„Ernie“-Fall

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„Ernie“-Fall
Materialien
zu den Ausstellungstafeln
Kunst und Strafrecht
Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie
Kunst und Kunstfreiheit
Art. 5 GG (Auszug)
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
Abb.: dpa, http://einestages.spiegel.de/external/ShowAuthorAlbumBackground/a834/l14/l0/F.html#featuredEntry / Abb.: D. Bachmann, http://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Naegeli
„Ernie“ (Ernst Wilhelm Wittig) am 16. April 2005 im Dortmunder Westfalenstadion
Harald Naegeli: Undine (1978). Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9
„Ernie“-Fall
Stand: Januar 2015
Letzte Modifizierung: 17.7.2016
Ernst Wilhelm Wittig (* 1947), genannt „Ernie“, ist ein deutscher Flitzer aus Bielefeld, zumeist in Ostwestfalen „aktiv“. Während seiner Auftritte ist eine Baseballkappe – sein Markenzeichen – meistens neben Schuhen und Socken die einzige Textilie an seinem
Körper.
Überregionale Aufmerksamkeit erregte er erstmals am 16. Februar 1997 beim Fußball-Bundesligaspiel zwischen Arminia Bielefeld
und Borussia Mönchengladbach im Bielefelder Alm-Stadion, als sein Flitzerauftritt in der zweiten Halbzeit vor 22.0000 Zuschauern
zu einer Unterbrechung der Partie führte. Er war in der viel gesehenen Fußballsendung „ran“ auf Sat1 am frühen Samstagabend in
der Spielzusammenfassung ungekürzt mit seinem gesamten 15 Sekunden langen Auftritt in seiner vollen Pracht zu sehen. Die 0:2Heimniederlage „seiner“ Arminen konnte er aber nicht verhindern.
Abb.: http://www.youtube.com/watch?v=xBo9eeGcPo8 (Screenshots)
Die größte Zuschauerkulisse hatte „Ernie“ am 16. April 2005, als er im Dortmunder Westfalenstadion beim Fußball-Bundesligaspiel
zwischen Borussia Dortmund und Arminia Bielefeld in der 78. Minute vor 76.500 Zuschauern nackt über das Spielfeld lief 1. („Fünf
Minuten später war das 1:1 da für Bielefeld. Da weiß man wenigstens, wofür man das tut.“ 2)
Abb.: http://www.11freunde.de/artikel/nach-dem-mann-am-torpfosten-legendaere-stoerenfriede
Abb.: dpa, http://einestages.spiegel.de/external/ShowAuthorAlbumBackground/a834/l14/l0/F.html#featuredEntry
Abb.: dpa, http://bilder.nw-news.de/bielefeld/ernie_der_flitzer/38552.html
Aber auch Kleinturniere wie beispielsweise der „ARAT-Cup“, ein Hallenfußball-Altherrenturnier in Bielefeld, sind von „Ernie“ schon
heimgesucht worden.
Abb.: Maik Nahrstedt, http://www.frank-plagge.de/VfL_TT/TT%20in%20Bielefeld.htm
ARAT-Cup am 9. Januar 2006 in der Seidensticker-Halle, Bielefeld
1
Borussia Dortmund wurde vom Sportgericht des Deutschen Fußballbundes im Einzelrichterverfahren nach Anklageerhebung durch den
DFB-Kontrollausschuss wegen nicht ausreichenden Ordnungsdienstes mit einer Geldstrafe in Höhe von 3.000 Euro belegt.
2
merkur-online.de vom 5.6.2006 (http://www.merkur-online.de/sport/weiss-man-wofuer-tut-240791.html).
2
Das „streaking“ bei Sportveranstaltungen, wie das (Nackt-)Flitzen im Englischen genannt wird, gilt als „Erfindung“ des damals 25jährigen Australiers Michael O‘Brian, der am 20. April 1974 beim Rugby-Länderspiel England gegen Frankreich im Stadion von Twickenham, London, vor 48.000 Zuschauern aufgrund einer Wette über das Spielfeld lief.
Abb.: http://www.mortaljourney.com/2010/11/1970-trends/streaking
O’Brien kam mit einer Strafe von 10 Pfund Sterling glimpflich davon.
Das Foto seiner „Festnahme“ durch mehrere Bobbies, geknipst von Ian Bradshaw, einem amerikanischen Berufsfotografen, hat es
zu Berühmtheit gebracht. „The Twickenham Streaker“ gewann 1974 den 1. Preis bei den „World Press Photo Awards“ in der Kategorie „Happy News & Humor“.
Abb.: http://people.sabanciuniv.edu/muratgermen/history-of-photography/the_photo_book/Ian%20Bradshaw-Streaker-1975.jpg / Motiv: Ian Bradshaw, The Twickenham Streaker
Noch heute, nach so vielen Jahren mit ungezählten Nachahmern O’Brians, kann man mit diesem Motiv verzierte Beutel, Tassen
sowie T-Shirts bei einem britischen Internethändler bestellen – für 7,99 bis 12,99 Pfund Sterling –
Abb.: http://www.art247.com/Bag/12505 / http://www.art247.com/Mug/12505 / http://www.art247.com/Tshirt/12505_2
nur einen Klick entfernt von den gleichen Artikeln mit einem Foto von „Will and Kate“.
3
Abb.: http://www.art247.com/Bag/17730 / http://www.art247.com/Mug/17730 / http://www.art247.com/Tshirt/17730
Der Helm des Police Constable Bruce Perry, den dieser damals schnell an strategisch wichtiger Stelle platziert hatte, wird heute in
Twickenham im Museum präsentiert. Ein Streak als Kult.
Man könnte übrigens meinen, hierin eine spezielle Technik der Twickenhamer Polizei zu erkennen: Am 2. Januar 1982 wurde an
demselben Ort und wiederum bei einem Rugby-Länderspiel Englands – diesmal gegen Australien – die damals 24-jährige Erica Roe
sofort nach ihrem Auftritt auf fast die gleiche Art an den wichtigsten nackten Stellen den Blicken der Zuschauer entzogen. Auch
diesmal ging lieber der Twickenhamer Bobby „oben ohne“. Roes Darbietung, die offenbar aufgrund ihrer ausgeprägten figürlichen
Merkmale („Titters at Twickers“ 3) für die BBC „perhaps the most famous of all streaks“ war 4, soll ihr übrigens statt einer Strafe insgesamt rund 8.000 Pfund Sterling für Fernsehauftritte eingebracht haben.
Abb.: Daily Mirror, http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/after-trenton-oldfield-boat-race-784759
Abb.: PA Photos, http://www.espnscrum.com/england/rugby/image/167326.html
Als der unerreichte Großmeister des Flitzens gilt der Liverpooler Mark Roberts (* 1964), „the worlds number one prolific streaker",
wie er sich auf seiner Website 5 selbst bezeichnet.
Er begann im März 1993 mit gleich zwei Nacktauftritten innerhalb eines Rugbyspiels bei den „Hong Kong Seven“ und einem weiteren Streak zwei Tage später beim „Viceroy Cup“ im Fußball in Hongkong.
Abb.: http://www.thestreaker.org.uk/main.htm
Abb.: http://forodefutbol.mforos.com/26548/839665-mark-roberts-el-streaker-mas-famoso-del-mundo-contraataca/
Hong Kong Seven sowie Viceroy Cup Ende März 1993 im Hong Kong Stadium
Spätestens als Roberts im nächsten Jahr seinen Auftritt bei den „Hong Kong Seven“ wiederholte („Back again for a repeat performance and a repeat buzz!“ 6)
3
Sunday Mirror vom 3.1.1982 (http://www.80sactual.com/2008/09/1982-erica-roe-twickenham-streaker.html).
BBC Sport Online vom 6.8.2000 (http://news.bbc.co.uk/sport2/hi/868401.stm).
5
Roberts‘ Website The Streaker (http://www.thestreaker.org.uk/) enthält zahlreiche Fotos, Berichte u.ä. von seinen Aktionen.
6
The Streaker (http://www.thestreaker.org.uk/streaks/streaks.htm).
4
4
Abb.: PaddyBriggs, http://en.wikipedia.org/wiki/Mark_Roberts_%28streaker%29
Hong Kong Seven im März 1994 im Hong Kong Stadium
und sodann seinen ersten nackten Auftritt in England beim Liverpooler Fußball-Derby vor 40.000 Zuschauern absolvierte (wo er unter Anwendung der bewährten „Twickenhamer Schutzhelmtechnik“ abgeführt wurde), war er weithin bekannt.
Abb.: jim's pic's/Jim Malone, http://www.flickr.com/photos/25985568@N04/3151487029/
Ligaspiel FC Everton gegen FC Liverpool am 21. November 1994 im Goodison Park, Liverpool
Bis 2013 brachte Roberts es auf über 500 Streaks – vor allem bei Sportveranstaltungen, aber auch etwa bei Miss-World-Wahlen,
Filmfestivals und Parteitagen, im Theater und im Museum.
Auf die Frage, warum er dies tue, antwortete Roberts 7: „Es ist ein Rausch. Bekäme ich nicht die Reaktion der Menge, jedesmal
wenn ich auf ein Fußballfeld laufe oder aus dem Publikum herausspringe ..., wenn du den Kitzel nicht bekommst, dann ist es sinnlos, weil der Sinn des Flitzens Humor ist – Menschen zum Lachen zu bringen.” Und 8: „Es hat nichts mit Sex zu tun. Aber wenn du
Zehntausende Menschen lachen hörst, nur weil du nackt rumläufst, dann macht das süchtig“ – genauso wie die Vorstellung, so wird
man angesichts der Foto- und Presseartikelsammlung auf Roberts Website vermuten dürfen, von ungezählten Fernsehzuschauern
und Zeitungslesern beachtet zu werden ...
Insofern hatte Roberts 2004 Pech mit seinem Auftritt bei „dem“ Sportereignis der USA, dem „Super Bowl“, der vor über 70.000 Zuschauern im Stadion und vor 130 Millionen Fernsehzuschauern in 87 Ländern am 1. Februar in Houston, Texas, stattfand. Gleich
nach der Halbzeitpause lief er (fast) nackt über das Feld, es dauerte etwas, bis er, gejagt von Spielern beider Football-Teams, von
Polizei und Sicherheitskräften gestellt werden konnte.
7
Naked Men News (http://www.nakedmennews.com/mark_roberts.htm): „It's a buzz. If I didn't get the crowd reaction every time I go on a
pitch or jump out of an audience, if you don't get the buzz, there's no point, because the point of a streak is humour – to make people
laugh.”
8
express.de vom 29.11.2013 (http://www.express.de/panorama/nach-519-auftritten-mark-roberts--der-beruehmteste-nackt-renner-hatausgeflitzt,2192,21718110.html).
5
Abb.: http://news.bbc.co.uk/sport2/hi/photo_galleries/3648975.stm
Abb.: Reuters, http://www.24tanzania.com/after-519-streaks-im-hanging-up-my-birthday-suit-at-last-worlds-most-prolific-stripper-calls-it-a-day-after-his-sons-friends-laughed/
Doch die ganz große Aufmerksamkeit bekamen andere: Minuten vorher, während der Halbzeitshow, hatte es ein Ereignis gegeben,
das nicht nur die Zuschauer im Stadion, sondern das gesamte prüde Amerika weit mehr berührte und als „Nipplegate-Affäre“ in die
Geschiche einging: Die Pop-Superstars Janet Jackson und Justin Timberlake traten mit einem Medley von Jacksons Songs „All for
You" und „Rhythm Nation” sowie Timberlakes Stück „Rock Your Body" auf. Ausgerechnet bei der letzten Textzeile „I´m gonna have
you naked by the end of this song" riss Justin in einer ruckartigen Tanzbewegung angeblich versehentlich so an Jacksons Bluse,
dass ihre rechte Brust dabei entblößt wurde. Für eine knappe Sekunde war ein Blick auf die gepiercte Brustwarze von Jackson im
Fernsehen zu erheischen, bevor die Kamera eilends in die Totale schwenkte. Die Folge waren unzähligen Beschwerden amerikanischer TV-Zuschauer, Gerichte wurden bemüht. Seitdem werden der Super Bowl, aber auch andere Livesendungen wie „Oscar“Preisverleihungen um ein paar Sekunden zeitversetzt ausgestrahlt, um gegebenenfalls eingreifen zu können.
Abb.: picture alliance / dpa, http://akemiimako.blogspot.de/2013_01_01_archive.html
Roberts, dessen Streak infolge der aufgeregten und ausführlichen Medienberichterstattung über den „Nipplegate“ fast übergangen
wurde, zeigte bei seinem Auftritt ein aufgemaltes Tattoo auf dem Rücken mit Werbung für ein Internet-Spielcasino, das ihn mehrere
Jahre lang sponserte. Wieviel Roberts hierbei verdiente, kann man nur spekulieren. Er ist zeitlebens arbeitslos gewesen, hatte erhebliche Reisekosten zu bestreiten, auch Geldstrafen (bei diesem Super Bowl waren es 1.000 US-Dollar). Zur Orientierung: Ein
Fernsehwerbespot von 30 Sekunden Länge kostete beim 1994er Super Bowl 2,2 Mio. US-Dollar.
Doch gerade bei verschiedenen Auftritten als Werbeträger für das Pokerportal gab er sich wenig sportlich wirkend einer Lächerlichkeit preis, die mit dem – durchaus auch sehr fragwürdigen – „Humor“, dessen er sich in seinen Bemalungen in früheren Auftritten
bediente,
Abb.: http://www.thestreaker.org.uk/main.htm
Abb.: http://www.adelaidenow.com.au/news/photos-e6frea6u-1111120100369?page=59
British Open Golf Tournament 1995 in St. Andrews, Schottland
Wimbledon Tennis Championships 2000 in London
wenig gemein hatte.
6
Abb.: http://www.thestreaker.org.uk/main.htm
Abb.: http://www.daysoftheyear.com/blog/short-and-curlies/
Schwimmweltmeisterschaften 2003 in Barcelona
Olympische Winterspiele 2006 in Turin 9
Im Februar 2013 erklärte Roberts seinen Rücktritt. Nach zwei Zehen-, vier Rippenbrüchen, 30 Nächten in Polizeizellen und einigen
Tausend Euro an Strafen sei nun Schluss 10: „I've done the Winter and Summer Olympics; the Super Bowl; the Champions League;
the Uefa Cup; the FA Cup Final; the Commonwealth Games; the Wimbledon final. I don't think there's any final I haven't streaked
at."
Es wurde für ihn auch immer schwerer. Er ist bekannt und gefürchtet. In allen Stadien hat das Sicherheitspersonal die Augen auf. Es
kann nicht nur schwierig sein, hineinzukommen, sondern sogar hinzureisen. Vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland
war sogar sein Reisepass eingezogen worden. Und Sportverbände wie die UEFA versuchen, die TV-Ausstrahlungen solcher Aktionen zu unterbinden, indem die übertragenden Kameras auf die Totale oder das Publikum gerichtet werden.
Und da mag noch etwas eine Rolle spielen: Roberts wird nicht jünger. Er ist ganz offensichtlich nicht mehr der flink und behände
über die Spielfelder sprintende „Usain Bolt of the naked dash“ 11. Und ein gemächliches Streaking in der Gemäldegalerie ist irgendwie auch nicht so das Wahre ...
Abb.: Benedikt Dichgans, http://vimeo.com/33105427
Turner Prize Exhibition 2011 in Gateshead, Baltic Art Centre
Zurück zu „Ernie“:
Er ist nicht nur ein Streaker, ein Mann des Flitzens auf Großveranstaltungen. Einem Anhänger der Freikörperkultur ähnlich, bewegt
sich „Ernie“ auch nackt durch den Alltag. Schon seit den 1980er Jahren ist er häufig unbekleidet mit dem Fahrrad unterwegs
Abb.: ullstein bild / The Granger Collection, NYC, http://www.granger.com/results.asp?image=0212947&itemw=4&itemf=0002&itemstep=1&itemx=1
Abb.: IMAGO, http://www.bild.de/sport/fussball/hsv/beim-hsv-training-36960698.bild.html
Februar 1991 in Bielefeld
9
Roberts streakte beim Curling-Wettbewerb, der in Pinerolo stattfand.
The Independent vom 7.2.2013 (http://www.independent.co.uk/news/people/profiles/mark-roberts-a-compulsive-streak-8488551.html).
11
Daily Mail vom 10.2.2013 (http://www.dailymail.co.uk/news/article-2276311/After-519-streaks-Im-hanging-birthday-suit-Worlds-prolific
-stripper-calls-day-sons-friends-laughed-him.html).
10
7
Abb.: Dirk-Ulrich Brüggemann, http://bilder.nw-news.de/bielefeld/ernie_der_flitzer/38552.html
September 2005 in Bielefeld
Abb.: Neue Westfälische 2015, http://www.nw.de/lokal/kreis_minden_luebbecke/bad_oeynhausen/bad_oeynhausen/20311269_Andere-ziehen-sich-warm-an.html
Januar 2015 in Bad Oeynhausen
oder begibt sich nackt in Supermärkte, Kneipen oder Restaurants.
Abb.: Martin Langer, http://www.fotofinder.com/preview/984B346CA878AA7E/?usrtrck=searchresult_link_icon_preview&searchresultid=46dca31863905f589f2bd5ed1f270814&start=0&text=Ernst%20Wilhelm%20Wittig
Juli 2003 in Bielefeld
Oftmals sucht er aber auch – untypisch für die Nudistenszene – die Aufmerksamkeit von Passanten, die er durch Bodybuilder-Posen
und Sporteinlagen auf sich aufmerksam machen will. „Ich bekomme einen Kick, wenn ich mich so in der Öffentlichkeit zeige." 12
12
RP online vom 3.11.2006 (http://www.rp-online.de/herzrasen/nackt-verknackt-aid-1.2313869).
8
Abb.: Martin Langer, http://www.fotofinder.com/preview/A51631FDF7FB157A/?usrtrck=searchresult_link_icon_preview&searchresultid=6fb330ce2c4df260b72fc518b9d4a9f1&start=1&text=Ernst%20Wilhelm%20Wittig
Juli 2003 in Herford
Wenngleich das auch – anders als bei typischen Exhibitionisten (Polizeijargon: „Gliedvorzeiger“) – ohne (erkennbare) sexuelle Komponente geschieht, wird es besonders problematisch, wenn er sich für seine „Show“ gelegentlich auch auf Schulhöfen auszieht.
Abb.: http://www.youtube.com/watch?v=6dbZlpejQV0 (Screenshot)
Abb.: pr., http://www.sn-online.de/Schaumburg/Bueckeburg/Bueckeburg-Stadt/Kunst-Kopflosigkeit-oder-Belaestigung
Rudolf-Rempel-Berufskolleg August 2006 in Bielefeld-Brackwede
Gymnasium Adolfinum Mai 2013 in Bückeburg
„Ernie“ sieht sich als „Interaktionskünstler". Er bezeichnet sich als „Deutschlands schönster Flitzer“ und hat seinen Körper zum
Kunstwerk erklärt. Psychologen sehen ihn als einen persönlichkeitsgestörten Mann, Juristen als Straftäter und Störer.
Über 20 Mal sind gegen „Ernie“ schon Geldstrafen und Geldbußen als Folge seiner „Interaktionen“ verhängt worden. Im Mai 2006
verurteilte ihn das Amtsgericht Dortmund wegen des Vorfalls vom April 2005 im Dortmunder Westfalenstadion wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung. In der Berufungsinstanz wurde das Verfahren allerdings eingestellt.
Ab Februar 2007 verbüßte „Ernie“ eine fünfmonatige Freiheitsstrafe für einen Nacktauftritt vor einem Gymnasium im Januar 2005 in
Bielefeld-Brackwede. Das Amtsgericht Bielefeld hatte ihn im April 2006 zunächst deshalb zu acht Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Zur Hauptverhandlung war
„Ernie“ wenigstens mit Sporthemd erschienen.
Abb.: Thomas F. Starke, http://bilder.nw-news.de/bielefeld/ernie_der_flitzer/38544.html
Mit seinem Verteidiger, dem Bielefelder Rechtsanwalt Hans Joachim Faber, vor dem Amtsgericht Bielefeld
2009 wurde er vom Landgericht Duisburg zu elf Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, da er in einem vorherigen Verfahren (er hatte sich bei einem Damenfußballspiel des Herforder SV in Rheinhausen nackt am Spielfeldrand gezeigt – hierfür hatte es
„5 Monate“ gegeben) vor dem Gericht gar wiederholt die Hose heruntergelassen hatte. Das Amtsgericht Duisburg als Vorinstanz
hatte zunächst sogar eine fünfzehnmonatige Freiheitsstrafe ohne Strafaussetzung zur Bewährung verhängt. (Staatsanwältin: „Es
9
war ja kein Fußballspiel, sondern es ist in einem deutschen Gerichtssaal passiert. Und das auch noch zweimal. So etwas tut man
einfach nicht." 13)
„Ernie“ soll, als er bei dieser letzten Verurteilung dem Strafvollzug gerade noch einmal entgangen war, versichert haben, er werde
solche Straftaten nie wieder begehen 14: „Ich will doch nicht mit 80 noch im Knast sitzen.” Dort seien wenig nette Zeitgenossen.
Nun ja, zumindest am 24. Juli 2014 tauchte „Ernie“ mal wieder – Kameramänner stand bereit – bei den Profis des Hamburger Sportvereins beim Training auf – aber alles blieb harmonisch, ohne Ordner und Polizei.
Abb.: Damm Pictures, http://www.bild.de/sport/fussball/hsv/beim-hsv-training-36960698.bild.html
Abb.: http://www.hamburg1.de/sport/KultFlitzer_in_Aktion-21563.html (Screenshot)
Nun kann darin, sich unbekleidet in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, ohne das Hinzutreten besonderer Umstände keine Straftat gesehen werden:
§ 183 StGB, die Belästigung durch exhibitionistische Handlungen, setzt – neben einer (hinreichend schwerwiegenden) Belästigung,
die jedenfalls beim Stadionflitzen zu verneinen sein dürfte – nach herrschender Ansicht die Motivation des Täters voraus, sich sexuell zu erregen 15.
§ 183a StGB, die Erregung öffentlichen Ärgernisses, erfordert eine sexuelle Handlung im Sinne von § 184g StGB, die im bloßen
nackten Auftreten als „Flitzer“ nicht gesehen werden kann 16.
Soweit Ernie offenbar infolge seines Auftritts auf einem Bielefelder Schulhof wegen Kindesmissbrauchs nach § 176 Abs. 4 Nr. 1
StGB verfolgt worden ist 17, ist ebenso eine sexuelle Handlung erforderlich, die „vor einem Kind“ vorgenommen wird.
Im Falle des Stadionflitzens bleibt der Tatbestand des Hausfriedensbruchs, § 123 Abs. 1 Alt. 1 StGB, entweder durch Verstoß gegen
ein schon ausgesprochenes Stadionverbot, oder aber – umstritten – verwirklicht durch Betreten des Spielfeldes: Voraussetzung dafür ist die Konstruktion einer Staffelung des Hausrechts; die generelle Zutrittserlaubnis für das Stadion umfasst danach nicht das
Spielfeld, das durch das als „lebender Zaun“ um den Spielfeldrand postierte Aufsichtspersonal zum befriedeten Besitztum wird 18.
Allerdings ist aus dem Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts § 118 OWiG bei Nacktauftritten einschlägig. Nach dieser Vorschrift
handelt ordnungswidrig, wer „eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen" 19.
Alle diese Verurteilungen wären allerdings zu hinterfragen, wenn „Ernie“, der sich schon oft und gern in Positur gestellt hat, mit seinem Körper tatsächlich, wie er meint, ein Kunstwerk präsentieren würde.
Abb.: Akkisutra Projekt, http://www.fotocommunity.de/pc/pc/display/18308953
Das klingt nur auf den ersten Blick völlig abwegig; die Kunstgeschichte kennt einige Beispiele, Körper als Kunstwerke zu sehen.
13
Der Westen vom 18.6.2008 (http://www.derwesten.de/nrz/staedte/duisburg/flitzer-muss-fuer-15-monate-hinter-gitter-id1155617.html).
Der Westen vom 1.7.2009 (http://archive.is/pj86).
15
BGH, NStZ-RR 2007, 374; zum gleichen Ergebnis kommt Hörnle in Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl. 2012, § 183 Rn. 6, die
darauf abstellt, ob der Täter „gezielt Aufmerksamkeit auf sein Glied als Sexualorgan lenkt“.
16
Hörnle in Münchener Kommentar, StGB, § 183a Rn. 4; (nur) in der Begründung abweichend Kett-Straub, JR 2006, 189: mangelnde Erheblichkeit.
17
merkur-online vom 5.6.2006 (http://www.merkur-online.de/sport/weiss-man-wofuer-tut-240791.html).
18
Kett-Straub, JR 2006, 190 f.
19
Siehe OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2000, 309.
14
10
Allerdings sollte man hier nicht an Michelangelo denken, dessen nackter „David“ (die vermutlich bekannteste Skulptur der Kunstgeschichte) als meisterhafte Darstellung eines nackten männlichen Körpers gilt, sondern an reale Menschen als Kunstwerk.
Abb.: SWR/Disse, http://www.3sat.de/page/?source=/ard/sendung/155255/index.html
Michelangelo (* 1475: † 1564): David (1501/04). Florenz, Galleria dell'Accademia
Insofern gilt Entsprechendes auch für das auf einem Foto basierende Werk des französischen Künstlerduos „Pierre & Gilles“, das
nackte Männer auf einem Fußballfeld zeigt: Nicht sie sind das Kunstwerk, sondern nur das Motiv eines solchen.
Abb.: Galerie Jérôme de Noirmont, http://artblart.com/tag/pierre-gilles-vive-la-france/
Pierre & Gilles: Vive la France (2006). Privatbesitz
Denken könnte man eher an den Italiener Piero Manzoni (* 1933; † 1963), einen Wegbereiter der Aktionskunst, der Aktmodelle signierte, mit einem Zertifikat versah und zum Kunstwerk, zu einer lebenden Skulptur erklärte.
Abb.: Piero Manzoni Archiv, Milan, http://www.pieromanzoni.org/biografia.htm
Piero Manzoni: Sculture viventi (1961)
Auch haben um 1970 im Rahmen der Body Art diverse Künstler ihren eigenen Körper zum Kunstwerk gemacht, beispielsweise der
US-Amerikaner Dennis Oppenheim (* 1938; † 2011), der sich an den Strand legte und sich so lange von der Sonne verbrennen ließ,
bis das Buch, das er auf seinen Bauch gelegt hatte, eine deutlich sichtbare helle Fläche hinterließ, oder sein Landsmann Vito Acconci (* 1940), der sich selbst biss und die Bissspuren mit Tinte einfärbte, um sie noch deutlicher sichtbar zu machen.
11
Abb.: http://descomplicarte.com.br/2013/09/o-tempo-na-arte/
Abb.: http://rebloggy.com/post/art-performance-bite-print-vito-acconci-trademarks/6596325523
Dennis Oppenheim: Reading Position for Second Degree Burn (1970)
Vito Acconci: Trademarks (1970)
In jüngerer Zeit haben in Deutschland „Eva & Adele“, die 1988 in der Kunstwelt auftauchten, die Gerichte mit der Frage, ob sie lebende Kunstwerke seien, beschäftigt.
Beide leben miteinander in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft zwischen zwei Frauen, obwohl Eva als Mann geboren ist. Sie
verheimlichen ihren Namen und ihr Alter. Beide sind stets kahl rasiert, gleich geschminkt, aufwendig gekleidet in identische, zumeist
pinkfarbene Damenkostüme. Ob bei Vernissagen irgendwo in Europa, beim Einkaufsbummel oder beim gemeinsamen Spaziergang:
Stets treten sie, immer lächelnd, in der beschriebenen Form auf. Nie sieht man sie einzeln, niemals „normal“ gekleidet. „Wir sind Eva
& Adele, und wir sind immer zusammen. Wenn wir schlafen, wenn wir uns anziehen oder malen. Oder wenn wir hier um die Ecke ...
Besorgungen machen. Das ist unsere Rolle“, erklären sie. Und: „Wo immer wir sind, ist Museum."
Abb.: fotografie 2008-7 jan sobottka, http://catonbed.de/jan2/pictures/galerie/kw/serra/600catonbed_de1b.html
Abb.: Maria Anna Potocka, http://blog.innerhome.pl/teoria-queer-w-wykonaniu-duetu-evaadele/
Abb.: PacificCoastNews.com, http://www.zimbio.com/pictures/BGx7Zbr8Dcu/Eva+Adele+Matching+Pink+Skirts/shOX30oaJPd/Adele+%28performance+artist%29
1998/99 musste die Hamburger Gerichtsbarkeit entscheiden, ob „Eva & Adele“ ein „Werk der bildenden Kunst“ im Sinne von § 2
Abs. 1 Nr. 4 UrhG 20 darstellen würden. (Konkret ging es darum, ob Fotografien von Eva & Adele urheberrechtlich geschützt seien,
so dass für das Fotografieren und Veröffentlichen der Bilder Lizenzgebühren gezahlt werden müssten.)
Zunächst bejahte dies das Amtsgericht Hamburg 21:
Die öffentlichen Auftritte der Performance-Künstler Eva & Adele ... sind als Werke der Bildenden Kunst urheberrechtlich geschützt
nach § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG. Danach gebührt der Schutz solchen Werken, bei denen es sich um eine eigenpersönliche
Schöpfung handelt, die dazu bestimmt und geeignet ist, das ästhetische Empfinden des Betrachters anzusprechen und deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht, daß nach den im Leben herrschenden Anschauungen von Kunst gesprochen werden
kann (BGH GRUR 1952, 516 – Hummelfiguren; vgl. auch Schack, Urheberrecht Rdnr. 195). Ob eine kunstschutzwürdige Leistung
vorliegt, ergibt sich nach dem Gesamteindruck, den das Werk vermittelt. Dem Werk muß eine künstlerische Eigenart im Sinne einer
schöpferischen Originalität zukommen. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben:
Bei ihren sorgfältig geplanten und vom Fotografen der Beklagten festgehaltenen Auftritten in der Öffentlichkeit stellen die Künstler
Eva & Adele eine Art lebendes Bild dar. In ausgewählter Pose, auffallender Bekleidung und mittels aufwendiger Schminke bilden sie
das Zentrum ihrer Inszenierung. Ihre Aktionen haben ästhetische Zielsetzungen und wollen den Betrachter ansprechen. ...
Eva & Adele haben von daher kein Abbild von der alltäglichen Realität geschaffen, sondern sie heben sich durch die Kontinuität, Intention und Intensität ihrer Auftritte aus der Masse des Alltäglichen – mag dies im Einzelfall durchaus auch einmal schillernd und
20
§ 2 UrhG Geschützte Werke
(1) Zu den geschützten Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gehören insbesondere:
1. Sprachwerke, wie Schriftwerke, Reden und Computerprogramme;
2. Werke der Musik;
3. pantomimische Werke einschließlich der Werke der Tanzkunst;
4. Werke der bildenden Künste einschließlich der Werke der Baukunst und der angewandten Kunst und Entwürfe solcher Werke;
5. Lichtbildwerke einschließlich der Werke, die ähnlich wie Lichtbildwerke geschaffen werden;
6. Filmwerke einschließlich der Werke, die ähnlich wie Filmwerke geschaffen werden;
7. Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art, wie Zeichnungen, Pläne, Karten, Skizzen, Tabellen und plastische Darstellungen.
(2) Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.
21
AG Hamburg, ZUM 1998, 1047.
12
schrill erscheinen – hinaus und zeigen deutliche Ausprägungen eines individuellen künstlerischen Geistes. Durch ihr gesamtes äußeres Erscheinungsbild und ihre Posen, hinter welchen eine gewisse Gesamtvorstellung steckt, wirken sie mit künstlerischen Mitteln
auf die Sinne des Betrachters ein und stellen etwas Neues und Eigentümliches dar. Von daher genießt die Art und Weise der Darstellung von Eva & Adele ... urheberrechtlichen Schutz.
Und dann ergänzte das Amtsgericht Hamburg noch:
Lediglich am Rande sei darauf hingewiesen, daß die Art und Weise der Darstellung des Künstlerpaares Eva & Adele gewisse Parallelen zu den Auftritten der zumindest europaweit bekannten und berühmten englischen Künstler Gilbert & George aufweist. Diese,
die ähnlich wie Eva & Adele ihr Leben zur Kunst erklärt haben und deren künstlerischer Rang soweit ersichtlich unbestritten ist, sind
seit 30 Jahren als »living sculptures« Inbegriff der Einheit von Kunst und Leben ...
„Gilbert & George“ – der Italiener Gilbert Prousch (* 1943) und der Engländer George Passmore (* 1942) die sich 1967 während ihres Kunststudiums in London kennen und lieben gelernt hatten – traten von 1969 bis 1977 als „The Singing Sculpture“ (Singular!)
auf. In maßgeschneiderten Anzügen, mit Handschuhen, Stock und Hut, die Gesichter und Hände mit bronzener Metallicfarbe eingefärbt, stellten sie sich mitunter stundenlang auf einen Tisch, sangen die Obdachlosenhymne „Underneath the Arches", ein Lied des
in den 1940er Jahren populären britischen Gesangs- und Comedypaares „Flanagan and Allen“, und drehten sich dazu automatenhaft wie Figuren einer alten Spieluhr im Kreis.
Sie hatten die übliche Subjekt-Objekt-Dichotomie – hier der Autor, da sein Werk – jedenfalls in dieser Phase ihrer bis heute andauernden künstlerischen Laufbahn weit mehr noch als später Eva & Adele aufgehoben.
Abb.: Macrae/Fairfaxphotos, http://kaldorartprojects.org.au/project-archive/gilbert-george-1973
Abb.: http://peteandkaldor.wordpress.com/about/gilbert-george/
Gilbert & George: The Singing Sculpture (1973). Sydney, Art Gallery of New South Wales
Das Landgericht Hamburg als Berufungsinstanz wies die Argumentationen des Amtsgerichts Hamburg zu „Eva & Adele“ jedoch zurück 22:
Die tagtäglichen Auftritte von Eva & Adele stellen nach ihren eigenen Äußerungen ihr normales Leben dar, wie sie es sich gewählt
haben. ... Weder kann der Mensch selbst sein eigenes Werk sein ... noch kann sein gelebtes Leben, sei es auch noch so bewußt
gestaltet, Werkcharakter haben (vgl. ebenso K. Schmidt: Urheberrechtlicher Werkbegriff und Gegenwartskunst, in UFITA 77 (1976),
1 ff., 20 f.; Möhring/Nicolini, Urheberrechtsgesetz, § 1 Anm. 2; Rehbinder, Urheber- und Verlagsrecht, 10. Aufl. Rn. 52).
Daß beide möglicherweise das Prinzip vertreten, Kunst sei gleich Leben und alles im eigenen Leben sei bereits Kunst ..., besagt
nichts Entscheidendes für die hier allein zu entscheidende urheberrechtliche Frage nach dem Werk. Ihre subjektive Einschätzung
macht sie nicht zu einem Werk der Kunst im Sinne des Urheberrechts. ...
Zwar können Kunstwerke grundsätzlich auch am lebenden Menschen geschaffen werden; so kann etwa die von einem Maskenbildner geschaffene Maske schutzfähig sein, genauso ein im Wege des „bodypainting“ bemalter Mensch. Urheber und Werk müssen in
einer Beziehung zueinander stehen, können aber nicht in der Person des Urhebers als Werk zusammenfallen.
Zurück zu „Ernie“:
Schon 1995 hatte ihm die Stadt Herford durch Ordnungsverfügung die Zurschaustellung seines nackten Körpers auf allen öffentlichen Straßen und Wegen sowie in allen öffentlichen Anlagen und Gebäuden untersagt. Dies geschah auf der Rechtsgrundlage der
polizeirechtlichen Generalklausel unter dem Gesichtspunkt, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung abzuwehren 23.
„Ernie“ hatte dagegen eingewandt, es handele sich bei seinen Nacktauftritten um Kunst – grundsätzlich ein rechtlich relevanter Einwand, hat doch das Bundesverwaltungsgericht schon früh ausdrücklich betont 24, „daß die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 Satz
1 GG nicht den Schranken ... der polizeilichen Generalermächtigung ... unterliegt.“
Die Fragestellung verschiebt sich also von „Ernie“ als Kunstwerk hin zu seinen Nacktauftritten als Werk der Darstellenden Kunst,
vergleichbar den Darbietungen eines Opernsängers.
22
LG Hamburg, ZUM 1999, 658; siehe dazu Peter Raue: EVA & ADELE – der Mensch als „Werk" im Sinne des Urheberrechtes, GRUR
2000, 951.
23
§ 14 Abs. 1 OBG NRW: „Die Ordnungsbehörden können die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende
Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren.“
24
BVerwGE 1, 303 (305) – Sünderin.
13
Abb.: picture alliance, http://www.bz-berlin.de/kultur/buehne/auszeichnung-fuer-nackt-solisten-larsen-article1705405.html
Jens Larsen als Seneca in Barrie Koskys Inszenierung „Poppea“ nach Claudio Monteverdi (2013) 25. Berlin, Komische Oper
„Ernies“ Klage gegen die Ordnungsverfügung wurde jedoch letztinstanzlich vom Oberverwaltungsgericht Münster abgewiesen 26.
Das Gericht sah zunächst einmal in „Ernies“ Verhalten einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, unter der, wie das Bundesverfassungsgericht formulierte 27, „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln“ zu verstehen ist, „deren Befolgung nach den jeweils
herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird“:
Ob ein nacktes Auftreten in der Öffentlichkeit gegen die herrschenden Anschauungen über die unerläßlichen Voraussetzungen eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens verstößt, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls, insbesondere der jeweiligen Örtlichkeit, dem situativen Rahmen sowie gegebenenfalls Anlaß und Zweck des Nacktseins ab.
Ein nacktes Auftreten an den vom Kläger gewöhnlich für seine „Darbietungen" aufgesuchten Orten verletzt – trotz in den letzten
Jahrzehnten gewandelter Moralvorstellungen – das natürliche, nicht übertriebene Schamgefühl der Betroffenen. Die „Auftritte" des
Klägers sind dadurch gekennzeichnet, daß er seinem „Publikum" den Anblick seines nackten Körpers aufdrängt, ohne daß dieses
frei entscheiden könnte, ob es mit dem Anblick konfrontiert werden will oder nicht.
Die von „Ernie“ betriebene Freikörperkultur, schloss das Oberverwaltungsgericht Münster an, falle auch nicht in den Schutzbereich
des Grundrechts der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
Das Gericht begründete dies anhand drei verschiedener, vom Bundesverfassungsgericht formulierter Kunstbegriffe:
Zum einen zog das Oberverwaltungsgericht den sogenannten formalen Kunstbegriff heran, den das Bundesverfassungsgericht 1984
in seinem Beschluss zum „Anachronistischen Zug“ 28 angeführt hatte 29: Das Wesentliche eine Kunstwerkes könne darin zu sehen
sein, „daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ – ein Kunstbegriff, „der nur an die Tätigkeit und die Ergebnisse etwa des Malens, Bildhauens, Dichtens anknüpft“.
Das Oberverwaltungsgericht Münster sah durch „Ernies“ Auftritte keine Kunstform umgesetzt:
Das bloße Präsentieren des nackten Körpers ist weder eine „klassische" Form des Straßentheaters noch eine avantgardistische
Form künstlerischer Installation oder Aktion.
Nicht geäußert hat sich das Oberverwaltungsgericht Münster allerdings zu dem Aspekt der Unterhaltungskunst.
Als Unterhaltungskunst wird im Allgemeinen jede Kunstform genannt, die dazu dient, über eine Darstellung oder die Darbietung einer artistischen, akrobatischen oder schauspielerischen Leistung das Publikum zu unterhalten. Anders formuliert: Unterhaltungskunst gehört zum trivialen Unterbau der „klassischen“ Darstellenden Kunst (Theater, Tanz).
Dazu ist zu einigen Normen, die sich in anderen Rechtsgebieten mit künstlerischen Betätigungen beschäftigen, zu Auftritten nicht
(vollständig) Bekleideter sehr Weitgehendes judiziert worden:
So hat das Bundessozialgericht zu § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler
und Publizisten (KSVG) erklärt, dass das Vorführen von Damenunterwäsche durch „Models“ in Diskotheken als „Darbietung künstlerischer Leistungen“ verstanden werden kann 30. Und im Rahmen der – zum 1. Januar 2005 außer Kraft getretenen –
Arbeitsaufenthalteverordnung (AAV) hatten Verwaltungsgerichte auch Striptease-Tänzerinnen jedenfalls nicht von vornherein abgesprochen, sie als „Künstler“ im Sinne des damaligen § 5 Nr. 9 AAV zu verstehen 31.
Nun sind solche Entscheidungen allerdings mit Blick auf Art. 5 Abs. 3 GG ohnehin nur sehr bedingt heranzuziehen: Die fachgerichtliche Rechtsprechung hat auf Rechtsgebieten, die „Kunst” als Tatbestandsmerkmal kennen, aus dem Bedürfnis heraus, die Auslegung an den jeweiligen Zwecken der einfachrechtlichen Regelungen zu orientieren, teilweise (z.B. im Sozialversicherungsrecht) sehr
weitgehende, aber auch (wie etwa im Steuerrecht) sehr restriktive spezielle Kunstbegriffe entwickelt.
25
„Seneca geht nackt in den Tod. Das macht Sinn“, hat Larsen dazu erklärt. Larsen hatte übrigens auch schon 2004, ebenfalls in der Komischen Oper, in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in der Regie von Calixto Bieito nackt gesungen.
26
OVG Münster, NJW 1997, 1180 mit Besprechung Hufen, JuS 1997, 1129.
27
BVerfGE 69, 315 (352)
28
Der „Anachronistische Zug“ bezeichnet ein 1980 in München aufgeführtes politisches Straßentheater, das auf dem 1947 entstandenen
gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht basierte und in dessen Rahmen der damalige Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß
beleidigt worden sein sollte.
29
BVerfGE 67, 213 (226 f.).
30
BSG, NJW 1997, 1185 mit Besprechung Hufen, JuS 1997, 1129.
31
VGH Mannheim, NVwZ-RR 2001, 478; VGH München, Urteil vom 03.11.2003 – 24 BV 03.766 (BeckRS 2003, 31550); anders aber VG
Ansbach, Urteil vom 29.01.2003 – AN 5 K 02.01118 (BeckRS 2003, 29855); vgl. auch VGH Mannheim, NJW 1971, 1822.
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Jedenfalls tritt „Ernie“ nicht im Rahmen einer Unterhaltungsdarbietung auf; zudem sind weder alltägliche Handlungen wie Herumstehen, Radfahren oder Einkaufen noch eher sportliche Aktivitäten wie Herumrennen oder Muskelnzeigen auch nur im Entferntesten
anerkannten Kunstformen an die Seite zu stellen. Der formale Kunstbegriff macht „Ernie“ also nicht zum Künstler.
Des Weiteren ging das Oberverwaltungsgericht Münster auf den sogenannten materialen Kunstbegriff ein, den das Bundesverfassungsgericht schon 1971 in seiner „Mephisto“-Entscheidung 32 entwickelt hatte 33:
Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des
Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische
Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen
Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers.
Zwar mag das Bundesverfassungsgericht hier, wie kritisch angemerkt worden ist, zu unpräzise sein und weniger eine Definition als
eine Beschreibung von Kunst bieten. In jedem Fall dürfte die Formulierung eher hilfreich sein, im Grenzbereich den Kunstcharakter
von Formaten zu bestimmen, die sich in anderer Weise als „Ernies“ Auftritte weit von den tradierten Kunstgattungen und dem gängigen Kunstverständnis entfernen.
Ein deutliches Beispiel kann hier – bleiben wir bei Entblößungen – eine „Penisaktion“ des Wiener Aktionisten Otto Muehl (* 1925;
† 2013) vom Februar 1965 geben,
Abb.: Ludwig Hoffenreich, aus: Yvonne Ziegler, Rudolf Schwarzkogler: Darstellungen von Gewalt und Anleitungen zur Heilung in Aktion, Fotografie, Zeichnung und Text, Diss. phil. Freiburg/Brsg. 2004, 4. Bd., o.S., Abb. 62a, 62b
(http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6799/pdf/4_Y_Ziegler_Schwarzkogler_Diss_Abbildungsteil_II.pdf)
Otto Muehl: Penisaktion (1965). Wien, Atelier Muehl (Perinetkeller)
die er folgendermaßen erläuterte 34:
Man nehme einen Bildband über die abendländische
Malerei, schlage sein Lieblingsbild 35 auf, durchlöchere
mit Hilfe eines scharfen Messers das Buch von rückwärts und zwänge seinen Penis mitten in die abendländische Malerei. Man betrachte 5 Minuten angestrengt die entstandene Montage und denke konzentriert über die Kunst nach ... nur auf diese Weise ist
die Kunst zu retten.
32
In der Entscheidung ging es um den Roman „Mephisto“ des Schriftstellers Klaus Mann (* 1906; † 1949), in dem der verstorbene Schauspieler Gustav Gründgens herabgewürdigt worden sein sollte.
33
BVerfGE 30, 173 (188 f.).
34
Ludwig Leiss: Kunst im Konflikt, 1971, S. 458, 460.
35
Muehls Lieblingsbild der abendländischen Malerei ist offenbar von El Greco.
Abb.: http://www.salemcatholic.org/?p=1593
El Greco (* 1541; † 1614): Der Heilige Martin und der Bettler (um 1597/99). Washington, D.C., National Gallery of Art
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Auch wenn das Bundesverfassungsgericht sicherlich eher eine „vornehmlich am idealistischen Kunstverständnis der Ästhetik“ orientiertes Kunstauffassung bei seiner Formulierung geleitet haben dürfte 36, so scheint danach doch die „Penisaktion“ geradezu als Inbegriff von Kunst verstanden werden zu können – und gleichzeitig das Fehlen von jeglichem Schöpferischen an „Ernies“ Nacktauftritten verdeutlichen.
Das Oberverwaltungsgericht Münster verneinte dementsprechend für „Ernies“ Auftritte mit kurzer Begründung – natürlich ohne auf
solche Aktionen einzugehen – auch unter dem Gesichtspunkt des materialen Kunstbegriffs, sie als Kunst einzustufen:
Den so beschriebenen Anforderungen an Kunst wird das Auftreten des Klägers nicht gerecht. Auch bei großzügigem Verständnis
der begrifflichen Anforderungen ist nicht erkennbar, daß das Verhalten des Klägers dem Bereich des künstlerischen Schaffens zugeordnet werden könnte. Dem bloßen Nacktsein des Klägers ist keinerlei schöpferische Ausstrahlungskraft eigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ noch einen dritten Kunstbegriff herangezogen 37, der dem materialen näher steht als dem formalen: den offenen Kunstbegriff. Während der materiale mehr auf den schöpferischen Akt des Künstlers blickt, fokussiert der offene eher den interpretativen Aspekt, stellt auf den Rezipienten ab 38.
Das Oberverwaltungsgericht Münster referierte auch insoweit die Definition des Bundesverfassungsgerichts und verneinte dann
wiederum den Kunstcharakter von „Ernies“ Auftritten:
Sieht man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung schließlich darin, daß sie wegen der Mannigfaltigkeit ihrer
Aussage ständig neue, weiterreichende Interpretationen zuläßt, vgl. BVerfGE 67, 213, 227, so fehlt es auch an diesem Merkmal.
Der Nacktauftritt des Klägers reicht weder über seine alltägliche Aussagefunktion hinaus noch führt er zu einer unerschöpflichen,
vielstufigen Informationsvermittlung.
Auch insoweit könnte man zur Verdeutlichung ein Beispiel aus dem Bereich nackter Auftritte betrachten, das solche Interpretation in
hohem Maße zulässt:
1977 veranstaltete die serbische Künstlerin Marina Abramović (* 1946) zusammen mit dem Deutschen Frank Uwe Laysiepen alias
Ulay (* 1943) in der Galleria Comunale d’Arte Moderna in Bologna die 90-minütige Performance „Imponderabilia“ (ital. für „Unwägbarkeit“):
Wir stehen nackt im Haupteingang des Museums und
sehen uns an. Das Publikum, das das Museum betritt,
muß seitlich gekehrt den schmalen Raum zwischen
uns passieren. Die Besucher müssen sich entscheiden,
wen sie ansehen wollen.
Die Kunstwissenschaftlerin Lilian Haberer hat ergänzend dargelegt 39: „Abramović/Ulay blickten sich unbewegt an, wie Statuen, die
einen Eingang flankieren. Sie bilden hier einen körperlichen Rahmen und konfrontieren die unfreiwillig Beteiligten, während diese
durch den "Geburtskanal" gehen, mit der Erfahrung von Berührung, Entscheidung, auf welche Seite sie sich drehen und setzen alle
einem ungewöhnlichen Körpergefühl aus, zwischen Scham und Bewußtwerdung des eigenen Körpers und der menschlichen Berührung, die bei Unbekannten ja meist als etwas Störendes empfunden wird.“
Abb.: Marina Abramović, http://arteperformativa.tumblr.com/post/48278077911/imponderabilia-with-ulay-1977-performance-90
Die mit „Ernies“ Aktionen unfreiwillig Konfrontierten dürften sich dagegen – passiv – je nach Naturell und Stimmung nur belästigt
oder belustigt fühlen. Mehr wird nicht angestoßen.
Was kann man also (nicht ganz ernst gemeint!) „Ernie“ raten, will er endlich als Kunstschaffender wahrgenommen werden? Er sollte
sich an „the world’s number one“ Flitzer Mark Roberts orientieren: Balletttanz unterfällt bereits dem formalen Kunstbegriff!
36
Hentschel, NJW 1990, 1938; ähnlich Josef Isensee: Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 27
BVerfGE 67, 213 (227).
38
Lenski, Jura 2016, 37.
39
Lilian Haberer, Enzyklopädie Neue Medien (http://www.newmedia-art.org/cgi-bin/show-oeu.asp?ID=ML002604&lg=ALL).
37
16
Abb.: http://www.thestreaker.org.uk/main.htm
Roberts bei den Schwimmweltmeisterschaften 2003 in Barcelona
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