Healthy Body, Healthy Mind, Healthy Music
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Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Healthy Body, Healthy Mind, Healthy Music Physiophrophylaxe als Möglichkeit der Verbesserung von Fehlhaltungen bei QuerflötistInnen Magisterarbeit in der Studienrichtung Instrumental (Gesangs) Pädagogik vorgelegt von Bakk. art Marija Podnar am Institut für Musik- und Bewegungserziehung sowie Musiktherapie Betreut von OA Dr. med. Bernhard Riebl Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Matthias Bertsch Wien, März 2009 1 Inhaltsverszeichnis 0. Vorwort und Inhaltsübersicht 5 1. Einleitung: Zur Problematik von MusikerInnenerkrankungen 8 2. Zur Epidemiologie und Ätiologie der MusikerInnenerkrankungen 2.1. Art und Häufigkeit von Erkrankungen 3. Physische Beschwerden von MusikerInnen und Therapievorschläge 3.1. Störungen des Muskeltonus 11 11 18 20 3.1.1. Zur Problematik muskulärer Dysbalancen 20 3.1.2. Muskuläre Verspannungen bei QuerflötistInnen 22 3.2. Nervenerkrankungen 24 3.2.1. Nervenkompressionen im Finger 24 3.2.2. Sulcus ulnaris-Syndrom 24 3.2.3. Karpaltunnelsyndrom 26 3.3. Sehnen- und Gelenkserkrankungen 29 3.3.1.Tendovaginitis 29 3.3.2. Tendovaginitis stenosans de Quervain 30 3.3.3. Epicondylitis 32 3.3.4. Fokale Dystonie (Musikerkrampf) 33 3.3.5. Zwischensehnenschmerz 34 3.3.6. Gelenksarthritis (des Fingers und des Ellbogens) 36 3.3.7. Periarthritis humeroscapularis 37 3.4. Überlastungssyndrom 38 3.4.1. Ursachen und Auslöser für das Überlastungssyndrom 39 3.4.2. Dispositionen bei QuerflötistInnen 40 3.4.3. Schmerzsymptome bei Überlastung 41 3.4.4. Therapeutische Ansätze 42 2 3.5. Weitere typische Erkrankungen von MusikerInnen 44 3.5.1. Emotionaler Stress 44 3.5.2. Andere Probleme (des Sehens, des Gehörs und der Haut) 45 4. Haltungs- und Bewegungsprobleme von QuerflötistInnen 46 4.1. Theorie der Haltung 46 4.2. Von der Haltung zur Bewegung 47 4.3. Zur Körperarbeit von QuerflötistInnen 48 4.4. Typische Haltungsprobleme von QuerflötistInnen 49 4.5. Problemzone Hand 52 4.5.1. Modifizierte Ergonomie meiner Querflöte 5. Maßnahmen zur Therapie und Heilung 56 60 5.1. Medikamentöse Therapien 60 5.2. Thermotherapien 61 5.3. Elektrische Stimulationen zur Schmerzlinderung 62 5.4. Orthesen 63 6. Rehabilitierende Maßnahmen 64 6.1. Dehnung der Muskeln 64 6.2. Lymphdrainage 67 6.3. Triggerpunkttherapie 67 6.4. Spiraldruck-Therapie 68 6.5. Massagen 68 6.6. Übungen zur Muskelentspannung 69 3 6.7. Mentales Üben 7. Strategien der Prävention 72 73 7.1. Prävention als Thema 73 7.2. Theorie der Physioprophylaxe 75 7.3. Prävention in der LehrerInnen-Ausbildung 77 8. Healthy Body: Physioprophylaxe in der Praxis 79 8.1. Sport für MusikerInnen 79 8.2. Entspannungstechniken für MusikerInnen 81 8.2.1. Alexander-Technik 81 8.2.2. Feldenkrais-Methode 82 8.2.3. Qigong 82 8.2.4. Taijiquan 83 8.2.5. Yoga 84 9. Healthy Mind: Prophylaktische Psychologie des Musizierens 85 10. Epilog: Physioprophylaxe für MusikerInnen in der Praxis 88 10.1. Das Projekt „Musik und Muskeln – Locker sein macht stark“ 88 10.2. Abteilung für Integrative Atem-, Stimm- und Bewegungsschulung 89 10.3. Mein persönliches Fitness- und Therapieprogramm 90 11. Zusammenfassung 93 Literaturverzeichnis 94 Lebenlauf 103 Erklärung 105 4 0. Vorwort und Inhaltsübersicht Man sagt, dass man aus eigenen Fehlern am besten lerne. Meine eigene Leidensgeschichte als Musikerin mit Schmerzen begann in Wien, der Stadt der Musik. Es war das gesamte „Wien-Gefühl“, das mir Unwohlsein bereitete. Wien war für mich, einer im Jahr 2001 „Zugereisten“ aus Kroatien, eine Stadt, in der es im Winter sehr kalt ist, in der ich keine Familie und zu Beginn auch keine Freunde hatte. Ich wurde immer introvertierter und fühlte mich nicht besonders gut, doch keiner wollte den Grund dafür erkennen oder bot Hilfe an. Bevor ich nach Wien kam, hatte ich keine gröberen Schmerzen, relativ uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und Ausdauer. Als plötzlich Schmerzen beim Querflötenspiel auftraten, musste ich lernen, in allen Lebenslagen – und vor allem beim Spielen – auf meinen Körper besonders zu achten. Ich brauchte viel Zeit und Geduld, um mich in meiner Haut wieder wohl fühlen zu können. Diese notwendige Zeit bzw. Geduld ist mir nicht von vielen Leuten gegeben worden. Ich habe deswegen auch sehr gelitten. Die meisten Leute (Lehrende, Studierende und andere „gesunde“ Personen) in meiner Umgebung haben viel eher Verständnis, wenn jemand wegen Fieber und Halsweh nicht spielen kann, als wenn man wegen „unsichtbarer“ Schmerzen das Spiel oder unwichtige Bewegungen vermeidet. Das also war meine Erfahrung, die mich bis heute in meinem Musikerinnenleben begleitet. Die Schmerzen kommen immer wieder, nur gehe ich heute damit anders um. Ich habe gelernt (und lerne noch immer), auf meine Körpersignale besser zu achten. Leider gelingt es mir nicht immer, auf diese Signale sofort zu achten – auch weil Menschen vielfach kein Verständnis dafür haben. Ich versuche, die Signale meines Körpers zu respektieren und gebe meinem Körper Zeit, sich zu regenerieren. Mit meinen medizinischen Fachkenntnissen – ich habe ein Diplom in Physiotherapie der Hochschule für Medizin in Zagreb – und dank meines Interesses an verschiedenen Arten von Körperarbeit habe ich ein ganzheitliches Körperprogramm für mich zusammengestellt. 5 Ich praktiziere regelmäßig Wirbelsäulengymnastik nach Pilates und mache BodyfitKörperübungen, Taijiquan1, Qigong (leichte energetische Übungen und Meditation zum Stressabbau), Feldenkrais, und ich tanze. Bei großen Schmerzen mache ich Bio-Feedback Training und verwende TENS Physiotherapie, eine Art von elektronischem Massagegerät zum Schmerzabbau. Ich brauche für diese Beschäftigungen neben der Musik sehr viel Zeit. Sie sind aber Voraussetzungen für meine musikalische Tätigkeit und darüber hinaus für mich und für mein gutes Körpergefühl wichtig. In der Musik ganz allgemein und natürlich besonders beim Studium steht das zu hörende Resultat im Vordergrund, nicht aber, wie dieses zustande kommt. Dieses Gefühl, zu viel Spannung zu haben, im Körper blockiert zu sein oder Schmerzen zu haben, wird von anderen Leuten meistens ignoriert – entweder, weil die Leute nicht emphatisch genug sind, oder weil sie einfach nicht dazu erzogen sind, wie man damit umgehen soll. Da jeder Mensch physiologisch und psychisch unterschiedlich stabil ist, äußern sich die daraus resultierenden Folgen bei jedem Menschen anders. Der Eine verspürt zwar ein gewisses Unbehagen, es kommt aber zu keiner ernsthaften Erkrankung, während ein Anderer bei gleichen Symptomen krankhafte Veränderungen aufweist. Mit dieser Arbeit möchte ich versuchen, meine Erfahrungen systematisch und mithilfe wissenschaftlicher Literatur aufzuarbeiten und produktiv zu nützen – um womöglich anderen KollegInnen Anregungen zur Vorbeugung zu geben, bevor es „zu spät“ ist und eine Verletzung oder Erkrankung manifest wird. Nach einer Einleitung, in dem ich die Bedeutung des Themas umreiße, werde ich im ersten Hauptteil einige Studien zur Epidemiologie von Musikererkrankungen vorstellen. Im zweiten Hauptteil stehen dann die wichtigsten akuten physischen Leiden von MusikerInnen im Zentrum sowie erste Therapievorschläge. 1 „Qigong“ und „Taijiquan“ sind die modernen Schreibweisen (Pinyin-Umschrift) der Volksrepublik China 6 Inspiriert von der „Gesundheits Definition“ der Weltgesundheitsorganisation WHO, wird auch die Psyche des Menschens oder „Geist – Mentale Ebene“ kurz beschrieben.2 Dann wird die rein epidemiologische und therapeutische Ebene verlassen, um einerseits den speziellen Problemen von QuerflötistInnen nachzugehen, aber auch Vorschläge zu machen, wie neben der Therapie sonst noch mit Krankheiten und Beschwerden umgegangen werden soll. Und schließlich wende ich mich im letzten Drittel der Arbeit dann noch möglichen Maßnahmen zu, um zu vermeiden, dass es gar nicht erst zu Beschwerden kommt: der Physioprophylaxe und anderen präventiven Strategien. Im abschließenden Kapitel „Wege zum gesunden Körper“ stelle ich mein Trainingsprogramm vor sowie Tipps, die – nicht nur meine – körperliche Fitness unterstützen. 2 “Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”, zitiert nach Wikipedia, Suchbegriff „Health“ - WHO. "Constitution of the World Health Organization" World Health Organisation; (2006). URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Health (13.03.2007) 7 1. Einleitung: Zur Problematik von MusikerInnenerkrankungen Der Körper ist dein Haus, in dem du wohnst – lerne ihn kennen und nutzen. 3 Der Alltag eines Musikprofis sieht in der Regel so aus: stundenlanges Stehen bei der Probenarbeit und bei den Aufführungen, Sitzen auf unergonomischen Stühlen, und trotz widriger Umstände müssen doch Höchstleistungen gebracht werden. Fast alle KollegInnen haben deshalb Probleme mit ihren Bewegungen und mit ihrer Körperhaltung. Sind MusikerInnen nicht auch irgendwie AthletInnen? Dass ein Profisportler von einem oder mehreren TrainerInnen, Mentalcoaches, PsychologInnen, ÄrztInnen, ErnährungswissenschaftlerInnen, PhysiotherapeutInnen und anderen ExpertInnen betreut wird, weiß heute jeder, der sich nur etwas für Spitzensport interessiert. Was viele Leute nicht wissen, ist, dass der Körper von MusikerInnen ähnlich stark strapaziert wird wie der von ProfisportlerInnen. MusikerInnen spielen viele Stunden unter höchster emotionaler und körperlicher Anspannung. Sie werden aber nach den Proben oder Konzerten im Normalfall nicht massiert und ihre Muskeln nicht gelockert. MusikerInnen spielen bei Proben und Konzerten bis zu 30 Stunden pro Woche. Das tägliche Üben ist dabei noch nicht mitgezählt. Ich beschäftige mich in dieser Arbeit mit den körperlichen Beschwerden von professionellen MusikerInnen, Therapiemöglichkeiten aber vor allem auch vorbeugenden Maßnahmen. Die Bedeutsamkeit dieser Problematik ist offensichtlich: Alle körperlichen, aber auch psychischen Beschwerden sind Störquellen für das Musizieren und seine Qualität. Dass ich mich dabei im Speziellen auch mit Erkrankungen von QuerflötistInnen beschäftige, hat zwei einfache Gründe: Zum einen bin ich selbst Querflötistin und kann daher einiges aus eigener Erfahrung beisteuern. Zum anderen ist es so, dass unter den Blasinstrumenten die Querflöte die meisten körperlichen Beschwerden zu verursachen scheint, ähnlich der Violine, 3 Köbernick und Puls (1999), S. 5 8 mit der sie auch gemeinsam hat, dass die von den InstrumentalistInnen eine asymmetrische Körperhaltung verlangt.4 Die körperlichen Beschwerden bei MusikerInnen haben oftmals eine lange Vorgeschichte. Verspannungen schleichen sich allmählich ein, es beginnt schon in der Schul- und Ausbildungszeit und geht danach im Studium weiter. Oft werden die Ursachen entweder woanders gesucht – oder überhaupt nicht. Den ProfessorInnen und KollegInnen fehlt zuweilen das Verständnis für plötzliche oder sogar chronische Schmerzen. Solche MusikerpatientInnen werden auch oft von den ÄrztInnen nicht verstanden, denn für die Behandlung sollte der Arzt ein „Musik(er)kenner“ sein, was aber oft genug nicht der Fall ist. Eine entscheidende Rolle für die Aufrechterhaltung eines gesunden Körpers und Geistes spielt der körperliche Ausgleich – wie schon die alten Lateiner wussten: Mens sana in corpore sano. Oder anders formuliert: Wer körperlich fit ist und insgesamt einen guten Muskeltonus besitzt, bleibt zumeist resistent gegen Gesundheitsschäden am Instrument.5 MusikerInnen sollten ihren Beruf als gesamtkörperlichen Vorgang sehen, bei dem Feinmotorik und Grobmotorik ebenso in Wechselwirkung stehen wie Emotionalität und Rationalität. Spätestens dann, wenn die ersten Schmerzen auftreten, ist es wichtig, ein Übungsprogramm zur Verbesserung der Körperstatik zu beginnen. Diese Programme sollten individuell abgestimmt sein, denn es gibt keine einfachen Patentlösungen, die in jedem Fall wirken. Es sind zahllose Bücher und Artikel zum Thema Musikererkrankungen geschrieben worden. Erste Ausführungen darüber finden sich bereits im 1713 gedruckten Buch „De Morbis Artificum“, das von Dr. Bernadino Ramazzini, einem italienischen Arzt, verfasst wurde Er schrieb damals unter anderem: „Keine Art von Übung ist so gesundheitsfördernd oder harmlos, das sie nicht auch Störungen verursacht, wenn damit übertrieben wird.“6 In Deutschland begann die Entwicklung der Musikermedizin spätestens 1832 mit dem Erscheinen des „Ärztlichen Ratgebers für Musiktreibende“ von Karl Sundelin. Schon Telemann hatte von einer Sehnenscheidenentzündung in seiner linken Hand berichtet.7 4 Wurz (1995), S. 87 5 Vgl. Brandfonbrener (1995), S. 113; Puls (2000) 6 Norris (1997), S. 9 (meine Übersetzung, M.P.) 7 Vgl. Samsel et al. (2005), S. 7 9 Eine Institutionalisierung fand das Fach unter anderem, als Prof. Dr. Christoph Wagner das Institut für Musikphysiologie an der Hochschule für Musik in Hannover mit dem Forschungsschwerpunkt physiologische Eignungsdiagnostik für das Instrumentalspiel gründete. Eine wichtige Rolle bei der Etablierung in den USA kam der 1977 veröffentlichten Publikation „Music and the Brain – Studies in the Neurology of Music“ zu. Sie gilt als wichtiger Anstoß zur Gründung der „Performing arts medicine“, also einer speziellen medizinischen Fachrichtung, die sich insbesondere mit den Problemen von praktizierenden MusikerInnen befasst. In den darauf folgenden Jahren verstärkte sich die fachliche Auseinandersetzung über gesundheitliche Probleme von MusikerInnen. Das kommt auch durch die Gründung von Fachzeitschriften wie Medical Problems of Performing Artists (1986) zum Ausdruck.8 In heutigen wissenschaftlichen Studien zu dem Thema geht es zumeist um BerufsmusikerInnen, die unter körperlichen und psychischen Symptomen leiden. Man darf jedoch nicht vergessen, dass alle Profis vor ihrer Tätigkeit als BerufsmusikerInnen zuerst einmal StudentInnen gewesen sind. Bereits in der Ausbildungszeit üben die Studierenden intensiv, stundenlang, nicht immer konzentriert und oft ohne Pausen. Natürlich führt das nach einiger Zeit zu Beschwerden wie Überlastungen, Verspannungen, Schmerzen oder geistiger Erschöpfung, die als Folge lang gewohnter Bewegungsmuster und mechanischer Bewegungsabläufe auftreten. Dazu kommt, dass MusikerInnen eben nicht nur von und mit Musik (Proben, Üben, Konzerte) leben, sondern auch ihren alltäglichen Verpflichtungen nachgehen müssen. Für vieles andere (wie zum Beispiel Sport als Ausgleich) gibt es oft wenig Zeit. 8 Vgl. Samsel et al. (2005), S. 7 10 2. Zur Epidemiologie und Ätiologie der MusikerInnenerkrankungen Warum sich die Musikermedizin als eigene Disziplin etablieren konnte, hängt auch damit zusammen, dass die betroffene Berufsgruppe nicht zu unterschätzen ist. Allein in Deutschland arbeiten zurzeit etwa 11.500 BerufsmusikerInnen in Sinfonie- und Theaterorchestern, weitere 35.700 in Musikschulen. In den Musikstudiengängen sind etwa 25.500 Studenten eingeschrieben und an den staatlichen Musikschulen nahezu eine Million Schülerinnen und Schüler angemeldet.9 2.1. Art und Häufigkeit von Erkrankungen Einschlägige Statistiken zeigen, dass bis zu acht von zehn BerufsmusikerInnen unter Schmerzen, Ermüdung, Verkrampfung leiden und als Folge davon über Verluste an Kraft, Ausdauer, Geläufigkeit, Leichtigkeit und Kontrolle klagen. Bei der ersten deutschen Untersuchung zu gesundheitlichen Beschwerden, die 1985 an 1.803 Orchestermusikern durchgeführt wurde, gaben 40 bis 80 Prozent an, unter gesundheitlichen Beschwerden zu leiden, deren Ursachen sie in ihrer Berufsausübung sahen.10 Ein Jahr später wurden in einer groß angelegten Studie 2.212 professionelle OrchestermusikerInnen aus 48 US-amerikanischen Orchestern in der so genannten ISCOM-Studie befragt. In der Gesamtheit berichteten 76 Prozent der MusikerInnen von mindestens einem gravierenden gesundheitlichen Problem, das sie im Zusammenhang mit dem Musizieren sahen.11 Später durchgeführte Studien kamen zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Und auch die Zahlen über gesundheitliche Beschwerden von MusikstudentInnen sehen ganz ähnlich aus. Zudem erleiden knapp unter zehn Prozent aller AbsolventInnen einer Instrumentalausbildung an der Universität eine Art von Verletzung, die mit der Ausbildung zu tun hat. 12 9 Vgl. Samsel et al. (2005), S. 10 10 Held (1994), S.11 11 Vgl. Fishbein und Middlestadt (1988) 12 Vgl. Manchester et al. (1991) 11 Grundsätzlich gibt es zwei mögliche Typen von Risikofaktoren für eine Überlastung bzw. Verletzung: intrinsische und extrinsische. Unter intrinsischen Risiken verstehen wir funktionelle Charakteristiken der MusikerInnen selbst; extrinsische Risiken dagegen beziehen sich auf deren Umgebung. Diese Risiken kann man aber auch danach unterschieden, ob sie veränderbar sind (zum Beispiel Übungsstunden) oder im Normalfall nicht (zum Beispiel Geschlecht). Wie wichtig der Faktor Geschlecht ist, haben mehrere Studien gezeigt, die dabei durchwegs zum Resultat kommen, dass Musikerinnen sich häufiger verletzen oder an Schmerzen leiden als männliche Kollegen.13 So berichtet Fry davon, dass es bei 10,9 Prozent der Instrumental-Absolventinnen zu Verletzungen kommt und nur bei 6,2 Prozent der männlichen Absolventen.14 Eine Studie, die zwischen den Studienjahren 1986/87 und 1988/89 bei MusikstudentInnen in der Northeast Iowa School of Music zum Thema Handverletzungen und Überlastungen durchgeführt wurde, zeigte folgende Resultate: bei den 114 StudentInnen, die medizinische Hilfe in Anspruch nahmen, traten insgesamt 122 Verletzungsfälle auf. 73 Musikerinnen hatten 78 akute Vorfälle und erlitten damit öfter Verletzungen als ihre männlichen Kollegen (41 „Patienten und 44 Vorfälle).15 Es wird einerseits Körpermuskulatur vermutet, nicht kräftig dass genug Frauen ist für empfindlicher verschiedene sind und ihre Anforderungen. Andererseits erklären andere Forscher die unterschiedlichen Zahlen damit, dass Frauen früher professionelle Hilfe suchen als männliche Kollegen.16 Im Hinblick auf die betroffenen Hände kommen Manchester und Flieder bei ihrer Studie zum Schluss, dass StreicherInnen öfter bei der linken Hand Verletzungen entwickeln, während BläserInnen öfter mit der rechten Hand Probleme bekommen. Die StudentInnen, die unter hoher Belastung standen, haben auch leichter mikrotraumatische Verletzungen entwickelt. Im Hinblick auf die Art der gesundheitlichen Probleme kamen die beiden Studienautoren zu folgenden Prozentzahlen: 13 Vgl. u.a. Goodman und Shaz (1989), S. 9ff. 14 Vgl. Fry (1986) 15 Manchester und Flieder (1991), S.11 und 14. 16 Vgl. Cayea und Manchester (1998) 12 • Überlastungssyndrom hatten 50 Prozent17 • Tendinitis hatten 16 Prozent • Muskuloskeletal Diagnosen (Entzündungen alle Art, Bandscheibenvorfälle in der Halswirbelsäule, Muskelzerrung oder Muskelkrampf, Epicondylitis, Bursitis, Arthritis und Fibrositis) hatten 16 Prozent • Neurologische Diagnosen (Nervenkompressionen im Finger, Sulcus ulnaris Syndrom , Karpaltunnelsyndrom) hatten sieben Prozent • Ein Studierender litt unter dem Thoracic-outlet-Syndrom18 • Bei sechs StudentInnen wurde keine Diagnose gestellt, da sie nur bei der Krankenschwester und nicht beim Arzt waren Die beiden Autoren beschrieben zudem das so genannte „Back to School“ Phänomen, bei dem Studierende nach eine Pause erneuert vermehrt übten. Kenntnisse mögliche Präventions-Strategien könnten helfen, diesem Phänomen vorzubeugen. Eine Untersuchung von Kathryn Roach und Kollegen aus dem Jahr 1994 an USStudierenden (sowohl InstrumentalistInnen wie auch Studierende, die kein Instrument an der Universität lernten) zeigt ebenfalls, wie weit verbreitet Beschwerden bei angehenden InstrumentalistInnen sind: 65 Prozent, also fast zwei Drittel, klagten über Schmerzen in der Wirbelsäule oder in den Muskeln. Da diese Studie anonym durchgeführt, wurde, ist das Schmerzresultat entsprechend hoch. Zwar treffen Muskelschmerzen bzw. Beschwerden der Wirbelsäule nicht nur die StudentInnen mit einem Instrument im Hauptfach. InstrumentalistInnen werden von diesen Schmerzen aber sehr viel häufiger geplagt als ihre „normalen“ KollegInnen: 17 Die Autoren der Studie geben keine Definition des Überlastungssyndroms. Für eine detaillierte Beschreibung des Syndroms in dieser Arbeit vgl. Kap. 3.4. 18 Bei dieser Erkrankung liegt eine zeitweise oder ständige Kompression eines Gefäßnervenbündels, bestehend aus Plexus brachialis, der Arteria subclavia und der Vena subclavia vor. Das Thoracicoutlet-Syndrom ist ein Phänomen, bei dem im Bereich des oberen Brustkorbes Nerven oder Blutgefäße eingeklemmt werden. Dies kann verschiedene Ursachen haben, führt aber immer zu Schmerzen, neurologischen Ausfallserscheinungen oder Thrombosen. Je nach Ursache kann das Thoracic-outlet-Syndrom medikamentös, physiotherapeutisch oder chirurgisch behandelt werden. Vgl. u.a. http://p5965.typo3server.info/index.php?id=2&uid=1457 oder http://de.wikipedia.org/wiki/Thoracicoutlet-Syndrom (29.03.2009) 13 sie klagen zu 3,7 Mal öfter Schmerzen in Nacken, 6,3 Mal öfter über Schmerzen im oberen Wirbelsäulenbereich und 6,5 Mal häufiger über Schmerzen im Schulterbereich als „gewöhnliche“ Studierende (also Studierende, die kein Instrument an der Universität lernen).19 Roach et al. haben für ihre Untersuchung 249 Studierende befragt (98 männliche, 149 weibliche; 2 Studierende gaben kein Geschlecht an). Dabei zeigte sich abermals, dass Frauen „empfindlicher“ sind als ihre männlichen Kollegen. Studentinnen klagten 1,9 Mal öfter über Schmerzen in den oberen Körpergelenken, 3,6 Mal öfter über Schmerzen im Oberkörper und 2,8 Mal öfter über Schmerzen im Schulterbereich. Die Annahme der Autoren ist, dass Frauen deshalb mehr Schmerzen spüren, weil ihre Rumpfmuskulatur im Vergleich mit jener der Männer viel schwächer ist. Aus diesem Grund gehen sie davon aus, dass insbesondere Frauen den Schmerzen vorbeugen könnten, in dem sie Trainingsprogramme zur Stärkung der Muskulatur sowie der Ausdauer absolvieren. 20 Für meine Arbeit von besonderem Interesse ist ein weiteres Untersuchungsergebnis: Studierende (InstrumentalistInnen), die keine Schmerzen hatten, gaben zu Protokoll, an 26 Stunden pro Woche physische Aktivität (Bewegung, Sport etc.) auszuüben. Im Vergleich dazu kam Studierende mit Schmerzen im Schnitt nur auf 17,3 Stunden physische Aktivität pro Woche. Eine rezente Studie, die an 103 schwedischen Symphonie- und KammerorchestermusikerInnen und 106 SchauspielerInnen durchgeführt wurde, kam zu ganz ähnlichen Ergebnissen: • Schmerzen im Hals- und Schulterbereich kamen besonders oft vor: 25 Prozent der MusikerInnen und der SchauspielerInnen hatten akute, 20 Prozent hatten chronische Schmerzen. • Von Schmerzen im Handbereich waren zehn Prozent der MusikerInnen und fünf Prozent der SchauspieIerInnen betroffen. • Über Schmerzen im Bereich des Mundes (Oral Region) klagten zwölf Prozent der MusikerInnen und 18 Prozent der SchauspielerInnen.21 19 Vgl. Roach et al. (1994) 20 A.a.O., S. 127f. 21 Vgl. Engquist et al. (2004). Die Studie macht dabei keinerlei Angaben zu den konkreten Problemen der Mundregion (vgl. S. 58 und 59). 14 Die Autoren der schwedischen Untersuchung versuchten auch zu ergründen, woher die Schmerzen kamen. Dafür erfragten sie auch die Übungspraktiken. Dabei stellte sich heraus, dass während der Schulzeit und später in der Orchesterlaufbahn vor allem Folgendes geübt bzw. praktiziert wird: die musikalische Präzision, viele kleine sich wiederholende Bewegungen, Stabilisierungen des Instrumentes in manchmal extremer anatomischer Haltung, Konzentration, künstlerische Tadellosigkeit, sowie Integration und Anpassung an andere InstrumentalistInnen im Orchester. Das erklärte Ziel diese Studie war die Erforschung des Zusammenhangs von physischer Überarbeitung und dem psychosozialem Faktor, zumal bereits frühere Studien gezeigt haben, dass Beschwerden der Skelettmuskulatur nicht nur durch physische Überarbeit zustande kommen, sondern auch mit psychosozialen Faktoren verbunden sind. 22 Im Detail zeigte sich bei den 103 MusikerInnen aus drei Symphonieorchestern sowie von drei Kammerorchestern zudem, dass die Schmerzen in Schulter und Halswirbelsäule mit 25 Prozent Betroffenheit nicht nur die häufigsten Schmerzregionen der InstrumentalistInnen sind, sondern dass diese Schmerzen oftmals als chronische Schmerzen wahrgenommen und erlebt worden sind. Hände bzw. Ellbogen (zehn Prozent) waren von der chronischen Ausprägung nicht so sehr betroffen wie Wirbelsäule und Schulter. Im Hinblick auf die Therapie berichten die Autoren der Studie, dass die InstrumentalistInnen aufgrund von Schmerzen in der Schulter, Brustwirbelsäule und Halswirbelsäule ihre Übe- bzw. Spielzeit stark reduziert haben. Manche Instrumentalisten haben auch Umstellungen in der Spieltechnik vorgenommen. Eine Detailstudie über ein englisches Kammerorchester wurde von Mathews und Mathews durchgeführt, nämlich über die Mitglieder der Manchester Camerata, die nahe am psychischen Limit arbeiten und auch unter erheblichen physischem Stress stehen. Neun bis 20 Prozent der befragten MusikerInnen dieses Orchesters waren krank oder auf dem Weg krank zu werden. Im Hinblick auf die Krankheiten zeigten sich bei den Betroffenen vor allem muskuläre Dysbalancen, Sehnen- (scheiden)entzündungen, Gelenkserkrankungen und fokale Dystonien, also so genannte Musikerkrämpfe.23 Eine vorläufig letzte Untersuchung, die ich zitieren möchte, stammt aus Brasilien. Sie ist deshalb von Relevanz, weil sie neben den Schmerzen der MusikerInnen auch 22 Vgl. Engquist et al. (2004). S. 55 23 Mathews und Mathews (1993), S.14 15 psychische Probleme wie Schlafstörungen, emotionalen Stressgrad, Alkoholismus bzw. Medikamentenabhängigkeit und Drogenmissbrauch unter die Lupe nahm (Rauchen und Alkoholkonsum sind sehr oft Begleiter der MusikerInnen). „Untersuchungsgegenstand“ war in dem Fall das Symphonieorchester São Paulo.24 Die Schmerzen der MusikerInnen wurden mit der so genannten visuellen-analogen Skala gemessen. Dazu wurde sensorisch, affektiv analysiert und evaluiert. Auch in dieser Studie berichteten Frauen drei Mal häufiger über Schmerzen.25 Die AutorInnen der Studie gehen davon aus, dass dies mit der Anatomie der Hand und der Ausdauer bzw. Kraft (im Vergleich zu den Männern) zu tun hat und zudem mit dem jeweiligen Gewicht des Instruments zusammenhängt. Darüber hinaus zeigte diese Untersuchung aber auch den starken Zusammenhang zwischen psychischen und physischen Beschwerden: So werden Schmerzen in Kombination mit Schlafstörungen 4,5-mal stärker wahrgenommen als Schmerzen, die keine Schlafstörung als verschlimmernden Begleiter haben. Frauen sind davon drei Mal öfter betroffen als Männer. Konkret berichteten 241 MusikerInnen von Schmerzen, 62,7 Prozent von ihnen hatten auch Schlafstörungen. Davon wiederum hatten 25 Prozent Probleme beim Einschlafen, 17 Prozent wachten mehrmals in der Nacht auf, und 57 Prozent klagten über Müdigkeit nach dem Aufwachen. Die AutorInnen gehen davon aus, dass Schlafstörungen im Zusammenhang mit emotionalem Stress stehen. Hinsichtlich der betroffenen körperlichen Regionen ergab sich bei der Studie das folgende Bild: Am häufigsten betroffen waren der Reihe nach: • Das Lendenwirbelsäule mit 11,4 Prozent • die linke Seite der Halswirbelsäule (paracervical) mit 7,2 Prozent • die linke Schulter mit 6,8 Prozent • die Brustwirbelsäule mit 6,2 Prozent • die rechte Schulter mit 5,8 Prozent • der linker Arm mit 5,8 Prozent Zu viel psychologischer Stress – also vor allem der Druck, eine gute künstlerische Darstellung abzuliefern – und emotionaler Stress (Hauptgrund für Überaktivierung 24 Kaneko et al. (2005), S. 168-173 25 A.a.O., S. 169 16 des Sympathikus) und schlugen sich bei den untersuchten KünstlerInnen in Angstzuständen, Nervosität, Unsicherheit, Ruhelosigkeit, Schwitzen, trockenem Mund, Herzklopfen, Herzrasen und Harndrang nieder. MusikerInnen, die mehr emotionalen Stress hatten, haben zudem mehr Alkohol konsumiert, wie die Studie zeigte. Auch die häufigsten Arten von Therapie wurden in dieser Studie erhoben. Das waren neben Relaxation und Stretching noch Spielpausen, Massage und Medikationen. Mit diesem Thema, den konkreten Leiden und ersten Therapievorschlägen werden wird uns im Folgenden beschäftigen, nachdem durch diese referierten Studien zur Epidemiologie von MusikerInnenerkrankungen klar geworden sein sollte, wie weit verbreitet und relevant das Problem ist. 17 3. Physische Leiden von MusikerInnen und Therapievorschläge Die IASP (International Association for the Study of Pain) definiert Schmerz als „an unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage“, also als eine unangenehme sensorische und emotionelle Erfahrung, die mit tatsächlicher oder möglicher Gewebsschädigung einhergeht bzw. in Begriffen der Schädigung beschrieben werden kann.26 Schmerz sollte entsprechend als Warnsystem betrachtet werden, das den Organismus vor einer Schädigung schützt. Dafür ist es nötig, auf schädigende Reize rechtzeitig zu reagieren sowie bereits geschädigte Strukturen zu schonen. Der Schmerz beginnt im Normalfall als Akutschmerz Warnsignale zu schicken. Im Gegensatz dazu hat chronischer Schmerz seine Warnfunktion verloren. Studien zeigen, dass chronisch Kranke häufig unter einem erniedrigten Serotoninspiegel27 sowie einem erhöhten Anteil der Substanz P (P wie englisch „pain“ – Schmerz) leiden. P steht hier für ein Neuropeptid, das als Neurotransmitter für die Arbeit von Nozizeptoren bzw. Nozirezeptoren verantwortlich ist, die auf drohende Verletzungen des Körpergewebes reagieren. Die Substanz P bei chronisch Kranken konnte auch im Liquor (Flüssigkeit welche das Gehirn und das Rückenmark umspült) nachgewiesen werden.28 Wie aber kommt es dazu, dass Schmerzen chronisch werden? Aus Erfahrungen und klinischen Untersuchungen ist seit langem bekannt, dass akute Schmerzen sich dann zu chronischen Schmerzen entwickeln, wenn sie nicht ausreichend gelindert werden. Eine wichtige Rolle bei der so genannten Chronifizierung spielt das Schmerzgedächtnis. Wenn sensible Nervenzellen immer wieder Schmerzimpulsen ausgesetzt sind, verändern sie sich und ihre Aktivität. Das kann dazu führen, dass schon ein leichter, sensibler Reiz wie eine Berührung, Wärme oder Dehnung ausreicht, um als Schmerzimpuls registriert und als unangenehm empfunden zu werden. Die Neurowissenschaften haben in der Zwischenzeit auch erforscht, was sich dabei auf molekularer und zellbiologischer Ebene abspielt. Die Veränderungen in den Nervenzellen sind nicht nur biochemisch nachweisbar. Sie manifestierten sich sogar 26 Vgl. IASP (1979) 27 Vgl. Russel (1992) 28 Vgl. Junker und Eckey (2001) 18 als Spuren im Aufbau der Zellen. Eine Schlüsselposition nimmt dabei die Aktivierung von so genannten IE-Genen ein (IE = Immunitätseinheit), von denen es über 100 gibt. Eine Arbeitsgruppe um den deutschen Neurowissenschafter Walter Zieglgänsberger hat herausgefunden, dass es eine Wechselbeziehung gibt zwischen der Menge der IE-Gen-kodierten Eiweißmoleküle, die von Nervenzellen des Gehirns produziert werden, und dem Ausmaß der synaptischen Erregung nach einem akuten Schmerzreiz.29 Solche und ähnliche neurobiologische Untersuchungen zeigen, dass sich der Schmerz in den Körper und das Gehirn quasi einschreibt und so bewirkt, dass sich PatientInnen davor fürchten, eben jene Dinge wieder zu tun, die den Schmerz auslösten und auslösen. Das führt oft zu einem Teufelskreis aus Schmerz und Furcht, aus dem man kaum ausbrechen kann, zumal er auch durch eine niedere Schmerzschwelle bedingt ist: SchmerzpatientInnen (und andere besonders sensible Menschen) nehmen bestimmte Empfindungen leichter als Schmerz wahr als Menschen, bei denen Schmerzschwelle relativ hoch ist.30 Im Folgenden werde ich auf alle möglichen physischen Leiden von MusikerInnen zu sprechen kommen, unter besonderer Berücksichtigung der Erkrankungen von QuerflötistInnen und gegliedert nach den unterschiedlichen physiologischen Arten und „Orten“ des Auftretens. Ich beginne mit den Muskeln, fahre dann mit den Nerven fort, ehe ich in diesem Kapitel systematisch die Sehnen und die Gelenke bzw. ihre Erkrankungen abhandle. Besonderem Augenmerk gilt dann dem Overuse Syndrom bzw. Überlastungssyndrom, das oftmals am Beginn bestimmter Krankheiten steht bzw. selbst eine Erkrankung ist. Am Ende dieses Abschnitts stehen dann noch weitere Erkrankungen neben den vier klassischen Krankheitstypen. Für jede der angesprochenen Krankheiten werden auch Therapievorschläge gemacht. 29 Vgl. Azad et al. (2005); http://www.medizinfo.de/schmerz/chgedaechtnis.htm (12.2. 2009) 30 Gerewitz (2004) 19 3.1. Störungen des Muskeltonus 3.1.1. Zur Problematik muskulärer Dysbalancen Bogner und Marn bezeichnen muskuläre Dysbalance als Vorstadium des Fibromyalgie-Syndroms.31 Normalerweise sollten der aktive und der passive Bewegungsapparat in einem empfindlichen Gleichgewicht stehen. Das bedeutet, dass möglichst geringer Energieaufwand für die Haltearbeit des Muskeln und Gelenke benötigt werden. Ein Ungleichgewicht zwischen aktivem und passivem Bewegungsapparat bedingt Immobilität, Fehlbelastung, Überbeanspruchung und dadurch Fehlhaltungen. Das muskuläre Funktionsdefizit muss ausgeglichen werden, sonst kommt es zu fehlerhaften Verbindungen hinsichtlich der Aktivierung, Spannung, Kraftentwicklung von verschiedenen Muskelgruppen. Muskuläre Dysbalance kann damit auch als ein Ungleichgewicht im Sinne verstärkter Muskelverkürzungen oder Muskelabschwächungen zwischen den Muskelgruppen Agonisten und Antagonisten (Spieler und Gegenspieler) definiert werden. Dabei handelt es sich um eine einseitige Kraftentwicklung bei gleichzeitiger Vernachlässigung ihrer Dehnungsfähigkeit. Benutzte Muskeln werden dadurch angepasst, dass sie sich stärker ausbilden. Jene dagegen, die weniger benutzt werden, verkümmern.32 Dieses Ungleichgewicht wird durch mangelnde bzw. fehlende körperliche Beanspruchung, einseitige Belastung beim Sport oder im Alltag, durch ungenügende Regeneration, falsche Bewegungsausführung aber auch Verletzungen am Bewegungsapparat hervorgerufen.33 Falls Ruhephasen und Dehnungen nicht gemacht werden, werden die benutzten Muskeln weiterhin angespannt. Diese verlängerte Anspannung kann dazu führen, dass Muskelfasern durch Bindegewebe ersetzt werden, wie Nestvogel schreibt.34 Auf physiologischer Ebene werden durch Überlastung oder durch ein traumatisches Geschehen die Myofibrillen bzw. Muskelfibrillen in der Muskulatur zerstört. Da dabei ständig der Neurotransmitter Acetylcholin freigesetzt wird, entsteht eine permanente elektrische Aktivität an der motorischen Endplatte.35 Auch Kalziumionen werden 31 Bogner und Marn (2006), S.19 , Vgl. Kreutzberg (2003) 32 Schnack (1994), S. 51 33 Vgl. Lenhart und Seibert (2001) 34 Nestvogel (1994), S. 178 35 Bogner und Marn (2006); S. 24 20 freigesetzt. Das wiederum bedingt, dass sich so genannte Myosinköpfchen in die Aktinfilamente verhaken und sich nicht mehr lösen, was zu Myogelosen, also Muskelverhärtungen, oder Triggerpunkten führt. Letztere sind druckempfindliche Irritationen in den myofaszialen Anteilen der Muskelbäuche.36 Dauerbelastung führt dann zur Kompression der Kapillaren im betroffenen Muskel, was Sauerstoffmangel, sowie Stoffwechselstörung im Muskelgewebe zur Folge hat.37 Für MusikerInnen machen sich muskuläre Dysbalancen dadurch bemerkbar, dass verkürzte Muskelgruppen die abgeschwächten Muskelgruppen hemmen. Druckerhöhung in Gelenken aktiviert Schmerzsignale, die ins Rückenmark geschickt werden. Der Reflexbogenmechanismus arbeitet dann als motorische Abwehr zur Entlastung des Schmerzes. Überschreitet man einen Grenzwert, signalisiert der Schmerz Überdosierung. Dabei werden geeignete Muskelgruppen aktiviert, die sich automatisch verkürzen. Es dauert nicht lange bis andere muskuläre Gruppen als Dominoeffekt mit Anspannung und Verkürzung antworten. Es kommt zu chronischer Überforderung, weil viele Muskelgruppen nicht für eine zusätzliche Haltearbeit „gemacht“ worden sind. Muskelarten können mit unterschiedlichem Verhalten reagieren: mit so genannten tonischen, phasischen und gemischten Reaktionen. Im Berufsalltag der Musikstudierenden und MusikerInnen können im Zusammenhang mit muskulären Dysbalancen folgende zwei komplexe Fehlentwicklungen auftreten, die durch langes Sitzen charakteristisch sind: • verkürzte lumbale Rückenmuskulatur und verkürzter Hüft-Lendenmuskel (Musculus iliopsoas) • Fehlrotation des Beckens sowie Lendenlordose mit abgeschwächter Bauchund Gesäßmuskulatur 38 Vorab sei schon hier darauf hingewiesen, dass diese Fehlentwicklungen präventiv oder therapeutisch zu behandeln sind: • Dehnung nach Intenstivstretching-Methode39 • Stärkung der abgeschwächten Bauch- und Gesäßmuskulatur und die Ausbildung eines „muskulären Korsetts“ durch ständiges Aufbautraining. 36 Laser (2004), S. 24, Vgl. Bogner und Marn (2006), S.33 37 Vgl. Hubbard (1996), Vgl. Bogner und Marn (2006), S.24 38 Schnack (1994), S. 54 39 A.a.O., S. 53ff. 21 3.1.2. Muskuläre Verspannungen bei QuerflötistInnen In der Halswirbelsäule, in Nacken und Schultern Beim Spiel der Querflöte ist Region des Halses, des Nackens und der Schultern besonders beansprucht, denn beim Spiel ist der Kopf nach links rotiert und nach rechts geneigt. Vor allem für Menschen mit langem Hals ist es schwierig, ein Hochziehen der Schulter und eine gewisse Neigung des Halses während des Spielens zu vermeiden. Das führt zu Anspannungen der Halsmuskulatur und inkludiert auch den Musculus trapezius und der Musculus levator scapulae. Schmerzen der Hals- und Nackenmuskulatur sind darüber hinaus oft auch mit Psyche des Menschen verbunden. Man sagt, die Hals- und Nackenmuskulatur sei „der Mistkübel der Psyche“.40 Therapiemöglichkeiten könnten folgendermaßen aussehen: • „Warm Up“ und Strech-Übungen für Hals-, und Schultermuskulatur sowie für das Bindegewebe41 • Pausen während der Übungszeit – mit bewusstem Aussteigen aus der Position42 • TENS Therapie • Massage der schmerzenden und geschwollenen Stellen Verspannungen der Rückenmuskulatur „Gewöhnliche“ InstrumentalistInnen spielen in Übe- bzw. Spielphasen meistens sitzend, während Soloinstrumentalisten meist stehen, um so ihre besondere Rolle zu unterstreichen. Eine sitzende Position bringt oft Schmerzen in der lumbalen Wirbelsäule. Es ist durch internationale Studien gut belegt – so etwa über Symphonie- und Oper-Orchestern MusikerInnen (ICSOM) aus dem Jahr 1986 – dass muskuläre Dysbalancen und muskuloskeletale Schmerzen in dieser Region sehr häufig vorkommen.43 40 Zitiert nach Berhard Riebls Lehrveranstaltung „Atempysiologie für Bläser“ 41 Zitiert nach Vorträgen von Dr. Hartmut Puls und PT Alexandra Türk-Espitalier 42 Zitiert nach Berhard Riebls Lehrveranstaltung „Atempysiologie für Bläser“ 43 Norris (1997), S. 39f. 22 Hier bieten sich Therapiemöglichkeiten an, die folgendermaßen aussehen könnten:44 • Dehnungs- und Streckungsübungen für Musculus iliopsoas, Kniesehnen und anderen verkürzten Muskeln • Krafttraining sowie Übungen zur besseren Beweglichkeit der Wirbelsäulenmuskulatur • Stärkung von Zwerchfell, der Bauchmuskulatur und anderen geschwächten Muskeln 44 Zitiert nach Berhard Riebls Lehrveranstaltung „Musikpysiologie“ 23 3.2. Nervenerkrankungen Lokale Kompressionen eines Nervs zählen bei MusikerInnen zu den häufigen Erkrankungen. Die wichtigsten Probleme dieser Art sind Nervenkompressionen im Finger, Karpaltunnelsyndrom und Sulcus ulnaris-Syndrom. Elektrodiagnostisch ist es leicht möglich, die eingeklemmte Stelle zu finden. Bei dieser Untersuchungsmethode wird die Nervenleitgeschwindigkeit gemessen. Dadurch kann schnell und zuverlässig eine Diagnose abgegeben werden. 3.2.1. Nervenkompressionen im Finger Eine Nervenkompression im Bereich der Finger tritt bei QuerflötistInnen am häufigsten am Zeigefinger der linken Hand auf. Die Therapiemöglichkeiten bei Nervenkompressionen könnten wie folgt aussehen: 45 • Reduktion der Übe- bzw. Spieldauer in Abhängigkeit von der Schwere des physischen Leids und der Schmerzen • In Ruhephasen ist die Benutzung von beweglichen Orthesen, also von medizinischen Schienen, die Flexionen nur bis 90 Grad erlauben, sehr empfehlenswert • Entzündungshemmende Medikamente • Vermeidung von Extension und/oder Flexion des Handgelenks • Behandlung mit Ultraschall (oft gepulst), mit oder ohne Einbringung von Medikamenten (Phonophorese) • Iontophorese • Laser 3.2.2. Sulcus ulnaris-Syndrom Das Sulcus ulnaris-Syndrom (oder Kubitaltunnelsyndrom) ist ein Engpass-Syndrom, bei dem es zur Kompression des Nervs im Bereich des Ellbogens kommt. Dieses Syndrom tritt vor allem bei jenen MusikerInnen auf, die den Ellbogen besonders stark 45 Vgl. Norris (1997), S. 15, S. 20 und Berhard Riebl, mündliche Kommunikation. 24 beugen müssen. Das sind unter anderem CellistInnen und KontrabassistInnen (linker Ellbogen), und die rechten Ellbögen von Piccolo-SpielerInnen.46 Am Ellbogen (lat. cubitus) verläuft der Nervus ulnaris durch eine enge Röhre, den so genannten Kubitaltunnel, der zwischen einer Rinne, einem Band und einer Sehnenplatte liegt. Die Rinne (Sulcus nervi ulnaris) bildet die seitliche Wand des Tunnels, in welchem der Nervus ulnaris verläuft. Sie befindet sich an der Rückseite des inneren Knochenvorsprungs (Epicondylus medialis), der den Ansatz für den Muskel darstellt.47 Symptome sind vor allem: • Schmerzen auf der Ulnarseite des Arms (also auf der Seite des kleinen Fingers) • Taubheitsgefühl • Empfindungsstörung • Rückgang des Muskelgewebes, speziell der kleinen Muskeln zwischen den Mittelhandknochen (Musculi interossei), • Verformung des kleinen Fingers und Veränderungen des Nagels48 • Schmerzgefühl wie „stechende Nadeln“ in der Handfläche sowie durch den Meridian des kleinen Fingers49 Therapien des Sulcus ulnaris-Syndrom könnten folgendermaßen aussehen:50 • Kältepackungen auf die betroffenen Stellen legen (mehrmals täglich circa zehn Minuten lang) • Entzündungshemmende Medikamente bzw. Cremen auf Salizylsäure-Basis • B6 sowie B-Komplex-Vitaminpräparate • Medizinische Orthesen, die Bewegungen in Richtung volle Extension erlauben, Bewegung in Richtung voller Flexion verhindern. 46 Norris (1997), S. 53 47 MedizInfo Portal Jürgen Wehner, http://www.medizinfo.de/orthopaedie/engpass/kubitaltunnelsyndrom.shtml (26.09.2008) 48 A.a.O. 49 Norris (1997), S. 54 50 A.a.O., S. 56f. 25 • Iontophorese • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Laser 3.2.3. Karpaltunnelsyndrom Das Karpaltunnelsyndrom ist ein Kompressionssyndrom des Nervus medianus im Bereich der Handwurzel.51 Der Mittelhandnerv wird dabei im Bereich des Handgelenks oder des Handballens eingeklemmt, und man spürt einen Schmerz beim Händeschütteln sowie eine Veränderung beim kontrollierten Handgriff. Die Feinmotorik der betroffenen MusikerInnen ist beeinträchtigt. Am stärksten zeigt sich das Syndrom an Mittelfinger, Zeigefinger, Ringfinger und Daumen. Es kann sich sogar in den Unterarm und bis ins Schultergelenk ausbreiten. Betroffene erleben das Syndrom als Verlust der Handkompetenz, und es bereitet Schwierigkeiten, wenn man mit kleinen Objekten arbeiten muss. Für acht bis zehn Prozent der Bevölkerung besteht das Risiko, ein Karpaltunnelsyndrom zu bekommen.52 Frauen sind dabei zwei- bis dreimal öfter betroffen als Männer.53 Symptome sind unter anderem Schmerzen besonders in der Nacht (!), muskuläre Atrophie eines Teils des Daumenballens, Stumpfheit und/oder Stechen. Die Ursache sind enge anatomische Verhältnisse im Karpaltunnel, verstärkt durch dauernde Handgelenksflexion. Die so genannte Gelbermann-Studie aus dem Jahr 1981 zeigte, dass der Druck auf den Nervus medianus im Handgelenk ausgeprägter ist, wenn Flexion oder Extension des Handgelenks in Richtung 90 Grad geht. Bei FlötistInnen passiert dies sehr häufig im linken Handgelenk, besonders wenn man auf einer so genannten Inline-Querflöte spielt. Dabei wird der Nervus medianus im engen Karpaltunnel gedrückt.54 51 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Karpaltunnelsyndrom (26.09.2008) 52 Vgl. Vita, Nr. 173, 15. Jahrgang, S. 38f. 53 In der Abteilung für Handchirurgie am St. Josef Krankenhaus Kupferdreh (Chefarzt: Dr. med. Kurt Steffens) beträgt das Verhältnis an Karpaltunnelsyndrom Erkrankten zwischen Frauen und Männern sogar fünf zu eins; vgl. http://www.handerkrankungen.de/Karpaltunnelsyndrom/ (26.09.2008) 54 Norris (1997), S. 61 26 Das Karpaltunnelsyndrom wurde früher neurologisch mit Palpation sowie schlagend am mittleren Nerv (Nervus medianus) der Hand diagnostiziert. Dabei kommt es zur Empfindung von Schmerzen und/oder zur Empfindung eines elektrischen Schocks /Stromschlags in Richtung Handgelenk und Daumen bis Mittelfinger. Dieser „eingebildete“ Stromschlag ist als so genanntes Tinnel- Zeichen bekannt. Heute wird das Syndrom mit Hilfe der ENG (Elektroneurographie) die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) diagnostiziert, die entsprechende Rückschlüsse zulässt.55 Eine Kompression des Mittelhandnerven kann aber auch gleichzeitig an anderen Stellen passieren (z.B. im Bereich der Halswirbelsäule oder im thoracic outlet Bereich). Das wird in der Fachliteratur „Double-crash“ genannt.56 Die Therapiemöglichkeiten für dieses Syndrom könnten folgendermaßen aussehen:57 • Kältepackungen (mehrmals täglich rund zehn Minuten) • Entzündungshemmende Medikamente, nur in der akuten Phase der Krankheit • 200 mg Vitamin B658 sowie B-Komplex-Vitaminpräparate • Cremen basierend auf Salizylsäure • Iontophorese • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Laser • Medizinische Orthese für das Handgelenk. Das Handgelenk sollte in der so genannten Null-Stellung fixiert werden. Dabei muss einerseits kompakt sein, zugleich sollten die Fingern frei bewegt werden können. Die medizinische Orthese sollte immer in Nacht getragen werden, um mögliche ungewollte schmerzhafte Bewegungen zu vermeiden. Norris meint, dass die Orthese auch am Tag zu tragen sei, aber ab und zu abgenommen werden sollte, damit leichte Finger- und Handgelenkübungen praktiziert werden können, um so Verhärtungen zu vermeiden.59 55 Homepage von Dr. med. Ingo Pfeiffer, Dr. med. Maximilian Lederer, Dr. med. Marita Ant (2007). URL: http://www.onc-duesseldorf.de/nlg.htm (27.09.2008) 56 Norris (1997), S. 63 57 Vgl. Norris (1997): S. 63ff. und Bernhard Riebl (mündliche Kommunikation) 58 Norris (1997), S. 65 59 A.a.O. S. 64 27 • Wenn alle oben genannten physikalischen Anwendungen nicht helfen, wird eine konventionelle oder endoskopische Operation nötig. Wichtig ist, dass die Hand nach der Operation mindestens vier bis sechs Wochen geschont werden muss. Die betroffene Hand sollte in weiterer Folge bis zu sechs Monate nicht für anstrengende Arbeiten eingesetzt werden. 28 3.3. Sehnen- und Gelenkserkrankungen Sehnen- und Gelenkserkrankungen treten am häufigsten rund um das Handgelenk auf. Sie sind so häufig, dass etwa die Sehnenscheidenentzündung bzw. Tendovaginitis mittlerweile als Berufskrankheit anerkannt ist. Zu den am häufigsten betroffenen Gruppen zählen neben MusikerInnen (PianistInnen, GitarristInnen usw.), Schreibkräfte aber auch MasseurInnen und PhysiotherapeutInnen.60 3.3.1.Tendovaginitis Als Tendovaginitis wird die Entzündung der Sehnenscheide bezeichnet. Am häufigsten sind die Sehnen des Handgelenks betroffen, jedoch können die Beschwerden auch an jeder anderen Sehne auftreten, die in einer Sehnenscheide verläuft. Typisch für die akute Entzündung ist ein Druckschmerz entlang des Sehnen- und Muskelverlaufs. Andere Zeichen für eine Tendovaginitis sind Überwärmungen bzw. Rötungen. Chronischen Formen der Krankheit machen sich zum Teil nur durch knotige Verdickungen der betroffenen Sehne bemerkbar. Mitunter kann es sogar zu schmerzhaftem „Knirschen“ und Reiben der Sehne kommen. Dadurch kann es (in Verbindung mit engen Verhältnissen im Halteapparat der Fingerbeugersehnen, dem so genannten Ringband) zum Phänomen der „schnellenden Finger“ (Tendovaginitis stenosans) kommen: Dabei steckt die verdickte Sehne zunächst in der Sehnenscheide fest. Bei stärkerem Muskelzug gleitet sie dann plötzlich aus der Verengung heraus. Eine erste Reaktion bei Verdacht auf eine Sehnenscheidenentzündung sollten Ruhephasen und Erholung sein. Die Übungszeiten sollten zwischen zehn Minuten bis maximal zwei Stunden täglich (mit Pausen) betragen. Falls beim Üben dennoch Schmerzen auftreten, sollten MusikerInnen gar nicht spielen. Von einer schnellen Zunahme der Übungszeiten ist abzuraten, weil Rückfälle sehr oft auftreten. Falls die Schmerzen auch bei „normalen Aktivitäten“ zu spüren sind, sollte man eine medizinische Orthese über die Länge der ganzen Hand tragen. 60 Homepage (2008). URL: http://www.onmeda.de/krankheiten/tendovaginitis.html?p=2 (27.09.2008) 29 Dabei empfiehlt es sich, die Orthese über den Tag ein paar Mal zu entfernen, um Dehnungsübungen für Finger und Handgelenk zu praktizieren, um Verhärtungen oder Verschlechterungen zu vermeiden. 61 Es ist zudem sehr empfehlenswert, ein mentales Übungsprogramm zu erstellen: „Mind-mapping“ in Form von Musikanalysen sowie Trockenübungen. Das sind Übungen, die man ohne Instrument machen kann, um so während der Phasen mit Schmerzen dennoch Fortschritte zu erzielen. Weitere geläufige medizinische Behandlungsformen sind:62 • Kältepackungen (mehrmals täglich zirka zehn Minuten) • Entzündungshemmende Medikamente • Cremen auf Salizylsäure Basis • Leichte Dehnungsübungen • Ultraschall • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Iontophorese • Laser • eventuell Infiltrationen • Topfen-Packungen 3.3.2. Tendovaginitis stenosans de Quervain Tendovaginitis stenosans de Quervain beschreibt eine Sonderform der Sehnenscheidenentzündung, welche die Daumensehnen betrifft und Schmerzen an der Daumenseite des Handgelenks verursacht. Die Tendinitis de Quervain wurde nach dem Schweizer Arzt Fritz de Quervain (1868–1940) benannt, der die Krankheit zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben hat. Die Krankheit kommt spezifisch in der rechten Hand von StreicherInnen (also der Bogenhand insbesondere von GeigerInnen und BratschistInnen) sowie der rechten Hand von FlötistInnen, sowie bei PianistenInnen und GitarristInnen vor. Auch im „normalen“ Leben kann 61 62 Norris (1997), S. 70 Neben den medizinischen „Standards“ kommen die Vorschläge von Norris (1997): S. 22 und Bernhard Riebl (mündliche Kommunikation) 30 Tendovaginitis stenosans de Quervain auftreten: etwa bei Müttern, die ihre Babys oft hochnehmen und tragen. Abb. 1: Anatomie des rechten Handgelenks63 Tendovaginitis stenosans de Quervain ist leicht zu diagnostizieren. Der Arzt Harry Finkelstein hat einen einfachen Test zur Bestimmung der Sehnenscheidenentzündung an der Basis des Daumens entwickelt (FinkelsteinTest): Man zieht den abgewinkelten Daumen in der Fauststellung nach unten. Das normale Gefühl ist ein leicht ziehendes Gefühl. Falls dabei aber Symptome wie Schmerz, Stechen oder Ausstrahlung auftreten, ist der Finkelstein-Test positiv. Abb. 2: Der Finkelstein-Test 64 Als Therapie sind unter anderem folgende Maßnahmen angeraten:65 • Entzündungshemmende Medikamente • Iontophorese • Phonophorese (gepulster Ultraschall) 63 nach Norris (1997), S. 69; Podnar (2004), S.18 64 Nach Norris (1997), S. 71; Podnar (2004), S.19 65 Vgl. Norris (1997), S. 16 und 71f. sowie Bernhard Riebl (mündliche Kommunikation) 31 • Immobilisierung von Anfang des Daumens bis zur Hälfte des Unterarms, die ein paar Mal am Tag unterbrochen werden muss • Leichte Dehnungsübungen • Kraftübungen mit einem Minisoftball • Kortison-Injektionen 3.3.3. Epicondylitis Epicondylitis ist eine relativ häufige Erkrankung, die bei SportlerInnen, MusikerInnen, SekretärInnen und Hausfrauen relativ stark verbreitet ist. Es kommt dabei zu schmerzhaften entzündlichen oder degenerativen Veränderungen mit Mikroeinrissen von Sehnenansätzen und/oder jenen Muskeln des Unterarms, die dem distalen Teil des Oberarmknochens entspringen. Diese Veränderungen sind an der radialen oder auch der ulnaren Seite des Arms möglich, also auf der Daumenseite bzw. jener des kleinen Fingers. Die bekannteste Variation dieser Erkrankung ist Epicondylitis radialis humeri, allgemein bekannter als Tennisarm bzw. genauer: Tennisellbogen. Diese Form macht sich durch schmerzhafte Einrisse der Sehnenansätze am äußeren Epikondylus des Oberarmknochens bemerkbar (Strecker des Handgelenks und der Finger). Epicondylitis ulnaris humeri wiederum ist als Golferellbogen bekannt. Das sind schmerzhafte Einrisse der Sehnenansätze, die am Epikondylus Oberarmknochens spürbar sind (Beuger des Handgelenks und der Finger). des 66 Symptome dafür sind ausstrahlende, ziehende Schmerzen im ganzen Unterarm sowie Druckschmerzen an den betroffenen Muskeln. Die Symptome werden verstärkt bei Belastung gespürt, danach auch in „normalen“ Situationen. Als die wirkungsvollsten Therapiemöglichkeiten für Epicondylitis-Erkrankungen gelten die folgenden:67 • Belastungspause(n) • Entzündungshemmende Medikamente 66 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Epicondylitis (26.09.2008) 67 Norris (1997): S. 16 und Bernhard Riebl (mündliche Kommunikation) 32 • Leichte Dehnungsübungen und Aushängen an der Reckstange • Friktionsmassage der ansetzenden Muskel • Iontophorese • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Laser • Kortison-Injektionen Epicondylitis ist in den meisten Fällen eine so genannte selbst limitierende Erkrankung. Nach zirka einem Jahr sind 90 bis 95 Prozent der PatientInnen mit oder ohne Therapie wieder beschwerdefrei.68 Wenn keine dauerhafte Besserung erzielt werden kann, kann eine Operation erforderlich sein.69 3.3.4. Fokale Dystonie (Musikerkrampf) Die fokale Dystonie (dys = fehlreguliert, tonus = Spannung, wörtlich übersetzt: „auf bestimmte Muskelgruppen beschränkte Fehlanspannung)70 gehört zu den neurologischen Erkrankungen und äußert sich in nicht beeinflussbaren und oft lang anhaltenden Muskelkontraktionen. Fokale Dystonie ist eine schwerwiegende Krankheit, die bei etwa einem Prozent der MusikerInnen vorkommt71 – meist nach sehr intensivem, forciertem und langem Üben. Es wird auch Musikerkrampf oder Beschäftigungsneurose genannt. Dies bezeichnet jedoch eine spezielle Form der Erkrankung, die Aktionsspezifische Fokale Dystonie (auch Gliederdystonie), zu denen unter anderem auch der Schreibkrampf zählt.72 Fokale Dystonie ist der Verlust der motorischen 73 voraussetzen. Kontrolle für Bewegungen, die große Geschicklichkeit Die Störung ist lokal und betrifft meistens Körperregionen, die unter äußerster Präzision komplexe Bewegungen ausführen. Der Musikerkrampf ist dadurch gekennzeichnet, dass zwar der Bewegungsapparat im Allgemeinen intakt ist, aber beim Ausführen einer erlernten Bewegung wie etwa 68 http://de.wikipedia.org/wiki/Epicondylitis (26.09.2008) 69 A.a.O 70 http://www.musikermedizin.net/literat/Fokale%20Dystonie.pdf (03.04.2009) 71 Jabusch und Altenmüller (2006), S. 267 72 http://de.wikipedia.org/wiki/Fokale_Dystonie (02.04.2009) 73 Norris (1997), S. 89 33 die Anschlagsbewegung an der Gitarre oder dem Klavier, der Finger oder die Hand nicht in der Lage sind, diese Bewegung zu vollführen, während die gleiche Bewegung ohne Instrument oder in einem anderen Kontext oft völlig störungsfrei verläuft.74 Der Musikerkrampf tritt bei komplexen, lang geübten Bewegungsfolgen am Musikinstrument auf. Die Symptomatik beginnt meist schleichend. Die betroffenen MusikerInnen bescheiben das Leiden als körperfremd empfundenen motorischen Kontrollverlust. 75 Als Ursache wird eine Störung der unbewussten Regulation der Motorik im Bereich der Basalganglien im Gehirn vermutet. Bei (Blech-)BläserInnen etwa wird die LippenMund- Muskulatur nach einiger Zeit nur mehr schlecht koordinierbar. Als Therapie schlagen Jabusch und Altenmüller Trihexyphenidyl, Botulinum-ToxinInjektionen, eine Verbesserung der Ergonomie des Instruments, das Wieder-Erlernen von Bewegungabläufen und „nicht spezifische“ physikalische Übungen (auch Feldenkrais) vor – Maßnahmen, die sich bei vielen PatientInnen als hilfreich erwiesen haben.76 3.3.5. Zwischensehnenschmerz Die Sehnen des Flexors vom vierten und fünften Finger bzw. des dritten und vierten Fingers können an unterschiedlichen Orten des Handgelenks und/oder Unterarmes zusammengewachsen sein. Das ist eine häufige anatomische Variante: Das Journal of Hand Surgery schreibt, dass 45 Prozent77 bzw. 40 Prozent78 der gesamten Population solche anatomische Verhältnisse haben. Nach Norris handelt es sich dabei um eine fehlerhafte Trennung der Sehnen in der Embryonalzeit. 74 http://de.wikipedia.org/wiki/Fokale_Dystonie (02.04.2009) 75 http://www.musikermedizin.net/literat/Fokale%20Dystonie.pdf 76 Vgl. Jabusch und Altenmüller (2006), S. 273-278 77 Norris (1997), S. 85 78 Lahme et al. (2000), S. 10 34 Abb. 3: Zwischen dem vierten und fünften Finger zusammengewachsene Sehnen 79 Beim Üben spreizen viele MusikerInnen die betroffenen Finger, und ein mechanischer Stress und Schmerz entsteht. Bei StreicherInnen und GitarristenInnen äußern sich Bewegungseinschränkungen bis hin zum Schmerz besonders oft aufgrund der Verwendung von Doppelgriffen. Auch in diesem Fall gibt es einen kleinen klinischen Test zur Diagnose. Falls sich der kleine Finger bei Extension des Zeigefingers, Mittelfingers sowie Ringfingers nicht ganz beugen lässt, kann eine Anomalie bei den Beugesehnen festgestellt werden. Abb. 4: Test auf selbständige Sehne des Flexors Abb. 5 a und b: Test für Zwischensehnen Therapiemöglichkeiten könnten 80 81 im Fall von solchen Sehnenvarianten folgendermaßen aussehen:82 • Reduktion der Übungszeit • Kältepackungen (mehrmals täglich rund zehn Minuten) • Entzündungshemmende Medikamente • Iontophorese 79 Norris (1997), S. 86 80 Norris (1997), S. 87 81 A.a.O. 82 Neben den medizinischen „Standards“ kommen die Vorschläge von Norris (1997): S. 86 und Bernhard Riebl (mündliche Kommunikation) 35 • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Laser • Massage (kann auch alleine durchgeführt werden) • Bewegungsübungen wie Gleiten der Finger auf dem Oberschenkel83 Falls eine Therapie nicht hilft, ist es möglich, chirurgisch eine Trennung herbeizuführen. Auch ein Wechsel des Repertoires oder letztendlich des Instruments ist in Erwägung zu ziehen. 3.3.6. Gelenksarthritis (des Fingers und des Ellbogens) Die Arthritis ist eine entzündliche Gelenkserkrankung, die verschiedene Auslöser haben kann. Grundsätzlich unterscheidet man bakterielle, rheumatische, mit dem Stoffwechsel zusammenhängende und mechanische Ursachen. Bakterielle Arthritis ist eine entzündliche Gelenkserkrankung, bei der durch Verletzung oder durch den Blutweg Bakterien in das Gelenk gelangen. Die Keime der Bakterien sind nachweisbar. Bei rheumatischer Arthritis handelt sich um einen Autoimmunprozess. Dabei identifiziert der Körper seine eigenen Substanzen als „fremd“, wodurch das Abwehrsystem aktiviert wird. MusikerInnen können selbstverständlich auch all die genannten Arthritis-Formen entwickeln. Was bei ihnen aber besonders häufig auftritt, ist eine „aktivierte Arthrose“ oder Osteoarthritis. Dabei kommt es zu einer Gelenkentzündung durch mechanische Überlastung. Wiederholende Bewegungen über die Jahre können zu einer Entzündung des Knorpels führen, was Schmerzen und Schwellungen des betroffenen Gelenks nach sich zieht. Ein Verlust von Knorpelmasse führt in weiterer Folge zu einer begrenzten Beweglichkeit des Gelenks. Die entsprechenden Symptome sind: Gelenkssteifigkeit, eingeschränkte Bewegungen, Schwellungen sowie Fingerknacken.84 83 Vgl. Berhard Riebl in seiner Lehrveranstaltung „Atemphysiologie für Bläser“ 84 http://www.medicinenet.com/osteoarthritis/article.htm (11.11.2008) 36 Therapiemöglichkeiten im Fall der Osteoarthritis sind physiotherapeutischer Standard und sehen wie folgt aus: • Leichte Dehnung der Muskulatur • Kältepackungen (mehrmals täglich rund zehn Minuten lang) • Entzündungshemmende Medikamente • Iontophorese • Phonophorese (gepulster Ultraschall) • Laser • TENS-Schmerztherapie mit elektrischen Impulsen (TENS steht für Transkutane Elektro-Nerven-Stimulation) • Akupunktur • Physiotherapie • Stresskontrolle • Kortison-Injektionen • Operation 3.3.7. Periarthritis humeroscapularis Periarthritis humeroscapularis ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Störungen im Bereich der Schulter und des Schultergürtels. Häufige Ursache ist das so genannte Supraspinatus-Sehnen-Syndrom, das durch eine schmerzhafte Einschränkung der Bewegung beim Hochheben, Drehen und Abspreizen des Arms charakterisiert ist. Die Ursache dieser Erkrankung liegt darin, dass die Sehne des Muskulus spinatus durch die knöcherne Enge unter dem Schulterdach oder durch Überlastung überreizt wird, weiters kann es zu einer Reizung des dazwischen liegenden Schleimbeutels kommen, was zu Schmerzen und danach zu Bewegungseinschränkung führt. Manchmal formieren sich im Bereich der Schulter und des Schultergürtels so 37 genannte Hydroxylapatit-Kristalle, die Bewegungsmuster einschränken können und im Extremfall sogar bis zur Schultersteife führen.85 Als Therapien bieten sich für Beschwerden dieser Art die folgenden Maßnahmen an:86 • Belastungspause(n) • Entzündungshemmende Medikamente (kortisonfrei) • Physiotherapie zur Wiederherstellung der Beweglichkeit • Leichte Dehnungsübungen und Aushängen an der Reckstange • Tragen einer kleines Kissens unterhalb der Schulterachse, um eine totale Adduktion des Arms zu vermindern oder ganz zu verhindern • in rund 10 bis 15 Prozent der Fälle ist eine Operation nötig, um den verengten Kanal zu erweitern 3.4. Überlastungssyndrom Im Folgenden möchte ich mich nach den typischen Erkrankungen von Muskeln, Nerven und Gelenken noch im Detail einem Syndrom widmen, das in gewisser Weise noch „vor“ den manifesten Schädigungen liegt, aber unmittelbar dazu führen kann. Ein so genanntes Overuse- oder Überlastungssyndrom entwickelt sich, wenn MusikerInnen zu lange spielen und zu wenig Pausen machen. Ein Muskel oder eine Sehne kann dabei „over-used“ bzw. „over-stretched“ werden, also überlastet oder überdehnt werden. Das Überlastungs- oder Überbeanspruchungssyndrom ist ein Krankheitszustand, der sich aufgrund der Ausweitung der Übungs-(Spiel-)Zeit bzw. Veränderung der Spieltechnik einstellt. Am Anfang des Overuse Syndroms liegen noch keine strukturellen Schädigungen des Gewebes vor. Doch in den Mitochondrien (den kleinen Kraftwerke in den Zellen, ovalen Körnchen im Zellplasma, die wichtig für 85 Langer (2006). URL: http://www.rheuma-online.de/a-z/s/supraspinatus-sehnen-syndrom.html (12.11.2008) Langer (2006). URL: http://www.rheuma-online.de/a-z/p/periarthritis-humeroscapularis.html (12.11.2008) 86 Norris (1997), S. 48 und eigene Therapieerfahrungen. 38 Atmung und Stoffwechsel der Zelle sind) findet man (gelegentlich) 87 elektronenmikroskopisch Veränderungenen. Eine medizinische Studie des Medical Center for Performing Artist der Cleveland Clinic Foundation, die in von Jänner 1984 bis Juni 1987 durchgeführt wurde, zeigt, dass Probleme, die eine Überbeanspruchung verursachen, bei Musikerinnen besonders oft vorkommen. Außerdem fanden die AutorInnen heraus, dass die rechte Hand bei den meisten MusikerInnen häufiger betroffen war.88 3.4.1. Ursachen und Auslöser für das Überlastungssyndrom Wie und wo kommt es zu Manifestationen des Overuse-Syndroms? Grundsätzlich gilt, dass unvorbereitete, unaufgewärmte, ungeschmeidige Sehnen, Muskel, Bänder und Gelenke die Entstehung berufsbedingter Erkrankungen fördern. Die Muskel, die am meisten betroffen Nackenmuskulatur, die sind, sind jene der Schultermuskulatur, Halswirbelsäule, der zudem Unterarmstrecker, die der Unterarmbeuger, der Bizepssehnenansatz, die Processus styloideus radii et ulnae (handseitigen Fortsätze von Elle und Speiche). 89 Dazu kommen – insbesondere bei MusikerInnen – zahlreiche Prädispositionen für das Überlastungssyndrom. Zuerst wäre da die Körperhaltung zu nennen. Eine falsche Haltung kann dazu führen, dass Muskeln durch das Ungleichgewicht beim Musizieren geschwächt oder zu stark beansprucht werden. Genau das macht sie aber auch empfindlicher für Überlastungen. Dazu kommen anatomische Unterschiede bzw. anatomische Anomalien wie zum Beispiel die folgenden: • Abnormale Merkmale des Muskels • Halsrippe, die aus dem siebenten Halswirbel hinauswächst • Enger und kleiner Karpaltunnel • Extrasehne(n) neben dem Daumenanfang • Sehnen des Flexors des vierten und fünften bzw. dritten und vierten Fingers können an unterschiedlichen Orten des Handgelenks zusammengewachsen sein, vgl. Kap. 3.3.5. 87 Lahme et al. (2000), S. 45 88 Goodman und Staz (1989), S. 9-14 89 Lahme et al. (2000), S. 45 39 Aber auch bestimmte Aktivitäten wie zum Beispiel das Tippen auf einer Tastatur, Stricken, Putzen oder Bügeln können bei entsprechender Intensität ein Überlastungssyndrom provozieren. Deshalb ist es in jedem Fall wichtig, genügend lange Pausen zu machen sowie die Intensität nur langsam zu steigern. Wie wir bereits im Kapitel zwei gezeigt haben und anhand zahlreicher zitierter Studien belegen konnten, entwickeln junge Musikerinnen öfter Überlastungssyndrome als ihren männlichen Kollegen. Der Grund dafür ist nicht ganz geklärt. Eine Rolle spielen aber sicher der unterschiedliche Körperbau von Männern und Frauen und die spezifischen Unterschiede in Kraft, Ausdauer und Schmerzempfindlichkeit.90 3.4.2. Dispositionen bei QuerflötistInnen Im Folgenden möchte ich noch im Detail auf die besonderen Dispositionen bei QuerflötistInnen für das Überlastungssyndrom eingehen. Diese Dispositionen beginnen beim Instrument und seiner Eigenschaften: Wenn eine Querflöte nicht optimal eingestellt bzw. angepasst ist oder sie nicht der Bedürfnissen des Musikers entspricht, kann das neben physischen Belastungen eine zusätzliche psychische bei der Tonproduktion bedeuten. Bei der Querflöte gibt es verschiedene Variationen im Bau wie zum Beispiel die EMechanik, die Inline- oder die Offset-Querflöte, aber etwa auch im Hinblick auf die Polsterdichtung. Bei undichten Klappen etwa muss man mehr Druck erzeugen, der wiederum mit viel mehr Spannung in der Halsmuskulatur einhergehen kann. Wenn man ein neues Instrument oder ein Leihinstrument zu spielen beginnt, sollten daher Übe- und Spielzeit drastisch reduziert und erst allmählich wieder verlängert werden, um ein gutes Resultat ohne Schmerzen zu bekommen. Es gibt aber auch noch weitere Faktoren, die zu einem Überlastungssyndrom beitragen oder es auslösen können – und die sich im Normalfall mit etwas Verstand und wenig Anstrengung leicht vermeiden ließen, wie etwa falsche Gewohnheiten beim Üben. Denn viele MusikerInnen und zumal Studierende im Instrumentalfach üben meistens ohne aufzuwärmen, ohne Konzentration, ohne Pausen und ohne Cool-Down-Übungen, was (natürlich) leichter zu Überlastungen führt. So etwa sind Muskeln, die nicht gedehnt und kräftig sind, auch empfindlicher für Verletzungen und Überlastungen. 90 Vgl. Engquist et al. (2004), S. 55; Norris (1997), S. 12 40 Ein anderer Auslöser kann übermäßiges Üben wegen einer bevorstehenden Prüfung, eines Konzerts, oder eines Wettbewerb sein. Aufgrund des psychologischen Drucks vor solchen Ereignissen üben MusikerInnen oft viel mehr als gewöhnlich. In Kombination mit falschen Gewohnheiten und/oder falscher Spieltechnik beim Üben kann es besonders häufig zu Schmerzen und Überlastungen kommen. Oft genug spielen FlötistInnen grundsätzlich mit viel zu viel Muskelkraft, was die Muskeln zu sehr zur Arbeit zwingt. Das wiederum kann zum Hypertonus sowie metabolischen Störungen im Muskel selbst führen. Das kann im Prinzip durch eine gute physische Kondition abgefangen werden, über die MusikerInnen nach Möglichkeit verfügen sollten. Ein weiterer Faktor, der vor allem OrchestermusikerInnen trifft, die oft in TheaterOrchestern spielen sind Augenprobleme aufgrund des schlechten Lichts. Das Spielen in Kirchen oder im Freien führt auf Grund der Kälte zu einer schlechteren Gleitfähigkeit im Bindegewebe, insbesondere in den Sehnenscheiden. Weitere beeinträchtigende Faktoren sind Notenpult, Raumklima, beengter Raum Sitzmöbel. Viele Sitzmöbel sind (überhaupt) nicht nach sowie ergonomischen Gesichtspunkten gefertigt oder entworfen. Ein anderer Faktor sind Probleme bei der Rehabilitation und der Behandlung bereits eingetretener Verletzungen. Krankheiten, die nicht völlig ausgeheilt sind, sind oft genug und besonders leicht Ursachen für erneute Schmerzen und Verletzungen. Eine Therapie sollte daher immer bis zum Ende durchgezogen werden, um zu verhindern dass die Schmerzen wieder auftreten oder gar chronisch werden. 3.4.3. Schmerzsymptome bei Überlastung Es ist besser eine Krankheit zu verhindern, als (sie) später heilen zu müssen. 91 Symptome wie Schmerzen, Verspannungen, entzündliche Prozesse, Unwohlsein wirken gefährlich und bedrohlich. Betroffene reagieren darauf oft mit Angst. Es ist ein „normaler“ Hinweis, ein Zeichen des Körpers, dass er jetzt eine Grenze seiner 91 Kroatisches Sprichwort, meine Übersetzung, M.P. 41 Aktivität erreicht hat. In den meisten Fällen wird die Schmerzstelle geschwollen und empfindlich sein oder sich unbehaglich anfühlen. Nach Norris können die Symptome in fünf Kategorien eingeteilt werden:92 • Schmerzen nur an einer bestimmten Stelle und das nur während des Instrumentalspiels • Schmerzen an mehreren verschiedenen Stellen • Schmerzen, die länger andauern, auch wenn MusikerInnen nicht mehr spielen • Schmerzen begleiten auch einige andere tägliche Aktivitäten • Schmerzen sind Begleiter bei allen täglichen Aktivitäten Je früher man Symptome erkennt und etwas dagegen unternimmt, desto schneller wird eine dementsprechende Erholung folgen und desto erfolgreicher wird der Weg zurück zum Instrument und zum schmerzfreien Musizieren sein. Wir dürfen dabei aber auch nicht vergessen, dass Schmerz nicht nur individuell variabel, sondern auch je nach Geschlecht verschieden wahrgenommen wird. Es gibt freilich noch andere Typologien von Schmerzen, etwa Abstufungen von keinem Schmerz über Minimaler Schmerz (manchmal bzw. beständig), mäßiger und ernster Schmerz (auch wieder manchmal und beständig). Während der minimale Schmerz die Aktivität nicht stört, limitiert der mäßige Schmerz entweder die Belastungsdauer oder die Belastungsintensität oder beides, während der ernste Schmerz Aktivitäten auf allen Ebenen beschränkt.93 3.4.4. Therapeutische Ansätze Wie die bereits erwähnte Studie von Goodman und Staz bzw. des Medical Center for Performing Artists zeigt, wirken richtig angewendete therapeutische Programme bei Musikern mit Overuse-Sydrom im Normalfall sehr effektiv: Symptome werden rasch vermindert, und die Arbeitsproduktivität steigt.94 92 Norris (1997), S. 13 93 Bogner und Marn (2006), S. 18 und 25 94 Goodman und Shaz (1989), S. 9ff. 42 Wenn die Beschwerden schon aufgetreten sind, kann man sich von erfahrenen PhysiotherapeutInnen ein speziell auf die eigenen Probleme abgestimmtes Therapieprogramm zusammenstellen lassen. Bewährt hat sich dabei unter anderem die so genannte RICE-Therapie, wobei RICE ein Akronym ist, das für die vier englischen Begriffe „Rest“, „Ice“, „Compression“ und „Elevation“ steht. 95 Rest, deutsch: Rast, bedeutet nicht anderes, als dass alle musikalische Aktivitäten abgebrochen werden sollten. Ice bzw. Eis weist darauf hin, dass kühlende Packungen Schmerz und Anschwellung vermindern. Dabei sollte beachtet werden, dass die Eispackungen maximal 20 Minuten einen Bereich kühlen dürfen. Die Prozedur sollte bei Bedarf erst nach 60 Minuten wiederholt werden. Compression bzw. Kompression wiederum steht dafür, dass der verletzte Körperteil umwickelt wird – allerdings nicht zu fest, um weitere Schwellungen zu verhindern. Topfen bzw. Topfenpackungen haben sich dabei als probates Heilmittel herausgestellt. Elevation schließlich bedeutet Hochlagerung: Der verletzte Körperteil sollte (soweit wie möglich) oberhalb des Herzens positioniert werden, um Schwellungen zu vermindern. Darüber hinaus bieten sich im Fall des Überlastungssyndroms noch eine ganze Reihe von weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen an, die mir aus dem Physiotherapiestudium geläufig sind: • Evaluation der Funktionsfähigkeit • Relaxationstraining zur besseren Bewältigung der physischen und psychischen Stresszustände • Änderungen alltäglicher Bewegungsmuster • Einbauen von „Warm up“- und „Cool down“-Programmen in das Üben, um das Gewebe (langsam) für folgende Aktivitäten vorzubereiten • Bewegungstherapie zur Anhebung der Flexibilität, Ausdauer, Fingerfertigkeit, Geschichtlichkeit und Koordination 95 Northwest Orthopaedic Associate (2002). URL: http://www.nwortho.com/help/rice_therapy (02.08.2008) 43 3.5. Weitere typische Erkrankungen von MusikerInnen 3.5.1. Emotionaler Stress Psychische Belastungen gelten bei MusikerInnen als besonders großes Berufsrisiko. Perfektion und Virtuosität sind Hauptziele beim „Endprodukt“ des Musikers, während das Publikum zugleich den oft dahinter stehenden Druck, Stress und Angst nicht mitbekommen darf. Angst ist daher oft ein Musikerbegleiter, weil der dem Beruf eigene Zwang zur Perfektion krank machen kann und teilweise unmenschlich ist. Die Angst bei MusikerInnen hat alle möglichen Auswirkungen wie stark schwitzende Hände, Atemnot, Schlafstörungen, Depressionen und Angstzustände. Statt eines psychologisch hilfreichen Cool-Downs finden die Erholungsphasen oft genug im Restaurant mit und durch Alkoholkonsum statt. Da es oft sehr schwer ist, ohne Stress Musik zu erzeugen und der Druck immer mehr steigt, neigen viele Musiker zu solchem „Doping“ davor oder danach. Der britische Geiger Nigel Kennedy meinte kürzlich, Kokain und Haschisch seien in der klassischen Musik mindestens „so populär wie in allen Gesellschaftsschichten“.96 Drogen schienen im Musikgeschäft längst Alltag zu sein, wobei hier Drogen insbesondere in Gestalt von Tabletten- und Alkohol gemeint sind. Bei Tabletten geht es entweder um Psychopharmaka wie Antidepressiva oder Betablocker. Antidepressiva sind häufig in Gebrauch, diese machen aber normalerweise müde. Bei Betablockern wird die Herzfrequenz niedrig gehalten (Noradrenalinwirkung und Adrenalinwirkung werden gebremst) und so entsteht das Gefühl, die Ängste kontrollieren zu können. Betablocker sind auch bei niedriger Dosierung sehr wirksam.97 Das Gefährliche an Betablockern ist, dass sie zwar im Normalfall zu keiner physischen, aber sehr oft zu einer psychischen Abhängigkeit führen. Wenn man dann ohne Medikamente spielen soll, kann das einen Teufelskreis von Misserfolg, Selbstmitleid und Angst produzieren. Alkohol ist ebenfalls selbstverständlich 96 Vgl. Nagel (2008) 97 Nube (1991), S. 61ff. auch ein zur häufig verwendetes Abhängigkeit führen Mittel kann. gegen Da Angst, der Alkohol die 44 Reaktionsfähigkeit und Motorik beeinträchtig, kann ein Musiker in alkoholisiertem Zustand im Normalfall sicher nicht perfekt spielen.98 Im Falle besonders starker Angstzustände oder Lampenfieber ist unbedingt empfehlenswert, Hilfestellungen zu suchen und zum Beispiel eine Psychotherapie zu machen. 3.5.2. Andere Probleme (des Sehens, des Gehörs und der Haut) Sehschwierigkeiten kommen bei MusikerInnen sehr oft vor. Fast 60 Prozent der MusikerInnen einer Mainzer Studie beklagen sich neben „normalen SehErkrankungen“ über allzu stark blendendes Licht, schlechte Notenqualität, Zugluft, die sich negativ auf die Bindehaut auswirkt, und den ständig wechselnden Blick zwischen Notenpult und Dirigenten. Ein anderer Sinn, der bei MusikerInnen oft beeinträchtig ist, ist der Hörsinn. Fast 24 Prozent der MusikerInnen99 klagten über Irritationen, meist in Form eines Verlusts der Wahrnehmung hoher Frequenzen. Tinnitus ist ein anderes Problem, das nur selten angesprochen wird. Von Hauterkrankungen sind vergleichsweise oft StreicherInnen betroffen. 44,6 Prozent aller befragten GeigerInnen und BratschistenInnen gaben in einer Untersuchung an, Erfahrungen mit dem so genannten „Geigenfleck“ zu haben. Das ist eine ziemlich ernsthafte dermatologische Reaktion auf den Druck der Instrumente, die zu massiven, eitrigen, kraterartigen Veränderungen führen kann.100 98 Klöppel (2005), S. 153f. 99 A.a.O. 100 Blum (1994), S. 39 45 4. Haltungs- und Bewegungsprobleme von QuerflötistInnen Haltung ist Verhalten und verrät eine innere Befindlichkeit. Wie der Charakter einer Bewegung von der Vorstellung geprägt ist, so hat auch eine Körperhaltung immer mit einem inneren Bild zu tun.101 Eine schlechte Körperhaltung kann grundsätzlich zu vielen Probleme führen: Deformation oder Schädigung von Bindegewebe, Sehnen, Bändern und Knochen, die einem ungünstigeren Druck und Zug standhalten müssen. Die logische Folge ist eine Abnahme der Beweglichkeit und eine schnellere „Abnützung“ des Bewegungsapparates. Ein weiteres Problem ist die Entwicklung muskulärer Dysbalancen, wobei manche Muskel sich verkürzen, andere sich abschwächen und uns dadurch in einer suboptimalen Körperhaltung fixieren. Verbessern wir die Haltung, so arbeitet der gesamte Organismus effizienter. Der einfachste und direkteste Einstieg die Beweglichkeit zu verbessern, besteht darin, die Haltung zu optimieren. Es gibt keine Wundermittel. Nur die klare Entscheidung und der Wille des einzelnen Menschen, etwas zu verändern, werden auch hier zum Erfolg führen. 4.1. Theorie der Haltung Bei dem Titel „Theorie der Haltung“ erwartet man etwas anderes (biomechanisches), vielleicht wäre passender „allgemeine Gedanken zur Haltung“ o.ä. Es gibt keine richtige Haltung, wohl aber eine richtige Richtung.102 Haltung kommt vor Bewegung, und dazu braucht man guten Bodenkontakt, da dadurch neurophysiologisch betrachtet posturale Aufrichtungsreflexe ausgelöst werden, um der Schwerkraft zu widerstehen.103 Für MusikerInnen kann Haltung nicht ohne die Anpassung des Instrumentes sowie der Feinmotorik betrachtet werden. Verbale Erklärungen sind ein grobes Instrument, um die vielfältigen Sinneseindrücke und Zusammenhänge zu beschreiben, die für ein gutes Körpergefühl notwendig sind. 101 Vgl. Stockmann (1996), S. 22 102 Alexander-Technik-Flyer von Norma Espejel 103 Stockmann (1994), S. 208-216 46 Dieses Körpergefühl zu erlernen, bedeutet, sich selbst fühlen zu lernen, ja sich selbst kennen zu lernen. Eine schlechte Haltung kann sehr oft die Auswirkung von Unaufmerksamkeit, einer ungenauen Vorstellung von dem, was „richtig“ ist bzw. von „sich nicht bewusst gemachten“ Sinnesempfindungen sein. Die Haltung beeinflusst den Energiekreislauf des Körpers. Menschen mit einer schlechten Haltung (gekrümmter Rücken, eingefallene Brust, nach vorne hängender Kopf,...) brauchen bei allen Tätigkeiten im Leben mehr Energie. Sie müssen sich bei jeder Bewegung zusätzlich anstrengen. Bemühungen, die „perfekte“ Haltung einzunehmen und halten zu wollen, schränken andererseits aber auch die Bewegungsfreiheit und das natürliche Körpergefühl ein. Sich Mühe zu geben oder sich anzustrengen sind Befehle, die die linke Gehirnhälfte (jener Teil des Gehirns, der für Logistik, Analyse, Sprache und Begriffe zuständig ist)104 aktivieren und die ein homolaterales Bewegungsmuster zur Folge haben. Diese Art der Haltung bedeutet für den Körper Stress und versetzt ihn in einen „unzentrierten“ Zustand, in dem sich beide Gehirnhälften im Ungleichgewicht befinden. In den meisten Fällen gilt daher: Je geringer die Anstrengung, desto feiner die Empfindungen, desto besser das Resultat. Dieser Denkansatz sollte auf den ganzen Lernprozess am Instrument übertragen werden. 4.2. Von der Haltung zur Bewegung Wir denken, und wir denken über unser Denken. Unsere Gedanken haben eine Gefühlsdimension.105 Im Gehirn finden wir alle „Rezepte“ oder Programme der Bewegungen, die wir ausführen können. Diese Programme wurden alle gespeichert, als wir eine neue Bewegung lernten oder eine alte veränderten. Die Bewegungsqualität und Effizienz wurden dabei gleich mitgespeichert und hängen von der Klarheit der Vorstellung ab, die wir von einer Bewegung haben. Um eine Bewegung gut ausführen zu können, sollten wir deshalb ihre Elemente kennen. Einflüsse auf die Körperhaltung haben unter anderem: • physiologische Faktoren wie individuelle Körperproportionen 104 http//web.utanet.at/stanglyc/psychoblogger/2008/01/right-brain-vs-left-brain.html 105 Held (1994), S. 7 47 • Krankheiten, Verletzungen und Unfälle und daraus hervorgehend, Veränderungen in der Bewegung, um den verletzten Körperteil zu schützen bzw. Einschränkungen in der Bewegungsfähigkeit • Ernährung und ihr Einfluss auf Wachstum und Entwicklung • psychologische Faktoren • die Art der Möbel, die wir täglich benützen • das kulturelle Umfeld 4.3. Zur Körperarbeit von QuerflötistInnen Bei QuerflötistInnen gibt es viele Probleme, die durch die Haltung entstehen und die Gelenke, Muskeln und Nerven betreffen können. Vor allem das Halten der Querflöte ist anatomisch ungünstig. Deshalb dürfte sie unter den Blasinstrumenten die meisten körperlichen Beschwerden verursachen, ähnlich der Violine, mit der sie auch gemeinsam hat, dass die von den Ausübenden eine asymmetrische Körperhaltung verlangt.106 Ich gebe im Folgenden zunächst eine schematische Darstellung und dynamischstatischen Körperarbeit von QuerflötistInnen, ehe ich mich den eigentlichen Problemzonen bei den Muskeln, Gelenken und Nerven zuwende. Schematische Übersicht der Körperarbeit sieht wie folgendes aus: 107 Art der Tätigkeit Muskuläre Arbeit Aufrechter Stand bzw. Bauch (tiefe Muskulatur) Sitz Rücken Bein (alles statische Arbeit) Gewichtsausgleich Arme Schulter (alles statische Arbeit) 106 Wurz (1995), S. 87 107 Aus dem Workshop Physioprophylaxe für QuerflötistInnen bei PT Alexandra Türk-Espitalier, am 4. und 5. April 2007, Neuer Konzertsaal am Rennweg 8, 1030 Wien 48 Halten der Querflöte Fingermuskulatur (dynamische Arbeit) Rechter Daumen (statische muskuläre Arbeit) Fünfter Finger rechts (statische und dynamische Arbeit) Ausatmung (dynamische und koordinierte Arbeit) Art der Tätigkeit Gelenkstellung Aufrechter Stand bzw. Linksrotation Sitz nur Halswirbelsäule gesamte Wirbelsäule Gewichtsausgleich Schultergelenke Abduktion um 30 bis 60 Grad Halswirbelsäule leichte Seitneigung nach rechts Halten der Querflöte Linkes Handgelenk fast maximale Streckung Zeigefinger-Endgelenk links fast maximale Beugung eventuell linker Daumen maximale Beugung 4.4. Typische Haltungsprobleme von QuerflötistInnen Beide Hände müssen von QuerflötistInnen stark gegen die Schwerkraft angehoben werden. Die immer wiederholenden Bewegungs- und Haltemuster verursachen Verspannungen der Hals- und Schultermuskulatur bis zu Skoliosen (seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule) aufgrund der typischen Drehung der Halswirbelsäule nach links gemeinsam mit der Seitenneigung nach rechts. An der Wirbelsäule ergibt sich durch die Instrumenthaltung eine Asymmetrie. Die Rotationsstellung der 49 Wirbelsäule liegt in Höhe der Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule und der Lendenwirbelsäule. Der wesentliche Rotationsimpuls des Kopfes bewirkt eine Bandscheibenentlastung im Abschnitt der Halswirbelsäule.108 Abb. 6: Drehung und Neigung des Halswirbelsäule 109 Typische Folgen der Haltungsprobleme sind unter anderem: • Probleme im Bereich der Halswirbelsäule wegen lateralen Flexionen und Rotationen • Probleme mit dem linken Zeigefinger und dem rechten Daumen • Probleme mit Lippen- und Mundmuskulatur Muskulaturbereiche, die bei QuerflötistInnen besonders stark belastet werden, sind die Musculi rhomboidei (Rautenmuskeln) sowie von beiden Seiten Musculus trapezius (Trapezmuskel, Kapuzenmuskel oder Kappenmuskel), Musculus levator scapulae (Schulterblattheber) und Musculus serratus anterior (vorderer Sägezahnmuskel). Das Gewicht der Arme und der Querflöte müssen gleichsam vom Rumpf getragen, die Stellung des Schultergürtels muss vom Rumpf gehalten werden. Durch asymmetrische Gewichtsverteilung wird die linksseitige Rumpfmuskulatur und Musculus erector spinae (Rückenstrecker) stark beansprucht. Die Länge der Querflöte zwingt zur Kopfrotation, damit die Überlastungen im linken Schulterbereich verkleinert werden. Wenn die Querflöte parallel zum Boden gehalten wird, müssen die QuerflötistInnen keine Lateralflexion – also Seitenbiegung gemeinsam mit Seitwärtsneigung – durchführen, sondern nur eine leichte 108 Ich halte mich hier im Wesentlichen an Norris (1997) und Wye (1988). 109 Nach Norris (1997), S.77 50 Kopfrotation vornehmen. Dann verlegt sich jedoch die Überlastung in die rechte Schulter, weil der rechte Ellbogen fast automatisch nach oben „wandert“, und somit die rechte Schulter und Halsmuskulatur nach links dehnen würde, um den Schulterbereich zu balancieren. Ein Kompromiss wäre eine kleinere Lateralflexion und ein etwas weniger gehobener rechter Ellbogen. Diese Haltung bringt aber mit den Jahren eine Unausgewogenheit von Muskelkraft und Halsflexibilität, was in Folge zu einer mechanischen Verkleinerung der Foramina intervertebralia, durch die die Spinalnerven austreten, führen kann. Vom Körper selbst können auch Osteophyten (Knochenwucherungen) gebildet werden, die Nervenprobleme verursachen. Die Person verspürt die gleichen Symptome wie bei einem Karpaltunnelsyndrom, also zum Beispiel Schmerzen im Halsbereich und/oder Kribbeln und Stechen in der Hand. Die Diagnose ist Radikulitis oder Radikulopathie, welche durch die Druckschädigung des Nervs entsteht. Die Druckschädigungen im Halswirbelsäulenbereich können unter anderem auch zu Durchblutungsstörungen führen. Grundsätzlich gilt, dass der Hals ein sehr empfindlicher Bereich zumal bei QuerflötistInnen ist, da er eine überaus komplexe Struktur hat und viele Nervenstränge ihn durchlaufen. Der Wiener OA Dr. Bernhard Riebl hat im März und April 2008 eine Untersuchung an mehreren 15- bis 18 -jährigen MusikschülerInnen im Rahmen der Magisterarbeit von Ursula Matejka in der Wiener Krankenanstalt Rudolfstiftung durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass QuerflötistInnen eine verstärkte Schulter-Becken-Drehung, sowie Nackenschmerzen, segmentale Irritationen und/oder Blockierungen beim Spielen zeigten. Allgemein wurde bestätigt, dass bei allen Probanden Beschwerden im Wirbelsäulenapparat anstiegen, wenn der Stress in ihrem Leben höher war als üblich.110 In einer von Univ. Prof. Barbara Gisler-Hasse und Ursula Matejka durchgeführten Untersuchung aus dem Jahre 2008 an mehreren Volksschulkindern zeigte sich, dass Haltungsschwächen und Problemen bei QuerflötistInnen vorgebeugt werden kann, wenn im Kindesalter eine „passende Kinderflöte“ (Aluminiumflöte, Yamaha Fife, Picco-Flöte) verwendet wurde.111 110 Matejka (2009), S. 81-82 111 Matejka (2009), S. 77-80 51 4.5. Problemzone Hand Eine andere Problemzone ist die rechte Hand. Sie muss so gehalten werden, dass die Querflöte auf dem Daumen liegt, was mehr Balance bringt und die Querflöte hält. Die Finger liegen Idealerweise abgerundet auf den Klappen. Das Handgelenk muss in die Richtung vom Querflötenfuß, also leicht nach rechts verschoben sein. Der Winkel zwischen dem Handgelenk, der Hand und den Fingern soll ungefähr 150 (nicht nur 120) Grad betragen (siehe Abb. 7a).112 Abb. 7 a und b: Die Handwinkel bei QuerflötistInnen 113 Den rechten Daumen hält man unter der Flöte. Sie dient dort einerseits zum Halten des Instruments, andererseits aber auch als Widerstand für die Finger, die die Klappen betätigen. Der Daumen wirkt als Kraftbasis und stabilisiert die Flöte beim Spielen der „offenen“ Positionen wie zum Beispiel h1, c2, cis2, h2, c3, cis3, d3. Die Flöte ist in diesen Positionen sehr instabil, weil die mechanischen Klappen außerhalb der Kraftbasis liegen. Es kann zum Rutschen und somit zu Kompensationen kommen, wobei die linke Hand den Druck sowohl zwischen Flöte und Kinn, als auch zwischen rechtem Daumen und kleinem Finger vergrößert. 112 Erklärung durch Dr. Riebl – Hier ist, wie die Abb. beweist, den Autoren ein erstaunlicher Fehler unterlaufen: der korrekt dargestellte Winkel beträgt ca. 30° Ulnarabduktion, das bedeutet auf 150° in der Abb. 7a. (120° würden in der dargestellten Messweise 60° Ulnarabduktion bedeuten) 113 Nach Soldan und Mellersh (1990), S. 31 52 Abb. 8a und b: Die rechte Hand bei QuerflötistInnen114 Der linke Zeigefinger ist die eigentliche Stütze der Querflöte. In dieser Position kommt es oft zu Nervenkompressionen, die zu schmerzhaften, oft brennenden Empfindungen führen können, die die ganze Hand betreffen und bis zur Ellenbeuge oder sogar bis zur Schulter und zum Nacken ausstrahlen können. Abb. 9: Die linke Hand115 Die meisten QuerflötistInnen versuchen die rechte Schulter zu lockern. Dann lassen sie das Querflöten-Ende in Richtung Boden „wandern“ und drücken die Querflöte mit dem linken Zeigefinger gerade, um zu verhindern, dass die Querflöte zu Boden fällt. Das Problem vergrößert sich, wenn die Querflöte ein Inline-Modell ist, was bedeutet, dass alle Klappen in einer Linie gebaut sind. Der vierte Finger der linken Hand ist für Klappe, die „in der Linie steht“, steht zu kurz. Die Sehne des vierten Fingers ist jedoch mit der Sehne des fünften Fingers verbunden. Wenn die Querflöte noch dazu Ringklappen hat, kommt es zu gravierenden Problemen, die oft zu Tendovaginitis (Sehnenscheidenentzündung) führen. Eine Lösung dieses Problems ist die Offset-Flöte (siehe Abb. 10, 11 und 12), bei der die G-Klappe nach außen gezogen ist und somit dem vierten Finger „entgegenkommt.“ 114 Nach Norris (1997), S. 81 115 Nach Soldan und Mellersh (1990), S. 30 53 Abb. 10: Inline- und Offset G-Klappen (Foto 1 zeigt deutlich den mittleren Teil der Flöte in einer Linie; Foto 2 zeigt, wie der Teil nach unten gezogen ist), Foto 3 stellt den C-Fuß dar und Foto 4 den H-Fuß (der deutlich länger ist als der C-Fuß) 116 Abb.11: Drei Flötenteile: ein H-Fuß (3 Klappen), Offset Modell und Flötenkopf 116 Werbeprospekt von Miyazawa 117 A.a.O. 117 54 Abb.12: Offset Modell 118 Probleme treten allerdings auf, wenn die linke Hand nach links verschoben und der Zeigefinger abgeknickt wird. Denn die Flöte wird zwischen Grundgelenk und ersten Gelenk des Zeigefingers fixiert. Alle anderen Finger knicken ebenfalls ab, wobei wichtig ist, dass es keine Verkrampfungen (Versteifungen) in den metacarpophalangeale Gelenken der Finger (also jenen der Mittelhandknochen) gibt. Abb. 13: Die Verkrampfungen (Versteifungen) in den carpometacarpalen Gelenken der Finger im linken Hand119 Neben den bereits genannten Problemen kann es bei QuerflötistInnen aber auch noch zu Problemen im Mundbereich kommen: Zwei häufige orale und dentale Probleme sind das Lockerwerden und Verschiebungen der unteren Zähne und Schmerzen im Kiefer wegen des jahrelangen Drucks an der Stelle. Dies kann sowohl spielerische als auch psychische Probleme, bedingt durch die kosmetische Entstellung, nach sich ziehen. 118 Prospekt von Miyazawa 119 Nach Soldan und Mellersh (1990), S. 30 55 4.5.1. Modifizierte Ergonomie meiner Querflöte Nach einer schweren Verletzung meines rechten Daumens und des Handgelenk im Jahr 2003 (Sehnenriss) musste ich ein Jahr lang mit dem Querflötenspiel pausieren. Während der Therapiezeit hatte ich auch keinen Wunsch zu üben. Als es gesundheitlich wieder besser ging, habe ich auch meine Querflöte wieder in die Hand genommen, aber sofort gemerkt, dass etwas einfach nicht passt. Ich fühlte mich eingeschränkt und verkrampft – und in so einem Zustand kann man auch nicht gut spielen. Da gerade Ferien waren, verwendete ich viel Zeit darauf zu recherchieren, was mich an der Querflötenhaltung stört. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate baute ich meine Querflöte um; die Chronologie dieser Veränderung ist auch mit Fotos dokumentiert worden. Aufgrund der Bauweise der (Inline-)Flöte kann es passieren, dass diese einfach wegrutscht. Daher ist es wichtig, die wichtigsten Stützpunkte des Instruments zu kennen: Das Kinn, der linke Zeigerfinger und der rechte Daumen sind jene Körperteile, die den Druck auf die Flöte ausüben und die wichtigen „Stützpunkte“ sind. 120 Abb. 14a und b: Die Stützpunkte Bei der Stützung durch den linken Zeigefinger kommt es oft zu Nervenkompressionen, die zu Schmerzen werden können, die wiederum bis zur Ellenbeuge, die Schultern und bis dem Nacken ausstrahlen. Ich habe deshalb für mich beschlossen, aus meiner ursprünglichen Inline- eine Offset-Querflöte zu basteln und eine Polsterstütze für den linken Zeigefinger zu integrieren. Die Polsterstütze fühlt sich erstens wesentlich angenehmer an als das kalte Metallrohr und ist zweitens wärmer. In Sachen „Offset“ wurde später ein Profi beauftragt, die Klappe 120 Nach Soldan und Mellersh (1990), S. 16 56 entsprechend zu verlängern und dabei auch den optischen Aspekt zu berücksichtigen. Wie bereits geschildert, kommt dem rechten Daumen die wichtige Aufgabe zu, die Querflöte (in Balance) zu halten. Da mein rechter Daumen keine Kraft hatte, die Querflöte zu stützen, wurde ich – auch im Rahmen meiner Physiotherapieausbildung – kreativ. Ich habe dabei das von Norris entwickelte Konzept des „StediRest“121 [sic!], also einer Art von Schiene für den rechten Daumen als Stützhilfe (siehe Abb. 15), als Grundidee „benutzt“, dann aber in meinem Sinne weiterentwickelt. Abb. 15: StediRest 122 Ich habe für meine Zwecke meinen rechten Daumen immobilisiert, wobei die Fingerkuppe die Flöte von der vorderen Seite stützt. Dadurch wurden die anderen Finger geläufiger, gestreckter und schneller. Die Immobilisation bzw. Abstützung des Daumens wurde später in Form einer Thermoplastik ausgeführt.123 121 Norris (1997), S. 81 122 Nach Norris (1997), S. 81 123 Das geschah an der Ergotherapie-Abteilung des Sozialmedizinisches Zentrums Baumgartner Höhe. Mein Dank gilt Dipl. Ergotherapeutin Daniela Krehan und Dipl. Ergotherapeutin Sigrid Pircher. 57 Abb. 16a und b: Meine Daumenorthese und wie sie auf meinem Daumen aussieht Abb. 17: Mein zweiter Versuch eines Wärme-Stütz-Kissens für den linken Zeigefinger Abb. 18: Aus Inline wurde Offset gemacht 58 Abb. 19: Vergleichsfoto : Unten mein 1. Versuch und oben (leider) nach Generalüberholung der Firma Wienerflötenwerkstatt (Werner Tomasi), wobei Teile von Abb. 17 und Abb. 18 weggeworfen wurden 59 5. Maßnahmen zur Therapie und Heilung In der zweiten Hälfte meiner Arbeit wende ich mich nach der Epidemiologie, der Ätiologie, der Diagnose und ersten Therapievorschlägen von Krankheiten, die in der ersten Hälfte Thema waren, nun im Detail den Maßnahmen zur Therapie, der möglichen Heilung, aber insbesondere auch zur Vorbeugung zu. Dabei möchte ich mit den akutesten Fällen beginnen, also den Therapien von bereits eingetretenen Erkrankungen und der Rehabilitation, ehe ich mich abschließend der Physioprophylaxe in Theorie und Praxis zuwende. 5.1. Medikamentöse Therapien Entzündungshemmende Medikamente sind in der akuten Phase in jeden Fall sehr zu empfehlen. Entzündungshemmende Medikamente sollten aber stets in Kombination mit anderen Therapiemethoden Anwendung finden. Nichtsteroidale Antirheumatika wirken schmerzlindernd bei entzündlich bedingten Schmerzen. Die Wirkung ist von kurzer Dauer, tritt aber schnell ein, ohne süchtig zu machen. Folgende Wirkstoffe bzw. Präparate sind unter anderem bekannt:124 Acemetacin (z.B. Rantudil®), Diclofenac (z.B. Voltaren etc.), Ibuprofen (z.B. Imbun), Indometacin (z.B. Amuno), Meloxicam (z.B. Mobec), Naproxen (z.B. Proxen), Piroxicam (z.B. Felden). Diese Präparate enthalten kein Kortison. Analgetika sind schmerzlindernde Medikamente. Zumeist sind es „periphere“ Analgetika, die keine Wirkung auf das Gehirn haben. Die sensorische Wahrnehmung und andere Funktionen des Zentralnervensystems und Bewusstsein sind nicht beeinflusst. Die bekanntesten sind Aspirin, Diclofenac, Ibuprofen, Paracetamol.125 Antiphlogistika schließlich sind nichtsteroidale Medikamente für die Behandlung von Schmerzzuständen bei Haltungs- und Bewegungsorganen. 126 124 Vgl. http://www.rheuma-online.de/a-z/c/cortisonfreie-entzuendungshemmer.html (12.11.2008) 125 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Analgetikum (12.11.2008) 126 Happel (1997), S. 67 60 Anästhetika wiederum sind Betäubungsmittel, die zumeist injiziert werden. Injektionen werden beim Karpaltunnelsyndrom, Tendinitis de Quervain und Epicondylitis als Therapie gegen akute Schmerzen verwendet. Normalerweise sind Spritzen pharmakologisch ein Cocktail aus einem Anästhetikum und Steroiden. Intraartikuläre Injektionen wirken lokal begrenzt. Damit besteht keine Gefahr, dass sie den ganzen Körper beeinflussen. 5.2. Thermotherapien In der häuslichen Therapie haben sich Kältepackungen, die man entweder im Gefrierfach kühl hält oder in der Mikrowelle wärmen kann, als hilfreiche Methoden gezeigt. Jede akute Verletzung benötigt Kühlung, jede chronische Schmerzstelle verlangt hingegen Wärme. Wie immer sind auch hier subjektive Erfahrungswerte – etwa im Hinblick auf die Temperatur oder die Dauer – von großer Bedeutung. Der Effekt der Schmerzlinderung wird durch Inhibition der Schmerzweiterleitung von Neuronen durch das Rückenmark erreicht. Um eine dauerhafte Schmerzlinderung zu erreichen, sollten aktive Maßnahmen in Anspruch genommen werden. Kältetherapie oder Kryotherapie kann in Form von Umschlägen, Packungen, Sprays (mit Medikamenten und Menthol) oder „Eislollis“ auf schmerzenden Muskeln bzw. Stellen appliziert werden. Die Kälte auf der Haut wirkt im peripheren und im zentralen Nervensystem als vorübergehende Schmerzhemmung. Zudem haben sich bei MusikerInnen so genannte „Topfen-Kälte-Packungen“ als hilfreich erwiesen. Dabei ist es gewissermaßen „Geschmacksache“, ob der Topfen halbfett oder fett ist. Wärmebehandlungen werden oft als besonders angenehm und wirksam empfunden. Wärme bewirkt eine reflektorische Entspannung von Muskeln und Gefäßen. Die Wärmequelle wird in physiotherapeutischer Weise auf verschiedene Arten angewendet – als Fangopackungen, Heublumenpackungen, in Form heißer Bäder, durch Bestrahlungen mit Infrarot oder Heißluft. 61 5.3. Elektrische Stimulationen zur Schmerzlinderung Durch elektrische Stimulationen mittels Elektroden werden – je nach Stromform – leichte rhythmische Muskelkontraktionen in der Schmerzzone ausgelöst. Diese helfen, die Schmerzen zu lindern. So werden Ödeme beseitigt, und mehr Blut kann in die Muskeln fließen. Es sind dies sehr hilfreiche Methoden für die Muskelstärkung – mit dem Ziel, einen Funktionsverlust zu verhindern. Einer der erfolgreichsten dieser Therapieformen nennt sich TENS und ist eine nichtmedikamentöse Schmerztherapie, die bei muskulo-skeletalen und posttraumatischen Schmerzen, Neuralgien und Durchblutungsstörungen angewendet wird und besonders bei der Linderung von akuten Schmerzzuständen in der Muskulatur erfolgreich ist. Eine der Theorien der Wirkmechanismen der Elektrotherapien und damit der Wirkung von TENS ist die „Gate-Control-Theorie“ bzw. Kontrollschrankentheorie: Ihr gemäß können innere und äußere Schmerzreize von Schmerzrezeptoren in Haut, Muskeln, Gelenken und inneren Organen aufgenommen werden. Diese werden im Hinterhorn des Rückenmarks auf das zweite Neuron der Schmerzbahn verschaltet. Durch Stimulation der Mechanorezeptoren in der Haut durch TENS werden inhibitorische Neuronen im Rückenmark aktiviert – und so kommt es zu einer Schmerzlinderung.127 Der angewendete Wechselstrom hat eine Frequenz bis zu 300 Hertz, aber eine niedrige Intensität. Auf der Haut spürt man ein angenehmes Kribbeln. TherapieElektroden werden auf periphere Nerven oder auf die Triggerpunkte appliziert. Die Therapiedauer sollte mindestens 30 Minuten betragen, und sie sollte täglich durchgeführt werden. Nach einiger Zeit merkt der Patient, dass die Frequenz höher sein kann, was bedeutet, dass der Körper eine höhere Schmerzgrenze erreicht hat. Bei chronischen Schmerzen helfen die Erkenntnisse der Gate-Control-Theorie auch nicht weiter. Entsprechend anders sieht die TENS-Behandlung in diesen Fällen aus. Bei chronischen Schmerzen wird eine niedrige Frequenz bis zehn Hertz angewendet, dabei aber eine hohe Intensität appliziert. Schmerzhemmung kommt hier über die Stimulation von A-Delta-Fasern auf supraspinaler Ebene zustande. Die Elektroden können in diesen Fällen auch vom Schmerzgebiet entfernt werden.128 Die Therapiedauer sollte empfehlenswerter Weise mindestens 30 Minuten lang dauern. 127 Shealy und Mauldin (1993), S. 175-186 128 Bogner und Marn (2006), S. 43. Vgl. auch die Gebrauchsanweisung zu TENStem eco 62 5.4. Orthesen Medizinische Orthesen sind kompakte medizinische Hilfsmittel für die Stabilisation eines oder mehrerer Gelenke bzw. zur Unterstützung von eingeschränkt funktionstüchtigen Körperteilen. Das Wort setzt sich zusammen aus den Teilbegriffen ortho (auf Deutsch richtig bzw. recht-) und Prothese. Orthesen vermeiden, in der Nacht getragen, mögliche ungewollte schmerzhafte Bewegungen. Auch tagsüber ist es wichtig, die Orthesen zu tragen. Diese stabilisierenden Hilfsmittel sollten aber immer wieder abgenommen werden, um physiotherapeutische Übungen zu praktizieren, damit keine Verhärtungen oder Unbeweglichkeiten eintreten können bzw. um eine Dekonditionierung der betroffenen Muskeln zu vermeiden. 63 6. Rehabilitierende Maßnahmen Unter medizinischer Rehabilitation versteht man vereinfacht ausgedrückt die Bestrebung, eine Person wieder in ihren vormals existierenden körperlichen Zustand zu versetzen. Im Zusammenhang dieser Arbeit unterscheide ich rehabilitierende Maßnahmen von den konkreten medizinischen Therapien aber auch von prophylaktischen Strategien, auch wenn die Übergänge fließend sind. Zur Rehabilitation dienen hier insbesondere Übungen, bei denen es um eine Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit geht. Klar ist aber auch, dass die meisten rehabilitierenden Maßnahmen auch als Prophylaxe eingesetzt werden können. 6.1. Dehnung der Muskeln Nach Schnack verkürzt sich beim intensiven Üben der Leistungsmotor der MuskelSehnenkette durch Sauerstoffmangel, was medizinisch Hypoxie genannt wird. Jeder Muskel und Muskelmotor benötigt für seine Arbeit Sauerstoff, besonders jene muskulären Bereiche, die unter intensiver Spannung stehen. Unphysiologische Überlastung verhindert Durchblutung und Stoffwechsel. Bei hoher Leistung der ganzen Muskulatur wird bereits nach 60 bis 90 Minuten eine maximale Verkürzungswirkung sowie eine Reduzierung der Gelenkbeweglichkeit eintreten. Die Muskelverkürzungen, die bei Kraftübungen bzw. Krafttraining entstehen, können als Gegeneffekt den Bewegungsumfang um fünf bis 13 Prozent reduzieren. Wenn die Überlastung zu groß ist, reagiert die tonische Muskulatur also mit Verkürzung.129 Die Sauerstoffversorgung der verkürzten Muskel-Sehnenkette kann sich mit gezielten und wiederholten Dehnung verbessern. 1981 wurde in einer schwedischen Sportstudie nachgewiesen, dass durch Dehnung eine Bewegungsverbesserung von fünf bis zwölf Prozent erreicht werden kann, die dann rund 90 Minuten andauert.130 Um Muskelverkürzungen vorzubeugen, sollten daher nach dem Spielen Dehnübungen gemacht werden, die einseitig beanspruchte Muskeln in den „Normalzustand“ zurückversetzen. Dehnungsübungen sind grundsätzlich günstig. 129 Schnack (1994), S. 92f. 130 A.a.O., S. 93 64 Sobald man allerdings an die Schmerzgrenze stößt, sollte man diese auf keinen Fall fortsetzen. Ebenfalls Vorsicht ist beim Dehnen angebracht, wenn Hypermobilität vorliegt. Muskelverspannungen in Rücken-, Hals- und Nackenbereich bringen Probleme mit sich wie z.B. eingeschränkte Beweglichkeit, verminderte körperliche Ausdauer, Kraft und Koordination sowie einen ständigen Spannungszustand im Körper. Durch Dehnung der verkürzten Muskeln und durch Kräftigung der phasischen Muskeln wird das muskuläre Gleichgewicht wiederhergestellt. Dehnungen von gestressten Muskelfasern bringt dabei wieder Leben in die betroffenen Muskelgruppen, da ein gedehnter Zustand besser für metabolische Prozesse ist. Grundsätzlich gibt es zwei Methoden zur Dehnung der Muskulatur: • Die Schwunggymnastik oder „dynamisches Dehnen“ • Das Stretching oder „statisches Dehnen“ In einer weiteren Übersicht lassen sich folgende Untertypen unterschieden:131 dynamisch Statisch Schwunggymnastik Stretching passive neuromuskuläre statische Dehnübungen Dehnübungen Annspannungsdehnen Aktives Dehnen Entspannungsdehnen statisches Dehnen Dehnungsübungen können sehr gut mit Atem- und Yogaübungen kombiniert und sollten nach vorhergehendem Aufwärmen praktiziert werden. Man kann Stretching auch nach dem Duschen machen, weil die Wasserwärme die verspannte Muskulatur sanft lockert und die Muskelfasern besser auf Dehnungsübungen vorbereitet sind. Generell ist es wichtig, Dehnungsübungen immer beidseitig durchzuführen, um ein „Ungleichgewicht“ zu vermeiden. Da die Kopfhaltung bei QuerflötistInnen leicht nach 131 Vgl. Bogner und Marn (2006), S. 46. 65 links gedreht und gleichzeitig sehr oft zur rechten Seite geneigt ist, neigen die Muskeln der rechten Seite zur Verkürzung und müssen gedehnt werden. Mit dem Alter nimmt die Elastizität des Sehnengewebes (Kollagen) ab. Das ist ein weiterer Hinweis darauf, dass MusikerInnen vor und nach dem Musizieren ein prolongiertes Stretch Übungs-Programm absolvieren sollten. Bei intensiver musikalischer Tätigkeit werden die gesamte Rücken-, Hand- und Arm Muskulatur sehr stark beansprucht. In den ersten ein bis zwei Stunden danach ist eine Entspannungsdehnung zu empfehlen. Beim Passiv-Stretching wird eine intensive Dehnungsposition angestrebt. Die Gelenkeinheiten werden langsam in Extremstellung geführt – unter Ausnutzung äußerer Kräfte und ohne die Schmerzgrenze zu überschreiten. Die Intensivstretchingmethode wiederum kann wesentlich zur Erhaltung von Leistung und Elastizität der Muskel-Sehnen-Gelenk-Kette der InstrumentalistInnen beitragen.132 Anspannungs- und Entspannungstechniken beim Stretching sind in der Fachliteratur auch als PNF-Verfahren (propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation) bekannt.133 Reizung wird nicht über maximale Dehnung erreicht, sondern über intensive isometrische Kontraktion. (Das aus dem Altgriechischen abgeleitete Wort isometrisch steht für „gleiches Maß, gleiche Länge“.) Diese ergibt sich, wenn ein Muskel ausschließlich eine Spannungsänderung durchführt, jedoch keine Längenänderung. Bei der PNF-Methode wird versucht, gestörte Bewegungsabläufe zu normalisieren. Dazu werden die Druck- und Dehnungsrezeptoren in Muskeln (Propriozeptoren) durch Druck, Dehnung, Entspannung oder auch Streckung stimuliert. Diese Abläufe werden in bestimmten festgelegten Reihenfolgen durchgeführt. PNF-Verfahren gehören zu den basalen Methoden der Physiotherapie und zeichnen sich durch komplexe Bewegungsmuster aus, welche grundsätzlich in diagonalen Mustern verlaufen.134 132 133 Vgl. Schnack (1994), S. 97 Zur Vertiefung vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Propriozeptive_neuromuskuläre_Fazilitation (13. März 2009) 134 A.a.O. 66 6.2. Lymphdrainage Wenn es zu Stauungen im betroffenen Gewebe kommt, spricht man von einem Ödem. Zur Behandlung werden extrem langsame und behutsame Bewegungen in bestimmte Richtungen hin zu den großen Lymphknoten angewendet, die man manuelle Lymphdrainage nennt. Als Resultat kommt es zu Entstauung im betroffenen Gewebe. Nach den Richtlinien der Gesellschaft medizinischer Assistenzberufe für Rheumatologie sollte diese Therapieform täglich 30 Minuten lang durchgeführt werden135 6.3. Triggerpunkttherapie Triggerpunkte sind nach Bogner und Marn druckempfindliche Irritationen in den myofaszialen Anteilen der Muskelbäuche.136 Ein Triggerpunkt hat normalerweise einen Durchmesser von weniger als einen Millimeter, kann sich aber bis zu einem Zentimeter erweitern, falls mehrere empfindliche Punkte auf einer Stelle auftreten. Das kann als ödematöses Knötchen ertastet werden.137 Der Muskel weist an der schmerzhaften Stelle einen erhöhten Muskeltonus auf. Wenn ein Triggerpunkt länger besteht, führt es zu einer Abschwächung des Muskels, was wiederum ein Auslöser für muskuläre Dysbalancen sein kann. Dabei werden bei aktiven Triggerpunkten Schmerzen in eine andere Körperregion ausgestrahlt. ÄrztInnen behandeln die Triggerpunkte mit Nadeln, PhysiotherapeutInnen die betroffenen Muskeln mit manuellen Techniken. Eine Spannungsminderung des Muskels wird durch Druck erzielt, dabei werden Hüllstrukturen und das intramuskuläre Gewebe gedehnt. Ziel ist eine Verbesserung der Durchblutung im Muskelgewebe. Aufgrund der Spannungslösung kommt es auch zur Schmerzreduktion.138 135 Bogner und Marn (2006), S. 41f. 136 A.a.O., S. 33 137 A.a.O. 138 A.a.O., S. 35 67 6.4. Spiraldruck-Therapie Eine spezielle Unterart der Drucktherapien ist die so genannte Dehn’sche Spiraldruck-Therapie. Das ist eine manuelle Ganzheits-Heilmethode, die von Inge Dehn entwickelt wurde. Sie hat herausgefunden, dass Verspannungen in Becken und Schultergürtel (muskuläre Wirkungsketten) auch Schmerzen in peripheren Körperteilen reflektieren, wo diese dann pathologisch wirken.139 Die an den Reflexzonen orientierte Spiraldrucktherapie kann schnell und einfach bei Schmerzsyndromen helfen, die durch muskuläre Verspannungen und Triggerpunkte verursacht werden. Die Diagnose wird mittels Fußreflexzonen, Akupressur und Bauchmassage erstellt. Dabei werden jene Muskeln identifiziert, die verspannt sind. Ausgesuchte Muskelketten und Triggerpunkte werden unter Druck ausgesucht und spiralförmig in Längsrichtung ausgestrichen. Der Spiraldruck wird direkt auf den betroffenen Muskeln ausgeübt. Die Lösung der Verspannung ist am Anfang schmerzhaft. Die vorher bestehende Bewegungseinschränkungen und Schmerzen werden aber meistens nach kurzer Zeit behoben.140 Die Dehn’sche Spiraldrucktherapie kann auch als physioprophylaktische Methode für die Korrektur der Haltungsmuskulatur bei aktiven MusikerInnen angewendet werden. 6.5. Massagen Massagen sind – nicht nur für MusikerInnen – grundsätzlich empfehlenswert. Sie dienen der Erholung und Entspannung der Muskeln, der Verbesserung von Stoffwechselprozessen und können die Verminderung von Ödemen unterstützen. Klassische Massagen werden bei akuten Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungsapparates angewandt. Die Grifftechniken (unter anderem Knetung, Friktion) dienen der Spannungsregulation und können den Muskelstoffwechsel positiv beeinflussen. Die Durchblutung wird gefördert, und Stoffwechselschlacken 139 Jacoby (1994); S. 252f. 140 Vgl. Volker Verse (kein Jahr). URL: http://www.muenster.de/verse/was/spiraldruck.html (17.01.2009) 68 werden abtransportiert. Die Folge sollte allgemeine Entspannung sein.141 Grundsätzlich lassen sich verschiedene Formen der Massage unterscheiden, die unterschiedlich eingesetzt werden. Mobilisierende Massagen dienen vorwiegend der Rehabilitation und sind eine Kombination aus Massage, Gelenksbewegungen. Sie Dehnungen werden sehr der Muskeln langsam und durchgeführt, von den um eine Gegenspannung zu verhindern. So werden wie bei der klassischen Massage Rezeptoren in Haut, Muskeln und Gelenken, aber auch physiologische Gelenksbewegungen angeregt.142 Die Fußreflexzonenmassage ist eine alternative Diagnose- und Heilmethode verschiedener Schulen. Die Idee ist, dass der ganze Körper sich an Händen und Füßen reflektorisch spiegelt. Als Pionier der neueren Reflexzonenmassage gilt der US-amerikanische Arzt William Fitzgerald (1872–1942). Fitzgerald teilte den Körper in zehn senkrechte Zonen ein. Dieses Konzept und die von ihm entwickelte „Zonentherapie“ waren 1917 der Grundstein für die heutige Reflexzonenmassage. Die Fußreflexzonenmassage ist bei der Rehabilitation insbesondere dann von großem Vorteil, wenn der Schmerz im Muskelareal bei den PatientInnen so groß ist, dass bei den direkt betroffenen Stellen keine klassische Massage ausgeübt werden kann.143 Die Bindegewebsmassage wurde 1929 von Elisabeth Dicke begründet. Im Rahmen dieser Behandlung wird ein Zugreiz auf das Gewebe geübt, was ein schneidendes Gefühl bringt. Das Resultat ist eine Mehrdurchblutung des Gewebes.144 6.6. Übungen zur Muskelentspannung Das Ziel von Entspannungstechniken ist es, Muskelspannungen möglichst genau spüren und regulieren zu lernen. Dadurch können unnötige Spannungen entdeckt und vermieden werden, was der Besserung bereits vorhandener Überlastungsschäden oder ihrer Vorbeugung dient. 141 Bogner und Marn (2006), S. 39 142 A.a.O. 143 Zitiert nach Chirurgie Portal Forum (o.J.). URL: http://www.chirurgie-portal.de/alternative- medizin/fussreflexzonenmassage.html (31.10.2008) 144 Zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Bindegewebsmassage (31.10.2008) 69 Zu den geläufigen Entspannungstechniken gehören Meditationsübungen, die unter anderem die Konzentrationsfähigkeit verbessern. Sie führen dazu, den eigenen Körper besser zu verstehen, in sich zu gehen, und wo immer man ist, ganz gegenwärtig zu sein.145 Das ist insbesondere für MusikerInnen wichtig, die sich bei einem Konzert sicher fühlen sollten, da man nur so Musik in idealer Weise „geschehen lassen“ kann.146 Bei der so genannten progressiven Muskelentspannung147, die vom US- amerikanischen Arzt Edmund Jacobson (1888–1933) entwickelt wurde, werden nacheinander folgende Muskelgruppen jeweils für sechs bis sieben Sekunden maximal angespannt. Anschließend soll man augenblicklich die Spannung loslassen und sich für etwa 30 Sekunden die Konzentration auf möglichst tiefe Entspannung ausrichten, die sich nach der Anspannungsphase ganz von selbst einstellt. Das ist die Reihenfolge der Muskelgruppen: 1. Rechter Fuß und rechter Unterschenkel 2. Rechter Oberschenkel 3. Linker Fuß und linker Unterschenkel 4. Linker Oberschenkel 5. Becken und Gesäßbereich 6. Schultern: Nach unten und gleichzeitig nach hinten zum Rücken, sodass sich die Schulterblätter aufeinander zu bewegen 7. Rechter Oberarm: Arm beugen, Spannung im Bizeps entstehen lassen, den Arm dabei an den Oberkörper drücken 8. Rechter Unterarm und rechte Hand: Mit der Hand eine Faust bilden und Unterarmmuskel fest Anspannen 9. Linker Oberarm: wie rechts 10. Linker Unterarm und linke Hand: wie rechts 11. Nackenbereich: Schultern hochziehen, den Kopf zwischen die Schulter einziehen 12. Kopfhaut und Stirn: Augenbrauen hochziehen und Kopfhaut anspannen 13. Gesichtsmuskulatur: Eine Grimasse ziehen 145 Klöppel (2005), S. 133 146 A.a.O., S. 132 147 Die Lehrzettel für Biofeedback und progressive Muskelentspannung stammen von der Schmerzambulanz des Wiener AKH im Mai 2005 70 14. Kinn und Halsbereich: Das Kinn in Richtung Brustkorb ziehen, die geschlossenen Mundwinkel nach außen ziehen 15. Brustmuskulatur: Die Schultern nach unten ziehen, die Oberarme gegen den Brustkorb drücken und die Schultern etwas nach vorne ziehen 16. Bauchmuskulatur 17. Rücken Eine weitere Form, die zur Entspannung führen kann, ist Biofeedback, eine Methode, die ebenfalls vom US-amerikanischen Arzt Edmund Jacobson erfunden worden ist. Ziel des Biofeedbacks ist es, Kontrolle über bestimmte Körperfunktionen zu erlangen und diese Kontrolle in den Alltag zu übernehmen. Mit Hilfe des Computers, von Elektroden und Sensoren werden bestimmte körperliche Indikatoren registriert, die normalerweise nicht bewusst wahrgenommen und beeinflusst werden können. Zu den körperlichen Funktionen, die gemessen werden, gehören Puls, Temperatur, Atmung, Hautwiderstand und Muskeltonus. Durch Feedback mittels optischer Darstellung auf einem Bildschirm werden Lernprozesse in Gang gesetzt, um diese körperlichen Funktionen positiv zu beeinflussen. Das wiederum führt dazu, körperliches Wohlbefinden zu erzielen. Biofeedback ist damit ein Lernprozess, bei dem Kontrolle über unseren Körper wieder erlangt werden kann. Zum weiteren Bereich der Entspannungspraktiken zählen neben den bereits kurz vorgestellten Techniken unter anderem: • Autogenes Training • Alexander-Technik • Feldenkrais • Konzentrationspraxis • Qigong • Taijiquan • Yoga (als Meditationsübung) Auf diese Techniken wird um Teil noch weiter unten im Zusammenhang mit Prophylaxe für MusikerInnen eingegangen (vgl. Kapitel 8.2.). 71 6.7. Mentales Üben Besondere Stellung unter den Rehabilitationsmaßnahmen nimmt das mentale Üben ein. Es ist nicht nur für MusikerInnen sinnvoll, die verletzt sind bzw. unter Beschwerden leiden, sondern auch für gesunde MusikerInnen, um Zeit und Energie zu sparen. Mentales Üben heißt, sich die Abläufe einer Bewegung genau klarzumachen und mit dieser Erkenntnis die Bewegungen zu steuern. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass mit gedanklich vorgestellten Musizierbewegungen in den Muskeln, die für diese Bewegungen benötigt werden, schwache elektronische Impulse ausgelöst werden können.148 Der erste, der dies festgestellt hat, war der britischer Arzt und Physiologe William B. Carpenter. Er hat im Jahre 1852 festgestellt, dass auch reine Beobachtung oder Vorstellung von Bewegungen jene Muskelnerven innervieren bzw. von der entsprechenden Muskelgruppe interpretiert werden, welche die Bewegung ausführen, ohne diese wirklich durchzuführen. Das nennt sich heute „CarpenterEffekt“.149 Dieser Effekt weist darauf hin, dass MusikerInnen auch mit „trockenem Üben“ und so genanntem „Mind-Mapping“ realistische Bewegungen trainieren können. Muskelrezeptoren innervieren, auch wenn de facto gar keine Bewegung gemacht wird.. 150 Mentales Üben und das so genannte Mind-Mapping sowie Singen können auch spieltechnische Bewegungsfunktionen am Instrument verbessern. Natürlich kann mentales Üben das Üben am Instrument nicht ersetzen. Es kann es aber ergänzend verbessern. 148 Klöppel (2005), S. 127 149 A.a.O., S. 125f. 150 A.a.O., S. 125f. 72 7. Strategien der Prävention Wie im vergangenen Kapitel zu zeigen war, resultieren viele der körperlichen Beschwerden von QuerflötistInnen aus der unnatürlichen Haltung beim Spiel bzw. einer schlechte Vorbereitung auf eben diese Spielpraxis. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, ob solche Fehlhaltungen nicht nur Symptome oder Konkretisierungen einer Fehlhaltung sind, die womöglich auch in der persönlichen Lebensgeschichte zu finden sind.151 Es könnte ja auch so sein, dass die auf der personalen Fehlhaltung beruhende Verspannung sich am schwächsten Punkt des Flötenspielers niederschlägt und dort schließlich zur Erkrankung führt. Wenn dem so sein sollte, dann müssten auch Prävention und Therapie von MusikerInnenerkrankungen auf zwei Phasen aufgeteilt sein: Zum einen müsste die personale Fehlhaltung als leib-seelische Indisposition behandelt und korrigiert werden. Darauf aufbauend könnten dann mit der Behebung der zum Teil subtilen Spannungen begonnen werden.152 7.1. Prävention als Thema In den folgenden Abschnitten meiner Magisterarbeit geht es nun darum, Strategien aufzuzeigen, wie man solchen Beschwerden bereits durch entsprechende Vorbereitungen vorbeugen kann. Tatsächlich ist es in der Musikermedizin in den vergangenen Jahren zu einer Art Paradigmenwechsel gekommen: Statt sich ausschließlich mit den Krankheiten der MusikerInnen und Therapien zu befassen, wurden in den vergangenen Jahren vermehrt Strategien entwickelt, damit es erst gar nicht so weit kommt. Es geht also viel mehr um die Erhaltung eines gesunden Körpers und eines gesunden Geistes, wobei sich Gesundheit nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO weniger als die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche versteht, sondern als Zustand des vollständigen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens.153 151 Vgl. Wurz (1995), S. 102 152 A.a.O. 153 “Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity”, zitiert nach Wikipedia, Suchbegriff „Health“ - WHO. "Constitution of the World 73 Im Hinblick auf die Ausbildung von MusikerInnen stellt sich entsprechend die Frage, welche Methoden der Prävention wann, von wem und wie vermittelt werden sollen. Eine der rezentesten und zugleich aber wohl auch einflussreichsten Aktivitäten im Bereich Prävention von Musikererkrankungen ist die US-amerikanische Initiative „Health Promotion in Schools of Music“ (also in etwa Gesundheitsförderung in Musikschulen, kurz: HPSM). Sie wurde im Herbst 2004 mit einer Konferenz gestartet, auf der GesundheitsexpertInnen mit Musikfachleuten zusammenkamen, die an der Ausbildung von MusikerInnen beteiligt sind. Bei der Tagung und nachfolgenden Treffen wurde ein Empfehlungsprogramm zur Gesundheitsförderung erarbeitet, das im Herbst 2005 und im Frühjahr 2006 vom Exekutivkomitee der Nationalen Gesellschaft der Musikschulen bzw. -akademien vorgelegt und von dieser abgesegnet wurde.154 Zu den Erklärungen des Programms HPMS zählen die folgenden vier Feststellungen: • Musikererkrankungen können vermieden werden. Ein holistischer Ansatz zur Prävention ist nötig, der Wohlbefinden und persönliche Verantwortung fördert • Musikschulen beeinflussen studentisches Verhalten durch kollektive Werte, Glaubenssysteme und Handlungen. Das muss zu allererst in Betracht gezogen werden, um Probleme zu vermeiden. • Neben der muskuloskeletalen und der mentalen Gesundheit sowie jener der Stimme ist insbesondere auch das Problem der Gehörschädigungen durch laute Musik zu berücksichtigen. • Bereits vor der universitären Ausbildung müssen Musikschulen gesundheitsbewusste und beschwerdefreie junge MusikerInnen heranbilden. Da leistungsabhängige Probleme vermeidbar sind, sollten Schulen bzw. Universitäten Kurse anbieten, die angehende MusikerInnen dazu bringen, für den eigenen Körper die Verantwortung zu übernehmen. Die Lehrveranstaltungen sollen unter anderem folgendes vermitteln: • Wertschätzung, Bewusstsein und Wahrnehmung des gesunden Körpers • Fachwissen über spezielle Probleme, die auftreten können Health Organization" World Health Organisation; (2006). URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Health (13.03.2007) 154 Vgl. Chesky et al. (2006), S. 142 74 • Fachwissen über auffällige Diagnosen • Verständnis für Prävention • Ergonomie der Instrumente („orthopädische Instrumente“) • Ergonomie beim Üben und beim Spielen (Sitzen, Licht, Temperatur, Ablenkungen...) • Haltung • Bewegungsphysiologie • Anatomie • Muskuläre Physiologie beim Training • Sensomotorische Zusammenhänge • Selbsthilfe • Suche für professionelle Hilfe bei Schmerzen bzw. auftretenden Köperproblemen Mittlerweile setzen sich in Nordamerika mehr als 20 professionelle Organisationen für dieses Ziel der „Prävention und Ausbildung über Musikerkrankheiten“ ein.155 „Health Promotion in Schools of Music“ (HPSM) bietet Kurse bzw. Lehrveranstaltungen an, die aus den Teilbereichen Anatomie des Menschen, Prävention der Muskel-Skelett-Beschwerden, aus physikalischen Körperübungen, Pilates, Yoga, Feldenkrais-Technik, Alexander-Technik, Tai Chi Chuan, Qi Gong und Antistress-Management zusammengestellt wurden. 7.2. Theorie der Physioprophylaxe Ein Schlüsselwort zu all diesen neuen Präventionsstrategien nennt sich Physioprophylaxe. Das Wort wurde unter anderem vom deutschen Sportphysiologen Hartmut Puls geprägt und fasst viel bereits vorhandenes sport- und musikmedizinisches Gedankengut in einem neuen Begriff zusammen und bringt es zur Anwendung. Der Terminus besteht aus zwei geläufigen Wörtern: „Physio“ bedeutet physisch bzw. körperlich und erinnert an Physiotherapie. „Prophylaxe“ 155 Unter diesen sind unter anderem die Ohio University School of Music, die University of Indianapolis, University of North Texas, Northwestern University, Eastman School of Music University of Rochester, Shepherd University, University of Southern Maine, Michigan State University, George Mason University, Royal College of Music, London und die Hannover University of Music and Drama. 75 wiederum bedeutet „Vorbeugung“. „Prophylaxe“ ist während des 18. Jahrhunderts aus dem lateinischen prophylacticum ins Deutsche entlehnt worden. Dieses wiederum stammt von der griechischen !"#$%&'()*, proph+laxis, „Vorbeugung“.156 Das Wort „Physioprophylaxe“ ist eigentlich ein Kunstwort, wörtlich könnte man es mit „körperliche Vorbeugung“ übersetzen. Der Vorteil des Begriffs liegt darin, dass er eine Assoziation zum Wort „Physiotherapie“ herstellt und Körperübungen assoziiert. Physiotherapie weist allerdings bloß auf die Möglichkeiten der Therapie hin, sprich: auf Übungen und Behandlungen, die MusikerInnen in einer unangenehme Situation für ihren Körper machen könnten. Was ist das Ziel der Physioprophylaxe? Es geht dabei – wie auch ganz allgemein in der Musikmedizin – unter anderem darum, • eine Übehygiene und das richtigen „Aufwärmen“ zu erlernen. Das bedeutet, dass Übungsstunden mit körperlichen Aufwärmübungen begonnen werden sollten. Es geht aber auch darum, mit zielgerichtetem Verstand zu spielen, immer wieder Pausen zu machen und die Muskulatur nach dem Spiel wieder ins Gleichgewicht zu bringen. • auf seinen eigenen Körper „hören zu lernen“ um Ermüdungszeichen rechtzeitig zu erkennen, sowie eine innere Sensibilität zu erhöhen • das eigene Körpergefühl sowie Körperbewusstsein zu verbessern • alternative und anpassende Wege für das Üben und Lernen zu entwickeln, wenn Probleme auftreten • mögliche Probleme an der Haltung zu erkennen und Lösungen zu finden • die Basis für gute physiologische Voraussetzungen für das Üben und Musizieren zu entwickeln • die anatomischen Grundlagen zu kennen und zu berücksichtigen wie zum Beispiel Muskel, Bindegewebe, Bänder und Gelenke funktionieren und wie sie zusammenspielen • nicht bis zu den Grenzen der körperlichen Möglichkeit bzw. Erschöpfung zu üben • zu wissen, dass sich Angst vor Schmerzen negativ auf unsere Psyche auswirken 156 Vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Prophylaxe (13.05.2007) 76 Als Ausgangsüberlegung der Physioprophylaxe gilt, dass funktionelle Probleme leichter zu behandeln sind als Erkrankungen. Medizinische Therapien gestalten sich zumeist weitaus schwieriger und aufwändiger – zumal, wenn das Problem bereits chronisch geworden ist. Und so manche Probleme sind gar nicht mehr therapierbar. Das alles weist auf das enorme Potenzial von Physioprophylaxe hin, die im Idealfall schon im Vorschulalter beginnen sollte. Individuell abgestimmte Bewegungs- und Übungskonzepte steigern ganz grundsätzlich die somatische Befindlichkeit und sind eine gute Vorbeugung gegen Haltungs- und Bewegungsschäden. Auch bei bestehenden Erkrankungen können sie spürbare Verbesserungen bewirken. Bei MusikerInnen bleiben die Muskeln oft nach dem Musizieren ganz „unbewusst“ auch im Alltag angespannt. Diese Anspannung führt, vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum andauert, zu einer weiteren Verstärkung der Schmerzen. Und diese wiederum lösen reflektorische Reaktionen wie Änderungen bei der Atmung und im Kreislauf aus, sowie erhöhten Blutdruck und eine erhöhte Herzfrequenz. Für MusikerInnen ist daher eine sinnvoll abgestimmte Kombination von Körperübungen vor dem Üben (zur Verbesserung der körperlichen Voraussetzungen beim Musizieren) und Lockerungsübungen nach dem Spielen sehr empfehlenswert. Das Konzept der Physioprophylaxe bedeutet aber auch, dass Musik-Lehrende – und vor allem solche im Bereich der Instrumentalausbildung – zusätzlich in den Fächern Anatomie und Physiologie ausgebildet sein sollten. Das Ziel dabei ist, dass sich die Lehrenden und Studierenden dazu bringen, erstens sich selbst und zweitens sich gegenseitig körperlich im Hinblick auf ihr Musizieren zu verstehen. Wenn dabei allerdings die Lehrenden als Vorbild den Studierenden nicht helfen können, weil sie nicht wissen, wie etwas richtig bzw. normal geht bzw. gehen soll und wie man das Falsche verbessern kann, sind die Studierenden auf sich selbst angewiesen. 7.3. Prävention in der LehrerInnen-Ausbildung Jeder Teil des Körpers bewegt sich dann am besten, wenn er sich in Harmonie mit den anderen Knochen, Muskeln und Gliedern bewegt. Für mich ist das Geigen ein Vorgang, bei dem sich der Körper des Spielers 77 seiner selbst und seiner inneren Harmonie bewusst wird. Wie störanfällig diese Harmonie ist, weiß jede ausübende Musikerin, weiß jeder Lehrer.157 Es ist für Studierende sehr wichtig, wenn die Lehrenden während des Unterrichts an die Gesundheit und an allgemeine Schmerzprävention ihrer SchülerInnen denken und diese auch gezielt fördern. Eine Studie für MusiklehrerInnen und deren SchülerInnen vom Juni 2004 an der Musikhochschule Winterthur Zürich zeigte, dass physiologische Lektionen, die gemeinsam mit dem Instrumentalspiel im Unterricht angeboten werden, nicht nur für Präventionen von Musikerkrankheiten geeignet sind, sondern auch ganz allgemein präventiv wirken:158 Sie können Studierende unter anderem vor Fehlhaltungen schützen, aber auch wertvolle Beiträge zur Psychodynamik der auszubildenden Person leisten. Es sollte also darum gehen, dass Lehrende ihren Unterrichtsstil mit präventiven Strategien optimieren. Für eine gute präventive Qualität des Unterrichts wäre unter anderem die Berücksichtigung der folgenden Punkte wichtig:159 • Die didaktisch-methodische Arbeit sollte durch Motivation und Anregungen gestützt sein. • Neu auftretende rhythmische Ungenauigkeiten sowie die Müdigkeit der Finger sind Signale, dass zu lange geübt bzw. gespielt wird. • Während des Unterrichts sollte ein Fokus auf die Überwindung von physischen und psychischen Problemen gelegt werden. • Die Ausgangsposition von kinetischen Ketten bzw. „Spiel-Bewegungen“ sollten unbedingt definiert werden (d.h. wie eine Bewegung sein soll, wann und in welche Richtung sie gehen soll) • „Nicht-analytische“ Anweisungen sind geistig und physiologisch leichter zu verstehen. 157 Menuhin (1987), S. 12 158 Hildebrandt et al. (2004), S. 62-69 159 A.a.O. 78 8. Healthy Body: Physioprophylaxe in der Praxis Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun. (Molière) Gesundes professionelles Musikmachen kommt nicht von selbst. Dafür muss man zuerst viel in sich selbst investieren. Viel Bewegung, viel Trinken, erholsamer Schlaf, gesundes Essen, Vitamin Präparate, gute familiäre und freundschaftliche Beziehungen, Hobbys, Verzicht auf Drogen, Zigaretten und Alkoholmissbrauch sind prophylaktische Vorraussetzungen für einen gesunden Körper und einen gesunden Geist. Durch regelmäßige sportliche Aktivitäten und Entspannungstechniken kann eine physiologische Bewegung wiederherstellt sowie die Erschöpfung im Alltag verringert werden. Doch welche sportlichen und rekreativen Betätigungen eignen sich für MusikerInnen besonders gut, um eine aktive Verbesserung der körperlichen Fitness herbeizuführen? Und was soll mit Physioprophylaxe erreicht werden? Eines der Ziele sollte jedenfalls eine Ökonomisierung allen Tätigkeiten sein, was bedeutet, dass man mit minimalem Kraftaufwand eine maximale Leistung bringt. Zu Beginn der (Wieder-)Gewinnung körperlicher Fitness stehen passive Maßnahmen im Vordergrund. Im Verlauf der prophylaktischen Maßnahmen soll die Person dann aktiv an ihrem Gesund-Zustand arbeiten. Das physioprophylaktische Therapieprogramm soll aus Übungen für normalen Muskeltonus, Übungen für Ausdauer und Übungen zur Flexibilität bestehen. 8.1. Sport für MusikerInnen Durch bewusste, regelmäßige sportliche Aktivitäten und Entspannungstechniken wird es leichter, den Alltag zu meistern. Schmerz, ständige Körperspannung, verminderte körperliche Kraft und Ausdauer, Müdigkeit, psychische Probleme, die früher einmal mögliche tägliche „Begleiter“ waren, können auf diese Weise im Idealfall überwunden werden. Beim moderaten aeroben Training wird bei einem Muskel eine Ermüdungsresistenz geschaffen. Dadurch kommt es zur Verbesserung der Regenerations- sowie 79 Erholungsprozesse160, und es wird dafür gesorgt, dass der Muskel ausreichend Sauerstoff zur oxidativen Verbrennung der Energieträger161 bekommt. Bei der aeroben Trainingmethode bekommt ein Muskel durch oxidativen Abbau von Fett, Eiweiß und Kohlenhydraten Energie. Wenn die Sauerstoffzufuhr für die Muskelaktivität aufgrund von hoher Belastungsintensität nicht ausreicht, entsteht im Muskel ein Sauerstoffsmangel und die Ausdauer wird vermindert. Der Körper stellt dann auf die anaerobe Energieverbrennung um. Eine Verbesserung der allgemeinen aeroben Ausdauer kann durch Training mit niedrigen Intensität und hoher Wiederholungszahl erreicht werden. Das Training sollte dabei regelmäßig und ohne größere Unterbrechungen erfolgen. Wichtig ist erstens zu wissen, wo die richtige Trainingsbelastung liegt und zweitens, zu welchen Zeitpunkten pausiert werden soll. Dafür gibt es ausgebildete PhysiotherapeutInnen, die dabei helfen, einen Trainingsplan zu erstellen. Ein ideales Training soll sich im gesamten Körper, im Herz-Kreislaufsystem, in der Atmung, im Stoffwechsel, in der Muskulatur, den Knochen, Sehnen und Bändern sowie der Psyche positiv niederschlagen. Die Sportarten für MusikerInnen sollen auf den Körper ausgleichend wirken und nicht zusätzliche Belastungen bringen. MusikerInnen sollten sich selbst vertrauen und intuitiv ihre Sportart finden. Zusätzliche Kriterien für solche Sportarten sind unter anderem: • Training des Herz-Kreislauf-Systems • Bewegung und Mobilisierung vieler verschiedener Muskeln • Förderung der Balance zwischen statischer und dynamischer Muskulatur Natürlich können alle möglichen Bewegungs- sowie Sportarten individuell praktizieren werden. Grundsätzlich gilt, dass die Ausdauer nach allen Aktivitäten des täglichen Lebens und sportlichen Belastungen für die effektive Wiederbelastbarkeit verantwortlich ist.162 Schwimmen oder Kraftübungen mit elastischen Bändern (Thera160 Vgl. Hüter-Becker et al. (2005). 161 Wieneck (1994), S.142 162 Bogner und Marn (2006), S. 51ff. 80 Band mit verschiedenen Stärken) sind für Ausdauer und den normalen Muskeltonus gut geeignet. Aerobe Aktivitäten wie zum Beispiel Schwimmen, Taijiquan oder Qigong empfehlen sich, weil eine tiefere Atmung gefördert wird und die Muskelzellen dadurch mit mehr Sauerstoff versorgt werden und so ausdauernder arbeiten können. 8.2. Entspannungstechniken für MusikerInnen Neben den bereits geschilderten speziellen Muskelentspannungstechniken (vgl. Kapitel 6.4.) gibt es eine ganze Reihe von bewährten Methoden, die sich auch für MusikerInnen im Besonderen eignen. Sie sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden: 8.2.1. Alexander-Technik Ursprünglich nicht als Therapieform gedacht war die so genannte AlexanderTechnik. Sie ist nach ihrem Erfinder, dem australischen Schauspieler Frederick Matthias Alexander (1869–1955), benannt, der diese Methode zu Beginn des 20. Jahrhundert entwickelte. Ursprünglich sollte die Alexander-Technik ein pädagogisches Verfahren sein. Sie bietet nämlich die Möglichkeit, sich bewusst mit allgemeinen gewohnten Bewegungs- und Denkmustern auseinanderzusetzen. Man lernt, wie selbstverantwortlich auf sich zu achten und – unterstützt durch einen erfahrenen Lehrenden der Alexander-Technik – ein körperlich-geistiges Gleichgewicht zu bewahren. Der Lehrende weist mit Hilfe der Hände die Qualität zu einem ausbalancierten Muskeltonus. Ziel des Patienten ist es, die allgemeinen Bewegungen lernend zu beobachten und sie danach im Zusammenhang den alltäglichen Tätigkeiten und beim Musizieren experimentierend anzuwenden. Hauptziel ist es, für alle Tätigkeiten möglich wenig Muskeltonus einzusetzen bzw. möglichst sparsam mit der Energie umzugehen. Die Alexander-Technik hilft, richtig angewendet, die Wahrnehmung zu vertiefen, Gewohnheiten spielerisch zu verändern, Koordination von Geist und Körper zu verbessern, „Leichtigkeit“ zu gewinnen.163 163 Vgl. Alexander-Technik Workshop-Flyer von Norma Espejel 81 8.2.2. Feldenkrais-Methode Einen ähnlichen Zweck verfolgt die Feldenkrais-Methode, die vom israelischen Physiker und Judo-Lehrer Dr. Moshe Feldenkrais (1904–1984) erfunden wurde. Sein Motto war es, „das Unmögliche möglich, das Mögliche leicht und das Leichte harmonisch und elegant werden lassen“. Die von ihm konzipierten Übungen sind langsame und aufmerksame Bewegungsabläufe, die meist auf dem Boden liegend ausgeführt werden. Die Übungen sind besonders für MusikerInnen geeignet, weil sie der Haltung, der Atmung und der allgemeinen Beweglichkeit dienen. Bei korrekter Anwendung der Feldenkrais-Methode kann man im Idealfall ein besseres Verständnis für den eigenen Körper und eine bessere Körperhaltung entwickeln. Feldenkrais-Übungen fördern bei MusikerInnen zudem mehr Selbstständigkeit bei musikalischen und technischen Fragen sowie mehr Klarheit und Ruhe in Stresssituationen. Bei technischen Schwierigkeiten am Instrument können leichter Lösungen gefunden werden. Bei Univ. Prof. Adrian Cox an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien heißt die entsprechende Lehrveranstaltung in Anlehnung an einen wesentlichen Teil der Lehrmethodik von Moshe Feldenkrais „Feldenkrais: Bewusstheit durch Bewegung“. 164 8.2.3. Qigong Eine aus China stammende Technik der Energieaktivierung sind so genannte Qi Gong165 bzw. Qigong-Übungen.166 Qigong Übungen sind Übungen zur Förderung der Lebenskraft und einer langlebigen Gesundheit. Das Wort Qigong besteht aus den Wörtern Qi („Energie“, „Arbeitsbereitschaft“) und Gong („Methode“, „Übung“). Es sind ungefähr 10.000 Qigong-Stile dokumentiert, was mit der Größe und Vielgestaltigkeit der Bevölkerung des Landes China zu tun hat. Durch Kombination und Zusammenwirkung von Bewegung, Atmung und Imaginationstechniken wird die Lebendigkeit von Körper-Seele-Geist verbessert. Der meditative Aspekt der Qigong-Methode ermöglicht ein Loslassen von Ängsten und 164 Feldenkrais für Musiker. Folder von meinem Feldenkrais Lehrer Univ. Prof. Adrian Cox 165 nach der so genannten Wade-Giles Umschrift, Lautbildung aus englischsprachigen Raum 166 nach der so genannten Pinyin-Umschrift, moderne Schreibweise der Volksrepublik China 82 Sorgen zugunsten einer wachen Präsenz in „Hier und Jetzt“. So kann das Training der sinnlichen Intelligenz und der intuitiven Wahrnehmung auch als Sprungbrett für „spirituelle“ Erfahrungen dienen.167 8.2.4. Taijiquan Taijiquan168 oder Tai Qi Quan169 ist eine Form des Körpertrainings zur Stärkung der Köperkräfte, zur Vorbeugung von Krankheiten und zur Selbstverteidigung. Taijiquan folgt den gleichen Prinzipien wie Qigong und geht auf alte chinesische GymnastikTraditionen zurück. Taijiquan ist eine harmonische Verbindung von Körperbewegungen, Bewusstseins- (Shen), und Vorstellungsübungen (Yi) sowie Atemtechniken zur Gewinnung von Lebenskraft bzw. Energie (Qi).170 Das Wort Taijiquan besteht aus Wörter Taiji („das höchste Letzte“) und Quan („Boxen“, „Faust“). „Das höchste Letzte“ beschreibt dabei den perfekten Zustand von Gesundheit und Wohlbefinden des Menschen (Kreis) sowie die Wandlungsphasen von Yin und Yang, welche die stets sich erneuernde Schöpfung repräsentieren. Beim „Boxen“ ist perfekter Einklang mit sich selbst und Natur gemeint. Taijiquan ist aus der Kampfkunst entstanden. Eine sehr kämpferische Form ist der so genannte Chen-Stil. Die Hauptaspekte des Taijiquan sind drei fundamentale Elemente chinesischer Weisheit: Selbstverteidigung, Heilgymnastik und Meditation. Das „Schattenboxen“ ist ein populärer Yang-Stil, der neben dem Wu-Stil am weitesten verbreitet ist und zu den gesundheitlich bedeutsamsten Stilen des Taijiquan zählt. Die körperlichen Übungen trainieren Hingabefähigkeit, Selbstwahrnehmung, vergrößern das kreative Potenzial und fördern das bewusste Ruheerleben. Eine heilende Wirkung wird durch den achtsamen Umgang mit sich 167 Qigong- und Taiji-Folder von meinem Taiji- und Qigong Meister Dr. Wendelin Munter 168 So genannte Pinyin-Umschrift, moderne Schreibweise der Volksrepublik China 169 Nach der so genannten Wade-Giles Umschrift, Lautbildung aus englischsprachigen Raum 170 Pawlett (2004), S. 6f. 83 selbst erzielt. Was „für mich“ gut und wertvoll ist, wird auch ein Wegweiser zur Gesundheit, Ganzheit und Sinn.171 8.2.5. Yoga Eine andere asiatische Entspannungs-, Meditations-, Kräftigungs- und Beweglichkeitsschule ist Yoga, das die Einheit von Körper, Geist und Seele fördern soll. Yoga bedeutet Verbindung, Verbundensein, Zusammenhang, Einheit von zwei Dingen bzw. von allem: „Unter-eines-Stellen“. Beim Yoga geht es immer um einen individuellen Weg innerhalb eines Ganzen, um so Wohlbefinden, innere Freiheit, Konzentration, Atemwahrnehmung und Selbstverantwortung zu trainieren. Primäres Ziel ist es, den Zusammenhang von (äußerer und innerer) Haltung und Wohlbefinden verstehen und praktizieren zu lernen. Es gibt viele verschiedene Formen des Yoga, die meist mit einer eigenen Philosophie und Praxis verbunden sind. In Westeuropa und Nordamerika denkt man bei Yoga oft nur an körperliche Übungen, die Asanas. Es gibt aber auch meditative Formen von Yoga, die ihren Schwerpunkt auf die geistige Konzentration legen, andere sind mehr auf körperliche Übungen, Positionen und Atemübungen fokussiert. Nach einiger Zeit des Trainings sind bessere Beweglichkeit, bessere Wahrnehmung des eigenes Körpers, der eigenen Gedanken und der eigenen Gefühlen spürbar.172 All diese Eigenschaften sind gerade auch für MusikerInnen besonders wünschenswert. 171 Qigong und Taiji Folder von meinem Taiji und Qigong Meister Dr. Wendelin Munter 172 USI-Vorlesungsverzeichnis SS 2008, S.143 84 9. Healthy Mind: Prophylaktische Psychologie des Musizierens Nur ein gesunder Körper ist für ein gutes musikalisches Resultat nicht ausreichend. Manche PsychologInnen sagen etwa, dass die eigene Körperhaltung bei Menschen Ergebnis langjähriger Erfahrungen reflektiert.173 Anhand der Körperhaltung und der Stimme sieht bzw. hört man, wie sich jemand fühlt. Aus psychoanalytischer Sicht werden viele muskuläre Verspannungen bereits in der Kindheit aufgebaut, da wir uns vor den intensiven Gefühlen, die Schmerz auslösen, schützen mussten. So entstehen sichtbare muskuläre Verspannungen, der so genannte „Muskelpanzer“ der wiederum unsere innere seelische Struktur widerspiegelt, den so genannte Charakterpanzer. Der „Charakterpanzer“ ist laut dem aus Österreich stammenden Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897–1957) Wünschen, Einstellungen, Glaubenssätzen, Schmerzverarbeitungsprozesse als die Summe von Werten, Motiven, die „Weltauffassung“ sich als Ergebnis herausgebildet der haben.174 Wilhelm Reich hatte dazu zwei Thesen: 1. Muskelpanzer und Charakterpanzer sind funktionell identisch, 2. Atemhemmungen reflektieren emotionale Hemmungen. Reichs Schüler Alexander Lowen hat in weiterer Folge fünf VerspannungsmusterTypen beschrieben, die Kinder als Reaktion auf spezifische Erlebnisse des Versagens entwickelt haben. Diese Verspannungen, die in der Kindheit nicht gelöst wurden, können zu „Lebens-Verspannungen“ werden und blockieren laut Reich und Lowen die Lebensenergie.175 Lowens fünf typenspezifischen Verspannungsmuster sind: schizoid, oral, psychopatisch, masochistisch, rigid / hysterisch. In ein Schema gebracht, ergibt sich folgende Typologie: TYP ENTSTEHUNGSZEIT KOMPENSATORISCHES VERDRÄNGTER ZIEL Schizoid STRESS Vor- während Geburt, SICHERHEIT Bedrohung erste Lebensmonate Unsicherheit Verlassenheit Oral 1. – 2. Lebensjahr 173 Vgl. Jacoby (1994) 174 A.a.O., S. 254 175 A.a.O., S. 101 ZUWENDUNG Mangel 85 Psychopatisch 2. – 4. Lebensjahr MACHT, Unterdrückung MANIPULIERUNG Masochistisch 2. – 4. Lebensjahr FREIHEIT Unfreiheit Rigid / LEISTUNG Ablehnung 5. – 7. Lebensjahr Hysterisch Lowen und andere entwickelten davon ausgehend eine ganze Reihe von Therapien und Methoden zur Auflösung des Muskelpanzers, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen, weil sie auch für die psychische Prophylaxe von MusikerInnen bedeutsam sind.176 Grundsätzlich kann dabei zwischen so genannten funktionalen und so genannten konfliktorientierten Methoden unterschieden werden, die komplementäre Wege zum Abbau der Blockaden darstellen. (Ich folge dabei der Typologie nach Jacoby.) Funktionale Methoden fokussieren auf die Haltung, Bewegung, Atmung, Energierhythmus und den Energiefluss, um Körper und Seele in Gleichgewicht zu bringen. Zu den funktionalen westlichen Bewegungsmethoden zählen unter anderem die bereits vorgestellte Alexander-Technik (vgl. Kap. 8.2.1.), die so genannte Eutonie, die Feldenkrais Methode, die Konzentrative Bewegungstherapie, TakeTina oder die Trance-Tanz-Therapie und Body Sense. Als funktionale östliche Bewegungstherapien gelten die ebenfalls bereits vorgestellten Schulen des Qigong, Taijiquan, Yoga oder die Sieben Tibeter-Übungen. Als funktionale Entspannungsmethode wiederum wird Autogenes Training oder die progressive Muskelentspannung empfohlen bzw. als kinesiologische Methode EduKinestetic. Weiters unterscheidet die Typologie der funktionalen Methoden noch so genannte manipulative Ansätze. Zu diesen werden unter anderem gezählt: Chiropraktik, cranio-sacrale Arbeit, der Dehn’sche Spiraldruck, Shiatsu oder Touch for Health. Und schließlich wären auch noch die meditiativen Ansätze zu nennen wie so genannte Transzendentale Meditation oder Zen-Meditation. Im Vergleich dazu wird bei den konfliktorientierten Methoden durch Konfliktdynamik der Muskelpanzer aufgelöst. Zu diesen Methoden zählen unter anderem die Bioenergetik-Therapie (A. Lowen), die biodynamische Therapie (G. Boyesen), die Core-Therapie (J. Pierrakos), die Gestalttherapie (F. Pearls), die Hakomi-Therapie 176 Jacoby (1994), S. 108f. 86 (R. Kurtz), die Integrative Bewegungs- und Leibtherapie (H. G. Petzold) und schließlich noch die Vegeto- bzw. Orgon-Therapie (W. Reich).177 Muskuläre Übungen werden mit Massage ergänzt. Dabei wird der Tonus der Muskel verändert, die Muskeln werden elastischer, und Abfallprodukte des Metabolismus werden leichter abtransportiert. Dabei können Erbrechung, Durchfall, Schwindel, Zittern, Hitzewellen das Resultat des Reinigungsprozesses sein. Tränen und Schweiß sind Nebenprodukte der emotionalen Reinigung. Dies sind Reaktionen die für die Auflösung von Muskelverspannungen sehr wichtig sind. 177 Jacoby (1994), S. 108f. 87 10. Epilog: Physioprophylaxe für MusikerInnen in der Praxis Nach so viel Theorie möchte ich mich abschließend noch der praktischen Umsetzung widmen. Ich nehme dabei zum einen auf meine eigenen Erfahrungen und Tätigkeiten Bezug. Zum anderen stelle ich kurz eine Initiative und eine Abteilung vor, die an „meiner“ Universität eingerichtet wurden und die in beispielhafter Weise den Trend zur Prophylaxe bzw. zur Vermittlung in der Musikausbildung umsetzen. 10.1. Das Projekt „Musik und Muskeln – Locker sein macht stark“ Die Initiative „Musik und Muskeln – Locker sein macht stark“178 geht auf das Institut Franz Schubert zurück und da wiederum auf Univ. Prof. Walter Wretschitsch. Projektpartner ist das Institut für Musik- und Bewegungstherapie (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) und Evaluierungspartner das Institut für Sportwissenschaft und Universitätssport Institut (Universität Wien). Dieses Projekt wird für den Zeitraum März 2008 bis Februar 2010 von der Wiener Gebietskrankenkasse und vom Fonds Gesundes Österreich unterstützt. Die Initiative ist sowohl für Studierende wie auch für Lehrende gedacht und soll helfen, Dispositionen, die muskuläre Dysbalancen, Asymmetrien und Schmerzen verursachen, frühzeitig zu erkennen bzw. überhaupt nicht erst entstehen zu lassen. Das Ziel ist eine Physioprophylaxe – also eine Vorbeugung, um körperliche Beschwerden bzw. Krankheiten von MusikerInnen zu vermeiden. Für die TeilnehmerInnen des Kursprogramms ist vorgesehen, über einen Zeitraum von zwei Jahren jeweils zumindest einen Sportkurs pro Semester zu belegen, wobei das Kursangebot sowohl reines Körpertraining umfasst, um sich fit zu machen, wie auch ein Training zur Entspannungs- und Stressbewältigung. Zur Auswahl sind dabei unter anderem folgende Lehrveranstaltungstypen: Im Modul 1, das sich Teamteaching nennt und für Lehrende der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie vier bis sechs Studierende gedacht ist, die mit eine/m/r Trainer/in zusammen arbeiten, gibt zwei Kurse zur Auswahl: Zum einen ein Kurs nach der Franklin-Methode, mittels der „ein wenig menschliche Anatomie und Körperbewegung“ vermittelt und „spielerisch durch Bilder und mentale Denkmuster 178 Materialien dazu unter anderem aus qu[ART] Zeitschrift der HochschülerInnenschaft an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 05/2008, S. 14f. 88 gegen Fehlhaltungen“ trainiert wird. Zum anderen ein Kurs zur „Spiraldynamik“: In diesem Kurs lernen die TeilnehmerInnen die „normalen“ Bewegungsmuster bewusst zu verstehen und in Bewegung (auch mit Instrument) zu setzen. Das Modul 2 versteht sich als Gruppentraining, und auch dabei stehen wieder mehrere verschiedene Kurse zur Auswahl – unter anderem die folgenden: • Bewegungsimprovisaton – ein Training, das eher ruhig und entspannt ist. Die Körperübungen sind sehr spielerisch gestaltet. • „Bodyfit“ – ein Fitness-Programm mit rhythmischer unterstützender Musik. • Krafttraining für MusikerInnen mit Dehn-, Koordination- und Mobilisationsübungen • Pilates, das Präzision und Kontrolle des „Powerhouse“ (Stützmuskulatur im unteren Rumpfbereich) in Kombination mit Zwerchfellatmen trainiert. 10.2. Abteilung für Integrative Atem-, Stimm- und Bewegungsschulung179 Diese Abteilung an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, geleitet von OA Dr. med. Bernhard Riebl, bietet ein umfangreiches Lehrangebot zur Verbesserung der eigenen Wahrnehmungsschulung, Atem-, Stimm- und Bewegungspraxis, Entspannungstechniken und Konzentrationspraxis an. Diese Lehrveranstaltungen sind zum Teil Pflichtfächer, zum anderen Teil im Wahlfachbereich angesiedelt. Zielsetzung dieser Lehrveranstaltungen ist: • Vorbeugung von berufsbedingten Beschwerden • Optimierung von Übe- und Trainingsabläufen mit sensomotorischen Methoden • Schulung der Eigenwahrnehmung und Wahrnehmungsfähigkeit im pädagogischen Sinn; Biofeedback 179 • Verbesserung der psychophysischen Fitness und Präsenz • Überwindung von physischen und psychischen Blockaden • Positiver Umgang mit der Auftrittssituation http://www.mdw.ac.at/I113/a3/ (29.03.2009) 89 Die wichtigsten Unterrichtsmethoden sind Atem, Stimme und Bewegung nach Hilde Langer-Rühl, Feldenkrais, Autogenes Training, Dispokinese, Funktionelle Entspannung, Musikalische Körpersprache, Qi-Gong, T'ai Chi. Die theoretischen Hintergründe und der Umgang mit physischen Problemsituationen werden in musikphysiologischen Vorlesungen und Praktika bearbeitet. 10.3. Mein persönliches Fitness- und Therapieprogramm Zuletzt möchte ich noch über mein eigenes körperliches und geistiges Fitnessprogramm berichten, das in gewisser Weise unter dem taoistischen Motto „Werde du selbst“ steht. Ich möchte an meinem Beispiel zudem zeigen, was zu beachten ist, wenn ein Training effektiv sein soll. Für ein effektives Training sollte man seinen eigenen Körper gut kennen. Ich zum Beispiel weiß für mich, dass ich nach Übungseinheiten sehr viel Regenerationszeit, also viel Ruhe und Schlaf, brauche. Das liegt einfach an meinem physischen und psychischen Allgemeinzustand. Wenn sich der Körper zwischen einzelnen Trainingseinheiten nicht ausreichend regenerieren kann, kehrt sich der Trainingseffekt um: Der Körper wird anfällig für alle möglichen Viren und Keime, und dieser Zustand kann Stunden und auch Tage andauern. Umgekehrt hilft die Regeneration auch, damit das Gehirn die eingeübten Bewegungen bzw. Muster abspeichern kann. Das führt mich zu einem weiteren wichtigen Punkt: Sport ist gesund – aber nur in der richtigen Dosierung, die jeder für sich selbst finden muss. Ich weiß, welche Sportart ich in meiner jeweiligen Verfassung in welcher Intensität praktizieren kann. Am Anfang der jeweiligen Übungen brauche ich zudem Zeit: Zeit für mich selbst und um die Übungen zu genießen. Diese Zeit muss ich mir nehmen, denn nur so fühle ich mich beim Sport gut. Danach kann ich dann mit neuer Kraft an meinem Instrument üben. Ich habe mich in letzter Zeit asiatischen Gymnastik- und Meditationpraktiken zugewendet und dabei die Erfahrung gemacht, dass es günstig ist, ein Bild, einen Klang, eine Farbe, einen Spruch, oder einen Geruch vor sich zu haben. Diese Bilder, Klänge, Farben, Sprüche, Gerüche können mich leichter zu „meiner Mitte“ führen. 90 Dabei wiederum halte ich mich an folgende Weisheit der Tibeter: Finde deine Mitte. Dieses Zentrum ist die Quelle deines Lebens. Es ist wie ein stiller See, der von keiner Leidenschaft bewegt ist. Es ist eine tiefe, spirituelle Stille, die entsteht, wenn das Denken mit seinen Worten und Bildern zum Stillstand kommt. Schöpfe deine Handlungen aus dieser Stille. Zu meinem Übungsprogramm: Ich praktiziere Pilates-Übungen zu Hause. Dabei verwende ich die Audio-CD (bzw. die DVD) „Pilates – Allein zu Hause“ und Audio-CD „Pilates für Anfänger“ von Barbara Mayr. Das sind Übungsprogramme, die rund eine Stunde lang dauern. Es gibt aber auch zwei Kurzversionen von jeweils acht Minuten, die ich ebenfalls gerne mache. Wenn ich nicht Lust auf viel Bewegung habe, aber neue Energie tanken will, praktiziere ich Qigong-Übungen, und zwar mit der CD „Entspannt, gelassen und Hellwach“ oder einer DVD. Wenn ich Taiji üben will, brauche ich eigentlich mehr Raum dafür als in meiner Wohnung vorhanden ist. Deshalb mache ich zumeist nur Übungen, die sich auch auf wenig Platz machen lassen. Was mir sehr viel bedeutet, sind gemeinsame TaijiStunden mit meinem Taiji- und Qigong-Meister Dr. Wendelin Munter und meinen KollegInnen vom USI Wien. Ab Frühling können wir die wieder im Prater praktizieren. Das Besondere am Taiji ist für mich, dass mir diese Art von langsamem Tanz viel Energie gibt. Außerdem besuche ich den Bodyfit-Kurs im dritten Semester. Das sind Kraft-, Lockerung-, Tanz- und Geschmeidigkeitsübungen, die gemeinsam mit netten Kolleginnen, mit Lachen und guter brasilianischer Musik praktiziert werden. Das Standardtanzen macht nun im Winter gerade Pause, weil ich mit Magisterarbeit und dem Flötenspiel zu sehr beschäftigt bin. Wenn dabei starke Schmerzen auftreten, ist mein TENS-Gerät (neben Antirheumatika) mein bester Freund. 91 Zu meinem Therapieprogramm zählt außerdem craniosakrale Selbstwahrnehmung. Ich gönne mir einmal im Monat eine Sitzung mit meinem Physiotherapeuten und Osteopathen Alexander Eibensteine, um gespeicherte Blockaden in meinem Körper zu lösen und den „Flow“ des craniosakralen Rhythmus wiederherzustellen. Schließlich betreibe ich auch noch Hatha-Yoga. Das Ziel von Hatha-Yoga ist das Erreichen eines ausgewogenen Zustandes der polarisierten Kräfte in uns, um so leichter das innere „Ich“ zu finden. Ich versuche mindestens drei Workouts pro Woche zu machen und habe besondere Freude daran, wenn ich mich nicht zwingen muss, die Einheiten zu machen und wenn ich die Zeit davor, währenddessen und danach genießen kann. Dann bin ich glücklich und kann den täglichen Herausforderungen, den Schwierigkeiten und manchmal auch den Schmerzen, besser widerstehen, die mich zu letztlich zum Thema dieser Magisterarbeit gebracht haben. 92 11. Zusammenfassung In dieser Magisterarbeit werden Musikererkrankungen und –beschwerden behandelt – und zwar unter zwei spezifischen Aspekten. Zum einen geht es nicht nur um körperliche Probleme von MusikerInnen ganz allgemein, sondern im Speziellen um jene, von denen QuerflötistInnen betroffen sind. Und zum anderen widme ich mich nicht nur der Diagnose und den Therapien dieser Erkrankungen, sondern insbesondere auch der Prophylaxe, damit es erst gar nicht so weit kommt. In den ersten Kapiteln zeige ich die Relevanz der lange vernachlässigten der Musikerkrankheiten anhand zahlreichen epidemiologischer Studien der vergangenen Jahrzehnte. Diese internationalen Untersuchungen zeigen, dass nicht nur ProfimusikerInnen anfällig für Berufskrankheiten sind, sondern auch schon InstrumentalistInnen in der Ausbildung. Nach einer Darstellung der wichtigsten Musikerleiden wende ich mich den spezifischen Problemen des Querflötenspiels zu – einerseits, weil ich selbst Querflötistin mit einer eigenen Leidensgeschichte bin. Andererseits aber auch deshalb, weil die Querflöte unter den Blasinstrumenten als jenes Instrument gilt, das aufgrund der asymmetrischen Spielhaltung bei den Ausübenden am ehesten zu Fehlhaltungen, Verspannungen und Verletzung führt. In der zweiten Hälfte meiner Arbeit wende ich mich im Detail den Maßnahmen zur der Heilung und Rehabilitation zu. Dann aber vor allem auch der Vorbeugung zu, die in den vergangenen Jahren innerhalb der Musikermedizin einen wichtigeren Stellenwert bekommen hat. Ich gebe einen Überblick über geeignete physioprophylaktische Maßnahmen und die dahinter stehende Theorie, ehe ich zum Abschluss Beispiele der praktischen Umsetzung und meine eigene präventive Praxis vorstelle. Das Fazit der Arbeit ist einfach: Dass zum Musizieren ein gesunder Körper und ein gesunder Geist gehört, um auch „gesunde“ Musik machen zu können: „Healthy body, healthy Mind, healthy music“. 93 Literaturverzeichnis Azad, S. C. et al. (2005). Endogenes Cannabinoidsystem. 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Juli 1979, geboren in Zagreb Staatsbürgerschaft: Kroatien Schulausbildung 1985 – 1993 Volksschule in Zagreb 1986 – 1997 Musikschule in Zagreb, Abteilung Klavier und Abteilung Querflöte 1993 – 1997 Realgymnasium, Matura 1997 Musikschule: Querflöten-Matura mit Auszeichnung bestanden 1997– 2001 Studium Zagreb Musikakademie (Klasse Universität Marina Novak), Abschlussdiplom Akademische Flötistin und Flötenprofessorin mit Auszeichnung bestanden 1998 Musikschule Klavier-Matura mit Auszeichnung bestanden 1998 – 2004 Physiotherapie-Studium an der Hochschule für Medizin, mit Auszeichnung bestanden 2001 – 2005 Studium Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Abschluss IGP Bakk. art. Querflöte (Klasse Robert Wolf), Schwerpunkt Klavier (Klasse Klara HarrerBarany) mit Auszeichnung bestanden 2005 Magisterstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Querflöte (Klasse Furugh Karimi DjafarZadeh), Klavier-Begleitpraxis (Klasse Karin Wagner) 103 2007 Magisterstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Querflöte (Klasse Dorit Führer- Pawikovsky) 104 Erklärung Hiermit erkläre ich, die Arbeit selbständig verfasst und die verwendete Literatur vollständig zitiert zu haben. Etwaige nicht ausgewiesene Quellen mit Bezug auf die Anatomie und Therapievorschläge stammen aus meinen praktisch erworbenen Fachkenntnissen im Rahmen meines Physiotherapie-Studiums in Zagreb. Marija Podnar 105 Danksagung Ganz besonders und zuvorderst möchte ich mich bei meinen Betreuern Ao. Univ.Prof. Mag. Dr. Mathias Bertsch und OA Dr. med. Bernhard Riebl für die hilfreiche Unterstützung, für ihre Literaturhinweise (sowie die zur Verfügung gestellten Zeitschriften) und Beratung der Magisterarbeit bedanken. Bei der Entstehung meiner Magisterarbeit wurde mir freundliche Unterstützung von verschiedenen Seiten zuteil. Ich danke meinen lieben FreundInnen, die mir bei dieser Magisterarbeit geholfen haben: Besonderen Dank sage ich meinem Freund Dr. Klaus Taschwer, der den Fortgang der Magisterarbeit in vielfältiger Weise mit Rat und Tat gefördert hat. Ferner bedanke ich mich bei Frau Mag. Katrin Taschwer für das erste Korrekturlesen, das viel in Bewegung brachte. Bedanken möchte ich mich bei Frau Silvia Erdik für das Korrekturlesen, administrative (kopieren, drucken, binden) und, vor allem, menschliche Unterstützung. Dankeschön sage ich auch Herrn Martin Furch für administrative (kopieren, drucken) und menschliche Unterstützung. Ich hätte es ohne Euch nicht so leicht geschafft. Ein herzliches Dankeschön für Eure kostbare Zeit und Eure Freundschaft! Last but not least sage ich meiner Hauptfachlehrerin Ao. Univ. Prof. Dorit FührerPawikovsky besonderen Dank für fachliche und menschliche Unterstützung in jeder Hinsicht. 106