bezüglich ihrer werblichen Grundmotorik recht gut nachvollziehen. Wir stellen hier nur das Grobergebnis einer solchen Analyse dar, wenn wir die thematischen Schwerpunkte der Werbung in Deutschland nach 1945 in drei Phasen zusammenfassen, wobei die Grenzen durchaus als fließende zu verstehen sind. Es gab - den Preis/Qualitäts-Schwerpunkt, - den Positionierungs-Schwerpunkt und - den Mythen-Schwerpunkt. Die erste Phase befasst sich stark mit der Produktpräsenz (Neu! Nicht nur klarspülend, sondern auch Hände schonend), die zweite hebt mehr auf die Distinktion zum Wettbewerb ab (funktional, aber auch bereits mit emotionalen Mitteln), die dritte erweitert die zweite Phase durch Besetzung größerer Bandbreiten und durch universellen, polytheistischen Auftritt (Nestlé, Marlboro, NIVEA), wobei u.a. unter weniger Marken mehr Produkte zusammengefasst werden. Die Wissenschaft beteuert für Gegenwart und Zukunft, dass Marken als fester Bestandteil unserer Kultur diese reflektieren und prägen120, wobei – wie bei Langnese – die sachlichen Produktvorteile emotional überboten werden können. Esch hebt hervor, dass über Landesgrenzen hinweg die Macht der Marke nachgewiesen werden kann, wenn z.B. entsprechende Untersuchungen in Deutschland BMW und Mercedes ein höheres Ansehen bescheinigen als den politischen Parteien, dass in England Adidas ein höheres Ansehen als das Königshaus genießt oder dass in den USA die Nike-Symbolik 119 Unter Berufung auf Gerd Gerken meint Maria Panagiotidou etwas voreilig, wenn man sich „eines kollektiven emotionalen, nicht religiösen Prinzips“ bedient „entfällt für die Werbetreibenden die lästige Suche nach konkreten, ohnehin schwer zu ermittelnden Zielgruppen.“ (Vgl. Panagiotidou, Maria: Mythos und Werbung. In: Tepe, Peter et al.; Fachübergreifendes Forum für Mythosforschung (Hg): Mythos Nr. 1, Mythen in der Kunst, Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, S. 150 – 175, hier S. 159). Es fehlt andererseits auch nicht an guten Ratschlägen, die die in ihrer Anzahl begrenzten wichtigen Wertvorstellungen für besetzt halten und daher „seelenanalytische Forschungsreise[n]“, d.h. letztlich psychoanalytische Tiefeninterviews zur Erforschung derselben verlangen, um dann doch wieder „zeitgemäße Bilder, Rezepte bzw. Verfassungen“ zu generieren, die wir als Schlüsselreize bezeichnet haben (http://www.rheingold-online.de, datiert Juni 1996). 120 Esch, Franz-Rudolf: Zur Zukunft der Marke. In: Markenartikel Nr. 1/2004, S. 64. 74 besser verstanden wird als die des Kreuzes.121 Selbst Branchen, denen der Aufbau einer emotionalen Marke nicht zugetraut wurde, beweisen aktuell, dass dies wohl möglich ist; als Beispiel wird der Energiemarkt zitiert, auf dem es Yello gelingt (gelb, gut, günstig), das Image eines alerten und agilen, preisbewussten, kundenfreundlichen Anbieters aufzubauen, obwohl Preisvorteile dieses Image nicht ausdrücklich untermauern können. Die mythische Wirkung bzw. Leistung hängt aber nicht nur von deren noch so gut geplantem Unterbau, mit all seinen autonomen und steuerbaren Einflüssen ab, sondern auch von der tatsächlich dauerhaft durch Sympathie und Kauf dokumentierten Akzeptanz für einen Markenmythos. Dieser Kauf stellt in der Tat ein (zeitliches, finanzielles) Opfer für den Käufer dar, der, wenn er tatsächlich von der Machbarkeit/ Erreichbarkeit von Freiheit durch eine Zigarette oder von dem partnerschaftlichen Erfolg/Glück bei Verwendung eines Parfums ausgeht, einem Opferbetrug aufsitzen könnte. Möglicherweise aber hat uns Pater Ziegler mit seiner Bemerkung, dass uns auch dann bereits ein wenig Erlösung zu Teil wird, wenn das Freiheitliche oder Glückliche auch nur vielleicht eintreten könnte, eine Relativierung des Betruges angeboten. Es gibt wohl doch auch den – bewusst oder unbewusst – aufgeklärten Käufer, der dieses erkennt und die Zigarette am Mythos vorbei zur Entspannung (als Droge!) oder nur schlicht wegen ihres Geschmacks raucht oder das Parfum benutzt, weil es (nach der Disko oder nach der Gartenarbeit) duftet oder erfrischt – dem der Gebrauchswert näher als der Zusatzwert ist, dem also mindestens eine Relativierung der Gesamterscheinung des jeweiligen Produktmythos gelingt. 2. Die Werbung als Makromythos Für die Analyse der Werbung als Ganzes, dem werblichen Makrokosmos ergibt sich an dieser Stelle: die primären Anliegen der Werbung sind Information/Produktaussage, aber ihr Signifikat 2, ihre sekundäre Rolle ist das Glücksversprechen, die Machbarkeitsvorstellung, die die problemorientierte Kehrseite unseres Zusammenlebens, die sich neben dem Alltag erhebt, in der Regel verdrängt. Der Sinn des Werbeansatzes wird zum Happy-End verklärt. Werbung ist als Gesamterscheinung ein Mythos. In dieser Rolle ist sie in der Gesellschaft nicht alleine, denn gemeinsam mit Unterhaltung und Mode wird ihr im Konzert der Massenmedien eine bedeutende Rolle zuteil, die über ihre wirtschaftliche Funktion hinausreicht. 121 Esch, Franz-Rudolf: Was eine Marke ist, bestimmt der Kunde. In: GEM Gesellschaft zur Erforschung des Markenwesens e.V. (Hg): a.a.O., S. 31 – 72. Als Quelle der Untersuchungen ist Young & Rubicam, 2003, angegeben. 75 Mit der Analyse der Print-Anzeige der HypoVereinsbank möchten wir beispielhaft diesem Makromythos als einem generellen alltagsästhetischem Phänomen, um in der Sprache von Gerhard Schulze zu bleiben, auf die Spur kommen (Abb.23 und Tabl.10):122 Abb.23: HypoVereinsbank, 2003 Text Analyse a. Ich weiß nicht, ob ich mir dieses Haus leisten kann. Es ist perfekt. Es ist zu teuer. Unsicherheit vor Vielfalt der (materiellen) Angebote/ Möglichkeiten zur Erlebnisbefriedigung und deren Erreichbarkeit. b. Ich könnte da in der Ecke sitzen und mehr Bücher lesen. Bezugsprobleme zur Realität Zusammenfügen ungleichartiger dichotomischer Wunschbilder. 1. Problemstellung: Vielleicht würde ich ein Buch schreiben. 2. Sinnsuche: Wenn ich ein berühmter (…) Schriftsteller wäre, könnte ich das Haus bar bezahlen. Ich liebe dieses Haus Kann ich dieses Haus kaufen? Streben nach Sinnstrukturen im Umfeld der erfahrbaren Kultur. Mit uns laut nachdenken Leben Sie – Wir kümmern uns um die Details! HypoVereinsbank Problemlösung Mythos der aktuellen Konsumkultur (Alltagsästhetik/Haus an Stelle von Strebensethik/Literatur). 3. Resultat: Tabl.10: Analyse Print-Anzeige HypoVereinsbank, 2003 Aus der Summe der einzelnen Markenmythen bildet sich als allgemeiner Problemlösungsansatz der Gegenwart dieser – wie wir im obigen Tableau unter Punkt 122 Schulze, Gerhard: a.a.O. Der Autor unterscheidet drei alltagsästhetische Positionen: Das Hochkulturschema (gute Literatur, Museumsbesuch) mit Streben nach Perfektion, das Trivialschema (Arztroman, deutscher Schlager) mit Harmonie als Lebensphilosophie und das Spannungsschema (Ausgehen, Krimi) mit narzisstischen Zielsetzungen, s. S. 163. 76 (3) sagen – Mythos der Konsumkultur oder wie Adorno/Horkheimer dieses Phänomen nennen würden, der Mythos der Kulturindustrie. Wir haben hier nicht die Absicht, diesen Mythos als zwanghafte Orientierungslinie unserer westlichen Lebensgemeinschaften zu beweisen, dennoch stellt er, wie in der obigen Werbeanalyse beispielhaft demonstriert, eine wesentliche Leitfigur aktuellen Verhaltens dar: Vor dem Hintergrund allgemeiner Unsicherheit und kontingenter Lösungsansätze bietet sich für das Streben zur Sinnerfüllung hiernach die Alltagsästhetik (schönes Haus/Convenience) an als überlegene Erfüllungsstrategie noch vor einer rational bestimmten Nützlichkeit oder vor einer Ethik, die man Strebensethik (Bildung/Literatur) nennen könnte. Norbert Bolz spricht von einem „Vakuum der großen Gefühle“, wenn „nach dem endgültigen Schiffbruch der politischen Utopien … unsere Kultur resolut auf Ästhetik“ setzt123. Die dem Konsumverhalten, der Werbung, der Unterhaltung, der Mode oder der allgemeinen Medienerscheinung zu Grunde liegenden Bedürfnislagen und Wertorientierungen können in ihrer Bedeutung im Zeitablauf zu- oder abnehmen, sodass man sie durchaus mit Bolz als Trend bezeichnen kann, allerdings Trends, die in ihrem Kultstatus im Sinne von Kurzzeit-Religionen fungieren und von Marken besetzt werden. Wir würden uns schwer tun, wenn wir im Zusammenhang mit unserer Untersuchung nunmehr nach einer endgültigen Lösung der Fragestellung suchten, ob die Werbung Urheber eines Trends ist oder ob sie allein bestehende Trenderscheinungen ausnutzt? Allerdings: Markenmythen können nur dauerhaft bestehen, wenn die Werbung tatsächlich vorhandene Trends bzw. Bedürfnislagen erfasst und der Marke integrierend zuführt (erfolglose Werbung wird sehr schnell abgesetzt), jedoch ist die Annahme wohl nicht unberechtigt, dass aus dem Gesamterscheinungsbild des abgelaufenen und aktuellen Werbe- und Unterhaltungsauftritts sich Strömungen, Zivilisationsrituale, festigen bzw. abbauen, die wiederum – abseits von traditionellen Grundwertbestimmungen aus Religion oder Philosophie – werberelevante Werteorientierungen darstellen. In einer kurzen werbehistorischen (Nachkriegs-)Rückschau möchten wir die Existenz derartiger Trends, die die zitierten grundsätzlichen Phasenschwerpunkte der Werbung untermauern, mit einigen Beispielen aufzeigen.124 123 Bolz, Norbert: Kultmarketing – Von der Erlebnis- zur Sinngesellschaft. In: Isenberg, Wolfgang; Sellmann, Matthias: Konsum als Religion? Kühlen, Mönchengladbach 2000, S. 95 – 98, hier S. 95. 124 Die Übersicht ist eine Überarbeitung der Darstellungen von: W & V Extra, Eine Sonderpublikation, Nr. 20/1999. 77 Vor 1950: ,Wir sind wieder da’ (zusammen mit der D-Mark), Orientierung über Wiederverfügbarkeit: Abb.24: Sunlicht Seife, 1949 Abb.25: Kaufhof Köln, 1949 Die 50er: ,Durch Leistung zum alten Glück’ - ,Mach mal Pause’, Von der Information zu Stimmungsbildern, der Konkurrenzkampf beginnt: Abb.26: Coca Cola, ca. 1955 Abb.27: Loewe Opta, ca. 1955 Die 60er: ,Durch Reisen zu neuem Erleben’ - ,Der Duft der großen weiten Welt’, Die geheimen Verführer: schöne neue Werbe-Welt: Abb.28: Stuyvesant, ca. 1965 Abb.29: VW-Käfer, 1962 78 Die 70er: ,Der Ausstieg oder die positive Anarchie’ - ,A timeless land’, Besinnung auf den Markenkern: Abb.30: Marlboro, ca. 1975 Abb.31: Pfanni, 1975 Die 80er: ,Der Tanz ums goldene Selbst’125 - ,Mein Magnum und Ich’, Der Spaßfaktor breitet sich aus: Abb.32: Kupferberg Gold, 1981 Abb.33: Du darfst, 1984 Die 90er: ,Man lebt mehrfach’ - Verblüffende und irritierende Traumwelten, Provokation und Unterhaltung zur Markenstützung (in allen Medien): Abb.34: Porsche, ca. 1995 125 Abb.35: TUI, 1993 Der Spiegel Nr. 22/1994, S. 58: Der Spiegel verwendet für seine Titelgeschichte zur Ego-Gesellschaft dieses Zitat nach Ulrich Beck, München, der damit die radikale Ich-Bezogenheit der Bundesbürger benennt. 79 Neben den rein qualitativen Aspekten der Marken-Mythenbildung – man kann nach unserer Kurzanalyse den angestrebten intensiven Unterhaltungscharakter und die weitere Verrätselung in besonderer Weise dazu rechnen – trägt natürlich auch das Ausmaß der Werbung zu Effektivität bzw. Erscheinungsbild der Makro-Mythenbildung bei: Der Umfang der Werbeinvestitionen zur Darstellung des Neuen oder zur Wiederholung des Gleichen: In Deutschland betrugen die entsprechenden Ausgaben im Jahre 2001 34 Mrd. Euro für Medienaufwendungen, Honorare und Werbemittelproduktionen (plus 2,4 Prozent gegenüber 2000), davon 23,9 Mrd. Euro als Einnahmen der Werbeträger. Dieser Betrag verdoppelt sich durch Ausgaben für sonstige Mittel kommerzieller Kommunikation (Verkaufsförderung, Messen, Werbeartikel, Sponsoring, Public Relations etc). Für das Jahr werden hierfür 31,55 Mrd. Euro geschätzt.126 Ausgehend von den Werbeblöcken im Fernsehen, den Regalwänden der Super- und Hypermärkte, den Gebäudefassaden, Plakatwänden und Lkw-Planen in den Straßenbildern, den Titel- und Innenseiten der Zeitschriften, den Beilagen der Tageszeitungen etc. kann man von einem Teppich der Alltagsmythen oder – mit Walter Grasskamp – von einer Omnipräsenz der Logos bzw. einer „Benutzeroberfläche“ sprechen127. Diese Überflutung mit Reizen nennt Jean Baudrillard „die ästhetische Faszination“128. Die ästhetischen Oberflächen dieser Bilder bieten dem faszinierten Benutzer die Chance der Durchdringung, um zu flottierenden Genüssen, Freiheiten, Sicherheiten und Glücksgefühlen vorzustoßen. Die Wahrnehmung dieser faszinierenden Benutzeroberfläche führt zu der Erkenntnis von drei Aspekten: Zunächst symbolisiert diese Oberfläche eine offenkundige Scheinnähe zu den Objekten, die dahinter stecken; denn wer weiß noch, wie der Mythos Mercedes unter der Kühlerhaube wirklich funktioniert, obwohl einige von uns täglich darauf schauen. Wir verlieren damit eine (bisher) wesentliche Kontaktfunktion zu dem Gebrauchsgegenstand – über die arbeitsteilig bedingten Kontaktverluste hinaus, und die nächste Faszination wartet sowieso auf uns, ehe wir uns der Frage nach der Funktion des Autos überhaupt bewusst geworden sind. Zweitens stellen diese Oberfläche und ihre Subelemente die markenmythische Aufforderung zu der Suche nach dem tatsächlich Wünschenswerten dar, um durch Grenzüberquerung in jene den Gebrauchsnutzen und 126 Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (Hg): Werbung in Deutschland 2001, edition ZAW, Bonn 2001, S. 9 und S. 16. 127 Grasskamp, Walter (2000): a.a.O., S. 10. 128 Baudrillard, Jean: a.a.O., S. 118. 80 seine nicht verstandene Funktionalität übersteigende bessere Welt, wenigstens aber doch in ein Kurzzeit-Glück einzutreten. Drittens fordert die augenscheinliche Geschlossenheit der Gesamtoberfläche auf, neugierig nach immer neuen Haltepunkten zu spüren, um Unabhängigkeit zu gewinnen oder zu behaupten. Mehr noch als bei den Markenmythen im Einzelnen wird in diesen Aspekten die Kritik der verführerischen Überforderung der Rezipienten festgemacht. Wir kommen im Einzelnen in Kap. V hierauf zurück; an dieser Stelle aber können wir konstatieren, dass Werbung formal und inhaltlich den alten und neuen Mythostyp für ihre Zwecke einsetzt und sich darüber hinaus als Teil heutiger Massenkultur in der Erzeuger- und Verstärkerrolle für den Zeitgeist-Mythos bewährt. Gerade letzteres ist eine tragende Entwicklung in der modernen (langfristigen, indirekt unterhaltenden) Marketingkommunikation und dient letztlich globaler Markenbildung und -steuerung neben den bekannteren Positionierungsmodellen. Diese Überlegungen führen uns zu einer Kurzanalyse vorstellbarer Abwehr- bzw. Relativierungsmechanismen gegen die Alltagsmythen und ihre Gesamterscheinung als Mythos der Kulturindustrie. 3. Abwehr- und Relativierungsstrategien Mit unserer zielgerichteten Darstellung von Mikro- und Makromythen auf der Woge der Werbung haben wir ein einseitiges Bild unserer Kulturlandschaft entworfen. Wir haben zwar angedeutet, dass vor allem auch die Unterhaltungsindustrie an diesem Bild mitarbeitet, in dem es vom Nutzen zum Ereignis, vom Nachdenken zum Erleben mit Alltagsmythen geht, dennoch möchten wir die Kritikwürdigkeit der Werbung mit Verweis auf Kap. V ein wenig verringern und auf folgende Mythen relativierende Aspekte aufmerksam machen: Es sind dies die Themen von Politik und Kirche zur gesellschaftlichen Integration oder Bildungserweiterung und -steigerung, unternehmerische bzw. Konzernmaßnahmen zur Mythenverknappung oder individuelle Strategien zur Reaktivierung des Gebrauchswerts, zu mehr Eigenverantwortung und Solidaritätsverhalten, aktives Auftreten gegen Blasiertheit und Selbstgerechtigkeit in Großstädten und auf unseren Straßen. Und es gibt ja auch noch die Künstler, die zu einer Relativierung beitragen können. Mit diesem besonderen Aspekt wollen wir uns im nächsten Kapitel auseinandersetzen. 81 IV. Mythos und Kunst Es bedarf keiner Beweisführung mehr, dass die Mythen – positiv oder negativ stimulierend – ständiger Begleiter der Kunst gewesen sind und noch sind: Abgesehen von Antike und Renaissance, allein Rubens als Vertreter des flämischen Barocks hat im Laufe seines Lebens etwa 280 mythologische Bilder geschaffen, Emil Nolde greift christliche Bildthemen in einer archaisch-mythologisierenden Bildsprache auf, Pablo Picasso setzt sich mit den Gestalten des Hermes oder des Minotaurus auseinander, Richard Long formt Steinplattenringe mit Bezug zu Ritualen an alten Kultstätten etc. Aber sind es – wenn auch sehr häufig zielbewusst abgewandelt – allein archaische oder historische Verbindungsstränge, die die Künstler als wahrnehmbare, wieder erkennbare Grundmuster mythischer Substanz zur besseren Steuerung ihrer jeweiligen Kommunikationsanliegen anwenden oder wie anders stellt sich der Mythos im Kunstkontext auch noch dar? Bevor wir dieser Fragestellung nach verschiedenen Auftrittsmöglichkeiten des Mythos genauer auf den Grund gehen, sollen in Kürze einige wesentliche Bedingungen zur Schaffung und Perzeption des Mythos in der Kunst aufgezeigt werden. a. Der Kunstbetrieb 1. Der kulturelle Hintergrund Wenn wir an dieser Stelle Kultur als Inbegriff aller menschlichen Leistungen, Orientierungen und Werte unter bestimmten orts- und zeitabhängigen Daseinsbedingungen auffassen, dann ist Kunst wie auch Mythos, Religion, Philosophie, Sprache oder Wissenschaft ein Teil dieser Gesamtheit. Wir lehnen uns in diesem Zusammenhang an die von Franz Dröge/Michael Müller129 besprochenen Kulturmodelle an, um die Kunstbegrifflichkeit und deren Definitionsspielraum im Kulturspiegel zu reflektieren. Dröge/Müller erörtern drei dynamische Kulturmodelle: das soziale, das politische und das ökonomische, wobei deutlich ist, dass eine derartige Besprechung in erster Linie keine epochenmäßige Zwangsbestimmung darstellt, sondern dass vielmehr der inhaltliche Austausch unter diesen Modellsituationen Ausdruck einer jeweiligen Realität ist. Mit der Renaissance entsteht ein neues gesellschaftliches Bewusstsein für den Künstler in Absetzung vom Kunsthandwerker; es werden Kunstwerke geschaffen, die in eine andere (gehobenere) Werkkategorie gehören als (einfachere) Handwerksarbeiten, 129 Dröge, Franz; Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder Die Geburt der Massenkultur, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1995, S. 93 – 99. 82 und in diesem Zusammenhang begründet Kunst als Säkularisierungsprogramm – sicher anfangs unbewusst – ihren Autonomieanspruch, weil sie sich von a priori verordneten gesellschaftlichen Verwendungszwecken abzukoppeln beginnt.130 Nach Dröge/Müller schlägt an dieser Stelle die Geburtsstunde für ein „soziales“ Kulturmodell, „in dem Kultur als Medium und Zielhorizont gesellschaftlicher Entwicklung begriffen wird.“ Ganz unabhängig von seiner durchaus beschränkten Realisierung (z.B. in nur einzelnen Gesellschaftsbereichen) verdeutlichen die vielfältigen Akzente, die ein solches umfassendes Modell über die Jahrhunderte erfährt, die Berg- und Talfahrt der aufklärerischen Moderne – bis hin zu den radikalen künstlerischen Einflussnahmen im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts. Künstlerische Tätigkeit und Kunstwerk lösen sich zunächst von der Auftragsbestimmtheit der Kirche, dann der Fürstenhöfe und erscheinen sozusagen ungebunden auf dem Markt. Aber nun greifen neue Kräfte nach ihrem Autonomiestatus. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wird ein Großteil des Ästhetischen in neuer Form mehr und mehr politisiert und ökonomisiert, so dass der Autonomie Fesseln modernen Zuschnitts angelegt werden. Der gewaltige neue kulturelle Transformationsvorgang beinhaltet die Abschleifung der affirmativen Bürgerlichkeit sowie die Begründung und den Durchbruch der industriell erzeugten Massenkultur.131 Diese Entwicklung vollzieht sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in typologischer Form zweifach: politisch und ökonomisch. Mit Walter Benjamin heben Dröge/Müller als ein bestimmendes Kennzeichen des politischen Massen-Kulturmodells die Ästhetisierung des Politischen hervor, wobei Kunst zu politischen Zwecken eingesetzt und verbogen wird. Zur Formfindung dieser Ästhetisierung im Banne der Politik tragen nicht allein die Versandung des Außergewöhnlichen der Kunst und die Einbeziehung des Alltags in das künstlerische Erlebnis bei, sondern ebenso – so fügen wir in unserem Zusammenhang hinzu – die Reorientierung an Heldenmythen des Stalinismus sowie an Blut- und Boden-Mythen im deutschen Nazismus. Dabei erhebt sich die Politik selbst in den Rang des ideologischgriffig Ästhetischen. Walter Benjamin stellt diesem Konstrukt der Ästhetisierung des Politischen das Modell der Politisierung des Ästhetischen gegenüber und verweist damit auf die grundsätzliche Auseinandersetzung der avantgardistischen Künstler zwischen 130 Zu dieser Definition von Autonomie: S. Bürger, Peter: a.a.O., S. 46, Anm. 13. P. Bürger erweitert hier die Autonomie-Definition von J. Habermas von „kunstexternen“ zu „gesellschaftlichen“ Verwendungszwecken. 131 F. Dröge/M. Müller geht es in ihrem Beitrag vor allem auch um eine für sie erkennbare ambivalente Haltung der Avantgarden, die der Entstehung der Massenkultur durch „affirmativ technikbegeisterte Programme“ (Bauhaus, Futurismus) und den Grenzabbau zwischen Hochkultur und Alltag Vorschub geleistet hätten. Vgl. Dröge, Franz; Müller, Michael: a.a.O., S. 37f. 83 den beiden Polen der künstlerischen Integration (im Falle Benjamins der dramatischsten, der faschistischen) und der Subversion: Innerhalb der Vorstellung eines politischen Kulturmodells war die Avantgarde in sich durchaus gespalten, wenn wir einerseits die homogenisierenden Intentionen (Bauhaus) und andererseits die irritierenden, kritisch-ironischen Projekte von Dada oder die verschiedenen Etappen zur künstlerischen Abstraktion miteinander vergleichen.132 Sicherlich hat nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland eine Abwendung vom mehrheitlich politischen zum ökonomischen Modell stattgefunden, und natürlich ist dieses Modell einer Massenkultur auch durchsetzt von starken mythischen Elementen (vgl. auch Kap. III), zu deren Entstehung und Erhaltung – weit über das Volksempfänger-Syndrom hinaus – die Mediatisierung des Zusammenlebens in den westlichen Industriegesellschaften die entscheidende Hilfestellung leistet, wie es besonders unter dem von Horkheimer/Adorno bevorzugten Begriff der „Kulturindustrie“ herausgearbeitet wird. Die ungeheure Fülle an Zeichen und Symbolen, die dieses Modell kennzeichnen, gipfeln „in einer einzigen, alle Einzelästhetisierungen zusammenführenden Großästhetik“133. Ohne diesen derart beschriebenen Spagat (eines demokratisch/marktwirtschaftlichen Systems) zwischen mündigen Einzelästhetisierungen und einer – gleichsam wie bei einem mythischen schwarzen Loch – alles aufsaugenden großästhetischen Uniformalisierung ausdiskutieren zu wollen, halten wir fest, dass die aktuelle Kulturlandschaft vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Mediennetzwerks sowie der Wohlstands- und Erlebnisbedürfnisse der kapitalistischen Massendemokratien in hohem Maße ökonomischen Regeln unterworfen ist. Wenn wir die Funktion der Kunst mit Thomas Wulffen in dem Dreieck von Erkenntnisvermittlung, Entertainment und Dienstleistung verorten134, dann setzt die ökonomische Regel von ‚Wachstum und Profit’ voll auf die Elemente der aktuellen Spaß- und Erlebnisgesellschaft – bis zu dem Punkt, an dem Kunst selbst als Erlebnis angeboten und verkauft wird. Das grundsätzlich ökonomische Bewusstsein der heutigen Gesellschaft hat natürlich auch vor Künstlern und ihren Produkten nicht Halt gemacht und wird sich nach unserer Ansicht, solange der Wohlfahrtsstaat trotz schwächelnder Tendenzen in Folge der Probleme der Globalisierung und des Terrorismus prinzipiell erhalten bleibt, nicht wesentlich verändern. Natürlich wird dabei nicht außer Acht bleiben, dass parallel Elemente der anderen Kulturmodelle, etwa des sozialen mit 132 Ebd., S. 38. Ebd., S. 51. 134 Vgl. Wulffen, Thomas: Betriebssystem Kunst. http://www.aica.de.symp99/wulffen-d.html. 133 84 erkenntnistheoretischer Aussagekraft, existieren und Gehör finden, auch wenn sie sich in ständiger Auseinandersetzung mit dem ökonomischen Mainstream befinden und dabei der Gefahr der Vereinnahmung unterliegen. – Betrachten wir die Bedingungen des aktuellen, stark ökonomisch dominierten Kulturmodells etwas genauer: 2. Der aktuelle Bedingungskanon des Kunstbetriebs Tableau 11 gibt einen Überblick über das aktuelle kunstbetriebliche Beziehungsgeflecht, das durch eine ökonomische Ausrichtung auf Wachstum und Gewinn gekennzeichnet ist. Wenn wir zunächst von den Teilnehmern des Kunstbetriebes sprechen, so ist der Künstler die Hauptperson, ohne ihn findet nichts statt. Allerdings gehört zum Normalfall, dass der Kunstschaffende sein Werk nicht für sich behält, sondern dieses außer durch ihn selbst mindestens von jemandem zweiten reflektiert oder rezipiert werden kann. Luis Camnitzer (geb. 1937), Künstler der documenta XI, beschreibt in diesem Zusammenhang – frei nach Marcel Duchamp (vgl. Kap. IV b 2) – das Kunstwerk als einen „Korridor, der die Wege und Abläufe zwischen Künstler und Betrachter bestimmt“135. Allerdings wird niemand den Einfluss der sogenannten vermittelnden Instanzen unterschätzen, die sich mehr und mehr zwischen beide im Laufe der letzten Jahrhunderte geschoben haben: Die Zeiten höfischer und kirchlicher Auftragskunst, in denen beispielsweise die französischen Salonausstellungen der Königlichen Akademie für Malerei und Skulptur noch zum Instrumentarium der Sicherung verordneter Kunstproduktionen dienten, verändern sich mit der Französischen Revolution. Wenn auch die staatliche Kunstförderung (z.B. Historienmalerei) weiterhin bestehen bleibt, so entfaltet doch das neue Bürgertum eine Mehrnachfrage nach Kunstwerken zur Darstellung seines neuen Selbstbewusstseins und Wohlstandes. Der Salon wird zur Plattform der auftragslos, privat produzierten Kunstwerke, auf der sich im Sinne von Angebot und Nachfrage eben diese Werke behaupten mussten. Da immer noch eine Jury über die Aufnahme zur Ausstellung entscheidet, entsteht neben systemimmanenter Anpassung der Künstler natürlich auch Gegenwehr und Ablehnung mittels zunehmender Gegenausstellungen zum Salonestablishment. Allerdings spiegelt sich in beiden Haltungen die Verfestigung der Kommerzialisierung des Kunstbetriebs: Die erlangte Freiheit der Produktion, 135 Camnitzer, Luis: Ein Erklärungsversuch. In: Balkenhol, Bernhard; Georgsdorf, Heiner; Maset, Pierangelo (Hg.): XXD 11, Über Kunst und Künstler der Gegenwart, ein Nachlesebuch zur Documenta 11, university press, Kassel 2003, S. 80. 85 verbunden mit der damit einhergehenden größeren Unsicherheit der Akzeptanz in einem sich erweiternden Marktgeschehen, führt bei Anpassern und Opponenten zu wachsendem Originalitäts- und Innovationsdruck. Stefan Germer zitiert in diesem Zusammenhang Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780 – 1867): „Was den Künstler zum Ausstellen veranlasst, ist die Aussicht auf Gewinn, der Wunsch, um jeden Preis Beachtung zu finden“.136 Diese Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert hat sich voll durchgesetzt. Aus dem Salon und den Gegensalons ist eine nahezu unüberschaubare Menge vermittelnder Instanzen geworden (s. Tabl.11). Die entscheidenden Konsequenzen für das Phänomen „Kunstbetrieb heute“ lassen sich wie folgt zusammenfassen: Kunst und Kunstmarkt im ökonomisch dominierten Kulturmodell Wesentliche Bestimmungsfaktoren (Wachstum und Gewinn) ____________________ • Wettbewerb der Interessen • Der Künstler-Star in der Erlebnisgesellschaft • Interventionsstrategien Künstler Rezipient Vermittelnde Instanzen ________________________ Sammler – Auftraggeber „Schausteller“ – Sponsoren Kritiker – Interessenvertreter Tabl.11: Kunstbetrieb heute – Strukturen des ökonomisch dominierten Kulturmodells 136 Germer, Stefan: Alte Medien – neue Aufgaben. In: Wagner, Monika (Hg.): Moderne Kunst 1, Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Rowohlt, Reinbek 1991, S. 100. 86 2.1. Wettbewerb der Interessen Die „Aussicht auf Gewinn“ oder auch nur der lebensnotwendige Broterwerb veranlassen die Künstler, entsprechende Strategien am Salon vorbei zu bilden. Vincent van Goghs Bemühungen, etwa mit Paul Gauguin und anderen zusammen ein Kollektiv zu bilden, um künstlerische Produktion und Distribution zu erneuern („Die Kunst den Künstlern“), scheitern, aber seine Ideen, sich am Markt unabhängig zu etablieren, werden später von Zusammenschlüssen wie etwa „Die Brücke“, der „Blaue Reiter“ oder den Futuristen realisiert. Paul Durand-Ruel in Frankreich oder Paul Cassirer in Deutschland kaufen um die Jahrhundertwende (selektiv, auch mit exklusiven Künstlerverträgen) zeitgenössische Malerei, um in eleganten Verkaufsräumen, begleitet von Katalogen und anderen Medienauftritten, ihre Künstler auf dem Markt zu verkaufen. Ein auffälliges Beispiel für eine entsprechende Reaktion der „Etablierten“ gegen Erneuerung ist der „Künstlerstreit 1911“, der sich um den Ankauf des van Goghschen Mohnfeldes durch die Bremer Kunsthalle entwickelte, als der Worpsweder Maler Karl Vinnen sich zum Fürsprecher der angeblich benachteiligten deutschen Kunst machte. Der Markt aber entwickelte sich unaufhaltsam weiter, auch an der dramatischen Grenzziehung der Faschisten vorbei. Mit Hilfe von neuen Galerien, Biennalen, Museumserweiterungen, spektakulären Auktionen, Cross-Aktivitäten der bildenden Kunst zu anderen Kunstrichtungen (Film, Musik, Theater), kulturellen Ereignissen jedweder Art (Weltausstellungen, Seglerwochen) und documenten erfährt das Kunstsystem in den vergangenen 25 Jahren einen gewaltigen Auftrieb und rückt, sich weit verästelnd, in alle gesellschaftlichen Bereiche vor, um sich dabei gleichzeitig der Gefahr auszusetzen, seine kritische Distanz für einen „anderen Weltentwurf“ zu verlieren137. Dabei bilden sich Koalitionen und Seilschaften, Museen lassen sich von Unternehmen sponsern, große internationale Auktionshäuser verfolgen ihre eigenen Preisstrategien, Galerien kooperieren miteinander etc. Auf dem Resonanzboden des aktuellen Mediensystems entsteht eine Kommunikationswoge, die unter sich alle maßgeblichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten vermischt. In dieser Situation einer fragmentierten, unendlichen Flut von Informationen und Eindrücken allein schon zur Kunst - verlangt Harald Falckenberg „den Mut zur persönlichen Entscheidung“, da im „Diskurs über … [eine] Bewertung keine Seite Interpretations137 Ecker, Bogomir: Jung sterben – der Kunstbetrieb. Vortrag anlässlich des Symposiums „Blindflug – wohin steuert der Kunstbetrieb“, 20.4.2002. In: Kunstverein Hannover, Mitgliederzeitschrift Jahresheft 2002/2003, S. 13. 87 oder Bedeutungshoheit beanspruchen“ kann138. Dies verlangt von dem Rezipienten durchaus Kritikfähigkeit und Mut, wenn er sich als Sammler auf den Weg macht oder auch nur als Freizeit-Betrachter daherkommt und gegebenenfalls neue Eindrücke an sich heranlassen möchte. Auf Seiten des Künstlers fordert dieser Pluralismus der Medienerscheinungen und ihrer Inhalte Strategien heraus, die ihm Gehör verschaffen – mit oder gegen den Mainstream der Auffassungen; er wird nach neuen, innovativen Darstellungsformen und –anliegen für seinen Vortrag suchen, das heißt, er wird den Mythos des Realen zu brechen suchen oder auch nur an seinem persönlichen (individuellen) Mythos bauen – manchmal unter Zuhilfenahme traditioneller Mythen. 2.2. Der Künstler als Star in der Erlebnisgesellschaft Bogomir Ecker beschreibt diese künstlerische Identitäts- und Vermarktungsweise als Abkehr von einer unbequemen Außenseiterrolle und Hinwendung zum „Trendsetter für Lebensgefühle. Der aus dem Humanismus und der Romantik kommende Geniekult einer bürgerlichen Gesellschaft ist endgültig abgelöst durch das Starsystem“.139 Der Künstler als Star gelangt in diese Rolle als Teil der – auch nach dem 11. September 2001 - immer noch unverwüstlichen Spaß- und Erlebnisgesellschaft, die ihre Helden, ihre Markenzeichen fordert. Das süchtige Verlangen nach Erlebnissen, nach dem ungewiss Besonderen (z.B. einer Love-Parade), nach Geselligkeit mit Geselligen bei gleichzeitigem Verdrängen oder Gutreden des Problematischen spiegelt den Egozentrismus einer Win-Gesellschaft, der sich Künstler gegenüber sehen. Sie können entweder zu Stars in diesem System werden oder sie bilden – wie Bogomir Ecker es nennt – eine „Restmenge“, die sich nicht vereinnahmen lässt, die sich noch autonom nennen kann. Zur Verunsicherung – für manchen zur Verkleinerung – dieser Restmenge hat in besonderer Weise Salvador Dali (1904 – 1989) mit seiner paranoid-kritischen Methode der Selbstinszenierungen und absurden Ideen beigetragen. Gerade heute zum 100. Geburtstag des Künstlers wird seine Verknüpfung von künstlerischer Perfektion und merkantiler Zieltreue im Sinne von Nähe zur Unterhaltungs- und Warenwelt sowie zur Politik in Barcelona dokumentiert. 138 Falckenberg, Harald: Ziviler Ungehorsam, Kunst im Klartext, Lindinger + Schmid, Regensburg 2002, S. 42. 139 Ecker, Bogomir: a.a.O., S. 13. 88 Die Hintergründe für die rasante Entwicklung des Kunstgeschehens, das heißt der Erweiterung des Kunstbegriffes und der permanenten künstlerischen Grenzüberschreitungen der letzten 150 Jahre, liegen allgemein in der Demokratisierung des Denkens und der gleichzeitig enorm gesteigerten Nachfrage nach der Ware Kunst in einer offenen Massenkultur. Der Künstler als Teil dieses stark ökonomisch gesteuerten Systems nutzt es im Sinne seiner Ziele und produziert für die freudige Erlebnisgesellschaft und ihre zahlreichen Biennalen, oder er stemmt sich dagegen und sucht Distanz für mögliche Einstellungs- oder Verhaltenskorrekturen. Auch im letzteren Fall ist jedoch die Gefahr groß, dass er vom Strudel der vereinnahmenden Vermarktung mitgerissen oder pervertiert wird. Letzteres wird häufig beklagt, obwohl an einer finanziell gesicherten Position eines autonomen Künstlers kein Anstoß zu nehmen ist. 2.3. Interventionsstrategien Die Vereinnahmungsprozesse sind allgegenwärtig, auch wenn heute der Staatsdirigismus gescheiterter Systeme gefallen ist oder der amerikanische regierungsfreundliche, abstrakte Expressionismus durch die Pop Art entmachtet wurde. Harald Falckenberg betrachtet Unternehmen und Konzerne als generell maßgebliche Bestimmungsfaktoren in der heutigen Gesellschaft und analysiert ihre Nähe zu zeitgenössischer Kunst – das abstrakte Bild hinter dem Schreibtisch des General Managers, das zielgerichtete Sponsorverhalten bei zahllosen Ausstellungen, eigene Projekte, wie z.B. das Siemens-arts-program 2002 – als Vehikel zur Eigendarstellung im Sinne von Fortschrittlichkeit, Risikofreundlichkeit und Offenheit des Unternehmens. Die Besonderheit der aktuellen Medienunternehmungen und ihr Einfluss auf das kulturelle Geschehen unter der Notwendigkeit ihrer eigenen Gewinnmitnahme ist unbestritten. Wir haben an anderer Stelle vom Mythos der Marke gesprochen, hier geht es um den Markencharakter des jeweiligen Unternehmens, den Mythos des Konzerns selbst, zu dessen Schaffung und Pflege Kunst benutzt wird. Verglichen mit den Gesamtbudgets eines Konzerns bleibt es allerdings bei einem Dekorationsaufwand für die Kunst – wie etwa auch die Bilderreihen beim Zahnarzt (z.T. Zeitleihgabe) oder das einzige „Original“ hinter dem heimischen Fernseher -, ein Aufwand, über den unter Zeichen anderer wirtschaftlicher oder sinneswandlerischer Gegebenheiten schnell neu entschieden wird. Ein besonderes Augenmerk verdienen in diesem (unternehmerischen) Zusammenhang die Mode- und Werbebranchen. Das sogenannte Neue, das mit einem 89 wirklichen Durchbruch auf neues Terrain nur im seltensten Fall etwas gemein hat, repräsentiert eine der Erfolgsstrategien dieser Branchen und „lässt gerade [hier] die subkulturelle Szene und radikale Kunst immer wieder Ziel des Begehrens sein“140. Der Kunstdiskurs findet aber nicht nur in den Unternehmen statt. Bevor ein eigenwilliger Endverbraucher erreicht wird, trifft er auf gewinnorientierte Galerien und Auktionshäuser, die der durchschnittliche Betrachter als Tempel des Kunstgeschehens wahrnimmt. Und es taucht selbstverständlich auch das Museum auf (hier als Vertreter für viele andere öffentliche Institutionen), als mutmaßlich wissenschaftlich abgesicherte Stätte der Gesellschaft mit seinen Dauer- und Wechselausstellungen. Seine Aufgabe des „Aufhebens“ – Sammeln, Bewahren, Zeigen – wird nicht immer so populär und intellektuell trefflich gelöst wie bei der Bremer van Gogh-Ausstellung 2002, die man als „Paradebeispiel“ für die geglückte Symbiose von Marketing und Museum bezeichnet hat141. 325.000 Besucher machten die Veranstaltung nach der documenta XI zur meistbesuchten Ausstellung des Jahres in Deutschland: Mit dem Mohnfeld wurde exquisit gesammelt, das Bewahren vor allem mit den niederländischen Museen in Otterlo und Amsterdam erneut bewiesen und die gelungene Zusammenarbeit zwischen Leihgebern, Bremer Institutionen, Medien, Wissenschaft und Sponsoren (Bierbrauer, Kaufhäuser, Banken und Versorger) führte zu einer außergewöhnlichen Demonstration. Die Kritik war deutlich auf die unvorhergesehenen Reparaturkosten und nicht auf die Vereinnahmung der Kunst durch die Wirtschaft gerichtet. Ausführlicher wollen wir uns in Kap. IV b mit der Institutionskritik von Marcel Broodthaers auseinandersetzen, der Anfang der 70er Jahre u.a. mit seinen Installationen Musée d’Art Moderne, Départment des Aigles, Section des Figures die Museums- und Ausstellungswelt attackiert. Harald Falckenberg hat zusammengetragen, dass auch Marcel Broodthaers zu seiner Zeit nicht alleine tätig war: So beseitigte zum Beispiel Michael Ascher 1974 in Los Angeles eine Trennwand zwischen Ausstellungs- und Büroräumen der Claire-Copley-Galery, „um den Zusammenhang von Kunst und Markt zu verdeutlichen“ oder Robert Barry verkündete 1969, dass während der Ausstellung die Galerie geschlossen bleibt142. Einer der radikalsten Kritiker des Kunstbetriebs war allerdings der Italiener Piero Manzoni (1933 – 1962). Sicherlich getrieben durch konkurrierendes Streiten mit anderen Künstlern – zum Beispiel mit Yves Klein – stellt er mit seinen Arbeiten die 140 Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 124. Vgl. Cartier, Stephan: Die Kunst zwischen Pracht und Pauschale. In: Weser-Kurier Nr. 110/2003. 142 Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 128. 141 90 Rolle der Kunst permanent in Frage. Es ist bezeichnend, dass Manzoni noch in seinem letzten Lebensjahr in Brüssel die Nähe zu Marcel Broodthaers suchte, der allerdings eine völlig andere Kunstkritik entwickelte. Manzonis Arbeit ist eine ungezügelte Provokation von Bürgerlichkeit bzw. irgendeiner anderen Normalität und deren Grundlagen, eine „Absage an jegliche illusionistische Funktion der Kunst, die darüber hinaus auch jedwede metaphysische, spirituelle oder meditative Dimension von sich weist“.143 Mit seinen Achromes, monochromen Bildern „ohne Farbe“, wird allein Material sujetlos demonstriert, später werden Linienführungen auf Papier gebracht, vermessen und verpackt. Abb.36: Piero Manzoni, Merde d’Artiste, Konservendose, Künstlerexkremente, 1961 Höhepunkt seiner kurzen Laufbahn war die Provokation Merde d’Artiste (Abb.36), eine Produktion von 90 Konserven Künstlerscheiße à 30 g, der gedachte Preis entsprach dem Goldpreis für dieses Gewicht (eine ,versehentlich’ geöffnete Dose enthielt Olivenpaste). Hier wird die Auflösung aller Grenzen zwischen Kunst und Umwelt, wie sie sich als Kunstbetrieb, als alltägliches Leben definiert, gefordert. Das Verweigern jeglicher Vereinnahmung durch die Krake Kulturindustrie endet hier in der Grauzone von ehrgeiziger, intellektueller Skandalhascherei und verzweifeltem ironischem Aufbäumen gegenüber dem Banalen und Gewöhnlichen, dessen Teilhaberschaft er andererseits äußerst nachhaltig anstrebte, wie sein ambitioniertes Bemühen, im Pariser Künstlerparadies Fuß zu fassen, beweist. 143 Ruhrberg, Bettina: Kunst als Spur der Existenz. In: Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Heft 22, 3. Quartal 1996, Weltkunst und Bruckmann, München 1996, S. 3. 91 Abb.37: Maurizio Cattelan, Trommelwirbel, WachsInstallation, 2003 Abb.38:Werner Büttner, O.T. (Grübeln ist das Geilste), C-Print, 2000 Spektakulär sind auch die aktuellen Auftritte von Maurizio Cattelan (geb. 1960 – siehe Kap. IV) in Venedig als Roboter und in Köln als Trommler auf dem Dach (Abb.37) oder die polemischen, wenn nicht auch zynischen Positionen von Jonathan Meese (geb. 1970 – s. ebenfalls Kap. IV) und von Werner Büttner (geb. 1954). Letzterer entwickelte Anfang der 80er Jahre zusammen mit Martin Kippenberger (geb. 1953) und Albert Oehlen (geb. 1954) seine Form des Widerstandes gegen die sich verfestigende Spaßgesellschaft und das Erhabene, Elitäre. Davon zeugen allein schon die Titel seiner damaligen Werke, wie z.B. Die Probleme des Minigolfs in der europäischen Malerei (1982), Schrecken der Demokratie (Bilderzyklus 1983) oder auch noch 1993 Meine Frau liest! Und Deine? und spiegeln eine intendierte Interessenlosigkeit und Unbeschwertheit, eine ironisch-spöttelnde Haltung, die sich von einer weitaus pathetischeren, wie sie von Joseph Beuys vorgelebt worden war, abhebt. Seine neueren Collage-Auftritte reduzieren zwar die textuale Bildbegleitung, doch Ironie, Spott und Nonchalance „kennzeichnen [seine] schon Dada prägende Haltung einer Identität der Nicht-Identität“ im Bild selbst144. In Abb.38: O. T. (Grübeln ist das Geilste) begegnen uns zwei ,denkwürdige’ Gartenzwerge, etwas komfortabler positioniert als Cattelan auf dem Dach, zwei Figuren wie Attribute einer Gesellschaft, die man sich in dem surrealistisch maskenhaften Kopf darüber vorstellen kann, einer Kombination von Totenschädel und gerötet fleischlicher Farbe, die den Mythos der ,lebenden Toten’ evoziert. Hier wird das Groteske benutzt, um das für Büttner aktuell-groteske gesellschaftliche Leben und dessen Normen nochmals mit einer Burleske zu demaskieren bzw. zu decodieren. 144 Falckenberg, Harald: Theorien von mittlerer Reichweite. Einige Details. In: Grosenick, Uta (Ed): Werner Büttner, Taschen, Köln et al. 2003, S. 14 – 17, hier: S. 17. 92 Wir können die zitierten Künstler-Positionen auch als exploratives Suchen nach der äußersten Grenze dessen verstehen, was Kunst noch aushalten kann, um einer Vereinnahmung durch die Gesellschaft und ihr (beklagenswertes) Regelwerk zu entgehen. Das Lokalisieren dieser Schmerzgrenze bzw. die Identifizierung eines Künstlers als Mitläufer im System oder andererseits als ,Überzeugungstäter’ im Sinne eines Subjekts distanzierenden und wirklichen Widerstandes ist nicht immer leicht. Dennoch sollte eine kritische Betrachtung dem Urteil immer vorausgehen, so z.B. ob Werner Büttner nur dem Mainstream des gesellschaftlichen Spektakels folgt oder ob er letztlich doch einen Tabubruch begeht, mit dem er das schwülstig Bedeutungsvolle einer Gesellschaft, letztlich das zum Mythos erhobene Unwichtige durch Bedeutungsentleerung bzw. groteske Verweise sichtbar machen will. Als interessantes, gleichzeitig eindeutiges Beispiel für die „Restmenge“ an Überzeugungstätern sei an dieser Stelle die Tropfsteinmaschine von Bogomir Ecker genannt: Abseits vom Kunstmarkt und dessen ökonomischen Bedingungen und Regularien tropft es in der Galerie der Gegenwart (Hamburger Kunsthalle), um im Laufe von etwa 500 Jahren eine Skulptur von fünf Zentimeter langen Stalagmiten und Stalaktiten entstehen zu lassen. Hier wird ein Thema (Zeitdimension, Vergänglichkeit, Relativierung menschlicher Existenz) jenseits der gängigen kritischen Gesellschaftspraxis und irgendwelcher politisch historischer Kontexte angesprochen, das den Künstler als glaubwürdig, autonom und auf Distanz zum Star-Eifer darstellt. Die Ermittlung vorbildgebender Distanzbeschreibung mag bei Bogomir Ecker leichter fallen als bei Werner Büttner oder Piero Manzoni. Dennoch hat auch der schwierigere Fall ein Recht auf Auseinandersetzung. Hierbei kann die Betrachtung eines Künstlers über einen längeren Zeitraum den Subjektivitätsdiskurs erleichtern, der ohne persönliche Einbringung des Rezipienten in den „Kunstkorridor“ nicht denkbar ist. Eine solche Betrachtung über einen längeren Zeitraum sagt auch häufig etwas über die künstlerische Haltung aus, die einen Überzeugungstäter identifizieren könnte, dem es nicht allein auf die „Lautstärke“ seines Kunstwerks ankommt, sondern (auch) auf den Ausdruck wirklichen Engagements. Dabei geht es auch um die Auseinandersetzung mit kollektiven Mythen und nicht allein um die Schaffung eines persönlichen Mythos. 93 b. Die Manifestation des Mythos in der Kunst Das Festmachen des Mythischen in der Kunst ist auf verschiedenen Wegen denkbar. Als Medium zu dieser Darstellung haben wir uns für die Bildende Kunst und deren Anhänglichkeit an das mythische Phänomen entschieden; dabei wollen wir die einzelnen Künstler selbst genauer verfolgen (Kap. IV b 2). Dennoch ist es für das Verständnis des Mythosbegriffs in der Kunst erhellend, vorab einmal einen bestimmten Mythos und seine Wandlungsfähigkeit im Zeitablauf zu verfolgen (Kap. IV b 1), bevor wir die Künstler ausführlich selbst sprechen lassen: Denn aus der Vielzahl der Deutungsansätze und der Spannbreite mythischer Funktionalität lässt sich vermuten, dass wir unsere Thesen (1) bis (3) zu Mythen als Mitteilungsorgane in Prozessen der Transformation und Differenzierung in Abhängigkeit von kulturellen Entwicklungen bestätigt finden können. 1. Der einzelne Mythos-Stoff im Wandel Dieses viel besprochene Phänomen des Mythenwandels im Kunstkontext zeugt gleichermaßen von Dehnbarkeit und Aktualität des Mythos. Aus der großen Anzahl denkbarer Beispiele möchten wir zwei heraus greifen und etwas näher beleuchten, die sich in einer grundsätzlichen Polarität gegenüberstehen: Einmal demonstrieren diese beiden Fälle vor dem Hintergrund ihres Bezugs zum historischen Mythos die Spannbreite weiblich verführerischer und dämonisierender Erscheinungen im Kunstkontext und zum anderen haben sie, dadurch bedingt, letztlich auch in ihren zeitgeschichtlichen Entwicklungen jeweils ein besonderes Verhältnis gerade zur Werbung erlangt. Zunächst ist es die Mythengestalt der Nymphe, Begleiterin von Dionysos oder Diana, eine jugendliche Frauengestalt, erotisch-verführerisch, voller Energie und Ausstrahlung, oft mit wehendem Haar und wallendem Gewand dargestellt. Dank ihrer archaischen Wurzeln zeigt sie sich auch kämpferisch als Mänade. In ihrer vielschichtigen Aufnahme stellt sie sich nicht nur über ihre antiken Wurzeln hinaus in und nach der Renaissance als Symbol für die soziale Wiederzulassung des Weiblichen in der Kunst dar, sie wurde darüber hinaus seit dem letzten Jahrhundert insbesondere auch durch die Werbung instrumentalisiert. Neben der Nympha hat sich in der Kunst Medusa profiliert, die man idealtypisch als die ,andere Seite der Nympha’ bezeichnen kann, eine im kulturellen Prozess über ihr Haupt und den davon ausgehenden Schrecken dämonisierte, gefährliche Darstellerin. Hier hat Kunst ein umfangreiches Aufklärungswerk geleistet, vor allem durch die Verschiebung des medusischen Schreckens von ihr weg zu einer allgemeinen 94 medusischen Realität, deren neue Träger nicht nur den Schrecken, sondern zugleich ihre Beteiligung an der Schaffung dieses Schreckens auf sich nehmen. Im Werbekontext spielt sie keine entscheidende Rolle, gelegentlich eventuell noch als femme fatale, deren Qualitäten aber eher in Film und Literatur gefragt sind. 1.1 Die Nympha Aby Warburg war – wie Ernst Gombrich erläutert – über längere Zeit seiner Forschungsarbeiten besonders gefesselt von dem Motiv der „eilende[n] junge[n] Frau in flatterndem Gewand. Dieses Motiv nannte Warburg die ‚Nympha’“145. Das Thema ist in Warburgs Bilderatlas dokumentiert, wobei für ihn herausragende Bedeutung die Diskussion um die Lastenträgerin auf Domenico Ghirlandaios Renaissance-Fresko Geburt Johannes des Täufers erhält (Abb.39)146. Abb.39: Domenico Ghirlandaio, Geburt Johannes des Täufers, Fresko, 1486 Der Auftraggeber Tournabuoni benutzt mit Ghirlandaio die erhaltenen Rechte, den Chor von Santa Maria Novella in Florenz auszugestalten, um seine Angehörigen als heilige Figuren auftreten zu lassen und konfrontiert diese dann mit Nympha. Rechts auf dem Fresko, keineswegs an unbedeutender Stelle, schwebt in die ansonsten durchaus starre, religiöse Szene eine auf dem Kopf Früchte tragende junge Frau in wehendem Kleid herein, die gleichermaßen heitere Leichtigkeit und Lebenskraft einer antiken Nymphe ausstrahlt. Die Starrheit der Szene des Besuchs in dem Wochenzimmer der Heiligen Elisabeth wird durch diese Nympha-Dienerin gebrochen. Für Aby Warburg ist diese Gestalt ein Beispiel lange vorgeprägter Ausdruckswerte zur Darstellung aktueller 145 Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg, Eine intellektuelle Biografie. Das Nymphenfragment, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M. 1970, S. 141 – 164, hier: S. 142. 146 Warburg, Aby: Der Bilder-Atlas, Mnemosyne; Warnke, Martin (Hg), Akademieverlag, Berlin 2003. 95 Lebensumstände und -gefühle: Der im strengen kirchlich-religiösen Netz jener Jahrhundertwende agierende Auftraggeber und ebenso sein künstlerischer Botschafter verlangen beide nach einem Ausdruck für das unterdrückte, freizügigere Leben und finden in dem hergebrachten, erlaubten Nymphen-Mythos-Stoff der Antike das Feigenblatt bzw. die „schützende Unwidersprechlichkeit des schon Dagewesenen“, um dem Neuen, seinem besonderen, noch stillen Anliegen, dem Drang nach Freiheit sowie nach geistiger und körperlicher Freizügigkeit Nachdruck zu verleihen.147 Natürlich bietet die antike Mythenwelt selbst bereits mit ihren entsprechenden Abbildungen ein breites Anschauungsmaterial zu Nymphen, Mänaden, Musen und weiblichen Göttern. Die Nymphen – ob nun an oder in Gewässern, auf Bäumen oder auf Bergen – bestehen schon in der Antike nach der Vorstellung der Erzähler als schöne, junge Frauen und waren den Griechen als Töchter des Zeus und als himmlische Wesen niederen Ranges verführerische Personifikationen des Lebens in freier Natur, dem Tanz und der Musik ergeben. Wenn sie schon keinen eigenen Mythos haben, so sind sie doch wichtige Mythos-,Stützen’, wenn sie etwa Dionysos, Diana, Perseus oder Odysseus zugeordnet werden. Beliebt ist ihre Darstellung im Dionysos-Mythos als Begleiterinnen des Gottes. Zunächst erkennen wir sie in ihrer ursprünglichen Erscheinung, etwa als die Schönen im Gefolge der Diana. Dann treten sie im Dionysos-Mythos als Mänaden auf: Die Nymphen hatten durch Hermes’ Vermittlung Dionysos von der Rachsucht Heras befreit und waren von da an als Mänaden Dionysos’ wilde Begleiterinnen. Diese weibliche Doppel-Natur – betörende Schöne (Nymphe)/kämpfende Siegerin (Mänade) spiegelt sich in zahllosen nymphischen Erscheinungen. Auf archaischen Vorbildern (Amasis-Maler) aufbauend, liefert die griechische Frühklassik ein anschauliches Beispiel der Mänade mit dem Brygos-Maler um 490 v.Chr. (Abb.40), der auf seiner Schale eine tanzende Mänade in wallendem Gewand, sich selbst temperamentvoll befreiend, darstellt; ihr Thyrsosstab, die Lanze mit dem Lebenskraft und Fruchtbarkeit symbolisierenden Pinienzapfen, vervollkommnet das Bild. Ganz ähnlich geht es in der Spätklassik (400 – 320 v.Chr.) auf dem apulischen Kelchkrater von Lipari Mitte des vierten Jahrhunderts zu (Abb.41), auf dem die Mänade, den Stab erhoben, zum Flötenspiel eines Satyrs mit wehenden Haaren und schwingendem Gewand voller Sinnesfreuden tanzt, vom Wein angeregt. 147 Gombrich, Ernst H.: a.a.O., S. 159. – Im Sinne von Warburg spricht man bei der Charakterisierung einer solchen Szene, in der sich das Gegebene und Angemessene mit einem Schuss Unangemessenheit und Leidenschaft mischt, auch von einer ,Pathos-Formel’. Vgl. Warnke, Martin: Der Kopf in der Hand. In: Hofmann, Werner: Zauber der Medusa, Europäischer Manierismus; Hg.: Wiener Festwochen, Löcker, Wien 1987, S. 60. 96 Abb.40: Brygos-Maler, Schale 2645, um 490 v.Chr. Abb.41: Apulischer Kelchkrater 2241, Mänaden und Satyr, Mitte 4. J.v.Chr. Der Hellenismus Pergamons um 170 v.Chr. liefert ein weiteres Beispiel der zahlreichen antiken Nympha-Darstellungen, in der nunmehr eine Göttin (der Nacht), Nyx, in Haltung und Ausstrahlung der Nympha gleich, am Nordteil des Großen Frieses des Pergamon-Altars im Gigantenkampf die Partei der Olympier ergriffen hat und in wehendem Gewand mit ausholender Bewegung siegesgewiss einen Krug auf ihre Gegner schleudert (Abb.42).148 Der Sieg ist ihr sicher, und es mutiert die Sinnes- zur Siegesfreude, zur befreienden Energie der Nympha, Abteilung Mänaden. Auch für Aby Warburg war die Nympha eine antike ‚Viktoria’, eine Siegesgestalt, „die in der Renaissance zum Leben zurückkehrte; … sie ist ein ‚Elementargeist’, weil sich in ihr und durch sie elementare Leidenschaften ausdrücken konnten“.149 Abb.42: Nyx, Pergamon-Altar, Nordteil des großen Frieses, um 180/160 v.Chr. 148 G. Dommermuth-Gudrich identifiziert diese Figur als Erinnye. Vgl. Dommermuth-Gudrich, Gerald: a.a.O., S. 99. 149 Gombrich, Ernst H.: a.a.O., S. 159. 97 Abb.43: Sandro Botticelli, Geburt der Venus, Tempera auf Leinwand, um 1485 Abb.44: Sandro Botticelli, Minerva und Zentaur, Tempera a. L.,um 1482 Die Wiederentdeckung der antiken Körper- und Formenwelt in der Renaissance bleibt natürlich nicht auf Domenico Ghirlandaio (1449 – 1494) beschränkt. Fast zeitgleich wenden sich zahlreiche andere italienische Künstler, vor allem von florentinischem Geldadel gefördert, diesen Überlieferungen zu, wobei die Darstellung weiblicher Körperlichkeit als Akt und in Bewegung im Sinne der ursprünglichen schönen Nymphe, unterstrichen durch wehende oder fließende Gewänder, die eher diese Körperlichkeit unterstreichen als verhüllen, eine große Bedeutung haben. In Sandro Botticellis (1444/5 – 1510) Geburt der Venus vereinen sich beide Motive: der VenusAkt im Kontrapost, der lockeren Beinstellung, sowie die Frühlingshore mit fliegenden Haaren und fließendem Gewand (Abb.43). Die befreiende Leichtigkeit der Szene wird durch die schwimmende Muschel, das Fruchtbarkeitsattribut der Schönheitsgöttin noch unterstrichen. – Selbst Athene, die neben zahlreichen anderen Disziplinen vor allem die Streitkunst verkörpert, profitiert bei Sandro Botticelli von der Nympha-Ausstrahlung. In Minerva und Zentaur (Abb.44) erscheint sie zwar nicht nackt wie zum Paris-Urteil bei Lucas Cranach d. Ä. (1527) oder bei Peter Paul Rubens (1639), ihr Gewand jedoch ist ebenfalls weit entfernt von strenger antiker Bekleidung. Die Szene hat keinen direkten mythologischen Handlungsbezug und stützt sich auf einzeln vererbte Versatzstücke des antiken Erfahrens, wie eben das der Nympha. Wehendes brust-offenes Gewand (mit eingewebten, ineinander greifenden Diamantringen, dem Emblem Lorenzo de Medicis), leichtfüßige Haltung, langes Haar, Kranz im Haar statt Helm; all dies reduziert trotz der Hellebarde ihr kriegerisches Wesen und lässt sie als sanftmütige Friedensstifterin auftreten, die Wissenschaft und Handwerk fördert. Ihr mitleidvoller Blick auf den flehenden, unterwürfigen Zentaur soll diesen Gedanken sicher unterstützen, lässt aber 98 auch stark vermuten, dass der Medici-Auftraggeber, einer jener machtbesessenen Herrscher, sich selbst gerne als mildtätigen Sieger gegenüber den Besiegten bzw. Untertanen zur eigenen Selbstvergewisserung darstellen möchte. Man könnte meinen, dass die geradezu übertriebene Geste der Minerva, dem Besiegten im Haar zu kraulen statt ihn zu bändigen, Sandro Botticellis Unglauben an die Wunschvorstellung seines Auftraggebers ausdrückt.150 Nympha beweist ihre besondere Nymphenfähigkeit auch bei Tizian (wahrscheinlich 1485 – 1576) als Die Hl. Magdalena (Abb.45). Ihre nackte Schönheit wird der Maria Magdalena verliehen und unter dem Schirm des religiösen Vorwandes preisgegeben. Im Halbakt, für den Herzog von Urbino gemalt, verbinden sich die verführerischen Reize der Nymphe mit religiöser Askese, wie es im Werdegang der Sünderin nicht besser für die Renaissance vorgegeben sein kann, um die gewünschte Freizügigkeit in der Darstellung zu erreichen. Ihre Buße wird durch den Nymphenbezug in Frage gestellt, sie erscheint gerechtfertigt in ihrem Begehren. Sinnlichkeit des Mythos und christlichreligiöses Büßertum verschachteln sich. Ihre dynamische Leidenschaft ist für Tizian auch über den Tod hinaus gerechtfertigt und kündigt die neue Stellung der Frau im Sinne wachsenden, anerkannten Selbstverständnisses an, wenn wir sie in Pietà (Abb.46) als Antipodin zu dem toten Christus dem Leben zugewandt – dem Leichnam abgewandt – erleben. Tizian hatte dieses Gemälde für seine Grabstätte geplant, es wurde erst nach seinem Tode durch Palma Giovane fertiggestellt. Abb.45: Tizian, Die Hl. Magdalena, Öl auf Holz, um 1530 – 35 150 Abb.46: Tizian, Pietà, Öl auf Leinwand, 1576, später vollendet durch Palma Giovane U.a. wird in der Darstellung auch – weniger politisch – eine moralisierende Allegorie auf die Weisheit der Vernunft gegenüber wilder Gewalt und niederen Trieben gesehen (Der Zentaur ist hier mit Bogen und Köcher erschienen). 99 Abb.47: Albrecht Dürer, Venus und Amor als Honigdieb, Aquarell, 1514 Auch der kühle Norden verschließt sich nicht dieser Nympha-Bildtradition, wenn auch bescheidener und auch schon mal moralisierend: Als Beispiel aus der Zeit der Hochrenaissance mag hier Albrecht Dürers (1471 – 1528) Venus und Amor als Honigdieb dienen (Abb.47), das die Göttin (in wehendem Kleide) spielerisch sagen lässt, Cupido empfange auf diese Weise nur den Schmerz eines Bienenstichs, wie umgekehrt er anderen mit seinen Pfeilen nach kurzer Freude tiefe Schmerzen zugefügt habe. Aus der großen Zahl der Vertreter des Barock, die sich mit den antiken MythenThemen befassten, möchten wir besonders Nicolas Poussin (1594 – 1665) anführen, der den französischen ,style classique’ (im Gegensatz zur barocken Illusionsmalerei) repräsentiert, nicht nur weil er als Franzose den größten Teil seiner Schaffensperioden in Rom an den Quellen antiker Bildwelten studierte und wirkte, sondern weil auch er sich, der als der klassische Darsteller des Edlen und tiefer Gedanklichkeit gilt, der Ausstrahlung und Wesenskraft dieser Nympha-Figur nicht verschlossen hat. Zurecht weist Jacques Thuillier darauf hin, dass „le lyrisme de Poussin ne peut se séparer d’un certain érotisme“151. Insbesondere aus der ersten Hälfte seiner Karriere gibt es zahlreiche entsprechende Beispiele, etwa die schwebend tanzende Flora in L’Empire de Flore (1631) oder in den Bacchanalien. Aber auch in seinen religiösen Serien findet sich abseits aller Meditation über göttliche Mysterien das Menschliche. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang sein Sakrament der Letzten Ölung, in dem er das Gnade verleihende Zeichen darstellt und dieses an der rechten Bildperipherie mit einer Nympha-Figur wie Ghirlandaio (in wallendem Gewand, in kesser Haltung und mit herausforderndem Blick) sozusagen ohne Not ergänzt (Abb.48a und Abb. 48b). 151 Thuillier, Jacques: Poussin en 1994. In: Sommaire, Dijon, Nr. 21, Oktober/November 1994, S. 5 – 21, hier: S. 8. 100 Abb.48a: Nicolas Poussin, Sakrament der Letzten Ölung, Öl auf Leinwand, 1638 – 40 (?) Abb.48b: Sakrament der Letzten Ölung, Detail Gilles Chomer152 hat sicher recht, wenn er als die beiden stilistischen und thematischen Pole, die das Werk Poussins durchziehen, das von venezianischem Colorit bestimmte mythologische Sujet sowie das strenge, von religiösem und akademischem Denken und Fühlen geprägte Thema beschreibt. Die Nympha steht hier für die Lebenslust, die Sinnesfreude, die auch in der größten Not nicht unterdrückt werden kann: Salbung mit geweihtem Öl und Gebet der Beteiligten bestimmen den formgerechten Ablauf bzw. Vollzug des Sakraments, der zum Erhalt der heilig machenden Gnade erforderlich ist. Poussin stellt dies in seiner charakteristischen Weise überhöht idealistisch dar – und gleichzeitig wagt sich in diese Szene das Diesseitige mit der Energie geladenen, jungen Frau, die es auf den Jungen neben ihr abgesehen zu haben scheint. Die durchaus strenge Ordnung der Komposition wird durch eine – nunmehr „verkleidete“ – Nymphe aus seinen früheren Bacchanalien unterlaufen. Wir können den Barock jedoch nicht passieren, ohne im Zusammenhang mit der Nympha Peter Paul Rubens (1577 – 1640) zu erwähnen. Sein Werk ist ein gewaltiges Aufarbeiten mythologischer Themen, wobei die zahllosen Frauengestalten, berstend vor Fleischlichkeit, wenig mit der aufrechten, stolzen Sinnlichkeit der RenaissanceDarstellungen gemeinsam haben. Die Nymphen und Göttinnen sind seinem Zeitgeschmack entsprechend durchweg nackt und üppig, sie bewegen sich nach allen Regeln der Kunst, dem hellenistischen Schönheitsvorbild aber entsprechen sie ,lediglich’ inhaltlich, nicht mehr bildlich. Demgegenüber bleibt Jan Boekhorst (1605 – 1668) in Merkur erblickt Herse (Abb.49), wenn auch die Farbkomponenten stark die Nähe zu Rubens signalisieren, mit seiner Hauptdarstellerin Herse (eine der drei Töchter 152 Chomer, Gilles: Autour de Poussin, Pastiches, Influences et Héritage. In: Sommaire, a.a.O., S. 52 - 65, hier: S. 54. 101 des Kekrop), die von Merkur unter deutlichen Hinweisen Amors begehrt wird, stark der selbstbewussten, siegessicheren Nympha-Gestalt in wehendem Gewand verhaftet. Abb.49: Jan Boekhorst, Merkur erblickt Herse, Öl auf Leinwand, um 1650 Abb.50: Jan Brueghel d.Ä. und Hendrick van Balen, Allegorie des Herbstes, Holz, 1616 Diana, des Mythos sportliche Jägerin, umgibt sich in ihrer Abwehrhaltung gegenüber Männern gern mit Nymphen; ein gefundenes Szenario für die Maler der Renaissance, das gewünschte erotische Sujet zu legitimieren, wie es zum Beispiel Jan Brueghel d.Ä. (1568 – 1625) mit Diana und ihre Nymphen nach der Jagd am Badeufer, wo man sich natürlich entblößt erfrischen muss, festhält. Ausführlicher noch beschäftigt sich Jan Brueghel d.Ä. mit dem Nymphabild in seinen vier Jahreszeiten-Allegorien, in denen jeweils Ghirlandaios Lastentragende auftritt, als wenn der alles erneuernde Frühling vier Mal im Jahr zu verkünden ist. Die Nympha begleitet jeweils die Hauptfigur der Allegorie – im Herbst ist es Bacchus (Abb.50). Der große Aufwand der Allegorisierung sollte uns jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Nympha als Folge der stark verweichlichten Szenerie fast all ihren ursprünglichen Stolz und begehrliche Ausstrahlung vermissen lässt. Auch die Romantik hält sich von dem Nymphenbild nicht fern. Werfen wir dazu einen Blick auf den Schweizer Arnold Böcklin (1827 – 1901), der als ,Deutsch-Römer’ – wurzelnd in den deutsch-romantischen Sehnsüchten und Gefühlen – für seine idealen Wirklichkeiten den antiken Mythos als Hinweisform nutzt, um romantisch-subjektive Lebenserfahrungen malerisch zu beschreiben. In seinen erdrückenden Naturbildern taucht zum Beispiel die Nymphe mit dem Zentauren auf, eine Szene, die Werner Hofmann „exilierten Mythos“ nennt153, um zu unterstreichen, dass diese Geschöpfe Projektionen idealistischer Wunschvorstellungen sind. Er aktiviert die Nymphe als 153 Hofmann, Werner: Mythos im Exil. In: Öffentl. Kunstsammlung Basel / Kunstmuseum, AK Arnold Böcklin – Eine Retrospektive. Edition Braus im Wachter Verlag, Heidelberg 2001, S. 26. 102 Bedürfniselement für die aktuelle romantische Lebensform gegen den wachsenden Materialismus seiner Zeit. Eine eindrucksvolle Synthese aus antikem Vorstellungsgehalt und Arnold Böcklins aktueller Sehnsucht nach Vertiefung in Einsamkeit liefert uns sein Odysseus und Kalypso: Die antike Nymphengestalt verharrt in Liebessehnsucht nach dem abgewandten und entrückten Odysseus (Abb.51). Das wallende Gewand ist aufs Äußerste reduziert, die lebende Bewegung aufgelöst in eine schaustellerische, Begehren signalisierende Haltung, die zwar auf den Kern des Nymphencharakters, die Lust, die Lebensbegierde zurück geht, diesen jedoch verbiegt zu einer schmachtenden Weiblichkeit, die neben dem wie ein verlassenes Phallussymbol wirkenden, entgeistigten, monumentalen Odysseus selbst zur Ikone der Einsamkeit und des Ausgegrenztseins wird. Nymphas Verführungskünste reichen offenbar nicht aus, den Helden zum Bleiben zu bewegen. Arnold Böcklin benutzt das antike Themengerüst der Nympha für seine Aktualität, für die Entwicklung seiner persönlichen suggestiven Bilderwelt, in der sich Traumhaftes, Schemenhaftes und Unwirkliches mit begehrlicher Stofflichkeit irritierend begegnen – in unserem Beispiel durch die diagonal geführte Felsspalte getrennt. Abb.51: Arnold Böcklin, Odysseus und Kalypso, Tempera auf Holz, 1882 Zwischen Romantik und dem beginnenden Realismus Mitte des 19. Jahrhunderts treffen wir eine weitere Eigenart des Umgangs mit dem historischen Nympha-Mythos an. Honoré Daumier (1808 – 1879) benutzt in seinem Lithografie-Zyklus Histoire Ancienne das auch zu seiner Zeit sehr geläufige Vorstellungspotenzial der antiken Figur, um die aktuell dominierenden Lebensumstände in Frankreich satirisch zu kommentieren. Mit Äneas und Dido (Abb.52) parodiert er das nach der Juli-Revolution 1830 103 herrschende Großbürgertum in dessen Arroganz und Aufgeblasenheit. Nympha erscheint uns hier erneut mit wehendem, langen Haar und wallendem Gewand als die karthagische Königin Dido in den Armen des behelmten Äneas, erwartungsvoll und aufgewühlt – aber ebenso wie ihr Partner als Witzfigur, das Genre satirisch überbetont, auf dem Wege in die Höhle, um das Feuer zu stillen, wie es im Begleittext heißt. Vorbildgebendes antikes Bildungsgut und Wirklichkeit klaffen im Sinne einer soziokulturellen Satire weit auseinander.154 A protective fog darkened the sky; As they were both without umbrellas Into a dark cave he took his friend, And on that day, Aeneas’ fires were lit (Aeneis) Abb.52: Honoré Daumier, Äneas und Dido, Lithografie, 1842 Abb.53: Gustav Klimt Judith II, Öl auf Leinwand, 1909 Wir haben mehrfach den Aufbruch in ein neues Kunst-Jahrhundert um 1900 angesprochen. Die Entwicklungen in Frankreich und Deutschland, aber auch um James Ensor (1860 – 1949) oder Edvard Munch (1863 – 1944) und ihr z.T. düsterer Symbolismus können hier nicht alle angesprochen werden. Für unseren NymphaKontext aber möchten wir doch die Einzelstimme Gustav Klimts (1862 – 1918), eines Zeitgenossen der Letztgenannten herausheben, weil diesem Wiener das ,Weibliche’ – fern aller sozial kämpferischen Auseinandersetzungen jener Jahre – das eigentliche 154 Die Geschichte von Dido und Äneas berichtet Vergil in seiner Aeneis. Auf seinen Fahrten zum späteren Rom trifft er in Karthago auf die dortige Königin Dido, die er, obwohl mit ihr in Leidenschaft verbunden, auf Göttergeheiß verlässt, was die verzweifelt Verlassene mit selbst gewähltem Tod durch Schwert und Feuer beantwortet. – Zu weiteren Details betr. Daumiers historischen Zyklus siehe Schroeren, Nina: Mythologie als Gesellschaftskritik. In: Tepe, Peter et al.: a.a.O., S. 70 – 76. 104 Faszinosum war. Weniger interessiert uns hier die lange Reihe femininer Repräsentationsbilder kühler Kultiviertheit, vielmehr ist die geringere Anzahl stark emotional beherrschter Werke, in denen die Frau als ,mythische Rollenträgerin’ aufscheint, für uns von Bedeutung. Nymphas Konturen, verpackt als Allegorie im ornamentalen Jugendstil, sind bei Judith II (Abb.53) der Mänade entlehnt.155 Die halbnackte Figur steht als Judith nach der Tat mit dem abgeschlagenen Kopf des ihr israelitisches Volk bedrohenden Holofernes (in dessen Haaren haben sich ihre Hände verkrampft) mit offenem schwarzen Haar und langem Gewand vor uns. Gleichzeitig erinnert uns ihre wie im Tanz erstarrte Haltung an die neutestamentarische Salome, und für manchen Betrachter war trotz der anderen Benennung Klimts vielmehr diese abgebildet. Jedoch gleichgültig, ob Klimts Judith nun den eigenhändig getöteten Holofernes aus edlen Motiven auf dem Gewissen hat oder für das Ende Johannes des Täufers verantwortlich ist, bei Klimt gelingt die Kontamination dieser beiden biblischen Gestalten durch eine starke Erotisierung des Motivs, dem er durch das ornamentierende Arrangement die Spitze zu nehmen versucht. Dennoch bleibt ein gefährlich Verführerisches dem Betrachter erhalten, das durchaus an die Judith-Vorstellung des beginnenden Jahrhunderts einer Femme fatale mit deren Verstrickung in Sexualität und Tötung erinnert.156 Klimt verwendet das mythische ,Motiv’, den Typus Nympha, für seinen männlichen Blick der Jahrhundertwende auf das diabolisch Unwiderstehliche der Frau. Man könnte meinen, dass ein gewisser Medusa-Schrecken von dieser Gestalt ausgeht, obwohl – sozusagen rollenvertauscht – hier Judith den abgeschlagenen Kopf in der Hand hält und nicht der männliche Held Perseus (vgl. auch den folgenden Abschnitt ,Die Medusa’). – Wir wollen abschließend zu Klimt nicht unerwähnt lassen, dass in anderen Klimtschen Motiven die völlige Ablösung vom historischen Vorbild vollzogen wird, in denen das Maß von Dekoration und Harmonie geradezu übertrieben wird, z.B. in seinen Porträts oder in Der Kuss (1908). Auch die NS-Kunst hatte ihre Nympha, allerdings wird dort ihre erotische Ausstrahlung gezielt für ein spezifisches Frauenbild eingesetzt, das gegenüber dem männlichen Herrschertyp (vgl. etwa den Prometheus bei Arno Breker) zwar ausdrücklich bedeutend, aber doch eindeutig dienend erlebt und dargestellt wurde.157 155 Pessler, Monika; Trummer, Thomas: Porträt und Pose, Zum ,femininen’ Repräsentationsbildnis der Jahrhundertwende. In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): Klimt und die Frauen, Katalogbuch, DuMont, Köln 2002, S. 149. 156 Hammer-Tugendhat, Daniela: Judith. In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): Ebd., S. 220 – 225. 157 Die Frau wird außerdem oft auch – abgehoben – als selbstherrliche Rassefigur oder als Bäuerin (wiederum dienend) dargestellt. 105 Wenn Johann Schult (1889 - ?) zum Beispiel Im Lebensfrühling malt, dann haben sich – wie bei Najaden zu erwarten – am Badeufer, das wir ausgiebig seit der Renaissance kennen, zwar wie immer weibliche Darstellerinnen versammelt, ihre LebensquellSymbolik ist jedoch in unnatürlicher Nacktpose erstarrt (Abb.54). Dem Voyeurismus preisgegeben, wirken diese Figuren in ihrer Passivität wie einer Lehranleitung für Aktmalerei entnommen, ihre Körperlichkeit ist zu einer Geschlechtsschablone verkommen, ausgestattet mit Verlobungsring und zeitgemäßen Frisuren. Stefanie Poley zieht den Vergleich zu den Frauendarstellungen im ,Paris-Urteil’ (z.B. auch zu NSZeiten bei Ivo Saliger – 1939), in denen die Frauen auf eine männliche Auswahl für ihren „Lebenssommer“ warten158. Der hier dargestellte ,frühlingshafte Lebensquell’ hat mit dem selbstbewussten, sinnesfrohen Nymphendasein schon kaum mehr das Äußerliche gemeinsam; mit Sicherheit fehlt gänzlich deren Ausstrahlung. Selbst die Berufung auf spätromantische Vorbilder (Böcklin) wird weitgehend ad absurdum geführt. Es ist bezeichnend, dass auch noch in späteren Kriegsjahren dieser Bildtypus verherrlicht wird, denken wir etwa an die Allegorien Josef Thoraks (1889 – 1952), z.B. Das Licht, 1942 – 45. Abb.54: Johann Schult, Im Lebensfrühling, 1942 Abb.55: Francis Picabia, Les baigneuses, Öl auf Karton, ca. 1942 Wie weit die Verfremdung des Nympha-Bildes an dieser Stelle getrieben wurde, zeigt ein interessanter Vergleich mit den Akt-Arbeiten Francis Picabias (1879 – 1953), die dieser in den Kriegsjahren – sozusagen zeitgleich – erstellte. Zahlreiche Motive dieser Periode hat Picabia ganz offensichtlich einschlägigen Magazinen entnommen und 158 Vgl. Poley, Stefanie: Rollenbilder im Nationalsozialismus – Umgang mit dem Erbe, Bock, Bad Honnef 1991, S. 45. 106 die dortigen Fotografien in der Art von Werbeplakaten mit Pinsel und Öl auf Karton und Leinwand übertragen. Für manchen Beobachter spiegelte sich hierin allein affirmative Zustimmung; allerdings darf man nicht in der schroff-herben Linienführung zur Körpergestaltung, in den kräftigen, rostigen Farben der nackten Haut und in der abstrahierenden Art der Hintergrunddarstellung eine künstlerische Umbildung der fotografischen Vorlage hin zu Gelassenheit und Lockerheit übersehen – für manchen auch mit ironisch provokativen Nuancen durchsetzt (vgl. Abb.55: Les baigneuses). Picabia prägt hier ein Nymphenbild, dessen Körperlichkeit auf die ursprüngliche Nymphe zurück verweist: Roberto Ohrt kommentiert dies, mit seinem Vergleich zur NS-Malerei: „Picabia entwickelt den Körper mit einer Selbstverständlichkeit, die sich gegen eine kultische Vereinnahmung sperrt und gleichzeitig jene verklemmte Zurechtweisung sprengt, die die Militarisierung der Körper im häuslichen Rahmen als ein anständiges Idyll der Harmlosigkeit begleiten sollte“.159 Abb.56: Oscar Dominguez, Mannequin, s/w-Fotografie von Denise Bellon, 1938 Abb.57: Marcel Duchamp, Schaufenster-Installation für Bretons Arcane 17, Detail, 1945, s/w-Fotografie von Maya Deren (?) Nympha fehlt es andererseits nicht an Verführungskünsten, wenn sie im Dienst des direkten Verkaufs als Schaufensterpuppe auftritt. Dies beschreibt 1938 eine Gruppe Pariser Surrealisten, die die zwielichtige Funktion von Schaufensterpuppen zwischen Verkäuferinnen und Straßenmädchen während ihrer Ausstellung in der Galerie Georges Wildenstein beleuchten. Wir stellen hier das Beispiel Mannequin von Oskar Dominguez (1906 – 1957), fotografiert 1938 von Denise Bellon (Abb.56), neben Marcel Duchamps 159 Ohrt, Roberto: Avantgardistische Falten und realistisches Kunstlicht. In: Felix, Zdenek (Hg): Francis Picabia, Das Spätwerk 1933 – 1953 mit Texten von Sara Cochran, Roberto Ohrt, Arnault Pierre, Hatje, Ostfildern-Ruit 1997, S. 16. 107 kopflose Schaufensterpuppe aus seiner Schaufenster-Installation für Bretons Arcane 17 des Gotham Book Mart aus dem Jahr 1945 (Abb.57). Dominguez personifiziert die Verführung im Charakter der Pop Art – geradezu voyeuristisch platt. Die verführerische Schaufenster-Verkäuferin, ein Plagiat des geltenden Schönheitsideals, das im Inneren der Straßenpassanten verankert ist, signalisiert im großen Schaufenster der Metropolen mit posenhafter, erotischer Weiblichkeit Verfügbarkeit der Ware und damit auch Übertragbarkeit ins individuell Private.160 Die Puppe war u.a. Teil eines von 16 künstlerischen Mannequins besetzten Korridors Les plus belles rues de Paris, hinter denen jeweils ein Straßenschild angebracht war, hier in unserem Fall: „Rue de la transfusion de sang“. Die verführerische Zwielichtigkeit der Puppe wurde durch diesen erotischen Hallengang transfundiert und verdoppelt. Nympha als Straßenmädchen im Sinne der surrealistischen Revolte gegen die normative Psychologie, gegen sowohl Gebrauchs- wie auch Tauschwert! Bei Duchamp wird die nymphanische Verführung insbesondere durch den metallenen Wasserhahn am rechten Oberschenkel der Puppe verwirrend inszeniert (Nymphas wallendes Gewand ist erheblich ,reduziert’). Dieser Wasserhahn ist geradewegs gerichtet auf den in der Spiegelung der Scheibe erscheinenden Kopf des Künstlers. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass diese und weitere SchaufensterDekorationen Duchamps dessen konsequente darstellerische Entwicklung zwischen dem Großen Glas (s. Kap. IV) und seinem Spätwerk Gegeben sei:1. Der Wasserfall/2. Das Leuchtgas (1945 – 1966) darstellen. Sie betonen einmal die grundsätzliche Allgegenwärtigkeit des Erotischen in Duchamps Werk, zum anderen seine Enthüllungsund Verstellungs-Methodik bezüglich dieses Themas: Wir werden in Kap. IV in Zusammenhang mit dem Großen Glas die geschlechtliche Alter-Ego-Situation – herauf beschworen u.a. durch die drei trennenden horizontalen Glasplatten – erörtern; in diesem Schaufenster kann der Wasserhahn durchaus einen maskulinen Wasserstrahl symbolisieren, der das dargestellte Geschlecht verändert, ein Wasserstrahl, der später in 160 Katharina Sykora weist darauf hin, dass „mit der Fotografie [und den heutigen Zustellkatalogen] die scheinbar lebensechte, ideale Verkäuferin, die moderne Schaufensterpuppe in die Häuser“ Einzug hält. Sykora, Katharina: Ware Verführerin – Die surrealen Verlockungen der Schaufensterpuppe. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): Shopping, 100 Jahre Kunst und Konsum, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 132. – Es konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden, ob die Fotografie definitiv von Denise Bellon ist oder – wie im „AK Surrealismus 1919 – 1944“ angegeben – von Raoul Ubac auf der Exposition Internationale du Surrealisme, Jan./Fev. 1938, für die Duchamp als Générateur-Arbitre für die Galerie Beaux Arts, Paris, agierte, gemacht wurde. Vgl.: Spies, Werner; K20 Kunstsammlung NRW, Düsseldorf (Hg): Surrealismus 1919 – 1944, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 85. 108 Etant donnés als Wasserfall den Hintergrund zu einer spreizbeinig positionierten Nackten bildet – erkennbar durch ein verengendes Schlüsselloch.161 Wiederum gleichzeitig zu den oben angeführten NS-Beispielen arbeitet der Surrealist Max Ernst (1891 – 1976) – 1940 auf der Flucht in Südfrankreich – an seiner Nympha Marlene (Frau und Kind), Abb.58. Neben Europa nach dem Regen I und II ist dies eines seiner letzten Werke, bevor er mit Peggy Guggenheims Hilfe 1941 Europa verlassen kann. Das Bild zeigt den uns inzwischen geläufigen Frauentyp mit langem Haar, halbnackt, diesmal in wehendem steinzeitlichen Umgehänge – in einer seiner neuen Techniken, der Dekalkomanie, – hergestellt.162 Ernsts Verführerin kann man durchaus als Marlene Dietrich erkennen, die bereits vier Jahre früher in die Vereinigten Staaten emigriert ist. Die von ihr an die Hand genommenen Vögel sind höchstwahrscheinlich Gleichgesinnte, inklusive des Künstlers selbst, die ihr auf dem Weg in die amerikanische Zukunft folgen. Der Vamp erhält als Folge seiner realistischen Lebensumstände eine additionelle Funktion im Sinne eines handlungsweisenden Vorbilds. Ernsts neues Herstellungsverfahren verleiht der Szene etwas unterschwellig Bedrohliches, was der politischen Entwicklung jener Jahre entspricht. Die Sinnlichkeit der Nympha-Marlene und ihr unsicher-aktives Einbringen in eine Schutz- bzw. Hilfssituation relativieren die Bedrohung im Sinne eines Hoffnungsschimmers. Abb.58: Max Ernst, Marlene (Frau und Kind), Öl auf Leinwand, 1940/1 161 Vgl. Adcock, Craig: Duchamps Eroticism: A Mathematical Analysis. In: Küenzli, Rudolf; Naumann, Francis M. (Hg): Marcel Duchamp, Artist of the Century, MIT Press 1989, S. 149 – 167. Bzw.: Girst, Thomas: Diese Objekte obskurer Begierden – Marcel Duchamp und seine Schaufenster. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): Shopping, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 142 – 147. 162 Bei diesem Verfahren wird die Ölfarbe mittels einer (meist Glas-)Fläche auf den Malgrund gepresst; beim Lösen der Glasplatte entsteht schlierenartig das Pelzig-Mooshafte der Darstellung. 109 Wir werden an anderer Stelle die mythologischen Bezüge von Joseph Beuys näher betrachten (s. Kap. IV b 2.2.3), in diesem Zusammenhang aber muss erwähnt werden, dass er sich als einer der bedeutendsten Künstler der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auch unserer antiken Nymphengestalt zuwendet. Seine Aktrice (Abb.59), eine nach rechts auf einer Welle heranwehende Frauengestalt mit langen, offenen Haaren, bezeichnet er als „göttliche[n] Botschafter und mythische[n] Mittler zwischen Himmel und Erde“163. Nach Gottlieb Leinz164 möchte Joseph Beuys diesen und anderen vergleichbaren Figuren ein bestimmendes, heroisches Auftreten mitgeben: „Als Naturgöttin … tituliert Beuys diesen Typus der Sturmgöttin auch als Diana.“ Abb.59: Joseph Beuys, Aktrice, Öl auf Papier, 1961 Abb.60: Pipilotti Rist, Ever is Over All, Video-Still, 1997 Die Mänade als Nympha-Gestalt meldet sich auch in einem SlowmotionVideoauftritt bei Pipilotti Rist (geb. 1962) sehr aktuell in Zürich zu Wort: Ever is Over All (Abb.60). Das antike Attribut des Stabes mit Pinienzapfen dient hier einem dunkelhaarigen, lächelnden Mädchen in roten Schuhen und schwingendem blass-blauen Kleid zum Zertrümmern von Scheiben mehrerer am Straßenrand geparkter Autos – nicht aus Versehen, sondern selbstverständlich, wie in Trance, völlig entspannt in der Musik, beschwingt in nahezu tanzender Bewegung vor dem im Hintergrund ablaufenden zweiten Tape, das Blicke in eine sommerliche, unberührte Natur öffnet. Die Aktion befreit sie, gleichzeitig wird ihr die freundliche Zustimmung eines Polizisten zuteil, der sich später als Polizistin herausstellt und ebenso befreit lächelt. Das Mädchen bleibt unbedroht, als Frau völlig emanzipiert. Rist bemüht das verborgene, latent in unserem Gedächtnis ruhende Nympha-Mänaden-Bild mit seiner getriebenen Leidenschaftlichkeit zur Darstellung des einzufordernden Selbstverständnisses 163 164 Glyptothek München: a.a.O., S. 28. Ebd., S. 28. 110 einer Frau, die nicht im Mainstream der Medien „verarbeitet“ ist, die im Gegenteil etwas für sich – ihre Freiheit – zurück gewonnen hat. Für Rist „besteht ein Defizit an Bildern wilder und selbstbewusster Frauen“.165 Abb.61:Witaly Komar & Aleksandr Melamid, Der Ursprung des Sozialistischen Realismus, Öl auf Leinwand, 1982/3 Abb.62: Alberto Abate, Salome (Verso), Öl auf Leinwand, 1992 Die Postmoderne ist reich an dem Nympha-Bildmotiv, wie einmal Witaly Komar (geb. 1943) & Aleksandr Melamid (geb. 1946) mit Der Ursprung des Sozialistischen Realismus (Abb.61) oder zum anderen Alberto Abate (geb. 1946) mit Salome (Abb.62) bestätigen. Fast wie bei Jean-Auguste-Dominique Ingres kost die Muse den Diktator, um dabei jetzt den offiziellen Stalin-Kult als Kitsch zu demaskieren und der Ironie des Künstlers auf dem Wege in die Perestroika freien Lauf zu lassen.166 – Als eine der ersten vollziehen die italienischen Transavantgardisten den Schritt in die Postmoderne. Dazu zählen u.a. Carlo Maria Mariani (geb. 1932) und Abate, die im Rückgriff auf antike Mythenbilder, christlich-mythologische Akteure und Aktionen, kulturgeschichtliche Ereignisse verschiedener Epochen oder durch ,Aneignung’ bereits bekannter bildlicher Vorläufer mit überlieferter Sinnstruktur ihre eigene subjektive Formulierung suchen. In diesem Zusammenhang nutzt Abate im Stile des geheimnisträchtigen Symbolismus für seine tanzende Salome das Nympha-Motiv. Erotisch dominierend und in ihrer – derart figürlich stilistisch anachronistischen – Vollkommenheit wie eine Trotzaktion auf die zeitgenössische Kunst daher schwebend, wird sie trotz der eingebauten Provokation bei manchen Beobachtern in die Nähe neoklassischen Kitsches geraten.167 165 Rist, Pipilotti im Gespräch mit Christoph Doswald. In: Kunstforum International, Bd. 135 (Okt. 1996 – Jan. 1997), Ruppichteroth, 1997, S. 206 – 212, hier: S. 211. 166 Die Szene erinnert stark an das Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres Zeus und Thetis: Zeus in der Pose der Unerschütterlichkeit der herrschenden Klasse, Thetis als Nymphen-Schlange, deren Verführungsmacht sich allerdings an der Obrigkeit brechen soll. Nympha zeigt bei Ingres und bei Komar & Melamid ihre verführerisch-gefährliche Seite, bei letzteren demonstrativ mit Ironie gespickt. 167 Die hier als neoklassizistisch bezeichnete Variante der postmodernen Bewegung in Italien wird wegen ihrer emblemhaften Chiffrierung als Arte Cifra, manchmal auch als Arte Colta bezeichnet. 111 Die Nymphen-Geschichte wird nicht enden: Nympha schwebte schon mänadengleich als Friedrich Drakes Siegesengel über Berlin (Abb.63) und als Rolls Royce-Kühlerfigur „Emily“ (Abb.64) durch unsere Straßen. Es fällt schließlich nicht schwer, sie in vielen der aktuellen Werbebilder als Produkt-Mythen unterstützende junge erotische Frau mit wehendem Haar und Gewand wieder zu erkennen – wie ehemals für Dionysos oder Diana, nunmehr als Lastenträgerin für Underberg (Abb.65) oder Chanel (Abb.66). Abb.63: Siegessäule, Berlin, 1873 Abb.65: Underberg, 2002 Abb.64: Emily, Rolls Royce, seit 1911 Abb.66: Chanel, 2004 Wenn wir nach dieser immer noch bescheidenen Auswahl der Beispiele aus einer nahezu unendlichen Nympha-Geschichte ein Resümee ziehen, so fällt als erstes die große Spannbreite der Verwandlungsmöglichkeiten dieser Erscheinung durch alle geschichtlichen Phasen hindurch ins Auge. Die Vielzahl der Möglichkeiten zur Interpretation eines solchen Phänomens ruft die Frage auf den Plan, ob es sich tatsächlich um ein und dasselbe gehandelt hat, oder anders formuliert, ob es sich bei all diesen Ausdrucksformen um Abbildungen von etwas Authentischem, einem unverwechselbaren Mythen-Kern oder nur um die künstliche Versammlung voneinander unabhängiger Typologien gedreht hat. Allerdings möchten wir uns hier an Aby Warburgs Vermächtnis halten, um sehr wohl einen solchen originären, singulären 112 Mythen-Kern einer Nympha – doppelt verstanden als Schöne und als schöne Siegende – zu lokalisieren und nach allen zitierten Beispielen in ihr eine der griechischen Vorstellungswelt entnommene schöne junge Frau, natur- und sinnesbezogen, Geschlechter in Spannung haltend und selbstbewusst auftretend, zu erkennen. In Erinnerung an Roland Barthes’ Mythenschema verbinden sich das Weibliche (Bedeutendes/Signifikant) mit jugendlicher, freizügiger, sinnesbetonter Schönheit (Bedeutetes/Signifikat) zu dem „Zeichen“ der herausfordernd schönen, sinnesfreudigen, jungen Frau, die den antiken Nymphen in nichts nachsteht, die Dionysos oder Diana umgeben haben. Auf diese Weise ist der Mythos-Ursprungsstoff, das Nymphische definiert, dessen Substanz in der überlieferten Geschichte begründet ist.168 Diesem „Zeichen“ werden nunmehr im Transformationsprozess neue Signifikate (Bedeutete) hinzugefügt – und die jeweils aktuelle Nympha entsteht. Dieses gegenwärtige, aktuelle Signifikat enthält alternativ alle Gradierungen des Erotischen und der Verführung, der Sinnesfreude, der teilnehmenden Natur, des göttlichen Status von Überlegenheit und Sieg, des ideologischen Voyeurismus, der Satire und erklärt sich damit als bedeuteter Schlüssel für die Transformation auf die zweite Ebene.169 Dabei ist es nur zu verständlich, wenn eine tatsächlich vorhandene aktuelle Wunsch-Werte-Konstellation bestätigt (oder insgeheim in Frage gestellt) wird. Nymphen und Mänaden schaffen dem Mythos lebensnahe Spannung – selbst wenn das in der NS-Periode propagandistisch im erstarrten Klischee endet. Sie waren zwar nie die Hauptsache eines antiken Mythos selbst, sie waren und sind aber stets mythenstützende, schmachtende, quirlige, lebensbejahende, erotische, siegfördernde, voyeuristische Zusatzelemente; sie waren und sind der „added value“ des Mythoskerns à la Dionysos oder Diana: als Begehrende oder Begehrte. Selbst mythologische Zeichen darstellend, helfen die Nymphen in der Werbung das Produkt zum Warenfetisch zu transformieren. Bevor wir jedoch unsere Schlussfolgerungen aus diesem Umwandlungsgeschehen vervollständigen, sollten wir die zweite Transformationsfolge beleuchten. 168 Vgl. hierzu: Lévi-Strauss, Claude G. (1967): a.a.O., S. 231: „Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder in der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird. Der Mythos ist … eine Sprache, die auf einem sehr hohen Niveau arbeitet, wo der Sinn … sich vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag.“ 169 Nach strenger Barthes-Auslegung wäre diese zweite Formationsebene bereits die dritte Schicht; denn der Ursprungsmythos (Nympha) besteht an sich bereits aus 2 „Sprachen“: Frau + Schönheit = schöne Frau (1) + sinnesfreudige Dionysos-Begleiterin = Nympha (2), zu der im Transformationsprozess das weitere Signifikat (zum Beispiel Victoria oder ideologisch definierte Weiblichkeit) addiert wird. 113 1.2. Die Medusa Kommen wir also zu der anderen Beispielkette, die uns die Transformationsvorgänge der Mythen durch die Epochen abermals erhellt, gleichzeitig aber ein Auftauchen in den aktuellen (Werbe-)Medien bisher – z.B. in einer Art „Benetton-Effekt“ – weitgehend verweigert: Wir werfen einen Blick auf Medusa und ihr Haupt. Diese Mythengestalt, die bekannteste aus der Geschwistergruppe der Gorgonen, erlangte ihre Berühmtheit durch ihren schlechten – der Werbebranche nicht so begehrlichen – Ruf; denn das geläufige Mythosbild besagt, dass nicht nur ihre ,Frisur’ ein abweisendes Identitätsprojekt beschreibt, sondern dass darüber hinaus ihr (An-)Blick die Versteinerung ihres Gegenübers zur Folge habe. Wir werden jedoch sehen, dass diese einfache Formel nicht ausreicht, ihren Auftritt durch die abendländischen Kunst-Jahrhunderte zu beschreiben. Ihre schillernde Wandelbarkeit spiegelt sich bereits im Rätselraten über ihr Aussehen 170 wider. Homer erwähnt allein ihren Status als schreckliches Ungeheuer, später – insbesondere bei Ovid – gewinnt große Popularität ihr Werdegang von einer ausgefallenen Schönheit zu einer Schreckensfigur, der auf ihr Schäferstündchen mit Poseidon im Tempel der Athene zurück geht, was diese nicht auf sich beruhen lassen kann und ihr zur Strafe den gruselig hässlichen Kopf mit Schlangenhaaren zuweist. Dies allein aber genügte der strengen Athene noch nicht, sodass sie später die Gelegenheit ergreift, Perseus bei seinem Vorhaben Hilfestellung zu leisten, das Ungeheuer zu enthaupten als Preis für den Verzicht des Königs Polydektes, seine Mutter Danae zu freien. Die Verschachtelung des Perseus- mit dem Medusa-Mythos schafft Raum für zahlreiche, einschlägige mythische Vorstellungsbilder und –welten; denn der Held schafft es ja tatsächlich, die Schreckliche trotz ihres todbringenden Blickes zu köpfen, indem er sein Ziel im Spiegel ortet und Medusa sozusagen als Opfer ihres eigenen bannenden Blickes vernichtet. Er kann sich mit Hilfe seiner Flügelschuhe und seines unsichtbar machenden Helms vor den rachsüchtigen Schwestern der Gorgo in Sicherheit bringen und dabei das Haupt der Medusa, das Gorgoneion, im Sack (Kibisis) versteckt mitnehmen. Dieses Gorgoneion wird er künftig als seine Waffe einsetzen – zum Beispiel bei der Befreiung von Adromeda –, bevor er es seiner Förderin Athene übergibt, die es schließlich an ihr Ziegenfell-Schild (Aigis) heftet und als Apotropäum benutzt. 170 Renate Schlesier verfolgt das Erscheinungsbild durch die antiken Quellen von Homer bis zu den großen Tragödien-Dichtern. Vgl. Schlesier, Renate: Medusa oder: La belle différence. In: Kamper, Dietmar; Wulf, Christoph (Hg.): Der Schein des Schönen, Steidl, Göttingen 1989, S. 128 – 153. 114 Zahlreiche interpretierende Beiträge haben dieses breite Spektrum mythischen Materials und seine jeweils aktuell bedingten künstlerischen Darstellungen ausgeleuchtet171, sodass wir uns hier auf einige markante Positionen beschränken wollen. Klaus Heinrich hebt als erste Etappe der Medusendarstellung den geografischkultischen Zusammenhang hervor172. Abgeleitet aus den Muttergottheit-Verehrungen, die in Nordafrika beheimatet sind, erscheinen maskenhafte Kultdarstellungen; eine der bekanntesten ist die Selinunter Metope Perseus köpft die Medusa (Abb.67), auf der der Held die Gorgo köpft, die bereits ihre beiden Kinder Pegasus und Chrysaor schützend in den Armen hält, obwohl diese doch erst nach der Enthauptung ihrem Hals entspringen sollen: Eine Verdrehung von Abfolgen, die die Kopfdarstellung als Maske entlarvt. Der offensichtliche Kultcharakter wird noch zusätzlich durch die Frontalansichten der drei dargestellten Personen – Medusa, Perseus und Athene – unterstrichen. Durch die VejiMedusa (Abb.68) aus etwa dem gleichen Zeitabschnitt wird die maskenhafte Kulterscheinung im Sinne von Abwehrzauberkräften nochmals besonders deutlich. Abb.67: Perseus köpft die Medusa, Selinunter Metope, Mitte 6. Jahrh. v.Chr. Abb.68: Gorgoneion, Tempel Antefix, Veji, Mitte 6. Jahrh. v.Chr. Ebenfalls in dieser Periode offenbart sich eine andere Qualität der künstlerischen Formgebung: Auf dem Dinos des Gorgonenmalers (Abb.69) tritt das Narrative des Mythos hervor, wenn wir erleben, wie nach der Enthauptung der Medusa die Schreckensschwestern den flüchtenden Perseus zu packen suchen. Der Kultcharakter der Darstellung ist hier einer Szenenbeschreibung gewichen. 171 Vgl. in diesem Zusammenhang besonders die Hinweise in: Lücke, Hans-K. und Susanne, a.a.O., S. 539 – 552. Oder Schesier, Renate: Medusa oder: La belle différence, a.a.O., S. 128 – 153. 172 Heinrich, Klaus: Das Floß der Medusa. In: Schlesier, Renate (Hg.): Faszination des Mythos, Frankfurt/M. 1985, S. 335 – 398, hier S. 345. 115 Abb.69: Gorgonenmaler. Dinos E 874 Perseus flieht vor den Gorgonen, Anf. 6. Jahrh. v.Chr. Abb.70: Medusa Rondanini, ca. 440 v.Chr. Neben maskenhaftem und narrativem Schrecken entdecken wir ferner auch die sagenhafte ursprüngliche Schönheit der Medusa. Sie wird uns zum Beispiel durch die Rondanini-Medusa (Abb.70) vermittelt, der Kopie eines Medusenhauptes, das auf ein Parthenon-Original zurückgeht. Eine in sich gekehrte, schöne, melancholisch blickende Mänade mit wolligem Kopfschmuck und angesetzten Flügelchen taucht neben dem Schrecken erregenden Schlangenkopf jetzt in der klassischen Periode der Hellenen auf. Abb.71: Duris, Athena, Jason und der Drache, Schale/Innenbild, Detail, 480 v.Chr. Abb.72: Pheidias, Athena Lemnia, Marmorreplik einer Bronzestatue, Detail, ca. 450 v.Chr. Dieser Wandel im Erscheinungsbild – zurück zur originären Schönheitsvorstellung der Mythengestalt – vollzieht sich auf dem Wege von der Frühen zur Hohen Klassik, wie ein kleiner Vergleich des jeweiligen Schutzkleidungsstücks der Athena bei dem Schalenmaler Duris und der Athena Lemnia bei Pheidias zeigt (Abb.71 und Abb.72); jedoch bleibt der unwiderstehliche, Überlegenheit verschaffende (An-)Blick als Kernmerkmal des Gorgoneions – abstrahiert von allen schlangenartigen Schrecklichkeiten – auf Athenas Aigis erhalten. 116 Selbstverständlich lässt die Renaissance die Vielschichtigkeit der Medusa/PerseusMythen nicht außer Acht. Ein viel bemühtes, treffendes Beispiel aus dieser Periode des erwachenden Auslebens weltlicher Fürstenmacht gegenüber Kirche und Bürgern, ist Benvenuto Cellinis (1500 – 1571) Perseus, den dieser im Auftrag des Medici-Herzogs Cosimo I. erstellt (Abb.73). Abb.73: Benvenuto Cellini, Perseus, Bronzegruppe, Detail, 1545 - 1554 Der Held wird jetzt von der Obrigkeit zur bestimmenden Figur der Plastik gewählt, weil er wegen seiner unnachahmlichen Erfolge über Medusa, über den die Adromeda bedrohenden Meeresdrachen und über die Verschwörung des Phineus mit Hilfe des Gorgoneions als Symbol für zu feiernde Siege und Triumphe bestens geeignet ist. Auf Cellinis Sockel in der florentinischen Loggia dei Lanzi aber steht kein Schlachten erprobter, zum Kampf entschlossener Herrscher, vielmehr erkennen wir einen nahezu in sich gekehrten, melancholischen Athleten mit einem ebenso schönen wie gleichfalls melancholischen Medusen-Haupt an erhobener Hand, zu dem die stolze Beinhaltung auf dem gewundenen Medusen-Körper so gar nicht passt. Klaus Heinrich weist in diesem Zusammenhang darauf hin173, dass Cellini durch diese duale Substanz der Darstellung seine (fast) ohnmächtige Auflehnung gegen den Auftrag zur Siegespose zum Ausdruck bringt. Es ist seine artistische Art des Aufbegehrens gegen die aktuelle politische Vereinnahmung des Perseus. – Es ist wohl nicht unberechtigt, dass man einen besonderen Akzent der Interpretation zu Cellinis Perseus auf den eindringlich schwermütigen Ausdruck beider – Perseus’ und Medusas – legt. Wenn auch auf Anhieb Cellini kraft seines exponierten Lebenswandels zwischen höchster Anerkennung und Gewalttätigkeit den Betrachter nicht auf die Fährte setzt, mit diesem Standbild die 173 Heinrich, Klaus: Das Floß der Medusa. In: Schlesier, Renate (Hg): a.a.O., S. 335 – 398, hier: S. 355 ff. 117 Melancholie als solche beschreiben oder gar verklären zu wollen, so bietet doch der Perseus in dieser Form – wenigstens heutzutage – einen derartigen Anlass. Kann doch Melancholie auch die Tore zur Nachdenklichkeit öffnen, was auch Siegern à la Medici manchmal gut zu Gesicht stehen würde! Erneut sind die Beispiele der Medusen-Reflektion sehr zahlreich im Barock. Peter Paul Rubens (1577 – 1640) in Flandern oder Caravaggio (1571 – 1610) in Italien gestalten ihren „Medusa-Barock“, indem sie den idealistischen Schönheitsbegriff der Renaissance im Antlitz der Medusa aufnehmen, aber gleichzeitig ihren Kopf mit Grauen umzingeln – in einer Radikalisierung des Naturalismus (Abb.74 und 75). Hier erstarrt Medusa gleichsam in erster Linie vor sich selbst, der Furcht erregende Effekt auf das Gegenüber bleibt unsichtbar, ist aber sicherlich durch die dynamischen Übersteigerungen bei beiden Künstlern gewünscht und erreicht. Es wird trotz allem dargestellten, hässlichen Grauen kein mythischer Abwehrzauber, vergleichbar den archaischen Gruselmasken, erzeugt, die Schlangen könnten vielmehr den Kopf, der doch seinerzeit abschreckenden Schutz gewähren sollte, in Kürze beseitigen. Der Schrecken an sich wird personifiziert, er wird in einer allegorischen Darstellung vorgeführt. Das Mythosbild der Medusa wird für das Subjektiv-Erlebbare zurechtgerückt, das unser Innerstes berühren soll – bei Caravaggio unterlegt mit einem Aufschrei aus weit geöffnetem Mund, tief liegenden Augen mit starrem Blick und aus dem Halse strömendem Blut. Abb.74: Peter Paul Rubens, Das Haupt der Medusa, Öl auf Leinwand, um 1618 Abb.75: Caravaggio, Medusen-Haupt, Öl auf einem eigens dafür gefertigten, mit Leder bezogenem (Parade-)Schild, 1595 - 1600 Im Falle Caravaggios ist der Gedanke interessant, dass es sich bei der Abbildung – ein Auftrag des Kardinals Del Monte für den Großherzog Fernando de’ Medici – um eine Selbstdarstellung des Künstlers handeln könnte. Für die Selbstdarstellung sprechen 118 verschiedene Gründe: Caravaggio steht damit durchaus in der Tradition Michelangelos (im Jüngsten Gericht hält Bartholomäus die abgezogene Haut mit dem Antlitz des Künstlers) oder Albrecht Dürers mit dessen leidenden Selbstbildnissen; nach allgemeiner Einschätzung handelt es sich bei der Medusa ferner um ein Knabengesicht; schließlich entstehen Selbstbildnisse in der Zeit ohne fotografische Möglichkeiten vor einem Spiegel, in dem allein – also indirekt, wie wir gesehen haben – Medusas Anblick zu ertragen ist; und Eberhard König fügt hinzu: „Das eigene Sein als das eigentlich Entsetzliche zu erkennen, liegt durchaus in der Reichweite eines Künstlers, dessen Lebensweg wie bei Caravaggio durch Ausbrüche von Gewalt und Anmaßung gekennzeichnet ist“.174 Abb.76: Filippo und Francesco Negroli, Paradeschild Karls V., 1541 Abb.77: François Girardon, Ludwig XIV. zu Pferde, Bronze, um 1690 Auch die Mächtigsten der Mächtigen bedienen sich des Medusa-Bildes: In Abb.76 sehen wir die Gorgo erneut in der Tradition der Abwehrschutz Gewährenden auf einem Paradeschild Kaiser Karls V. Etwa 150 Jahre später, im klassischen Barock Frankreichs, wird die Schreckliche dagegen als Besiegte festgehalten: François Girardon (1628 – 1715) erstellt sein Bronze-Standbild Ludwig XIV. zu Pferde (Abb.77). Der strahlende Sonnenkönig hat nicht nur inneren Widerstand in Frankreich gebrochen und große Teile Europas besiegt, sondern im Stile eines römischen Kaisers triumphiert er auch über Medusa: Der linke Hinterhuf seines Pferdes tritt gerade majestätisch das bereits am Boden liegende, Schlangen gerahmte Gorgoneion nieder (leider gibt das Foto nur einen flüchtigen Eindruck des Medusa-Kopfes wieder). Girardon allegorisiert in diesem Bild den absoluten Machtanspruch seines Herrn unter Inanspruchnahme des Schatzes des antiken Vorbildes. Ludwigs Machtentfaltung wird rational durch die Verdrehung des ursprünglichen Mythenbildes abgesichert, Medusa gewährt weder Schutz noch hat sie versteinernde Energien, sie ist selber das unterlegene Opfer. 174 König, Eberhard: Michelangelo Merisi da Caravaggio 1571 – 1610, Könemann, Köln 1977, S. 8. 119 Abb.78: Théodore Géricault, Floß der Medusa, Öl auf Leinwand, 1819 Beim Sprung in die Romantik begegnen wir Théodore Géricault (1791 – 1824) – ebenfalls in Frankreich – und seinem viel besprochenen Floß der Medusa, benannt nach der tatsächlich im Juli 1816 untergegangenen französischen Fregatte „Medusa“ (Abb.78)175. Das Medusische erhält jetzt erneut eine abgewandelte Qualität: 150 Matrosen und Offiziere können sich nach der Strandung der Fregatte auf ein Floß retten, von denen nach schrecklichen kannibalischen Überlebenskämpfen nur 15 gerettet werden. Einer davon sitzt auf dem Floß dort, wo man den Steuermann am Ruder vermuten würde, in gebeugter Haltung, den Kopf in eine Hand gestützt und mit der anderen einen Toten festhaltend, auf jener Seite des Floßes, welche Tod und Hoffnungslosigkeit wiedergibt. Der Kopf lässt sich als Paraphrase des Medusen-Haupts mit seinem schlangenartigen Haargewirr unter dem Tuch und dem melancholisch in sich gekehrten Gesichtsausdruck identifizieren. Der Mann starrt ohne Hoffnung und in Ausweglosigkeit auf das ihn umgebende Schreckensszenario. Das Erscheinungsbild dieses Schiffbrüchigen ist zwar der Medusa nachempfunden, dennoch erschreckt nicht er in erster Linie jemanden, sondern er ist der zu Tode Erschrockene. Man kann sich fragen, ob Medusas Bann diesmal auf ein Schiffswrack und ein desolates Floß mit diesem Namen getroffen ist, obwohl realistisch gesehen es sich nicht um Medusas Verantwortlichkeit handeln kann. Der Schiffbruch, die Hoffnungslosigkeit auf Rettung, schließlich der Kannibalismus auf dem Floß – all dies spiegelt sich im erstarrten, medusengleichen Antlitz wider, was auch und vor allem die noch Überlebenden – womöglich sogar wir, die achtlos Gleichgültigen, nicht unmittelbar Betroffenen – mit zu verantworten haben. 175 Man darf vermuten, dass das Schiff vordergründig durchaus nach den Medusenquallen mit ihren langen Fangarmen benannt sein könnte, die allerdings ihrerseits ihren Namen von der antiken Medusa ableiten können. Vgl. auch Klaus Heinrich: Das Floß der Medusa, a.a.O., S. 339. 120 Schließlich wird hier auch noch der Mythos der großen Revolution – getragen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – entmythifiziert, da nur noch ein Bruchteil der auf dem Floß Rettung Suchenden nach einem Schiff Ausschau halten, das sie dann später tatsächlich nach schrecklichen Leiden und mit unvorstellbaren körperlichen und seelischen Verwundungen noch aufnimmt; denn die Ereignisse kulminierten zusätzlich noch dadurch, dass sich die Privilegierten an Bord der Fregatte, nur um ihre eigene Sicherheit bemüht, rechtzeitig auf Rettungsboote abgesetzt hatten und schließlich dann die auf dem Floß Alleingelassenen zu Kannibalen wurden; Géricaults Gemälde wird zu dem politischen Bild nach der Französischen Revolution!176 Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass zwischen Kuba und Florida oder zwischen Afrika und Italien FloßSchicksale immer noch soziale und politische Katastrophen wiederspiegeln, dann wird das Medusa-Floß zu einem „zeitlosen Symbol“177, zu einer Symbiose aus (politischem) Fortschritt und Schrecken. 125 Jahre nach dem Medusa-Untergang sprechen Horkheimer/Adorno vom Rückfall der Aufklärung in den Mythos. Abb.79: Michelangelo, Das jüngste Gericht, Fresko, Detail, 1536 - 41 176 Dieter Bachmann beschreibt ausführlich das Schicksal der Medusa, die am 17.6.1816 die Isle d’Aix nach Saint-Louis im Senegal verließ und am 2.7.1816 vor der mauretanischen Küste auf Grund lief. Das Schiff zerbrach und die 390 Passagiere nach Art der Arche Noah zusammengesetzt – Gouverneur, Soldaten, Ehepaare, Besatzungsmitglieder, die eine neue Kolonie ,besetzen’ sollten – mussten es verlassen. Nachdem Gouverneur, Offiziere und Begleitungen in Rettungsbooten Sicherheit gefunden hatten, suchte der größte Teil – 150 Personen – auf einem schnell zusammengezimmerten Floß (20 x 7 m) Rettung, das von den Booten abgeschleppt werden sollte. Die Verbindungen zwischen dem völlig überladenen Floß und den Booten wurden sehr bald gekappt und das Floß driftete mit der Ebbe ins offene Meer. Nach 14 Tagen wurden 15 geschundene Übriggebliebene nach entsetzlichem Überlebenskampf, der über Meuterei und Mord bis zum Kannibalismus führte, durch die Brigg Argus gesichtet und übernommen, vier davon starben noch nach der Rettung. Der Gouverneur, der die Idee des Floßes gehabt hatte, beglückwünschte die Überlebenden zu ihrer Rettung in Saint-Louis. Ein Jahr später wird der Kapitän statt zum Tode zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, die Regierung verweigert den Floßinsassen Schadensersatz. Vgl. Bachmann, Dieter: The Results of Sinking. In: Memento Metropolis: Kippenberger/Géricault, Andersens Maskinfabrik, Kopenhagen 1996, S. 107 – 127. 177 Ebd., S. 107. 121 Michelangelo (1475 – 1564) gab mit dem Verdammten (Abb.79) und dem sündigen Mitfahrer auf Charons Kahn im Jüngsten Gericht (1536 – 41) fast 300 Jahre früher seinem päpstlichen Auftraggeber bereits eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung solcher Schreckensszenarien: Wie der noch Überlebende auf der Totenseite des Floßes von Géricault stützt hier der Verdammte seinen Kopf mit der Hand, das Antlitz des Höllenqualen Leidenden ist zu Tode erstarrt, diesmal ohne (Schlangen-)Haargekräusel. Angesichts des Höllensturzes verzehren ihn innere Qualen und Verzweiflung. Sein Antlitz tritt schon jetzt bei Michelangelo an die Stelle des Medusenhauptes – erstarrt vor dem selbst verpfuschten Leben, das der Hölle entgegen sieht. – Gegen Ende des 19. Jahrhunderts treffen wir einen völlig anderen Medusenbezug in England an. Edward Burne-Jones (1833 – 1898) erhält 1875 von Arthur J. Balfour, dem späteren englischen Premierminister (1902 – 1905) den Auftrag, den Empfangsraum dessen Londoner Hauses – No. 4 Carlton Gardens – auszugestalten. Aus diesem Anlass entwickelt der Künstler über mehr als 20 Jahre seinen Perseus-Zyklus (inkl. einer umfangreichen Bearbeitung des Medusa-Stoffes), mit dem er sich bereits vorher auseinandergesetzt hatte. Er greift dabei direkt auf ,Erzählweisen’ zurück, wie wir sie bereits in der griechischen Vasenmalerei (vgl. Abb. 69) kennengelernt haben: In dem von uns hier wiedergegebenen Kompositions-Entwurf zum Tod der Medusa II (Perseus von den Gorgonen verfolgt, Abb.80) hat Perseus die Medusa bereits enthauptet, ihre Schwestern beginnen mit ihren schwingenden Flügeln die unkontrollierte Verfolgung, ohne den behelmten, unsichtbaren Helden genau ausmachen zu können; dieser birgt den Medusen-Kopf in seinem Beutel und macht sich auf, mit Hilfe seiner Flügelschuhe übers Meer zu fliehen. Die mythische Szene bestätigt dabei die Erinnerungen an den christlichen Ritterhelden St. Georg, der ebenfalls den Drachenkampf besteht und die Prinzessin befreit; bei Burne-Jones vermischen sich antik-mythische und christlichreligiöse Vorstellungen und bieten dem Hause Balfour entsprechende Repräsentation.178 Der Künstler strebt nach eigenen Worten mit dem Bild keine Nachahmung der Natur an. Er äußert dazu: „Transcripts from nature …? I prefer her own signature... I mean by a picture a beautiful romantic dream of something that never was, never will be“.179 Kurt Löcher erkennt in dem Perseus-Zyklus als Ganzem den Erlösungsgedanken: Adromeda und eine bedrohte Stadt werden befreit, ebenso ferner der „unrastige Held 178 Der Heilige Georg, verfolgt durch Diokletian, galt über das Mittelalter hinweg als Sieg bringender Glaubensheld und Märtyrer; in ihm als dem Schutzpatron Englands fand der Perseus-Mythos seine Entsprechung. 179 Burne-Jones, Edward; zitiert nach Löcher, Kurt: Der Perseus-Zyklus von Edward Burne-Jones, mit einem Résumé in englischer Sprache, Staatsgalerie Stuttgart, Cantz, Stuttgart 1973, Anm. 33, S. 34/5. 122 selbst“ und sogar „die an ihrer Tod bringenden Gestalt verzweifelnde Medusa“180. In Das Schreckenshaupt (1887) entfremdet Burne-Jones später in der Tat das Medusenhaupt völlig: Die Liebenden Perseus und Adromeda spiegeln sich in einem Brunnen, der einem Taufbecken ähnelt, wobei sie im Wasserspiegel einem in sich ruhenden, ausgeglichenen, erlösten Medusenantlitz begegnen, das statt Schrecken nunmehr Befreiung von allen Qualen und Bedrängnissen ausstrahlt. Dieser Erlösungsaspekt kündigt sich für manchen Beobachter bereits in der (zeichnerisch) ornamentalen Bestimmung unserer Abbildung mit ihren schlanken, jugendlichen, botticellihaften Gorgonen-,Schönheiten’ an, die mit den originalen Schreckensgestalten so gar nichts mehr gemein haben (einer der Gorgonenflügel verdeckt selbst den kopflosen Hals der Medusa) – ganz im Sinne der Dominanz des Narrativ-Repräsentativen. Abb.80: Edward Burne-Jones, Perseus, von den Gorgonen verfolgt, Entwurf, Deckfarbe, Gold und Federzeichnung auf bräunlichem Papier, 1875/6 Abb.81: Max Beckmann, Perseus, Triptychon, Öl auf Leinwand, 1940/41 Schließlich möchten wir noch einige Fälle aus dem 20. Jahrhundert anführen: In seinem grotesk anmutenden, aber scharf pointierten Realismus stellt Max Beckmann (1884 – 1950) im Amsterdamer Exil seinen Perseus auf dem gleichnamigen Triptychon dar (Abb.81). Zwischen holländisch-freizügiger Lebensweise (links) und deutschem Leben hinter Gittern (rechts) scheint in der Mitte der heldenhafte Perseus Adromeda traditionsgemäß von dem Drachen zu befreien, nachdem Medusa bereits besiegt ist. Tatsächlich aber sind beide (Adromeda und der Schlangen-Drache) in höchster Gefahr vor einem Wüterich. Max Beckmann verformt das traditionelle Perseus-Bild: Perseus selbst wird in dieser politischen Metapher mit den Meduseneigenschaften zur tödlichen Versteinerung ausgestattet. Der Künstler politisiert die Mythos-Figur aus aktuellem Anlass zum wahnwitzigen Mythos der blonden Schreckenshelden des Dritten Reiches. 180 Ebd., S. 14. 123 Auch Max Ernst ist von der Medusa inspiriert: Er malt 1953 Coloradeau de Méduse (Abb.82), wobei er für diesen Titel Dada-gemäß ,Colorado’ mit ,radeau’ (Floß) kombiniert. Es ist aus diesem Bild in gar keiner Weise ersichtlich, welcher Bezug zu der schrecklichen Gorgo hier bestehen könnte. Es treffen sich in einem samtroten Wellenberg – von einer vernebelten Sonne beschienen – ein Fisch und eine zur Sphinx verwandelte Meerjungfrau in geradezu friedvoller Absicht in einer Umgebung geheimnisvoller Unsicherheiten, und die Sphinx scheint den Fisch küssen zu wollen. Hier ist einer der vielseitigsten und experimentierfreudigsten Surrealisten am Werk; vielleicht hat ihn der Wellengang von Géricaults Floß inspiriert, zusätzlich bezieht sich der Titel wohl auch auf eine von ihm 1948 im Grand Canyon des Colorado Rivers unternommene Floßreise; die Farbgestaltung der Wellenbewegungen mag an die rostroten Felswände des gewaltigen Flussbettes erinnern. Noch nicht einmal die Medusa selbst, sondern nur ihr Name im Titel des Bildes wird benutzt als Erinnerung und Aufwertung einer spannenden und gefährlichen (touristischen) Flussreise, und doch kann man vermuten, dass Ernst wie Géricault auf traumatisierende Erfahrungen unserer Zivilisationsgeschichte verweisen möchte. Abb.82: Max Ernst, Coloradeau de Méduse, Öl auf Leinwand, 1953 Abb.83: Frank Stella, Raft of the Medusa, PartI, Skulptur, Aluminium und Stahl, 1990 Auch unser nächstes Beispiel erinnert erneut an den französischen Meister, jedoch ist da wieder ein gewaltiger Unterschied, nämlich diesmal zwischen französischer Romantik und amerikanischer Minimal/Konzept-Kunst. 1990 erstellt Frank Stella (geb. 1936) sein Raft of the Medusa, Part I (Abb.83). Wenn Stella nicht selbst gesagt hätte, es ginge ihm allein um das „Ding an sich“181, also um die Form als Form als subjektivem Ausdruck des Unbewussten – im Gegensatz zu den gewöhnlichen Bildervorstellungen 181 Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 78. 124 der vorausgegangenen Pop Art –, dann käme man ohne diesen Titel zunächst wohl kaum auf die Idee, an ein besiegtes, erstarrtes, ehemals hochsensibles Funktionsganzes einer Fregatte zu denken. Jetzt aber steht Medusa Pate bei dieser (de-)konstruktivistischen Abstraktion. Wir erleben die künstlerisch subjektivistische Darstellung eines Apparates im Sinne einer Entkörperlichung des Gegenstandes, ein zunächst antimythisch, abstrakt anmutender Vorgang, der letztlich in eine nihilistische Weltanschauung münden würde, wenn da nicht der Titel der Plastik wäre: Dieser bezeichnet das chaotische Sujet der Darstellung als ,Floß der Medusa’ und verleiht seinem formalen Nichts Charakter und Inhalt über eine mythische Medusa-Substanz, die sowohl erstarren lassen kann, aber auch – wie wir schon gesehen haben – selbst zum Opfer (unserem Opfer?) geworden ist. Sowohl Ernst wie auch Stella, beide greifen nicht direkt auf den Medusen-Stoff zurück, sondern verschieben anspielungsreich den Signifikanten und legen so einen, gleichwohl historisch provozierenden, Link zum Signifikat. Dass die Medusa-Metapher auch in höchst aktuellen künstlerischen Äußerungen präsent bleibt, beweisen unsere letzten beiden Beispiele: Abb.84 a+b: Martin Kippenberger, Selbstbildnisse, Hotelzeichungen zu MedusaSchiffbrüchigen, 1996 Aus der großen Schaffensfülle Martin Kippenbergers, dem zahlreiche Kritiker allerdings Neigung zu Profanierung oder zu „strategischem Dilettantismus“182 bescheinigen, fallen in unserem Zusammenhang vor allem seine Selbstdarstellungen auf, die er u.a. während seiner zahlreichen Reisen auf Hotelpapier anfertigt. Geradezu willkürlich nimmt er bei jeder Gelegenheit Anregungen auf, wie z.B. 1996 kurz vor seinem Tode die Idee dänischer Kuratoren, in den Kopenhagener Aufbau seiner durchrationalisierten, entmythifizierenden Büro-Landschaft The Happy End of Franz 182 Schappert, Roland: Martin Kippenberger, Die Organisationen des Scheiterns, König, Köln 1998, S. 60. 125 Kafka’s ,Amerika’ ein Abbild von Géricaults Floß der Medusa zu integrieren. Kippenberger nahm diesen Gedanken direkt auf, ließ sich von seiner Frau Elfie Semotan in den Stellungen von Géricaults Floß-Protagonisten fotografieren, um davon Zeichnungen und Gemälde anzufertigen. Auf Abb.84 a+b können wir zwei dieser Gestalten (den Mann mit dem Medusen-Haupt, den Toten an der Floßkante) von der linken todgeweihten Seite des Géricault-Floßes erkennen. Für Rudolf Schmitz „figuriert [Kippenberger hier] als der Gesamtschiffbrüchige schlechthin“183 und nimmt damit über die Position der Selbstdarstellung hinaus jene allgemeine, neue medusische Qualität tragischen Leidens ein. Dennoch sollten wir bei Kippenberger die nötige Vorsicht walten lassen, denn die rigoros eindringlichen Linienführungen und die Körperhaltungen auf dem Hotelpapier – hingesunken und tot, energielos und ohne Hoffnung – lassen auch Zweifel zu, ob nicht, seiner Vita des DraufLos-Machens entsprechend, das Medusische, obwohl vorhanden, durch Übergehen und Verdrängen des Leidens ausgegrenzt werden könnte oder sich zumindest wie bei Franz Kafkas Held, dem 16-jährigen Karl Rossmann, doch noch die Chance auf einen Neubeginn in der Neuen Welt (Oklahoma) bietet.184 Mit dem eigenen Untergang vor Augen – Kippenberger stirbt kurz nach den medusischen Selbstdarstellungen im März 1997 – verliert sein Ausdruck immer noch nicht diesen persiflierenden Akzent. Abb.85: William Kentridge, Medusa, Anamorphotische Lithografie, 2001 Schließlich möchten wir den Südafrikaner William Kentridge (geb. 1955) erwähnen, der Medusa mit der Tragödie der südafrikanischen Geschichte verbindet. In seiner Medusa-Edition für Parkett (Abb.85) zeichnet er auf sechs verschiedene Seiten aus einer 183 Schmitz, Rudolf: Das unvollendete Happy End. In: Felix, Zdenek, Deichtorhallen Hamburg (Hg): Martin Kippenberger, The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika’, Oktagon, Hamburg 1999, S. 22. 184 Memento Metropolis: a.a.O., S. 101/2. 126 Larousse-Enzyklopädie – einander gegenüber liegend – ein (anamorphotisch) verzerrtes Medusenhaupt mit langem, wirrem Haar und einen Wasserträger unter schwerer Last in gebeugter Haltung. Ein zentral darauf gestellter Spiegelglanz-Zylinder entzerrt die Kohlezeichnung, sodass auf der einen Seite des Zylinders Medusa und auf der anderen der Wasserträger – nunmehr ein zweites Mal – in aller Schärfe und Klarheit sichtbar werden. Erst auf dem Umweg über den Spiegel, d.h. letztlich über den Weg eines beschwerlichen Erkennungsprozesses wird die unterschwellige Realität sichtbar:185 Trotz des enorm großen, detaillierten und verbreiteten Wissens der Menschen – wie durch den Enzyklopädie-Auszug vergegenwärtigt – ist die durch den Menschen selbst verursachte medusische Schreckenstragödie existent, wenn nicht unvermeidbar. Über die Kabelverdrahtungen mit dem Schreckenssymbol verbunden ist der gebeutelte Wasserträger, zugleich Helfershelfer und zurück gebliebener Leidtragender – ein melancholischer Verweis auf die jahrtausendlange, vergeblich schreckensfreie Menschwerdung. Die Dramatik von Apartheid, Aids und Tod – zunächst indirekt in der Zeichnung angedeutet und damit auch auf unsere Verdrängungspraktiken vor der täglichen Überhäufung mit Schreckensnachrichten anspielend – wird brennpunktartig durch den vorgehaltenen Spiegel gegenwärtig gemacht. Medusa wird gewissermaßen über Südafrika hinaus zur Anklägerin der durch die Gesellschaft verursachten Verbrechen. Welch ein Rollentausch der Medusa! Fassen wir zusammen: Auf der Suche nach dem bestimmenden Mythenkern bzw. dem größtmöglichen Nenner für diese Vielzahl der mythisch bestimmten Positionen identifizieren wir letztlich den originären Medusa-Blick: Ob aus einer hässlichen, Schlangen umwobenen Fratze, ob aus einem erregenden melancholischen Antlitz heraus, immer ist da ein fesselnder, bestechender Bann, der erstarren lässt. Im Einzelnen: - Medusa ist begehrlich schön, bevor Athene sie bestraft (Mythostradition I – Rondanini). - Medusa ist grausam hässlich, sie starrt uns mit dem todbringenden versteinernden Blick an (Mythostradition II: Gorgoneion, z. B. Veji), Daraus entwickeln sich (a) kultorientierte Maskendarstellungen und deren Abwehrzauber sowie (b) ,nacherzählende’ Abbildungen. 185 Die optische Verzerrung als Spiegel-Anamorphose tritt vor allem seit Anfang des 17. Jahrhunderts in Erscheinung. „Il ne s’agit plus de la vision directe mais d’une image réfléchie“, gleichsam ein Bilderrrätsel, das von der Mischung wissenschaftlicher Komponenten (Mechanik) sowie poetischen oder sozialen Anliegen lebt. Vgl. Baltrušaitis, Jurgis: Anamorphoses, les perspectives dépravées, Flammarion, Paris 1984, S. 5. 127 - Das Gorgoneion selbst wird zur Personifizierung des Schreckens an sich (Rubens) und erlangt im Zuge von künstlerischer Selbstdarstellung eine humane Daseinsform (Caravaggio). - U.a. über die Verschachtelung mit einem weiteren Mythos, dem des Perseus, erfolgt Medusas Politisierung (Cellini/Beckmann). Dabei kann sie sowohl (a) das Besiegte darstellen sowie (b) auch durch Perseus politischen Schrecken verbreiten. – Das Melancholische kann Ziel der Betrachtung sein. - Der Medusenkopf in seiner Erstarrung wird selbst Kriterium der Opfersituation; der Ursprung des Grauens ist eine andere Medusa: wir? (Géricault). - Der medusische Schrecken entwickelt sich zu einer allgemein medusischen Qualität (Ernst, Stella, Kentridge). Den modernen Künstlern reicht es nicht mehr, dass sie selbst wie Caravaggio den Schrecken tragen, bei ihnen wird der medusische Schrecken auf uns alle, die Gesellschaft, übertragen. Versuche, auch nach dem Holocaust nicht in Schweigen zu erstarren. Damit können erneut – wie bei Nympha – der Verwandlungscharakter über alle Epochen hinweg und die zu Grunde liegende Doppelkodierung des Mythos mit der ausdrücklichen (gewollten) ,Bedeutsamkeit’ der zweiten Sinnebene im Kunstgebrauch als nachgewiesen gelten. Allerdings haben wir bei Nympha mittels ihrer Transformationsgeschichte eine jeweilige Aktualität festgestellt, die Hand in Hand mit einem hohen Grad an Verallgemeinerung, beliebiger Einsatzfähigkeit, ja mit einer gewissen Unbestimmtheitsrelation einhergeht. Die Gesamtheit des Nympha-Mythos ist von derart großer Breite und Allgemeinheit, dass sie mit allen aktuellen Situationen fertig wird, das heißt quasi alles legitimiert, was mit „sinnlicher junger Frau“ und Geschlechterspannung in Beziehung gesetzt werden kann. Das ist eine Sinnverbreiterung, Sinnentleerung oder Sinnentfremdung, die nun bei Nympha leichter vonstatten zu gehen scheint als bei Medusa, obwohl bei dieser oft genug Perseus als Transformationsstimulator zusätzlich eingesetzt wird. Dieser unser Eindruck dürfte sich bei der Frage nach dem ,Warum’ einer solchen Differenz bestätigen: Mit Franz Schupp186 teilen wir die Ansicht, dass Art und Umfang der Mythen-Transformation und der diese tragenden, kollektiv rezeptierfähigen ,Bedeutsamkeit’ eine Funktion der korrelierenden Gesellschaftsbedingungen sind. Bei den formbezogenen Mythos-Funktionen hatten wir bereits auf diese kreative Wechselbeziehung von Mythos und Gesellschaft sowie die entsprechenden mythischen Transformationseigenschaften verwiesen: Gerade 186 Schupp, Franz: Mythos und Religion, Der Spielraum der Ordnung. In: Poser, Hans: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquim, de Gruyter, Berlin, New York 1979, S. 69. 128 Nympha hat es da heute einfacher – ähnlich wie in antiker Natur – als strahlende weibliche Jugendlichkeit, zum Siegen und Hingeben gleichermaßen bereit, die aktuelle Erlebnisgesellschaft zu repräsentieren. Sie hat es einfacher als Medusa, die zum Symbol der Apokalypse geworden ist, also jenes totalen Schreckenmoments, das in seiner Radikalität des Furchtbaren und den fundamentalen Gefahren unserer Zeit kaum noch Hoffnung auf einen Neuanfang übrig lässt (Géricault). Medusa zeigt uns im Vergleich zu Nympha auch Grenzlinien der Transformation eines Mythos – selbst wenn wir uns nochmals die Erhöhung bzw. Verdoppelung mythischer Substanz im Zusammenfügen der allseits bekannten Mythen-Eigentümer Medusa und Perseus vor Augen führen oder an die fundamentale Verlagerung des Schreckens denken. Die Nympha ist – instrumentalisiert – weitgehend in die (Werbe-)Affirmation abgewandert. Die GorgoMedusa behauptet über subtile Verschiebungen hinweg ephemer ihren Platz in der aufklärenden Kunstkritik.187 Im nächsten Abschnitt, in dem wir Mythen in vertiefender Betrachtung mit einzelnen Künstlern aufschlüsseln wollen, werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht – zuweilen unentdeckt und allein gelassen oder in der dialogischen KunstwerkProduktion zwischen Künstler und Rezipient kaum erkannt – weitere (Medusa-) Qualitäten unseres Zusammenlebens (abstrakt oder figurativ) neben den Erscheinungen der Spaßgesellschaft im Kunstauftritt zu orten sind. 2. Der Mythos und einzelne Künstler Ein weiterer Weg, dem Mythos in der Kunst auf die Spur zu kommen, scheint uns darin zu liegen, jene Fährten intensiver zu verfolgen, die der einzelne Künstler selbst hinterlassen hat. Aus der schier endlosen Auswahl, die uns die Kunstgeschichte offeriert, haben wir einige Marksteine aus dem letzten Jahrhundert selektiert, die nicht nur aus dieser vertiefenden Sicht Vielfalt der Verwendung und Breite der Schaffung mythischer Substanz in charakteristischer (bestimmender) Weise weiter offen legen, sondern auch ihre Aktualität – parallel zu den Werbemythen – nachweisen. Wir wagen es in diesem Zusammenhang, paarweise Künstler miteinander zu konfrontieren, um dabei die unterschiedlichen Konzepte und Annäherungen in vergleichender Form voneinander abgrenzen und erhellen zu können. 187 Sollte es in diesem Zusammenhang ein Zufall sein, dass Medusa ihren hintergründigen Platz in der doppelbödigen Strategie der Entzauberung des Werbemythos eines Oliviero Toscani findet, wenn dessen Schocks, die scheinbar zynisch-lasziv Werbung und kulturellen Schrecken derart zusammenbinden, dass die Betrachter – moralisch abwehrend –in einem ohnmächtigen Abwehrzauber erstarren, weil der aufklärerische Stachel doch sitzt (vgl. Kap. V a 2.)? 129 2.1. Picasso und Duchamp Zwei der markantesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – Pablo Picasso (1881 – 1973) und Marcel Duchamp (1887 – 1968) – haben nahezu zeitgleich gelebt und gewirkt. Ihr jeweils erster nachhaltiger Auftritt auf der Bühne der Kunstöffentlichkeit erfolgt dann auch – sozusagen naturgemäß – in den letzten zehn Jahren vor dem 1. Weltkrieg, in jenen Jahren der Tabubrüche (s.o.: Freud). Während die großen Nationen und ihre Gesellschaften in Europa den furchtbarsten aller Kriege und dem Holocaust entgegendämmerten, waren die Künstler auf der Suche nach Erneuerungen und Umgestaltungen. Überall in Europa gelangten neue Gesetzlichkeiten in der Kunst zum Durchbruch, woran die großen Ausstellungen in Köln (1912) und New York (1913)188 erheblichen Anteil hatten – ihrerseits mediale Wegbereiter eines neuen Öffentlichkeitsbewusstseins für Kunst. Lautstarke erste Paukenschläge der Auftritte dieser beiden Künstler sind die Demoiselles d’Avignon (1907) und der Nu descendant un escalier / Akt, eine Treppe hinabsteigend (1912); ihnen sollten viele folgen. Beide Künstler werden als Antipoden charakterisiert. Dies liegt nicht allein an ihren unterschiedlichen Arbeitsmethoden: Picasso in unermüdlicher, grenzenloser schöpferischer Tätigkeit als Maler, Bildhauer, Zeichner – stets im Blickpunkt; Duchamp als Maler und intellektueller Nicht-Maler (Nicht-Künstler), z.T. abgetaucht mitsamt seinen Schachfiguren. Auch ihre gegenseitige „Wertschätzung“ lässt aufhorchen, ohne dass hierzu eine weitläufige Quellenforschung nötig wäre: Da war durchaus bei Duchamp Anerkennung für Picasso, dieser wollte andererseits „nichts mehr von ihm [Duchamp] hören. Er hat die ganze Zeit darauf verwandt, sich grenzenlos über mich lustig zu machen“.189 – Was sagt eine Mythosbetrachtung über das Verhältnis beider aus? 2.1.1. Pablo Picasso Es würde schon verwundern, wenn wir in Picassos gewaltigem Schaffensspektrum nicht auch fündig würden, wenn es um den Mythos geht, und dies ist in doppelter Hinsicht der Fall: Einmal wird seine Bildwelt in hohem Maße durch mythische Bezüge 188 Köln (1912): Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler. New York (1913): International Exibition of Modern Art (‚Armory Show’, benannt nach dem Zeughaus-Ausstellungsgebäude, Lexington Avenue). 189 Picasso, Pablo (1960); zitiert nach Zaunschirm, Thomas: Robert Musil und Marcel Duchamp, Ritter, Klagenfurt 1982, S. 8. – Andererseits schrieb Marcel Duchamp 1943: „Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Picasso und den meisten seiner Zeitgenossen liegt darin, dass er bis heute in einem ununterbrochenen Strom von Meisterwerken nie irgendein Zeichen der Schwäche oder Wiederholung gezeigt hat“ (ebd.). 130 geprägt, zum anderen wird – wie Steingrim Laursen190 es formuliert – eine „geistige Gemeinschaft“ zwischen Künstler und mythischer Substanz erkennbar, die sich unverwechselbar subjektiv-individuell durch sein Werk hindurch zieht. Die Inspirationsfelder für diese beiden (Mythos-)Ansätze sind nachhaltig: Die alten Meister der Antike und Hochkultur in Prado und Louvre oder Die großen Badenden (1900/1906 – heute: National Gallery London) des Wegbereiters der Moderne, Paul Cézanne (1839 – 1906), gehören ebenso dazu wie Postkartenabbildungen ihrer Werke oder Fotografien und sonstiges (z.T. billiges oder verschlissenes) Anschauungsmaterial, vielfach auf Flohmärkten erworben, von Stierkämpfen und besonders von Gebrauchsund Kunstgegenständen der kolonialisierten ‚Naturvölker’; ferner verfolgt ihn das mediterrane Leben – und immer wieder Frauen. Spätestens mit Abschluss der Blauen Periode mit ihren Motiven aus dem menschlichen Alltag, aus Cafés, Circus, Landleben und ihren Porträts wird der künstlerische Widerspruch „gegen alles“, den Picasso für sich in Anspruch nimmt, ab 1905/06 offenbar, als er sich intensiv der mediterranen, iberischen Skulptur und vor allem dem afrikanisch/ozeanischen ,primitiven’ Bildmaterial zuwendet. Die Faszination, die nunmehr in seinen Arbeiten zum Ausdruck kommt, wurzelt zunächst einmal in den mythischen Gestalten dieser exotischen Länder und deren Urwüchsigkeit, Urgewalt, Unbegreiflichkeit. Ein typisches Element ist für ihn dabei die Maske, die Picassos Widerspruchshaltung formal als Deformation – später als kubistische Dekonstruktion – bildhaft werden lässt und die bei ihm – wie im ursprünglichen rituellen Kontext – nicht nur einfach ein Symbol darstellt, sondern eine vervielfältigte, wenn nicht jenseitige Kraft anwesend sein lässt. Neben zahlreichen Studien zu den Demoiselles d’Avignon ist u.a. der Kopf eines Mannes (Abb.86) von 1907 ein gutes Beispiel. Die Nutzung mythischer Bildwelten und die darauf bezogene persönliche Identifikation werden an einem weiteren Schaffensausschnitt deutlich, seiner Zuwendung zur dionysischen Welt der griechisch-römischen Faune, Satyren, Zentauren, Nymphen und Sirenen. Hier bestimmen Fruchtbarkeit, Lüsternheit, Ausgelassenheit, auch Trunkenheit die Szene, die von Tanz und Spiel bis zu (Liebes-) Kampf und Gewalt alles hergibt. Wenn man den Faun mit der gestreiften Badehose (Abb.87) balzen sieht, offenbart sich die Gegenwartskultur am alten mythischen Sujet. 190 Laursen, Steingrim: Zur Austellungsidee. In: Spielmann, Heinz (Hg): AK Picasso und die Mythen, Eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums Hamburg, Hauschild, Bremen 2003, S. 9. 131 Abb.86: Pablo Picasso, Kopf eines Mannes, Gouache und Aquarell, 1907 Abb.87: Pablo Picasso, Zwei Faune und eine Najade, Öl auf Leinwand, 1938 Eine besondere Ausprägung der Mythenorientierung stellt schließlich ein dritter Ausschnitt aus Picassos Gesamtwerk dar: die Minotaurus-Gestalt. Sie erscheint – verwoben mit all jenen Szenen des Bildhauers mit seinem Modell im Atelier – als ein Höhepunkt der Suite Vollard der 30er Jahre.191 Abb.88: Pablo Picasso, Minotaurus über eine Frau gebeugt, Radierung, 1933 Minotaurus, der seine Mensch-Stier-Wesenhaftigkeit dem von Poseidon eingefädelten Liebesakt von Pasiphaë mit seinem von Minos nicht geopferten Opferstier verdankt, wird von Minos in das Knossos-Labyrinth verbannt und dort dann später von 191 Diesen Arbeiten, die mehr umfassen als das Minotaurus-Thema allein, gingen Aufarbeitungen zu Ovids Metamorphosen voraus, die mit ihrem mythologischen Kern der Umgestaltung und Transformation angesprochen wurden. 132 Theseus getötet, dem Ariadne den Weg ins Labyrinth verraten hatte. Diese (Un-)Gestalt erhält Aktualität durch archäologische Ausgrabungen auf Kreta und nimmt für die Surrealisten leitbildhafte Bedeutung an im Sinne der spannungsgeladenen Vielschichtigkeit des Wirklichen.192 Picasso ist von der urwüchsigen Fremdheit dieser Gestalt fasziniert, holt sie aus der antiken Vergangenheit heraus und macht sie sich durch Hinzufügen neuer Bedeutungsebenen für seine Zwecke zunutze; in der Sprache von Roland Barthes schafft er durch das Einbringen neuer Signifikate einen, seinen persönlichen Picasso-Mythos. Dabei handelt es sich um ein Bündel schlüssig aneinander gefügter Signifikate, die den Stiermenschen neu bestimmen: - Das Aktiv-Erotische des Minotaurus bestimmt jetzt sein Wesen, nicht mehr der Stiermensch als Resultat der Leidenschaft wie im Urmythos auf Kreta, - der Minotaurus ist Teil des rituellen Geschehens der Picassoschen Gegenwart im Atelier oder während der Corrida, nicht mehr in Knossos, - ein junges Mädchen führt den bei Picasso erblindeten Minotaurus durch die Nacht, es wird nicht mehr von ihm verschlungen, - der Bildhauer ist fast immer dabei: als Voyeur außerhalb des Bildes, als distanzierter Philosoph mit Sophokles-Attributen oder in aktiver Umarmung, manchmal mit dem Stier-Menschen in eins verwoben (Abb.88), sich mit diesem identifizierend. Über die Formbeschwörung hinaus entsteht ein neuer Mythos, nicht als Normgeber, sondern als individuelles Zeichen eines Gleichzeitigseins von Aggression, archaischer Leidenschaft, Hedonismus einerseits, aber auch distanziertem Gleichmut andererseits (s. Bildhauer). – Picassos späte Frauendarstellungen tragen ebenfalls diese Kennzeichen archaischer Massivität und mythischer Erotik und sind im Grunde singuläre Darstellungen der früheren hier angesprochenen Ausdrucksformen des Mythos. Werner Spies bezeichnet die „zahllosen Revivals, die sich in seinem Werk aufspüren lassen … [als] Ausdruck eines unerhörten kommentierenden Geistes. Eine derartige Fähigkeit, universelle Kenntnis von Geschichte mit der eigenen existenziellen Situation 192 Picasso gestaltet 1933 die Titelseite der ersten Ausgabe des surrealistischen „Minotaure“ – mit dem Minotaurus. Vgl. unten Abb.90. 133 zu verquicken, bleibt auf Picasso beschränkt“.193 Sein berühmtes Guernica zum Beispiel ist 1937 nicht nur eine Anklage gegen die aktuelle Gewaltherrschaft: Unter den zertrümmerten Formen, die den dämonischen kriegerischen Schrecken spiegeln, entdecken wir wieder einmal den Stier – als Opfer oder als Dämon? Aber: Hat sich Picasso nun wirklich, wie er selber ankündigte, „gegen alles“ gerichtet oder ist seine künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Jahrhundert im Wesentlichen doch mehr die Schockwirkung mit den herkömmlichen Mitteln der Malerei? Bei dieser Frage kann uns die Diskussion um Marcel Duchamp weiterhelfen. 2.1.2. Marcel Duchamp Wenn wir Picassos Aufbruch in das letzte Kunstjahrhundert mit der Haltung, sich „gegen alles“ zu stellen, beschreiben, dann fehlen uns bei Duchamp zunächst die Worte, um seinen Auftritt zu charakterisieren. Duchamp beginnt als Zeichner und Maler mit Familienszenen, mit einigen Landschaften, es gibt sogar Hinweise, die eine stilistische Nähe zu Picasso registrieren.194 Um 1911 (Dulzinea, Sonate) beginnt er die Auseinandersetzung mit dem Kubismus, sicherlich auch eine Reaktion auf die stürmische Entwicklung der Fotografie, wie bei Picasso oder Braque, die bei Duchamp aber auch zusätzlich Merkmale für ein naturwissenschaftliches Interesse offenlegt, wenn er im Nu descendant un escalier (1912) vor allem den Bewegungsvorgang chronofotografisch mittels roboterhafter Wiederholungen auseinander nimmt.195 Mit diesem Bild entfacht er einen handfesten Skandal (der ihm allerdings alsbald die Tür zur Neuen Welt öffnen sollte), weil er das komplette Regelwerk der bis dato anerkannten Kunstsprache missachtet. Aber dies ist nur der Anfang seines Widerstandes. Wir müssen hier kurz auf die Readymades und das Große Glas eingehen. 193 Spies, Werner: Picasso, Pastelle, Zeichnungen, Aquarelle, Hatje, Stuttgart 1986, S. 48. Diese Vielzahl der „Revivals“, die Themenwechsel und neuen Beziehungsgeflechte haben allerdings zuweilen auch Picasso-Freunde in Verlegenheit gebracht; so D.-H. Kahnweiler: „Was beunruhigt uns alte PicassoAnhänger? Seine irrlichternde Zielungewissheit.“ Zitiert nach Schneede, U., M.: Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert, Beck, München 2001, S. 108. 194 Lebel, Robert: Duchamp. Von der Entscheidung zur Konzeption, DuMont Schauberg, Köln 1972, S. 13. 195 Es ist bekannt, dass Duchamp durch die chronofotografischen Experimente des französischen Physiologen Etienne-Jules Marey (1830 – 1904) beeinflusst war. Gleichzeitig darf man jedoch diesem Werk auch ideelle Wurzeln im Symbolismus von Edward Burne-Jones nicht absprechen, der mit seinen The Golden Stairs (1872 – 80) eine endlos scheinende Prozession von 18 jungen Frauen, alle von nahezu gleicher Erscheinung, darstellt, die wie in einem aneinander gefügten Kontinuum eine Wendeltreppe herabsteigen; „The scene ist hypnotic and mysterious“, vgl. Ades, Dawn; Cox, Neil; Hopkins, David: Marcel Duchamp, Thames and Hudson, London 1999, S. 48. 134 Aus der Masse handelsüblicher, industrieller Gebrauchsgegenstände wählt Duchamp einzelne Objekte aus, fügt ihnen z.T. gewisse, geringfügig erscheinende Veränderungen zu und stellt sie dann unter der Bezeichnung Readymades in einen neuen Kontext: entweder öffentlich oder häufiger noch einfach nur in sein Atelier. So montiert er z. B. bei seinem Roue de bicyclette (1913/1964) das Rad eines Fahrrades mit umgekehrter Gabelhalterung auf einen Holzschemel, stellt ein Urinal aus einem New Yorker Klempnerladen als Fountain (1917) mit der Signatur R. Mutt auf den Kopf oder lässt einen Flaschentrockner Porte bouteille (1914/1964) sein, um ihn dann mitsamt seinem – manipulierten – Schatten fotografieren zu lassen. Bei diesen Vorgängen verleiht Duchamp dem Gebrauchsobjekt einer Massenproduktion jeweils eine Aura der Einzigartigkeit196 durch ironische Verfremdung, durch intellektuelle Paradoxie und letztlich durch eine ,primitive’ Art der Musealisierung. Dem Gebrauchsgegenstand wird nicht nur sein ursprünglicher Nutzen entzogen, auch sein eventueller Zusatznutzen, den eine „Markierung“ (Marke) beglaubigt haben könnte, wird demontiert. Durch diese Verfremdung und Vereinzelung entsteht nach Roland Barthes ein Mythos, eine neue eindringliche Metasprache bzw. eine neue sekundäre Zeichenwirklichkeit, allerdings mit einem weit offenen Bedeutungsspektrum: Der künstlerische Akt ist nicht eigentlich das Machen, sondern ein intellektueller Verweis, der einem Konzept-Ansatz, einer Idee Folge leistet. Nun hat Duchamp einmal selbst erklärt, dass der Rezipient mit seiner Aufnahmebereitschaft und seinem interpretierenden Einbezogensein selbst Teil des kreativen Prozesses bei der Entstehung eines Kunstwerkes ist197, demnach also Mitverantwortung für Art und Umfang dieser Metasprache trägt. Diese mitverantwortliche Kreativität, letztlich also das individuelle Interpretieren, spiegelt sich zunächst in einer breiten Kommentierung zu Duchamps Verweigerung der Wertvorstellungen des sogenannten „guten Geschmacks“ bzw. in der Erkenntnis, dass es sich um intellektuelle Spielerei mit dem Ziel provozierender AntiKunst handele. Da aber Duchamps Zeichensprache jenen rezipientenabhängigen Bedeutungspluralismus beinhaltet, verwundert daneben nicht die Auffassung, dass dem Künstler mit seinen Readymades die Erweiterung des Kunstbegriffs durch die Ästhetisierung des Banalen gelingt. So werden im Fountain Buddha-Figuren, 196 Der Charakter der Einzigartigkeit geht nicht dadurch verloren, dass Duchamp selbst nach Verlust oder Vernichtung (z. B. Rad) ein neues vergleichbares Gebilde schafft oder andere Künstler Imitationen anfertigen. Duchamp hat durchaus an ephemere Darstellungen gedacht, die für ihn multiplizierbar sind. Entscheidend ist die Einzigartigkeit der Erst-Idee oder des Erst-Konzeptes; übrigens wie bei Fälschungen in der Malerei oder bei „nachempfundenen“ Patenten im Wirtschaftsleben. 197 Duchamp, Marcel: Le processus créatif, L’Échoppe, Paris 1987, o. S.. 135 Madonnen oder auch nur einfach weibliche Konturen (passend zu männlicher Brunnenaktivität) erkannt198; an anderer Stelle beweist der Flaschentrockner seine „bizarre Schönheit“199 auch durch seine aufrechte Männlichkeit – bei mangelndem weiblichen Gegenüber; das Fahrrad-Rad wird als Skulptur erkannt, die das futuristische Element durch imaginäre Bewegungen zur vierten Dimension steigert. Gerade den letzten Gedanken vertieft Herbert Molderings, wenn er festhält: „Die Rotation einer Linie erzeugt eine Fläche, die einer zweidimensionalen Fläche einen dreidimensionalen Körper. Die Rotation eines dreidimensionalen Körpers … muss somit ein vierdimensionales Kontinuum … erzeugen“.200 Kommen wir nunmehr zu unserem zweiten Betrachtungsansatz bei Duchamp, einem seiner Schlüsselwerke: La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même / Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar (1915 – 1923), das Große Glas (Abb.89). Abb.89: Marcel Duchamp, La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même, Glasbild-Komposition, 1915 - 1923 198 Camfield, William, A.: Marcel Duchamp’s Fountain: Its History and Aesthetics in the Context of 1917. In: Kuenzli, Rudolf; Naumann, Francis, U.: Marcel Duchamp, Artist of the Century, MIT Press, Cambridge Ma., London 1989, S. 74 – 78. 199 Staatliches Museum Schwerin; Berswordt-Wallrabe von, Kornelia (Hg): Marcel Duchamp Respirateur, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 1999, S. 137. 200 Molderings, Herbert: Marcel Duchamp, Campus, Frankfurt/M. 1983, S. 133. Hier sitzt Molderings doch wohl Duchamp auf, dessen Nähe zu den Naturwissenschaften eher seine Skepsis förderte und der gewusst haben wird, dass man einem 3-dimensionalen Korpus keine Rotationsachse anlegen kann, um eine 4. Dimension zu erreichen. 136 Zunächst erscheint das Werk als Rückschritt, da nach dem elementaren Einsatz von Gebrauchsgegenständen für die Readymades Duchamp grundsätzlich nun wieder selbst „anfertigt“. Er arbeitet fast zehn Jahre daran, ohne es nach eigener Aussage vollendet zu haben: In Material (Glas), Arbeitsweise (mit Bleidraht) und Formgebung (völlig neue Figürlichkeiten und deren Abhängigkeiten voneinander) verweigert er alle bislang ein Kunstwerk maßgeblich bestimmenden Elemente und erfindet neue Junggesellen und eine bisher unbekannte Neuvermählte. Die Verrätselung erreicht hiermit einen besonderen Höhepunkt, und man kommt ihr ohne Duchamps Hinweise aus seiner Sammel-Box für Notizen, Zeichnungen und Fotos, der von ihm erst 1934 veröffentlichten Grünen Schachtel, nicht näher. Zugleich tragen diese Notizen zu weiterer Verwirrung bei, so dass letztlich das Kunstwerk auch erst wieder mit Hilfe des Betrachters zustande kommt. Hierbei sind nun allerdings naturgemäß zahlreiche Anund Ausdeutungen möglich. Herbert Molderings erwähnt einige dieser Annäherungsversuche, wobei u.a. die „Sublimation heimlicher Inzestgelüste, die Lösung der Welträtsel nach dem System der Kabbala, die Expedition in den n-dimensionalen Raum“ angeboten werden201; Robert Lebel hält die mögliche Gleichsetzung der „optischen Anstrengungen des Voyeurs mit den einzelnen Etappen eines Initiationsritus“ auf dem Wege vom Dies- ins Jenseits fest.202 Unbestrittener Ausgangspunkt ist der von Duchamp in der Grünen Schachtel vorgegebene Ansatz, dass hier eine Liebesapparatur arbeitet: Im unteren Basisteil des 2,72 m hohen Aufbaus ist die mehrstufige Junggesellenmaschinerie tätig, in der oberen Hälfte – getrennt durch drei Linien, den Horizont oder die Kleidung der Neuvermählten – agiert die Braut selbst. Ohne auf alle Etappen dieser Sex-Zeremonie einzugehen, möchten wir – im Sinne Duchamps? – festhalten, dass die Szene einmal masturbierende Beteiligte, zum anderen aber auch die Geschlechter in der Vereinigung zeigen könnte. Im ersten Fall verpuffen die Anstrengungen der neun Junggesellen und die Neuvermählte gelangt auf ihre Weise ans Ziel. Im zweiten Fall ist es denkbar, dass – im Sinne des Alter Ego Rrose Sélavy – die Neuvermählte mit ‚dem’ Junggesellen zur Vereinigung kommt; man kann sich durchaus vorstellen, dass es sich bei der Bildgestalt 201 202 Ebd.: S. 76. Lebel, Robert: a. a. O., S. 162. Lebel erwähnt diese Interpretation in Zusammenhang mit Arbeiten von u.a. U. Linde und N. Celas, die Duchamps Kontext zum Hermetismus analysiert haben. 137 um ein Scharnierwerk203 handelt, dessen Horizont sich in einem imaginären Moment öffnet – ein „Mysterium conjunctionis“, das den inneren Zugang zu einem weiblichen Alter Ego schafft – eine Interpretation, die sich mit dem Verweis auf eine späte Radierung Après l’amour, einer ikonografischen Einmaligkeit in der europäischen Kunstgeschichte, stützen ließe. All dies fordert unsere Phantasie heraus und stemmt sich gegen die jeweils aktuelle Gesellschafts- bzw. Kunstnorm. Gleichzeitig ist damit die Außerwertsetzung des Funktionalen verbunden, zumal Duchamp sich einen technisch-naturwissenschaftlichen Deckmantel überzieht. Er will die Naturwissenschaft in Zweifel ziehen, wenn nicht gar völlig unterlaufen, sein futuristischer Ansatz ist negativ. Er war der Meinung, dass die Wissenschaft auf bloßem Schein beruhe, und Herbert Molderings folgert, dass er „dem Leben eine mythische Dimension“ zurückgeben wolle204. Da der Künstler selber 1960 bei einem Symposium über die Aufgabe des Künstlers in der Gesellschaft dessen Rolle in der Nutzung seines „merkwürdigen Reservoir[s] an para-spirituellen Werten in absoluter Opposition zum alltäglichen Funktionalismus“205 beschreibt, geht er auf Distanz zur rationalistischen Version der Aufklärung. Wenn er sich naturwissenschaftlichen Konstrukten widmet, so tut er dies mit Verrätselung und mit dem konzeptionellen Verweis auf etwas Dahinterliegendes, auf eine neue, unbekannte Ebene: „Stets spielt Magie hinein …, die Verfremdung des Gegenstandes erzeugt immer einen rätselhaften Zauber“.206 Man möchte ergänzen: den Zauber der Indifferenz – oder wie vielleicht ein anderer Rezipient sagen würde: die Kälte des Nichts, die auch das Mythische hat erfrieren lassen. Wir meinen, Duchamp lässt sich nicht festlegen zwischen seinen ironischen und technisch mechanischen Ansätzen, seinen Gedanken und Wortspielen, die nahezu durchgängig sexuell-erotische Bezüge erkennen lassen, weder als Aufklärer noch als deren Opponent. Er anerkennt diese Welt, weil es keine bessere gibt; er ist in erster Linie „Pseudo in allem“207. Dafür stehen seine Parodien, sein Zynismus, seine ironischen Gesten, seine Indifferenz, die wirklich „gegen alles“ sich richtet. Er teilt uns 203 Vgl. Panhans-Bühler, Ursula: In: Museum für Moderne Kunst (Hg): Rosemarie Trockel, Wilk, Friedrichsdorf 1997, S. 19. Für diesen Verweis spricht u.a. die Tür in Duchamps Wohnung, die sowohl Bad wie Atelier schließt/öffnet. Vgl. bei Lebel, Robert: a. a. O.: Abb. 105. 204 Molderings, Herbert: a. a. O., S. 88. 205 Ebd.: S. 90. 206 Ebd.: S. 91. 207 Ebd.: 103. Molderings zitiert Calvin Tomkins: Ahead of the Game, Middlesex 1968, mit Anm. 196 (S. 122). 138 mit, dass zwischen Mythos und Aufklärung eine neutrale Zone besteht: Humor, Ironie, Satire. Duchamp kommt uns als skeptischer Asket entgegen, Picasso als das „volle Leben“. Kann ein Unterschied größer sein als auf den beiden Titelbildern des Minotaure dargelegt (Abb.90 und 91)? Abb.90: Pablo Picasso, Umschlag für Minotaure Nr.1, 1933 Abb.91: Marcel Duchamp, Umschlag für Minotaure Nr. 6, 1936 Duchamp baut mit seiner Doppeldeutigkeit der Readymades, des Großen Glases und anderer Verweise, wie etwa in seinen Wortspielen, eine mythische Substanz auf und zerbricht sie im nächsten Augenblick, Picasso benutzt den Mythos und lebt ihn. Auch Picasso hat aus zwei Fahrradteilen (Lenker und Sattel) ein Readymade erstellt, den berühmten Tête de taureau / Stierschädel (1942 – Abb.92), der dann in Bronze gegossen wurde, anders als das Duchamp-Rad (Abb.93), das öfter verschwand, weggeworfen wurde oder neu zusammenmontiert im Atelier herumstand. Picasso erstellt aus Teilen eines technologischen Fortbewegungsmittels – zurück verwandelt – ein animalisch assoziatives Gebilde, überraschenderweise den Schädel eines Stieres, der Ausdruck seiner persönlichen (Minotaurus-)Mythologie ist. Duchamp andererseits belässt Fahrrad-Technik wie sie ist und stellt sie auf ein Podest. Picasso ruiniert auf seine Weise durchaus das klassische Schönheitsbild, da niemand sich bisher einen Stierkopf auf Fahrradteile bezogen vorstellen konnte. Duchamps Ansatz aber ist noch radikaler, da mit seinem Fahrrad-Rad jegliche Ästhetik beseitigt wird, in der das Kunstschöne zur Maske des Begehrens wird. 139 Abb.92: Pablo Picasso, Tête de taureau, Bronze, 1942 Abb.93: Marcel Duchamp, Roue de bicyclette, Fahrradgabel mit Rad, auf Hocker befestigt, 1913/1964 Welch unterschiedliche Fahrrad-Mythen: für die menschliche Ewigkeit bei Picasso, ephemer und doch wiederauferstanden bei Duchamp und als Kunstwerk vereinnahmt durch den Kunstbetrieb, durch uns. 2.2. Magritte und Warhol Mit René Magritte (1898 – 1967) und Andy Warhol (1930 – 1987) haben wir in diesem Abschnitt zwei Künstler ausgewählt, die zunächst in ihrer jeweiligen Standortbestimmung so weit auseinander liegen wie die beiden Kontinente, auf denen sie lebten und die sie im Grunde nie verlassen haben. Jeder von ihnen hat nun aber ein besonderes Verhältnis zur Werbung, das wir im Kontext zu ihrem künstlerischen Ausdruck erörtern sollten: Der eine agiert in diesem Zusammenhang schwerpunktmäßig vor, der andere – naturgegeben – nach dem allgemeinen Durchbruch der abstrakten Kunst. Beide benutzen eine figürliche, auffallende, z.T. vereinfachende Formgestalt, die auch der Werbung nicht fremd ist. 2.2.1. René Magritte Der Belgier Magritte ist Zeitgenosse von Picasso und Duchamp, sein Leben aber konzentriert sich trotz kürzerer Perioden im surrealistischen Paris von André Breton auf Brüssel. Die erste Phase seines Lebens ist stark geprägt durch bescheidenen Broterwerb in Werbung und Design (Tapeten, Plakate, Verpackungen, Schallplatten-Cover, Handelsanzeigen) mit allen direkten und vereinfachenden Bezügen zum Produktangebot, wie es der durchschnittliche Auftraggeber und dessen Konzept verlangen. Es 140 verwundert nicht, dass er sich in diesem Zusammenhang ausgesprochen verächtlich über Werbung geäußert hat; dennoch ist er aber gleichzeitig zu einer Referenz für Werbung geworden, „denn sein Werk, das auf dem Bizarren, dem Anreiz, dem visuellen Spiel, dem Wechsel der Bedeutung aufbaut, hat die Werbeschöpfer verführt“.208 Parallel zu seiner professionellen Werbetätigkeit verläuft seine künstlerische Entwicklung u.a. ebenfalls über die Auseinandersetzung mit dem Kubismus. Die Abb. 94 bis 97 geben einen Eindruck von seiner werblichen Figurgebung bei gleichzeitiger Formfindung seines künstlerischen Ausdrucks: Abb.94: René Magritte, Alfa Romeo, Snutsel aîné, Norine; Gruppenanzeige, 1924 Abb.96: René Magritte, L’ Homme celèbre, Öl auf Leinwand, 1926 208 Abb.95: René Magritte, Un Joailler-orfèvre Max Kerrels; Anzeige, 1926 Abb.97: René Magritte, Les affinités électives, Öl auf Leinwand, 1933 Foe, Carine: Die Werbung, wie Magritte sie sah. In: Leen, Frederik; Ollinger-Zinque, Gisèle; Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique (Hg): AK Magritte 1898 – 1998, Brüssel 1998, S. 308 ff. 141 Nachdem sich zunächst Markennamen vor einem vorsichtig kubistischen bzw. am Bauhaus orientierten Hintergrund versammeln (Abb.94), wird in der Orfèvre-Anzeige eine eigenwillige Formgestaltung sichtbar (Abb.95: eine Perlenkette über zwei gedrechselte Hälse gespannt), die wir im L’ Homme celèbre (Abb.96) und später dann in den für Magritte so typischen Balustern, etwa der Affinités électives, wiederfinden (Abb.97). Wie in diesen Abbildungen nachvollziehbar, hat Magritte etwa ab 1925/26 zu seinen spezifischen künstlerischen Ausdrucksmitteln gefunden, wobei seine Begeisterung für Giorgio de Chiricos Das Lied der Liebe (1914) mit dessen geheimnisvoller Kombinatorik im Grunde nicht zueinander gehöriger Objekte erheblich beigetragen hat. Im Gegensatz zu den vorherrschenden surrealistischen Bezügen bei Salvador Dali oder Luis Buňuel, die das ins Unbewusste verstoßene Bekannt-Erfahrene durch traumatisch-visionäre, psychologisch orientierte Bildwelten wieder gewinnen wollen, findet Magritte seinen speziellen surrealistischen Weg über den umgekehrten Ansatz: Er sucht mit Hilfe von Denkbildern die gegenständlich reale, sichtbare Welt zu durchdringen und ein rätselhaft Fremdes im Bekannt-Realistischen darzustellen. In einem Vortragstext von 1938209 erläutert er, dass er die „vertrautesten Gegenstände aufheulen“ lassen möchte und sie daher „neu angeordnet werden und eine neue erschütternde Bedeutung erhalten“ müssten (Hervorhebung durch Verf.). So gelangt er nach eigenen Worten zu einem „poetischen Mysterium“. Dies können wir wie folgt nachvollziehen: Trotz seines flächig eindeutigen, realistisch kontrollierten Bildausdrucks ist der eigentliche Inhalt seiner Bilder geprägt durch die Verfremdung des Realen. Dazu benutzt er die Deplatzierung von Gegenständen, die Erschaffung neuer Gegenstände, die Vertauschung von Stoff und Form bei bestimmten Gegenständen, den Gebrauch von Wörtern in Verbindung mit Bildern, die falsche Bezeichnung eines Gegenstandes und verwirrende Titel, „die zur Unterhaltung anregen und nicht der Erklärung dienen“. Die sich derart überlagernden Dingformungen forcieren verblüffende Doppelbezüglichkeiten, die alle kausalen Funktionalitäten außer Kraft setzen, wie auch Abb.98 verdeutlicht.210 Er vertieft den auf diese Weise konstruierten Mysterium-Begriff z.T. noch weiter dadurch, dass er durch eine besondere „Affinität von zwei Gegenständen, nämlich [Vogel-]Käfig und Ei“ (vgl. Abb.97), eine 209 210 Magritte, René: „La Ligne de vie“. In: Leen, Frederik et al. (Hg): a.a.O., S. 44 – 48. In diesem Zusammenhang ist ferner interessant, dass Der Himmelsvogel als Auftragsarbeit der belgischen Fluggesellschaft SABENA entstand, die es als Emblem der Company unter ausdrücklicher Berufung auf Magritte Image fördernd vielfach einsetzte. 142 verwirrende Sinnestäuschung ins Licht setzt, die letztlich doch nicht völlig ohne eine gewisse Logik ist und dadurch dem Mysterium mit Poesie und Verblüffung zugleich die Sichtbarwerdung erleichtern helfen soll. Das erörterte Denk- und Darstellungsmuster praktiziert Magritte schließlich auch in seinen zahlreichen Wort-Bild-Arbeiten, z. B. mit Ceci n’est pas … - auf der Basis seines theoretischen Blattes Les Mots et les Images (1927). Abb.98: René Magritte, L’ Oiseau de ciel, Öl auf Leinwand, 1966 Abb.99: René Magritte, La trahison des Images, Öl auf Leinwand, 1928/9 Mit seiner Erklärung zu der abgebildeten Pfeife (Abb.99), dass dies keine Pfeife, sondern nur deren Abbild sei, wird seine Skepsis gegenüber Abbildungen und entsprechender Sprache als Mittel der Darstellung der wahren Wirklichkeit deutlich. Ollinger-Zinque weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Denkansatz prinzipiell dem der Bilderstürmer entspricht, die in Abbildungen die „Profanisierung Gottes“ verwirklicht sahen, und dass Magritte gleichfalls in einer quasi-fotografischen Bildgestaltung die konventionelle Darstellung des Realen sah, die zu einer „Banalisierung des Mysteriums“ führt211 bzw. die Sicht auf das Mysterium versperrt. Magrittes Bildwelten sind wie wissenschaftliche Abhandlungen oder Kriminalgeschichten in feste Rahmen gefügt; im Innern bleibt das mysteriöse Rätsel allerdings ungelöst, im Gegensatz zu jenen der Naturwissenschaft und Kriminalgeschichte. Seine malerischen Beziehungsgeflechte realistischer Gegenstände, Personen und Tiere verweisen auf ein ungeklärtes Bindeglied zwischen den offenen, realistischen Strukturen, ein Bindeglied, das die Welt steuern und gestalten kann. Der Schlüssel zu seinem Mysterium liegt an dieser Grenzstelle, an der die zwei Dingebenen zu einer Metaebene führen, die mittels eines Denkprozesses die vorherrschenden (Identitäts-)Kategorien 211 Leen, Frederik et al. (Hg): a.a.O., S. 34. 143 abstreifen und eine neue Ordnung erschließen soll.212 Magritte tritt auf mit der Geste des Aufklärers, und doch bewegt er sich ständig an den von ihm ausgemachten Grenzen eben dieser Aufklärung, hinter denen sein Mysterium liegt. In seinen zahlreichen Texten, die seine lebenslange Suche in diesem Grenzbereich beschreiben, findet sich plötzlich ein religiöser Bezug: „Ja, ich glaube an Gott … Statt Gott sage ich Mysterium“.213 Für Michel Foucault deutet sich darin an, dass es sich eher um ein nihilistisches Mysterium handeln würde.214 Dieser weite Bogen von ‚Gott bis Nichts’ in Verbindung mit Magrittes (konzeptuellen) Vorlieben für eine vereinfachende Darstellung zweier Ebenen, für das Triviale215, für ein begrenztes ikonografisches Vokabular216 (Pfeifen, Baluster, Himmel, nackte Frauen, Männer mit Melonen, ‚Schultafeln’ mit Wort-Bild-Korrelationen) hat zu einer Autonomie der Zeichensprache beigetragen, die die Werbung leichtfüßig und erfolgreich für ihre Zwecke, Aufmerksamkeit zu erregen, aufgegriffen hat – wie im Übrigen der Werbemann Magritte selbst auch.217 Magritte ist für uns in diesem Zusammenhang nicht nur ein Kunst-Repräsentant in der Nähe zur Werbung, sondern auch einer der Vertreter des Surrealismus, jener Haltung, die zwischen Traum und Wirklichkeit gegen Rationalisierung und Konvention – zeitweise dem Kommunismus eng verbunden – revoltiert. Wir erwähnen an dieser Stelle beispielhaft neben Magritte nur noch einmal die surrealistische Freilegung mythischer Erfahrung bei Max Ernst, um die breit gefächerte Bedeutung dieser künstlerischen Strömung für das mythische Empfinden zu betonen. So fügt sich z.B. in Ernsts experimentelle Bildtechniken aus gegebenem Anlass, wie bereits bei seiner Marlene angedeutet, ein politischer Inhalt, der die mythische Qualität der Mensch- und Weltbedrohung offenlegt: Es entstehen vorausahnend (1933) und den aktuellen Bezug 212 R. Magritte bemüht in umständlicher Form als Schrittmacher für das Sichtbarmachen dieser Metaebene den Begriff der „Ähnlichkeit“, der für das kreative Denken zum Zusammenschluss neuer Konstellationen stehen soll. Vgl. Lüdeking, Karlheinz: Die Wörter und die Bilder und die Dinge. In: Kunstsammlung NRW (Hg): AK René Magritte, Die Kunst der Konversation, Prestel, München, New York 1996, S. 60. 213 Magritte, René, zitiert nach Lüdeking, Karlheinz: Ebd., S. 69 in Verb. mit Anm. 76. 214 S. die umfangreiche Auseinandersetzung Magritte/Foucault, ebd. S. 72 – 78. 215 Reck, Ulrich: Werbung als Anspruchsmodell. In: Schirner, Michael: a.a.O., S. 5. 216 Zwirner, Dorothea: Marcel Broodthaers. Kunstwiss. Bibliothek Bd. 3, König, Köln 1997, S. 67. 217 Ein gutes Beispiel für Magrittes intensive Werbearbeit ist die Zusammenarbeit mit seinem Bruder Paul in ihrem Werbestudio ‚Dongo’ (1931 – 1936). Dabei boten ihm die Auftraggeber die Chance, neue Techniken und Materialien zu studieren und sich Kenntnisse darüber anzueignen, was Bilder frappierend macht. Durch sie, die Auftraggeber, lernte er auch verstehen, dass „auf ethischer Ebene nur ein schmaler Steg das sogenannte Kunstgewerbe von der großen Kunst … trennt“. Zitiert nach Meuris, Jacques: René Magritte 1898 – 1967, Taschen, Köln 1997, S. 34. 144 kommentierend (1940 – 42) die apokalyptischen, düster-chaotischen Gemälde Europa nach dem Regen I und II über die Vernichtungskräfte der durch Remythologisierung untermauerten, ideologisch faschistischen Herrschaftspolitik der Nationalsozialisten und deren Verwüstungen. 2.2.2. Andy Warhol Sowohl Picasso als auch Duchamp und Magritte werden Warhols Kür zum Popstar, die mit dem Erscheinen der Campbell-Suppendosen à la Warhol 1962 einherging, bewusst miterlebt haben. Im Gegensatz jedoch zu Magritte und einigen amerikanischen Pop-Art-Künstlern (z.B. Robert Rauschenberg) hatte Warhol keinerlei gestörtes Verhältnis zu seiner Tätigkeit als Werbegrafiker oder Gestalter, die sein Leben zunächst bestimmte. Im Gegenteil: Er betritt in voller Absicht, um ins Rampenlicht eines sicheren Erfolges zu gelangen, die Bühne, auf der sich die Stars der Unterhaltung und der Produktmarken tummeln – die Alltagsmythen seiner Zeit – und auf der sich schockierende und medienträchtige Ereignisse (Flugzeugunglücke, Gewalt- und Todesszenen) abspielen. Nachdem er zunächst wie Roy Lichtenstein Details aus Comic strips vergrößernd darstellte, verlegt er sich ab 1962 konsequent vor allem auf die serienmäßige Darstellung seiner Motive, wobei das Element der Vergrößerung erhalten bleibt. Entscheidend ist der Einsatz des Siebdruckverfahrens, das schließlich seine künstlerische Arbeit zu einem Betrieb („factory“) mit zahlreichen Hilfskräften und einem standardisierten Arbeitsprozess analog der aktuellen industriellen Produktionsmaschinerie werden lässt. Wie vor ihm Picasso beeindruckt war von den ,primitiven’, exotischen Ausdrucksformen und wie dieser von der antiken Mythensubstanz angeregt war und mit ihr sich eins fühlte, so ist später Warhol fasziniert von den durch die Massenmedien proklamierten Alltagsmythen, die ihm täglich überall begegnen. Als gelernter Werbemann scheut er nicht die massive Wiederholung seiner Sujets, die er mit einem Übermaßstab und einer verfremdeten Körperlichkeit, sozusagen einer Realität aus zweiter Hand, versieht. Beim Voyeur, den die Abstraktion nur verwirrte, entsteht zustimmender Einklang, wenn nicht sogar Begehrlichkeit. Neben seinem Fabrikatelier benutzt er u.a. auch Schaufenster und Supermärkte für seine Auftritte. Die Abb.100 und 101 zeigen einen American Supermarket, in dem er 145 unter einem Diptychon zwei Stapel Campbell-Suppendosen platziert, wovon die Exemplare des einen – von ihm signiert – zu einem höheren Preis als die des anderen Stapels angeboten werden.218 Im Gegensatz zu Duchamp war ihm das eigene Signieren etwas wert: Es hob die Campbell-Dose aus ihrem ursprünglichen Lebensmittel-Kontext heraus und stempelte sie zum Kunstwerk, sodass der Verzehr des Doseninhalts das Kunstwerk zerstört hätte. Abb100: Andy Warhol, The American Supermarket, Installation, 1964 Abb.101: Andy Warhol, Campbell’s Soup, Acryl auf Leinwand, 1962 Allerdings entsteht nun die Frage, was letztendlich mit dieser rezeptiven Verdoppelung der Campbell-, Brillo- und Cola-Logos sowie jener der Persönlichkeitsmythen à la Presley und Monroe – grandios der Alltagskultur entlehnt – im künstlerischen Kontext geschieht. Man könnte argumentieren, der innerhalb des sekundären semiotischen Systems geschaffene Marken- bzw. Persönlichkeitsmythos fällt mittels eines weiteren Signifikats in seiner Neuverwendung als künstlerisches Utensil (Verbrauch der Marke als Schlüsselreiz) zurück in ein ursprünglich mythenfreies Leben, zurück in eine markenlose, gleichgemachte Gesellschaft.219 Was immer die Absicht sei: Der kommerzielle Mitschnitt am profit-orientierten Auftritt der Marken-, Persönlichkeits- und Katastrophenmythen oder die Provokation der Konsumgesellschaft mit deren Bedingungen und ihrem Realitätsverlust - was es auch sei: ein enormer Auftrieb, der da von Nordamerika ausgeht! Warhol erfüllt eine Chronistenrolle für seine Zeit, und er kann mit gutem Recht das „unbewusste Bewusstsein der sechziger Jahre“220 genannt werden. 218 Grunenberg, Christoph; Hollein, Max: a.a.O., S. 150. A. Warhol äußerte sich 1963 in einem Interview mit G. R. Swenson: „Alle sehen gleich aus und tun das gleiche, und dahin entwickeln wir uns immer mehr … Ich meine, jeder sollte jeden mögen.“ In: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 897. 220 Diese Charakterisierung des Kritikers Helmut Geldzahler zitiert Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 199. 219 146 Ganz anders stellt sich die Berichterstatterrolle eines Landsmanns von Warhol zur gesellschaftlichen Entwicklung und zu dessen entsprechender Kritik dar: Der Beitrag von Bruce Nauman (geb. 1941) äußert sich im Vergleich zu Warhol wesentlich streitbarer und sperriger im Sinne einer Verweigerungsstrategie. Er kommentiert, dass sein Werk aus der Enttäuschung über die conditio humana und den grausamen Umgang der Menschen miteinander erwächst.221 Warhol jedenfalls hat – wohl weniger aus Enttäuschung – weltweit seinen persönlichen Mythos geschaffen durch seinen populären Beitrag zum Kunstgeschehen des letzten Jahrhunderts, der Alltag und Kunst miteinander verschmolz: „Lock up a department store today, open the door after one hundred years and you will have a Museum of Modern Art“222, dessen sozialverantwortlichen Hintergrund Barbara Krüger beschreibt mit I shop therefore I am (1987 und auch 1997). Der Gebrauchsgegenstand in neuer Verfassung ist nunmehr in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein vielfach eingesetztes Ausdrucksmittel der Künstler geworden; aber über Gegenstände hinaus sind es auch unterschiedliche soziale Rollen, die die Künstler für ihre Werkgestaltung übernehmen – als Prediger, Prophet, Lehrer, Revolutionär, Verführer, Dekorateur oder Unterhalter.223 Letztlich ist dies stets eine Referenz an Marcel Duchamp und dessen formales Prinzip der Mythenbildung, die diese Verfassung bestimmt hat und noch heute bestimmt. Als ein Beispiel im Sinne Warhols fügen wir hier nur Christian Boltanski (geb. 1944) an, der in seinen Inventaren der Jahre 1972 – 74 Gebrauchsobjekte des Alltags aller Art von ihm ausgewählter Individuen (junger Mann aus Oxford, Frau aus Ludwigshafen) schaukastenmäßig oder vitrinenartig anordnet und auf diese Art und Weise bereits zehn Jahre nach Warhols Bemerkung (mit Hilfe von Museums-Kuratoren) ein Gebrauchswaren-Museum des kleinen Mannes eröffnet.224 – Dem Museum und den darin versammelten Mythen nimmt sich jetzt einer der Vertreter unseres folgenden Abschnittes an, der andere stellt mit seinen Aktionen u.a. einen Verweis auf die angesprochenen Rollenübernahmen durch die Künstler dar. 221 Nauman, Bruce; zitiert nach: Schneede, Uwe M.: Bruce Nauman. Eine kleine Einführung. In: Hamburger Kunsthalle (Hg): Bruce Nauman. Versuchsanordnungen. Werke 1965 bis 1994, Christians, Hamburg 1998, S. 9 – 17, hier: S. 11. 222 Warhol, Andy (1985). In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max: a.a.O., S. 91. 223 Groys, Boris: Der Künstler als Konsument. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (ed): a.a.O., S. 54 – 61, hier S. 57. 224 Vgl. Zweite, Armin; Krystof, Doris; Spieler, Reinhard (Hg): Ich ist etwas Anderes, Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts, DuMont, Köln 2000, S. 118/9. 147 2.3. Beuys und Broodthaers Joseph Beuys (1921 – 1986) und Marcel Broodthaers (1924 – 1976) verbindet nicht nur ihre parallel verlaufenden Lebensgeschichten und besondere künstlerische Höhepunkte um die documenta, sondern neben ihrer Suche nach einem neuen, erweiterten Kunstverständnis außerhalb des Bilderrahmens besonders ihre Kritik an den Kunsteinrichtungen und die Frage nach dem Selbstverständnis des Künstlers in Kultur und Gesellschaft. Aber obwohl zusätzlich noch in der nachbarschaftlichen Nähe von Deutschland / Belgien tätig, hat sich bei beiden – u.a. wohl auch gerade wegen ihrer jeweiligen Herkunft und Fundierung – ein völlig unterschiedlicher Bezug zum Mythischen und dessen Funktion entwickelt. 2.3.1. Joseph Beuys Das Œuvre von Joseph Beuys baut auf seinem zeichnerischen Werk der 50er Jahre auf, um dann als Schwerpunkte die von Fluxus inspirierten Aktionen, die Rauminstallationen und das Sendungsverlangen als Redner erkennbar werden zu lassen. Als entscheidend für das Finden seiner Künstlersprache werden die Erlebnisse in der südrussischen Steppe nach seinem Stuka-Absturz 1943 angeführt, die aufgrund seiner eigenen Schilderungen als Tartarenlegende bezeichnet werden. Danach wurde er nach dem Absturz, bei dem sein Pilot Hans Laurinck ums Leben kam, von Krim-Tartaren durch den Einsatz von Fett und Filz am Leben erhalten. Dem Künstler Jörg Herold zufolge sind jedoch diese Beuysschen Schilderungen ebenso wenig wahr wie die Berichte, er wäre in einer Wiener Klinik nach dem Unglück behandelt worden. Nach Herolds Recherchen auf der Krim ist Beuys vielmehr dort in einem deutschen Feldlazarett aufgenommen und registriert worden.225 Trotz dieser Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Beuysschen Geschichte hat sich der Mythos von seinem Initiationserlebnis des Entrinnens vor dem Tod erhalten: Danach wird er sich nämlich der lebenserhaltenden Kräfte bewusst, die durch das Erzeugen von (Wärme-)Energie mittels elementarer Materialien wie Fett und Filz entstehen, und gleichzeitig erlebt er wohl in diesem Zusammenhang auf seine Weise die Nähe zu archaischen Lebensformen mit ihren Bezügen zu atavistischen Merkmalen von Natur und Mythen (nordisch, griechisch) sowie deren Katastrophenbildern. Ebenso ist christliche Symbolik – z. B. 225 Wendland, Johannes: „Wie in einem wunderbaren Film“, Zweifel an der ,Tartarenlegende’ von Joseph Beuys. In: Weser-Kurier, 1./2. Mai 2001. Jörg Herold im Interview mit Johannes Wendland. – Jörg Herold führt aus, dass ihn als Künstler die Mythenbildung schon immer interessiert habe und er mit seiner Reise auf die Krim diesem etablierten Beuys-Bild als mythischer Verbrämung auf die Spur kommen wollte. 148 das Kreuz, auch halbiert als Teilungsverweis – Bestandteil der Verschmelzung dieser unterschiedlichen traditionellen Bezugspunkte. Sein Mythos-Verhältnis ist dabei freilich nicht allein erkennbar an dem direkten Einbau konkreter mythischer Elemente in seine Ausdrucksformen; wir haben an anderer Stelle bereits auf die nymphengleiche Aktrice oder Die drei Schilde der Gorgo aufmerksam gemacht. Vielmehr ist es darüber hinaus auch eine allgemeine, originär mythische Substanz, die in dem geradezu beschwörenden Einsatz der schon genannten ursprünglichen Materialien Fett, Filz und Honig sowie in den rituellen Abläufen seiner Performances zum Ausdruck kommt, womit letztlich ein Beitrag zur Überwindung des materiell-orientierten Zivilisationsgeschehens und der Befreiung des Menschen geleistet werden sollen. Diese mythische stoffliche Verschmelzung in seiner Künstlersprache soll die Menschen in deren ureigener Kreativität („jeder ist ein Künstler“) erfassen und prägen. Gegenüber Hans van der Grinten äußert Beuys 1970, dass der mythische Strom leben sollte „als Teil des selbstbewussten, freien Menschen … In das moderne, selbstbewusste Denken des freien Individuums müsste das Mythische gewandelt integriert werden, in das, was heute gesagt, getan, geschaffen wird…“.226 Verfolgen wir unter diesem Aspekt zwei Beispiele etwas genauer: Abb.102: Joseph Beuys, Wirtschaftswerte, Installation, 1980 Eine besonders kennzeichnende Arbeit ist ein Werk aus dem Jahr 1980: Wirtschaftswerte (Abb.102). Im Anschluss an Andy Warhol erwähnen wir gerade diese Installation, die erstmals in Gent zu sehen war, weil sie auf dem Einsatz von verpackten Lebensmitteln beruht – diesmal allerdings aus dem „Marken“-Reservoir der DDR – und 226 J. Beuys am 7.12.1970 im Gespräch mit Hans van der Grinten. Zitiert nach Harlan, Volker: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys [1986], Urachhaus, 5. Aufl., Stuttgart 1996, S. 87. 149 damit wie bei Warhol den Alltag mit vergleichbar trivialen Elementen in den Kunstkontext überführt. Beuys baut vor einem Hintergrund mit Gemälden aus dem 19. Jahrhundert sechs Eisenregale auf und platziert darauf die verpackten Produkte. Davor stellt er einen Gipsblock, am Fußende mit Fett bestrichen; ein Kabel verbindet Block und Regale. Es ergibt sich das Bild, dass die Kultur (Gips) ohne die Natur (Fett) nicht existieren kann und dass aus diesem Spannungsfeld die Energie hervorgeht, die die Basis für die Bereitstellung unserer lebensnotwendigen Güter ist. Es werden einerseits die Notwendigkeit der Verbindung von Natur und Zivilisation und andererseits das Erfordernis angesprochen, den Naturverbrauch zu steuern (das Kabel). Die Integration der Bilder mit Themen aus der Zeit von Karl Marx, die bei jedem Aufbau der Installation wechselnd aus Leihgaben der Gastmuseen nicht fehlen durften, mag die Dauerhaftigkeit dieser Verbindungen anmahnen. Es wird hier eine durchaus belehrende Haltung, frei von Ironie und bissigem Spott, sichtbar, die für die Freiheit des Menschen eine Brücke zwischen Natur und Zivilisation schlagen möchte, wozu Beuys der Rückverweis auf das Ursprüngliche, Unverzichtbare – auf das ‚gewandelt Mythische’ – dient. Während der Warhol-Mythos durch bewusstes, plakatives Eintauchen in die Welt der Alltagsmythen gewachsen war, entsteht hier ein persönlicher Mythos Beuys, der diesen als Missionar für gesellschaftspolitische Erneuerung mit Berufung auf eine ursprüngliche mythische Substanz charakterisiert. Das Kunstwerk wird dabei als Mittel zum Zweck benutzt. Diese Analyse können wir an einem zweiten Beispiel vertiefen: Abb.103: Joseph Beuys, Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, Performance, 1965 150 Bereits 1965 führt Beuys in Düsseldorf die Aktion durch Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Abb.103 zeigt ihn sitzend in einem abgeschlossenen Raum (die Zuschauer werden über Video erreicht) mit einem toten Hasen im Arm, dem er dann bei Rundgängen durch diesen Raum die dort gehängten Bilder erläutert, indem er zusätzlich mit des Hasen Pfote diese Zeichnungen berührt. Sein Kopf – diesmal ohne Filzhut – ist mit Honig eingerieben und mit Blattgold maskiert, seine Füße sind mit Stahlplatten verbunden bzw. stehen auf einer Zwischenschicht Filz. Diese Inszenierung geht auf Mysterien-Riten zurück, wobei der maskierte Beuys die Rolle des Priesters im Diesseits inne hat und der Hase als „Symbol für die Inkarnation“227 aufgefasst werden soll – das tote Tier dient ihm als Menschenstellvertreter. Die Kommunikation zwischen beiden symbolisiert für Beuys die Koinzidenz von Leben und Tod, letztlich die Erlösung, wie im Mysterium versprochen. Beuys selbst will diesen schamanenhaften Auftritt als Verweis, vielleicht auch als Schock verstehen, um das durch die aktuellen Materialschlachten unterdrückte „geistige Wesen“ des Menschen und dessen Kreativität erfahrbar zu machen. Die Loslösung vom „vergreisten und auf der Todeslinie weiter wurstelnden Gesellschaftssystem“ werde dem Menschen Freiheit bringen und seine verdeckte Rolle als Künstler offen legen, wodurch sich ein „sozialer Organismus als Kunstwerk“ bilden könne: die Beuyssche „soziale Skulptur“ bzw. „soziale Plastik“, sein Gesamtkunstwerk228. Durch sein direktes, aktives Auftreten und Reformieren, das natürlich auch vor seinen Lehramtstätigkeiten nicht Halt macht, bietet sich Beuys selbst als Mittler für seine sozial-therapeutischen Aussagen an und schafft sich dadurch den persönlichen Mythos als heilsbringender Schamane; Erkennungszeichen: Filzhut, Jeans und Anglerweste. 2.3.2. Marcel Broodthaers Broodthaers beginnt sein Lebenswerk als Poet und Autor, eine Tätigkeit, deren sprachliche und dichterische Voraussetzungen ihn sein Leben lang begleiten, auch wenn er 1964 dieser Beschäftigung mit dem Bekenntnis ein eindeutiges Ende setzt: „Moi aussi, je me suis demandé si je ne pouvais pas vendre quelque chose et réussir dans la 227 Beuys, Joseph, zitiert nach Leinz, Gottlieb: Annäherungen an die Antike. In: Glyptothek München: a.a.O., S. 37. 228 Beuys, Joseph: „Ich durchsuche Feldcharakter“, in: AK Kunst im politischen Kampf, Kunstverein Hannover, 30.3. – 13.5. 1972. Zitiert nach Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 1119/20. – Bei Uwe Schneede (a.a.O., S. 243) wird er wiedergegeben: „Mein Begriff von Plastik bezog sich immer auf das Leben, auf das Gesamtkunstwerk, man kann auch sagen auf die menschliche Gesellschaft als Skulptur.“ 151 vie …“.229 In diesem Zusammenhang entsteht die Skulptur Pense-Bête (1963/4), für die er 50 seiner restlichen, nicht abgesetzten Gedichtbände hälftig eingipst und dadurch unlesbar macht (Abb.104); allerdings fragte auch keiner der Ausstellungsbesucher nach dem Inhalt. „Niemand war von dem Verbotenen ergriffen“230. Dennoch ist ein kurzer Blick auf ein kleines Stück Poesie dieses Inhalts für das Verständnis von Broodthaers besonders aufschlussreich: La Moule231 Cette roublarde a évité le moule de la société. Elle s’est coulée dans le sien propre. D’autres, ressemblantes, partagent avec elle l’anti-mer. Elle est parfait. Die Muschel Dieses schlaue Luder hat es vermieden, Abguss der Gesellschaft zu sein. Sie ist in sich selbst geschlüpft. Andere, Ähnliche teilen mit ihr das Anti-Meer [das Festland]. Sie ist perfekt. Abb.104: Marcel Broodthaers, Pense-Bête, [,Eselsbrücke’], Mixed Media, 1963/4 Abb.105: Marcel Broodthaers, Moules sauce blanche, Mixed Media, 1967 Die Muschel, die später vielfältig in Broodthaers’ Werk auftaucht, könnte sein ‚Markenzeichen’ (von ihm selbst humoristisch als solches bezeichnet) sein, weil sie sich selbst von der überwältigenden umgebenden Meeresmacht abzugrenzen versucht, 229 Anlässlich seiner ersten Ausstellung in der Brüsseler Galerie Saint-Laurent im April 1964 ergeht dieser Einladungstext: „Auch ich habe mich gefragt, ob ich nicht etwas verkaufen und im Leben erfolgreich sein könnte. Schon seit einer ganzen Weile bin ich zu nichts gut. Ich bin [jetzt] 40 Jahre. Schließlich durchdrang mich die Idee, etwas Unaufrichtiges zu tun, und ich machte mich sogleich an die Arbeit …“ (eigene Übers.). Siehe Abb. in ,documenta’ (Hg): Politics – Poetics, das Buch zur documenta X, Cantz, Ostfildern 1997, S. 132/3. 230 M. Broodthaers im Interview mit Lebeer, Irmeline: In: Dickhoff, Wilfried (Hg): Kunst Heute Nr. 12, Marcel Broodthaers, Interviews & Dialoge, 1946 – 1976, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, S. 125. 231 Vgl. Buchloh, Benjamin H.D. (ed): Broodthaers, Writings, Interviews, Photographs, MIT Press, Mass. 1988, S. 26. Eigene Übersetzung. Marcel Broodthaers spielt mit der Doppeldeutigkeit von „moule“ im Französischen: la m. = Miesmuschel, le m. = Form, Abguss. 152 ebenso wie er – Broodthaers – sich dem Druck der Gesellschaft bzw. der Kulturindustrie entziehen oder widersetzen möchte. Das Abkapselnkönnen der Muschel signalisiert eine gewisse Sicherheit oder zumindest zeitweilige Regeneration von den gesellschaftlichen Zwängen. Später scheint er diesen zuversichtlichen Gedanken in Frage zu stellen. Ab Mitte der 60er Jahre türmen sich auf unnatürliche Weise in seinen Darstellungen riesige Mengen entleerter Muscheln auf Tischen oder in Töpfen (Abb.105); dies geschieht auch mit Eierschalen, die er zu banalen Objekten des Haushalts (Tischen, Eierbechern, Vasen) in Beziehung setzt. Muscheln und Eier werden verzehrt und ihre ‚Verpackungen’ zu Elementen eines Kunstobjekts.232 Die Muschel hat letztlich keine Chance im sogenannten wirklichen Leben, als leeres Objekt wird sie sinnlos aufgehäuft, als Kunstelement durch den Kunstbetrieb vereinnahmt. Es ist die multiple Zerbrechlichkeit und Leere dieser gewählten Objekte, die das Individuelle für Broodthaers im gesellschaftlichen Kontext charakterisiert. Broodthaers benutzt eine poetische, leicht ironische Handschrift im Dienste seiner Aufklärung gegenüber dem (herbeigeredeten) Mythos einer intakten Gesellschaft. Die zitierten Bilderrätsel erinnern formal stark an Magritte, sie illustrieren für Broodthaers eine „Rhetorik, die sich im neuen Wörterbuch von überlieferten Ideen nährt“, eine Zusammendichtung, die er „soziologische Realität“ nennt und damit durchaus einer Interpretation Hilfestellung leistet, die neben dem Poetischen das Ironisch-Gesellschaftskritische hervorhebt. „Das ist es, was Magritte mir nicht versäumt hat vorzuwerfen. Er fand mich viel soziologischer als künstlerisch“.233 1968/72 verfestigt sich Broodthaers’ Handschrift durch die Gründung und Eröffnung des Musée d’Art Moderne, Département des Aigles in seiner Brüsseler Wohnung an der Rue de la Pépinière; die Eröffnung betraf die Section XIXème Siecle, in der Abbildungen von vorwiegend französischen Werken aus diesem Jahrhundert in Form von Postkarten und Reproduktionen an den Wänden hingen, davor standen Verpackungskisten einer Kunstspedition mit den üblichen Aufschriften wie ‚With Care’ oder ‚Haut-Bas’, die während der Eröffnungszeremonie – Broodthaers selbst in der Rolle des Direktors und Kurators – den geladenen Gästen als Sitzgelegenheiten dienten. Ein Jahr später wird das Institut, die Section XIXième siècle, geschlossen, jedoch die Museumsidee als fiktiver Rahmen für Broodthaers’ Wirklichkeitsanalyse bleibt und 232 Mit „Das ist ja Kunst“ zitiert Freddy De Vree 1990 den Galeriebesitzer Eduard Toussaint, dem M. Broodthaers seine ersten Objekte zeigt. Vgl. Isy Brachot (ed.): AK Marcel Broodthaers 1924 – 1976, Paris 1982, S. 40. 233 M. Broodthaers im Interview mit Irmeline Lebeer. In: Dickhoff, Wilfried (Hg): a.a.O., S. 121. 153 feiert einen besonderen Höhepunkt 1972 in Düsseldorf mit dem Musée d’Art Moderne, Département des Aigles, Section des Figures (Der Adler vom Oligozän bis Heute), einer umfangreichen Ansammlung von Adler-Darstellungen aus Politik, Kunst und Werbung. Diese letzte Formung seines Museums – danach nur noch auf der documenta als Section Publicité wieder zu finden – thematisiert zwar das Adler-Symbol als einen Mythos des Erhabenen und Unbezwingbaren, jedoch ist seine eigentliche Aussage in der Methodik zu suchen: Er stellt die Motive des Adlers nicht nach systematischen, museumskonformen Gesichtspunkten zusammen – etwa herrschaftliche Emblematik, bürgerlicher Kitsch, mythologische oder religiöse Darstellungen –, sondern nach der alphabetischen Folge der Namen der Leihgeber und vermischt dann später noch diese Orientierung zusätzlich mit werblichen Ausdrucksformen des Adlers. Hierdurch alleine schon, aber deutlicher noch durch die weitere Erklärung zu jedem Ausstellungsstück „Dies ist kein Kunstwerk“ vollzieht sich endgültig die beabsichtigte Entmythologisierung der Mythen der Hochkunst, des Alltags und des Museums als Wächter des Kunstbetriebes. Mit seinem Verweis „Ceci n’est pas …“ knüpft Broodthaers wiederum an die Identitätsdiskussion von Magritte an. Aber nicht nur dies: Er stellt sich – umgekehrt – konzeptuell auch in die Tradition Duchamps, der (im ersten Schritt) aus dem Gebrauchsgegenstand ein Kunstwerk kreiert, während Broodthaers das Kunstwerk und die Strukturen des Kunstgeschehens humoristisch demontiert. Wenn wir uns nunmehr dem letzten Abschnitt seines Lebenswerkes zuwenden, werden wir erneut das Stichwort „Sozialkritik“ bzw. Broodthaers’ Aufklärungsdialektik antreffen. Diese Phase seines Lebens (1972 – 74) wird bestimmt durch die Ausstellungsfolge „Décor“ in sechs Städten: Brüssel, Basel, Berlin, Oxford, London, Paris; eine ausführliche Erörterung im chronologischen Ablauf hat kürzlich Dorothea Zwirner vorgelegt234. An dieser Stelle möchten wir uns beschränken auf ein ständig in dieser Serie wiederkehrendes Motiv und sein Beiwerk, um dabei der Broodthaersschen Eigenart des Entmythologisierens weiter auf die Spur zu kommen. Das zentrale, visualisierte Thema des Décor ist der Jardin d’hiver / Wintergarten (Abb.106). Wenn wir uns mit Hans-Georg Gadamer235 vergegenwärtigen, dass „für die ganze Spanne der Dekoration“ die Rolle einer dualen Vermittlung derart gegeben ist, dass sie diese nämlich einmal in der Steuerung der Aufmerksamkeit und ferner in dem 234 235 Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 148 – 162. Gadamer, Hans-Georg: Ges. Werke Bd. 1, Wahrheit und Methode [1960], 6. Aufl., Mohr, Tübingen 1990, S. 163. S. auch Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 160. 154 Rückverweis auf das eigentlich Wesentliche des größeren Ganzen liegt, dann wird dieser Wintergarten seiner Aufgabe vollauf gerecht: Broodthaers wählt bewusst das abgestandene Wintergarten-Motiv aus dem 19. Jahrhundert mit Palmen, Gartenstühlen und Exoten der Kolonialländer (Papageien, Schlangen), das in seiner Gefälligkeit und Leichtigkeit als das Schöne an sich (decorum) betrachtet wurde und wird. Dieses Bild bürgerlicher Wirklichkeit verweist aber gleichzeitig zurück auf die dahinter liegende Realität, die leichtfertige Angepasstheit menschlichen Verhaltens: ‚Wir tragen Kunst als Dekor vor uns her’ signalisiert uns Broodthaers’ Décor als Kunstwerk. – Dass wir uns mit diesem Dekorgehabe selbst überlisten, ist ein Hinweis, den wir auch dem häufig von ihm verwendeten Spiegelbild verdanken: der Spiegel – nur zu oft als Dekoration benutzt – steht für Vanitas (Leere, Eitelkeit, ja Lügenhaftigkeit), und wird bei Broodthaers als Narrenspiegel eingesetzt. Abb.106: Marcel Broodthaers, Un Jardin d’hiver, Installation, 1974 Vor dem Wintergarten-Ensemble könnte wieder einmal das Schild hängen ‚Dies ist kein Kunstwerk’. Aber trotz der damit anklingenden Absolutheit ist diese Art des Entblätterns des Mythos des Kunst-, Wirtschafts- und Staatsbetriebes nicht drastisch revolutionär. Wohl gibt es individuelle Verweise auf politische Konnotationen, Verweise auf die Ökonomie, Zitate zu Werken anderer, häufig aus der Distanz (Mallarmé, Poe), jedoch schlägt seine – oft verspielt clownereske – Mischung aus Sprache und Bildern nicht direkt den Knoten der angeregten Bedeutung durch, sondern verdickt zunächst das Durcheinander eher. Seine allusive, indirekte Art signalisiert politisches Denken, er bleibt aber Poet, der relativiert. Wozu anders dient das Bild lebendiger Tautologie – der Papagei – wenn nicht dessen dekoratives Geplapper mehr klagend als verändernd ist? Aber bei dem Papagei vergessen wir nicht, auch zu 155 schmunzeln, so wie Broodthaers es getan hätte, wenn er über die Umstände des aktuellen Ankaufs seines Moi, je dis Je; moi, je dis Je, le roi des Moules durch das MMK Paris erfahren hätte: Das Stadtparlament rügte den hohen Ankaufspreis für ein vergängliches Broodthaers-Kunstwerk, das außer einem lebenden Papagei lediglich noch aus dessen Käfig, zwei Palmen und einem Tonbandgerät bestand. Der verantwortliche Kulturreferent aber kämpfte nicht nur erfolgreich gegen die politische Einmischung („… damit öffnen Sie dem Faschismus Tür und Tor“), er setzte sich auch noch gegen die Tierschützerin Brigitte Bardot durch, deren Argumentation bzgl. der lebenslangen Gefangenschaft des Vogels durch die Anordnung regelmäßigen Freigangs und vierteljährlicher Auswechselung des Tieres außer Kraft gesetzt wurde236. An der relativierenden Ironie der Kritik an Kulturindustrie und Gesellschaft wird nun aber auch ein antagonistisches Verhältnis von Broodthaers zu Beuys deutlich. Sichtbarer Höhepunkt der unterschiedlichen Haltungen beider Künstler ist ein offener Brief von Broodthaers an Beuys, der am 3.10.1972 in der Düsseldorfer Rheinischen Post erscheint. Hintergrund für diesen Brief ist 1972 Broodthaers’ Zurücknahme seiner Exponate von einer Ausstellung des Guggenheim Museums mit europäischen Künstlern, weil dieses Museum im Jahr zuvor eine Hans Haacke-Beteiligung wegen dessen politischer Inhalte abgesagt hatte. Da dieser Vorgang Beuys völlig unberührt lässt und er trotzdem im Guggenheim ausstellt, schreibt Broodthaers jenen offenen Brief, den das Feuilleton der Zeitung wie folgt einleitet: „Broodthaers, der in französischem Denken geschulte Flame, lässt Jacques Offenbach, den aus Köln stammenden Komponisten luziden französischen Esprits, an Wagner schreiben, den germanischen Magier des Gesamtkunstwerks oder auch an Beuys, den Magier des Kunst-ist-Leben-ist-Politik-Romantizismus“.237 Broodthaers markierte durch seinen Umgang mit der Institution ,Museum’, dass sich hinter der Argumentationsfassade einer sich selbst als neutral und politisch zweckfrei bezeichnenden Institution nur die zwanghafte Absicht verbarg, den bestehenden Kunstbetrieb reibungslos zu kontinuieren. In der für ihn typischen Art im Grenzbereich zwischen Surrealismus und Konzeptkunst, Metaphern und Metonymien zu verwenden, bemüht Broodthaers in diesem Zusammenhang eine briefliche Metapher an den Wagner-Beuys und macht diesem zum Vorwurf, in der Verschränkung von Politik und 236 237 S. Weser-Kurier vom 4.12.2002. Der strittige Ankaufspreis betrug 210.000 Euro. Zwirner, Dorothea: Correspondances. – Die Rezeption von Marcel Broodthaers. In: Galerie Hauser & Wirth, Zürich; Galerie David Zwirner, New York: Marcel Broodthaers, Correspondances, Oktagon, Stuttgart 1995, S. 17. S. vollständiger reproduzierter Text bei Pelzer, Birgit: Recourse to the Letter. In: Buchloh, Benjamin, H. D. (ed): a.a.O., S. 174 – 176. 156 Kunst dieser institutionellen Absicht Vorschub zu leisten und letztlich dem Mythos Kulturindustrie (als identitäts-vermittelnder Zivilisationsmaschinerie) den Boden zu bereiten. „Anstatt den Markt mit sogenannter ,politischer Kunst’ zu beliefern, wodurch der illusorische Glaube an die Macht der Kunst bewahrt würde, untergrub Broodthaers dieses Vertrauen in die Macht der Kunst durch Strategien der ironischen Affirmation“.238 In seinem Brief an Beuys tritt Broodthaers in die Rolle von Offenbach, der nach 1848 – anders als Wagner und dessen Bezug zu mythischer Vergangenheit – das Mittel versteckter Ironie für seine Gesellschaftskritik bemühte. OffenbachBroodthaers trägt den grauen Anzug des angeblich Vereinnahmten, der Mythos des Wagner-Beuys bildet sich um das angeblich Reformerische in Hut, Jeans und Weste. 2.4. Barney und Cattelan Mit diesem Abschnitt werfen wir einen Blick auf die aktuelle Szene am Wechsel des Jahrhunderts. Alle Kunstgattungen des 20. Jahrhunderts werden vielfach und in besonders radikaler Weise weiter ausgelotet, wobei die praktizierte Skepsis gegenüber der Kunst bestehen bleibt. Uwe Schneede bezeichnet die teilweise verflochtene oder auch parallele Verwendung aller technischen und ästhetischen Möglichkeiten als „modusübergreifende Offenheit“. Die für den einzelnen Künstler typischen Anregungen kommen von allen Seiten – aus Politik, Kommerz, Sport, Medizin, Körperlichkeit, Alltag – und rütteln an der Autonomie der Kunst.239 Bietet die Erkennung des Mythischen bzw. des Gegenteils eine verlässliche Orientierung in diesem komplexen Geschehen? – Aus der großen Zahl der zeitgenössischen Künstler haben wir zunächst zwei ausgewählt, die bereits in jungen Jahren ein durchaus kontrovers diskutiertes internationales Renommee erlangt haben und die uns an dieser Stelle einen Rückblick auf bereits erörterte ‚Kunst-Patriarchen’ möglich machen: Matthew Barney (geb. 1967) und Maurizio Cattelan (geb. 1960). 238 Germer, Stefan: Haacke, Broodthaers, Beuys. In: Bernard, Julia (Hg): Germeriana. Unveröffentlichte oder übersetze Schriften von Stefan Germer zur zeitgenössischen und modernen Kunst. Jahresring 46, Oktagon, Köln 1999, S. 36. 239 Vgl. Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 301 ff. 157 2.4.1. Matthew Barney Der Amerikaner Matthew Barney bedient sich von Anfang an in spektakulärer Weise jener erwähnten modusübergreifenden Ausdrucksweise. Bereits um 1990 schuf er sich Installationen für seine Performances, die er in Videos aufzeichnete: Drawing Restraint oder Mile High Threshold: Flight with the Anal Sadistic Warrior. Diese Szenen entstehen vor dem Hintergrund seines ersten Lebensabschnitts als Dressman und sportlich aktivem Medizinstudent. Bezeichnenderweise setzt er dabei u.a. Sportgeräte (z.B. Trampolin, Hantel) und medizinische Apparatur (z.B. chirurgische Plastikschläuche) ein, um innerhalb dieser Installationen seine eigenen Darstellungs- und Bewegungsmöglichkeiten positionieren, steigern und diese gleichzeitig erschweren zu können. Von 1994 bis 2002 entsteht sein bisher bestimmendes Werk, der Cremaster-Zyklus, ein insgesamt achtstündiges, fünfteiliges Filmwerk (Nr. 4, 1, 5, 2, 3), das alle seine künstlerischen Gestaltungsmodi einschließt. Es entwickelt sich eine individualmythologische Szene einer Vielzahl aneinander gereihter Geschichten, bizarrer Fantasien, die erheblich über unsere bisherigen künstlerischen Erfahrungswelten hinausgehen. Anspielungen auf Revue-Shows, Kitsch, Science-Fiction, Sport, Medizin und Körperlichkeit mischen sich zu einem Bild, das Fantasie und Fantasma einander näher bringt. In Zusammenhang mit den Geschehnissen in Cremaster 1 beschreibt Barney selbst die Zielsetzung jenes Starlets ,Goodyear’, das in diesem Film zwei Zeppeline über einem Sportfeld in einer bestimmten Position hält, als Verzögerung eines geschlechtlichen ,Landungsprozesses’ und damit als ein „Aufrechterhalten von Indifferenz“240. Könnte diese Formel die Grundstruktur seiner Arbeit erklären? Es beginnt mit dem Namen für die Filmserie: Cremaster, der medizinischen Bezeichnung für die Muskelfasern, die den Samenstrang umgeben und die Hoden je nach Außenreizen heben oder senken bzw. sie bei Kälte und Ängsten zum Inneren des Körpers ziehen. In Cremaster 4 (erster Film: 1994) steht der Titel für eine Szenerie auf der Isle of Man und deren jährliches Motorrad-Spektakel, im folgenden Cremaster 1 (1995) erleben wir ein Geschehen in dem erwähnten Football-Stadion mit darüber schwebenden Goodyear-Zeppelinen, Cremaster 5 (1997) spielt im Budapest früherer durch griechisch-römische, slawische und barocke Einflüsse geprägter Jahrhunderte, Cremaster 2 (1999) greift vor dem Hintergrund der kanadischen Rocky Mountains und 240 Barney, Matthew: Der Körper als Instrument, ein Gespräch von Christoph Doswald. In: Kunstforum International, Bd. 135, a.a.O., S. 312 – 321, hier: S. 318. 158 der Salzebenen Utahs die Geschichte eines Raubmörders auf, schließlich entsteht 2002 das längste Opus in und um das New Yorker Chrysler-Building mit der Auseinandersetzung eines (von Richard Serra gespielten) Architekten und seinem neuen Lehrling (Barney). Die Filme haben mit der Struktur eines üblichen Spielfilms nicht viel zu tun, weil ihnen logisch geschlossene Handlungsabläufe weitgehend fehlen. Vielmehr handelt es sich um einen schier endlosen Aufmarsch aneinander gefügter fantastischer Bilder und Szenen, durch aufwühlende Musik begleitet, die durch Exotisches und Makabres, Überraschendes und Episches beeindrucken wollen. Geht man von dem Filmtitel aus, so steht der Muskel „als Symbol für den Willen … ein Auf und Ab zu steuern“ 241, letztlich doch wohl im Sinne der Charakterisierung eines indifferenten Schwebezustandes, der noch nicht zur Ruhe gekommen ist bzw. – in bewusster Anlehnung an Barneys medizinische Wurzeln – seine Geburtswehen noch nicht in neue endgültige Formen gebracht hat. Abb.107: Matthew Barney, Cremaster 5, Her Giant, Still, 1997 Abb.108: Pan, Bronzeverzierung eines Möbelstücks, römisch, 1./2. Jahrh. In seinen Filmen treten zahlreiche Fantasie-Erscheinungen auf: Her Giant (Abb.107) aus Cremaster 5 ist eine davon, eine Mischung aus Mensch und Tier (Barney selbst ist der ,Gigant’). Barney greift hierbei auf den Pan-Mythos zurück, in dem die Eigenschaften des bocksbeinigen Ziegengottes überliefert werden: der unentwegte Drang nach Nymphen und das Verbreiten panischen, (biblisch-)teuflischen Schreckens durch sein Schreien (vgl. Abb.108). Weitere Kunstfiguren wie Untote, Satyren, Zwitter oder überzogene Typen wie der Footballer Jim Otto, der Entfesselungskünstler Harvey 241 M. Barney lt. http://kunsthallewien.t0.or.at/german/barney.html 159 Houdini oder der weibliche Transvestit Jim Blind betreten die Bühne, verwickelt in Zerstörungs- und Schöpfungsprozesse, wobei das Sexuell-Erotische nicht fehlen darf. Dabei sind die Reizanhäufungen und Machobilder derart dominant, dass hier weniger eine Kritik sozialer Umstände aufscheint, als vielmehr eine künstlerische Selbstdarstellung durchdringt, die sich immer wieder ekstatisch in überwuchernden, barocken Fantasiewelten bewegt. Nach Tom Holert ist Barneys Ansatz der „einer forcierten Autonomie“, die Barney selbst „auto-erotisch“ nennt, die also einen Lustgewinn ohne Partner, das heißt ohne Sozialbezug, erreicht. Holert zitiert in diesem Zusammenhang Barney weiter: „Mein System ist in sich geschlossen. Die verschiedenen Figuren, die da auftauchen, sind letztlich eine einzige Person“.242 Ein kurzer Blick in Cremaster 3 bestätigt den losen Handlungszusammenhang, seinen Rückgriff auf kultische Rituale, auf Bezüge zu Katastrophen- und Schöpfungsprozesse antiker Mythen und deren treibende sexuelle Kräfte und Obsessionen: Das Geschehen läuft ab in dem im Bau befindlichen New Yorker Chrysler-Building und berichtet von der Auseinandersetzung zwischen dem Architekten, seinem Lehrling und dem selbst als handelnde Person auftretenden Gebäude. Dabei steht sowohl die Freimaurer-Legende um König Salomo und dessen Tempelbau Pate als auch die Initiationsriten der Freimaurer, nach denen der Lehrling zur Erlangung höherer Grade mehrere Bewährungsstufen durchlaufen muss, um den Meistergrad zu erwerben. Dieser Ansatz wird besonders deutlich gegen Ende des Opus, wo die ‚Handlung’ vom Chrysler-Wolkenkratzer zum Guggenheim-Museum schwenkt und der Lehrling dort zur Erlangung der Weihe auf jeder Etage der inneren Gebäude-Rotunde Hindernisse bewältigt. Danach werden wir wieder zum Chrysler-Building geführt, auf dessen Spitze der Lehrling den Architekten umbringt, um danach selbst vom lebendigen Turm ermordet zu werden.243 Wenn wir Barneys eigenen Bemerkungen zu Cremaster 1 aus dem Gespräch mit C. Doswald über die sexuellen Bezüge seiner Handlung folgen, dann lassen sich durchaus in den Protagonisten des Films (Architekt, Lehrling, Turm etc.) psycho-sexuell Gesteuerte (Vater, Sohn, Mutter) lesen, die Barneys zwanghafte Vorstellungen von Vatermord (Sohn = Lehrling, Vater = Architekt) und Tötung des Sohns durch die phallische Mutter (= Chrysler-Turm) wiedergeben. Barney bewegt sich in den Klischees sexueller Konfliktkulminationen und verbleibt damit kritiklos auf dem 242 243 S.: http://www.stadtrevue.de/index_archiv.php3?tid=207&bid=2 Eine ausführliche Beschreibung aller Filme des Zyklus s. bei: Spector, Nancy: Matthew Barney, The Cremaster Cycle, Museum Ludwig Köln, Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 2 – 91. 160 Terrain kollektiv erfahrbarer Trivialität und deren gesamter faszinierender Breitenwirkung. Bemerkenswert ist ein anderes Detail aus diesem und anderen seiner Filme, die Verwendung körperanaloger Materialien: Vaseline, Petroleum-Gel, die nicht nur in den Haushalt der homosexuellen Praxis als deren Basismaterialien gehören, sondern darüber hinaus an die mythischen Symbole von Fett und Filz erinnern. Die Überfülle an fremdartigen körperbezogenen Reizen (Folter, Gangstermethoden, absurde Erotik) kreieren einen persönlichen Mythos Barney, der allerdings in seiner Egomanie weit über den von Beuys hinaus reicht. Hier ist nicht mehr der schamanenhafte Messias am Werk, hier tritt ein Ego auf, das in seinem Selbstbezug unerschütterlich ist. Mark Van Proyen244 stellt sich die Frage, ob nicht analog der Cremaster-Funktion „the psychic temperature of postmodern identity has gone too low for the survival of anything except a highly perverse and over-objectified maleness?“ Barneys Mythos spiegelt für ihn die Dekoration der Selbstdekoration, die zutiefst narzisstische Position eines Dandys. Anspielungen auf antike Mythen und Mysterien tragen zur Entstehung dieses Bildes bei, entscheidend aber ist das überbordende Eintauchen in das Meer aktueller Medienbilder und dessen Anreicherung mit Reizen eines neuartigen Manierismus, der diesen ausgeprägten Persönlichkeitsmythos entstehen lässt. Manchmal tritt der Dandy auch als clowniger Narr auf, der hinter seinem grotesken Gehabe eine andere Schicht andeutet. Keith Seward245 gibt Barney diese Chance, indem er das Heldentum seiner Figuren mit der Nazi-Kunst und deren Rückgriff auf mythologische Gegebenheiten ritueller Abläufe und Körperkultur vergleicht. Barneys Helden sind in diesem Zusammenhang buchstäblich Anti-Helden, Nullen, wie etwa Jim Otto (Doppel-Null im Trikot), die in Kräftefeldern operieren, die ihnen nur Zustände permanenter Verwandlung und ständigen Schwebens zugestehen. Wir müssen wohl Barneys weiteres Wirken abwarten und analysieren, ob er uns in diesem Schwebezustand, der allerdings jene eingangs erwähnte Unbestimmtheit und Indifferenz signalisiert, bewusst belässt, oder ob er eventuell doch Entmythologisierung und Demaskierung mit Hilfe des mythischen Übertriebenen möglich macht. 244 245 S.: http://www.eserver.org/bs/38/vanproyen.html S. Parkett Nr. 45/1995: Matthew Barney. Zürich, New York, Frankfurt/M., S. 64. 161 2.4.2. Maurizio Cattelan Cattelan ist ein Autodidakt, für den die Jugend in seinem proletarischen italienischen Elternhaus die Stimulanz ist, eine bessere materielle Zukunft anzustreben. Erst mit Ende Zwanzig wählt er nach einigem Jobben und einer Ausbildung als Krankenpfleger die Kunst zu seiner Bestimmung, weil diese ihm „ein geregeltes Einkommen und attraktive Frauen versprach“ 246. Anders als manch anderer Künstler hat er die Doppelbegabung, die Trends und Stimmungen seiner Zeit – Spektakel und Probleme der Erlebnisgesellschaft – zu erkennen und diese auf nahezu werbliche Art und Weise dramatisierend in bildhafte und aktionierte Situationen zu transferieren, wobei er dem Rezipienten ausreichend Raum zur Interpretation überlässt. Um an sein Ziel zu gelangen, setzt er für seine Skulpturen, Installationen und Aktionen aus einer metaphorischen Tierwelt, aus Politik, Gesellschaft und Kunstbetrieb eine bildhafte Ideenmischung von Überraschungseffekten, Schocks und ulkigen Verrücktheiten ein. Auf der Suche nach dem (Anti-)Mythischen haben wir versucht, unabhängig von einer chronologischen Bestandsaufnahme seines Schaffens zwei unterschiedliche, sich aber ergänzende Gruppierungen seines Auftritts herauszufiltern: Zunächst einmal ist ein starker Fokus auf die Konditionierungen der Riten des Kunstbetriebes sichtbar. Seine Kritik an den beteiligten Institutionen sichert ihm gleichzeitig deren Wohlwollen, weil er nicht nur ein geteiltes, polarisiertes Publikum erkannt hat, sondern weil er für die ihm prinzipiell zugeneigte Hälfte dieser Öffentlichkeit die treffende künstlerische PR-Dramaturgie des zu akzeptierenden, humorgetriebenen ,Helden gegen das Normale’ beherrscht. Es fängt an mit dem Presseaufruf einer fiktiven Cattelan-Organisation, nicht zur Wahl zu gehen, weil dabei das Wertvollste, was man besitzt, abgegeben würde. Seine erste Publizität erweitert sich 1989 durch seine erste Einzelausstellung, an deren Eingang das Schild Torno subito / Komme gleich wieder angebracht war, um die von ihm selbst ausgeräumte Ausstellung seiner unzureichenden Exponate anzukündigen. Fast nichts nannte er einen Ausstellungsraum, den er, statt etwas zu präsentieren, über zusammengeknotete Laken angeblich durchs Fenster verlassen hatte.247 Er verschafft sich Geldmittel und Erfolg durch eine fiktive Oblomov-Ausschreibung in der Karibik, benannt nach dem russischen Helden der Entspannung, deren Teilnehmer sich verpflichten mussten, ein Jahr lang an keiner Ausstellung teilzunehmen; das Preisgeld der Sponsoren, das er 246 M. Cattelan, zitiert nach art Das Kunstmagazin: Nr. 3/2002, S. 27. Diese Bemerkung erinnert an M. Broodthaers’ Bekenntnis auf der Einladungskarte zu seiner ersten Ausstellung (s. Anm. 229). 247 Ebd., S. 26. 162 beschafft hatte, steckte er selbst ein, weil er der einzige Bewerber war. Schließlich ist er keineswegs zurückhaltend, wenn es darum geht, Künstlerkollegen die Idee und Schau zu stehlen, um selbst etwas darstellen zu können: 1997 präsentierte er in der Pariser Galerie Emmanuel Perrotin Werke, die mit denen seines Freundes Carsten Höller absolut identisch waren. Höller stellte in der benachbarten Galerie Air de Paris aus. Der Plagiator war Cattelan. Aber Cattelans Rolle greift über Kunstdiebstahl hinaus weiter, als allein die Kunstszene zu provozieren, von der er gleich wieder vereinnahmt wird. In dieses Schema der Kunstkritik eingebaut, richtet er in einem weiteren Teil seiner Arbeiten seinen Biss gegen Ikonen bzw. fest gefügte Vorstellungen und Realitäten unseres Gesellschaftsspektrums: Er erlangt endgültige Berühmt-/Berüchtigtheit durch seine lebensechte Wachs-Installation La Nona Oro / Die neunte Stunde (1999), worin der Papst Johannes Paul II. durch einen Meteoriten getroffen zusammenbricht (Abb.109), getroffen von einem gänzlich unheiligen außerirdischen Himmelsstein, einem Kometen, zur neunten Stunde, der Tageszeit, zu der Christus am Kreuz starb. Das Werk rief 2000 den Zorn polnischer Politiker hervor; zwei Mitglieder der katholischen Partei Polens wollten während der Präsentation der Installation in der Warschauer Nationalgalerie, nachdem das Werk bereits in Basel und London gezeigt worden war, die Würde des Papstes wieder herstellen, indem sie den Meteoriten zu entfernen und den Papst auf die Beine zu stellen versuchten.248 – An anderer Stelle erscheint Hitler als verharmloster Betender im grauen Tweed-Anzug (2001). Dieser Hitler ist – in der Nachfolge eines Chaplin – von Cattelan buchstäblich in die Knie gezwungen, indem er als zwölfjähriger, bibbernder Chorknabe auf die Dimension des Lächerlichen gebracht wird. Cattelans makabre und absurde Figurendarstellungen vermitteln Skepsis, Unduldsamkeit und Widerwillen gegenüber Macht und deren Systemen. Verführerische Effekte mischen sich mit Polemik zu Diskursen unserer Tage. Häufig wiederkehrende Gestaltungselemente sind Tiere in Form von Skeletten oder Präparaten. Hier hat es ihm besonders der Esel, so geduldig wie störrisch dümmlich, angetan: Statt Christus das Kreuz trägt dieser einmal als Symbol für die Religion unserer Tage einen Fernseher auf dem Rücken, ein anderes Mal balanciert sein EselSkelett die darüber pyramidenartig aufgebauten Gebeine der anderen Mitwirkenden der Grimmschen Bremer Stadtmusikanten (Abb.110). 248 Gioni, Massimiliano: Maurizio Cattelan – Rebel with a Pose [2000], Phaidon Press, 2nd ed., London, New York 2003, p. 158 – 192, here p. 179. 163 Abb.109: Maurizio Cattelan, La Nona Ora / Die neunte Stunde, Installationr, 1999 Abb.110: Maurizio Cattelan, Love lasts forever, Skulptur, 1997 Die Verbindung dieses letzteren quasi-mythischen Märchenbezugs mit dem Titel der Skelettskulptur Love lasts forever (es gibt daneben eine andere mit ausgestopften Musikanten) lässt uns mit der Frage allein, ob der im Märchendrama errungene Sieg der ursprünglich geschundenen Koalition nicht doch auch ein vergänglicher ist. Ein anderes Mal tritt bei Cattelan der Esel – wie bei Broodthaers in Brüssel das Kamel – lebend in der New Yorker D. Newburg Gallery lebend auf249 und verwandelt den Ausstellungsraum in ein Zoogehege; man könnte der Szene auch den Titel geben: ‚Achtung, hier wird auch nur mit Wasser gekocht!’ Natürlich kann ein derartig musealisierter Esel auch nur schlichtweg Teil der Spaßgesellschaft unserer Tage sein. Mehr noch ist dies allerdings Cattelans Picasso-Figur für Arme, die er 1998 vor dem MoMA in New York einen Berufsschauspieler, in entsprechendem Outfit maskiert, mimen lässt, um für die Ausstellung zu werben. Die Kunst zählt für ihn ohne Frage zur heutigen Erlebnisgesellschaft. Hierzu passt auch die Szene, worin er 1995 einen Pariser Galeriebesitzer in dessen Räumen einen Monat lang in einem pinkigen Hasenkostüm auftreten lässt, das einem überdimensionalen Penis nachempfunden ist. Schließlich möchten wir nicht unerwähnt lassen, dass sich seine Aktionen auch gegen Gewalt, Ausnutzung, Rassismus und Apartheid wenden. Mit Lullaby (1994) stellt er in Plastiksäcken Trümmerschutt aus, der bei tödlichen Mafiaanschlägen in Florenz und Mailand entstanden war. Oder: Statt der Namen von gefallenen GI’s werden auf einer monumentalen Granitplatte 1999 in London die verlorenen Spiele der englischen Fußball-Nationalmannschaft eingraviert. Oder: Er stellt an einem überlangen Fußballspieltisch zwei Elfer-Mannschaften gegenüber, elf Italiener und elf senegalesische Einwanderer, die sich in Italien rassistischen Ressentiments gegenübersehen. 249 Der Titel der Installation war: Warning! Enter at your own risk. Do not touch, do not feed, no smoking, no photographs, no dogs, thank you“ (1994). 164 Alles in allem vollzieht Cattelan einen gewagten Künstler-Spagat zwischen ironischer, spaßiger Effekthascherei und Problematisierung ernsthafter Sachverhalte. Er benutzt geschickt das Kunstsystem für seinen subversiven Ansatz, das ihn dafür reichlich belohnt.250 Geschmeidig bewegt er sich vollständig im System, das seine Provokationen zur Entmythologisierung lächelnd entgegennimmt. Seine Arbeit erscheint wie eine Werbekampagne für seinen persönlichen Markenmythos, eine Kampagne, die den Riten des aktuellen Kunstbetriebs folgt, ohne dabei allerdings wie Beuys oder Barney die mythische Repetition zu strapazieren. Wenn er betont und dabei bleibt, dass er das System benutze, dann sind seine zugespitzten Formulierungen letztlich auch als stark affirmative Reflektionen zur Rolle des Künstlers in diesem System zu verstehen. Es ist jedoch eine Interpretation vorstellbar, wonach seine Überzogenheiten mit ihrem „Übers-Ziel-hinausschießen“ das System der Kunstwelt und der Mythen des Realen für einen kurzen Augenblick in einem Catellan-Zerrspiegel brechen. Dafür kann man ihn durchaus lieben, wie zum Beispiel Kasper König, Direktor des Kölner Museums Ludwig, der den computergesteuerten Trommler auf dem Dach des Museums (Abb.37) als Beispiel für „Tiefsinn, der als Zote getarnt ist“ beschreibt.251 Das Mythische in seiner jeweiligen künstlerischen Wiederaufbereitung, seiner ausdrucksstarken Neuerschaffung oder auf der Anklagebank der um Aufklärung und Erkenntnis bemühten Künstler hat viele aktuelle Gesichter, die Harald Szeemann schon 1963 ,individuelle Mythen’ genannt hat, um die einzelnen Bemühungen zu beschreiben, die in der großen Unordnung der Welt eine besondere individuelle Ordnung ermöglichen oder andeuten sollen.252 250 La Nona Ora wurde 2001 für 886.000 Dollar bei Christies versteigert. Love lasts forever erzielte nur deshalb 442.500 Dollar, weil es sich um ein Remake handelte, da der Hund der Verkäuferin das Original angeknabbert hatte. Vgl. art Das Kunstmagazin Nr. 3/2002, S. 27. 251 Czöppan, Gabi: Genialer Kindskopf. In: Focus Nr. 21., 19. Mai 2003, S. 70. Alison Gingeras ergänzt: „Cattelan disavows the role of the artist as guardian of the Enlightenment ideals of moral rationality, historical consciousness, and truth. Instead, his sociology-sans-truth sets into motion a more disruptive scenario.” In: Gioni, Massimiliano: a.a.O., S. 172. 252 Vgl. u.a. Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 103. 165 2.5. … und mehr Bei dieser Radikalität des Ausdrucks von Barney und Cattelan ist es nicht geblieben. In Kurzübersichten möchten wir diesen extremen Formen, weil bezeichnend für die aktuelle Szene bis hinein in die Postmoderne, ein weiteres Paar aus der großen Zahl der Möglichkeiten hinzufügen, um dann abschließend noch zwei Gegenüberstellungen zu besprechen, die in etwas subtilerer Form ihr Anliegen vortragen. 2.5.1. Kiefer und Meese Zunächst einige Hinweise zu Anselm Kiefer (geb. 1945) und Jonathan Meese (geb. 1970), die sich beide zwar einer jeweils durchgängigen individuellen Formsprache bedienen, die jedoch weiter voneinander divergiert, als Jahrgang und Altersunterschied der Künstler es jemals beschreiben könnten. Dabei ist zunächst ihre Themenauswahl nicht derart abweichend, dass der Unterschied sich hieraus ergeben könnte: Beide setzen sich im weiteren Sinn mit politisch-gesellschaftlichen Fragen des Zeitgeschehens auseinander, für die sie unser Bewusstsein schärfen wollen. Die aktuelle MythenDebatte wird gerade an der Gegensätzlichkeit dieser beiden Künstler deutlich. Kiefers ganze Aufmerksamkeit gilt speziell der deutschen Geschichte und deren dramatischem faschistischen Höhepunkt im letzten Jahrhundert. Dabei greift er für seine Vermittlung auf für ihn essentielle Grundelemente deutscher Vergangenheit zurück, wie sie sich in germanischen Sagen und archaischen Mythen spiegeln, die für ihn ideologisch funktionieren und die Faszination des Nationalsozialismus begründen helfen. Sein Frühwerk beginnt mit seinen ,Besetzungen’ (1969), Aktionen, in denen er sich in den bevorzugten südlichen Reiseländern der Bundesdeutschen mit dem NaziGruß salutierend darstellt. Unmittelbar anschließend – Anfang der 70er Jahre – beginnt seine malerische Arbeit, u.a. mit den ,Dachbodenbildern’, etwa wie unten angedeutet mit Parsifal (1973 – Abb.111). Jetzt türmt sich ein gewaltiger Holzboden kathedralenartig auf, eine Art heroische Aufwertung eines Abstellortes, in dem Vergessenes lagert. Wie viele seiner großformatigen Bilder: beklemmend, düster in Schwarz, Grau und Braun, ohne Lichteffekte, für Helden aus mittelalterlicher oder archaischer Zeit gemacht. Diesen Darstellungen schließen sich Bilder mit Themen wie Varus (1976), Märkischer Sand (1982 – die Landschaft wird zum geschichtlichen Raum), Die Meistersinger (1981/2) oder Steinhallen im Charakter nationalsozialistischer Protzarchitektur (z.B. Dem unbekannten Maler, 1983) an, ebenfalls komponiert in massiver Bilddichte, z.T. unter Verwendung von Sand, Asche, Stroh oder Haaren, wie zur 166 Beschwörung bzw. Kenntlichmachung ursprünglicher Mächte, die der Faschismus zu seiner Faszination erneut mobilisiert hat. Kiefer identifiziert sich mit dem Geschichtsbild, um herauszufinden, „wie ich mich damals verhalten hätte“253. Er nähert sich dabei der faschistischen Vergangenheit, soweit es ihm möglich ist, und stellt sich politisch „existenzialistisch“ und „idealistisch“ auf. Die Bildgestalten wirken durchaus unpersönlich, unterkühlen den Betrachter und fördern durch eine Art Übermotivation Berührungsängste; Barrieren werden eher auf- als Grenzen abgebaut. Es liegt geradezu auf der Hand, dass dieses Werk keine einheitliche Kritik gefunden hat. Man kann einerseits die Absicht Kiefers diskutieren, sich möglichst weit als Nichtzeitgenosse des faschistischen Höhepunkts in unserem Land auf diesen einzulassen, um dann aus seinen Bildern eine prinzipielle, durch das Mythenbild provozierte Bewältigung verdrängter Vergangenheit abzuleiten. Allerdings stört hierbei das Pathos des Kieferschen Vortrages, das die ideologische Remythologisierung nicht für jedermann anprangert, vielleicht noch nicht einmal neutralisiert. Stefan Germer nennt dies den Verlust der reflexiven Distanz zum dargestellten Gegenstand, sodass die glaubwürdige Form der Darstellung des Historischen daher durchaus bezweifelt werden kann. Für Germer trägt Kiefer klischeehaft „den ganzen Fundus bereits veröffentlichter Vorstellungen“254 vor und durchdringt das bedrohlich ideologisch Mythische nicht. Und Kiefer unterstützt diese Art der Rezeption allerdings dadurch, dass sich sein Bildtypus bedrückend eindringlich auf die zu problematisierenden Täter konzentriert und sich betont einseitig auf das Eintauchen in die verirrte Faszination des Dritten Reiches einlässt. Dabei verweigert er bewusst die sichere Distanz und lässt das Erdrückende des Fatalen und Verblendeten voll auf die nachfolgenden Generationen einwirken. Abb.111: Anselm Kiefer, Parsifal, Öl auf Tapete und Nesseltuch, 1973 253 Abb.112: Jonathan Meese, Staatsatanismus, Installation, Detail, 2002/3 Kiefer, Anselm, zitiert nach Bussmann, Georg: Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken. In: Bund deutscher Kunsterzieher: Kunst und Politik, Buckdruckwerkstätten Hannover, 1989, S. 3 – 8, hier: S. 4. 254 Germer, Stefan: Die Wiederkehr des Verdrängten. In: Bernard, Julia (Hg): a.a.O., S. 39 – 63, hier: S. 49 und 52. 167 Ganz anders dagegen die Art der Auseinandersetzung des Jonathan Meese mit dem, was wir eingangs dieses Abschnitts als politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge bezeichnet haben. Indem er es strikt ablehnt, andere zu irgendetwas veranlassen zu wollen, feuert er auf die Ordnungsweisen unserer Gegenwart geradezu wüst und zum Lachen chaotisch, wenn man bei ihm nur wüsste, worüber man eigentlich lachen soll. Seine Provokation versetzt Kiefers Auftritt bei dieser direkten Gegenüberstellung erst recht in ein geradezu melancholisches Licht. Eine Kurzbetrachtung seiner Installation KéPi, BLANC, Die Ordensburg ,Mishimoend’ (Toecutter’s Mütze) (Abb.112) macht uns dieses Chaos etwas deutlicher. Es handelt sich bei unserem Beispiel um einen Teil (Raum) der für die Harburger Falckenberg-Sammlung erstellten Raum-Installation, einen Waschraum, wie man ihn in Kasernen vermutet. Wie die übrigen Räume der Groß-Installation auch ist dieser vollgestopft mit einem übermächtigen Sammelsurium von Gegenständen, die Meese in der Familie, auf der Straße oder in der Zeitung gesehen und nicht liegen gelassen hat, überwiegend Abfall und Ramsch (,trash’) unserer Konsumgesellschaft. Vor einer Reihe von Waschbecken erscheint in diesem Gruppenwaschraum eine ,soldatische’ Spindwand, deren einzelne Türen mit den Namen von Nero, Caligula, Hitler, Meese, Nietzsche, Rasputin, Jesus oder Mussolini versehen sind, Türen, hinter denen sich lediglich Bilderabfall aller Art auftut. Auch in den übrigen Räumen versammelt sich ein Dickicht aus aufgelesenen Ungereimtheiten. Zwischen ,Staatssatanismus’ und ,Saaltum’ kann man trotz Gruseln und hoffnungsloser Verwirrtheit eventuell auch noch ein wenig lächeln. Ein gespensterhafter, mythenbeladener Klamauk, der das sogenannte Bedeutungsvolle, Zeitgeist-Mythische in Frage stellt, wenn man sich darauf einlässt. Meese sammelt diesen ,trash’ sozusagen von Kiefers Dachboden auf und versucht, es wild und unbedenklich zu erneuern: aus dem ,Zurück’ ein ,Vorwärts’ zu machen. Dabei spielen Zufall und Überraschung mit, sodass wir uns zwischen Erkenntnissuche und Selbstzweck hin und her bewegen. Für Meese hat die Moderne, wenn diese dann nach dem Einen, dem Klar-Sinnvollen sucht, restlos ausgedient. Meese möchte noch einmal anfangen: „Ich bin zur Zeit wieder in einer extrem pubertären Phase – oder sogar in einer vorpubertären“.255 Wir müssen abwarten, ob diese Haltung sich beweist – Meeses Chance scheint zu sein, dass das Pathos, das erhobene Erhabene bei ihm nicht zu erwarten und ein Scheitern einkalkuliert ist. 255 Vgl. art Das Kunstmagazin Nr 3/2004, S. 22. 168 2.5.2. Armando und Long Vielleicht sind diese beiden Künstler weniger lautstark bzw. in ihren Äußerungen weniger drastisch, deswegen aber nicht minder eindringlich: Armando (geb. 1929) und Richard Long (geb. 1945). Der in Berlin lebende Niederländer Armando thematisiert sein Kindheitstrauma, das auf Erlebnisse und Eindrücke zurückgeht, die mit der Errichtung des Amersfoorter Konzentrationslagers zusammenhängen. Er reflektiert Ausgrenzung, Unterdrückung, Vernichtung und Todesschrecken abstrakt – sozusagen antifilmisch im Gegensatz zu aktuellen TV-Szenen – in symbolisch tragenden, meist schwarz dominierten malerischen Großaufnahmen. Oft geschieht dies unter Zuhilfenahme von Abbildungen von Leitern (aufwärts für die Wächter des Lagers, abwärts für die todgeweihten Gefangenen) oder Fahnen, die nicht nur Fähnlein am Strand, sondern eben Standarten am Schützengraben symbolisieren. Wir beziehen uns hier auf ein mythisches Medusasynchrones Beispiel einer Kopfdarstellung, das ausweglosen, erstarrten Schrecken vor dem unabwendbaren Gegenüber symbolisiert (Abb.113). Der Künstler beschäftigt sich direkt mit dem unbeschreiblichen Grauen, das eigentlich nach Auschwitz nicht mehr wahrheitsgemäß und glaubwürdig darstellbar ist. Hier kommt eine mythische Symbolik zum Ausdruck, fern von allem Narrativen, die an anderer Stelle selbst so weit getrieben wird, unschuldige Landschaften und Natur, die angesichts jener Grausamkeiten trotzdem unbeirrt ,weitergewachsen’ sind, in ihrem Schuldlos-bleiben-wollen anzuklagen.256 An den Rand des wuchernden Geschehens unserer Erlebnisgesellschaft gedrängt, starrt (1990) dieses Antlitz auf uns, die Protagonisten der heutigen Kulturszene, mit der bitteren Erfahrung des erduldeten Leidens und dem Wissen um neue Grausamkeiten. Die Eindringlichkeit und Düsterkeit des bitteren, anklagenden Blicks wird durch den maskenhaft entstellten Kopf, der wie bei der Medusa fast von Hals und Rumpf getrennt erscheint, und die schroffe Schwärze der Farbgebung unterstrichen; den ,Lebensraum’ der abgebildeten Gestalt spiegelt ein zerrissener, flammenartig wild bewegter, drohender Hintergrund wider. Die Aufdringlichkeit und Dramatik des Medusischen machen diesen Mythos jedoch schwer konsumierbar; um ihre ,Schönheit’ zu erfahren, muss man nachfragen – den Mythos analysieren, und sich dabei auch von Armandos Biografie helfen lassen. 256 Armando: Die Wärme der Abneigung, Frankfurt/M. 1987. In: Neuer Berliner Kunstverein, Haus am Waldsee Berlin, Neues Museum Weserburg Bremen (Hg): AK Armando, Bilder, Skulpturen, Zeichnungen, Reiter-Verlag, Berlin 1994, S. 27. 169 Abb.113: Armando, Kopf 10-7-90, Öl auf Leinwand, 1990 Abb.114: Richard Long, Mountain Circle, Kalkstein-Installation, 1991 Auch ein anderer, der Engländer Richard Long, hat es schwer, mit seinen nahezu einsamen Rückblicken in tiefste archaische Vergangenheit unser Gehör zu finden, obwohl er doch auch das angeblich so Kommunikative des Mytisch-Kultischen bemüht. Er erstellt, aufbauend auf persönlichen Reiseerfahrungen, an archaischen Kultstätten in Übersee und Europa u.a. kreisförmige Steinskulpturen (Abb.114). Long sucht auf der Ebene der Land-Art in anderen Kulturen nach Zeichensetzungen, die auch wir in unserem Aufgeklärtsein identifizieren und akzeptieren könnten, um unsere Selbstfindung jenseits des Alltag zu erleichtern. Er selbst hat diese Zeichen auf seinen einsamen Reisen an verlassenen Stätten gefunden und außerdem selbst, meist als ephemere Kunstwerke in Sand oder Stein, hinterlassen. Seine Kreise bestimmen einen mythischen Ort und vermitteln in einer Art Neuauflage rituellen Bewusstseins (Dynamik des Mythos!) die Chance für Nachdenklichkeit, Besinnung oder Korrespondenz mit Natur und Vergangenheit, gegebenenfalls für neue innovative Erfahrungen. Man kann nachempfinden, dass gerade das Ephemere mit seinem gleichzeitigen Bezug zu dem Geschehen in der Natur und seinen natur-authentischen universellen Materialien (Stein, Holz) Long stark macht und Distanz etwa zum Nymphischen als einem Symbol unserer aktuellen Kulturszene herstellt. Hier tritt uns etwas Archetypisch-Authentisches entgegen, auf eine konstruktivistische Sachlichkeit zurück gebracht, anspruchslos – wohl aber doch leise fordernd nach mehr Vernunft im Verweis auf mythische Tradition, eine wohl dosierte Remythisierung, die sich von radikalen oder gar ideologisch-radikalen Entwürfen ihrer Art wohltuend abhebt. 170 2.5.3 Neshat und Lahoda Unsere letzte Gegenüberstellung bestreiten Shirin Neshat (geb. 1957) und Thomas Lahoda (geb. 1954). Neshat, als Iranerin in New York lebend, sucht ihren Weg zwischen den Geschlechtern, zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Dabei benutzt sie poetische und mythische „Metaphern für die gegenseitige Bedingtheit kultureller Identitäten“257, ohne dass ihre Beschreibungen zu eindeutigen Entscheidungen führen – etwa zwischen einerseits iranischer Tradition und deren mythischreligiösen Bezügen und andererseits westlich kapitalistischem Pragmatismus. Ein Beispiel ist ihre Videoarbeit Tooba (documenta XI, 2002), in der in einem kleinen, hoch umzäunten Garten eine alte Frau langsam mit einem einzeln darin stehenden Baum verschmilzt, während gleichzeitig sich von außen über eine hügelige Landschaft von allen Seiten Männer diesem Garten nähern, um schließlich den Mauerzaun zu erklimmen und festzustellen, dass die Frau verschwunden ist. Meditative Musik unterstützt die eindringliche, aber auch beklemmende Getragenheit der Szene, die unwirklich an den Garten Eden erinnert – jedoch der paradiesische Mythos versagt den männlichen Protagonisten irgendeine Erfüllung (Abb.115). Neshats Darstellung macht deutlich, dass die Metamorphose auch jenes Charakteristikum des Mythos enthält, das subversiv, d.h. gegen eine etablierte Zugänglichkeit gerichtet ist. Betrachtet man den Mythos grundsätzlich als etwas Normatives, dann wirkt eine derartige mythische Verwandlung dieser Ordnung gleichzeitig entgegen. Abb.115: Shirin Neshat, Tooba, Videostill, 2002 Abb.116: Thomas Lahoda, Messe, Installation Detail, 2000 Die Zugriffe auf Vergangenes sind bei dem Tschechen Thomas Lahoda von völlig anderer Art. Seine Arbeit ist eindeutig analytisch entmythologisierend, indem sie – 257 Documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs GmbH (Hg): documenta 11, Plattform 5, Kurzführer, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, S. 170. 171 aufbauend auf seinen ursprünglichen Tätigkeiten als Restaurator – bestehende Kunst und ihre Stile neu interpretiert und deren bisherigen Status und bisherige Einschätzung reflektierend in Frage stellt, wenn nicht gar unterläuft. In einer Welt überbordender Informationen mahnt er eine Auseinandersetzung aus kritischem Abstand an: Dies ist Lahodas Ziel mit seiner Messe-Ausstellung (2001)258, in der er à la Broodthaers Kunst und Design aller Art, von ihm ‚restauriert’, nebeneinander präsentiert. Ein Teil daraus ist die Deer-Bildserie, in der das zum Kitsch degradierte Sofabild als neoromantische Figur nahezu spielerisch neu aufersteht (Abb.116). Der aktuell-mythische Bedarf und dessen Erfüllungsgehilfen in Kunst und Werbung werden parodistisch suspendiert. In der Dekonstruktion des Bestehenden entsteht eine analytische Verfremdung bzw. Verunsicherung mit der Frage nach dem eigentlich Authentischen.259 Die ironisch dekonstruktivistische Haltung, die in seinen Arbeiten im Verhältnis zum traditionellen Design aufscheint, weist auf das enge Nebeneinander – zu gegenseitigem Nutzen oder parasitär – u.a. von Kunst und Werbung hin. Diesen Punkt möchten wir im nächsten Abschnitt (Kap. V) weiter ausleuchten, denn dieses Nebeneinander fordert uns, die Rezipienten von Lahoda, heraus, kritisch den jeweiligen Mythos-Standpunkt in einer Welt allergrößter Kommunikationsfülle zu analysieren. Für Lahoda jedenfalls ist dieses Eindenken in ein Kunstwerk wichtiger als die Frage der Authentizität, weil sie Verklärtes von Realem trennen hilft. c. Wesentliche Mythoselemente in der Kunst im Überblick Bevor wir im nächsten Kapitel zu einer allgemeinen Mythos-Reflexion – besonders auch im Zusammenhang mit Werbung – übergehen, soll hier eine kurze Zusammenfassung der Mythen-Bilder in der Kunst gegeben werden, mit dem Ziel, allgemein verbindliche Strukturelemente festzuhalten. Aus der Vielzahl und der Komplexität der in den vorausgegangenen Abschnitten dargestellten mythischen Substanzen in der Kunst ergibt sich unmittelbar die Frage einer abschließenden, geordneten Darstellung. Wir wollen diese Frage nicht nach Stilepochen strukturieren, zumal uns nach dem Überblick über die mythischen Transformationen bereits ein umfangreicher, wenn auch nicht restlos erschöpfender Einblick zur Verfügung steht, vielmehr möchten wir diese 258 259 National Gallery Prague: AK Tomás Lahoda, „Messe“, Divus, Egmont, Prag 2001, S. 1 ff. In The Last Monet (2000) dekonstruiert T. Lahoda Monets impressionistische Wasserlilien, die von ihrem Farbenspiel leben, durch Schwarz-Weiß-Darstellungen. Dabei wird jedweder ursprünglich bildlicher Inhalt abgebaut, offenbart wird verblichener Ruhm eines Klischees. Ebd., S. 25. 172 Zusammenschau unter zwei gesonderten Aspekten durchführen. Erstens mit der Frage: Welche Rolle spielt der Mythos in der abstrakten Kunst? Denn in einem Schwarzen Quadrat dürfte auf Anhieb wohl nicht mit einer mythischen Substanz gerechnet werden können, oder gerade doch? Darüber hinaus möchten wir zweitens ein Modell von Zuordnungen der verschiedenen Mythos-Topoi zu ihren rezeptiven und produktiven Sinnstrukturen unter Berücksichtigung der Mythenfunktionen anbieten (Tabl.12). Zu diesem letzteren Aspekt ist bereits jetzt festzustellen, dass dieses Modell naturgemäß keine ausschließlichen Zuordnungen beanspruchen wird, da ein Künstler ohnehin, aber auch sein einzelnes Kunstwerk auf verschiedene Weise dem mythischen Beziehungsgeflecht verbunden sein können. Unser Modell kann daher nur ein Leitfaden für die Betrachtung im konkreten Fall darstellen. 1. Mythos ,abstrakt’ Mit der ersten Fragestellung könnte man unterstellen, dass seit der Antike und in der Moderne seit der Renaissance bis zur Geburt und Entwicklung der modernen Abstraktion – und dies sind in besonderer Weise die nahezu zeitgleichen Auftritte von Wassily Kandinsky (1866 – 1944), Piet Mondrian (1872 – 1944) und Kasimir Malewitsch (1878 – 1935) – der Mythos in Malerei und Skulptur fast durchweg anwesend war. Wir haben in der Tat in unseren bisherigen Überlegungen keinen Gegenbeweis für das Fehlen des Mythischen in den verschiedenen Stilepochen entdecken können. Jedoch kann dies an unserer Suchaktion selbst gelegen haben; denn es gibt natürlich diskutable Ausnahmen, von denen wir ausdrücklich neben der ,Abstraktion’ zwei weitere hier ansprechen möchten. Die erste dieser Ausnahmen bezieht sich auf die Genremalerei des holländischen ,Gouden Eeuw’ (ca. 1610 – 1670). Anders als in der Historienmalerei – wir erwähnen hierzu allein beispielhaft und ohne Kommentar Raphael (1483 – 1520, Die Schule von Athen, Abb.119) und Jacques Louis David (1748 – 1825, Der Schwur der Horatier, Abb.120), die ihr Kunstschaffen in großem Stil auf den Vorgaben besonderer geschichtlicher Ereignisse und Persönlichkeiten, auf Mythen oder auf der Religion aufbauten, – treten an dieser Stelle stark subjektive Einstellungen zu Tage: unterhaltsam und lebensnah in den Abbildungen gesellschaftlicher Zusammenkünfte und Gelage, beim Unterhalten, Trinken, Spielen und Streiten – zu Hause, im Wirtshaus oder im Bordell, wie es z.B. im Werk von Jan Steen (1626 – 1679) nachvollziehbar ist (Abb.121). Gleichzeitig aber sind diese Bilder doppelbödig: Das Holland jener Tage hatte sich in Randlage des 173 großen Krieges zum reichsten Land Europas entwickelt und das gesteigerte Selbstwertgefühl der neuen und alten Wohlhabenden suchte seine Identität, die ihrerseits eine moralisierende, warnende und polemisierende Künstlerhandschrift provozierte. Bei aller Sympathie mit seinem Sujet und dessen Akteuren, die wir Jan Steen nicht absprechen dürfen260, tritt durch die Überbetonung der vorgezeigten Charaktere und deren Leidenschaften – Wollust, Trink-, Rauch-, Fress- und Selbstsucht – etwas Tadelndes im Sinne einer sozialen Rüge zu Tage. Diese Offenlegung von Maßlosigkeit und Müßiggang darf als – allerdings humorvoll gebrochener – moralisierender Rückgriff auf religiöse und mythologische Themen des vorhergehenden Jahrhunderts verstanden werden, als z.B. Hieronymus Bosch (ca. 1450 – 1516) mit seiner Tischplatte (im Prado) die sieben Todsünden anprangerte. In dem von uns gewählten Beispiel aktualisiert Steen allegorisierend z.B. Boschs ira (Zorn) durch seinen den Säbel ziehenden Verlierer beim Kartenspiel. Willem Buytewech als Pionier und später Jan Steen, Frans Hals oder Jan Vermeer haben zu ihrer Zeit bei ihren Darstellungen in erster Linie keine auf Mythen bezogene Wahrnehmung verfolgt, vielmehr waren alle religiösen Themen oder an traditionellen Mythen orientierte Sujets beinahe restlos aus ihrem vordergründigen bildnerischen Repertoire verschwunden. Die Heroen der Antike oder die Gestalten der Bibel, die Barock oder Klassizismus bevölkern, werden hier ersetzt durch erkennbare Figuren und Typen der Gegenwart, um das Sichtbare ,sichtbarer’ zu machen. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Werdegang von Jan (Taufname: Johannis) Vermeer (1632 – 1675). In seinem Frühwerk verwendet auch er noch mythologische und christlichreligiöse Themen, wie z.B. in Diana mit ihren Gefährtinnen (Abb.117). Es handelt sich um eine düster-ehrfürchtige, distanzierte Szene, in der die Fußwaschung an einer Diana ohne deren Attribute von Pfeil und Bogen von einer ehrerbietigen, würdevollen Nymphe vollzogen wird und die neben der Reinigung vor dem Bade wohl auch Demut (nahender Tod?) ,signalisiert’. Nach dem Tode des Prinzen von Oranien um 1650 verliert jedoch generell die mythisch-christliche, historische Malerei an Bedeutung, und Vermeer findet, wahrscheinlich auch angeregt durch die Begegnung mit Steen in Delft ab 1655, zu seinen modernen Genre-Themen. 260 Diese Bildauffassung hatte eine erhebliche Konjunktur als Ornament einer wohlgefälligen Bürgerlichkeit – vergleichbar der Designerkultur unserer Tage. 174 Abb.117: Jan Vermeer Diana mit ihren Gefährtinnen, Öl auf Leinwand, um 1655 – 56 Abb.118: Jan Vermeer, Die Malkunst, Öl auf Leinwand, um 1666/7 Um 1669 malt Vermeer seine Spitzenklöpplerin (Louvre) ohne jeden historischen oder allegorischen Anflug, einfach das Bild von Versunkenheit in Harmonie bei der Arbeit. So irdisch die damit angesprochene (spätere) Bildwelt Vermeers auch ist, so gelingt ihr doch eine neue Verzauberung seines Stoffes, die sie durchaus über den Alltag erhebt, und man kann vermuten, dass die spezifische Optik einer zu Hilfe genommenen Camera obscura dies befördert hat. Letztendlich lässt auch den Meister des (Nur-)Sichtbarmachens das traditionelle Themengerüst nicht völlig los: Um 1666/7 entsteht Die Malkunst (Abb.118), in der sich die Muse Clio mit ihrer Posaune (Ansehen, Geschichte) dem Maler stellt – als Allegorie auf den hohen Status des Malens selbst – im Stile eines Historienbildes, jedoch in seiner Art stark reduziert oder ,desillusioniert’. Aber kommen wir noch einmal kurz auf Steen zurück. In der zitierten Doppelbödigkeit seines Werkes ist ein Stück Aufruhr gegen das allgemein Gültige jener Tage, ein deutlicher satirischer Tadel gegen das Aufgeklärtsein der Epoche erkennbar, der eine subjektive Einstellung sichtbar macht, die auf der Suche nach einer andersartigen Aufklärung ist, vielleicht also auch nach einem Sinn des Lebens, der sich der aktuellen Ratio nicht anschließt. Wenn wir heute von einem Makromythos ,Kulturindustrie’ oder ,Werbung’ als einem Zeitgeist-Mythos sprechen, so könnte man rückwirkend auch hier einen solchen Zeitgeist-Mythos des ,Goldenen Jahrhunderts’ bestimmen, den der zeitgenössische Künstler – wenigstens ansatzweise – als Dekadenzerscheinung hinter der evidenten Realität begriff. Die nächste hier zu erörternde Ausnahme bezüglich eines mythenfreien Kunstansatzes könnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Impressionisten mit einer neuen Darstellung von Wirklichkeit unter dem Eindruck des massiv sich entwickelnden objektiven, technologisch-naturwissenschaftlichen Fortschritts liefern 175 (inklusive der Entwicklung der Fotografie). Man kann mit Kurt Hübner der Auffassung sein, dass der Künstler sich – durch diesen Fortschritt bedrängt – in die Offenlegung seiner subjektiven Wirklichkeitserfahrung begibt, sich also „unter dem Druck der Wissenschaft … auf die Tatsachen subjektiven Schauens“ zurückzieht261. Nach Hübner ist dabei kein mythischer, metaphysischer oder wissenschaftlicher Hintergedanke im Spiel. Mag aber ein transzendentes, numinoses oder traditionell mythisches Denken offenbar fehlen, so sollten wir Hübners eindeutiger Negation mythischer Substanz doch widersprechen, da allein schon in der Subjektivität des impressionistischen Ausdrucks bereits eine emotionale, vielleicht eher vage definierte anti-aufklärerische Sichtweise zu Natur und Wirklichkeit sich ausdrückt. Denn: Völlig losgelöst vom historischauthentischen Mythosbild deutet sich behutsam – fern von allem Getragenen oder Transzendenten und trotz aller Überlegungen zu Licht- und Farbzusammenhängen – etwas an, was sich vom Aufklärerischen absetzt und eine andere Wirklichkeit hinter der Realität bemerkt. Die neuen malerischen Techniken gestatten diesen Malern einen innovativen künstlerischen Ausdruck, mit dem sie als „Eindruckskünstler“ etwas thematisieren, was wir als Erfahrung der Großstadt oder der Landschaft bzw. als harmonisches, problemfreies, eventuell sogar paradiesisches (Freizeit-)Erlebnis nachempfinden können. Derartige Vorstellungen oder ideelle Themen können wir durchaus als mythische Tragflächen eines Zeitgeist-Mythos identifizieren, dessen Verständnis von vor hundert Jahren ein anderes gewesen sein kann als heute – je nach der subjektiven Werteanordnung. Diese war bei den Impressionisten, fern aller Gesellschaftskritik, wohl eher von Harmonie und farbigem, poetischem Optimismus begleitet als von entzauberter, zerstückelter Weltbetrachtung (trotz Pointillismus). Die Nympha à la Claude Monet (1840 – 1926) Frau mit Sonnenschirm (Abb.122) mag zu dieser Betrachtungsweise anregen. Wenn wir uns allerdings vorstellen, dass ein Maler sich der landschaftlichen Weitsicht hinter der Dame annimmt oder sich gar allein auf einen Blumenstrauß aus dem Feld (Stilleben) konzentriert, in dem diese wandelt, dann nimmt das mythische Element doch rasend schnell ab.262 Retrospektiv scheint in diesem Zusammenhang die Annahme nicht unberechtigt, dass die Gesellschaftsutopie der Impressionisten darin mündete, dass sie unbewusst einer Idealisierung des 19. Jahrhunderts Vorschub leistete, indem sie den Mythos des 261 262 Hübner, Kurt: a.a.O., S. 296. Sieht man jedoch ,fantasiegeladen’ wie der Kunsthistoriker Meyer Schapiro in Cézannes Stilleben mit Zwiebeln (1896/8) eine Aufwertung zu erotischem Erleben, dann sind wir selbst hier auf der zweiten Barthesschen Ebene des Mythos angelangt. Vgl. bei Nemeczek, Alfred: Im Banne des Meisters aus Aix. In: art Das Kunstmagazin, Nr. 9/2004. 176 Fortschritts und dessen gesellschaftliche Auswirkungen durch ihre Ausdrucksweise relativierten und von der technologischen Entwicklung und deren Produktionsverfahren ablenkten bzw. diese sogar (nachträglich) unfreiwillig durch ihre Begleitung legitimierten. Es ist viel beschrieben worden, wie sich ausgehend von diesem impressionistischen Kunstverstehen das künstlerische Weltbild weiter entwickelt. Wir haben bereits mehrfach die Umbruchsituation vor und nach dem ersten Weltkrieg angesprochen, in der der Flächenbrand des „Gegen-alles“ (etwa bei Picasso und Duchamp) Feuer fängt: Für die abstrakte Malerei treten aber nunmehr die drei genannten Künstler Kandinsky, Mondrian und Malewitsch als Pioniere auf, sie entfernen den Gegenstand aus der Kunst – jenseits aller Erzählungen. In dieser Hinsicht stehen sie sich in nichts nach, wobei interessanterweise Wassily Kandinsky mit Monets impressionistischer Malerei ein Schlüsselerlebnis hatte, das für ihn die Auflösung des Gegenständlichen markierte.263 Kandinsky gelangt in einem mehrjährigen Prozess zu seinem abstrakten Ausdruck. Ähnlich den Positionen von Franz Marc (1880 – 1916) und Paul Klee (1879 – 1940) hat dieser Stil lyrisch-malerischen Charakter. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Form und Farbe in seinen Kompositionen nach (theoretischen) Überlegungen und zahlreichen Vorstudien geplant entstehen und daher auch konstruktivistische Züge enthalten (Abb.123). Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch besetzen vergleichsweise stärker geometrisch-abstraktes Terrain. Haben wir an dieser Stelle nunmehr das vollständig mythenfreie Kunstschaffen entdeckt? Es entsteht jedoch eine diskursive Spannung, wenn wir bei Kandinsky bleiben und von ihm hören, dass eine ,innere Notwendigkeit’ – getragen von originärer Spontaneität und Ursprünglichkeit seelischer Empfindungen – bei der Erstellung eines Kunstwerkes Pate stehen müsse, und er dann ferner wenige Jahre später 1913/4 im Gegensatz dazu deklariert: „Ich will keinen Seelenzustand malen“.264 Ausdrucksmittel für die Offenlegung der inneren Notwendigkeit sind für Kandinsky Farben und Linien; für ihn ist „klar, dass die Farbharmonie nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muss. Diese Basis soll als 263 W. Kandinsky schreibt: „Dass das ein Heuhaufen [von Monet] war, belehrte mich der Katalog. Erkennen konnte ich ihn nicht … und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, dass das Bild nicht nur packt, sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt.“ Zitiert nach: Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 185. Kandinsky bezieht sich hier auf ein Heuhaufen-Motiv Monets, das dieser im Herbst 1891 mehrfach zu verschiedenen Tageszeiten malte – sozusagen ein Vorläufer der künstlerischen Serienproduktionen. 264 Kandinsky, Wassily: Mein Werdegang (1913/4). In: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 118 – 122, hier: S. 122. 177 Mythische Substanz … … im „Historischen“? Abb.119: Raffael, Die Schule von Athen, Fresko, 1510/11 Abb.120: Jacques Louis David, Der Schwur der Horatier, Öl auf L., 1784/5 … im „Genre“? Abb.121: Jan Steen, Der Streit beim Spiel, Öl auf Leinwand, 1664/5 Abb.122: Claude Monet, Frau mit Sonnenschirm, Ö.a.L., 1886 … im „Abstrakten“? Abb.123: Wassily Kandinsky, Komposition VIII, Öl auf Leinwand, 1923 Abb.124: Jackson Pollock, Number 1A, 1948, Öl auf Leinwand, 1948 178 Prinzip der inneren Notwendigkeit bezeichnet werden.“265 Mit „Das Ziel bleibt im Unbewussten“266 hebt er schließlich auf Bedeutungspluralismen bzw. auf inhaltliche Vielsinnigkeit ab, die Geheimnisvolles und Unerklärbares beschwört. Und Werner Haftmann findet: In den Bildern „entfesselt sich“ als neuem „selbständigem Kosmos des Bildes ein dionysisches Furioso“ und „nur mit äußerster Mühe hält das Bildgerüst diese einströmende Flut aus Musikalischem, Dionysischem und Mystischem aus“267. In unserem Beispiel der Komposition XIII dominiert auf der hellen Grundfläche des Gemäldes eben dieser Kreis neben anderen geometrischen Formen wie Halbkreisen, Dreiecken, schachbrettartig angeordneten Quadraten, Geraden und Schlangenlinien; es entsteht dabei ein seltsamer Notenspiegel, der ein Kandinskysches Musikstück verbergen könnte. Gleichzeitig aber kann man mit Werner Hofmann erwägen, ob Kandinsky nun wirklich aus innerem Drang für inneren Klang spontan oder doch eher aus künstlerischem Kalkül zu seiner Abstraktion (zu seiner neuen Realität) gelangt ist. Dafür spricht u.a. sein langer Weg in die Gegenstandslosigkeit, bei der man nie so genau weiß, ob nicht doch ein wenig Gegenständliches vorhanden ist. Für Kandinsky aber ist die Abkürzung des Ausdrucksvollen „durch Ausdruckslosigkeit“ gekoppelt an das Wissen, dass er die „absolute Malerei erzwingen werde“268 gegen alle existierenden Stile, wie z.B. Expressionismus oder Jugendstil. Werner Hofmann vermutet daher, durch Kandinskys Doppelbegabung ,Maler/Theoretiker’ hindurch, dass dieser sich gegen die Kritik, ein Scharlatan zu sein, „der Rückendeckung durch das kosmische Geschehen versichert“269. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Kandinskys frühen Werken des künstlerischen Aufbruchs zahlreiche Reitermotive aus romantischer und russischer Ikonen-Vergangenheit symbolartig auftauchen – als tugendhafter Ritter, als geheimnisvoller Bote oder als Heiliger Georg. In der Bauhaus-Periode tritt an die Stelle des Reiters der Kreis mit dessen für ihn mythischen Qualität als ,Synthese der größten Gegensätze’ (vgl. Abb.123) und Ausdruck für starkes inneres Empfinden. Hierin, d.h. in 265 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. In: Harrison Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 111 – 118, hier: S. 118. 266 Kandinsky, Wassily: Zitiert nach Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 309. 267 Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert, Eine Entwicklungsgeschichte [1954], Prestel, 6. Aufl., München 1979, S. 181. Die assoziative Gleichschaltung von Musik und Malerei führt bei Kandinsky zu seinem Begriff des ,inneren Klanges’ als dem unfassbaren, nachzustrebenden, höheren Sinnzustand. 268 Kandinsky, Wassily: Mein Werdegang. In: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 118 – 122, hier: S. 120/1. 269 Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 316. 179 seiner Abstraktion mit Hilfe von Kreis, Linie und Farbe, offenbart Kandinsky den Versuch einer Verschleierung oder Codierung, dessen Auflösung dem Betrachter zufällt. Es mag offen bleiben, ob es sich bei diesen Aussagen Kandinskys um draufgesetzte Argumentation zur Rechtfertigung künstlerischen Handlungsfreiraums handelt oder ob der ganze Künstler dahinter steht. Man wird aber wohl kaum abstreiten können, dass Kandinsky für sich selbst in der restlosen Abschaffung alles Gegenständlichen, sozusagen im Wegschmelzen aller Stile, zu seinem „inneren Klang“, einem Gleichklang mit dem Weltgeschehen gelangt sein kann, d.h., dass er für sich eine subjektivistischbefriedigende Annäherung an ein naturwissenschaftlich nicht Fassbares, an etwas Mythisches vollzogen hat. Andererseits wird dem Rezipienten eine völlige Verhüllung des (normalerweise) Gegenständlichen zur individuellen Interpretation eines Übersinns angeboten, wobei der Vollzug einer restlosen Entleerung jedweder mythischen Substanz ebenso wie der „innere Klang“ erfahren werden können. Noch eindringlicher sind die Bemerkungen Malewitsch’ zu seiner geometrischen Abstraktion, wenn er uns mit seiner Bildauffassung eine humanere gegenstandslose Welt aufzeigen möchte. „In ihm, dem Quadrat, sehe ich das, was die Menschen einstmals im Angesicht Gottes sahen“270. Der ,deus revelatus’ hat sich verborgen und wird nunmehr in einem nicht mehr anthropomorph Darstellbarem gesucht. Dies trifft in ähnlicher Weise auf Mondrian zu, für den gegenstandslose Kunst „Ausdruck wahrer Wirklichkeit und wahren Lebens … undefinierbar, aber realisierbar“ durch künstlerisches Schaffen ist271. Aus beiden Zitaten können wir wie bei Kandinsky folgern, dass die Künstler mit ihrem abstrakten Werk auf der Suche nach dem Übersinnlichen, einem neuen Sinngebenden sind. In dieser Weise verstanden, ist ihr Werk ein chiffrierter Verweis auf den Lebensinhalt jenseits des Gegenständlichen, Gott ähnlich, jedoch unbestimmbar, mythisch, ein nicht mehr religiös artikuliertes Ineffabile. Die Abstraktion erlebt ein neues Hoch nach dem 2. Weltkrieg, vor allem durch den amerikanischen Expressionismus, von dem wir hier zunächst beispielhaft Jackson Pollock (1912 – 1956) und sein Action Painting erwähnen möchten (Abb.124). Bei Pollock erweitert sich u.a. die Malfläche derart, dass sie z.T. nur durch Betreten derselben bzw. von allen Seiten am Boden liegend bearbeitet werden kann. Das Malen 270 Malewitsch, Kasimir, zitiert nach Nemeczek, Alfred: ,Es begann mit einem Quadrat’. In: art das Kunstmagazin Nr. 1/2003, S. 15. 271 Mondrian, Piet: Bildende Kunst und reine bildende Kunst [Circle 1937], in: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 462 – 468, hier S. 467. Mondrian bezieht sich im Verlauf dieses Textes auch auf den Surrealismus und meint, dass dieser nur „individuelle Emotionen weckt“, d.h. in einer reduziert abstrakten Form auf halbem Wege zur „universellen Wirklichkeit“ stecken bleibt. 180 wird zur Performance, das Bild zu einem großen wilden Raster von ineinander und übereinander verlaufenden schlierenden Linien. Als Hintergrund für diese seine Malerei erkennen wir im Wesentlichen zwei Bausteine: Einmal ist es Pollocks Ambition, mit der Darstellung des Unbewussten die künstlerische Vormachtstellung Picassos zu übertreffen.272 Als gegen den ,Sensualismus der Surrealisten’ gerichtet und mit der Unterstützung Peggy Guggenheims, erhält Pollock auf der Biennale 1950 in Venedig das nötige Aufsehen, das ihn nach seiner Auffassung sein Ziel erreichen lässt, weil sein dargestelltes Chaos in neuer Art und Weise derart „rudimentär“ sei, dass es Picasso als Konformisten erscheinen ließe. Zum Zweiten liefert Robert Motherwell (1915 - 1991) den philosophischen Hintergrund für diesen Abstrakten Expressionismus in Amerika, wenn er ausführt: „Abstrakte Kunst ist eine Bemühung, die Leere zu schließen, die der moderne Mensch fühlt, … eine Form des Mystizismus“273, ein geistiges Verfahren, mit der Welt eins zu werden. Pollock selbst bemerkt: „Besonders beeindruckt hat mich ihre Auffassung [moderner europäischer Maler] vom Unbewussten als Quelle der Kunst“274 und lehnt damit eine Zugänglichkeit rationaler Art zu seinen Werken ab. Pollocks Bilder entstehen, anders als bei Kandinsky, ungeplant und bieten keinerlei optischen Widerstand oder irgendeine zentrale Hauptgewichtung, wie auch das von uns gewählte Beispiel verdeutlicht. Die spontane Dynamik des Malens hat – technisch gesehen – etwas vom Automatismus – der ècriture automatique – der Surrealisten. Pollocks Landsmann Barnett Newman (1905 – 1970) schließt an die Rigorosität von Malewitsch’ Formbeschreibungen an. Im Geleit farbanalytischer Modelle der Malerei repräsentiert er z.B. mit seinem kolossal-großen Vir Heroicus Sublimis 1950 eine hartkantige Ausdrucksweise mittels fünf klarer, vertikal durch Farblinien („zips“) abgegrenzter Farbflächen auf einer monochromen Riesenleinwand und sucht nach unzweideutiger, objektiver Komposition von Farbe und Raum (Abb.125). Er ist bereits Mitte 40, als er dies Werk als sein erstes großformatiges erstellt, und es hagelte Kritik. Sein künstlerischer Durchbruch erfolgte letztendlich erst 1966 mit Hilfe des Guggenheim Museums, als dieses die 14-teilige Bilderserie The Stations of the Cross – Lema Sabachthani ausstellte. 272 S. Huber, Gabriele: Enrico Baj und die künstlerischen Avantgarden 1945 bis 1964, Mann, Berlin 2003, S. 36. 273 Motherwell, Robert, zitiert nach Haftmann, Werner: a.a.O., S. 482. 274 Vgl. Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., Bd. II, S. 687. 181 Abb.125: Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis, Öl auf Leinwand, 1950 Für Vir gewährt uns Newman interpretativen Beistand mit dem Titel, der – wie bei anderen Künstlerkollegen der Abstraktion – auf eine mythologische Erhöhung oder mythische Bedeutung über das reine Zusammenwirken von Farb- und Raumelementen hinausweisen könnte: auf einen mythisch-erhabenen Helden, der in Ketten liegt?275 Oder erfährt man wie ein Kritiker jener Zeit den „Verlust des Selbst an etwas Größeres“276? Für Letzteres spricht wohl etwas im Sinne Newmans, der – sich absetzend von europäischem Kunst-„Ballast“ – in seinem Text The Sublime Is Now erklärt, dass er Werke schaffen will, die „ohne Stützen und Krücken oder Assoziationen mit veralteten Bildern, erhabenen oder schönen, auskommen“.277 Wenn er betont, es gebe das Erhabene „jetzt“, bietet er uns eine Art aktuellen, subjektivistischen, meditativen, transzendenten Schwebezustand – abseits aller Gegenständlichkeit oder Langzeiterfahrung –, auf den wir uns einlassen könnten, ohne dabei allerdings Vertrautes abrufen zu können. Die Frage nach dem Mythos endet auch hier trotz des Titels im individuellen Entweder-Oder: Man kann natürlich wiederum keinen authentischen Mythos erkennen, dessen Newman sich ohnehin entledigen will, auch der Zeitgeist ist unentschlossen; jedoch kann man die Unbestimmtheit, das Unklare, Ungewisse, für manchen das Unheimliche und Tragische als nicht Fassbares, als Mythisches, das sich dem Aufklärerischen gegenüber sieht, zur Diskussion stellen. Der amerikanische Kunstkritiker Robert Rosenblum vertritt die Auffassung, dass Newman wie auch andere Künstler des amerikanischen Expressionismus in einer Vielzahl religiöser Quellen nach 275 Franz Meyer hält fest, dass B. Newman, als er im April 1951 von der Entlassung General MacArthurs (drohte Krieg auf China auszuweiten) durch Truman erfuhr, den Präsidenten als „,exemplum’ für den sublimen Helden empfunden hat, der sich durch eine moralisch politische Tat über die etablierte Gesellschaft erhebt“. Vgl. Meyer, Franz: Barnett Newman, The Stations of the Cross, Lema Sabachthani, Richter, Düsseldorf 2003, Anm. 166, S. 170. 276 Vgl.: art Das Kunstmagazin Nr. 11/2002, S. 38. 277 Newman, Barnett: The Sublime is Now, In: ‘Tiger’s Eye’ (Dec. 1948, S. 51 – 53). Die Zeitschrift hatte ein Symposium über das Sublime abgehalten. Zitat nach: S. Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., S. 699 – 701. 182 mythischer Inspiration suchte, „wobei er alle konfessionellen Grenzen hinter sich ließ, hätte doch jede Einzelreligion seine universellen Zielsetzungen beschränken müssen“.278 Schon 1961 wies er darauf hin, dass emotionale und geistige Erfahrungen, die früher – etwa in der Romantik – gegenständlich wiedergegeben wurden, nunmehr in abstrakter Form erschienen. Die Künstler schufen somit „einen privaten Mythos zur Verkörperung der erhabenen Macht des Übernatürlichen“.279 Der Erfolgskurs der Abstraktion im letzten Jahrhundert ist unbestritten, vor allem wenn wir bedenken, dass sie häufig in reduzierter Form, d.h. nicht in völliger Abschaffung des Gegenständlichen, sondern oft in dessen Verfremdung oder teilweiser Verhüllung auftritt (Surrealismus, Konzeptkunst u.a.). Ihren heftigsten Widersacher fand die Abstraktion in der Pop Art, deren wichtigsten Vertreter wir bereits diskutiert haben. Dennoch werden ihre deutlichen Spuren auch im Pluralismus der sogenannten Postmoderne zu finden sein, die Abstraktes mit Figurativem und Greifbarem für ihre Gedanken- und Konzeptwelten mischt (vgl. Kap. V). Im Sinne der Künstler könnten wir an dieser Stelle unsere Frage nach dem Mythos in der Abstraktion derart beantworten, dass für einige von ihnen die Befreiung vom Gegenstand wirklich zur übergeordneten Harmonie, einer nur mythisch (weil das Gegenstandslose keine klare Erkenntnis liefert) erfassbaren Wirklichkeit führt. Andererseits bleiben dem Betrachter auch Zweifel am Erfolgsversprechen des inneren Klangs im Leben; aber wem will man diesen Weg zu innerem Erleben verwehren, wenn er ihm selber geholfen hat? Oder sind die Erklärungen der Künstler zum Unerklärbaren nur vorgeschobene Argumente zur Schaffung ihrer individuellen Mythen? Ihre Vorbildgebung zur Bewältigung der Probleme der Aufklärung bleibt für viele Beobachter ein theoretischer Versuch – trotz aller Bereicherung der Formen, aber andererseits doch auch ein Versuch, dem Ineffabile einen neuen Ort und eine Würde des Menschen in seiner Distanzhaltung jenseits religiöser Tröstungen zuzuweisen. In diesem Sinne werden die künstlerischen Unternehmungen des Abstract sublime zu einer Begegnung, wenn nicht Bannung des Numinosen, einer ,mythischen Aufklärung’, die deren rationalistische Kürzungen nicht nur zu unterlaufen versuchte, sondern die – im Kontext der Geschichte des Zweiten Weltkrieges – auch um jenen Bereich menschlicher 278 Rosenblum, Robert: Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik [1975], Schirmer-Mosel, München 1981, S. 223. In diesem Zusammenhang weist Rosenblum auf die jüdische Abstammung Newmans hin und meint, dass die bilderfeindliche Einstellung seiner Religion „die Darstellung transzendenter Erfahrungen durch immaterielle Bilder“ gefördert habe. Ebd., S. 224. 279 Rosenblum, Robert: The Abstract Sublime, In: Art News 59, Nr. 10 (Febr. 1961), S. 39 – 40, 56 – 57, hier S. 57. Zitiert nach: Bashkoff, Tracy: Einleitung zum AK ,Über das Erhabene: Mark Rothko, Yves Klein, James Turrell.’ AK Deutsche Guggenheim Berlin 7.7. – 7.10. 2001, Berlin 2001, S. 33. 183 Sehnsucht künstlerisch warb, den der Nazismus hinter sich gelassen hatte, indem er zerstörerisch das Numinose an sich riss und sich einseitig zu dessen mythischen Agenten machte. Hierbei hatte der einsame abstrakte Künstler keinen transzendenten Referenten an seiner Seite, dem in einem authentisch-mythischen oder religiösen Prozess die Last der Weltenordnung hätte aufgebürdet werden können. 2. Mythos ,im Modell’ Wir haben bisher versucht, Mythostypen und -funktionen zu beschreiben. Je nach ihrer Funktion im künstlerischen Abbild erkennen wir eine mythische Substanz als authentisch, reflektiert, zeitbezogen oder als Mischform dieser drei Grundtypen, wobei die Verknüpfungen durch unterschiedliche Gewichtungen ihrer Basiselemente charakterisiert werden können (vgl. horizontale Achse des Tabl. 12). Wir registrieren z.B. für Tizian oder Kandinsky bezüglich ihres Bezugs zum Religiös/Transzendenten ein höheres Maß an Mythen-Reflexion als bei Warhol oder Broodthaers, die sich jeweils stärker mit einem Zeitgeist-Mythos in clowneresker Mimikry entmythologisierend auseinandersetzen, ganz zu schweigen von der Unterschiedlichkeit des jeweiligen Einsatzes des authentischen Mythos. Das Beuyssche Mythenbild erscheint noch vielfältiger, wenn wir seine Energie geladene Nympha als authentischen Mythenkern bestimmen, der von Beuys selbst als mythischer Mittler zum Überweltlichen herangezogen wird, und wir uns dann noch gleichzeitig die mythische Rolle des Künstlers als selbst ernannten Heilsbringer vor Augen führen. Die Vorstellung von Beuys als persönlichem Repräsentanten eines (individuellen) Mythos mit Sendungsbewusstsein macht uns auf die vertikale Achse unseres ModellTableaus aufmerksam. Über alle Mythentypen hinweg können wir nämlich die mythische Substanz auch einmal rezeptiv als sinngebendes Verhältnis zur Welt bzw. zu unserem ,Sein’ begreifen und zum anderen produktiv als subjektive Selbsterfahrung verstehen, die in der Tat auch zur weiteren Vermittlung angeboten wird, wie im Falle Beuys festzustellen war. Während die Sinnstrukturen zur Welt in Bildern des PrimitivArchaischen, des Numinosen, des Transzendenten oder im Ideologischen zu suchen sind, kann sich die Selbsterfahrung z.B. in Souveränität, Bedrängnis und Verzweiflung, Hedonismus, Provokation gepaart mit Indifferenz, Ironie und Satire, Skepsis oder Chronistischem ausdrücken. Dieser künstlerische Ausdruck erfüllt dabei die 184 Erstfunktion einer Identitätssuche, deren Ergebnis der Künstler dann offen legen bzw. übermitteln möchte. Unser Modell schließt sich, wenn wir nunmehr im Sinne einer Matrixbetrachtung die rezeptiven bzw. produktiven mythischen Substanzen den Mythostypen zuordnen. Ein Blick auf unser Modell in Tabl. 12 macht nochmals unmittelbar deutlich, dass es keine zwangsläufigen Zuordnungen zur Bestimmung eines besonderen Mythos gibt; vielmehr ist der Normalfall einer Mythen-Bestimmung derjenige einer Erkennung von Verflechtungen unter den einzelnen aufgeführten Kriterien. Wir möchten nun – diesem Modell folgend – einige der wichtigsten künstlerischen Positionen beispielhaft aufzeigen: Wir erkennen den reinen authentischen bzw. historischen Mythos als Schutzmechanismus zur Angstbewältigung gegen die Katastrophen und Unberechenbarkeiten des Daseins ausgehend vom primitiv-archaischen Weltbild in der Medusa-Maske (Veji) oder innerhalb der hellenistischen Klassik auf Athenas Schutzkleidung. Wenn die mythische Substanz im Bereich des Transzendenten oder Numinosen der Sinngebung dient – etwa in der Funktion der Chaosbewältigung – hat durchaus der authentische Mythos form- und bildgebend seinen Platz, aber das dahinter liegende Mythen-Verständnis ist jetzt in der Komplexität der neuen Gesellschaften ein reflektiertes geworden: Tizians Verschachtelung des historischen Mythos mit christlich-religiösen Motiven reflektiert verborgenen Drang zu größerer Freizügigkeit und offener Leidenschaft, Poussins antike Motive bilden den Rahmen für das Erhabene tiefer, religiöser, jenseitiger Gedanklichkeit, Böcklins Kalypso reflektiert die schmachtende Hingebung an eine romantische, selbst auferlegte Askese, um jeweils einen wahren Sinn des Daseins wiederzugeben. – Vor dem Hintergrund des Zeitgeist-Mythos einer allumfassenden, aufklärerischen Technologie-Gläubigkeit versuchen Kandinsky und andere Vorreiter abstrakter Malerei, nach eigenen Erklärungen mit dem gegenstandslosen Werk eine zweite Mitteilungsebene, den übersinnlichen „Klang“ bzw. das Unerklärbare, Unheimliche, Universelle, das Mythische darzustellen. Je mehr sich die Gesellschaft technologisch-informativ weiterentwickelt, desto stärker setzt sie sich von den Orientierungen religiös-numinoser Art sowie auch von den allgemein-transzendenten Grundbestimmungen ab und sucht sich neue Wertestrukturen, ergänzend oder ersatzweise. Aufklärerisches Denken, von uns 185 Mythos-Typ Mythosfunktion Mythische Substanz als … (mythologisierend/ entmythologisierend) Authentischer Mythos Reflektierter Mythos Zeitgeist-Mythos (Bildung/Brechung) 1. …sinngebendes Verhältnis zur Welt/ zum ,Sein’ (rezeptiv) … des Primitiv-Archaischen Angstbewältigung xxx … des Numinosen/Transzendenten Chaosbewältigung, Schaffung Weltbild xx xxx x … der besonderen Wertestrukturen Legitimations- und Identitätsverleihung x xx xxx … des Ideologischen/Politischen Identitätsverleihung xx xx xx … des Souveränen ) x xx xxx … des Bedrängten ) x xx xxx … des „Glücksritters“ ) Æ Identitätssuche x x xxx … des Provokateurs/Indifferenten ) x xx xxx … des Skeptikers (z.B. satirisch) ) x xx xxx … des Chronisten ) xx xxx 2. … subjektive Selbsterfahrung zur Vermittlung (produktiv) (-verleihung) x bis xxx: Angenommenes Gewicht der mythischen Substanz Tabl. 12: Modell zur Mythenerfassung in der Kunst 186 im reflektierten Mythos erkannt, und vor allem Bildung von Zeitgeist-Mythen und deren Brechung spielen in diesem Zusammenhang die Hauptrolle. Warhol bietet ein gutes Beispiel – wenn nicht in erster Linie für Schaffung – so doch für Bestätigung des Zeitgeist-Mythos ,Amerika’, des Landes, das aus dem Niemandsland zwischen den Ozeanen zu einem finanziell und politisch führenden, offenen Goldgräber-Kontinent herangewachsen ist: Mythos des neuen Erfolges, der neuen Freiheit. Die Entmythologisierung, die Brechung dieses Mythos ist vielleicht nur das Ergebnis spontaner Gesten, jedenfalls ist ein Effekt von Warhols Praxis, dass die mythische Dimension der Werbung und anderer Zeiterscheinungen banalisiert wird. Warhol hat durchaus das Kulturgesamte, aber besonders dessen Mikroorganismen, wie etwa Coca Cola oder Elvis Presley fördernd und gleichzeitig produktiv trivialisierend ins Visier genommen. Später ist es auch Prince, der mit seinen fotografischen Ready-mades dieses Amerika entmythologisiert. Weitere Beispiele dieser mythischen Substanz von Wertestrukturen und deren Kommentierung liefern u.a. auch die Nympha-Analyse mit Dürer (moralisierend), Duchamp (ironisierend) oder Rist (weibliches Selbstverständnis) sowie der Medusa-Katalog mit Géricault (menschliches Verantwortungsbewusstsein) oder Kentridge (Versagen des Wissens). Eng verwandt mit letzterer Variante – sozusagen in einer weiteren speziellen Steigerung von ,Bedeutsamkeit’ – ist das ideologisch-politische Mythos-Bild. Häufig findet auf dem Rücken des historischen Mythos eine Verschiebung statt, die zu dieser besonderen Form des Zeitgeist-Mythos und dessen künstlerischen Brechungen führt: der Mythos vom auserwählten Volk und dessen Vertretern (NS-Kunst), der Mythos vom unbesiegbaren, unfehlbaren Herrscher (Girardin), der Mythos vom ideologischen Wahnsinns-Herrscher(Beckmann). – Wir hatten erläutert, dass dem reflektierten Mythos das Element des Abbaus der Bedeutung mythischer Substanz innewohnt. Mit dieser Überlegung vor Augen registrieren wir in diesem Matrix-Segment (mythische Substanz, politisiert auf dem Rücken eines authentischen Mythos) Cellinis Perseus – mit der besonderen Note, dass der authentische Medusa/Perseus-Mythos zum reflektierten mutiert ist (Medici = Perseus = neuer – melancholischer – Perseus). Wir betreten einen besonderen Bereich mythischer Substanz, wenn wir diese als subjektive Selbsterfahrung im produktiven Bereich des Künstlers festmachen. Ohne das vermittelnde Element der entsprechenden Darstellungen zu verkennen, 187 tritt in besonderer Weise die subjektive Identitätssuche des Künstlers selbst hervor, die die Basis für den gewünschten Übermittlungsprozess bildet. Es entstehen „individuelle Mythologien“ – wie wir gesehen haben – etwa bei Picasso oder es entwickeln sich Positionen der Kritik an eben diesen Mythologien (Broodthaers). Häufig wird ein vorhandener Zeitgeist-Mythos bei dieser Identitätssuche dramatisiert und gleichzeitig ironisch oder provokativ wieder gebrochen (Duchamp). Ein weiteres, ausführlich erläuterndes Beispiel kann uns mit seiner Vielschichtigkeit nochmals den Weg durch unser Hilfsmodell illustrieren. Wir denken an Die Kindheit des Zeus (Abb.126) von Lovis Corinth (1858 – 1925), ein Gemälde, das sich mehrerer Felder aus unserer Matrix bedient. Dieses Bild entsteht noch vor Corinths erstem Schlaganfall (1911), also in einer Zeit, da dem Maler seine eigentlichen Erschütterungen noch bevorstehen: Erschütterungen als Folge der gesellschaftlichen Umwälzungen und seiner damit verbundenen persönlichen Auseinandersetzungen und Irritationen (Corinth wird eine für einen Künstler jener Zeit durchaus atypische national-politische Einstellung nachgesagt). Abb.126: Lovis Corinth, Die Kindheit des Zeus, Öl auf Leinwand, 1905/06 Wenn, wie Georg Bussmann es beschreibt, in seinem Spätwerk der „Mythos des alten Corinth, der des Malers als der Stigmatisierte, als der vom Tode Angerührte, als der wahrhafte Märtyrer seiner Kunst“280 entstanden ist, dann haben wir es hier bei 280 Bussmann, Georg: Lovis Corinth, Carmencita, Fischer, Frankfurt a. M. 1985, S. 35. 188 diesem Bild mit einem anderen Ende der Corinthschen Mythenbildung zu tun, die allerdings Ausdruck gibt von dem ungeheuren Spannungsfeld, in dem dieser Sinnenmensch sich ständig bewegt hat: Sinnlichkeit und Vitalität beherrschen auf diesem Gemälde die Szene wie auch in seinen der Antike nachgestellten Bacchanalien: Der kleine Zeus, in den Armen seiner Pflegemutter, der Nympha Amaltheia, schreit aus Leibeskräften, Kureten und Nymphen tanzen und lärmen umher, um mit ihrem Krach den wütenden Vater des Zeus, Kronos, der ihn nun endlich verschlingen will, zu täuschen und fernzuhalten. Dennoch aber fügen sich relativierende, stillere Elemente in das Geschehen. Die gleichsam ehrerbietige Neigung des Kureten mit der Darbietung der Weintrauben, die erhobene Gruß-Hand der Ersatzmutter, drei muffelnde Kaninchen im Vordergrund; es entsteht ein zweiter christlicher Bildtypus vor dem antiken Mythos, in dem Amaltheia zu Maria, Zeus zu Jesus (!) und der Weintrauben darbietende Kuret zum Heiligen König werden. Und schließlich erinnern wir uns, dass Corinth das Bild aus Anlass der Geburt (1904) seines Sohnes Thomas gemalt hat, wodurch die Gestalten plötzlich auch noch die Namen Charlotte (seine Frau), Thomas und Lovis erhalten. Kann uns die Mythos-Analyse mit Hilfe unseres Orientierungstableaus durch diese Corinthsche Mehrschichtigkeit der Bezugsmöglichkeiten hindurch ein wenig zusätzliche Klarheit verschaffen? Zunächst erkennen wir eindeutig den authentischen antiken Mythos als Gestaltungsmotiv, hier mit den entsprechenden Hinweisen auf die Götter-Genealogie, die sich nochmals wiederholt in der Vorstellung von ,Maria und das Kind’. Ferner können wir in der Dynamik der Szene einen Zeitgeist-Mythos der Jahrhundertwende ausmachen: neues (männliches) Leben in einer Phase gesellschaftlicher Neuorientierung und Aufbruchstimmung, Tatendurst und vitalistischer Drang zu neuen Ufern. – Folgen wir unserem Tableau weiter: Die mythische Substanz auf der Ebene der subjektiven Selbsterfahrung und Selbstdarstellung ist die des bedrängten Chronisten, der sein Leben mit den Argumenten der Aufklärung allein nicht meistern kann. Als Rezipienten begegnen wir darüber hinaus dem noch nicht Aufgeklärten keineswegs als etwas Ideologischem (auch nicht in Corinths späteren Werken, die ja „entartet“ wurden) oder numinos Transzendentem. Vielmehr keimt doch das Verständnis nach einer besonderen Werteorientierung à la Corinth, die wir mit Bussmann als Position einer durchaus faszinierenden, suchenden, oftmals irritierenden Offenheit der Anschauung dem Wahrnehmbaren gegenüber erfahren können, einer Offenheit, etwas Neues hinter dem Offenkundigen (dem Bild, dem Erleben ganz 189 allgemein) zu entdecken.281 Wenn wir bereit sind, diese Position in der von Corinth so nicht explizit ausgesprochenen Auseinandersetzung mit dem Mythos, bei ihm als offene Handschrift, befreit „vom engen dogmatischen Formbegriff der Klassizisten“282 und Historiker zu erkennen, dann sehen wir in diesem Einzelgänger gleichzeitig einen Vorbereiter des postmodernen Pluralismus (s. Kap. V b 1). Generell können wir abschließend anmerken, dass gerade das 20. Jahrhundert mit seinen kunstmodernen Projekten sich des Mythos in Zusammenhang mit völlig neuen Formgestalten bedient. Darüber hinaus aber ist von Bedeutung, dass die inhaltlichen Verweise weniger normativ als früher sind, d.h. Ordnungs- oder Handlungsmuster in geringerem Umfang anbieten, vielmehr sind sie in großer Zahl gerichtet auf persönliche, individuelle Daseinswelten. Wir bewegen uns weitaus stärker in der zweiten Hälfte unseres Tableaus Nr. 12: „Die Mythen galten [jetzt] nicht mehr als philosophisch umgedeutete Glaubenstatsachen oder als Spiegel weltferner Ideale, sondern vielmehr als anschauliches Exempel menschlichen Selbstverständnisses von zeitloser, deshalb jeweils aktuell neu zu verstehender Bedeutung“.283 Aber vergessen wir nicht: Ausnahmen bestätigen diese grobe Regel, vor allem vor 1945. 281 Ebd., S. 71/2. Hofmann, Werner (2003): a.a.O., S. 161. 283 Spielmann, Heinz: Mythos und Moderne. In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 10 – 23, hier: S. 12. 282 190 V. Mythosanalyse als Orientierungshilfe zur Standortbestimmung von Kunst und Werbung Wir wollen in diesem Kapitel zunächst die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Werbung sowie den Part des Mythos, wie er in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, darlegen, um auf dieser Basis auf die Programme von Ent- und Remythologisierung einzugehen. a. Das verflixte Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Werbung und die Rolle des Mythos Dieses Thema – auch häufig zwischen den Begriffen ,High’ und ,Low’ angesiedelt – hat in den letzten 50 Jahren viele Kommentatoren auf den Plan gerufen, die wir nicht im Einzelnen wiederholen möchten. Beispielhaft nennen wir hier allein wegen ihrer jeweils exponierten Haltung drei von ihnen: Ulrich Eicke erklärt die Markenartikel-Werbung zum Fremdkörper der sozialen Marktwirtschaft und macht am Kultursponsoring, dem Ende des uneigennützigen [?] Mäzenatentums klar, dass für ihn – wenn überhaupt – nur eine geringfügige Interessengemeinschaft zwischen Werbung und Kunst/Kultur besteht.284 Dagegen erklärt Michael Schirner selbstbewusst „Werbung ist Kunst“. Vielerorts werden allerdings starke gegenseitige Wechselbeziehungen hervorgehoben, wie z.B. bei Umberto Eco285. Da wir davon ausgehen, im Ansatz dieser letzteren offenen Betrachtung eine lebensnahe Antwort finden zu können, wollen wir in Kürze gemeinsame und differenzierende Kriterien zusammenfassen, wobei uns gegebenenfalls die Identifikation mythischer Elemente behilflich sein kann. 1. Gemeinsames und Differenzierendes Die Stileinheit von Kunst und Werbung als verlängerter Teil des hergestellten Produktes bestand so lange, wie es den Unterschied zwischen Kunst und Handwerk nicht gab und letzteres noch nicht durch die industrielle Produktion verdrängt worden war. Das hat sich in der Moderne geändert. Dennoch gab es im 20. Jahrhundert zielgerichtete Bemühungen, aus den künstlerischen Formen Anleitungen für die Gebrauchsgütergestaltung abzuleiten und umgekehrt: Werkbund, Bauhaus oder Ulmer Hochschule für Gestaltung. Die Suche nach einer „einheitlichen Bildsprache für alle Bereiche 284 Eicke, Ulrich: Die Werbelawine. Angriff auf unser Bewusstsein, Knesebeck & Schuler, München 1991, S. 196 ff. 285 Eco, Umberto: a.a.O., insb. S. 39 – 51. 191 visueller Umweltgestaltung … also die Kluft zwischen Kunst und Alltag zu schließen“, und damit die optische Alltagswelt mit dem Kunstwollen zu verbinden, war das Ziel.286 Betrachten wir die Gegenwart: Werbung wie auch Kunst haben nach wie vor Konjunktur. Das Bild der Werbung kann sich zeitbezogen verändern von Marlboro- zu Lidl-Anzeigen oder von Waschpulver- zu eBay-Werbung, von klassischen zu promotionellen Ansätzen, vielleicht bleibt auch ab und zu der Werbemittel-Zuwachs aus bei gleichzeitigem Anstieg der Arbeitslosenquote; dennoch: Ihr Erscheinungsbild im öffentlichen Erleben ist ungebrochen. Gleichfalls fehlt es der Kunstbetriebsamkeit nicht an Impulsen. Nicht allein, dass immer wieder Höchstauktionspreise für alte und neue Meister gemeldet werden, es besteht auch keinerlei Manko an zeitbezogenem Ausstellungsgeschehen trotz des Drucks auf manchen Museumsetat; zahlreiche bemerkenswerte Privatinitiativen – oftmals als Kleinkunst verschmäht – machen Galerien und Kunstmessen Konkurrenz. Vor diesem Hintergrund sind beide Phänomene Teil eines sich stets intensivierenden Wechselspiels in unseren soziokulturellen Prozessen; getragen von grundsätzlichen Erwägungen oder Zeitgeist und Moden stimulieren sie sich bewusst oder unbewusst gegenseitig. Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, dass äußere Erscheinungsmerkmale und Produktionstechniken identisch bzw. miteinander verwoben sind, insbesondere beim Film. Die Omnipräsenz medialer Bilder und ihre z.T. vordergründigen Verwobenheiten mit historischen Darstellungen darf aber unseren Blick für die zu Grunde liegenden Strategien und Intentionen nicht verstellen, etwa den Blick auf die Strategie der Werbung vor dem Hintergrund künstlerischer Vorprägungen. Abb.127: Adolf v. Hildebrand, Bismarck, Bremer Standbild, 1910 286 Abb.128: Marlboro-Cowboy, Plakat, 2001 Holz, Hans Heinz: Kritische Theorie des ästhetischen Zeichens. In: documenta 5: Befragung der Realität, Bildwelten heute, Bertelsmann/Dierichs, Kassel 1972, Abschnitt 1.15. 192 Ein Beispiel, das diesen Zusammenhang anspricht, ist ein Vergleich der Abbildungen 127 und 128: Der Mythos ,Bismarck’ und der Mythos ,Cowboy’ stehen fast nebeneinander in unserem Straßenbild. Einerseits der Eiserne Kanzler, 1910 von Adolf von Hildebrand (1847 – 1921) entworfen im Streben nach formaler Klarheit und inhaltlicher Bündigkeit – das staatsmännische Vorbild; andererseits der reitende Cowboy aus dem Marlboro-Land – bereit für Richard Prince’ Verweise auf die klischeehaften Banalitäten von heute. Zu Pferde, von fast gleicher Größe, herausgehoben auf ein Podest bzw. durch eine Litfasssäule, beide vorwärts gerichtet, die Pferde beherrschend und antreibend, Erfolge versprechend und voller Energie. Und doch der Staatsmann und Lenker Bismarck als der Held aus innerer Kraft in gemessener, gesammelter Gespanntheit idealisiert, die Papyrosrolle voller Gesetze in der Hand, als Vorbild in Bronze verewigt; der Cowboy dagegen als der Held von äußerer (körperlicher) Energie und Dynamik, die absichernde Zigarette in der Satteltasche, mit Cowboy-Hut und -Umhang statt Helm und Panzer, ephemer auf einer Plakatrolle. Abstrahieren wir von dem Erhabenen staatsmännischer Steuerungskunst einerseits sowie vom Wilden Westen und individuellem Freiheitsdrang andererseits, dann gibt es in diesen Bildern einen ähnelnden Kern von Anziehungskraft und Ausstrahlung heldenhaften Lenkens in Verbindung mit Vorbild gebender Erfolgsbetontheit, der sich dem Wettbewerb innerhalb einer aktuellen Vorbild-Hierarchie gegenübersieht, in der die Selbstverwirklichung – wie Bertolt Brecht sarkastisch formuliert: „Keiner will mehr Pferd sein, jeder Reiter“287 – ein dominierendes Element ist. Selbstverständlich ist diese Situation erfolgsorientierten, überlegenen Leitens gerade auch von der Kunst attackiert worden. Im Besonderen ist der Cowboy dabei ein beliebtes Objekt, das vor allem in Richard Prince’ Repertoire in Zusammenhang mit seiner kritischen Stellungnahme zu den Bildmedien der Warenwelt auftaucht, deren „Mythen und Konditionierungen … wie eine gemeinsam durchlaufene Bildung als umfassend verbindlicher Pool in uns wirksam [sind]“.288 Der Mythos der Cowboy-Ikone erfährt durch die subtile Reflexion des Künstlers an Orten, die er, der Künstler, mittels der Präsenz seiner Fotos vorschreibt, und in seiner fotografischen Aneignung selbst eine entmythologisierende Entleerung des ursprünglichen, auf die Marke gerichteten 287 Brecht, Bertolt: Lied von der belebenden Wirkung des Geldes; aus: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. In: Ders.: Gedichte und Lieder aus Stücken, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1974, S. 71/2. 288 Randow, Gero von: Unsichtbares – sichtbar gemacht: Der kollektiv-neurotische Blick – die jederzeit ungefragt abrufbaren Gemeinsamkeiten. In: Kunsthaus Zürich, Hamburger Kunsthalle: Hypermental, Wahnhafte Wirklichkeit 1950 – 2000 von Salvador Dali bis Jeff Koons, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2000, S. 43 – 157, hier: S. 124. 193 inhaltlichen Kerns. – Aber auch die klassische Formgebung, die der Triumph- und Staatssymbolik diente, bleibt nicht verschont, wenn wir uns z.B. an Marino Marinis (1901 – 1980) Reiterdarstellungen erinnern. Das Mächtige und Erhabene geriet bei Marini und seinen geängstigten Gestalten zu Pferde immer mehr zu einer tragikomischen Figuration, in der das Pferd (bzw. die Lebenssituation) nicht mehr beherrscht werden konnte.289 Beide Erscheinungsformen – Kunst wie Werbung – basieren auf schöpferischen Handlungen der Akteure, auch wenn große Unterschiede im Entstehungsprozess bestehen können. Manchmal sind in diesem Zusammenhang allerdings auch Werber und Künstler ein und dieselbe Person, denken wir an Warhol oder Magritte. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob Spontaneität oder gründliche Planung, ob ein Einzelner oder eine Werkstatt daran beteiligt sind. Beide Phänomene sind unabhängig von ihren Motiven auf der Suche nach neuem, bezeichnendem Ausdruck, mit mäßigem oder großem – manchmal zeitversetztem – Erfolg. Und sie treffen auch noch beide mit ihrer Aussage auf den Empfänger, der sich in seiner Ganzheitlichkeit – situationsbedingt und seinen gegebenen Voraussetzungen entsprechend – für Aufnahmebereitschaft und Beurteilung auch erst noch teilen bzw. in zwei verschiedene Richtungen orientieren muss. Auf die Bedeutung dieser Voraussetzungen für die Beurteilung macht uns Régis Debray aufmerksam, wenn er hervorhebt, dass, was heute als Kunst gilt, längst nicht immer als solche gegolten hat. „Von ,griechischer Kunst’ zu sprechen, ist eine naive Extrapolation, es ist die retroaktive Projektion einer modernen Kategorie … auf eine Zivilisation, in der sie noch gar nicht denkbar war“.290 Die Ausdrucksweisen, die wir heute als künstlerische beurteilen, weil wir sie von ihren ursprünglichen Funktionen trennen, waren Auftragsdienstleistungen für Staat (Monumente), Kirche (Altäre), Privathaushalte (Keramiken, Porträts), also Dienstleistungen, wie es heute die Werbung ist. Vielleicht sind die Bilder, die wir heute als Wirtschaftsgüter bezeichnen, in 100 Jahren Dokumente mit künstlerischem Charakter, da ihr heutiger Sinngehalt sich völlig verflüchtigt hat, und Warhol erhält Recht mit seiner Metapher vom Warenhaus. So manches Wirtschaftsgut hat bereits heute Einzug in die Kunstwelt gehalten, wenn der Künstler bewusst nach Idiomen der Werbung zur wirklichkeitsnahen Darstellung 289 Steingräber, Erich: Einführung. In: Kunsthaus Wien, Museum für Bildende Künste Leipzig: Marino Marini, Hirmer, München 1995, S. 8 – 15, hier: S. 10. Vgl. dort auch: Pferd mit Reiter, Tusche und Tempera, 1974. Oder Piccolo Cavaliere, Bronze, 1950, Staatliches Museum Berlin, Nationalgalerie. In: Ullrich, Ferdinand; Schwalm, Hans-Jürgen; Pfeiffer, Andreas; Brunner, Dieter (Hg): Marino Marini, Skulptur, Malerei, Zeichnung, Kunsthalle Recklinghausen, Städtische Museen Heilbronn 2003, Abb. S. 135. 290 Debray, Régis: Einführung in die Mediologie [2000], Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 2003, S. 80. 194 unserer Konsumgesellschaft greift (z.B. Georges Braque: Gitarre und Programm, 1913; Kurt Schwitters: Eva stee, 1937/8 oder Wolf Vostell: Coca-Cola, 1961 – Abb.129). Vor allem die Pop Art benutzt zeitgenössische und Alltagsmythen, um sie entweder erneut im Alltag zu überhöhen oder um sie durch den Kunstgriff à la Duchamp zu demaskieren bzw. abzubauen. Dabei bedient sich Kunst nicht nur der Techniken, die sich im Bereich der Werbung/Unterhaltung entwickelt und durchgesetzt haben, sondern benutzt auch betont expressive und überhöhte Ausdrucksmittel der Werbung, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, und stellt sich trotzig aller zu erwartenden Kritik, die dies als verkappten Ausfluss der Konsum-/Erlebnisgesellschaft betrachtet (vgl. Matthew Barney, Jonathan Meese). Schließlich wurden manche Künstler durch das Treiben um Werbung, Unterhaltung und Mode ebenso wie um die Pop Art zu Minimal- und Konzeptkunst herausgefordert. Abb.129: Wolf Vostell, Coca-Cola, Décollage, 1961 Abb.130: elbeo, Anzeige, 1993 Offensichtlich gibt es nicht nur den Weg von der Werbung zur Kunst. Letztere beeinflusst ihrerseits das Werbegeschehen, indem die Werbung identifizierbare Stilelemente der Kunstepochen aufgreift und sich diese aneignet. Elbeo setzt auf die ,verlängerte’ Attraktivität der Algerierin (1917) von Amedeo Modigliani (Abb.130), elena miro (s. oben Abb.10) baut auf den Charme von Paul Gauguins Arearea (1892), um sich auf diese Art und Weise mit der Aura der Kunst zu umgeben, auf der Suche nach Individualisierung und besonderer Aufmerksamkeit. Der Einfluss der Kunst auf die Werbung ist nun allerdings von grundsätzlicher Art, wenn wir feststellen, dass die Werbung ganz offensichtlich das Prinzip der Mythenverwendung, das bei der Kunst – wie wir ausführlich gesehen haben – auf eine 195 lange, erfolgreiche Traditionsgeschichte zurückblicken kann, übernimmt und als Bedeutungsverstärker einsetzt. Nachdem die Kunst es Jahrhunderte lang vorgelebt hat, greift die Werbung dabei auch auf die gleichen traditionellen Mythenbilder (Herkules/Superman; Engel/Versicherungsschutzengel) oder auf identische ZeitgeistMythen zurück, etwa denjenigen der Jugendlichkeit oder, wie hier illustriert, auf den des Prestige betonten Persönlichkeitskults (Abb.131291 und 132): Abb.131: Andy Warhol, Selbstporträt, Polymer- u. Siebdruckfarbe auf Leinwand, 1986 Abb.132: Barneys (John Irving), Anzeige, 1993 Betrachten wir den letzten Punkt vor dem Hintergrund unserer vorausgegangenen Überlegungen noch etwas genauer, um den Grenzbereich zwischen Kunst und Werbung weiter auszuloten. Wir hatten uns der strukturalen Annäherung bedient, um darauf basierend interpretative Kontingenzen zu erschließen. Der in der Werbung festgestellte (strukturale) Dualismus im Sinne einer Zweistufigkeit ist neben der Mythenverwendung auch bei der Mythenbildung ein von der Kunst lange vorbereitetes Modell, das wir in unseren Betrachtungen zur Kunst ebenfalls stetig nachweisen konnten. Wenn wir für unsere Grenzziehung an dieser Stelle noch einmal auf Duchamp zurückkommen, dann erinnern wir uns, dass er auf dem Wege der Vereinzelung und Verfremdung seinem Gebrauchsgegenstand den Mythos-Status verlieh. Genau diese Strategie der Aussonderung aus der Klasse übriger, gleichartiger, austauschbarer Gebrauchsobjekte wird bei der werblichen Markenmythen-Bildung angewandt. Das Readymade erhält die 291 Eine ausführliche Darstellung der Rollenspiele Warhols, vermittelt durch seine Selbstporträts, steuert Ludger Derenthal bei. Er analysiert, dass sich hinter den Posen – nennen wir sie die zweite Ebene des Warhol-Ich – nach Warhols eigenen Worten „nothing behind it“ befindet. S. Zweite, Armin et al. (Hg): a.a.O., S. 196 – 203, hier: S. 199. – Auf das Prinzip der eigenen Körperdarstellung in verschiedenen Rollen (Verwandlung) greifen, wiederum Marcel Duchamp folgend, zahlreiche Künstler auch am Ende des 20. Jahrhunderts zurück. Besonders profiliert hat sich in diesem Zusammenhang Cindy Sherman (*1954) in verschiedenen Phasen ihres Künstlerlebens; s. z.B. bei Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 295. 196 Aura des Einmaligen über den ironischen Akt der Musealisierung bei Duchamp, der Markenartikel den Status des verbindlich Einzigartigen durch den Akt der werblichen Mythifizierung. Die Markenprodukte – ausgestattet mit dem jeweils besonderen Zusatznutzen – kommen als Readymades auf uns zu. Während diese sich als Aussonderungen aus der Masse anonymer Produkte gebärden, hat das Readymade bei Duchamp sich ebenfalls über den Gebrauchsnutzen erhoben und wird zum Markenartikel seiner Gebrauchsgattung. Aber auch dieser ,künstlerische Markenartikel’ ist vor erneuter Verfremdung – diesmal in umgekehrter Richtung – keineswegs sicher: Elaine Sturtevant (geb. 1930) kopiert die geläufigsten, für sie als unverzichtbar geltenden Künstler-Ikonen des 20. Jahrhunderts mit ihren Mythen und möchte dadurch – mittels ihrer Wiederholung – deren Nimbus entzaubern. Dies geschieht u.a. durch die gern bewilligte Zuhilfenahme originaler Produktionsmittel ihrer ,Vorbilder’ (Warhol: Seidensieb für Flower-Serie). Anlässlich ihrer aktuellen Einzelausstellung The Brutal Truth (09/2004 – 01/2005) im Frankfurter Museum für Moderne Kunst beschreibt Bernard Blistène diesen Vorgang der Entmythifizierung als Misstrauensbekundung gegenüber den künstlerischen Fetischen unserer Zeit: Man soll erkennen, „dass das, was wir vor uns haben, nicht das ist, für was wir es zunächst halten“. Es ginge um die Dinge selbst, nicht um die Vergewisserung, wer was gemacht hat. In der Tradition Duchamps möchte Sturtevant danach die Etikettierung des Kunstwerks destabilisieren, stellt sich gegen Götzenanbetung und möchte uns vor Illusionen bewahren.292 Die Aussonderung bzw. Umbenutzung des Ursprünglichen bei Duchamp und in der Werbung führte jeweils zu einer Überhöhung: Im Falle der markentechnischen Auseinandersetzung wird ein (Alltags-)Mythos aufgebaut. Im Falle von Duchamps Readymades findet eine Verwandlung eines gewöhnlichen Gebrauchsgegenstandes zu einem verbesonderten Diskussionsobjekt statt, letzteres mit der Chance, bei entsprechender rezeptiver Interpretationsbereitschaft zum Symbol, Zeichen oder Mythos-Begriff für etwas neues Provokatives, Sublimes oder eher Irritierendes zu avancieren. Beide konzeptuellen Denkansätze zielen dabei auf eine intensive Auseinandersetzung, die bei dem jeweiligen Adressaten stattfinden soll. Duchamps Readymades bedeuten nichts ohne bewusste Reflexion des Betrachters, die moderne 292 Vgl. bei Blistène, Bernard: Label Elaine. In: Museum für Moderne Kunst; Kittelmann, Udo; Kramer, Mario (Hg): AK Sturtevant, The Brutal Truth, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2004, S. 25 – 34, insb. S. 30. Für manchen Rezipienten bleibt durchaus die Frage offen, wodurch Sturtevant sich letztlich von anderen ,Kopierern’ in ihrem bildnerischen Werk, jenseits verbaler Konzepte, maßgeblich absetzt. Entscheidend aber könnte die Offenheit ihrer Haltung und ihre Beharrlichkeit sein, im aktuellen Kunstbetrieb dessen Fetischen gegenüber misstrauisch zu bleiben und zum Nachdenken zu stimulieren. 197 Werbung mit ihrer mythischen Struktur zielt ebenfalls auf mehr als nur auf eine oberflächliche Reaktion, es geht auch ihr um die innere Auseinandersetzung, um ein gewisses geistiges Hinzutun, das Haltung und Verhalten beeinflussen soll – wir nannten es Sympraxis. Der strukturalistische Gleichklang der Metamorphosen und der denkkonzeptuelle Ansatz beider Phänomene – bei Duchamp und in der Werbung – darf nun aber keineswegs die Unterschiede außer acht lassen: Beim Markenartikel wird ein klarer, eindeutiger, keine Zweifel lassender, (auch heute) immer noch relativ eng definierter Mythos um die Marke errichtet, während das Readymade Duchamps ein breites Spektrum von Bedeutungen beansprucht, das – ausgehend vom Nullpunkt einer allein provokativen Anti-Kunst-Demonstration – letztlich breit gefächert allen „wechselnden Erfüllungsdefiziten des Menschen“293 gerecht werden kann. Der affirmativen Verbesonderung im Falle des Markenartikels steht eine dekonstruktivistische im Falle Duchamps gegenüber, der vor dem eventuellen Aufbau eines neuen Ganzen den Abbau alter Strukturen einfordert. Hier nun werden Grenzlinien zur Standortbestimmung unserer beiden zur Debatte gestellten soziokulturellen Phänomene deutlich, allerdings nähern sie sich dieser Grenze jeweils von der gegenüberliegenden Seite: Werbung bedient sich zunehmend des Denkens und des Anschauungsmaterials des Mythen spendenden Zusatznutzens bei gleichzeitiger Verwendung künstlerischer Darstellungsformen; Duchamp andererseits verweist auf den Status der Kunstlosigkeit, die dekonstruktivistische MythenBefreiung und damit gleichzeitig auf den Pluralismus von Bedeutungen unserer Tage. „Verfremdung bis an die Grenze der Unverständlichkeit ist das Gesetz, in dem sich die bildende Kraft der Kunst in einem Zeitalter wie dem unsrigen allein erfüllen kann“.294 Die Feststellung der Übernahme künstlerischer Elemente durch die Werbung gerät – historisch betrachtet – durch Magritte ins Straucheln. In seiner persönlichen Entwicklung – und dabei ist er nicht allein295 – könnten auch umgekehrt zunächst werblich verstan- 293 Iser, Wolfgang: Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie. In: Henrich, Dieter; Iser, Wolfgang (Hg): Theorien der Kunst, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, S. 33 – 58, hier: S. 48. Iser beschreibt an dieser Stelle die „anthropologisch fundierte Kunst-Soziologie“ (als Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben) als mögliche Kunsttheorie, die – wie wir meinen – bei Duchamp in eine semiotische mündet, wenn wir in dessen Readymades ästhetische Botschaften mit nahezu unendlichen Interpretationsmöglichkeiten sehen. Die soziologische Kunsttheorie selbst geht den Fragen nach, welches Kunstschaffen unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen möglich ist und welchen Beitrag Kunst zur Gestaltung der gesellschaftlichen Abläufe leisten kann. 294 Gadamer, Hans-Georg: Ende der Kunst? In: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg): a.a.O., S. 32. 295 S. Friedl, Friedrich; Ott, Nicolaus; Stein, Bernard (Hg): Typo, wann, wer, wie, Könemann, Köln 1998. Diese lexikalische Geschichte des Grafik-Designs gibt umfassend Einblick in die gestalterische Vergangenheit zahlreicher bekannter Künstler (z.B. El Lissitzky, John Hartfield, Barbara Krüger). 198 dene Ausdrucksformen sein künstlerisches Œuvre bestimmt haben. Hier hat ein gegenseitiger Grenzverkehr, jedenfalls zeitweilig, stattgefunden. Magrittes erste reale Bildebene wird ergänzt durch eine zweite: ein geheimnisvolles Mysterium steht bildhaft neben den wundersamen, gleichwohl ökonomisch umzusetzenden Traumwelten der Werbung. Überhaupt dürfen wir dem Surrealismus und seinem Bildtypus zum Traumhaften, Überraschenden, Herbeigeholten, Überhöhten und Exzentrischen die beeinflussende Nähe zur Werbung nicht absprechen, die ja mit derartigen Merkmalen zur Gestaltung wesentlich die zweite Ebene für ihre Mythenkreation bildet. Zunächst ist diese Nähe nachvollziehbar, wenn wir eine Anzeige unter dem Gesichtspunkt bestimmter eingesetzter Stilmittel betrachten: Nino – ein ehemaliger Anbieter von wetterfesten (Trenchcoat-)Stoffen mit der Marke Nino-Flex – warb 1955 mit einer jungen Dame im seinerzeit flotten Mantel auf einer Kugel (Abb.133). Abb.133: Nino-Flex, Anzeige, 1955 Das ,Standbild’ auf der Kugel ist an sich schon ein alogisches Bild, das in seiner Irrealität nunmehr noch durch chiffreartige Zeichen und Linien einer künstlich-magischen Bildwirklichkeit umgeben wird: Der Blick in die Tiefe wird durch diese zusammenlaufenden Geraden296 zum Horizont mit Schiff und Eisenbahn geführt, auf diesen Linien tanzt ein Schatten werfendes Bäumchen. Diese irreale Kombinatorik mit Elementen von Wirklichkeit und Schein ist deutlich den surrealistischen Künstlern nachempfunden. Aber über die Verwendung surrealistischer Stilmittel hinaus zeigt unsere beispielhafte Gegenüberstellung Harley Davidson-Anzeige / Geisterkarren-Dali (Abb.134 und 135), dass die Werbung und surrealistische Künstler auch thematisch vergleichbare 296 Derartige Linienführungen sind gerade bei den Surrealisten beliebte Chiffren; z.B. bei Francis Picabia, Judith, 1929/30; Yves Tanguy, Maman, papa est blessé!, 1927; Giorgio de Chirico, Le duo (les Mannequins de la tour rose), 1915; Marcel Duchamp, Installation in der Ausstellung First Papers of Surrealism, New York 1942. 199 Konzepte aufgreifen: Der Grafikdesigner und Dali, beide gehen von dem genannten Kriterien-Spektrum des traumhaft Überraschenden für die Bildgestaltung aus, auch wenn sie unterschiedliche Ziele verfolgen. In beiden Fällen konstatieren wir eine außerordentliche Weite des Bildraumes, eine Fernsicht auf jeweils eine Stadt über eine große Wasser- bzw. Wüstenfläche hinweg. Die Städte sind jeweils Zielobjekte für Freiheit oder Neuanfang und trotz des verfremdenden traumhaften Realismus durchaus erreichbar, jedoch nur nach Überwindung von Wasser und Nebel (mit Hilfe von ,Cool Spirit’) bzw. Entschlüsselung des Geistergeschehens in der Wüste (steuert uns ein Roboter den Wagen der Stadt entgegen?). Dali erstellt eine konkrete Imagination für seine Ziel-Projektion, die Anzeige dagegen strebt umgekehrt nach dem imaginativ Konkreten, nach dem Status der Freiheit mit Hilfe des neuen Eau de Toilette. Abb.134: Harley Davidson, Anzeige, 2001 Abb.135: Salvador Dali, Der Geisterkarren, Detail, Öl auf Holz, 1933 Durch den Einsatz der im allgemeinen Kulturbewusstsein gespeicherten, durch die Kunst Jahrhunderte hindurch zu ihren jeweiligen Zwecken lebendig erhaltenen Mythen antiken, sakralen und zeitgeistlichen Ursprungs erhofft sich die Werbung einen Beitrag zur griffigen Ideenübertragung und der Bildung von Markenmythen. Dabei sind ihr das strukturale Prinzip ebenso wie die inhaltliche Substanz durchaus Vorbild gebend, sodass Michael Schirner folgern kann ,Werbung ist Kunst’. Allerdings ist er durch diese Haltung und Argumentation mit einer persönlichen Werbe-Mythenbildung beschäftigt, indem er der direkten Werbeebene eine zweite, die Metaebene mit Weihestatus hinzufügen möchte. Von der Werbeseite kommend, nähert er sich der Reihe der individuellen Künstlermythen, die sich auf der anderen Seite der Grenze Kunst / Werbung befinden: Picasso, Beuys, Barney, Meese, die durch ihre jeweilige besondere Schaffensart, ihre Lebensumstände und/oder ihre Aussage diesen besonderen Status erreicht haben oder erreichen wollen. Dabei dürfen wir bei aller Mythen bildenden Energie nicht das entmy- 200 thologisierende Vorgehen vernachlässigen, das – gerade gegenüber der Werbung – eine besondere Eigenschaft der Kunst ist. Neben Duchamp erinnern wir uns an Broodthaers oder Lahoda. Bevor wir uns diesem Komplex im nächsten Abschnitt dieses Kapitels widmen, nötigt uns die Aussage Schirners doch noch zu einigen Bemerkungen über grundsätzliche Unterschiede zwischen Kunst und Werbung. Wir können uns vorstellen, dass Schirner gar nicht so glücklich wäre, wenn unbestreitbar Werbung tatsächlich Kunst wäre, ein Unterschied der Phänomene also nicht bestünde. Es gibt dann zwar – wie er sagt – immer noch gute und schlechte Werbung bzw. Kunst, jedoch sein Nimbus, sein Werbemythos ,Kunst’, wäre abhanden gekommen. Hier aber können wir uns eindeutig zu dem grundlegenden Nebeneinander von Kunst und Werbung bekennen: Werbung erhebt den Anspruch zu informieren und liefert uns gleichzeitig einen kommunikativen Überbau der Versprechen eines erreichbaren Erfolges bzw. Glücks. Es ist die Kunst des Versprechens unter Rückgriff auf die Künste der Unterhaltung, der Wissenschaft (Forschung), der Ästhetik oder – der Mythen. Die in der Kunst durchaus geläufigen Elemente der Provokation und Irritation der Aussage dienen der Werbung – wenn eingesetzt – allein zur Erlangung besonderer Aufmerksamkeit. Dabei ist und bleibt das kommunikative Ziel kurz- und langfristig ein kommerzielles: nämlich der Verkauf eines Serienproduktes aus dem Fundus der Massenproduktion für eine große Anzahl Nachfrager. Zweifellos hat auch Kunst einen Bedarf an kommerzieller Anerkennung. Es gibt nun aber weniger Streit darum, dass Kunst darüber hinaus noch zusätzlich etwas darstellen oder bieten könnte, als vielmehr darum, um was es sich dabei handeln könnte. Wir würden unser Projekt sprengen, wenn wir uns auf eine Debatte der Kunsttheorien mit ihren Konsequenzen einließen, denn der entsprechende Weg von der Antike bis zur (Post-)Moderne durch die Handwerks-, Autonomie- und Authentizitätsbestimmtheiten wäre ein langer Exkurs. Dennoch sollten wir für den Moment dieses ,Extra’ der Kunst hinnehmen als ein bewusst zur Reflexion geschaffenes und zur Reflexion geeignetes Kreieren von Werterhaltung bzw. -erneuerung, das auch ohne Markenzeichen in unserer Kulturwelt funktioniert und zur Durchleuchtung (statt allein Beleuchtung) unserer Lebenszusammenhänge beiträgt. Damit ist der Kunst der reine Unterhaltungscharakter abgesprochen und der Denkansatz auferlegt, der zu Überschreitungen der inneren ,Grenzlinien’, d.h. zu neuen Erkenntnissen oder Erfüllungen führen kann, die über uns 201 selbst hinauszuweisen vermögen. Arthur C. Dantos (geb. 1924) Stellungnahme297, dass nichts „äußerlich einen Unterschied zwischen Andy Warhols Brillobox und den Kartons im Supermarkt zu markieren“ braucht, um dennoch Kunst zu sein, also eine Grenze zwischen Trivialem und Kunstwerk zu ziehen, erfordert genau diese über das reine Anschauen hinausgehende Interpretationsmöglichkeit. Und er meint erklärend in Sachen Brillobox an anderer Stelle: „… Er [der Karton] veräußerlicht eine Weise, die Welt zu sehen, er drückt das Innere einer kulturellen Epoche aus und bietet sich als ein Spiegel an, um unsere Könige beim Gewissen zu packen“.298 Es ist demnach eine Herausforderung an den Rezipienten, zwei absolut sich gleichende Objekte einer sinnvollen Ordnung zuzuführen, wobei eine Bedeutung oder Aussagefähigkeit des Kunstwerks für den Betrachter erreichbar sein muss, damit beide voneinander getrennt werden können. Für dieses Ziel verweist uns Danto u.a. einmal auf die Art und Weise, wie die erforderlichen, nicht sichtbaren (Bedeutungs-)Inhalte präsentiert werden (etwa künstlerische Evokation „dadurch, dass es [das Kunstwerk] eine draufgängerische Metapher vorschlägt: der Brillo-Karton-als-Kunstwerk“) oder zum anderen auf deren spezifische Position im kunst- und kulturgeschichtlichen Umfeld.299 (Vgl. auch unsere Anmerkungen zu Duchamp u.a.). Sobald man diesem Gedankengang Dantos folgt und dabei seinen Wunsch nach Bedeutung unterstützt, bleibt es bei aller gedanklichen Anstrengung und größtmöglicher Hinzuziehung umher flottierender Daten letztlich vor allem immer dabei, eine pluralistische Bedeutungsoffenheit zu identifizieren, in der sich vieles aufhalten kann – auch Mythen der Antike, des Sakralen, des Zeitgeistes oder des Alltags, um sich dann darin zurecht zu finden. Nun haben zahlreiche zeitgenössische Künstler das Credo, „dass Kunst subjektiver Ausdruck und nicht objektiv nachvollziehbar sei“, und wehren sich geradezu gegen Interpretationen, weil diese manipulieren oder Träume enden lassen.300 Bevor nun doch noch aus Kunst Werbung wird oder umgekehrt, halten wir uns lieber an Falckenberg, der sich die Hochachtung vor künstlerischer Autonomie bewahren möchte, aber letztlich doch „die argumentative, rational nachvollziehbare Auseinandersetzung über Kunst bis hinunter zu der Frage, ob etwas überhaupt noch Kunst ist“ einfordert. Dabei geht es 297 Danto, Arthur C.: Das Fortleben der Kunst, Zink, München 2000, S. 35. Obwohl Dantos Argument dadurch unverändert bleibt, weisen wir darauf hin, dass seine Brillo-Boxes (1964) geschlossene HolzBoxen sind: Siebdruck auf Holz Brillo, je 44 x 43 x 35,5 cm, neben einigen Campbell’s Boxen, Sammlung Ludwig. Vgl. Museum Ludwig Köln: Kunst des 20. Jahrhunderts, Taschen, Köln 1996,S. 746. 298 Ders.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst [1981], Suhrkamp, Frankfurt/M. 1984, S. 315. 299 Ebd., u.a. S. 224 f und 314. 300 Vgl. Falckenberg, Harald (2002): a.a.O., S. 38. Falckenberg zitiert u.a. Susan Sontag (1962), die meint, dass Interpretation „ein Reduktionsverfahren sei, das die Kunst manipulierbar macht“. 202 auch um die in der pluralistischen Umgebung stark vertretene mythische Substanz und die klärende Diskussion darüber, um welche Mythen es sich handelt, damit Zustimmung oder Widerstand möglich sind, ob etwas trivial-kommerziell oder in anderer Form Werte bestimmend ist. Wir sprechen bewusst von der ökonomisch-trivialen Werteorientierung als einer Erscheinung, der sich eine anthropologische und soziologische KunstTheorie annehmen müsste, damit Handlungsakzente im Wirrwarr der Möglichkeiten und Sinnanbietungen gesetzt werden können, um in einem kommunikativen Diskurs die Bewährung zu bestehen. Spätestens an dieser Stelle sind wir bei unserer Ausgangsthese (4), der Notwendigkeit einer Mythos-Analyse angelangt, ohne die eine Standortbestimmung zwischen Werbung und zeitgenössischer Kunst kaum denkbar ist. Dies ist umso gravierender, als wir aus den Wechselbeziehungen beider Phänomene die Möglichkeiten der gegenseitigen Einvernahme nachgewiesen haben. Eine Standortbestimmung unter dem Gesichtspunkt von Gemeinsamkeiten und Differenzen wäre aber nicht vollständig, wenn wir nicht einen speziellen, wenn auch nur kurzen Blick auf das grundsätzliche Für und Wider zur Werbung geworfen haben. Die Auseinandersetzung mit dieser Argumentationskette ist vor allem auch deshalb in unserem Zusammenhang aufschlussreich, weil Werbekritik bzw. das Sich-Darauf-Beziehen so verbreitet wie jeweils einseitig ist – sozusagen mythisch-absolut vorbelastet. 2. Die Liebe zur Werbekritik Man muss wohl die Frage stellen, ob diejenigen, die Werbekritik äußern, nicht doch eigentlich Kulturkritik meinen. Diese Vermutung kann man hegen, wenn man sieht, wie nahe beieinander beide von uns betrachteten Phänomene agieren, ohne dass man schon am Ende bei Schirner angekommen sein muss. In jedem Falle bietet eine Kurzanalyse dieses Komplexes die Möglichkeit, unsere Fragestellung zur Standortbestimmung weiter zu vertiefen und unsere These (5) zur Mythenhierarchie aufzuarbeiten. In seiner ,kritischen Kritik’ der Massenkultur unterscheidet Umberto Eco (geb. 1932) in anschaulicher Weise Apokalyptiker und Integrierte, also zwischen denen, für die die Kultur ihrer Tage zum Untergang bestimmt ist (nur der Apokalyptiker hat die Chance zu wirklicher Erneuerung), und denen, die in der Integration die wünschenswerte Realität erkennen. Wenn wir nun Massenkultur wahrnehmen als Verbundsystem aller 203 medialen Erscheinungen und Äußerungen, das sich historisch konstituiert und in dem jedes unserer Phänomene einer Ortung bedarf, dann können wir für die Werbung folgenden apokalyptisch-integrativen Dialog führen. Zunächst zur werblichen Apokalypse: Da die Werbung dem ökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage dient, kommuniziert sie allein über das, was gewünscht wird und forciert den vorherrschenden Alltagsästhetizismus zu Lasten – relativ – der Hochkultur. Die Ausdrucksmittel der Werbung fördern manipulativ und verführerisch Emotionen, statt diese zu symbolisieren oder zu neutralisieren; hierdurch werden – stark unterstützt durch die massive Aufsummung des Werbegeschehens – die unkritische Wahrnehmung der Werbung selbst sowie darüber hinaus eine allgemeine Passivität gegenüber dem Kulturgeschehen und dessen historischen Wurzeln begünstigt. Mikromythen des Alltags und Makromythos der Werbung als Ganzes entlasten die Urteilskraft und kreieren dadurch „Vorurteile im Bereich der Gewohnheiten, der kulturellen Werte, der gesellschaftlichen und religiösen Grundsätze“. Damit ist Werbung nur dem Scheine nach demokratisch, strebt nach „Gleichförmigkeit und Zwangsplanung des Bewusstseins aller“ – völlig im Sinne religiöser Ideologien, an deren Stelle sie tritt.301 Ganz in der Terminologie der marxistischen Analyse attackiert ferner Wolfgang Fritz Haug (geb. 1936) Werbung als kapitalistisches Ausdrucksmittel, die defizitäre Berücksichtigung der Gebrauchswerte der Waren mit übermäßiger Errichtung von falschem, schönem Schein systemnotwendig zu kompensieren, d.h. – wie wir sagen würden – Markenmythen zu bilden, die einer Kapitalverwertung Vorschub leisten, der alle Verbraucherbedürfnisse allein zur Ausbeutung dienen. Neben den Begriffen des Gebrauchsund Tauschwert-Standpunktes lanciert Haug dabei den des Verwertungs-Standpunktes des Kapitalismus. Auf gerade diesen und dessen Auswüchse richtet sich als Gesellschaftskritik seine Speerspitze in erster Linie. Bezüglich der Werbung erklärt er immerhin, dass auch für ihn die „inszenierte Erscheinung nicht wegzudenken aus der Geschichte der Kulte“ ist, und er fährt fort: „Ihren realen Kern hat sie [die Warenpropaganda] in den Gebrauchswerten der Waren und deren allgemeiner Zugänglichkeit“.302 301 302 Eco, Umberto: a.a.O., S. 43/4. Haug, Wolfgang, Fritz: Die Kritik der Warenästhetik, [1971], Suhrkamp, Frankfurt/M., 8. Aufl. 1983, S. 16/17 und 56/57. Haug versteht unter Warenästhetik „Erscheinungen, die, der ökonomischen Sphäre entstammend, für die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Kultur konstitutiv sind, und zwar im Sinne einer das Verhalten der Menschen insgesamt formierenden Modellierung von Sinnlichkeit und Bewusstsein.“ Siehe Metscher, Thomas: Tendenzen der materialistischen Ästhetik in der BRD. In: Haug, Wolfgang, Fritz (Hg): Warenästhetik, Beiträge zur Diskussion, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1975, S. 22 – 47, hier: S. 39. 204 Die Gesellschaft und ihre Fundamente als Ganze zu kritisieren, erscheint uns ein stärker Richtung weisender, ehrlicherer Standpunkt zu sein, als die Werbung einseitig als kapitalistisches Mittel zur Etablierung und Aufrechterhaltung des Systems sowie für falsche Sinnerfüllungen zu kritisieren und isoliert in die Pflicht zu nehmen. Bereits während unserer Betrachtung der Markenmythen und ihrer Ziele hatten wir auf unterschiedliche Bedürfnisstrukturen hingewiesen; an diese Überlegungen schließt der Gedanke von Rainer Paris in Zusammenhang mit seiner Reflexion zur ,Kritik der Warenästhetik’ an, wenn er die Tatsache der „Notwendigkeit einer Differenzierung des Bedürfnis-Konzepts“ hervorhebt, d.h. dass doch wohl Bedürfnisse, noch dazu unterschiedlicher Art, vorhanden sein müssen, bevor die Werbung sie aufgreift oder verstärkt.303 Damit sind wir bereits mitten in der Gegenrede des von Eco in Szene gesetzten Integrierten. Diese Rede hat erkennbar (soziologisch-kulturell bedingte) historische Bezüge: Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Werbung noch immer trotz des Einsatzes gelungener oder misslungener Schlüsselreize einiges zum Gebrauch der von ihr vertretenen Produkte aussagt, z.B. über sauber/fröhliche Kinder und Mütter dank Pampers oder über Stress abbauende Zigaretten rauchende Väter. Oskar Cöster geht sogar so weit zu behaupten, dass „der ästhetische Schein der Zigarettenwerbung der Gebrauchswert der Zigarette ist“304. Dass es mehrere unterschiedlich beworbene Zigarettenmarken gibt, ist Bedingung und Resultat einer freiheitlichen Ordnung zugleich; allerdings kann man sich bei Zigaretten, wie bei anderen Artikeln auch (Pampers, Haarspray oder Fertiggerichten), darüber streiten, ob diese Produkte überhaupt nötig sind, da es sie früher ja auch nicht gab. Lehnt man diese Produkte ab, möchte man doch wohl ein Stück des Westens und der angehenden Entwicklung des Südens und Ostens in Abrede stellen bzw. zurückdrehen; ein vergebliches Unterfangen in einer Zeit, da deutlich wurde, dass sozialistische Planungen es auch nicht geschafft haben und andere Modelle noch nicht zur Verfügung stehen. Für viele ist es dann ggf. doch akzeptabler, um mit Cöster305 zu sprechen, wenn die ,Tiefenheinis’ der Verhaltenspsychologie herausfinden, dass man 303 Paris, Rainer: Kommentare zur Warenästhetik, Nachbemerkung. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg, 1975): a.a.O., S. 84 – 108, hier: S. 108. 304 Cöster, Oscar: AD’Age, Der Himmel auf Erden, Doc’s, Hamburg 1990, S. 117. 305 Ebd., S. 107/8. Dies ist für Walter Grasskamp allerdings die „Keule der Besinnungslosigkeit, auf den wehrlosen Passanten“ niedersausend. (Grasskamp, Walter, 2000: a.a.O., S. 129); denn, da Werbung „spielerisch daher kommt und dennoch bierernste Marketinginteressen vertritt, leidet sie an einer strukturellen Unglaubwürdigkeit“ (S. 124). Wir können nur hoffen, wenn dieses so umfassend ernst gemeint ist, dass manches – Gott sei Dank – spielerisch daher kommende Kunstwerk, obwohl es bierernste Interessen vertritt, einer solchen Unglaubwürdigkeit von vornherein nicht anheim fällt. 205 Sicherheitsgefühl mit Waschmittel und Pharmazeutika, Liebesobjekte mit TV-Stars, Kraftgefühl mit Autos und Benzin, Freiheit/Abenteuer mit Zigaretten etc. verkaufen kann. Die Mitarbeit an neuen Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens aber bleibt eine grundsätzliche Herausforderung (sie könnte z.B. dem Kapitalismus durchaus auch dessen Grenzen aufzeigen), woraus sich die Fragestellung in gewisser Weise durchaus erneuert, ob gerade Markenmythen und deren Werbung, wenn es sie schon mal gibt (und dies insbesondere ausgeprägt und unvermeidbar in freiheitlichen Gesellschaftssystemen), nicht auch mit der möglichst besseren Hälfte ihrer Aufwendungen auskommen können, um diese Gesellschaft weniger zu belasten. Erstens aber weiß niemand so genau, welches die bessere Hälfte ist und letztlich möchte niemand halbzufrieden sitzen gelassen werden: Seit jeher gab und gibt es besondere Medienauftritte und Erscheinungsformen der Unterhaltung (Circenses, OscarVerleihungen) und anderer kultureller und religiöser Institutionen, die man als Zeichen des Sittenverfalls werten kann, und der Streit um die Grenzziehung bezüglich ihrer Sinngebung und ihres Umfanges ist so berechtigt wie schwierig, vor allem, wenn man die betriebswirtschaftlichen Aspekte weitgehend ausklammert. Das sogenannte werbliche Überangebot in seiner Mischung aus informativer Kommunikation und mythenbildender Zusatz-Substanz kann die kritische Aufnahmebereitschaft belasten; die einseitige (z.T. massive) Kommunikation anderer historischer Systeme (Rom, christliches Mittelalter, moderne totalitäre Staaten) haben in diesem Zusammenhang nicht weniger, sondern eher mehr geleistet, wie Walter Benjamin u.a. mit seiner Analyse der Ästhetisierung von Politik durch den Nationalsozialismus gezeigt hat; und es gibt unserer Meinung nach kein Interesse der Werbung, der Hochkultur ihren Platz streitig zu machen, eher besteht in unserem heutigen System die Chance für bessere Informiertheit sowie Mythen-Identifizierung und -Isolierung des Profanen, z.B. vor allem im Zusammenhang mit Erscheinungen der Verherrlichung von Gewalt und Sexualität sowie rassistischer Diskriminierung. Diesen letzten Gedanken einer Chance zur Mythenidentifizierung unterstreicht auch die kontroverse Debatte um die eingangs zitierte Benetton-Werbung (Abb.2a+b). Toscani besetzt das werbliche Marktsegment (den werblichen Schlüsselreiz) für Pullover-Textilien mit dem Hässlichen, Bedrohlichen und Grausamen: „Benetton dreht 206 die Werbung auf den Kopf, indem uns das redundante Werbe-Echo in umgekehrter Richtung vor Augen geführt wird“.306 Jetzt wird auf einmal nicht das Harmoniöse, das Glücklichmachende des Publikumsgeschmacks zur Mythenbildung verwendet, sondern die bitteren Realitäten von Umweltzerstörung, von gesellschaftlichen und menschlichen Tragödien aller Art, und nun wendet sich die Werbung selbst (Werberat) dagegen, weil Würde und gute Sitten verletzt würden. Die mangelnde Korrelation zwischen Produkt und Schlüsselreiz, d.h. eine Mythenbildung, die doch eigentlich (schlüssig) gar nicht stattgefunden hat, gibt für Werbekritiker, die Werbung ohnehin grundsätzlich für zynisch gehalten haben, nunmehr ausreichend Grund, in dieser unglaubwürdigen Zusammenstellung einen Doppel-Zynismus zu erkennen. In einer solchen Haltung aber schwingt auch ein unglaubwürdiges Wunschdenken mit; denn, wenn beides in der Werbung – Harmoniöses und Schönes sowie Hässliches und Bedrohliches – nicht akzeptabel ist, könnte man ebenso gut die unrealistische, weil dem Menschenlichen zuwiderlaufende, totale Abschaffung der Werbung im kapitalistischen System fordern oder ein klares Schrumpfkonzept vorlegen, das unserer Gesellschaft gemäß ist. Toscani in seiner Zwitterrolle (Künstler und Werber) könnte als Künstler die Werbung als Kommunikationsmittel benutzt haben wollen, um auf eine Spaltung von Werbeversprechen und sozialen Problemen (Umwelt, Krankheit, Tod, Gewalt) aufmerksam zu machen. Dafür nahm er sich dann das Recht zu Tabuverletzungen heraus, wie es bei Künstlern durchaus Tradition ist.307 Wie schwer sich allerdings die Öffentlichkeit mit dieser Zwitterrolle im Rahmen einer offenen, vorurteilsfreien Debatte tut, dokumentiert in subtiler Form das Frankfurter Museum für Moderne Kunst, das die Benetton-Plakate zwar ausstellte, aber nicht im Museum selbst, sondern in seinem Sacco & Vanzetti-Leseraum, sozusagen im Foyer.308 Die Bedeutung einer genauen Betrachtung eines solchen Sachverhaltes ergibt sich schließlich auch aus einer relativierenden, gestellten Situation, in der statt des Markenlogos United Colors of Benetton auf denselben Plakaten Sponsored by United Colors of Benetton gestanden hätte. Die Ökonomisierung des Bildes würde in diesem Zusammenhang erträglicher wirken, weil Marke und Abbildung jetzt wieder in anerkannter, den 306 Ammann, Jean-Christophe: Annäherung, Die Notwendigkeit von Kunst, Lindinger + Schmid, Regensburg 1996, S. 140. 307 Hierauf hat insbesondere Peter Greenaway in ,Zeit-Magazin’ Nr. 66/1993 verwiesen. Zitiert nach: Ammann, Jean-Christophe: a.a.O., S. 137. 308 Ebd., S. 137. Über die Zulässigkeit dieser Werbung läuft noch immer eine juristische Auseinandersetzung. Mit dem Urteil vom 11.3.2003 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die H.I.V.-Anzeige nicht gegen die Menschenwürde verstößt, sodass nunmehr der Bundesgerichtshof erneut (zum dritten Mal) sich äußern muss. Vgl. http://www.123recht.net/printarticle.asp?a=5028. 207 heutigen Normen entsprechender Unabhängigkeit zueinander stehen. Die Weiterentwicklung dieser Normen erfordert die Bereitschaft zu neuem Seh- und Interpretationsverhalten, das auch im Kunstkontext ständig aufs Neue herausgefordert wird. Werbung in ihrer ausgeprägten Form ist Teil des avancierten kapitalistischen, arbeitsteilig demokratischen Systems. Sie tritt in Aktion, wenn der Hersteller in der Lage ist, für einen offenkundigen Bedarf ausreichende Stückmengen des gefragten Produktes zu akzeptablen Preisen zu produzieren; sie wird verändert oder verstummt, wenn der Bedarf gedeckt ist oder sich als Fehleinschätzung erweist; sie verdummt ebenso wie sie herausfordert, zum Kauf zwischen Realität und Traum – wie im übrigen Leben auch. Der von Eco eingesetzte Integrierte wird argumentieren, dass für ihn, den Bürger, kein grundsätzlicher Unterschied besteht zwischen der von ihm geforderten Notwendigkeit, Parteien zu wählen, und der Möglichkeit, (manipulativ) beworbene Markenmythen zu erstehen oder diese zu missachten. Vielleicht hat Werbung in ihrer Grundgesamtheit dennoch im Verbund mit Unterhaltung und Mode als ,massage’ mehr Unheil angerichtet als ihr als Einzelprojekt jemals anzurichten möglich war. Aber man darf der Frage nicht ausweichen, ob es nicht doch noch andere Verursacher oder Verantwortliche als nur einzelne Produzenten, Werbeleute, Künstler, Käufer, Politiker gibt – nämlich uns, die wir den funktionierenden ,runden Tisch’ suchen, an dem ,Sein’ mindestens so viel bedeuten sollte wie ,Haben’. Diesen ,runden Tisch’ einzurichten, versuchen wir schon seit ein paar tausend Jahren. Eine bittere Erfahrung aus der aktuellen Arbeitslosigkeit ist, dass je mehr und bessere Computer aufgestellt, desto mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, wodurch gesellschaftliche Polarisierung und der allgemeine Druck zum Kaufverzicht bzw. Billigkauf wachsen. Dadurch entstehen zwar andere, neue Handels-Markenmythen, aber die Arbeitslosigkeit bleibt. Wir scheitern nicht an Werbung und Markenmythos an sich, sondern an der schwierigen Frage, das Fehlen von computergerechter Innovation (mit Wachstumschancen auf dem Arbeitsmarkt) zu kompensieren, um zu einem Ausgleich darüber zurückzufinden, dass wir in Folge stets wachsender Rationalisierung mehr und mehr Arbeitsplätze abbauen (und das auch noch belohnen!) und gleichzeitig mehr Arbeit nötig haben, um die Nicht-Tätigen sozial aufzufangen und den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren. Langfristig unternehmerische Produktentwicklungsstrategien und (ästhetische) Bildung sind letztlich notwendiger als kurzfristiges Kostenmanagement. Die Existenz der Werbung dafür verantwortlich machen zu wollen, dass sie als bestehender Kostenfaktor zu Rationalisierungen etwa im Personalbereich zwinge, heißt 208 i.d.R., das Pferd von hinten aufzuzäumen. Die ihr vom System auferlegte Zielsetzung, zukünftig anderes und/oder mehr verkaufen zu wollen als heute, darf allerdings nicht dazu führen, ,Sein’ durch ,Haben’ abzulösen. Wir sind mitten in Gesellschaftskritik und Politik und kehren zurück zum Mythos. Letztlich finden wir, dass Werbekritik, wie sie hier nur kurz angesprochen wurde, am meisten Sinn macht als erneute Aufforderung zu einer Mythenkritik, zu einer Analyse des Alltagsmythos, dessen Wesen sich zwischen Verwerflichkeit und (Ersatz-) Göttlichkeit in einer Mythenhierarchie einzuordnen hätte, die einen sinnvollen Wertespiegel für unser gesellschaftliches Zusammenleben darstellt (Thesen 4 und 5). b. Entmythologisierung oder Remythologisierung Wir haben gesehen, dass die Arbeit am und mit dem Mythos ein ständiger Prozess von Ent- bzw. Remythologisierung ist. An unserem Medusa-Beispiel konnten wir erfahren, dass bereits in der Antike aus mythisch-kultischer Vergegenwärtigung eine ornamentale werden konnte; umgekehrt kam der Mythos den hellenistischen Herrschern gerade recht als Mittel zur Absicherung ihres Machtanspruchs. Dieser Prozess ist eine Funktion der gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch der Bemühungen Einzelner, z.B. im Widerstand gegen diese Tendenzen, ein Prozess, der seine Aktualität in der Postmoderne erreicht. 1. Die mythische Postmoderne Der Begriff Postmoderne macht in der Tat eine Zugänglichkeit nicht leicht. Ähnlich der Schwierigkeit der Begriffsbestimmung zum Mythos ist das Spektrum der kennzeichnenden Merkmale groß und überlagert je nach Akzentbetonung (SignifikatGewichtung) wie die mythischen Anteile einer Metasprache unsere Kultur und deren Teilbereiche. Allein schon deswegen können wir von einer mythischen Postmoderne sprechen. Es ist vielfach darauf verwiesen worden, dass Verwirrung auch auftritt, wenn man Postmoderne allein in epochenzeitlicher Abgrenzung zur Moderne verstehen sollte und dabei die substantiellen Inhalte, die inzwischen mit dem Begriff einhergehen, vernachlässigt. In der aktuellen philosophisch geführten Diskussion zur Postmoderne erklärt Jean-François Lyotard (1924 – 1998), dass Metaerzählungen, die der aufgeklärten Moderne Denkweise und Ethik zugeführt haben (Hegel, Marx), ihre vereinheit- 209 lichende Legitimität und Glaubwürdigkeit einbüßten.309 Nach den bitteren Erfahrungen des letzten Jahrhunderts sind die Zweifel an den ausschließlich positiven Segnungen der Wissenschaft gewachsen, und die normativ ganzheitlichen Programme werden ,postmodern’ unterlaufen durch Heterogenität, Selbstorientierung, Suche nach dem Anderen, dem Anti-Elitären oder weiterer bewusster Popularisation von Kunst. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die in der Moderne kein absolutes Novum waren, da diese „konstitutiv und andauernd mit der Postmoderne schwanger“ ging310. Die Pluralisierung des Normativen, des Theoretischen und der Lebensformen wird zum Standard und stellt dabei die Grundidee der Moderne, die auf der Basis von Aufklärung und deren Fortschrittsdenken nach größerer Freiheit und größerem Wohlstand durch neues Wissen und neue Technologien sucht, in Frage.311 Für Wolfgang Welsch (geb. 1946), einem der herausragenden Anhänger der Postmoderne, ist diese Pluralität in ihrer Radikalität das besondere Kennzeichen des Fortschritts und insofern die konsequente Entwicklung aus der Moderne; er konstatiert Pluralität nicht nur, er verlangt nach ihr. Welsch macht gerade an der Kunst diese Pluralität der von ihm erkannten und sogenannten postmodernen gesellschaftlichen Erscheinung fest. Unabhängig davon, ob man diese Sozial-Figuration nur konstatiert oder sie einfordert: sie existiert. In unserer kunst- und werbebezogenen Betrachtung war eines der entscheidenden Kennzeichen der Moderne und ihrer Entwicklung aus dem 19. Jahrhundert heraus das Spiel um die Grenze zwischen Kunst- und Gebrauchsobjekt. Gerade in diesem Zusammenhang keimten – maßgeblich ausgehend von dem, was wir bei Duchamp bereits vor 100 Jahren als dessen Mythenkritik, die in Mythenbildung übergegangen ist, erkannt haben – die ,Doppelcodierung’ der Postmoderne, ihre ironischen Vieldeutigkeiten und ihre Provokationen. Der mehrschichtige, herausfordernde und oft arrogant überhöhte Impetus der Kunstwerke ist durchaus Absicht und verweist vielleicht auf Hilflosigkeit oder nostalgisches Verlangen nach unerreichbaren Sicherheiten, aber eher noch auf die Anerkennung einer Realität des Undarstellbaren oder des Unbestimmten, das mindestens gleichwertig auf mythisches und aufklärerisches Bewusstsein zurückgeht. Wenn wir die Moderne begreifen als ein Gegenwartsverständnis, das sich über die Aufklärung gegen das Restaurativ-Traditionelle entwickelt und konstituiert hat, dann führt der Weg zum postmodernen Denken und Handeln in der Kunst über stilüber309 Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen [1979], Einleitung. Hier in: Harrison, Charles; Wood, Paul (Hg): a.a.O., Bd. II, S. 1232 – 34. 310 Ders.: Die Moderne redigieren. In: Welsch, Wolfgang (Hg): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, 2. Aufl., Akademie, Berlin 1994, S. 204 – 214, hier: S. 205. 311 Vgl. Liessmann, Konrad, Paul: Philosophie der modernen Kunst, WUV, Wien 1999, S. 176. 210 greifende avantgardistische, zukunftsorientierte Ansätze. Bei der Betrachtung des Mythos im Kunstkontext haben wir das Hin- und Hergerissensein als kulturphilosophische Elemente zwischen Tradition und deren Verneinung bzw. Relativierung registriert. Die Avantgarden – als die künstlerischen Spitzen für die Wege aus der Moderne – haben sich mit ihren Angriffen bzw. Verweigerungsstrategien nicht nur gegen die vorhandenen Kunstgestalten gewandt, sondern gleichzeitig auch gegen die künstlerische Autonomie im Sinne ihrer Loslösung von der Lebensführung (s. auch Anm. 130). Wir haben zahlreiche Formen der Entmythologisierung entdeckt, die sich vor dem Hintergrund der Sorge der Vereinnahmung der Kunst durch den Mainstream, vor der Sorge, dass andernfalls Erneuerung und Bewusstmachung nivelliert werden, entwickelt haben. Insbesondere aufgenommen durch eine neue Spähergruppe (Neoavantgardisten) der 60er-Jahre markieren Destrukturierungen, Schocks, Provokationen, Trivialisierungen, Eklats und ironische Distanzierungen312 diesen Weg, ohne dass dauerhafte Konstruktionen sichtbar werden – es sei denn, der Pluralismus an sich. Andererseits erkannten wir auch Remythologisierungs-Vorgänge als Rückgriff auf Traditionen, auf Gefestigtes aus der Vergangenheit, und es werden allerorts Mythen gebildet vor dem Hintergrund des aktuell Normativ-Schwächelnden – Zeitgeist-Mythen, Künstler-Mythen, Alltags-Mythen. Es wimmelt nur so von Mythen in der Postmoderne. Falckenberg verweist darauf, dass es unberechtigt ist, hierin eine diskreditierende Retro-Bewegung zu sehen, da in diesem Fall übersehen werden würde, dass „die Postmoderne den Übergang der bildungsorientierten bürgerlichen Gesellschaft auf eine pluralistische Gesellschaft der Massenkultur reflektiert“.313 Einerseits kann man die Postmoderne als kritischen Beobachter des Geschehens in der aufgeklärten Moderne einordnen, zumal ihre Kunstwerke in nie dagewesener Weise gerade das Verhältnis des Beobachters zur Kunst thematisieren und herausfordern.314 Zum anderen birgt sie Erneuerungen nicht nur z.B. mit reduzierter Gegenstandslosigkeit, etwa bei Gerhard Richter (geb. 1932) oder Sigmar Polke (geb. 1942), sondern vor allem auf dem Gebiet der medialen Tragflächen, wie die heutige Massenkultur sie bereithält. 312 Oehlen, Albert: „Wir lesen morgens die Zeitung und malen mittags. Für das Ergebnis ist der Staat verantwortlich.“ Zitiert nach Falckenberg, Harald: a.a.O., S. 52. Die Wechselbeziehungen zwischen Oehlen und der Sprache der Unterhaltungsindustrie in Talk- und anderen Shows ist unverkennbar. 313 Falckenberg, Harald: Tod oder Leutnant. Avantgarde zwischen Heroismus und Realsatire. Unveröffentlichte Texte 2004, S. 3. 314 Weibel, Peter: Probleme der Moderne – Für eine Zweite Moderne. In: Klotz, Heinrich (Hg): Die Zweite Moderne – eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, Beck, München 1996, S. 23 – 41, hier S. 39. 211 Dabei müssen wir erneut unter Berücksichtigung unserer Analysen anmerken, dass mythen-inspirierte Pluralisierung kein Zeichen eines ausschließlich epocheorientierten Denkens ist, sondern dass postmodernes Bewusstsein im Sinne neuerlichen Rückgriffs auf Mythisches auch schon vor Lyotard, also vor 1980 die ganze Phase der modernen Kunsterfahrung begleitet hat. Ein weitgehend uneingeschränkter Regressus auf Mythenerscheinungen aller Art und deren Emotionsgehalte zum Zwecke beider, der Ent- und der Remythologisierung, sind allerdings hervorstechende Kennzeichen der postmodernen Heterogenität in der Kultur im Allgemeinen, aber im Besonderen auch in der Kunst und darüber hinaus in der Werbung. Wir haben gesehen, dass gerade Werbung auf Mythen bildende Zeichen vertraut, die das pluralistische Wertedurcheinander benutzen und erweitern (These 3). Hier auf dem Sektor der Werbung und der Unterhaltung entfaltet sich die affirmative Seite des postmodernen Erscheinungsbildes, der Massenkultur, der sich Kunst nicht entziehen kann und will. Falckenberg stellt fest, dass es abwegig wäre, „anvantgardistische Künstler nur als Opfer zu sehen“, da auch sie über Handeln und Denken zum Gesamtergebnis der Kulturerscheinung inklusive Kitsch und Dekor aktiv beitragen,315 und es bleibt zum Teil durchaus offen, ob der einzelne Künstler dem Kunstmarkt für leichte oder für schwere Kost zuarbeitet. Wie bei der Werbung ist dabei der Zwang zu Innovation nicht gering, sodass Freizügigkeit und Offenheit des Pluralismus voll in Anspruch genommen werden – trotz oder gerade wegen zahlreicher misslungener Versuche, eine Zuhörerschaft erreicht zu haben. Die Massenmedien mit ihrer Vielzahl und Vielfalt an Technik und Frequenz – Werbung und Kunst bedienen sich ihrer gleichermaßen – helfen diese Innovationsprozesse zu vermengen, sodass künstlerisches Auftreten zwischen Konzept und Chaos, zwischen Aufklärung und Mythos (Tradition), werblicher Anspruch zwischen Information und Mythenbildung sich zusätzlich vor der Wahrnehmung des Individuums mengen mit der Medienebene, die in sich immer unüberchaubarer wird. Schon John Baldessari (geb. 1931) weist mit seinen Blasted Allegories (1978) darauf hin, dass Verwirrung zwischen Wirklichkeit und fotografischer/filmischer Einflussnahme entsteht und dass dies zur Anerkennung virtueller Realitäten führt316, und wir vermuten den Zustand, dass dies – selbst wenn man die zweite konstruierte, mythische Ebene durchschaut – immer noch mit einem ironischen Lächeln „das kenne ich schon“ hingenommen wird. Die Entwicklung der Medien hat dazu geführt, dass sich eine virtuelle Welt neben der praktischen Alltagswelt zu etablieren beginnt. Die Suche nach persönlicher Identität 315 316 Falckenberg, Harald (2004): a.a.O., S. 6. http://www.geocities.com/Athens/Rhodes/4924/DieAesthetikdesNichtbeweises.htm, S. 3. 212 muss sich durch das entstehende Gewirr von „Anonymen, Heteronymen und Pseudonymen“ durcharbeiten317. Seit der Entwicklung dieser Virtualität und ihrer Verbreitung – mit der Gefahr bzw. Chance, als neue Realität erfahren zu werden – wächst allerdings die Notwendigkeit, das eigene Ich aus einem pluralistischen Umfeld heraus zu definieren, nicht im Sinne von Beliebigkeit, sondern bewusst in Würdigung und Anerkennung auch anderer Lebensweisen und Orientierungen. 2. Mythosanalyse und praktische Philosophie Manche sagen, es sei gut, sich in der Postmoderne einzurichten, nachdem die Moderne mit ihren aufklärerischen, naturwissenschaftlichen Strömungen zweifelhafte Erfolge erzielt habe. Wir fügen nach unseren Überlegungen an, dass es dann aber um so notwendiger ist, ein schärferes Bewusstsein zur Mythenanalyse (These 4) zu entwickeln, um zu einer Entscheidung für einen geordneten Lebensentwurf zu gelangen, der für den Einzelnen und letztlich für die Gesellschaft ein notwendiges, strukturiertes, vorurteilsfreies Nebeneinander verschiedener Normen ermöglicht; denn was der Moderne mit ihren Avantgarden als Hauptheer gefolgt ist, hat eben auch noch stark den Charakter von Spähergruppen und Einzelkämpfern. Falls aus wachsender Individualisierung und Selbstverwirklichung, die wir als dominierende Merkmale zeitgenössischer Lebensweise gesichtet haben, Selbstformung oder Selbstbildung werden sollen, bedarf es des bewussten, einfühlsamen Analysierens dieses für die Postmoderne so relevanten Mythen-Phänomens, das in einer reflektierten Hierarchie der Werte münden sollte, einer Hierarchie, die Verantwortung für das gesellschaftlich Gesamte spiegelt (These 5), damit Freiheit sich nicht selbst beseitigt. Wenn wir für den Moment Philosophie verstehen als „Einheit von Selbstreflexion und Kommunikation“318, dann kann eine Hierarchie aufbauende Mythenanalyse in eine praktische (Mythos-)Philosophie319 münden, die weniger nach historischen Realitäten forscht, sondern vielmehr als eine Philosophie gesellschaftlichen Handelns die Suche 317 Zweite, Armin: Ich ist etwas Anderes. In: Zweite, Armin (Hg): Ders. S. 27 – 50, hier: S. 48. Lorenz, Kuno: Warum Philosophie? In: Meyerslexikonredaktion (Hg): Meyer Kleines Lexikon Philosophie, Meyers Lexikonverlag, Mannheim et al. 1987, S. 476 – 483, hier: S. 482. 319 Wir verwenden hier den auf Aristoteles zurückgehenden Begriff praktischer Philosophie, die sich nicht primär in den Gegensatz Theorie/Praxis stellt, sondern vor allem die innere vernunftbezogene Eindeutigkeit für Wahlentscheidungen und deren Orientierung an ,tunlichen’ Normen der Lebensgestaltung zu eben deren Verbesserung im historischen und sozialen Zusammenhang betont. Die gesellschaftspolitische Dimension dieser Lehre ist evident: „Da der Mensch ein politisches Wesen ist, gehörte [bei den Griechen im Dienste der Polis] zur praktischen Philosophie als ihre oberste [Philosophie] die politische Wissenschaft.“ Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Aufsätze (hier: Hermeneutik als praktische Philosophie) [1976], Suhrkamp, Frankfurt/M. 1991, S. 79. 318 213 nach lebenspraktischen Strukturen unter Einschluss subjektiver Erfahrungspotenziale darstellt. Das anerkennende Einblenden mythenanalytischer Ergebnisse in den Prozess aufklärender Entmythologisierung entspräche durchaus dem Entwicklungsprozess, wie ihn Cassirer sich vorstellte, ohne einerseits im Mischmasch der Orientierungen zu versinken und ohne andererseits einer ungewollten rationalen Radikalisierung zu unterliegen, die für viele uneinsichtig bliebe. Lothar Knatz, der vehement auf Basis seiner Schelling-Studien eine umfassende philosophische Mythos-Theorie unter Berücksichtigung individueller innerer Reflexivitäten einfordert, ist sich bewusst, dass diese „nicht dichotomisch, sondern komplementär zu rationalen wissenschaftlichen Erkenntnisweisen … durch ein [ergänzendes] Bewusstsein über die Felder des NichtRationalen“ eingebracht werden sollte.320 Danach basiert diese philosophische Suche auf der Doppelsäule der Erfahrungen, die das Denken ermöglicht, und der Bewusstseinsform des von uns als reflektiert bezeichneten Mythos, der den Denkapparat auch noch bemüht hatte. Gerade die Realität des postmodernen Pluralismus verlangt nach der transparenten Darstellung unterschiedlichster individuell subjektiver Möglichkeiten der Sinnerfüllung unter Einschluss existentieller Herausforderungen und humaner Erlebnisfelder wie z.B. Liebe, Hass, Tod, Überleben, Freiheit, Solidarität, Toleranz etc. Und auch die ,Bedeutsamkeiten’ trivialer Vorstellungen, wie sie sich in den Alltagsmythen spiegeln, fordern eine Zuordnung, wahrscheinlich eben nicht nach radikaler Ausmerzung (wie sollte das auch gehen?) oder geheuchelter Verneinung, sondern nach Identifizierung und Einordnung in ein solches System. Sozusagen per definitionem verabscheut die Werbung i.d.R. Bildung und Darstellung von Mythen, die jenseits der Grenze des Erfolgversprechens beheimatet sind, Mythen also, die Zweifel und Verzweiflung beschwören. Aber sie arbeitet an aktuellen Mythen, die – wenn man sie einmal losgelöst von der Marke betrachtet und damit losgelöst vom Kernziel der Werbeaussage – einen hohen realen Status im Sinne unserer Lebensbedingungen innehaben (Freiheit, Offenheit, Versorgtsein, Glück); andere derartige aktuelle Mythen bleiben im Alltag stecken, zeigen einfach Harmonie oder Erfolgserlebnisse, die zwar als erlebbare Realität nicht von unserer Skala der Werte verschwinden sollten, die aber einer Relativierung ihres Anspruchs bedürfen. Was ist gegen einen Mythos des ,Ewig-Jung-Seins’, wie ihn zahlreiche Marken versprechen, einzuwenden, wenn daraus – als Beispiel für eine Relativierung – nicht abgeleitet 320 Vgl. Knatz, Lothar: a.a.O., S. 12, 39 und S. 44. 214 werden kann, dass das Alter der Aufgabe entbunden ist, sich um andere Formen von Jugendlichkeit zu bemühen? Es bleibt natürlich die Frage nach dem Konsens für eine derartige Werteordnung, die das Mythische am Ende gebührend berücksichtigt – als Null-Normativ oder als deren positive Teilelemente innerhalb des Systems. In der Tat erscheint ein derartiges System eine Dauer-Utopie zu sein, die, wenn man sich nicht sofort ergeben oder in selbstgefälligen Zynismus flüchten will, im Wesentlichen nur über den von Lorenz angesprochenen Kommunikationspfeiler der Philosophie zu dechiffrieren sein könnte, d.h. über einen Diskurs der Argumente von Eigenschaften und Folgen von sowohl Mythen als auch Rationalisierungen. Was aber kann Kommunikation leisten? Roland Burkart unterscheidet in dieser Hinsicht drei Grundfunktionen der Kommunikation321: Zunächst geht es dabei in direkter Hinsicht um die Verständigungsfunktion als allgemeines Ziel kommunikativen Handelns auf der Basis störungsfreier Übertragung und gegenseitiger Anerkennung der beteiligten Parteien (Sender und Empfänger) sowie ferner um den Ansatz der Interessenrealisierung als spezielles Kommunikationsziel, z.B. im Sinne von Beeinflussung mittels überredungsstrategischer Aufbereitung. In mittelbarer Funktion leistet Kommunikation auf dieser Basis darüber hinaus schließlich Beiträge zur ,sozialen Persönlichkeitsgenese’ und zur ,gesellschaftlichen Evolution’ durch entsprechende Ausformungen der Massenkommunikationsprozesse. Jürgen Habermas (geb. 1929) ist zurzeit der wohl profilierteste Vertreter einer Theorie kommunikativen Handelns, der jenen (sprachlich-pragmatisch kommunikativen) Diskurs einfordert, um zu einem Verständigungsprozess zu gelangen, der letztlich eine tragfähige gesamtheitliche Lebensform weitgehend ohne Sinn- und Freiheitsdefizite ermöglichen soll. Er geht dabei aus – wie z.B. auch Jamme betont – von Rationalität als dem bisherigen „Höhepunkt menschlicher Entwicklung, der mit der Moderne möglich geworden sei, und versteht unter Rationalisierung eine entwicklungslogische Ausdifferenzierung der in der Sprache angelegten Vernunft“.322 Dabei werden als Geltung verschaffende Diskurs-Bedingungen Verständlichkeit, Wahrheit (Vorhandensein realer Inhalte), Wahrhaftigkeit (Absicht wahrhaftiger Selbstdarstellung) und Richtigkeit (im Einklang normativer Vorbedingungen) eingefordert.323 Gelingt dieser Prozess, dann erfüllen sich durchaus Burkarts Zielfunktionen der Kommunikation bis 321 Burkart, Roland: a.a.O., S. 528. Jamme, Christoph (1999): a.a.O., S 245. 323 Habermas, Jürgen: a.a.O., S. 149. 322 215 hin zu einer – hoffentlich positiven – Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Im Lichte unserer Deutungsansätze zum Mythos regt diese Haltung Habermas’ nun jedoch an, einen kommunikativen Diskurs nicht immer nur ausschließlich von sprachorientierter Rationalität als Handlungssystem und Ergebnisorientierung bestimmen zu lassen. Seine Haltung steht nach unserer Meinung durchaus auf einem Fundament handlungs-praktischer Vernunft, die auch – wie oben im Sinne von Knatz angedeutet – „für eine philosophische Mythos-Theorie verbindliche Geltung hat“, worin die Rationalität nicht mehr exklusiv den Weltbezug des Subjekts vermittelt, sondern die Handlungsaspekte praktischer Philosophie Berücksichtigung gefunden haben.324 Neue (natur-)wissenschaftliche Resultate oder Wahrheiten sollten nicht absolut für sich stehenbleiben, sondern sich den weitergehenden Fragen bezüglich ihrer Konsequenzen und des Umgangs mit ihnen stellen (z.B. Nutzung von Atomkernenergie). Ein voreiliges, nicht-argumentatives Ausblenden von Formen mythologischen Bewusstseins, dessen Durchdringung vor allem durch Cassirer im Sinne seiner ,logischen Genese’ eingebracht wurde, würde dabei dem Diskurs seinen sinnvollen Evolutionscharakter nehmen. Gerade vor dem Hintergrund der mythischen Besetzung der Postmoderne ist eine positive Auseinandersetzung mit den zahlreichen ,Besatzungstruppen’, die der Avantgarde gefolgt sind, erforderlich, um nicht Stufen der Entmythologisierung zu überschlagen, ein Vorgang, der – wie die Geschichte mehrfach gezeigt hat – zu verheerenden ideologischen Remythologisierungsprozessen führen kann. Dabei haben die oft als albern abgetanen Alltags- und Zeitgeistmythen mit ihrem kurzfristig emotional-kommunikativen Charakter ebenso eine Berechtigung, analysiert und zugeordnet zu werden, wie ein reflektierter Mythos oder streng rationale Äußerungen zu unseren Lebensbedingungen. Da diese Zuordnung aber wohl immer schwierig bleiben wird, möchten wir im Sinne unserer 6. und letzten These abschließend nochmals für den Habermasschen Diskurs die Notwendigkeit einer der Diskurs-Voraussetzungen herausstreichen: Die Richtigkeit kommunikativen Handelns im Einklang normativer Vorbedingungen – allerdings unter Einbezug von aktiver Toleranz, d.h. einer Bereitschaft, die über Demut hinaus gewaltfrei für Problemlösungen eintritt und deren Zielhorizonte tatkräftig einfordert. 324 Knatz, Lothar: a.a.O., S. 71 und 77. 216 VI. Schlussbemerkungen Mit Hilfe von einigen definitorischen Abgrenzungen haben wir dieser Arbeit einen erweiterten Mythosbegriff zugrundegelegt, zumal disziplinübergreifend vom Journalisten bis zum Philosophen, vom Soziologen bis zum Politiker, vom Werber bis zum Künstler dessen Verwendung bzw. Bezugnahme weit verbreitet ist und dabei oft in der Art einer gezielten Beweisführung eingesetzt wird. Allerdings haben wir diese Erweiterung des Begriffs (These 1, 2 und 3) durch die Forderung nach einer Mythenhierarchie (These 5) relativiert, gestützt auf Verstehen und Analysieren (Thesen 4 und 6). Selbst wenn man diese Begriffserweiterung ablehnt, darf man nicht die hier als mythisch beschriebene Mehrschichtigkeit der Mitteilungsformen ignorieren, falls man das aktuelle Kommunikationsgeflecht entwirren möchte. In der (sprachlichen) Lebenswelt von heute finden wir diesen Mythos-Begriff über das streng kunstgeschichtliche Verständnis hinaus in Zusammenhang mit besonderer, individuell und vor allem im Kollektiv erfahrbarer ,Bedeutsamkeit’ (Magritte: „Erschütternde Bedeutung“; Danto: „Draufgängerische Metapher“) überall in kommunikativem Einsatz. In diesem Sinne stellt er ein Grundmuster zur (bildhaften) Übermittlung von entsprechenden Informationen, Gedanken, Konzepten und Ideologien dar, sodass eine Auseinandersetzung in einer zusammenführenden Form durch all dies Mythische hindurch der Richtungsfindung im Leben dienen kann: Die umfassende Gegenwärtigkeit des Mythisch-Kommunikativen erfordert – vor allem im Gegenlicht der Aufklärung (s. Tabl.2) – eine durchleuchtende Bestimmung und Zuordnung aller Mythen-Phänomene im Sinne von ,schwerer oder leichter Kost’ in unserem Lebensprozess, zumal diese Kost ja auch noch dem zeitgeschichtlichen Wandel unterliegt (s. Transformationsprozesse). Wie durch unsere Darstellung an Hand der Thesen nachvollzogen, können wir also feststellen, dass man gerade in Zusammenhang mit Kunst und Werbung an dieser breiten Mythenbetrachtung nicht vorbeikommt. Zwar sprach Max Weber (1864 – 1920) bereits 1919 von einer Art Mythen-Entleerung, der ,Entzauberung’ der westlichen Welt aufgrund von Rationalisierungsprozessen und Verwissenschaftlichung (Zweckrationalität verdrängt Vernunft), die transzendente Erkenntniswege verbaut.325 Dass Mythische aber überlebte und ,wucherte’ in neuer Form: In den letzten Jahrzehnten bemühte sich die Kunst, dieses Sinnproblem durch den Rahmen des pluralen Deutungsansatzes zum Weltgeschehen aufzuarbeiten und zu erklären. Die Werbung 325 Max Weber geht selbst weiter und stellt fest, dass sogar im religiösen Bereich die „gänzliche Entzauberung“ konsequent durchgeführt wird (asketischer Protestantismus). Vgl. Sukale, Michael (Hg): Max Weber, Schriften zur Soziologie, Reclam, Stuttgart 1995, S. 357. 217 sprang ihrerseits in die entzauberte Lücke im Sinne von Wiederverzauberung und bildete Ersatzgötter in Form ihrer Mythen. In diesem Zusammenhang hat die ökonomische Kontrolle unserer gesellschaftlichen Prozesse (Beispiel: Kunstbetrieb) zu einer Verschiebung der inhaltlichen Substanz des Mythenpakets zulasten des historischen Mythos und dessen bildungsrelevanten Aufriss und damit gleichzeitig zugunsten von Alltags- und Zeitgeistmythen (Markenmythen, Künstlermythen) und deren vielfältigen, zum Teil strittigen und beklemmenden Verweisen beigetragen. Die Ökonomisierung mit ihren sogenannten Rationalitäten ist dabei kein Vertilger, sondern ein Förderer von Mythenprozessen und der folgerichtigen Auseinandersetzung mit ihnen. Der Unternehmer zum Beispiel, der zweckbestimmt rationalisierend produziert, dreht sich nach getaner Arbeit um und bildet den Markenmythos, um seine Produkte optimal zu vermarkten. Augenscheinlich mehr zur Erhöhung als zur Verschiebung des gesellschaftlichen Mythenpotenzials hat darüber hinaus die Medienentwicklung unserer Informationsgesellschaft beigetragen, deren massenhafte Vervielfältigungsprozesse bei gleichzeitigem Aufbau virtueller Welten den Rezipienten vor neue Herausforderungen – nennen wir diese in unserem Zusammenhang Mythenanalysen – stellt. Es sind gerade auch immer wieder Künstler, die sich der Einseitigkeit sowohl des Mythischen als auch des Aufklärerischen entziehen wollen und dabei gleichzeitig einen – oftmals auch schillernden – Diskursbeitrag zu den ökonomisierenden Vereinnahmungstendenzen liefern. Hier zeigt sich die Stärke der Kunst als Autorität für vielfältige Transformationen und kreative Produktionen mythischer Substanz. Daniel Spoerri (geb. 1930) steckt eine offene Schere in die Augen der Totenmaske Voltaires (Abb.136) und beschwört in seiner streitbaren, aggressiv-brutalen Weise die Position, dass Aufklärung ihre Grenzen hat, dass der Blinde mehr sehen kann, als der Seher Voltaire – wie schon der blinde Tiresias aus Theben. Dabei ist es in diesem Zusammenhang gleichgültig – um Danto und seinem Interpretations-Konzept zu folgen –, ob Spoerri an anderer Stelle in seinen Readymades zu wenig über etwas spricht, weil Duchamp ihm schon voraus war. An dieser Stelle jedenfalls werden die Aufklärung und ihre stringente Ordnung ausdrucksstark künstlerisch von ihrem Podest geholt – entmythologisiert. – Rirkrit Tiravanija aus Argentinien ist etwas vorsichtiger in seiner Art des ,Schauens’ und meint versöhnlicher mit der durch die Gravuren irritierenden Metallbrille (Abb.137), dass wir nicht erst alle erblinden müssen, um das Durcheinander, das sich in unserem Blickfeld auftut, zu durchschauen, wenn wir nur die 218 ständige Herausforderung zur Entmythologisierung der mythischen Szene annehmen, ohne dabei zu vergessen, dass der Mythos noch lange ein fester Bestandteil menschlichen Bewusstseins bleiben wird. Abb.136: Daniel Spoerri, Ça crève les yeux que c’est Rrose Sèlavy, Mixed Media unter Glas, 1965 Abb.137: Rirkrit Tiravanija, Ohne Titel, Metallbrille, 1995 Wir blicken auf ein Jahrhundert zurück, das uns in unserem Projektzusammenhang abschließend noch zwei Stichworte liefert: Es ist das Jahrhundert der Verklärung des Gewöhnlichen, und es ist die Periode der massiven Rückkopplungen zwischen Profanem und Sublimem. Beide Aspekte haben mit dem Mythos zu tun. Muriel Spark verschafft Arthur C. Danto mit The Transfiguration of the Commonplace den Titel für sein Buch Die Verklärung des Gewöhnlichen zu einem Zeitpunkt, als dieser sich mit der Frage auseinandersetzte, ob und wie Banalitäten sich in Kunst verwandeln können. Er legt in seinem Text als Bedingung für die Verehrung eines Trivialgegenstandes als Kunstobjekt fest, dass dieser Gegenstand eine Aboutness spiegeln müsse, eine Bedeutung, die in der Regel auch ein bestimmtes Wissen voraussetzt. Er erhält dadurch eine weit gefasste Kunstdefinition, deren Erfüllung allerdings davon abhängt, dass die Symbolik des Kunstwerks mittels eines funktionierenden Kommunikationssystems und eines aktiv darin involvierten Publikums erfahrbar wird. Andy Warhol hat ihm dabei den Weg gewiesen durch seine Geste der Mythenbildung bzw. Verklärung, die letztlich am verlängerten Arm Duchamps erfolgte. Was Duchamp mehr als 50 Jahre vorher mit Flaschenständer und Urinal vollzog, feierte 219 mit Warhols Zeitgeistmythen auf dem Nährboden der Konsumgesellschaften eine Renaissance, die dank der entwickelten Medienkultur und ihrer vereinnahmenden und populären Sogwirkungen erst so richtig große Erfolge erzielte. – Bedeutende Bestandteile unserer Kultur sind natürlich auch Unterhaltung, Mode, Design und Werbung mit ihren Mythenbildungen, die ebenfalls als Verklärung eines Gewöhnlichen treffend beschrieben werden können. Auch hier findet unter den kommunikativen Bedingungen eine Heraushebung von Objekten statt, die sich für bestimmte Publikumsgruppen ,bedeutsam’ zur Idolatrie entwickelt. Die Grenzziehung zwischen Kunst und Werbung bzw. Nicht-Kunst im Allgemeinen wird zwar durch diese Prozesse erschwert, aber die Grenze als solche wirkungsvoll bestätigt, wenn auch unter einem erweiterten Kunstbegriff, den Robert Gernhardt (geb. 1937) mit einem Sprung vom „Rijksmuseum ins Reizmuseum“ beschrieben hat326. Damit ist ein hervorstechendes Charakteristikum der künstlerischen Moderne benannt: Das provozierende, Widerspruch leistende und irritierende Pendeln um die Grenze zwischen dem trivialen Gegenstand und seinem Ausdruck als Kunstobjekt unter den Prinzipien der Mythenbildung und -destruktion. Die oben erwähnte Erweiterung des Mythenbegriffs geht dabei Hand in Hand mit dieser Erweiterung des Kunstbegriffs. Der zweite Gesichtspunkt, den unsere Untersuchung erneut nach vorne gerückt hat, ist der Rückkopplungseffekt zwischen einerseits künstlerischen und andererseits werblich vorgeprägten Produkten, d.h. die Benennung der wechselseitigen Beeinflussung der Kulturphänomene über die Verklärung des Gewöhnlichen als einer Entwicklungsrichtung hinaus. Werbung und Unterhaltung bemächtigen sich künstlerischen Terrains, indem sie künstlerische Elemente für ihre Ausdrucksformen benutzen oder sich anbieten, den Künstler zu ,vermarkten’. Der Rückkopplungseffekt verstärkt die Frage für die Künstler, wie man sich ungewünschten Vereinnahmungen entziehen kann, da selbst provokanteste Projekte in kürzester Zeit ,beschlagnahmt’ werden und im Museum in die Reihe traditioneller Kunst systemgerecht eingeordnet bzw. auf dem Markt als Ware gehandelt werden (sicher nicht immer zum Nachteil des Künstlers). Der Grenzverkehr ohne Mauer ist beträchtlich und verlangt vom Publikum volle Aufmerksamkeit. Schließlich ist auch noch die Medienvielfalt und deren Inszenierungspotenzial zu beachten, derer sich Kunst und Werbung gleichermaßen bedienen und dadurch die entsprechenden cross-over-Effekte noch forcieren. Wir erinnern hier nur an die virtuellen Bilder, die mit ihrer besonderen Gegenstandslosigkeit an die 326 Gernhardt, Robert, zitiert nach: Reißer, Ulrich; Wolf, Norbert: Kunstepochen, Bd. 12, 20. Jahrhundert, Reclam, Stuttgart 2003, S. 28. Gernhardt muss wohl an die Jungen Wilden gedacht haben! 220 Unbestimmtheiten des Suprematismus anzuknüpfen scheinen und die Irritationen des postmodernen Pluralismus verstärken. Gefördert durch diese Entwicklung der Medien entsteht eine plurale Bildoberflächenlandschaft von Codierungen und Farbzeichen aller Schattierungen, die potenziell zum beliebigen Zugriff auf jedes dieser Zeichen und dem hinter ihnen liegenden Mythenangebot einlädt: die Uniformität und Ubiquität von ästhetischer Faszination nach Jean Baudrillard! Der Sinnsucher hat die Wahl aus dem umfassenden MythenGeflecht der Postmoderne, deren Medienstruktur dafür sorgt, dass diese Mythen wie die anderen die Lebensform bestimmenden Areale wie Rationalität oder Naturwissenschaft ständigen „reflexiven Kommunikationsprozessen ausgesetzt“ sind und daher die Postmoderne „als progressiven Kontingenzierungsprozess“ definieren327. Das Bewusstwerden um diesen Prozess und seine Möglichkeiten für sinngebende Entscheidungen sind maßgebliche Voraussetzungen zur Bewältigung der Vereinnahmungsdynamik der Massenkultur. Es bleibt abzuwarten, ob aus diesem pluralistischen Angebot – manche sagen Angebot der Beliebigkeit – eine wirkliche Befreiung oder eine neue Bedrängnis erwächst. Marion Gräfin von Dönhoff befürchtet eher eine Bedrängnis der Individuen und bemerkt, dass für unsere Gesellschaft ein Freiheitsbegriff typisch ist, der keine Grenzen in seinem Fortschrittsstreben kennt328, und verlangt daher nach verantwortungsbewussten Grenzziehungen im Gelände des Kapitalismus. Sie prangert die „ausschließliche Diesseitigkeit“ der Menschen in einem derartigen – ungesteuerten – System an, die den Einzelnen „von seinen metaphysischen Quellen abschneidet“.329 Die von uns immer wieder eingeforderte Mythos-Analyse und die daraus abzuleitenden hierarchischen, stets neu zu bedenkenden (Werte-)Zielstrukturen können im Sinne eines Beitrages zu einer praktischen Philosophie für derartige erfolgreiche Grenzlegungen hilfreich sein und sich dabei dem ungezügelten Aufklärerischen bzw. dessen Rückfall in die Tiefen des Mythischen entgegenstellen. Im Übrigen kommen wir an einem solchen Mythen-Verständnis angesichts des uns umgebenden Mythen-Nebels gar nicht vorbei, zumal unser Streben nach Besser- oder mindestens Anders-Sein-Wollen für einen Großteil der Mythenbildung in Kunst und Werbung verantwortlich ist, ein Streben, das 327 Schmidt, Siegfried J.: Ko-Evolution von Moderne und Medientechniken. Postmoderne. In: Helmes, Günter; Köster, Werner (Hg): Texte zur Medientheorie, Reclam, Stuttgart 2002, S. 320 – 326, hier: S. 325/6. 328 Dönhoff, Marion Gräfin von: Zivilisiert den Kapitalismus, Grenzen der Freiheit, Knaur, München 1999, S. 14. 329 Ebd., S. 220. 221 paradoxerweise auf eine Fortschrittsgläubigkeit zurückgeht, die die Aufklärung erst inthronisiert hat. Sollten allerdings die Verunsicherungen zum Weltgeschehen allzu bedrückend werden und sollte das Thema Entmythologisierung bei der Mythenanalyse verloren gehen, könnte immer noch der Götterrat befragt werden, den Peter Paul Rubens schon 1602 zusammengerufen hat (Abb.138), auch wenn dessen Protagonisten inzwischen möglicherweise nicht mehr so leicht zur Toleranz aufgerufen werden können, wie es auf dem Rubens-Bild den optimistischen Anschein hat: Abb.138: Peter-Paul Rubens, Götterrat, Öl auf Leinwand, 1602 222 Abbildungsverzeichnis Abb. 1a: Richard Prince: Boat, full yard, next to GNH Lumber Yard in Norton Hill, Fotografie, 1996/99. In: Noever, Peter; MAK Wien: a.a.O., S. 54. Abb. 1b: Richard Prince: Untitled (Party), Fotografie, 1996/99. In: Noever, Peter; MAK Wien: a.a.O., S. 18. Abb. 2a: Oliviero Toscani: Benetton-Werbung Ente, 1992/93. In: Dia-Leihgabe, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M. Abb. 2b: Oliviero Toscani: Benetton-Werbung HIV, 1992/93. In: Dia-Leihgabe, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/M. Abb. 3: Mythos-Spiegel, eigene Collage. Abb. 4: Marshall McLuhan; Quentin Fiore: The Medium is the Massage, Titelseite Penguin Book, 1967. Abb. 5: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Anzeige, Aids-Aufklärung, Bonn, 1990. In: VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 219. Abb. 6: Deutsche Telekom Mobilfunk, Anzeige, D1, Bonn, 1995. In: VDZ, Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 325. Abb. 7: ESSO, Tankstelle in Bremen, Eigenfoto, 2003. Abb. 8: Langnese-Iglo, Anzeige, Ich und mein Magnum, 2000. In: Markenartikel Nr. 2/2000. Abb. 9: Cartier, Anzeige (Rückseite), Le Baiser du Dragon, 2004. In: art Das Kunstmagazin Nr. 1/2004. Abb. 10: elena miro, Anzeige (Rückseite), Forever beautiful, 2004. In: Brigitte woman: a.a.O. Abb. 11: Langnese, Markenzeichen, 2004. In: Internet, Homepage www.langnese.de. Abb. 12: Wiedererstelltes Kreuz der Frauenkirche, Dresden, 2004. In: Internet, www.glaubeaktuell.net. Abb. 13: Deutsche Bank, Firmenlogo (aus Anzeige), 2004. In: Focus Nr. 30/2004. Abb. 14: e-on, Ruhrgas, Anzeige, Partner des Museum Folkwang Essen, 2004/05. In: Focus Nr. 30/2004. Abb. 15: L’Horloge Champs Elysée, Les Girard, Lithografie von Jules Chéret, 57, 4 x 43,1 cm, 1879. In: Varnedoe, Kirk; Gopnik, Adam: a.a.O., S. 174. Abb. 16: Nivea, Anzeige, Ein Gefühl wie ein sanfter Sommerregen, 2003. In: Maxi, September 2003, S. 82. Abb. 17: ALDI, Tageszeitungs-Anzeige, Qualität ganz oben – Preis ganz unten, 2004. In: Weser-Kurier, 21. Juli 2004. Abb. 18: Quelle, Katalog, Herbst/Winter 2003, Titelseite. 223 Abb. 19: Vodafone, Anzeige, Ich achte immer auf mein Äußeres. Man weiß ja nie, wer anruft, 2004. In: Focus Nr. 30/2004. Abb. 20: Apothekenumschau, Titelseite, 15. Juli 2004. Abb. 21: West, Anzeige, Test the West!, 1989. In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 189. Abb. 22: Sparkassen, Anzeige, Wenn Sie Karriere machen, sollte es auch Ihr Geld tun, 2004. In: Stern Nr. 27/2004, S. 131. Abb. 23: HypoVereinsbank, doppelseitige Anzeige, Mit uns laut nachdenken, 2003. In: Max Nr. 4/2003, S. 20/21. Abb. 24: Sunlicht Seife, Anzeige, Es gibt wieder Sunlicht-Seife, 1949 (Constanze Nr. 10). In: Kriegeskorte, Michael: a.a.O., S. 15. Abb. 25: Kaufhof Köln, Anzeige, 1949 (Stadt Köln, Hg: 1900 Jahre Köln). In: Kriegeskorte, Michael: a.a.O., S. 11. Abb. 26: Coca Cola, Anzeige, Mach mal Pause, ca. 1955. In: W & V Extra: a.a.O., S. 116. Abb. 27: Loewe Opta, Anzeige, Unser Loewe Opta, ca. 1955. In: W & V Extra: a.a.O., S. 117. Abb. 28: Stuyvesant, Anzeige, Der Duft der großen, weiten Welt, ca. 1965. In: W & V Extra: a.a.O., S. 119. Abb. 29: VW-Käfer, Anzeige, Es gibt Formen, die man nicht verbessern kann. 1962. In: Der Spiegel, Sonderausgabe 1947 - 1997, S. 229. Abb. 30: Marlboro, Anzeige, Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer, ca. 1975. In: W & V Extra: a.a.O., S. 68. Abb. 31: Pfanni, Plakat, Das jüngste Gericht, 1975. In: Schirner, Michael: a.a.O., S. 28/9. Abb. 32: Kupferberg Gold, Anzeige, Eine der schönsten Launen der Welt, 1981. In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 17. Abb. 33: Du darfst, Anzeige, Ich will so bleiben wie ich bin, 1984. In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 97. Abb. 34: Porsche, Anzeige, Kein Dach über dem Kopf, aber Porsche fahren, ca. 1995. In: W & V Extra: a.a.O., S. 124. Abb. 35: TUI, Anzeige, Die TUI fliegt selbst das Paradies direkt an, 1993. In: VDZ Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (Hg): a.a.O., S. 285. Abb. 36: Piero Manzoni: Merde d’Artiste, 1961, Konservendose, Künstlerexkremente (eigentlich braune Olivenpaste). In: Künstler, Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst: a.a.O., S. 13. Abb. 37: Maurizio Cattelan: Trommelwirbel, 2003, Wachs-Installation, 150 cm, auf dem Dach des Museums Ludwig Köln, gibt Computer gesteuert lautstarke Töne von sich. In: Focus Nr. 21/2003, S. 70. Abb. 38: Werner Büttner: O.T. (Grübeln ist das Geilste), 2000, C-Print, 138 x 110 cm. In: Grosenick, Uta (ED.): a.a.O., S. 20. 224 Abb. 39: Domenico Ghirlandaio: Geburt Johannes des Täufers, 1486, Fresko, S. Maria Novella, Cappella Tournabuoni, Florenz. In: Micheletti, Emma: a.a.O., S. 55. Abb. 40: Brygos-Maler: Schale 2645, Innenbild, Tanzende Mänade, Durchmesser der Schale 28,5 cm, um 490 v.Chr., München, Staatliche Antikensammlungen. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. XXV. Abb. 41: Apulischer Kelchkrater 2241, Mänaden und Satyr, Höhe 53,0 cm, Mitte 4. Jahrhundert v.Chr., Lipari, Museo Eoliano. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. XLII. Abb. 42: Pergamon-Altar: Aus dem Nordteil des Großen Frieses, Nyx, um 180/160 v.Chr. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 279. Abb. 43: Sandro Botticelli: Geburt der Venus, um 1485, 175 x 279 cm, Tempera auf Leinwand, Uffizien, Florenz. In: Thiébaut, Dominique: Botticelli, a.a.O., S. 97. Abb. 44: Sandro Botticelli: Minerva und Zentaur, um 1482, Uffizien, Florenz. In: Thiébaut, Dominique: Botticelli, a.a.O., S. 93. Abb. 45: Tizian: Die Hl. Magdalena, um 1530 – 1535, Öl auf Holz, 84 x 69 cm, Galeria Palatina, Palazzo Pitti, Florenz. In: Kaminski, Marion: a.a.O., S. 65. Abb. 46: Tizian: Pietà, 1576, erst später vollendet durch Palma Giovane, Öl auf Leinwand, 378 x 347 cm, Gallerie dell’Accademia, Venedig. In: Kaminski, Marion: a.a.O., S. 135. Abb. 47: Albrecht Dürer: Venus und Amor als Honigdieb, 1514, Aquarell, Kunsthistorisches Museum, Wien. In: Schade, Werner: a.a.O, S. 122. Abb. 48: Nicolas Poussin: Sakrament der Letzten Ölung, 1638 – 40 (?), Öl auf Leinwand, 96 x 122, Belvoir Castle (UK), Sammlung des Earl of Rutland, [47a: Totale, 47b: Detail]. In: Châtelet, Albert; Thuillier, Jacques: Französische Malerei von Fouquet bis Poussin, Skira, Genève 1963, S. 216. Abb. 49: Jan Boekhorst: Merkur erblickt Herse, um 1650, Öl auf Leinwand 118 x 178,5 cm, Kunsthistorisches Museum Wien. In : Walther, Angelo: a.a.O., S. 142. Abb. 50: Jan Brueghel d. Ä., Hendrik van Balen: Allegorie des Herbstes, 1616, Holz, Bayreuth, Neues Schloss. In: Ertz, Klaus: a.a.O., S. 386. Abb. 51: Arnold Böcklin: Odysseus und Kalypso, 1882, Tempera auf Holz, 104 x 150, Öffentliche Kunstsammlung Basel. In: Öffentliche Kunstsammlung Basel / Kunstmuseum: a.a.O., Abb. 67. Abb. 52: Honoré Daumier: Äneas und Dido, 1842, Lithografie. In: Cabanne, Pierre: a.a.O., S. 46. Abb. 53: Gustav Klimt: Judith II, 1909, Öl auf Leinwand, 178 x 46 cm, Venedig, Galeria Internazionale d’Arte Moderna – Ca’Pesaro. In: Natter, Tobias G.; Frodl, Gerbert (Hg): a.a.O., S. 225. Abb. 54: Johann Schult: Im Lebensfrühling, 1942 oder früher. Besitz der Bundesrepublik Deutschland. In: Poley, Stefanie (Hg): a.a.O., S. 402. 225 Abb. 55: Francis Picabia: Les baigneuses/Die Badenden, ca. 1942, Öl auf Karton, 105 x 76 cm, Privatsammlung. In: Felix, Zdenek (Hg): a.a.O., S. 93. Abb. 56: Oscar Dominguez: Mannequin, 1938, Schwarzweiß-Fotografie von Denise Bellon, Modern Print, 30 x 24 cm, Fonds photographique Denise Bellon. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 137. Abb. 57: Marcel Duchamp: Schaufenster-Installation für Bretons Arcane 17, Detail, New York 1946, Fotografie von Maya Deren (?), 23,9 x 17,8 cm, Philadelphia Museum of Arts. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 146. Abb. 58: Max Ernst: Marlene (Frau und Kind), 1940/1, Öl auf Leinwand, 23,8 x 19,5 cm, Houston, Menil Foundation Inc. In: Bischoff, Ulrich: a.a.O., S. 67. Abb. 59: Joseph Beuys: Aktrice, 1961, Öl auf Papier, [Braunkreuz = spezielles Braun, das B. auch zur Darstellung seines Kreuzzeichens benutzte], 61,1 x 43 cm, Sammlung Heiner und Céline Bastian, Berlin. In: Glyptothek München: a.a.O., S. 28. Abb. 60: Pipilotti Rist: Ever is Over All, 1997, Videostill, Biennale, Venedig. In: Kunsthalle Zürich (Hg): o. S. Abb. 61: Witaly Komar & Aleksandr Melamid: Der Ursprung des Sozialistischen Realismus, 1982/83, Öl auf Leinwand, 183 x 122 cm. In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 392. Abb. 62: Alberto Abate: Salomé (Verso), 1992, Öl auf Leinwand, 180 x 100 cm. In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 242. Abb. 63: Friedrich Drake: Siegesssäule, Berlin, 1873. In: Internet, www.deutsche-heimat.com/berlin/sieges.html. Abb. 64: Charles Sykes: Flying Lady (Emily), erstmals für den Rolls Royce des Lord John Montagues of Beaulieu, Material Gold, Bronze, 1911. In: Internet, www.ebay.de. Abb. 65: Underberg, Anzeige, Wirkt nach jedem Essen, 2002. In: Der Markenartikel, Nr. 3/2000. Abb. 66: Chanel, Anzeige, Take it!, 2004. In: Cosmopolitan, Nr. 3, 2004. Abb. 67: Perseus köpft die Medusa, Selinunter Metope, Tempel C, Palermo, Archäologisches Museum, Mitte 6. Jahrhundert v.Chr. In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 376. Abb. 68: Gorgoneion, Antefix des Tempels von Portonaccio, Veji (87 x 48 cm), Mitte 6. Jahrhundert v.Chr., Rom, Villa Giulia. In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 374. Abb. 69: Dinos E 874, Gorgonenmaler, H. 93 cm, 1. Jahrzehnt 6. Jahrhundert v.Chr., Paris, Louvre. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 90. Abb. 70: Medusa Rondanini, H. 78 cm, römische Kopie des Medusenhauptes auf dem Schild der Athena Parthenos des Phidias, ca. 440 v.Chr., München, Glyptothek. In: Schlesier, Renate: a.a.O., S. 381. Abb. 71: Duris (Schalenmaler), Schale, Innenbild, Athena, Jason und der Drache, Schalendurchmesser 30 cm, um 480/470 v.Chr., Vatikan. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 134. 226 Abb. 72: Pheidias, Athena Lemnia, Marmorreplik einer Bronzestatue, vor 450 v.Chr., H. 2 m, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden. In: Boardman, John; Dörig, José; Fuchs, Werner; Hirmer, Max: a.a.O., Abb. 184. Abb. 73: Benvenuto Cellini: Perseus mit Marmorsockel, 1545 – 1554, H. der Bronzegruppe 320 cm, Loggia dei Lanzi, Florenz. In: Dommermuth-Gudrich, Gerold: a.a.O., S. 174. Abb. 74: Peter Paul Rubens: Haupt der Medusa, um 1617 - 18, Öl auf Leinwand, 68,5 x 118 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 3834. In: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Hg): a.a.O., S. 223. Abb. 75: Caravaggio, Medusenhaupt, 1595 – 1600, Öl auf einem eigens dafür gefertigten mit Leder überzogenem (Parade-)Schild, 60 x 55 cm, Galleria Degli Uffizi, Florenz. In: König, Eberhard: a.a.O., S. 11. Abb. 76: Filippo und Francesco Negroli, Paradeschild Karls V., Mailand 1541, Stahl, Gold und Silber, Durchmesser 59,2 cm, Madrid, Real Armería, Inv.Nr. D 64. In: Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig (Hg), a.a.O., S. 70. Abb. 77: François Girardon: Ludwig XIV. zu Pferde, um 1690, Bronze (Seitenansicht), H 108 cm. In: Kunsthalle Bremen: Inv.-Nr. 444-68/4. Fotografie: Studio für Fotografie, Lars Lorisch, Bremen. Abb. 78: Théodore Géricault: Floß der Medusa, 1819, 491 x 716 cm, Paris, Louvre, Inv. 4884. In: Bazin, Germain: a.a.O., S. 250-1. Abb. 79: Michelangelo: Das Jüngste Gericht, ein Verdammter, 1536 – 41, Fresko, Detail, Sixtinische Kapelle, Vatikan. In: Néret, Gilles: a.a.O., S. 77. Abb. 80: Edward Burne-Jones: Perseus von den Gorgonen verfolgt, aus Zyklus von Entwürfen zur Perseus-Geschichte, 1875/6, ca. 29 x 39 cm (Gesamtdesignblatt 36,8 x 128,4 cm), Tate Gallery London, Nr. 3457 (Geschenk des Trustees of the Chantrey Bequest). In: Wilton, Andrew; Upstown, Robert: a.a.O., S. 227. Abb. 81: Max Beckmann: Perseus, 1940/1, Triptychon, Mittelbild 150,5 x 110,5 cm, l. Flügel 150,5 x 56 cm, r. Flügel 150,5 x 55 cm, Göpel 570, Museum Folkwang, Essen. In: Spieler, Reinhard: a.a.O., S. 118/9. Abb. 82: Max Ernst: Coloradeau de Méduse, 1953, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm, Sammlung Lefèbre-Foînet, Paris. In: Bischoff, Ulrich: a.a.O., S. 86. Abb. 83: Frank Stella: Raft of the Medusa, Part I, 1990, Aluminium und Stahl, 425 x 413,5 x 403 cm, Leo Castelli Gallery, New York. In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 79. Abb. 84: Martin Kippenberger, Selbstbildnisse (a+b), Hotelzeichnungen zu Medusa-Schiffbrüchigen, 1996. In: Memento Metropolis, a.a.O., S. 84 und 89. Abb. 85: William Kentridge, Medusa, 2001, Anamorphotische Lithografie auf Chine collé, auf jeweils sechs verschiedenen Seiten der Larousse-Enzyklopädie von 1906, Bilddurchmesser 63 cm, Papierformat 78 x 78 cm, gedruckt bei The Artists’ Press, Johannesburg. SpiegelglanzStahlzylinder; Durchmesser 9 cm, Höhe 12,7 cm, Gewicht 750 g. Auflage: 60, signiert und nummeriert. Edition für Parkett. In: Parkett Nr. 63/2001, S. 112/3. Abb. 86: Pablo Picasso: Kopf eines Mannes, 1907, Gouache und Aquarell, 60,5 x 47,0 cm, The Museum of Modern Art, New York, A. Conger Goodyear Fund, Z. VI, 977; D.R. 44. In: Spies, Werner (1986): a.a.O., Abb. 47. 227 Abb. 87: Pablo Picasso: Deux Faunes et une Naïade / Zwei Faune und eine Najade, 1938, Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm, Bezeichnet unten rechts: 7.1.38, Privatsammlung. In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 185. Abb. 88: Pablo Picasso: Minotaure caressant une femme / Minotaurus über eine Frau gebeugt, 1933, Blatt 84 der Suite Vollard, Radierung, 29,8 x 36,8 cm, Werner-Coninx-Stiftung, Zürich. In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 153. Abb. 89: Marcel Duchamp: La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même / Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar; 1915 – 1923, Glasbildkomposition: Öl, Lack, Blei, Staubmaterie auf zwei Glasplatten, 109,25 x 69,25 inch, in der Ausstellung der Société Anonyme, Brooklyn Museum, New York, 1926/27; im Hintergrund Werke von Domela, Léger und Mondrian. The Beinecke Rare Book and Manuscript Library, New Haven, CT. In: Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 85. Abb. 90: Pablo Picasso: Titelgestaltung für die Zeitschrift Minotaure Nr. 1, 1933. In: Spielmann, Heinz: a.a.O., S. 242. Abb. 91: Marcel Duchamp: Umschlag für Minotaurus, Nr. 6, 1935. In: Staatliches Museum Schwerin: a.a.O., S. 172. Abb. 92: Pablo Picasso: Tête de taureau / Stierschädel, 1942, Bronze in zwei Teilen (Nach einem Original aus Sattel und Lenkstange eines Fahrrades), 42 x 41 x 15 cm, Privatsammlung. In: Spielmann, Heinz (Hg): a.a.O., S. 151. Abb. 93: Marcel Duchamp: Roue de bicyclette / Fahrrad-Rad, Fahrrad-Gabel mit Rad auf Hocker befestigt, 1913/1964, H. 126,5 cm, Ø 64 cm, Exemplar 7 aus einer Edition von 8, Stiftung der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig e.V., Köln, 1986. In: Museum Ludwig Köln (Hg): a.a.O., Seite 181. Abb. 94: René Magritte: Alfa Romeo – V. Snutsel aîné – Norine, 1924, Gruppenanzeige 20 x 28 cm, Signiert und datiert unten rechts: Magritte 24. In: „Englebert Magazine“, Lüttich, Nr. 59-60, Januar-Februar 1925, Bibliothèque Royale Albert Ier, Brüssel, Inv. B101. Hier in: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 319. Abb. 95: René Magritte: Un Joailler-orfèvre Max Kerrels, 1926, Anzeige in der Zeitschrift „Le Centaure“, Brüssel, Oktober 1926, Nr. 1, Bibliothèque des Musées Royaux des Beaux Arts de Belgique, Brüssel, Inv. RPII339, 1926 (1). Hier in: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 319. Abb. 96: René Magritte: Der berühmte Mann / L’homme celèbre, 1926, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm, signiert unten rechts: Magritte, Signatur auf der Rückseite. Sammlung ZAN, Sao Paulo. In: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 60. Abb. 97: René Magritte: Les affinités électives / Die Wahlverwandtschaften, 1933, Öl auf Leinwand, 41 x 33 cm, Paris, Sammlung Etienne Périer. In: Meuris, Jacques: a.a.O., S. 113. Abb. 98: René Magritte: Der Himmelsvogel / L’Oiseau de ciel, 1966, Öl auf Leinwand, 68,5 x 48 cm, Signiert oben rechts: Magritte, Andere Titel auf der Rückseite, Sammlung Sabena. In: Ollinger-Zinque, Gisèle: a.a.O., S. 224. Abb. 99: René Magritte: La trahison des images / Der Verrat der Bilder, 1928/29, Öl auf Leinwand, 62,2 x 81 cm, Los Angeles, County Museum. In: Meures, Jacques: a.a.O., S. 120. 228 Abb. 100: Andy Warhol: American Supermarket, 1964, Installation, Bianchini Gallery, New York, Foto und © Henry Dauman/Dauman Pictures, NYC, 2002. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 175. Abb. 101: Andy Warhol: Campbell’s Soup Cans (Chicken with Rice, Bean with Bacon), 1962, Acryl auf Leinwand, 2-teilig. Je 51 x 40,5 cm, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 177. Abb. 102: Joseph Beuys: Wirtschaftswerte, 1980, 6 Eisenregale, Verpackungen von DDR-Waren, mit Bleistift beschrifteter Gipsblock mit Fett, 290 x 400 x 265 cm, (Zur Installation gehören sechs Werke aus dem ausstellenden Museum aus der Zeit von Karl Marx), S.M.A.K. Gent. In: Grunenberg, Christoph; Hollein, Max (Hg): a.a.O., S. 201. Abb. 103: Joseph Beuys: Foto aus ,Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt’, 1965, Performance, 26.11.1965 in der Galerie Schmela, Düsseldorf, Foto Ute Klophaus. In: Schirmer, Lothar: a.a.O., Abb. 87. Abb. 104: Marcel Broodthaers: Pense Bête, 1963/4, Bücher, Papier, Gips, Plastik und Holz, 98 x 84 x 43 cm, Foto: Maria Gilissen, Gilissen Estate, Brüssel. In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 138. Abb. 105: Marcel Broodthaers: Moules sauce blanche, 1967, Mixed Media, 48,5 x 37 cm. In: Isy Brachot (ed): a.a.O., S. 135. Abb. 106: Marcel Broodthaers: Un Jardin d’Hiver, 1974, Installationsfoto der Gruppenausstellung Carl André, Marcel Broodthaers, Daniel Buren, Victor Burgin, Gilbert & George, On Kawara, Richard Long, Gerhard Richter, Palais des Beaux-Arts, Brüssel 1974 (Maria Gilissen). In: Zwirner, Dorothea: a.a.O., S. 150. Abb. 107: Matthew Barney: Cremaster 5, Her Giant, 1997, Videostill, Courtesy Barbara Gladstone, New York. In: Schneede, Uwe, M.: a.a.O., S. 303. Abb. 108: Pan, Bronzeverzierung eines Möbelstücks, römisch, 1./2. Jahrhundert; gefunden im heutigen Rumänien. In: Dommermuth-Gudrich, Gerold: a.a.O., S. 208. Abb. 109: Maurizio Cattelan: La Nona Ora / Die neunte Stunde, 1999, Installation, Mixed Media, lebensgroß, ,Apocalypse’ Beauty and Horror in Contemporary Art, Royal Academy London. In: Focus Nr. 21, 19.5. 2003, S. 70. Abb. 110: Maurizio Cattelan: Love lasts forever, 1997, Skeletons, 210 x 120 x 60 cm, Installation view, Skulptur, Projekte in Münster, Wesfälisches Landesmuseum Münster. In: Riemschneider, Burkhard; Grosenick, Uta (ed): a.a.O., S. 95. Abb. 111: Anselm Kiefer: Parsifal, 1973, Öl auf Raufasertapete und Nesseltuch, 300 x 533 cm, Kunsthaus Zürich. In: Joachimides, Christos M. et al. (Hg): a.a.O., Abb. 292, o.S. Abb 112: Jonathan Meese: Staatssatanismus oder Die Ordensburg ‚Mishimoend’ (Toecutter’s Mütze), 2002/3, Installation, Detail. In: art Das Kunstmagazin Nr. 3/2004, S. 20/1. Abb. 113: Armando: Kopf 10-7-90, 1990, Öl auf Leinwand, 198 x 250 cm, Besitz des Künstlers. In: Neuer Berliner Kunstverein, Neues Museum Weserburg Bremen: a.a.O., S. 94. Abb. 114: Richard Long: Mountain Circle, 1991, Ø 4 m, Kalkstein (Normandie). In: Neues Museum Weserburg Bremen: a.a.O., S. 22. Abb. 115: Shirin Neshat: Tooba, 2002, Videostill. In: art Das Kunstmagazin 6/2002, S. 38. 229 Abb. 116: Thomas Lahoda: Messe, 2000, Installation, Detail. In: National Gallery in Prague: a.a.O., S. 48. Abb. 117: Jan Vermeer: Diana und ihre Gefährtinnen, um 1655 – 56, Öl auf Leinwand, 97,8 x 104,6 cm, Den Haag, Koninklijk Kabinet von Schilderijen Mauritshuis. In: National Gallery of Art, Washington; Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis; Wheelock, Arthur, K. Jr. (Hg): a.a.O., S. 97. Abb. 118: Jan Vermeer: Die Malkunst, um 1666 – 67, Öl auf Leinwand, 120 x 100 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum. In: National Gallery of Art, Washington; Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis; Wheelock, Arthur, K. Jr. (Hg): a.a.O., S. 68. Abb. 119: Raffael: Die Schule von Athen, 1910/11, Fresko, Breite 7,72 m. Stanza di Raffaello, Vatikan, Rom. In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 18. Abb. 120: Jacques Louis David: Der Schwur der Horatier, 1784/5, Öl auf Leinwand, 330 x 425 cm, Louvre, Paris. In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 52. Abb. 121: Jan Steen: Der Streit beim Spiel, 1664/5, Öl auf Leinwand, 90 x 119 cm, Staatliche Museen Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie. In: Gemäldegalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin; Sutton, Peter C. (Hg): a.a.O., 309. Abb. 122: Claude Monet: Frau mit Sonnenschirm, 1886, Öl auf Leinwand, 131 x 88 cm, Musée d’Orsay, Paris. In: Krauße, Anna-Carola: a.a.O., S. 75. Abb. 123: Wassily Kandinsky: Komposition VIII, 1923, Öl auf Leinwand, 140 x 201 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York. In: Johannsen, Rolf H.: a.a.O., S. 234. Abb. 124: Jackson Pollock: Number 1A, 1948, 1948, Öl auf Leinwand, 172,7 x 264,2 cm, The Museum of Modern Art, New York. In: Lucie-Smith, Edward: a.a.O., S. 9. Abb. 125: Barnett Newman: Vir Heroicus Sublimis, 1950, Öl auf Leinwand, 242 x 541 cm, Privatsammlung New York. In: Thomas, Karin: a.a.O., Farbtafel 44. Abb. 126: Lovis Corinth: Die Kindheit des Zeus, 1905/06, Öl auf Leinwand, 120 x 150 cm, Die Kunsthalle Bremen. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg): a.a.O., S. 84. Abb. 127: Adolf von Hildebrand (Entwurf): Otto von Bismarck, 1910, Standbild, Bremen, Domshof, gegossen von Gladenbeck, Berlin. Eigenfoto 2003. Abb. 128: Cowboy, Marlboro, Litfasssäulen-Plakatierung in Bremen, Eigenfoto, 2001. Abb. 129: Wolf Vostell: Coca-Cola, 1961, Décollage, 210 x 310 cm, Museum Ludwig, Köln. In: Bäumler, Susanne; Münchner Stadtmuseum (Hg): a.a.O., S. 268. Abb. 130: elbeo, Anzeige, Bildschönes für die Beine, 1993. In: Graphis Press Corp.: a.a.O., S. 54. Abb. 131: Andy Warhol: Self-Portrait, 1986, Synthetic polymer paint and silkscreen ink on canvas, 40 x 40 inches, Collection of Emily Fisher Landau, New York. In: California Center for the Arts Museum (ed): a.a.O., S. 7. 230 Abb. 132: Barneys New York, doppelseitige Anzeige des Modekaufhauses Barneys (re. Hälfte), 1993. In: Graphis Press Corp.: a.a.O., S. 45. Abb. 133: Nino-Flex, Anzeige, 1955, freigestellte SW-Fotografie, Zeichnung und Satz zum Teil ineinander kopiert, einfarbig (braun) gedruckt, 33 x 17,5 cm, aus Constanze Nr. 12/1955. In: Bäumler, Susanne: a.a.O., S. 261. Abb 134: Legendary Harley-Davidson, Anzeige, Cool Spirit, Eau de Toilette, Der Duft der Freiheit, 2001. In: Playboy 9/2001, S. 19. Abb. 135: Salvador Dali: Der Geisterkarren / La Charette fantôme, 1933, Öl auf Holz, 19 x 24,1 cm, Privatsammlung. In: Spies, Werner (Hg): a.a.O., S. 215. Abb. 136: Daniel Spoerri: Ça crève les yeux que c’est Rrose Sèlavy, 1965, Mixed Media, 60 x 45 x 32 cm, im Glaskasten hängend, Neues Museum Weserburg Bremen. In: Eigenfoto mit Erlaubnis des Museums, 2004. Abb. 137: Rirkrit Tiravanija: Ohne Titel (Metallbrille), 1995, Brille Ray Ban mit Gravur; auf den Gläsern: LONG RIVER A SINGLE LINE; ORANGE SAFFRON AT TWILIGHT; 4,5 x 13,5 cm, Ed. 80/XXV, nummeriert mit Zertifikat und Siegel des Künstlers. In: Noever, Peter (Hg für MAK, Wien, in Zusammenarbeit mit Parkett, Nr. 44/1995): a.a.O., S. 180. Abb. 138: Peter Paul Rubens: Götterrat, 1602, Öl auf Leinwand, 204,5 x 379 cm, Kunstsammlungen der Prager Burg, Inv.-Nr. HS 111. In: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig (Hg): a.a.O., S. 305. 231 Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder Seite Tabl. 1: Mythen im Vergleich: R. Prince und O. Toscani (Tabl. vom Verf.) 5 Tabl. 2: Individuelle und gesellschaftliche (Kommunikations-/Vermittlungs-) Bezüge um Kunst/Werbung und Mythos/Aufklärung (Tabl. vom Verf.) 7 Tabl. 3: Sekundäres semiologisches System nach Roland Barthes In: Barthes, Roland: a.a.O., S. 92/3. 18 Tabl. 4: Das Phänomen ,Mythos’: Orientierungskriterien/Definitionsersatz (Tabl. vom Verf.) 19 Tabl. 5: Stufen gesellschaftlicher Evolution nach Roland Burkart In: Burkart, Roland: a.a.O., S. 180. 46 Tabl. 6: Bedürfnisskala nach Abraham Maslow Nach: Maslow, Abraham: Motivation and Personality, Harper & Row, New York, 1954. Vgl.: Karmasin, Helene: a.a.O., S. 61. 48 Tabl. 7: Bestandteile eines ,markierten’ und beworbenen Produktes/Markenartikel (Tabl. vom Verf.) 58 Tabl. 8: Werbeanalyse im semiologischen System nach R. Barthes, Beispiele (Tabl. vom Verf.) 65 Tabl. 9: Der Weg zum Markenmythos (Tabl. vom Verf.) 67 Tabl. 10: Analyse Print-Anzeige HypoVereinsbank (Tabl. vom Verf.) 75 Tabl. 11: Kunstbetrieb heute – Strukturen des ökonomisch dominierten Kulturmodells (Tabl. vom Verf.) 85 Tabl. 12: Modell zur Mythenerfassung in der Kunst (Tabl. vom Verf.) 185 232 Literaturverzeichnis Ades, Dawn; Cox, Neil; Hopkins, David: Marcel Duchamp, Thames and Hudson, London 1999. Ammann, Jean-Christophe: Annäherung, Die Notwendigkeit von Kunst, Lindinger + Schmid, Regensburg 1996. art Das Kunstmagazin, Nr. 3, 6, 11/2002, Nr. 1/2003, Nr. 1, 2, 3, 4, 9/2004. 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