Mitteilungen 2015-2 Winter - Friedenspreis des Deutschen

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Mitteilungen 2015-2 Winter - Friedenspreis des Deutschen
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Herbst 2013
Mitteilungen
Winter 2015
Inhalt
Seite 2
Thema Friedenspreis 2015
Alles über die Verleihung in der
Frankfurter Paulskirche von Stefan
Weidner, Norbert Lammert und
zahlreichen Pressestimmen
Navid Kermani
Seite 10
„Nicht mit Kanonen.“
Friedenspreisträger zu den Anschlägen
in Paris und zum Krieg in Syrien
Seite 13
Dem Unbekanntem
eine Stimme geben
„Zwischen Zeilen“ auf der Frankfurter
Buchmesse – ein Rückblick
Seite 14
Klappentexte
Neueste Veröffentlichungen von
Friedenspreisträgern und anderen
Seite 20
Nachruf
auf Helmut Schmidt
und André Glucksmann
Seite 21
Astrid Lindgren
Ein Briefwechsel mit Astrid Lindgren.
Sara Schwardt im Gespräch
mit Niels Beintker
Seite 22
„Von einer verlorenen Schlacht“
Nobelpreis-Vorlesung von
Swetlana Alexijewitsch
Seite 28
Aus den Archiven:
„Die Friedenspreis-Karaoke-Box“
Über ein im Papierkorb gelandetes Projekt zum Friedenspreis
Impressum
Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.
Geschäftsstelle
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Schiffbauerdamm 5
10117 Berlin
[email protected]
Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels 2015
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani
Der deutsche Orientalist, Schriftsteller und Essayist Navid Kermani ist am 18. Oktober 2015 mit
dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Verleihung fand vor
rund 1.000 geladenen Gästen in der Frankfurter Paulskirche statt, unter ihnen Bundestagspräsident
Norbert Lammert. Die Laudatio hielt der Literaturwissenschaftler Norbert Miller.
ge Kulturdenkmäler der Menschheit von Barbaren in die
Luft gesprengt (…) – aber wir versammeln uns und stehen
erst auf, wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst
trifft wie am 7. und 8. Januar in Paris, oder wenn die
Menschen, die vor diesem Krieg fliehen, an unsere Tore
klopfen.“ Der Einsatz für die Flüchtlinge in Europa sei
beglückend, aber zu unpolitisch. „Wir führen keine breite
gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors
und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene
Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich
vor unseren Grenzen abspielt. Wir fragen nicht, warum
unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet
Saudi-Arabien ist. (…) Nichts ist uns eingefallen, um den
Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vier
Jahren am eigenen Volk verübt“, so Kermani.
Zuvor sprach Kermani über das Miteinander von Christentum und Islam, über die religiöse Kultur des Islams
der Geschichte, dessen Originalität, seine geistige Weite,
ästhetische Kraft und humane Größe. Er erzählt die Geschichte von Pater Jacques, einem syrischen Christen, der
den Islam liebt und ihn stets gerechtfertigt habe. Navid
Kermani ist Muslim, er sagt: „Wer als Muslim nicht mit
ihm (dem Islam) hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn
kritisch hinterfragt, der liebt den Islam nicht.“
Urkundenübergabe an Navid Kermani durch Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller (Foto: dpa)
Navid Kermani forderte in seiner Dankesrede ein entschlossenes Verhalten von Europa in Bezug auf den Krieg
in Syrien: „Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich
darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und dass auch wir,
als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen,
womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. (…) Und erst wenn unsere Gesellschaften
den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch
die Regierungen bewegen. Wahrscheinlich werden wir
Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den
größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts
oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des ‘Islamischen Staates‘ und
den des Assad-Regimes.“ Der Islam führe keinen Krieg
gegen den Westen. „Eher führt der Islam einen Krieg
gegen sich selbst, will sagen: wird die Islamische Welt
von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren
Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des ersten Weltkrieges heranreichen dürfte“, so Kermani.
In seiner Laudatio stellte Norbert Miller die Literatur
Kermanis in den Mittelpunkt und spannte den Bogen vom
Romanschreiber über den Orientalisten, den Reporter und
den Bildbetrachter bis hin zum Berichterstatter. Navid
Kermanis Leben ist ein Roman, so die zentrale Aussage
Millers. „Dieses Festhalten am Schreibvorgang als Lebensprogramm des Schriftstellers Kermani, der Endlichkeit entgegengehalten, begreift in sich auch alle künftigen
Äußerungen. Sie alle sind, bis auf diesen heutigen Tag,
Teil eines roman à faire“, so Miller.
„Unsere Welt braucht Vorbilder. Menschen, die uns Orientierung geben, die zeigen, dass es sich lohnt, füreinander einzustehen, sich zu engagieren, die beweisen, dass
Frieden und Freiheit nur dann gelingen können, (…) wenn
man bereit ist, für die Freiheit und gegen ihr inneren wie
äußeren Feinde einzutreten. Für den Stiftungsrat des
Friedenspreises ist der Mensch Navid Kermani solch ein
Vorbild: ein aufgeklärter Bürger, der Hölderlin und die
Poesie liebt, der aus der Literatur und aus seiner Religiosität die Anregungen, Erkenntnisse und Kraft schöpft, die
wir, angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten
scheint, alle brauchen“, sagte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins.
Seine Kritik an Europas Verhalten: „Nur drei Flugstunden
von Frankfurt entfernt werden ganze Volksgruppen ausgerottet oder vertrieben, Mädchen versklavt, viele wichti-
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
„Den Islam aus den Klauen der Fanatiker befreien:
Navid Kermanis Frankfurter Friedenspreisrede ist
eine Wegmarke im Kampf gegen Extremismus“
Zum ersten Mal ging der wichtigste Deutsche Kulturpreis an ein Kind muslimischer Einwanderer,
den 1967 geborenen deutschen Muslim, Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani. Seine
kämpferische Rede dürfte in die Geschichtsbücher eingehen.
Von Stefan Weidner
Leidensgeschichte aus Syrien
Kermani erzählte in seiner Dankesrede unter anderem die
Geschichte des Jesuitenpaters Jacques Mourad aus dem
syrischen Städtchen Qaryatain, der von den Verbrechermilizen des islamischen Staates entführt worden war.
Dabei muss man wissen, dass Pater Jacques kein Missionar war, sondern einer, der inmitten von Muslimen, für
Muslime und in Freundschaft zu ihnen (und sie zum ihm)
lebte(n). Er tat viel Gutes in seiner Stadt, wovon sich
Kermani bei seinem Besuch in Syrien 2012 selbst überzeugen konnte. Dennoch wurde er vom IS entführt, gefangengenommen, gedemütigt.
Zwei Streiter für den Frieden: Juri Andruchowytsch, 2006 mit
dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung
ausgezeichnet, und Navid Kermani. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Am Sonntag, den 18.10.2015, wurden die Besucher, die
anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani in der Frankfurter
Paulskirche zusammenkamen, Zeugen eines wahrhaft
historischen Moments. Nicht, weil zum ersten Mal ein
deutscher Muslim mit der wichtigsten Ehrung ausgezeichnet wurde, welche das kulturelle Deutschland gegenwärtig vergibt. Nicht, weil die Preisverleihung in dieser ehemaligen Kirche, welche 1848 der Versammlungsort des ersten freigewählten Parlaments in Deutschland
war, mit einem – religiöse und nicht religiöse Menschen
gemeinsam mit einbeziehenden – Gebet endete, welches
der Ausgezeichnete angeregt hatte und dem er wie ein
Vorbeter mit unsagbarer Würde vorstand. Nicht, weil
mehr Besuchern die Tränen in den Augen als wohl je an
diesem geschichtsträchtigen Ort. Und auch nicht, weil es
(wie ein greiser Besucher, der schon viele Friedenspreisreden gehört hatte, danach sagte), die traurigste Rede
gewesen sei, die man hier jemals gehört habe.
Jo Lendle hört mit. Laudator Norbert Miller im Gespräch
mit Rüdiger Safranski. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Kermani erzählt diese Geschichte und stellt die berechtigte Frage, wie es möglich geworden ist, eine solche und
viele andere „Schweinetaten“ (so wörtlich) im Namen
einer Religion, des Islams, zu vollbringen und zu rechtfertigen. Die Erklärung findet sich, wie Kermani aufzeigte,
einerseits in der Geschichte, nämlich in der schockartigen
Begegnung der islamischen Welt mit einer oft gewaltsam
aufgezwungenen, aus Europa importierten Moderne; und
andererseits in der Gegenwart, wo jeder echte Bezug zur
historisch gewachsenen Tradition durch die Behauptung
der Rückkehr zu einem vermeintlichen Uranfang ersetzt
wird. Und wo der Westen die besten Geschäfte ausgerechnet mit Saudi-Arabien macht, dessen Ideologie, der
Wahhabismus, mit der Ideologe des Islamischen Staates
fast identisch ist, und das im eigenen Land, sogar in Mekka und Medina, jede echte Tradition zerstört: „Wo bis vor
wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed
Sondern weil in einem kollektiven Akt, der sich aus einer
bewegenden Rede, aus Aufmerksamkeit, Ergriffenheit
und last but not least aus der Anwesenheit wichtiger
Politiker und gesellschaftlicher Repräsentanten zusammensetzte, weil in diesem Festakt der Islam, die Muslime
und letztlich alle, die mit Muslimen zu tun haben, aus der
Geiselhaft befreit wurden, in die die Muslime seit über
anderthalb Jahrhunderten, erst durch den westlichen
Kolonialismus, dann durch die Antwort auf ihn in Gestalt
des religiösen Fundamentalismus, geraten waren.
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches Klo.“
Navid Kermani ist dieser Appell gelungen, weil ihm gelungen ist, was einem Schriftsteller gelingen sollte: Das
Wort zu gebrauchen, im richtigen Moment, an der richtigen Stelle. Die Befreiung des Islams aus der Geiselhaft
des religiösen Faschismus erfolgte an jenem 18.10.2015
in der Paulskirche durch das allen Zuhörern auf sinnlichste Weise erfahrbare Wort, die Parabel. Die Parabel, das
Lehrstück, war in diesem Fall die Geschichte von Pater
Jacques Mourad selbst. So wie dieser vom IS gefangen
wurde, ist auch der Islam vom IS gefangen genommen
worden.
Kampf, aber für den Frieden
Ja, Navid Kermanis Rede war eine Kampfansage. Gott sei
Dank. Denn dass dieser Kampf, der Kampf gegen die
Geiselnahme der Religion durch den „religiösen Faschismus“ (so Kermani wörtlich), wie er uns in Gestalt SaudiArabiens, des Islamischen Staates, aber auch Irans begegnet, eines Tages geführt werden muss, und zwar von
Muslimen und von Nicht-Muslimen gemeinsam, weil
nämlich beide darunter leiden – das haben natürlich auch
vorher schon einige gedacht. Es ist aber noch nie in solcher Klarheit, an einem solch symbolträchtigen Ort, vor
einem solch ausgewählten Publikum, vor laufenden Fernsehkameras und mit solcher Dringlichkeit, moralischer
Glaubwürdigkeit und rhetorischer Kraft gesagt worden.
Ja, es ist schon gedacht und geschrieben worden, aber es
ist doch noch nie so wie hier gesagt worden, nämlich so,
dass es alle, wirklich alle begreifen und glauben; dass es
alle dem Sprecher abkaufen – dem Sprecher, einem gläubigen Muslim, dem nichts ferner steht, als berechtigte
Kritik an den negativen Auswüchsen der Religion für
Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit oder Gefühle billiger moralischer Überlegenheit zu missbrauchen. „Die
Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur, zum eigenen
Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in
der Selbstkritik“, lautete einer der wichtigsten Sätze der
Rede.
Links neben Pater Paolo sitzt Pater Jens, der mit Schwester
Friederike und anderen in Nordosten von Irak 2011 ein neues
Kloster gegründet hat, in dem sich momentan etwa 200 christliche Flüchtlinge aus Syrien auf-halten. Pater Jens und Schwester
Friederike waren Ehren-gäste bei der diesjährigen Friedenspreisverleihung. (Foto: Anna-Sophie Müller-Gugenberger)
„Gibt es Hoffnung?“, fragte Navid Kermani mehrmals. „Ja,
es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung“, lautete seine
Antwort. Und tatsächlich: Pater Mourad ist befreit worden, befreit worden von Muslimen aus den Fängen des IS.
Nicht anders hat Navid Kermani durch seine Rede und
mit Hilfe seines wie in einer antiken Tragödie mitleidenden, größtenteils gar nicht einmal muslimischen Publikums den Islam aus der Diskursherrschaft der Fanatiker
in Ost und West befreit. In der Paulskirche, die heute gar
nicht mehr wie eine Kirche aussieht, sondern eher wie ein
Amphitheater, hat Navid Kermani uns und alle, die ein
offenes Herz dafür haben, eine Katharsis, eine Läuterung
und Waschung der Herzen geschenkt, von der wir erst in
dem historischen Moment, in dem wir sie empfangen
haben, erkannten, wie furchtbar lange sie uns vorenthalten worden war.
Herzlichen Dank an Stefan Weidner für die Erlaubnis,
diesen Text, der in Deutsch, Englisch und Arabisch auf
www.qantara.de erschienen ist, hier andrucken zu dürfen.
Das Kloster Mar Musa al-Habashi in Syrien, das
von Pater Paolo Dall’Oglio gegründet wurde.
(Foto: Anna-Sophie Müller-Gugenberger)
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
Pressestimmen
Eine wichtige und nachhaltig wirkende Rede hat Navid Kermani gehalten. Dieses Urteil haben fast
alle Berichterstatter in der Frankfurter Paulskirche gefällt, wobei einzelne Aspekte aus seiner Friedenspreisrede bis heute – auch aufgrund der aktuellen Situation in Syrien – immer wieder aufgegriffen werden. Wir dokumentieren hier einige Ausschnitte aus den zahlreichen Pressestimmen,
auch die kritische Auseinandersetzung über den abschließenden Aufruf zum gemeinsamen Gebet.
Christoph Strack (Deutsche Welle 18.10.2015)
heit täuscht darüber hinweg, auf welche Weise wir, der
Westen, in diese Kriege verstrickt sind.
Ob mit dem Israeli David Grossman (2010), dem Algerier
Boualem Sansal (2011), dem Chinesen Liao Yiwu (2012),
der jetzt auch mit dem Nobelpreis geehrten Weißrussin
Swetlana Alexijewitsch (2013) oder dem US-Amerikaner
Jaron Lanier (2014) - der Jury gilt mehr als Respekt für die
glücklichen Entscheidungen der vergangenen Jahre. Autoren, die mitleiden und daraus mit Kraft, Wut oder auch
Zärtlichkeit schreiben. Navid Kermani hat sich mit seiner
großen Rede beeindruckend in diese Tradition gestellt.
Franziska Augstein (SZ 19.10.2015)
Manche Agenturen haben verbreitet, Kermani wünsche
einen Krieg gegen den IS. In seiner Rede sagte er: "Darf
ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen?" Das tue er
natürlich nicht. Ihn quält indes, dass der Westen dem
Krieg in Syrien und dem Aufstieg des IS tatenlos zusehe.
Diplomatische Mittel sollten eingesetzt werden, zur Not
militärische Mittel. Kermani weiß vermutlich, dass Waffen,
mit denen die USA „gemäßigte“ (wie das im Westen genannt wird) islamistische Gegner des syrischen Präsidenten Assad unterstützen wollten, neulich prompt an den IS
weitergegeben wurden. Er weiß, was die Rede eines Friedenspreisträgers verlangt. Sie war kein Aufruf zum Krieg.
Sie war ein mit Inbrunst vorgetragener Weckruf.
Gerrit Bartels (Der Tagesspiegel 19.10.2015)
Es gibt zwar Applaus in der Paulskirche, als Kermani
einmal ein Loblied auf Europa singt: auf die europäische
Einigung, „dem politisch Wertvollsten, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat“, auf ein Europa, dass nicht
zuletzt wegen seiner Freiheitsversprechen der Sehnsuchtsort so vieler Flüchtlinge ist. Doch als er das Ausbleiben breiter gesellschaftlichen Debatten hierzulande beklagt, Debatten über den Terror und die Schuld, die auch
die westliche Welt daran trägt, als er eine größere Politisierung der Zivilgesellschaft fordert, bleibt es ruhig, was
womöglich als zustimmendes Schweigen zu deuten ist.
Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime
in Deutschland, und Friedenspreisträger Navid Kermani
begegnen Karl-Josef Kuschel, der im Stiftungsrat für den
Friedenspreis sitzt. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Richard Kämmerlings (Die Welt 18.10.2015)
Jürgen Kaube (FAZ 19.10.2015)
„Gibt es Hoffnung?“ Diese verzweifelte Frage war das
andere Leitmotiv. Sie schien sich angesichts der endzeitlich verfinsterten Weltlage von selbst zu beantworten, aber
es ist Kennzeichen des religiösen Denkens, gerade in der
Apokalypse die Hoffnung auf Erlösung zu erhalten, ja
gerade dort. So war es eine Überraschung, fast ein Schock,
aber doch zugleich absolut konsequent von Kermani, das
Publikum am Ende zum Gebet aufzufordern, „für Pater
Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein“. Auch wer nicht religiös sei, solle doch mit seinen
Wünschen bei den Entführten sein, und: „Was sind denn
Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind?“
Dann bat er noch im Gestus eines Geistlichen darum, sich
zu erheben, „damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein
Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten“. Spätestens
hier mussten viele Zuhörer ihre Tränen verbergen.
Doch Kermanis Rede war nicht nur eine über den in sich
zerfallenen Islam. Als zweites sichtbares Symbol für den
Niedergang seines Geistes nannte er neben den zerstörten
Altstädten die größte Shopping Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba erbaut wurde. Die Moderne
selbst, hieß das, enthält Elemente der Zerstörung des Besten an ihr und ihrer Vorgeschichte. Die Tabula rasa, die
jener Fundamentalismus macht, den Kermani bei seinen
wahhabitischen, salafistischen und saudi-arabischen Namen nannte, ist kein Gegensatz zu modernen Rücksichtslosigkeiten – so wenig wie der „Islamische Staat“ ein Gegensatz zu Assad ist und der Westen ein Gegensatz zum
Orient, wenn es um Erdöl, um die Finanzierung und um
die Waffen für ihre Kriege geht. Das ungenaue Bild vom
Kampf des Fortschritts mit den Mächten der Vergangen5
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
Es war ein Moment höchster Ergriffenheit, wie ihn der
Friedenspreis in seiner jüngeren Geschichte noch nie
erlebt haben dürfte. Zugleich ein Moment tiefer Trauer,
aber auch der Hoffnung. Navid Kermani hat uns einen
Augenblick der Rührung abverlangt, der uns alle in die
Pflicht nimmt.
der mildesten Form einer religiösen Geste provoziert fühlt.
Gewiss, Kermani hätte auch einfach nur zu einer Minute
des stillen Innehaltens aufrufen können. Das Unbehagen
ungewohnter Ergriffenheit bei gleichzeitig totaler Ernüchterung über die eigene Ohnmacht wäre erträglicher gewesen. Aber vielleicht lag Kermani gerade an solcher Verstörung. Seine Zuhörer sollten physisch und performativ im
Selbstvollzug erfahren, dass unter den Zumutungen, welche die Moderne prägen, diese nicht die geringste ist: Die
säkulare Welt fordert den Religiösen auf ähnliche Weise
heraus wie dessen Frömmigkeit manchen Ungläubigen.
Thierry Chervel (Perlentaucher 19.10.2015)
Aber am Schluss hat Kermani der deutschen Geschichte
vor allem das Bild einer kollektiv betenden Paulskirche
geschenkt. Viele hat es ergriffen. Vielleicht ist es ein sehr
deutsches Bild, denn Deutschland hat sich nie ganz von
der Idee des Säkularismus überzeugen lassen. Und doch
ist die Paulskirche einer der wenigen historischen Orte, in
dem sich das Land zaghaft aus dem Bann der Autoritäten
löste - auch der religiösen! Ich behaupte, dass mein Mitgefühl für die Opfer des Islamischen Staats genau so tief ist
wie das Kermanis, aber ich möchte mich nicht als armer
Ungläubiger, dem laut Kermani nur der defiziente Modus
des Wünschens bleibt, in ein Bild ökumenischer Frömmigkeit einbauen lassen. Oder, wie Schleiermacher sagte:
Der Mensch hebt sich auf, indem er sich setzt.
Navid Kermani stellt Pater Jens Petzold
einem weiteren Gast vor. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Johan Schloemann (SZ 20.10.2015)
Wer ein solches Gebet veranstaltet, gar für die „Freiheit
Syriens und des Iraks“, der droht sich - auch wenn es in
der Paulskirche am Sonntag unendlich menschenfreundlicher gemeint war - genau jener Beschwörung einer politischen Theologie anzugleichen, die er dem radikalen Islam
als Übergriff vorwirft. Insbesondere wenn er damit, wie
Kermani, den Terroristen „ein Bild unserer Brüderlichkeit
entgegenhalten“ will, also meint, so im Bilderkrieg mit
dem IS bestehen zu können.
Ist solche Kritik nicht aggressiv religionsfeindlich? Nein,
das Gegenteil ist richtig: Die Religionsfreiheit gebietet, das
Gebet den einzelnen Bekenntnissen zu überlassen. Und
wenn Navid Kermani dem gottlosen Westen das Christentum erklären will, dann sollte er auch die Bergpredigt
beachten: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die
Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren
Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein
Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem
Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das
Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“
Michael Jäger (Der Freitag 21.10.2015)
Schon vor Jahren sagte Kermani, dass mit der „kompletten
Verdrängung des Religiösen“ ein „religiöser Analphabetismus“ einhergehe, der zu einer „grundlegenden Verarmung
der Gesellschaft“ führe. Dieses Motiv spielt in seiner Friedenspreis-Rede eine grundlegende Rolle. Würde die Aufforderung zum Wünschen als „Übergriff“ wahrgenommen,
wenn Kermani sie nicht mit dem Beten parallelisiert hätte?
Wohl kaum. Dabei könnte man wissen, dass es die Parallele wirklich gibt. Ein Friedrich Nietzsche scheute sich nicht,
seine Suche nach übergreifenden Zielen als Suche nach
einem „Gott“ zu bezeichnen, obwohl er mit jeglicher Religion gebrochen hatte. So hätte Nietzsche auch – umgekehrt wie Kermani – vom Wünschen sagen können, es sei
eine Art Beten. Wer zu solchen Brücken bereit ist, ist in
der Lage, mit religiösen Menschen zu kommunizieren.
Weil er von ihrer Religion etwas weiß. Wie kommt es nur,
dass man heute glaubt, Irreligiosität verwirkliche sich am
besten, wenn die religiöse Kenntnis vernichtet sei? Und
das in einer Welt voller Christen und Muslime?
Toleranz kommt so nicht zustande. Eher kommt etwas
heraus, was dem IS-Terror nicht unähnlich ist. Das ist
Kermanis Botschaft. Der IS vernichtet ja alles, was von
seiner Doktrin im Geringsten abweicht. Hätte er Erfolg,
würde die Welt nichts mehr kennen als die IS-Religion.
Wozu bräuchte man dann noch Toleranz? Viele Muslime
flüchten jetzt zu uns aufgeklärten Menschen, die wir religiöse Analphabeten sind. An ihnen Toleranz zu üben,
werden wir noch reichlich Gelegenheit haben.
Roman Bucheli (NZZ 21.10.2015)
Man mag solche Bedenken deutscher Überempfindlichkeit
gegenüber allen Formen der kollektiven Erregung zuschreiben. Und dennoch stellen sie ein Armutszeugnis
aus. Sie sind die Symptome einer Krise des säkularen
Denkens, das sich noch selbst von der Schwundstufe oder
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
Necla Kelek (Die Welt 22.10.2015)
pas, die sich auf den Koran berufen – und am Rednerpult
der Frankfurter Paulskirche steht seelenruhig ein Mann,
der die Hände zum Gebet ausbreitet – in unverkennbar
muslimischer Manier. Man sieht direkt Michel Houellebecq vor sich, wie er triumphierend lächelt: Da seht ihr es,
welch eine Allegorie der Unterwerfung! Das christliche
Abendland hat abgedankt, beugt sich bereitwillig jedem,
der sich zum Imam aufwirft.
In Wahrheit hat Navid Kermanis Paulskirchenrede vom
18. Oktober die süffisant-larmoyante Science-FictionKonstruktion Houellebecqs („Unterwerfung“) wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht. Ein Kölner Intellektueller,
dessen Eltern aus dem Iran stammen, ist der derzeit
scharfsinnigste und scharfzüngigste Geist der Republik,
der mit allem und jedem ins Gericht geht, am gnadenlosesten mit seiner eigenen Religion – diese Eventualität
übersteigt das Fassungsvermögen eines Houellebecq. Das
masochistisch-lustvolle Sich-hinein-halluzinieren in ein
Frankreich der nahen Zukunft, das sich einem Kreide
fressenden islamistischen Präsidenten unterwirft und all
seine heiligen säkularen Errungenschaften kampflos
preisgibt, ist ein Gedankenspiel, das nur funktioniert,
wenn man einen Navid Kermani vollständig ausblendet.
Oder, anders gesagt: Armes Frankreich, das einem windigen Untergangspropheten huldigt! Glückliches Deutschland, das einem muslimischen Gelehrten und begnadeten
Geschichtenerzähler zuhört, der ihm das in Jahrhunderten
samt seiner Aufklärung in Ritualen erstarrte christliche
Abendland so lebendig erklärt, als wär’s gestern geschaffen worden! (19.11.2015)
Und dann diese Rede! Sie war angelegt wie eine Sinfonie.
Es begann mit der Ouvertüre des Berichts über ein Kloster
von christlichen Mönchen, die den Islam lieben und deren
Pater Jacques vom IS entführt worden war. Was sich zunächst wie eine Abschweifung anhörte, instrumentierte
sein Thema, die „Nächstenliebe“ über Religionsgrenzen
hinweg. Die folgenden sinfonischen Sätze, mal schnell,
mal langsam komponiert, steigerten sich zunächst in eine
leidenschaftliche Anklage gegen die Schrecken, die der
Islamische Staat, aber auch die islamischen Staaten wie
Saudi-Arabien der Welt, den Menschen und der Religion
antut. Er zählte auf, was im Namen des Islam in aller Welt
an Verbrechen verübt wurde und wird. Und bezeichnete
dies als "islamischen Faschismus".
Martin Gehlen (Südwest Presse 24.10.2015)
Im Westen ist das Datum längst vergessen, für die Welt
des arabischen Islam aber war der 20.11.1979 eine Zäsur
mit katastrophalen Folgen. Mit ihr begann - wie es Navid
Kermani bei seiner Friedenspreisrede in Frankfurt formulierte - der Krieg des Islam gegen sich selbst, der fast vollständige Bruch mit seiner Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie. Der
multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Orient
sei untergegangen, diagnostizierte Kermani, „den ich in
seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo
und Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan
(...) als eine zwar bedrohte, niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt habe“.
Am 20.11.1979 besetzten 500 radikale Gotteskrieger die
große Moschee in Mekka. Zwei Wochen dauerten die
Kämpfe, hunderte Pilger starben, am Ende lag das zentrale
Heiligtum des Islam teilweise in Trümmern. Das saudische
Königreich, die Heimat des Propheten Mohammed, war bis
in die Grundfesten erschüttert und reagierte mit einem
ebenso fundamentalen wie folgenschweren Kurswechsel.
Die Gewalttäter exekutieren, ihre geistigen Brandstifter
dogmatisch befrieden, lautete die doppelte Marschroute.
Und so wurde in punkto sittlicher Strenge und religiöser
Eindeutigkeit kräftig nachgearbeitet. Fortan ging ein Drittel der Schul- und Studienzeit mit Koranauslegung und
Scharia-Unterricht drauf. Statt Vokabeln zu lernen und
sich Formeln einzuprägen, büffelten saudische Schüler
heilige Suren und Episoden aus dem Leben des Propheten.
Frauen mussten sich verschleiern, Männer ließen sich
Bärte wachsen, selbst auf den Dörfern erschienen plötzlich
Religionspolizisten. Bald waren die Jungen konservativer
als die Alten.
Stiftungsratsmitglied Janne Teller im Gespräch
mit Elisabeth Ruge. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Rainald Goetz (Dankesrede Georg-Büchner-Preis)
Immer im Oktober ist wieder Deutscher Herbst, jedes Jahr
ist wieder Nacht von Stammheim, und alle zwei Jahre
schaue ich wieder nach, wie war es noch einmal genau im
Oktober mit den Tagen des Todes, der Politik, Wartburgfest und Schlacht von Leipzig, den Tagen der Geburt: 17.
Oktober Büchner, 18. Oktober Kleist geboren, und dazwischen, in der Nacht, die Toten von Stammheim, Raspe,
Ensslin, Baader. Ein deutsches Datum, fast wie der
Florian Sendtner (Mittelbayerische Zeitung)
Zum Schluss seiner fast einstündigen Rede, die einem
kleinen katholischen Kloster in Syrien gewidmet war, das
vom Islamischen Staat terrorisiert wird, bat Kermani die
vollbesetzte Paulskirche, sich zum Gebet für dieses syrische Kloster zu erheben. Massenmörder im Herzen Euro7
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
9. November. Zehn Jahre hat es gebraucht, von 1977 bis
1987, bis hier an dieser Stelle Erich Fried in seiner Rede
auch an die Toten von Stammheim erinnert hat. 1977, bei
der Preisvergabe an Reiner Kunze, vier Tage nach der
Nacht von Stammheim, kam dazu, zu Stammheim, kein
Wort.
Leise klingt da ein Vorwurf an, der einem ersten Gefühl
auch entspricht, aber in Wirklichkeit ist diese Verspätung,
deshalb erzähle ich davon, Hinweis auf eine der besten
Qualitäten von Literatur überhaupt, auf ihre Langsamkeit.
Sie stellt sich der Welt, aber langsam, das macht den Autor
so panisch, unendlich langsam. Navid Kermani beschäftigt
sich seit 1988, seit über fünfundzwanzig Jahren mit den
Dingen, zu denen er jetzt aktuell in seiner Friedenspreisrede gesprochen hat. Nur deshalb erreicht sein von eigener Erfahrung, von Wissen, von Mitgefühl für das Leben
anderer Menschen der Fremde so kompliziert mit Wirklichkeit aufgeladenes Denken über die Gegenwart von
Krieg und Frieden, Flucht und Religion, dieses Niveau, das
zur öffentlichen Rede berechtigt.
In die Freude an der Rückkehr des politischen Schriftstellers, wie sie in den letzten Wochen von vielen geäußert
worden ist, kann ich nicht einstimmen. Gerade das Beispiel von Navid Kermani zeigt, wie voraussetzungsreich
eine Autorschaft gemacht sein muß, wie vielfach gebrochen, marginalisiert, davon betrübt und zugleich euphorisiert, wie sehr, bei aller Kritik, weltbegeistert sie sein muß,
daß sie sich die Rolle des politischen Schriftstellers, die
auch besonders schön leuchtet, zutrauen darf.
(31.10.2015)
Den derzeit überzeugendsten Erklärungsansatz dafür
bietet Navid Kermani, der es in seiner Friedenspreisrede
in der Frankfurter Paulskirche so formulierte: „Vielleicht
ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.“ Genau jener Traditionsbruch, den
Kermani beklagte, ist eines der schwerwiegendsten Hindernisse, mit denen sich die islamische Theologie und die
muslimische Gemeinschaft in Deutschland auch in Zukunft werden auseinandersetzen müssen. Der Verlust
unterschiedlicher gleichberechtigter Zugänge zum Koran
und des Vorbilds des Propheten und die damit einhergehende sakrale Tabuisierung im exegetischen Umgang mit
den Schriften des Islams führten zur Verfremdung von
zentralen islamischen Termini und Konzepten dieser lebensbejahenden Weltanschauung des Islams.
Jürgen Kanold (Südwest-Presse, 24.11.2015)
Trotzdem: Es war ausgerechnet Friedenspreisträger Navid
Kermani, ein Muslim, der zum Handeln aufrüttelte: „Der IS
wird den Horror so lange steigern, bis wir in unserem
europäischem Alltag sehen, hören und fühlen, dass dieser
Horror nicht von selbst aufhören wird.“ Das sagte Kermani
noch vor den jüngsten Terror-Anschlägen. Aber nicht zum
Krieg wollte er aufrufen: „Ich weise lediglich darauf hin,
dass es einen Krieg gibt - und dass auch wir, als seine
nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch ...“ Kermani meinte den Krieg in Syrien, im
Irak, den Massenmord vor der europäischen Haustür, den
des IS und den des Assad-Regimes. Und er meinte keine
Kriegs-Metaphorik, keine rhetorische Aufrüstung, kein
Erdogan Karakaya (F.A.Z. 24.11.2015)
mediales Pathos, sondern die besonnene, entschlossene
Es fällt allerdings auf, dass die Bedeutungsvielfalt des
Tat.
Märtyrertums in der muslimischen Gemeinschaft hierzulande und weltweit heute wenig bis gar nicht rezipiert
wird. Dafür gibt eine Reihe von Gründen.
Friedenspreisrede bislang in sieben Sprachen übersetzt
Die Nachfrage nach der Rede von Navid Kermani ist im Ausland wie im Inland
immens groß. Das Buch zum Friedenspreis geht mittlerweile in die vierte Auflage
Ob auf Arabisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Persisch, Schwedisch, Spanisch oder doch
auf Deutsch. Mittlerweile ist die Friedenspreisrede von Navid Kermani in sieben weitere Sprachen übersetzt und in namhaften Zeitschriften veröffentlicht worden. Polnisch, Bulgarisch,
Tschechisch und Slowenisch sollen in den nächsten Wochen noch hinzukommen – dies ist in
der langen Geschichte des Friedenspreises beispiellos. Nachzulesen oder verlinkt sind diese
Versionen unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.
Ebenfalls ist es noch nie dagewesen, dass das Buch mit den Reden, die bei der Preisverleihung
gehalten wurden, mittlerweile in die vierte Auflage gegangen ist. Wer noch Exemplare haben
möchte, der sollte sie möglichst rasch über seine Buchhandlung bei der MVB bestellen:
„Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015: Navid Kermani“
herausgegeben vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels
im Verlag der MVB, Frankfurt am Main 2015, ISBN 978-3-7657-3299-7
zweisprachig (deutsch/englisch), 118 Seiten, 14,90 €
8
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Thema: Friedenspreis 2015
„Originell sei diese Preisverleihung nun wirklich nicht.“
Bundestagspräsident Norbert Lammert begegnete in seiner Tischrede beim Friedenspreisessen
dem Umstand, dass manches trotz fehlender Originalität doch gut und wichtig sein kann.
Sehr geehrte Damen und Herren,
gen ist es doppelt beruhigend, dass das rechtzeitig repariert werden konnte.
Sie werden verstehen, dass ich überhaupt nur zögerlich
das Mikrofon in die Hand nehme, weil Sie vermutlich alle,
ähnlich wie ich, den Eindruck haben, dass das, was heute
zu sagen ist, schon gesagt wurde, und dem ist eigentlich
nichts hinzuzufügen. Ich will allerdings aus der Erfahrung
vergleichbarer Situationen wenigsten meine Genugtuung
darüber zum Ausdruck bringen, dass es auch im öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehsystem bei seltenen
Gelegenheiten offenkundig gelingt, jenseits der Verlängerungen von Fußballspielen zu Programmänderungen in der
Lage zu sein und den vorgesehenen Zeitrahmen auszudehnen.
Mit Navid Kermani bekommt in diesem Jahr ein Autor den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der als Wissenschaftler, als Reporter, als Publizist und als Dichter jeweils
herausragende Beiträge zu diesen ganz unterschiedlichen
Aufgabenfeldern geleistet hat. Es wird Sie wiederum nicht
besonders überraschen, dass mir, aus der Perspektive der
politischen Verfassung dieser Republik, nicht nur der
Weltbürger Kermani imponiert, sondern auch und gerade
der Staatsbürger Kermani. Er war Mitglied der ersten Islamkonferenz, die die Bundesregierung aus gegebenem
Anlass einberufen und kunstvoll zusammengesetzt hatte.
Er war Mitglied einer Bundesversammlung zur Wahl des
Bundespräsidenten und er hat vor vergleichsweise kurzer
Zeit eine denkwürdige Rede im Deutschen Bundestag aus
Anlass des 65. Geburtstags unserer Verfassung gehalten,
die erwartungsgemäß ähnlich viel Eindruck gemacht wie
Empörung verursacht hat, wobei mich hierbei auch wieder
nicht überrascht, dass diejenigen, die begeistert waren,
sich noch gut daran erinnern können, während kaum noch
einer zu den Empörten gehören will.
Unter den vielen Büchern, Essays, Aufsätzen und Reden
von Navid Kermani, von denen viele, aber nicht alle, heute
genannt worden sind, ist eines meiner Lieblingsbücher die
vergleichsweise schmale Schrift „Wer ist wir? Deutschland
und seine Muslime“. Sie werden sich daran erinnern, dass
es auch noch nicht lange her ist, seit ein Buch mit der
dämlichen Behauptung „Deutschland schafft sich ab“ erstaunliche Auflagen erzielt hat. Diese ebenso erschreckende wie unsinnige Behauptung hat Navid Kermani in dieser
Schrift – mit einem Zehntel des Umfangs – eindrucksvoll
widerlegt. Allein deswegen, weil er in der Zwischenzeit
glücklicherweise, aber unter diesem Gesichtspunkten
leider viele andere interessante Bücher geschrieben hat,
möchte ich diese kleine Schrift noch einmal in ganz besonderer Weise Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen.
Bundestagspräsident Lammert im Gespräch mit Alfred Grosser,
dem Friedenspreisträger von 1975. (Foto: Isolde Ohlbaum)
Als im Juni die Nachricht vom diesjährigen Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels die interessierte Öffentlichkeit erreichte, gab es unter der rundum ausnahmslos
freundlichen Resonanz - wenn überhaupt - lediglich den
kritischen Einwand, originell sei diese Preisverleihung nun
wirklich nicht, denn das sei ja geradezu der idealtypische
Preisträger für den Friedenspreis, bei dem nur überraschen könne, dass er ihn jetzt erst erhalte.
Dein Name, Ihr Name, lieber Navid Kermani, ist inzwischen längst zum Beleg der Möglichkeit der Verbindung
ganz unterschiedlicher Existenzen geworden – als Ästhet,
als Citoyen, als Kosmopolit oder als okzidentaler Orientalist, der uns immer wieder die jeweils eigenen und die
gemeinsamen Ansprüche vor Augen führt. Was mich immer wieder aufs Neue beeindruckt, ist Ihre Begabung, aber
auch Ihre Bereitschaft, ebenso feinfühlig wie im wörtlichen
Sinne rücksichtslos diese Ansprüche geltend zu machen.
Wenn ich jetzt zum Schluss öffentlich erkläre, dass ich
ausdrücklich hoffe, dass das noch lange so bleibt, ist das
wieder nicht originell. Aber es ist genauso ehrlich gemeint
und gut durchdacht wie die Entscheidung der Jury des
Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der ich hierzu
herzlich gratuliere.
Das hat mich daran erinnert, dass es vor wenigen Jahren
noch ganz anders war, als er den Hessischen Kulturpreis
erhalten sollte und am Ende, zusammen mit dem Mainzer
Bischof und dem damaligen Präsidenten der Landeskirche
Hessen-Nassau, auch tatsächlich erhalten hat – wobei aber
zunächst das ungläubige Staunen über die ernsthafte Auseinandersetzung eines Moslems mit christlicher Ikonographie mindestens so ausgeprägt war wie die ungewöhnliche
Versuchsanordnung, einen Islamwissenschaftler gemeinsam mit zwei real existierenden christlichen Kirchenfürsten bei der damaligen Preisverleihung aufmarschieren zu
sehen. Die Kontroverse hat übrigens nach meiner Erinnerung damals nicht die Reputation der Preisträger in Frage
gestellt, wohl aber die Reputation des Preises, und deswe9
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Die Anschläge in Paris und der Krieg in Syrien
„Nicht mit Kanonen.“
Friedenspreisträger zu den Anschlägen in Paris und zum Krieg in Syrien
Alfred Grosser: Fremdenfeindlichkeit als „geistige Gefahr“
Die Anschlagserie in Paris sei
eine Katastrophe, sagte Alfred
Grosser im Deutschlandradio
Kultur. Allerdings sei die enorme
Hilfsbereitschaft, die sie bewirke, umso beeindruckender, so
der Politologe und Publizist: „Die
Solidarität ist fantastisch.“
„Es ist furchtbar, es ist katastrophal“, sagte der Publizist und
Politologe Alfred Grosser über die Pariser Anschlagserie.
Er hob allerdings auch die ungeheuer große Hilfsbereitschaft hervor, die die Anschläge bewirkt hätten: Die Menschen ständen Schlange, um Blut zu spenden oder hätten
in der Nacht der Anschläge umherirrenden Menschen via
Twitter angeboten, sie in ihren Wohnungen aufzunehmen:
„Die Solidarität ist fantastisch.“
Die möglichen Gründe für die Anschläge seien komplex:
„Da kommt vieles zusammen“, so Großer. Im Gegensatz zu
Deutschland beteilige sich Frankreich aktiv an der militärischen Bekämpfung des Terrorismus, nicht nur aktuell in
Syrien, sondern zum Beispiel auch in Mali. Grosser wies
darauf hin, dass in der aktuellen Situation fremdenfeindliche Gruppierungen wie der Front National in Frankreich
oder Pegida in Deutschland „triumphieren“ könnten: „Das
ist die heutige geistige Gefahr.“ Er gehe auch davon aus,
dass als Folge der Terrorserie Grundrechte eingeschränkt
werden und Frankreich neue Polizeigesetze bekommen
werde: „Das ist in solchen Lagen beinahe unvermeidlich.“
(14.11.2015 Deutschlandradio Kultur)
Liao Yiwu: Gemeinsamer Kampf für gemeinsame Werte
Der chinesische Schriftsteller Liao
Yiwu, Friedenspreisträger des
Deutschen Buchhandels, der seit
einigen Jahren in Berlin im Exil
lebt, hat nach den Angriffen in
Paris über seinen Übersetzer
Martin Winter folgende Stellungnahme abgegeben: „Ab heute ist
Frankreich im Kriegszustand,
heißt es. Hoffentlich ist damit die
französische Appeasement-Politik
nach dem Zweiten Weltkrieg
endlich vorbei. Hollande und Obama sagen nur dasselbe
noch einmal, was sie schon nach den Angriffen auf Charlie
Hebdo im Januar gesagt haben. Hoffentlich ist es jetzt
endlich damit vorbei, dass der Westen Waffen an Diktatoren liefert! Hoffentlich führt der Terrorismus dazu, dass
demokratische Länder zusammenstehen, um den Islamismus bekämpfen und gemeinsame Werte zu verbreiten.
Dazu gehört die Verwirklichung von religiöser Gleichberechtigung, nicht aber Abschottung und Vorurteile gegen
Flüchtlinge. Ihr Toten, Ihr könnt nichts sagen und könnt
nicht mehr weinen. Wir leben, und haben doch keine Worte und keine Tränen. O Gott!“(16.11.2015)
Jürgen Habermas: Offene Gesellschaft in Frankreich in Gefahr
Der Frankfurter Philosoph Jürgen
Habermas zeigt sich besorgt, dass
Frankreich unter dem Eindruck der
Pariser Terroranschläge seine Liberalität verlieren könnte. „Die Zivilgesellschaft muss sich davor hüten,
alle demokratischen Tugenden
einer offenen Gesellschaft auf dem
Altar der Sicherheit zu opfern“,
sagte Habermas in einem am Sonntag veröffentlichten Interview der
Tageszeitung „Le Monde“. Dazu
gehörten auch die Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen und die Bereitschaft, die Perspektive des Anderen
einzunehmen. Mit Blick auf eine verbreitete Islamfeind-
lichkeit mahnte Habermas, der dschihadistische, also der
auf einen Heiligen Krieg bezogene Fundamentalismus der
Terroristen des Islamischen Staats, benutze zwar eine
religiöse Sprache, sei aber selbst keine Religion. Während
die großen monotheistischen Religionen vor vielen Jahrhunderten entstanden seien, sei der Dschihadismus eine
sehr viel jüngere Erscheinung. Der Frankfurter Philosoph
und Soziologe sieht darin „eine absolut moderne Form der
Reaktion auf Lebensbedingungen, die von Entwurzelung
geprägt sind“. Für die barbarischen Taten der Terroristen
gebe es keine Entschuldigung, sagte Habermas. Es müsse
nun aber auch nach dem „Versagen der Integration in den
sozialen Brandherden unserer Großstädte“ gefragt werden.
(dpa 22.11.2015)
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Die Anschläge in Paris und der Krieg in Syrien
Boualem Sansal: „Man bekämpft Ideen nicht mit Kanonen.“
Boualem Sansal zeigte sich in
einem Interview von dem Ausmaß der Attentate in Paris nicht
überrascht. „Mich wundert es,
dass es erst so spät passiert ist.
Der internationale Islamismus
zieht gegen Europa in den Krieg.
Vor allem Frankreich ist seit
seinem Einsatz in Syrien im
Visier. Jetzt hat der Krieg angefangen und wird auch weitergehen.“ Die westliche Gesellschaft habe das Problem der Integration von Muslimen
heruntergespielt, indem sie geglaubt habe, dass dies ein
einfacher Prozess sei. Es wurde übersehen, so Sansal weiter, dass man auch den speziellen Bedürfnissen von Muslimen Beachtung schenken müsse, weil mehr Komfort und
Demokratie nicht automatisch zu Integration führe.
Dass die europäischen Werte selbst in einer Krise stecken,
könnte die islamistische Gewalt womöglich sogar noch
weiter anheizen: „Meiner Meinung nach ist der Westen mit
seiner Philosophie der Aufklärung, die ihn die letzten
Jahrhunderte ausmachte, in einen Erschöpfungszustand
geraten.“ Das führe dazu, dass der Westen selbst seine
eigenen Werte nicht mehr respektiere. Zudem radiere die
Globalisierung gerade die Eigenheiten jedes Landes aus.
Die allgemeinen Werte des Lebens würden durch die Gesetze des Marktes ersetzt - durch Konsum, Spaß und die
Befriedigung dieser rein materiellen Bedürfnisse. Sansal:
„Muslime sagen also, bevor wir dem Markt und dem Recht
gehorchen, befolgen wir lieber die Befehle der Religion.
Denn die Religion verspricht uns das Paradies, das hat
etwas Poetisches. Und dann gibt es auch noch das Abenteuer des Dschihads.“
Ob aber Krieg eine gute Reaktion auf die Anschläge in
Paris sei, das bezweifelt Boualem Sansal: „Man bekämpft
Ideen nicht mit Kanonen. Ganz im Gegenteil. Dadurch
verstärkt man sie. Man muss Ideen mit Ideen bekämpfen,
mit einer Lebensphilosophie, mit einem neuen Demokratiegedanken, mit neuen Überlegungen zum Laizismus und
indem wir den Integrationsprozess der muslimischen Gemeinschaft in die europäischen Gesellschaften gut regeln.“
Voraussetzung hierfür sei aber die Wiederherstellung
eines westlichen Lebensgefühls und einer Freiheit, die ihre
Wurzeln in der Zeit der Renaissance und der Aufklärung
habe. „Um das umzusetzen, müsste man sich aber von den
Gesetzen des Marktes und der Globalisierung zu einem
gewissen Grad absetzen. Das ist das Problem. Man müsste
vielleicht ein föderales Europa schaffen, das die Eigenheiten eines jeden Landes respektiert, und nicht alles standardisieren, nicht alles uniformieren. Diese Arbeit muss
gemacht werden. Doch anscheinend macht sie keiner.
Einige Intellektuelle und Universitäten setzen sich damit
auseinander, aber nicht die Politik. In der muslimischen
Welt ist diese Arbeit bereits im Gange. Die Muslime machen sie vielleicht schlecht. Die Dschihadisten machen sie
jämmerlich. Aber der Westen schläft und ruht sich auf
seinen Lorbeeren aus, auf seinem vergangenen Ruhm. Er
müsste sich um die Zukunft kümmern – und zwar jetzt.“
(Deutsche Welle, 18.11.2015)
Wolf Lepenies: „Eindrucksvolle Beispiele des Mutes“
Für Wolf Lepenies waren die Anschläge des 13. November Terror in
seiner ursprünglichsten Form:
„Grausame Taten, um Angst und
Schrecken zu verbreiten. Ein Terror
in Europa, wie er regelmäßig in
Bagdad und Kabul zu finden ist. Das
kann und wird auf Dauer viele
Menschen verändern. Und damit
auch unsere Gesellschaft.“ Es wird,
so Lepenies, vor allem Einschränkungen der individuellen Freiheiten geben, wie man es
schon jetzt erlebe: mehr Überwachungskameras, Vorratsdatenspeicherung, Kontrollen in öffentlichen Gebäuden– so
wie es in den USA nach 9/11 Alltag geworden sei. Dabei
wird es „darauf ankommen, hier das rechte Maß zu finden
– einzusehen, dass Einschränkungen, die uns individuell
treffen, hingenommen werden können, wenn sie letztlich
allen nutzen“.
Der Wille der Franzosen, offen zu demonstrieren, sich in
der eigenen Lebensweise nicht verändern lassen zu wollen, habe ihn beeindruckt, so Lepenies weiter, „gerade
jetzt, in diesen Tagen, an diesen Abenden, sich ganz bewusst in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Dazu gehört Cou-
rage.“ Bemerkenswert sei aber vor allem die Haltung der
Muslime, die letztlich weltweit die größte Opfergruppe des
islamistischen Terrors sind. „Nach den Anschlägen auf
‚Charlie Hebdo‘ haben viele Muslime in Frankreich zurückhaltend reagiert. Jetzt haben die muslimischen Verbände sich klar positioniert – weil jeder zu den Opfern
gehören konnte, egal ob Muslim oder Karikaturist. Die ISTerroristen sind hier einen Schritt weiter gegangen.“
Dass durch die dezentral operierenden Islamisten ein Flächenbrand entstehen könnte und die Angst vor Terror in
Europa dieselbe werden könnte wie die in Beirut, Bagdad
oder Jerusalem, ist für Lepenies besonders beunruhigend:
„Ich habe eine spannende Analyse in Frankreich gelesen:
Die Al-Qaida-Terroristen haben oft probiert, nach den Attentaten zu fliehen. Vielleicht, weil es nicht so viele von
ihnen gab, Al-Qaida ist daran interessiert, die eigenen
"Truppen" möglichst intakt zu halten. Dem IS ist das egal.
Es gibt genügend Zulauf, Tag für Tag. Wie kann man sich
vor Attentätern schützen, denen es egal ist zu sterben?
Diese Frage ist hoch brisant. Und niemand hat eine Antwort darauf […] und gerade deswegen müssen wir weiter
versuchen, dennoch eine Antwort zu finden.“ (Die Welt
7.12.2015)
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Zwischen Zeilen – eine Stunde Schönheit
Dem Unbekannten eine Stimme geben
Bei der diesjährigen, den Friedenspreis begleitenden Veranstaltungsreihe „Zwischen Zeilen – eine
Stunde Schönheit“ während der Frankfurter Buchmesse in der Katharinenkirche trat das Schöne in
den Hintergrund. Angesichts von Krieg und Vertreibung suchten sich die vorlesenden Schriftsteller*innen vornehmlich Texte von Autor*innen aus, die Gewalt und ihre Auswirkung thematisierten.
Unter den gelesenen Autor*innen befanden sich der syrische Dichter Monzer Masri, der trotz Krieg in seinem Land dort
geblieben ist und dessen Gedichte (übersetzt von Mahmoud Tawfik und Leila Chammaa) auf www.lyrikline.org nachzulesen und zu hören sind, sowie der irakische Lyriker Talib Abdulaziz, dessen Gedicht „Meines Bruders Krieg“ für die
„Zwischen Zeilen“ von Nicola Abbas ins Deutsche übersetzt und von Najem, Wali vorgetragen wurde.
Den mitwirkenden Autoren Nora Bossong, Oscar Guardiola-Rivera, Hasnain Kazim, Navid Kermani, Ursula Krechel,
Nele Neuhaus, Ulrich Peltzer, Karl Schlögel, Werner Schneider-Quindeau, Janne Teller, Ilija Trojanow und Najem Wali
sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.
Monzer Masri
Er zog in den Krieg und kehrte unversehrt heim
Er zog in den Krieg und kehrte unversehrt heim.
So einfach aber
sind die Dinge nicht.
Denn Feuer teilt mit ihm seither das Bett,
und Rauch vernebelt
seine Träume
Talib Abdulaziz
Meines Bruders Krieg
Erheb dich, mein Bruder, der Krieg ist vorüber.
Deinen Panzer hat man längst eingeschmolzen.
Nur dein Gewehr ist auf dem Berg geblieben
und deinen Heldenmut überdeckt endlich der Sand.
Der Bauer bestellt das Feld, auf dem du gefallen bist,
denn die Bäume, die du gepflanzt hast,
sind dir gleich gestorben.
Und den Berg, dem du geschworen hast,
nicht lebend zu verlassen,
erstürmten die Feinde scharenweise bis zum Gipfel,
um aus seinem Schnee herab zu holen
dein standhaftes Banner.
Jedes Mal
vor deinem letzten Fall
raubten die Feinde deine Uniform,
dein Bajonett, deine Pracht.
Wie tot du schon gewesen sein magst, mein Bruder,
sie zerschossen doch deinen toten Leib.
Selbst bei deinem letzten Sterben,
als dir schon Würmer aus den Augenhöhlen
und der großen Öffnung des Herzens quollen
dachten sie noch, du lügst
und wärst noch ihr ewiger Albtraum.
Erheb dich, mein Bruder, der Krieg ist vorüber.
Schon haben die Kinder den Garten erklommen.
Die Kugeln, die du sahst,
aus Feuer und Stahl,
sind erkaltet, sie kicken sie sich zu
mit den Füßen
bis auf die Kugel, in deren Nähe du fielst,
die deinen Körper in fruchtbaren Kompost verwandelte.
Wir sind hier im Dorf,
kein Krieg, keine Feinde.
Ein Horizont aus Nachtigallen und Tauben
bildet sich neu unter unseren Kissen.
Manche unserer Wunden haben wir vergessen
und manche unserer Dolche lassen wir vielleicht noch
unseren alten Hass kosten.
Alles, was wir wollen, ist,
dass unsere Hunde freundlich bellen.
Mutter liegt immer noch in ihrem Bett.
Ich erzähle ihr von deiner stattlichen Größe und deinen
starken Armen.
Es amüsiert sie sehr,
dass man keinen passenden Schuh für dich gefunden hat.
Sie fragt mich stets,
auf welcher Seite du denn geschlafen hast.
Beklommen teile ich ihr mit,
dass du schon sieben Jahre nicht schläfst.
Und dass der Splitter, der deine Rippen zertrümmerte,
aus einem großen, starken Geschütz kam und dich aufrieb.
Ich lasse die Sonne untergehen
über deine Namen und über deine Träume.
Ich missgönne meinem Körper die verstreuten Teilchen,
zu denen du geworden bist.
Zwischen deinem Leben
und deinem Sterben liegen sechs Kinder
Monzer Masri
Er legte sich einen Kiesel in die Tasche
Er legte sich einen Kiesel in die Tasche,
um sich zu erinnern.
Er band sich einen Faden um den Finger,
um den Weg zurück zu finden.
Bis ihm aus allen Taschen Kiesel quollen
und die Finger sich in den Fäden verhedderten.
...
Da ging er verloren.
12
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Klappentexte
Neueste Veröffentlichungen
Für die Auflistung der Neuerscheinungen von Friedenspreisträgern, Laudatoren und weiteren Personen aus dem Umfeld des Friedenspreises waren ursprünglich nur zwei Seiten eingeplant. Letztlich sind es sechs Seiten geworden. Wie hätten wir auch voraussehen können, dass die Friedenspreis’ler im Winter 2015 und Frühjahr 2016 so produktiv sein würden …
Fritz Stern
Navid Kermani
Zu Hause in der Ferne: Historische Essays
Reden für die Freiheit
Verlag C.H. Beck, München 16.10.2015
Parlando Verlag, Berlin 7. Dezember 2015
Fritz Stern ist nicht nur einer der
großen Historiker unserer Zeit, er ist
auch eine moralische und politische
Instanz. Vor allem in Deutschland ist
sein Urteil gefragt, wenn es um die
jüngere Geschichte, das deutschamerikanische Verhältnis oder die
Deutung des weltpolitischen Geschehens geht. „Zu Hause in der Fremde“
versammelt neue Essays und greift
ein Lebensthema von Fritz Stern auf,
der mit zwölf Jahren auf der Flucht
vor den Nazis nach New York kam, Amerikaner wurde
und trotz Verfolgung den Deutschen eng verbunden blieb.
Zu den klassischen Themen des Historikers Fritz Stern
gehören der Widerstand gegen Hitler, Deutschland im 20.
Jahrhundert, das entzauberte Amerika, aber auch einige
Gestalten, die ihn ein Leben lang fasziniert haben, wie
Fritz Haber und Albert Einstein. Doch auch zwei Beiträge
über die Geschichte Polens, ein Text über den großen
Seelenverwandten Heinrich Heine sowie liebevoll funkelnde Portraits von Ralf Dahrendorf und Bronislaw Geremek machen dieses kluge und von gelebter Humanität
zeugende Buch zu einer lohnenden Lektüre.
Navid Kermani wurde für seine
Arbeit und sein Engagement 2015
mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den
Erfahrungswelten von Menschen
unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft
stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten
orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen.“ Das Hörbuch beinhaltet drei zentrale Reden, die Navid Kermani in
den letzten zwei Jahren zu offiziellen Ereignissen gehalten hat:
 Rede zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes am 23.5.2014 im Deutschen Bundestag
 Rede bei der Trauerkundgebung für die Opfer der Pariser Anschläge auf dem Appellhofplatz (Köln, 14.1.2015)
 Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises am
18.10.2015 in der Paulskirche
Swetlana Alexijewitsch
Martin Walser
Secondhand-Zeit:
Leben auf den Trümmern des Sozialismus
Schreiben und Leben: Tagebücher 1979-1981
Hörbuch Hamburg, 7. Dezember 2015
„Der Mensch ist ein Dichter. Und
wenn er kein Dichter mehr ist, dann
ist er auch kein Mensch mehr“,
schreibt Martin Walser im April 1979
in sein Tagebuch. Leben und Schreiben? So waren seine Tagebücher bisher überschrieben, aber nun, in diesem vierten Band, ist die Gewichtung
eine andere. „Schreiben und Leben“
heißt es jetzt: Das Schreiben erst gibt
dem Leben seinen Sinn. Und es bringt
Schönheiten hervor, die genauso Wahrheiten sind – dafür
liefert dieses Tagebuch hinreißende Beweise. Der vierte
Band von Martin Walsers Tagebüchern: Einblick in
Schreiben und Leben der frühen 80er Jahre.
Rowohlt, Reinbek 18. Dezember 2015
Der Kalte Krieg ist seit über
zwanzig Jahren vorbei, doch das
postsowjetische Russland sucht
noch immer nach einer neuen
Identität. Während man im Westen nach wie vor von der Gorbatschow-Zeit schwärmt, will
man sie in Russland am liebsten
vergessen. Inzwischen gilt Stalin
dort vielen, auch unter den Jüngeren, wieder als großer
Staatsmann, wie überhaupt die sozialistische Vergangenheit immer öfter nostalgisch verklärt wird. Für Swetlana
Alexijewitsch leben die Russen gleichsam in einer Zeit
des „secondhand“, der gebrauchten Ideen und Worte. Wie
ein vielstimmiger Chor erzählen die Menschen von der
radikalen gesellschaftlichen Umwälzung in den zurückliegenden Jahren.
13
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Klappentexte
Karl-Josef Kuschel
Keine Religion ist eine Insel: Vordenker des
interreligiösen Dialogs
Navid Kermani
Einbruch der Wirklichkeit
Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa
Topos Verlag, Kevelaer 1. Januar 2016
C.H. Beck Verlag, München 21. Januar 2016
Die Verständigung zwischen
den Religionen ist heute zu
einer Überlebensfrage der
Menschheit geworden. Es
waren herausragende Persönlichkeiten, die die entscheidenden Brücken bauten. KarlJosef Kuschel stellt uns in
diesem Band vier dieser großen Gestalten vor: den jüdischen
Religionsphilosophen
Martin Buber, den katholischen Theologen Hans Küng,
den Rabbiner Abraham Joshua Heschel und Louis Massignon, dessen Gotteserfahrung tief von der islamischen
Mystik geprägt ist. Nicht diplomatische Bemühungen,
sondern leidenschaftliche Gottsucher haben den Dialog
der Religionen vorangebracht!
Zu Fuß, in Bussen, Gefängniswagen
oder Sonderzügen zieht ein langer
Flüchtlingstreck von der griechischen
Insel Lesbos in Richtung Deutschland.
Navid Kermani war im Herbst 2015
auf dieser „Balkanroute“ unterwegs.
In seiner Reportage berichtet er davon, warum die Welt der Krisen und
Konflikte, die wir weit vor den Toren
Europas wähnten, plötzlich auch unsere Welt ist. Navid Kermani beschreibt die Lage an der türkischen Westküste, wo Tausende Flüchtlinge in erbärmlichsten Verhältnissen auf
eine unsichere Überfahrt warten. Er hat auf Lesbos die
Ankunft derer beobachtet, die es geschafft haben und nun
einen Kulturschock erleben. Er hat mit Helfern und Politikern gesprochen, vor allem aber mit den Flüchtlingen aus
Syrien, Afghanistan und anderen Ländern: Was treibt sie
fort, und warum wollen sie alle nach Deutschland? Auf
meisterhafte Weise macht er an unscheinbaren Details
deutlich, welche kulturellen und politischen Konflikte die
Menschen buchstäblich in Bewegung setzen – und wie
Europa auf die Flüchtlinge reagiert.
Martin Walser
Ein sterbender Mann
Rowohlt, Reinbek 8. Januar 2016
Theo Schadt, 72, Firmenchef
und auch als „Nebenherschreiber“ erfolgreich, wird verraten.
Verraten ausgerechnet von dem
Menschen, der ihn nie hätte
verraten dürfen: Carlos Kroll,
seinem engsten und einzigen
Freund seit 19 Jahren, einem
Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt
Theo Schadt jetzt an der Kasse
des Tangoladens seiner Ehefrau,
in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er
könne nicht mehr leben, wenn
das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er
sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da
schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt
von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben.
Das gemeinsame Thema: der Freitod. Eines Tages, er
wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick.
Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut,
darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er
ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion.
Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause
aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr.
Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn
verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein
Leben „eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie“?
Susan Sontag:
Die frühen New Yorker Jahre Taschenbuch
von Stephan Isernhagen
Mohr Siebeck, Tübingen 1. Februar 2016
Susan Sontag gilt als Ikone, als streitbare Intellektuelle in
der Tradition Zolas und Voltaires,
die immer wieder in der Politik intervenierte. Doch wie wurde sie, als
Susan Lee Rosenblatt im Januar
1933 geboren, zur schillernden
Figur des New Yorker Kulturbetriebs? Wie schaffte sie es als Frau,
die Frauen liebte und mit ihrem
Sohn fast mittellos Ende der 1950er
Jahre nach New York gekommen
war, sich in der von größtenteils heterosexuellen Männern dominierten literarischen Welt der 1960er Jahre
durchzusetzen? Stephan Isernhagen verortet Sontag im
kulturellen Feld New Yorks und argumentiert, dass Themen, die sie besetzte, Haltungen, die sie sich aneignete
und Kategorien, an denen entlang sie ihre Kunstkritik
ausrichtete, den Kulturbetrieb New Yorks lange vor ihrer
Etablierung in der Ostküstenmetropole prägten. Er arbeitet den Zusammenhang zwischen Sontags Selbstwahrnehmung als Homosexuelle und ihrer Kunstkritik heraus
und zeigt, wie stark die von gesellschaftlichen Autoritäten
immer wieder festgestellte Minderwertigkeit der homosexuellen Erfahrung die Kunstkritik einer Frau, die als eine
der wichtigsten weiblichen Intellektuellen in die Geschichte eingegangen ist, prägte.
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Klappentexte
David Grossman
Kommt ein Pferd in die Bar.
'Fotografie. Eine kleine Summa'. Hinzu kommen zwei
explizit politische Texte: 'Das Foltern anderer betrachten'
und vor allem 'Der 11.9.01', ein hellsichtiger Angriff
gegen die irrationale Politikerrhetorik unmittelbar nach
9/11, für den sie in heftiger Weise attackiert wurde.
Übersetzt von Anne Birkenhauer
Carl Hanser Verlag, München 1. Februar 2016
Für eine gute Pointe gab Dovele schon
immer alles. Als Kind lief er oft auf den
Händen. Er tat das, um seine Mutter
zum Lachen zu bringen und damit ihm
keiner ins Gesicht schlug. Heute steht er
ein letztes Mal in einer Kleinstadt in
Israel auf der Bühne. Er hat seinen Jugendfreund, einen pensionierten Richter, eingeladen. Im Laufe des Abends
erzählt der Comedian zwischen vielen
Witzen eine tragische Geschichte aus seiner Jugend. Es
geht um Freundschaft und Familie, Liebe, Verrat und eine
sehr persönliche Abrechnung auf dem Weg zu einer Beerdigung. Dem Kleinstadtpublikum ist das Lachen vergangen. Den Leser hält Grossman mit diesem grandiosen
Roman bis zur letzten Zeile gefangen.
Joachim Sartorius
Für nichts und wieder alles: Gedichte
Kiepenheuer & Witsch, Köln 18. Februar 2016
Der Lyriker Joachim Sartorius wird
70 und schenkt uns neue Gedichte!
Joachim Sartorius bewohnt das
zwielichtige und fruchtbare Territorium, wo Orient und Okzident
sich begegnen. In seinem neuen,
lange erwarteten Gedichtband
finden wir seine halb imaginierten,
halb realen Städte wieder: Alexandria, Nikosia, Syrakus und
Istanbul. Das Geheimnis des Reisens und das Geheimnis des Staunens werden im Schreiben eins. Sartorius sucht nach den
Erzählungen des östlichen Mittelmeers und nach den
Leerstellen der Kulturen der Levante. Den Orten und
Mythen, die am Weißen Meer angesiedelt sind, stellt er
einen langen Zyklus über ein Dorf in Brandenburg und
Gedichte über Schönheit und Vergänglichkeit gegenüber.
Das Paradox, dass gerade die Sinnlosigkeit unseres täglichen Tuns durch die Poesie zum Leuchten gebracht wird
und so ins Sinnvolle umschlagen kann, durchzieht das
gesamte Buch.
Orhan Pamuk
Diese Fremdheit in mir
Übersetzt von Gerhard Meier
Carl Hanser Verlag, München 1. Februar 2016
Kann man die falsche Frau heiraten
und trotzdem die große Liebe finden?
Mevlut ist Straßenverkäufer in Istanbul, als er sich Ende der 60er Jahre auf
der Hochzeit seines Cousins in die
jüngere Schwester der Braut verliebt.
Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien. Doch dann
schickt man ihm die ältere Schwester.
Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha,
und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte
in enger Verbundenheit, doch dann nimmt ihr Schicksal
eine dramatische Wende. Istanbul aus der Sicht kleiner
Leute: Ein großartiger Schelmenroman und ein Familienepos – vor allem aber erzählt der Nobelpreisträger
Pamuk eine erstaunliche Liebesgeschichte.
Wolf Lepenies
Die Macht am Mittelmeer: Französische
Träume von einem anderen Europa
Carl Hanser Verlag, München 22. Februar 2016
Der Plan schien perfekt: Präsident
Sarkozy wollte seine südlichen
Nachbarn für eine Mittelmeerunion
gewinnen, um ein Gegengewicht
zur deutschen Dominanz in Europa
zu etablieren. Angela Merkel wusste das zu verhindern. Für Wolf
Lepenies ist dies keine zeitgeschichtliche Fußnote. Der französische Traum von der Macht am
Mittelmeer führt in die unbewussten Regionen der europäischen Geschichte. Die Rivalität
zwischen Deutschland und Frankreich greift Ideen und
Stereotypen auf, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und heute wieder politischen Diskussionsstoff liefern. Man muss sie kennen, wenn man verstehen will, wie
sich in Europa Koalitionen und Frontlinien bilden Dienst
zu stellen, ist daS Buch das notwendige Unterfangen,
Alternativen zu beschreiben.
Susan Sontag
Standpunkt beziehen: Fünf Essays
(Was bedeutet das alles?)
Reclam Verlag, Stuttgart 10. Februar 2016
Susan Sontag (1933–2004) war die
vielleicht wichtigste Stimme des intellektuellen Amerika. Besonders beeindruckend ist ihr Mut, sich gegen eingefahrene Sichtweisen zu stemmen, immer einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Der Band versammelt wichtige
kulturtheoretische Essays: 'Gegen Interpretation', 'Über Schönheit' sowie
15
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Klappentexte
Anselm Kiefer
flüchtigen Loyalitäten. Schriftstellerkollegen, deren Autonomie den Autor Konrád beeindruckte, und solche, die
sich an die Macht verrieten. Aktuelle und ehemalige Geliebte. Und immer wieder die Familie, die in der Shoah
ermordeten jüdischen Freunde und Verwandten, denen
das »Gästebuch« ein eindrucksvolles Denkmal setzt.
Die Holzschnitte
von Antonia Hoerschelmann (Herausgeber),
Peter Sloterdijk (Autor), Werner Spies (Autor)
und Klaus Albrecht Schröder (Vorwort)
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 1. März 2016
Wie kaum ein anderer deutscher
Gegenwartskünstler hat Anselm
Kiefer die Schrecken der Zeitgeschichte visualisiert und im
Kontext mit mythologischen,
religiösen und philosophischen
Themen vieldeutige Kunstwerke
geschaffen. Subtile Schichtungen, die abwechselnd überdecken wie auch aufdecken; die das
Wissen über die unabdingbare
Verwandlung und Auflösung aller Materie in sich tragen
– monumental wie materialbezogen zugleich. Alles grundlegende Elemente, die auch seine Holzschnitte prägen.
Der Katalog zur gleichnamigen Retrospektive der Albertina setzt sich nun erstmals umfassend mit diesen auseinander. Über fünfunddreißig Hauptwerke bilden die wichtigsten Bildzyklen und Themengruppen und veranschaulichen die Vielfalt, die es zu entdecken gilt: von den ersten Werken in traditionellem Buchformat, über die faszinierenden großformatigen Arbeiten zum Thema Brunhilde: Grane, zu den Wegen der Weltweisheit: Die Hermannsschlacht und bis hin zum Werkblock der RheinBilder. Ausstellung: Albertina, Wien 18.3.–19.6.2016
Mario Vargas Llosa
Sonntag
Mit Illustrationen von Katz Menschik
Übersetzt von Thomas Brovot
Insel Verlag, Berlin 7. März 2016
Es sind die späten fünfziger Jahre
in Lima, Miguel liebt Flora, aber
er fürchtet, dass sein Kumpel
Rubén sie ihm ausspannen wird.
Als die Clique, „die Raubvögel“,
beisammensitzt, fordert Miguel
den Rivalen zum Wetttrinken
heraus, und im Überschwang
lassen die beiden sich auf eine
Mutprobe ein, bei der es schon
bald um Leben und Tod geht ...
Sonntag ist eine der frühesten
Erzählungen Mario Vargas Llosas,
ein kompaktes Meisterwerk aus psychologischer Einfühlung und ungestüm kraftvoller Sprache. Kongenial illustriert von Kat Menschik.
Jan Philipp Reemtsma
György Konrád
Was heißt: Einen literarischen Text interpretieren?
Gästebuch: Nachsinnen über die Freiheit
Verlag C.H. Beck, München 9. März 2016
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke
Suhrkamp Verlag, Berlin 7. März 2016
Was heißt das eigentlich: einen
literarischen Text interpretieren?
Was ist das Reden über Literatur
überhaupt für eine Tätigkeit? Womit
hat man es zu tun, wenn man es mit
literarischer Qualität zu tun bekommt? Hat das Gerede von „Tod
des Autors“ irgendeinen Sinn – und
geht es bei Literatur um anderes als
um Schönheit? Jan Philipp Reemtsma entwirft in diesem Buch eine
radikale Theorie der Lesekompetenz. Lange gab es keine derart virtuose Einführung in die
Grundlagen der Literaturwissenschaft. Wer den Literaturwissenschaftler und public intellectual Reemtsma
kennt, der weiß, dass seine Urteile über Texte – ob sie
von Heinrich von Kleist stammen oder von Stephen King
– vor allem eines sind: nie langweilig. Sie zeigen nicht
nur by the way, was, wie und warum man lesen sollte. Sie
verknüpfen auch mühelos Theorie und hermeneutische
Praxis, E und U, Germanistik, Philosophie und Polemik.
Reemtsmas Grundkurs im Gebrauch von Skalpell und
Tupfer im Literatur-OP hat den bestmöglichen Effekt: Man
will danach lesen. Besser lesen.
„Was ist dieses Buch?“, fragt sich
der Autor zu Beginn augenzwinkernd selbst. Textpatience, Bericht, Vorwort zu einem Roman
oder der Roman selbst? Bald stoisch, bald engagiert bis enragiert
kritisch gibt er die Antwort, folgt
dem Bogen reicher Erfahrung mit
nazistischer,
kommunistischer,
reformkommunistischer,
nachwendezeitlicher und orbánistischer Herrschaft in Ungarn und
den Verwerfungen Europas in
dieser, seiner Zeit. Erzählerische
Sequenzen und historische Diagnosen wechseln mit Meditationen und Maximen. Im Zentrum von Konráds
»Nachsinnen« aber stehen die Porträts einzelner Menschen und ihrer Handlungen. Als ein Zug positiver wie
negativer Hauptfiguren erscheinen sie uns im »Gästebuch« seines Lebens: Es sind die maßgeblichen Politiker
der wechselnden Herrschafts- und Unterdrückungssysteme ebenso wie die kleinen Handlanger mit ihren windig16
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Klappentexte
Péter Esterházy
E. M. Forster / Jaron Lanier
Die Maschine steht still
Mit einem Vorwort von Jaron Lanier
Die Markus-Version:
Einfache Geschichte Komma hundert Seiten
Übersetzt von Gregor Runge
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 10. März 2016
Übersetzt von Heike Flemming
Hanser Berlin, Berlin 14. März 2016
In E. M. Forsters Dystopie leben
die Menschen in einer unterirdischen, abgekapselten Welt mit
allem Komfort: Das ganze Leben
ist durch die Dienstleistungen der
»Maschine« perfekt geregelt. Die
Menschen haben kein Bedürfnis
mehr nach persönlichen Begegnungen, man kommuniziert nur
über die Maschine, die über allem
wacht. Ihr Handbuch ist zu einer
Art Bibel geworden, die Menschen
sind gefangen in ihrer absoluten
Abhängigkeit von der Technik, die sie nicht mehr kontrollieren können. Doch nach und nach geht das Wissen, das
hinter der Maschine steckt, verloren und das System wird
anfällig für Pannen ... E. M. Forsters visionäres Werk wirft
Fragen auf, die von großer Aktualität sind: Wie kann der
Mensch seine Selbstbestimmung wahren gegenüber Maschinen, die immer stärker unser Leben bestimmen?
Der Erzähler dieses MarkusEvangeliums à la Esterházy
macht sich nichts aus Worten. Er
lässt seine Familie – Vater, Mutter, Stiefbruder, zwei Großmütter
– in dem Glauben, er sei taubstumm. Und doch ist er der
Chronist ihrer Geschichte. Als
Volksfeinde gebrandmarkt, leben
sie nach der Aussiedlung zusammengepfercht in einem einzigen Raum, aber Nähe gibt es
nicht in dieser Enge. Alle sind sie
einsam, sogar Gott. Der kann
noch nicht einmal beten, zu wem sollte er? Eine Familiengeschichte mit allem, was dazugehört, auf jeden Fall Mord
und Totschlag. Geschieht dies alles, auf dass die Schrift
erfüllet werde? Aber welche? Nach diesen 100 Seiten
Esterházy-Evangelium ahnen wir: Gott kommt aus Ungarn.
Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi
Was bleiben wird: Ein Gespräch
über Herkunft und Zukunft
Siegfried Lenz
Der Überläufer
Herausgegeben von Hans-Dieter Schütt
Aufbau Verlag, Berlin 14. März 2016
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 10. März 2016
Es ist der letzte Kriegssommer,
die Nachrichten von der Ostfront sind schlecht. Der junge
Soldat Walter Proska aus dem
masurischen Lyck wird einer
kleinen Einheit zugeteilt, die
eine Zuglinie sichern soll und
sich in einer Waldfestung
verschanzt hat und. Bei sengender Hitze und zermürbt
durch stetige Angriffe von
Mückenschwärmen und Partisanen, aufgegeben von den
eigenen Truppen, werden die
Befehle des kommandierenden
Unteroffiziers zunehmend menschenverachtend und
sinnlos. Die Soldaten versuchen sich abzukapseln: Einer
führt einen aussichtslosen Kampf gegen einen riesigen
Hecht, andere verlieren sich in Todessehnsucht und
Wahnsinn. Und Proska stellen sich immer mehr dringliche Fragen: Was ist wichtiger, Pflicht oder Gewissen? Wer
ist der wahre Feind? Kann man handeln, ohne schuldig zu
werden? Und: Wo ist Wanda, das polnische Partisanenmädchen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf geht?
Was von den Träumen blieb
Vor der Wende standen sie auf
verschiedenen Seiten: Gregor
Gysi,
Sohn
des
DDRKulturministers Klaus Gysi und
Anwalt, und Friedrich Schorlemmer, Pfarrerssohn und
Oppositioneller. In diesem sehr
persönlichen Gespräch mit dem
Journalisten Hans-Dieter Schütt
erinnern sich beide an ein
verschwundenes Land und wie
sie es erlebten. Sie sprechen
über das, was Bestand haben
wird, aber auch das, was auf
den Müll der Geschichte gehört. Gregor Gysi, Sohn des
Widerstandskämpfers und späteren Kulturministers der
DDR Klaus Gysi, gehörte zu den eher systemnahen, wenn
auch von der Nomenklatura beäugten Persönlichkeiten
der DDR. Schorlemmer, Pfarrer, Oppositioneller, Mitinitiator der Bürgerrechtsbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, stand der DDR und ihren Oberen immer kritisch
gegenüber. Beide erinnern sich an ein schwieriges Land,
das sie geprägt hat wie 17 Millionen andere auch.
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Klappentexte
Martin Schult
Wohlergehen auf erschreckende Weise zunutze und zum
Motor der Gemeinschaft macht.
Flokati oder mein Sommer mit Schmidt
Ullstein Verlag, Berlin 14. März 2016
Chinua Achebe
Als das mit Frau Schellack passiert ist, waren mir Mädchen
zwar nicht egal, aber sie gehörten
der gleichen Gruppe von Menschen an wie meine Schwester.
Und wenn ich schon das zwischen David Cassidy und meiner
Schwester nicht verstehen konnte, wie sollte ich dann überhaupt
den Rest begreifen? Es ist der
WM-Sommer 1974. Der 12jährige Paul lebt in behüteten
Verhältnissen: Der Vater ist ein
fußballverrückter Friseur, der sich durch Zettels Traum
kämpft, die Mutter eine emanzipierte Linke, die mit dem
taxifahrenden RAF-Sympathisanten Bruder Kolja lange,
ominöse Ausfahrten unternimmt. Seine Schwester redet
nur in Abkürzungen. Mit seinem besten Freund Boris
träumt sich Paul ins Weltall und stromert durch die
Nachbarschaft. Dort führt der seltsame Emil Bartoldy
seine Schildkröte spazieren. Als am Ende des Sommers
die Ehe der Eltern zerbricht und seiner Freundin, der
alten Nachbarin Frau Schellack, etwas Schreckliches
passiert, flüchtet Paul, um sich final der Welt zu stellen.
Martin Schult erzählt einfühlsam und mit Liebe zum Detail eine Geschichte über Freundschaft, Schuld und einen
unvergesslichen Sommer.
Einer von uns: Roman
Übersetzt von Uda Strätling
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 25. August 2016
Chinua Achebes prophetischer
Afrikaroman. Mit ›Einer von uns‹
nimmt Chinua Achebe den Militärputsch vorweg, der Nigeria
1966, nur Tage nach der Veröffentlichung des Romans, in einen
blutigen Bürgerkrieg stürzte. Der
junge, idealistische Odili besucht
seinen ehemaligen Lehrer Chief
Naga, der nun Kulturminister ist
und sich - vordergründig ein
Mann des Volkes - listig an seinem Land bereichert. Die moralische Kluft zwischen den beiden Männern erscheint zunächst riesig. Doch in der „Fressen-und-gefressenwerden“-Atmosphäre kollidiert Odilis Idealismus bald mit
seinen persönlichen Begierden – und die private und
politische Rivalität des Jungen und des Alten droht das
ganze Land in Chaos zu stürzen.
„Einer von uns“ ist Chinua Achebes vierter Roman und
zählt zu den wichtigsten seines Werkes. Nun liegt er
endlich in deutscher Übersetzung vor.
„Chinua Achebe ist ein magischer Schriftsteller – einer
der besten des zwanzigsten Jahrhunderts“
Margaret Atwood
Boualem Sansal
2084. Das Ende der Welt
Übersetzt von Vincent von Wroblewsky
Merlin Verlag, Vastorf Mai 2016
In Abistan, einem riesiges Reich
der fernen Zukunft, bestimmen
die Verehrung eines einzigen
Gottes und das Leugnen der
Vergangenheit das Herrschaftssystem. Jegliches individuelles
Denken ist abgeschafft; das Eingeschworensein auf ein
allgegenwärtiges Überwachungssystem steuert die Id een
und verhindert abweichendes Handeln. Offiziell heißt es,
die Bevölkerung lebt einvernehmlich und im guten Glauben. Doch Ati, der Protagonist dieses Romans, der ausdrücklich anknüpft an Orwells Klassiker „1984“, hinterfragt die vorgegebenen Direktiven: Er macht sich auf die
Suche nach einem Volk von Abtrünnigen, das in einem
Ghetto lebt, ohne in der Religion Halt zu suchen ... Während George Orwell in seinem Zukunftsroman das totalitäre Regime Stalins vor Augen hatte, entwirft Sansal in
seinem Roman das Szenario eines Regimes, das auf der
religiösen Überhöhung einer Ideologie beruht. Es ist ein
Regime, das sich die gegenwärtige Vereinzelung des
Individuums auf der Suche nach persönlichem Glück und
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Frühling 2015
Nachruf
Helmut Schmidt und André Glucksmann
Zwei dem Friedenspreis nahestehende Persönlichkeiten sind verstorben
„Offen gesagt, ich habe meine Laudatio umgeschrieben.
Die erste Fassung war akademischer, zeitunabhängiger.
Vielleicht hätten Sie sie für philosophischer gehalten. Das
würde ich aber nicht sagen. Mit Václav Havel bin ich der
Auffassung, daß das Denken im allgemeinen und die
Philosophie im besonderen nicht Türen und Fenster
schließen soll, um sich ausschließlich ewigen Wahrheiten
zuzuwenden. Ganz im Gegenteil: Denken heißt sich dazu
zwingen, die Fernsehnachrichten einzuschalten, die
schlechten Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen, Augen
und Hirn angesichts der Realität - so hart sie auch sei anzustrengen.
Helmut Schmidt, 1985 eingerahmt von Loki Schmidt und dem
Ehepaar Raissa und Lew Kopelew (Foto: Werner Gabriel)
1977 wäre Helmut Schmidt fast gekommen, hat er einmal
in einem Fernsehinterview erzählt. als erster Bundeskanzler überhaupt, der offiziell die Verleihung des Friedenspreises besucht hätte. Es hätte ein Zeichen werden
sollen, um angesichts der Entführung von Hanns Martin
Schleyer der verunsicherten Gesellschaft zu zeigen, dass
man zusammenstehe. Doch am 13. Oktober 1977, drei
Tage vor der Verleihung des Friedenspreises an Leszek
Kołakowski, wurde die Lufthansa-Maschine Landshut
entführt. Aufgrund der mehrtägigen Odyssee des Flugzeugs hatte kein hochrangiger Politiker den Weg von
Bonn nach Frankfurt antreten können.
André Glucksmann 1989 im Gespräch mit Bundespräsident
Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl. (Foto: Werner Gabriel)
Derzeit macht der nicht nachlassende Strom der Menschen, die den Osten verlassen, Schlagzeilen. Kann man
einen im politischen Alltag stehenden Schriftsteller und
Zeugen einer für Europa so entscheidenden Krise besser
ehren? Jedem Fernsehzuschauer in der Bundesrepublik
möchte ich sagen: Sie sind bewegt, überrascht, betroffen Sie fragen sich, was in denen vorgeht, die alles aufgeben,
ohne doch im Elend zu stecken oder Illusionen aufzusitzen. Vom Westfernsehen wissen die Bürger auf der anderen Seite der Mauer gut genug um die Schwierigkeiten,
die sie erwarten. Sie sind nicht dem Eldorado auf der
Spur. Wollen Sie wirklich wissen, warum sie weggehen?
Wollen Sie wissen, was den Schritt der Flüchtlinge lenkt?
Dann lesen Sie Havel. Er berichtet ganz genau, was jeder
Neuankömmling unmissverständlich zu erkennen gibt:
„Ich will nicht als Trottel sterben.“
Helmut Schmidt kam dann Jahre später – als Privatmann
– zur Verleihung des Friedenspreises 1985 an Teddy
Kollek, mit dem ihm eine enge Freundschaft verbunden
hat, wie auch mit anderen Friedenspreisträgern, unter
ihnen Fritz Stern und Siegfried Lenz.
*
Somit war Helmut Kohl der erste Bundeskanzler, der
offiziell an einer Verleihung des Friedenspreises teilgenommen hat. Im Jahr 1989 wurde Preis in Abwesenheit
an Václav Havel verliehen, der nicht nach Frankfurt
kommen konnte. Laudator war der französische Philosoph
André Glucksmann, der seine Laudatio mit einem Blick
auf den damals großen und unvermindert anhaltenden
Strom von Flüchtlingen begann, die es geschafft hatten,
den Eisernen Vorhang zu überwinden – ein Text, der sich
heute wie eine Reise zurück in jenes Jahr des Umbruchs
mit der nur scheinbar überraschenden Erkenntnis liest,
wie häufig in Deutschland und ganz Europa die Themen
Flüchtlinge und Zuwanderung auf der Tagesordnung
gestanden haben.
*
Helmut Schmidt und André Glucksmann verstarben beide
am 10. November 2015, der eine im Alter von 92 Jahren
in Hamburg, der andere in Paris im Alter von 78 Jahren.
19
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Astrid Lindgren
Ein Briefwechsel mit Astrid Lindgren.
Astrid Lindgren, Friedenspreisträgerin von 1978, hat die Post ihrer vielen jungen Leser stets gewissenhaft beantwortet. Briefwechsel entstanden dabei allerdings nicht, mit einer Ausnahme: 1971
begann eine jahrelange Korrespondenz zwischen einem Mädchen und der Schriftstellerin. Sara
Ljungecrantz – heute heißt sie Sara Schwardt – schrieb damals einen Brief, in dem sie sich über die
Verfilmungen von Pippi Langstrumpf und Karlsson vom Dach bitterlich beschwerte.
Der Briefwechsel – ein Zwiegespräch über eine unglückliche Kindheit – ist nun in deutscher Übersetzung erschienen (Astrid Lindgren & Sara Schwardt: Deine Briefe lege ich unter meine Matratze.
Aus dem Schwedischen von Brigitta Kicherer). Nach dem Kriegstagebuch ein weiteres besonderes
Dokument über Leben und Werk Astrid Lindgrens. Niels Beintker sprach mit Sara Schwardt – das
Gespräch ist am 16. Januar 2016 im Büchermagazin Diwan auf Bayern 2 zu hören.
mit ihr habe ich über diese sehr persönlichen Themen
gesprochen.
NB: Und warum waren Sie sich so sicher, dass Sie Astrid
Lindgren alles anvertrauen konnten? War das eine Folge
dieser Korrespondenz?
Ich weiß nicht. Entweder war ich naiv. Oder man hatte
einfach ein so großes Vertrauen zu Astrid.
NB: Hat sich dieses Vertrauen durch die Briefe verstärkt?
Ist es zurückgekommen?
Ich hatte absolutes Vertrauen zu Astrid Lindgren.
Zwei Neuerscheinungen von und mit Astrid Lindgren:
Der Briefwechsel mit Sara Schwardt (Oetinger Verlag)
und die Tagebücher 1939-1945 (Ullstein Verlag).
NB: Frau Schwardt, Ihr erster Brief an Astrid Lindgren ist
mehr als selbstbewusst. Sie haben sich als großes Schauspieltalent ins Spiel gebracht und sie um die Vermittlung
einer Filmrolle gebeten. Haben Sie überhaupt damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen?
NB: Das spannende ist, wie doch mehr und mehr ein
gleichberechtigtes Gespräch entstanden ist: Die Briefe von
Astrid Lindgren erzählen von einer so großen Zuwendung
zu Ihnen: Wieder und wieder schrieb sie etwa, Sie seien
doch – entgegen Ihren eigenen Beteuerungen – ein schönes und kluges Mädchen. Astrid Lindgren machte Ihnen
Mut – und Sie bat Sie, die Schule nicht zu verlassen, einen
Abschluss zu machen – und das ohne den Eindruck entstehen zu lassen, da halte eine alte Tante eine Moralpredigt. Wie wichtig war dieses schreibende Gespräch für Sie
selbst, in dieser Zeit?
Astrid hatte die Funktion einer Rettungsleine für mich. Ich
habe ja teilweise in dieser Zeit auf Grund ihrer Briefe überNB: Und warum waren Sie so sicher, dass Sie eine Antwort lebt. Da war jemand, mit dem ich einen Gedankenaustausch hatte.
bekommen?
Ja, das habe ich.
Ich war mir ganz sicher. Es war ja Astrid Lindgren. Sie war NB: Und war auch jemand, der Sie immer wieder ermuntert hat, alles zu schreiben, was Sie bewegt.
fair. Und wer möchte nicht meine Briefe beantworten?
NB: Sie waren 12 Jahre als, Sie den ersten Brief an Astrid Ja. Ich hatte die Idee, ein Buch zu schreiben. Ich wollte von
Lindgren schickten, im April 1971. Viele weitere folgten – einem Jungen erzählen, der mit ärztlicher Hilfe zu einem
und die Briefe von Ihnen erzählen von einer recht schwe- Mädchen wird. Astrid schrieb mir, das sei keine so gute
ren Lebensphase: Sie haben die Schule geschwänzt, wur- Idee. Ich sollte lieber über mich selbst schreiben.
den von Ihren Mitschülern gemobbt, sind zu Hause wegge- NB: Dann haben Sie viel über sich selbst geschrieben. Wir
laufen, waren in einer psychiatrischen Klinik. War Astrid erfahren in den Briefen, die Astrid Lindgren an Sie geLindgren am Ende der einzige Mensch, dem Sie all das schrieben hat, auch viel über ihren Blick auf die Welt. Die
erzählen konnten, was Sie damals bewegt hat?
große Verzweiflung, mit der Sie auf Ihr Eingeständnis der
Ja. Sie war tatsächlich die einzige, mit der ich über diese Gewalt Ihres Vaters gegen Sie antwortet, die Freude über
Themen sprechen konnte. Ich hatte eine Tante, die ich sehr das Gefühl des Verliebtseins, auch wenn das in Ihrem Fall,
mochte – sie hat mir auch Nachhilfe in Deutsch gegeben, Sara Schwardt, unglücklich war. Und dann diese große
weil ich oft die Schule geschwänzt habe. Aber nicht mal Geduld mit Blick auf das, was das Leben aus einem
20
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Astrid Lindgren
Mädchen wie Ihnen macht – ein so großer Optimismus,
eine so große Anteilnahme. „Gehe behutsam mit der Welt
um“, schrieb Sie Ihnen einmal. Ist das vielleicht ein Zentrum dieser Korrespondenz?
von Astrids Briefen. Ich dachte, das hält doch kein Mensch
aus – das alles zu lesen, was wir geschrieben haben. Und
als begriffen habe, dass der Verlag den gesamten Briefwechsel veröffentlichen wollte, da geriet ich in eine schwere Krise. Ich fragte mich: Was hätte Astrid Lindgren dabei
Das könnte man so sagen. Ich habe nie selbst darüber
empfunden? Und was meine Eltern? Darf ich sie dem ausnachgedacht, aber das übernehme ich sofort. Genau so war
liefern? Und mich selbst auch. Was würden die Menschen
es.
über Sara Schwardt denken? Ich habe mir nächtelang den
Kopf darüber zerbrochen. Und ich schrieb zwei Listen mit
NB: Inwiefern hat Sie das für Ihr weiteres Leben geprägt?
Argumenten, einmal für und einmal gegen eine VeröffentJa, daran habe ich oft gedacht. Und, es ist schwer für mich lichung.
zu sagen. Astrid hat mich natürlich sehr viel in meinem
Inneren beeinflusst. Es passieren viele Dinge im Leben, die Schließlich habe ich eingesehen, dass ich trotz allem wolleinen beeinflussen, aber Astrid vermittelte mir etwas, was te, dass es ein Buch werden würde und ich sehe jetzt, dass
sich in mein Allerinnerstes gesetzt hat , mitten in mein das goldrichtig war. Es wurde ein Buch, das keinem andeHerz. Ich war nicht so wertlos, wie ich dachte, weil Astrid ren Buch gleicht.
ja mit mir kommunizieren wollte .
NB: Und es ist sehr schön, dass dieses Buch da ist, dass
NB: Es gibt diesen schönen und wichtigen Satz von Astrid wir es entdecken können, nun eben auch in Deutschland.
Lindgren: „Life is not as rotten as ist seems“ - darüber Interessant ist, dass Sie sich beide – Sie und Astrid Lindgschrieb Sie Ihnen auch. Und eigentlich durchzieht dieser ren – niemals während dieser ganzen Korrespondenz
Gedanke ganz viele der Briefe, die Sie von Astrid Lindgren begegnet sind. War das eine Frage, die sich Ihnen damals
bekommen haben. Sie haben – auch darum dreht sich der überhaupt gestellt hat: Astrid Lindgren persönlich zu beBriefwechsel wieder und wieder – viele Bücher von ihr gegnen?
gelesen, etwa „Die Brüder Löwenherz“, der Roman, der
Darüber habe ich tatsächlich nie nachgedacht. Ich wollte
während der intensivsten Phase Ihres Briefwechsels erAstrid Lindgren nicht treffen. Und ich glaube, Astrid wollte
schien. Wenn Sie heute – im Abstand von einigen Jahrmich auch nicht treffen. In den Briefen konnte ich ich
zehnten – auf dieses Korrespondenz blicken: Was haben
selbst sein – und mich öffnen. Wenn wir uns begegnet
Sie von Astrid Lindgren gelernt, für Ihr eigenes Leben?
wären, dann wäre wohl etwas von der Magie in unseren
Ja, Astrid ist ja nicht dem Bösen ausgewichen. Sie schrieb Briefen verloren gegangen. Und vielleicht hätte ich ihr
sogar für Kinder über schreckliche und schwierige The- imponieren wollen. Außerdem fühlte ich, da gibt es eine
men. Aber sie ließ immer die Tür offen für eine Hoffnung. Grenze. Und ich wollte diese nicht überschreiten. Ich habe
Auch wenn sie sich zu keinem speziellen Glauben bekann- den absolut besten Teil von Astrid bekommen!
te, so wollte sie der Menschheit eine Hoffnung in dem
NB: Es gibt viele schöne Episoden in diesem Briefwechsel.
Elend vermitteln. Es war als ob sie der Welt eine Hoffnung
Wunderbar ist die mit den 1.000 Kronen für das Nichtangeben wollte. Dass sie in ihren Büchern ein glückliches
fangen mit dem Rauchen. Erzählen Sie uns diese noch zum
Ende hinterlassen wollte. Das empfinde ich als eine fanSchluß?
tastische Lebenseinstellung und die möchte ich auch für
mich bewahren.
Astrid Lindgren hat mir 1000 Kronen versprochen – und
das war damals sehr viel Geld. Als Gegenleistung verlangNB: Haben Sie denn die Bücher von Astrid Lindgren an
te sie, dass ich vor meinem 20. Geburtstag nicht mit dem
Ihre eigenen Kinder weiter gegeben, auch mit diesen GeRauchen anfange. Als ich 20 wurde, hatten wir nicht mehr
danken?
einen so intensiven Briefverkehr wie einige Jahre früher.
Ich würde gerne mit Ja antworten. Aber ich will ehrlich Und deswegen habe ich sie erst einige Jahre später daran
sein. Ich habe Astrids Bücher nicht auf diese Art und Wei- erinnert. Ich schrieb an Astrid und bat sie um die 1000
se mit meinen Kindern geteilt. Vielleicht wollte ich Astrid Kronen. Und dann habe ich mich total geschämt.
Lindgren für mich allein behalten. Jetzt, da meine Kinder
NB: Und Sie haben trotzdem, das ist die Pointe, diese 1000
erwachsen sind, ermuntere ich sie, die Bücher zu lesen.
Kronen bekommen.
Astrid Lindgren ist gut für alle Menschen, für die Kinder
und die Erwachsenen. Sie ist gut für das Kind in uns.
Ich bekam das Geld. Wenn Astrid etwas versprochen hat,
dann hielt sie sich auch daran.
NB: Ich finde, es gehört viel Mut dazu, diesen sehr persönlichen Briefwechsel zu veröffentlichen. Sie, aber ebenso
auch Astrid Lindgren, öffnen sich sehr, sehr weit – Sie
Übersetzung: Berit Zwanzger, Kiel.
geben viel Intimes preis. Sie haben lange überlegt, ob Sie
dem Wunsch von Archiv und Verlag zur Veröffentlichung Das Gespräch wird am 16.1.2016 im Büchermagazin Dizustimmen. Was hat Sie dann bewogen, das Ja-Wort zu wan auf Bayern 2 ausgestrahlt, um 14.05 Uhr und 21.05
dieser Edition zu geben?
Uhr (in der Wiederholung).
Ich bin davon ausgegangen, dass 50 bis 70 Prozent meiner
Briefe gar nicht veröffentlicht werden. Und auch ein Teil
21
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
„Von einer verlorenen Schlacht“
Vorlesung zum Nobelpreis für Literatur 2015
von Swetlana Alexijewitsch
Swetlana Alexijewitsch (Foto: Margarita Kabakova)
Ich stehe auf diesem Podium nicht allein … Ich bin
umgeben von Stimmen, von Hunderten Stimmen, sie sind
immer bei mir. Seit meiner Kindheit. Ich lebte auf dem
Land. Wir Kinder spielten gern draußen, doch abends
wurden wir magnetisch angezogen von den Bänken, auf
denen sich vor ihren Häusern oder Katen, wie man bei uns
sagt, die müden Frauen versammelten. Keine von ihnen
hatte noch einen Ehemann, Vater oder Bruder, ich erinnere mich an keine Männer in unserem Dorf nach dem Krieg
– während des Zweiten Weltkriegs ist jeder vierte Weißrusse an der Front oder als Partisan gefallen. Die Welt
unserer Kindheit nach dem Krieg war eine Welt der Frauen. Am stärksten blieb mir in Erinnerung, dass die Frauen
nicht vom Tod sprachen, sondern von der Liebe. Sie erzählten, wie sie sich am letzten Tag von ihrem Liebsten
verabschiedet hatten, wie sie auf ihn gewartet hatten und
noch immer warteten. Es waren bereits Jahre vergangen,
doch sie warteten noch immer. „Mag er ohne Arme zurückkehren, ohne Beine, dann trage ich ihn eben auf dem
Arm.“ Ohne Arme … ohne Beine … Ich glaube, ich wusste
schon als Kind, was Liebe ist …
Hier einige traurige Melodien aus dem Chor, den ich
höre …
Erste Stimme:
„Warum willst du das wissen? Das ist so traurig. Ich
habe meinen Mann im Krieg kennengelernt. Ich war Panzersoldatin. Bin bis Berlin gekommen. Ich weiß noch, wir
standen vorm Reichstag, damals war er noch nicht mein
Mann, und er sagt: ‚Lass uns heiraten. Ich liebe dich.‘ Da
fühlte ich mich auf einmal so gekränkt – wir steckten den
ganzen Krieg über im Dreck, in Blut, hörten nichts als
Flüche. Ich antwortete: ‚Mach erst mal eine Frau aus mir:
Schenk mir Blumen, sag mir schöne Worte, und wenn ich
demobilisiert bin, dann nähe ich mir ein Kleid.‘ Ich hätte
ihn am liebsten geschlagen, so gekränkt war ich. Er hat
das alles gespürt, seine eine Wange war verbrannt, sie war
voller Narben, und auf diesen Narben sah ich Tränen. ‚Gut,
ich heirate dich.‘ Das sagte ich … und konnte selbst nicht
glauben, dass ich das gesagt hatte … Um uns herum Ruß,
Trümmerbrocken, mit einem Wort – Krieg …‘“
Zweite Stimme:
„Wir wohnten in der Nähe des Atomkraftwerks
Tschernobyl. Ich hab als Konditorin gearbeitet, Süßes
gebacken. Mein Mann war bei der Feuerwehr. Wir hatten
gerade geheiratet, gingen sogar zum Einkaufen Hand in
Hand. An dem Tag, als der Reaktor explodierte, hatte mein
Mann Dienst bei der Feuerwehr. Sie fuhren in ihren Hemden zum Einsatz, in ihren Alltagssachen; da war eine Explosion im Atomkraftwerk, und sie bekamen nicht mal
Schutzkleidung. So haben wir gelebt … Das wissen Sie ja …
Die ganze Nacht löschten sie das Feuer und kriegten tödliche Strahlendosen ab. Am nächsten Morgen wurden sie
nach Moskau geflogen. Akute Strahlenkrankheit … damit
überlebt man nur wenige Wochen … Mein Mann war stark,
er war Sportler, er starb als Letzter. Als ich kam, hieß es,
er liege in einer Schutzbox, da dürfe niemand rein. ‚Ich
liebe ihn‘, bat ich. ‚Sie werden von Soldaten versorgt. Was
willst du da?‘ ‚Ich liebe ihn.‘ Sie redeten auf mich ein: ‚Das
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
ist nicht mehr der Mensch, den du liebst, das ist ein Objekt, das dekontaminiert werden muss. Verstehst du?‘
Doch ich sagte mir immer wieder nur: Ich liebe ihn, ich
liebe ihn … In der Nacht stieg ich die Feuertreppe hoch zu
ihm … Oder überredete die Nachtwächter, gab ihnen Geld,
damit sie mich reinließen … Ich habe ihn nicht alleingelassen, ich war bis zum Ende bei ihm … Nach seinem Tod …
einige Monate nach seinem Tod brachte ich ein Mädchen
zur Welt, sie lebte nur ein paar Tage. Sie … Wir hatten uns
so auf sie gefreut, und ich habe sie getötet … Sie hat mich
gerettet, sie hat die gesamte Strahlendosis aufgefangen.
Sie war so winzig … So ein Krümelchen … Aber ich liebte
sie alle beide. Kann denn Liebe töten? Warum ist das so
eng beieinander – Liebe und Tod? Die liegen immer beisammen. Wer kann mir das erklären? Ich knie am Grab …‘
Dritte Stimme:
„Als ich das erste Mal einen Deutschen tötete … Ich war
zehn Jahre alt, die Partisanen nahmen mich schon mit zu
Einsätzen. Der Deutsche lag auf dem Boden, verwundet …
Ich sollte ihm die Pistole abnehmen, ich lief hin, doch der
Deutsche hatte die Pistole mit beiden Händen gepackt und
fuchtelte damit vor meinem Gesicht herum. Aber er schaffte es nicht, als Erster zu schießen, ich war schneller …
Ich war nicht erschrocken, weil ich jemanden getötet
hatte ... Und im Krieg dachte ich nie an ihn. Es gab zu viele
Tote ringsum, wir waren umgeben von Toten. Ich wunderte mich, als ich viele Jahre später plötzlich anfing, von
diesem Deutschen zu träumen. Das war überraschend …
Der Traum kam immer wieder … Ich fliege, und er hält
mich fest. Ich steige auf … Fliege … fliege … Er holt mich
ein, und ich falle, zusammen mit ihm. Ich falle in eine
Grube. Ich will aufstehen, mich aufrichten … Aber er lässt
mich nicht … Seinetwegen kann ich nicht wegfliegen …
Ein und derselbe Traum … Er verfolgte mich Jahrzehnte …
Meinem Sohn kann ich von diesem Traum nicht erzählen. Als mein Sohn noch klein war, konnte ich es nicht, da
las ich ihm Märchen vor. Nun ist mein Sohn erwachsen –
aber ich kann es trotzdem nicht …“
*
Flaubert nannte sich einen Mann der Feder, ich kann
von mir sagen, ich bin ein Mensch des Ohres. Wenn ich
die Straße entlang gehe und Worte, Sätze, Ausrufe aufschnappe, denke ich immer: Wie viele Romane doch spurlos in der Zeit untergehen. Im Dunkel. Einen Teil des
menschlichen Lebens, den mündlichen, konnten wir nicht
für die Literatur erobern. Wir haben ihn bisher nicht geschätzt, nicht bestaunt, nicht bewundert. Mich aber hat er
in seinen Bann geschlagen und gefangengenommen. Ich
liebe es, wie Menschen sprechen … Ich liebe die einzelne
menschliche Stimme. Das ist meine größte Liebe und Leidenschaft.
vom Menschen, begeistert und angewidert, wollte das
Gehörte vergessen, zurückkehren in die Zeit, da ich noch
unwissend war. Auch weinen vor Freude, dass ich den
Menschen als schön erlebt hatte, wollte ich oft.
Ich habe in einem Land gelebt, in dem wir von Kindheit an mit dem Sterben vertraut gemacht wurden. Mit
dem Tod. Man sagte uns, der Mensch lebe, um sich hinzugeben, zu verbrennen, sich zu opfern. Wir wurden dazu
erzogen, den Mann mit dem Gewehr zu lieben. Wäre ich in
einem anderen Land aufgewachsen, hätte ich diesen Weg
nicht gehen können. Das Böse ist schonungslos, man muss
dagegen geimpft sein. Doch wir sind unter Tätern und
Opfern aufgewachsen. Auch wenn unsere Eltern uns nicht
alles, ja, oft sogar gar nichts erzählten, war doch die ganze
Atmosphäre unseres Landes damit infiziert. Das Böse lag
die ganze Zeit auf der Lauer.
Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch sie erscheinen
mir wie ein einziges Buch. Ein Buch über die Geschichte
einer Utopie …
Warlam Schalamow schrieb einmal: „Ich war Teilnehmer einer gewaltigen verlorenen Schlacht um eine wahrhaftige Erneuerung der Menschheit.“ Ich rekonstruiere die
Geschichte dieser Schlacht, ihrer Siege und ihrer Niederlagen. Den Versuch, das Himmelreich auf Erden zu errichten. Das Paradies! Die Sonnenstadt! Doch am Ende blieben
ein Meer von Blut und Millionen vernichteter Menschenleben. Aber es gab eine Zeit, da konnte sich keine politische Idee des 20. Jahrhunderts mit dem Kommunismus
(und der Oktoberrevolution als ihrem Symbol) messen, da
besaß keine andere Idee eine so starke und strahlende
Anziehungskraft auf westliche Intellektuelle und Menschen in der ganzen Welt. Raymond Aron nannte die russische Revolution „das Opium für die Intellektuellen“. Die
Idee des Kommunismus ist mindestens zweitausend Jahre
alt. Wir finden sie bei Platon in seiner Lehre vom idealen
und gerechten Staat, bei Aristophanes im Traum von einer
Zeit, in der alles „Gemeingut“ sein wird … Bei Thomas
More und bei Tommaso Campanella … Später bei SaintSimon, bei Fourier und Owen. Irgendetwas in der russischen Mentalität führte zu dem Versuch, diese Träume
Wirklichkeit werden zu lassen.
Vor zwanzig Jahren nahmen wir mit Flüchen und Tränen Abschied vom „roten“ Imperium. Heute können wir
ruhiger auf die jüngste Geschichte zurückblicken, sie als
eine historische Erfahrung betrachten. Das ist wichtig,
denn die Debatten über den Sozialismus sind bis heute
nicht verstummt. Eine neue Generation mit einem anderen
Weltbild ist herangewachsen, doch viele junge Menschen
lesen wieder Marx und Lenin. In russischen Städten werden Stalin-Museen eröffnet, Stalin-Denkmäler aufgestellt.
Das „rote“ Imperium existiert nicht mehr, der „rote“
Mensch aber ist noch da. Er lebt weiter.
Mein Vater, er ist vor kurzem gestorben, war bis zum
Mein Weg auf dieses Podium dauerte fast vierzig Jahre,
von Mensch zu Mensch, von Stimme zu Stimme. Ich kann Schluss ein gläubiger Kommunist, hütete seinen Parteinicht sagen, dass ich diesem Weg immer gewachsen ge- ausweis. Ich konnte nie das abfällige Wort Sowok benutwesen wäre – viele Male war ich erschüttert und entsetzt zen, denn dann hätte ich meinen Vater so nennen müssen,
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
Menschen, die mir nahestehen, Bekannte und Freunde.
Sie alle stammen von dort, aus dem Sozialismus. Unter
ihnen gibt es viele Idealisten. Romantiker. Heute werden
sie anders genannt: Romantiker der Sklaverei. Sklaven
einer Utopie. Ich glaube, sie alle hätten auch ein anderes
Leben führen können, aber sie führten ein sowjetisches
Leben. Warum? Nach der Antwort auf diese Frage habe ich
lange gesucht, ich bin durch das riesige Land gereist, das
bis vor kurzem UdSSR hieß, habe Tausende Tonbandaufnahmen gemacht. Es war Sozialismus, und es war einfach
unser Leben. Stück für Stück, Krume für Krume habe ich
die Geschichte des „privaten“, des „inneren“ Sozialismus
gesammelt. Habe erforscht, wie er in der menschlichen
Seele wirkte. Mich interessierte dieser kleine Raum – der
Mensch … der einzelne Mensch. Denn da geschieht im
Grunde alles.
Schatow zu Stawrogin zu Beginn ihres Gesprächs: „Wir
sind hier zwei Wesen und begegnen uns in der Unendlichkeit … zum letzten Mal auf der Welt. Lassen Sie von
Ihrem Ton ab und nehmen Sie einen menschlichen Ton an!
Reden Sie wenigstens ein Mal mit menschlicher Stimme.“
Ungefähr so beginnen meine Gespräche mit meinen
Protagonisten. Natürlich erzählt jeder Mensch aus seiner
Zeit heraus, er kann nicht aus dem Nichts erzählen! Aber
zur menschlichen Seele durchzudringen ist schwer, sie ist
zugemüllt mit dem Aberglauben des Jahrhunderts, mit
seinen Lügen und Vorurteilen. Mit Fernsehen und Zeitungen.
Ich möchte einige Seiten aus meinen Notizbüchern zitieren, um zu zeigen, wie die Zeit voranschritt … wie die
Idee langsam starb … Wie ich ihren Spuren folgte …
Nach dem Krieg schrieb Theodor W. Adorno erschüttert: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ Mein Lehrer Ales Adamowitsch, den ich heute
voller Dankbarkeit erwähnen möchte, betrachtete auch das
Schreiben von Prosa nach den Ungeheuerlichkeiten des
20. Jahrhunderts als Frevel. Hier dürfe man nichts erfinden. Die Wahrheit müsse so dargestellt werden, wie sie
sei. Nötig sei eine „Überliteratur“. Zu Wort kommen müsse
der Zeitzeuge. Das erinnert an Nietzsches Aussage, ein
Künstler halte keine Wirklichkeit aus. Er blicke weg.
Mich hat stets gequält, dass die Wahrheit nicht in ein
einziges Herz, in einen einzigen Verstand passt. Dass sie
zersplittert ist, vielfältig, unterschiedlich, in der Welt zerstreut. Bei Dostojewski findet sich der Gedanke, dass die
Menschheit mehr über sich wisse, viel mehr, als sie in der
Literatur festhalten konnte. Was tue ich? Ich sammle den
Alltag von Gefühlen, Gedanken, Worten. Ich sammle das
Leben meiner Zeit. Mich interessiert die Geschichte der
Seele. Das Leben der Seele. Das, was die große Geschichtsschreibung gewöhnlich auslässt, was sie hochmütig übersieht. Ich beschäftige mich mit der ausgelassenen Geschichte. Oft genug habe ich gehört und höre noch heute,
das sei keine Literatur, sondern Dokumentation. Doch was
ist heute Literatur? Wer hat eine Antwort auf diese Frage?
Unser Leben ist heute schneller als früher. Der Inhalt
sprengt die Form. Bricht und verändert sie. Alles sprengt
seinen Rahmen: die Musik, die Malerei, und auch im Dokument sprengt das Wort die Grenzen des Dokumentarischen. Es gibt keine Grenze zwischen Tatsache und Erfindung, sie gehen ineinander über. Auch ein Zeitzeuge ist
nicht unparteiisch. Wenn der Mensch erzählt, ist er kreativ, er ringt mit der Zeit wie der Bildhauer mit dem Marmor. Er ist Schauspieler und Schöpfer.
Mich interessiert der kleine Mensch. Der große kleine
Mensch, so würde ich es nennen, denn sein Leiden macht
ihn groß. In meinen Büchern erzählt er seine eigene kleine
Geschichte und damit zugleich auch die große Geschichte.
Was mit uns geschehen ist und mit uns geschieht, ist noch
nicht verarbeitet, es muss ausgesprochen werden. Für den
Anfang wenigstens ausgesprochen werden. Wir scheuen
uns davor, solange wir nicht in der Lage sind, unsere Vergangenheit zu bewältigen. In Dostojewskis Dämonen sagt
Swetlana Alexijewitsch nimmt aus den Händen des
schwedischen Königs die Nobelpreisurkunde entgegen. (Foto: Pi Frisk, © Nobel Media AB 2015)
1980–1985
Ich schreibe ein Buch über den Krieg … Warum über
den Krieg? Weil wir Menschen des Krieges sind - wir haben immer gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet.
Wenn wir es genau betrachten, denken wir alle wie im
Krieg. Zu Hause, auf der Straße. Darum ist ein Menschenleben bei uns so wenig wert. Alles ist wie im Krieg.
Anfangs hatte ich Zweifel. Noch ein Buch über den
Krieg … Wozu?
Auf einer meiner Reisen als Journalistin traf ich eine
Frau, die im Krieg Sanitäterin gewesen war. Sie erzählte:
Sie liefen im Winter über den Ladogasee, der Feind entdeckte sie und begann mit dem Beschuss. Pferde und
Menschen versanken unterm Eis. Es war Nacht, und sie
packte einen Verwundeten und schleppte ihn ans Ufer.
„Ich hab ihn geschleppt, er war nass und nackt, ich dachte,
es hätte ihm die Kleider von Leib gerissen“, erzählte sie.
„Doch am Ufer sah ich, dass ich einen riesigen verwundeten Fisch rausgeschleppt hatte, einen Beluga. Ich schrie
einen dreistöckigen Fluch – die Menschen leiden, aber die
Tiere, die Vögel, die Fische – wofür? Auf einer anderen
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
Reise hörte ich die Geschichte einer Sanitäterin einer
Kavallerieschwadron, die während eines Gefechts einen
verwundeten Deutschen in einen Bombentrichter geschleppt hatte und erst da entdeckte, dass es ein Deutscher war, sein Bein war zertrümmert, er blutete. Aber er
war doch ein Feind! Was tun? Dort oben starben die eigenen Jungs! Doch sie verband den Deutschen und kroch
weiter. Schleppte einen russischen Soldaten an, er war
bewusstlos, und als er zu sich kommt, will er den Deutschen töten, und als der zu sich kommt, greift er zur Maschinenpistole und will den Russen töten. „Ich hab ihnen
in die Fresse gehauen, beiden. Unsere Beine“, erinnerte
sie sich, „waren voller Blut. Das Blut hat sich vermischt.“
Unser größtes Kapital ist das Leiden. Nicht Öl und nicht
Gas, nein, das Leiden. Das ist das Einzige, das wir stetig
fördern. Ich suche ständig nach einer Antwort auf die
Frage: Warum lässt sich unser Leiden nicht in Freiheit
konvertieren? Ist es etwa ganz umsonst? Tschaadajew
hatte Recht: Russland ist ein Land ohne Gedächtnis, ein
Raum totaler Amnesie, ein jungfräuliches Bewusstsein für
Kritik und Reflexion.
Große Bücher liegen auf der Straße …
1989
Ich bin in Kabul. Ich wollte nicht mehr über den Krieg
schreiben. Doch nun bin ich in einem richtigen Krieg. In
Das war ein Krieg, den ich nicht kannte. Der Krieg der
der Zeitung Prawda steht: „Wir helfen dem brüderlichen
Frauen. Da ging es nicht um Helden. Nicht darum, wie die
afghanischen Volk beim Aufbau des Sozialismus.“ Überall
einen heldenhaft die anderen töteten. Ich erinnere mich an
Menschen des Krieges, Kriegsgegenstände. Kriegszeit.
die Worte einer Frau: „Nach dem Gefecht gehst du übers
Schlachtfeld. Da liegen sie … Alle jung und so schön. Sie
Gestern durfte ich nicht mit zum Gefecht: „Bleiben Sie
liegen da und schauen zum Himmel. Sie tun dir leid, die im Hotel, junge Frau. Sonst muss ich mich nachher für Sie
einen wie die anderen.“ Dieses „die einen wie die ande- verantworten.“ Ich sitze im Hotel und denke: Es liegt etren“ sagte mir, worum es in meinem Buch gehen würde. was Unmoralisches im Beobachten fremden Mutes und
Darum, dass Krieg Mord ist. So haben es die Frauen in fremden Risikos. Ich bin schon über eine Woche hier und
Erinnerung. Eben noch hat der Mensch gelächelt, geraucht werde das Gefühl nicht los, dass der Krieg eine Schöpfung
– und nun ist er nicht mehr da. Am häufigsten sprechen der männlichen Natur ist, mir unbegreiflich. Aber die
die Frauen über das Verschwinden, darüber, wie schnell Alltäglichkeit des Krieges ist gewaltig. Ich entdeckte, dass
im Krieg alles zum Nichts wird. Der Mensch wie die Waffen schön sind: Maschinenpistolen, Minen, Panzer. Der
menschliche Zeit. Ja, sie haben sich aus freien Stücken an Mensch hat viel darüber nachgedacht, wie man einen
die Front gemeldet, mit 17, 18 Jahren, aber sie wollten anderen Menschen am besten tötet. Der ewige Streit zwinicht töten. Doch sie waren bereit zu sterben. Zu sterben schen Wahrheit und Schönheit. Mir wurde eine neue italifür die Heimat. Und, ja – aus der Geschichte lässt sich enische Mine gezeigt, und meine „weibliche“ Reaktion:
kein Wort streichen –, auch für Stalin.
„Sie ist schön. Warum ist sie schön?“ Militärisch exakt
wurde mir erläutert, wenn man auf diese Mine fahre oder
Das Buch wurde zwei Jahre lang nicht gedruckt, es
so drauftrete … in diesem Winkel … dann bleibe von einem
konnte vor der Perestroika nicht erscheinen. Vor GorMenschen nur noch ein Eimer voll Fleisch übrig. Über
batschow. „Nach Ihrem Buch geht doch niemand mehr
Unnormales wird hier geredet wie über etwas ganz Norkämpfen“, belehrte mich der Zensor. „Ihr Krieg ist graumales, Selbstverständliches. Es sei eben Krieg … Niemand
sam. Warum gibt es bei Ihnen keine Helden?“ Ich habe
verliert den Verstand bei diesen Bildern, darüber, dass da
nicht nach Helden gesucht. Ich habe Geschichte festgehalein Mensch auf der Erde liegt, getötet nicht von einer
ten, durch die Berichte ihrer unbeachtet gebliebenen ZeuNaturgewalt, nicht durch das Schicksal, sondern von eigen und Beteiligten. Sie wurden nie befragt. Was die Mennem anderen Menschen.
schen über die großen Ideen denken, einfache Menschen,
wissen wir nicht. Gleich nach dem Krieg hätte ein BeteiligIch habe gesehen, wie eine „schwarze Tulpe“ beladen
ter ihn anders erzählt als zehn Jahre später, natürlich, in wurde, ein Flugzeug, mit dem die Zinksärge mit Getöteten
ihm verändert sich etwas, denn er legt sein ganzes Leben in die Heimat gebracht werden. Den Toten werden oft alte
in seine Erinnerungen. Sein ganzes Ich. Wie er in diesen Uniformen aus den vierziger Jahren angezogen, mit
Jahren gelebt, was er gelesen und gesehen hat, wem er Stiefelhosen, manchmal reichen auch diese Uniformen
begegnet ist. Woran er glaubt. Und nicht zuletzt, ob er nicht. Soldaten unterhalten sich: „Ins Kühlhaus wurden
glücklich ist oder nicht. Dokumente sind lebendige Wesen, neue Tote gebracht. Das stinkt wie vergammeltes Wildsie verändern sich mit uns …
schwein ...“ Darüber werde ich schreiben. Ich fürchte, zu
Hause wird man mir nicht glauben. Unsere Zeitungen
Aber ich bin absolut sicher, dass es solche Mädchen
berichten über Alleen der Freundschaft, die von sowjetiwir die Kriegsmädchen von 1941 nie wieder geben wird.
schen Soldaten gepflanzt werden.
Es war die Blütezeit der „roten“ Idee, mehr noch als die
Revolution und Lenin. Ihr Sieg verdrängt für sie bis heute
Ich rede mit jungen Soldaten, viele sind freiwillig hier.
den Gulag. Ich liebe diese Mädchen sehr. Aber ich konnte Haben sich selbst gemeldet. Mir fiel auf, dass die meisten
mit ihnen nicht über Stalin reden, darüber, dass nach dem aus der Intelligenz stammen – Kinder von Lehrern, Ärzten,
Krieg Züge voller Sieger nach Sibirien gebracht wurden, Bibliothekaren … kurz, von Büchermenschen. Sie träumten
mit Menschen, die mutiger waren als andere. Die Übrigen aufrichtig davon, dem afghanischen Volk beim Aufbau des
kamen zurück und schwiegen. Einmal habe ich gehört: Sozialismus zu helfen. Jetzt lachen sie über sich. Sie zeig„Frei waren wir nur im Krieg. An der vordersten Front.“ ten mir eine Stelle auf dem Flugplatz, wo Hunderte
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
Zinksärge lagen, geheimnisvoll glänzten sie in der Sonne.
Der Offizier, der mich begleitete, sagte spontan: „Vielleicht
liegt hier auch mein Sarg … In den sie mich dann legen …
Wofür kämpfe ich hier eigentlich?“ Sofort erschrak er über
seine Worte. „Schreiben Sie das nicht auf.“
In der Nacht träumte ich von Gefallenen, alle hatten erstaunte Gesichter: Wieso bin ich tot? Bin ich wirklich tot?
Ich begleitete Krankenschwestern in ein Hospital für
afghanische Zivilisten, wir brachten den Kindern Geschenke. Spielzeug, Gebäck, Bonbons. Ich sollte fünf
Plüschteddys verteilen. Wir kamen an – eine lange Baracke, an Bettzeug hatten alle nur eine Decke. Eine junge
Afghanin mit einem Kind auf dem Arm trat zu mir, sie
wollte etwas sagen, in den zehn Jahren haben hier alle
etwas Russisch gelernt, ich gab dem Kind den Teddy, und
er nahm ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit
den Zähnen?“, fragte ich erstaunt. Die Afghanin riss die
Decke von dem kleinen Körper, dem Jungen fehlten beide
Arme. „Das waren deine russischen Bomben.“ Irgendwer
hielt mich, ich sackte zusammen …
Ich habe mich gefragt, was für ein Buch über den Krieg
ich gern schreiben möchte. Ich würde gern über einen
Menschen schreiben, der nicht schießt, der nicht auf einen
anderen Menschen schießen kann, den allein der Gedanke
an Krieg leiden lässt. Wo ist dieser Mensch? Ich bin ihm
nicht begegnet.
1990–1997
Die russische Literatur ist deshalb interessant, weil nur
sie von der einzigartigen Erfahrung erzählen kann, die das
einst riesige Land durchgemacht hat. Ich werde oft gefragt:
Warum schreiben Sie ständig über Tragisches? Weil wir so
leben. Wir leben zwar heute in verschiedenen Ländern,
doch überall ist der „rote“ Mensch noch da. Der Mensch
aus jenem Leben, mit diesen Erinnerungen.
Über Tschernobyl wollte ich lange nicht schreiben. Ich
wusste nicht, wie, mit welchem Instrumentarium, wo
ansetzen. Der Name meines kleinen, unscheinbaren Landes in Europa, von dem die Welt zuvor fast nichts gehört
hatte, ertönte plötzlich in allen Sprachen, und wir Weißrussen wurden zum Tschernobyl-Volk. Wir hatten als
Erste Berührung mit dem Unbekannten. Nun wurde klar:
Neben den kommunistischen, nationalen und neuen religiösen Herausforderungen erwarten uns noch weitere, viel
schlimmere, totale, die uns bislang verborgen sind. Einiges
trat durch Tschernobyl zutage …
Ich habe gesehen, wie unsere Grad-Raketen Kischlaks
in einen umgepflügten Acker verwandeln. Ich war auf
einem afghanischen Friedhof, so lang wie ein Kischlak.
Irgendwo in der Mitte des Friedhofs schrie eine Frau. Ich
erinnerte mich, wie in einem Dorf bei Minsk ein Zinksarg
in ein Haus gebracht wurde und wie die Mutter heulte.
Das war kein menschlicher Schrei und nicht der Schrei
eines Tieres … Genau so ein Schrei wie der auf dem afghaIch erinnere mich, wie ein Taxifahrer wild fluchte, als
nischen Friedhof …
eine Taube gegen die Windschutzscheibe flog: „Jeden Tag
sterben so zwei, drei Vögel. Aber in der Zeitung heißt es,
Ich gestehe, ich war nicht sofort frei. Ich war aufrichtig
die Situation sei unter Kontrolle.“
zu meinen Protagonisten, und sie vertrauten mir. Jeder
von uns hatte seinen eigenen Weg zur Freiheit. Bis Afgha- In den Stadtparks wurde das Laub zusammengekehrt, aus
nistan glaubte ich an einen Sozialismus mit menschlichem der Stadt gebracht und begraben. Von verseuchten Orten
Gesicht. Von dort kehrte ich ohne alle Illusionen zurück. wurde die Erde abgetragen und ebenfalls begraben – Erde
„Verzeih mir, Vater“, sagte ich, als ich ihn besuchte, „du wurde in Erde begraben. Gras wurde begraben und Brennhast mich mit dem Glauben an die kommunistischen Idea- holz. Die Menschen wirkten wie nicht ganz bei Sinnen. Ein
le erzogen, aber ich musste nur einmal sehen, wie junge alter Imker erzählte: „Ich komme früh in den Garten, und
Menschen, eben noch sowjetische Schüler, wie du und da fehlt etwas, ein vertrautes Geräusch. Keine einzige
Mama sie unterrichten (meine Eltern waren Lehrer auf Biene … Ich höre keine einzige Biene. Keine einzige! Was
dem Land), wie diese jungen Menschen auf fremdem Bo- ist los? Was? Auch am zweiten Tag flogen sie nicht aus
den andere Menschen töten, als ich das sah, zerfielen alle und auch nicht am dritten … Dann wurden wir informiert,
deine Worte zu Staub. Wir sind Mörder, Papa, verstehst dass es im Atomkraftwerk einen Unfall gab, und das ist
du?!“ Mein Vater fing an zu weinen.
ganz in der Nähe. Aber lange wussten wir gar nichts. Die
Bienen wussten Bescheid, aber wir nicht.“ Die ZeitungsbeAus Afghanistan kehrten viele als freie Menschen zurichte über Tschernobyl waren voller Kriegsbegriffe: Exrück. Aber ich kenne auch ein anderes Beispiel. Dort in
plosion, Helden, Soldaten, Evakuierung … Im Kraftwerk
Afghanistan hatte ein junger Mann mich angeschrien:
selbst ermittelte das KGB. Sie suchten nach Spionen und
„Was verstehst du als Frau schon vom Krieg? Meinst du,
Saboteuren, es gingen Gerüchte um, der Unfall sei eine
die Menschen sterben im Krieg so wie in den Büchern und
geplante Aktion westlicher Geheimdienste, um das soziaFilmen? Da sterben sie schön, aber gestern wurde mein
listische Lager zu schwächen. Militärtechnik und Soldaten
Freund getötet, eine Kugel hat ihn am Kopf getroffen. Er
wurden nach Tschernobyl geschickt. Das System handelte
ist noch zehn Meter gelaufen, wollte sein Gehirn festhalten
wie gewohnt, militärisch, doch der Soldat mit der nagel…“ Doch zehn Jahre später erzählt derselbe junge Mann,
neuen Maschinenpistole war in dieser neuen Welt eine
inzwischen ein erfolgreicher Geschäftsmann, gern von
tragische Figur. Er konnte nur eines: eine enorme StrahAfghanistan. Er rief mich an: „Was sollen deine Bücher?
lendosis abbekommen und sterben, wenn wieder zu Hause
Sie sind zu grausam.“ Er war nun ein anderer Mensch,
war.
nicht mehr der, den ich inmitten von lauter Tod getroffen
hatte und der nicht mit zwanzig Jahren sterben wollte …
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – Winter 2015
Swetlana Alexijewitsch
Vor meinen Augen wurde der Vor-Tschernobyl-Mensch
„Der Russe will anscheinend gar nicht reich sein, er
zum Tschernobyl-Menschen.
hat sogar Angst davor. Was will er dann? Er will immer
nur eins: Dass ein anderer nicht reich wird. Reicher als er
Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht anfassen,
selbst.“
nicht riechen … Die Welt um uns herum war so vertraut
und zugleich so fremd. Als ich in die Zone fuhr, wurde ich
„Einen ehrlichen Menschen findest du bei uns nicht,
rasch belehrt: Keine Blumen pflücken, nicht ins Gras set- aber Heilige schon.“
zen, kein Brunnenwasser trinken … Der Tod lauerte über„Auf eine Generation, die nicht geprügelt wurde, könall, aber es war ein irgendwie anderer Tod. Er trug neue
nen wir lange warten; der Russe versteht die Freiheit
Masken. Ein fremdes Gewand. Alte Menschen, die den
nicht, er braucht Kosaken und die Peitsche.“
Krieg erlebt hatten, wurden erneut evakuiert – sie blickten
zum Himmel: „Die Sonne scheint … Kein Rauch, kein Gas.
„Die beiden wichtigsten russischen Wörter sind Krieg
Keine Schüsse. Das ist doch kein Krieg? Trotzdem sind wir und Gefängnis. Was geklaut, gefeiert, eingefahren … rausnun Flüchtlinge.“
gekommen und wieder eingefahren …“
Morgens griffen alle gierig nach den Zeitungen und
„Das russische Leben muss schlimm sein und erbärmlegten sie gleich enttäuscht wieder weg – es waren keine lich, dann erhebt sich die Seele und begreift, dass sie nicht
Spione gefasst worden. Kein Wort über Volksfeinde. Eine dieser Welt gehört … Je schmutziger und blutiger, desto
Welt ohne Spione und Volksfeinde war auch fremd. Etwas mehr Raum für die Seele …“
Neues begann. Nach Afghanistan machte uns Tschernobyl
„Für eine neue Revolution fehlt die Kraft und eine gezu freien Menschen.
wisse Verrücktheit. Der Mumm. Der Russe braucht eine
Für mich hat sich die Welt geweitet. In der Zone fühlte Idee, die ihm ein Gänsehaut macht ...“
ich mich nicht als Weißrussin, nicht als Russin und nicht
„So schwankt unser Leben hin und her, zwischen Chaals Ukrainerin, sondern als Vertreterin einer biologischen
os
und
Knast. Der Kommunismus ist nicht tot, der LeichArt, der womöglich die Vernichtung droht. Zwei Katastronam
ist
lebendig.“
phen trafen zusammen: eine soziale – das sozialistische
Atlantis ging unter, und eine weltumspannende –
Ich bin so kühn zu sagen, dass wir die Chance verpasst
Tschernobyl. Der Untergang des Imperiums beschäftigte haben, die wir in den 90er Jahren hatten. Die Frage, was
alle: Die Sorgen der Menschen galten dem Heute und für ein Land wir wollen, ein starkes oder ein menschenihrem Alltag, wie überleben, wovon etwas kaufen? Woran würdiges, in dem jeder gut leben kann, wurde zugunsten
glauben? Unter welche Fahne sich nun scharen? Oder der ersten Antwort entschieden: Ein starkes Land. Es
sollten sie lernen, ohne große Idee zu leben? Letzteres war herrscht wieder eine Zeit der Stärke. Russen kämpfen
fremd, denn so haben wir nie gelebt. Der „rote“ Mensch gegen Ukrainer. Gegen Brüder. Mein Vater ist Weißrusse,
stand vor Hunderten Fragen, und er stellte sie sich ganz meine Mutter Ukrainerin. Und so ist es bei vielen. Russiallein. Noch nie war er so allein gewesen wie in den ersten sche Flugzeuge bombardieren Syrien …
Tagen der Freiheit. Ich war umgeben von erschütterten
Auf die Zeit der Hoffnung folgte eine Zeit der Angst.
Menschen. Ich hörte ihnen zu …
Die Zeit dreht sich zurück … Eine Secondhand-Zeit …
Ich schließe mein Notizbuch …
Heute bin ich nicht mehr sicher, ob ich die Geschichte
Was geschah mit uns, als das Imperium unterging? des „roten“ Menschen zu Ende geschrieben habe …
Früher war die Welt klar gegliedert: Täter und Opfer – das
Ich habe drei Zuhause: Meine weißrussische Heimat,
war der Gulag, Brüder und Schwestern – das war im Krieg,
das
Land meines Vaters, wo ich mein ganzes Leben verElektorat – das war die Zeit der Technologie, die moderne
bracht
habe, die Ukraine, die Heimat meiner Mutter, wo
Welt. Früher zerfiel die Welt noch in jene, die saßen, und
ich
geboren
bin, und die große russische Kultur, ohne die
jene, die einsperrten, heute zerfällt sie in Slawophile und
ich
mir
mich
nicht vorstellen kann. Sie sind mir alle lieb
Westler, in National-Verräter und Patrioten. Und in die, die
und
teuer.
Aber
in unserer Zeit ist es schwer, von Liebe zu
sich etwas kaufen können, und die, die sich nichts kaufen
können. Letzteres, würde ich sagen, ist die grausamste sprechen.
Prüfung nach dem Sozialismus, denn noch vor kurzem
Übersetzung: Ganna-Maria Braungardt
waren alle gleich. Der „rote“ Mensch hat es nicht geschafft
in das Reich der Freiheit, von dem er in der Küche ge- Copyright © The Nobel Foundation 2015
träumt hatte. Russland wurde ohne ihn aufgeteilt, er stand „Svetlana Alexievich - Nobel Lecture”
vor dem Nichts. Gedemütigt und ausgeplündert. Aggressiv Nobelprize.org. Nobel Media AB 2015. Web. 7 Dec 2015.
und gefährlich.
Herzlichen Dank an die Nobelstiftung für die Erlaubnis,
die Vorlesung von Swetlana Alexijewitsch hier abdrucken
Was ich auf meinen Reisen durch Russland hörte …
zu dürfen. Der deutsche Text sowie weitere Übersetzungen
„Modernisierung geht bei uns nur mit Knast und Er- sind hier veröffentlicht:
schießungen.“
http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureat
es/2015/alexievich-lecture.html
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Aus den Archiven
„Die Friedenspreis-Karaoke-Box“
Über ein im Papierkorb gelandetes Projekt zum Friedenspreis
von Martin Schult
Im Archiv des Friedenspreises befinden sich Unterlagen zu zahlreichen Projekten und
Ideen, die die Vergabe des Preises begleitet haben oder hätten begleiten sollen. Manche
wurden realisiert, wie der Aufsatzwettbewerb im Jahr 1969, mit dem der Börsenverein versuchte herauszufinden, wie die Meinung der Jugend über den damals 20 Jahre alten Preis
sei, oder die Ausstellung zum 60jährigen Jubiläum des Friedenspreises im Jahr 2009, die
anschließend in knapp 40 Städten im In- und Ausland gezeigt wurde. Andere Projekte hingegen, wie ein Friedensfest auf dem Platz neben der Paulskirche oder auch die Friedenspreis-Karaoke-Installation, wurden nie realisiert – zu teuer, nicht durchdacht genug, zu
banal oder gar zu ambitioniert? Schauen wir uns eines dieser Projekte einmal genauer an …
Die Friedenspreis-Karaoke Box
Knapp anderthalb Jahre vor der Weltausstellung 2015 in Mailand wurde der Börsenverein
gebeten, Projekte zum Thema Buch oder Lesen vorzuschlagen, die Bestandteil des deutschen Pavillons werden könnten. Unter den eingereichten Vorschlägen befand sich auch
eine Installation, bei der der Besucher selbst zum Friedenspreisträger wird und eine Dankesrede vorträgt, die sich aus Teilen aller bisher gehaltenen Friedenspreisreden zusammensetzt – je nachdem, was für ein Thema sich der Nutzer aussucht.
Am Anfang der Installation befindet
sich ein Bildschirm (A). Hier wird die
Rede zusammengestellt, die anschließend hinter einer Wand und
mithilfe von Telepromptern (B) vor
einer Publikumskulisse (C) vorgetragen wird. Eine Kamera (D) nimmt
dabei den Nutzer auf und spuckt am
Ende eine CD mit der Filmaufnahme
zum Mitnehmen aus (E).
Der kniffligste Teil der Installation
ist dabei natürlich die Zusammenstellung der Rede. Am Bildschirm
Die erste Entwurfszeichnung zur „Friedenskann der Nutzer in zwei Suchfeldern
preis-Karaoke-Box“. Die Originalzeichnung
Begriffe eingeben, mit deren Hilfe
befindet sich im Archiv des Friedenspreises.
das Programm die Absätze aus den
Reden zusammenstellt, in denen sich die Preisträger mit diesen Themen beschäftigt haben.
Erstes Suchfeld: „Problem“
Im ersten Suchfeld gibt der Nutzer das Thema ein, mit dem er sich in seiner Rede beschäftigen will. Mit dem Begriff TERROR bzw. TERRORIST und TERRORISMUS findet das Programm zum Beispiel die folgenden Absätze, wobei kurioserweise der Musiker Yehudi Menuhin im Jahr 1979 der erste Friedenspreisträger gewesen ist, der in seiner Rede den Begriff
TERROR verwendet hat …
Dies also ist unser Kampf, unsere Schlacht für den Frieden. Friede nicht als ein passiver Begriff, der die Verzichterklärung des Willens bezeichnen würde vor einem
solchen Übermaß an missbrauchten Werten, verkehrten Loyalitäten, an Rache, die
als moralisches Kämpfertum paradiert, von TERROR als Fratze des Mutes. Wir alle
müssen unser Äußerstes tun, um dieses furchtbare Schreckbild eines zum Helden
gewordenen Ungeheuers aufzuhalten.
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Kermani 2015
Lanier 2014
Alexijewitsch 2013
Liao 2012
Sansal 2011
Grossman 2010
Magris 2009
Kiefer 2008
Friedländer 2007
Lepenies 2006
Pamuk 2005
Esterházy 2004
Sontag 2003
Achebe 2002
Habermas 2001
Djebar 2000
Stern 1999
Walser 1998
Kemal 1997
Vargas Llosa 1996
Schimmel 1995
Semprún 1994
Schorlemmer 1993
Oz 1992
Konrád 1991
Dedecius 1990
Havel 1989
Lenz 1988
Jonas 1987
Bartoszewski 1986
Kollek 1985
Paz 1984
Sperber 1983
Kennan 1982
Kopelew 1981
Cardenal 1980
Menuhin 1979
Lindgren 1978
Kołakowski 1977
Frisch 1976
Grosser 1975
Frère Roger 1974
The Club of Rome 1973
Korczak 1972
Dönhoff 1971
Myrdal 1970
Mitscherlich 1969
Senghor 1968
Bloch 1967
Bea/Visser 't Hooft 1966
Sachs 1965
Marcel 1964
Weizsäcker 1963
Tillich 1962
Radhakrishnan 1961
Gollancz 1960
Heuss 1959
Jaspers 1958
Wilder 1957
Schneider 1956
Hesse 1955
Burckhardt 1954
Buber 1953
Guardini 1952
Schweitzer 1951
Tau 1950
Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
Aus den Archiven
Denn das ist es. Von einem TERRORISTENLAGER zum andern wird das menschliche
Wesen unwissentlich missbraucht, werden seine Loyalität, seine Visionskraft, seine
Hingabefähigkeit und Stärke mit klinischer Kälte und teuflischer List in den Dienst
irgendeines machthungrigen Herrn gepresst; dabei wird seine Sehnsucht zu dienen
und alles, was rein und treu ist in seiner Natur, zur Erfüllung zu bringen, vergiftet
durch die Anstachelung und Aufreizung durch einen eigensüchtigen Führer, dessen
wirkliche Macht in seinen hypnotisierten Jüngern liegt und in jenen zynischen
Mächten, die ihn mit den Waffen unterstützen, ohne die sie so belanglos wären wie
eine wütende Hausfrau, die eine andere über die Mauer hinweg schrill beschimpft.
… seitdem tauchen Terror, Terrorist oder Terrorismus in zahlreichen Friedenspreisreden auf,
sei es 1990 bei Karl Dedecius …
So ist das, würde Humboldt bedauern, mit dem gedankenlosen Gebrauch der Sprache und mit dessen Folgen in unserer Kultur. Kultur? Diese genügt uns als Wort und
Begriff an Rhein und Main schon lange nicht mehr. Wir machen aus ihr die KulturSzene (Musik-Szene, Literatur-Szene), werfen diesen ganzen Kultur-Brei noch mit
der Pop- und Rock-Szene, mit der TERRORISTEN- und Drogenszene in einen Topf,
als ob alles, was Kultur (oder Unkultur) den arg strapazierten Sinnen heute zu bieten oder zuzumuten hätte, nur noch Szene, Spektakel, Schaustellerei, Mummenschanz und Kulissenzauber wäre. Und die Kultur selbst? Sie verkümmert dabei zum
Streitobjekt und zum Hort permanenten Unfriedens.
… bei Annemarie Schimmel im Jahr 1995 …
Ich jedenfalls habe weder im Koran noch in der Tradition irgendetwas gefunden, was
TERRORISMUS oder Geiselnahme befehle oder auch nur gestatte. Die Goldene Regel
ist ein wichtiger Bestandteil islamischer Ethik. Kein denkender Mensch wird TERRORISTISCHE Akte, in welchem Winkel der Erde und aus welcher Weltanschauung
sie geschehen, gutheißen. Und niemand - so glaube ich - wäre glücklicher als wir
Orientalisten, wenn Todesurteile oder Gefängnisstrafen für Personen abweichender
Meinung, für Kritiker abgeschafft würden, damit wir endlich wieder zu einem Dialog
kommen könnten.
Viele der radikalen Fundamentalisten scheinen zu vergessen, dass der Koran mahnt
„la ikraha fi'd-din“, „Kein Zwang im Glauben“ (Sura 2,257) und dass der Prophet davor warnte, jemanden zum kafir, zum „Ungläubigen“, zu erklären. Sie versuchen, in
der entwurzelten, unter Arbeitslosigkeit leidenden Jugend Anhänger zu finden, die,
mit wenigen schlagwortartigen Formeln ausgerüstet, allzu leicht manipuliert werden
können. Aber solch ein politisch missbrauchter Islam ist etwas ganz anderes als gelebter Islam: Er ist, wie Taher Ben Jalloun schreibt, eine Karikatur des echten Islam,
„denn er steht für eine politische Doktrin, die es in der arabisch-islamischen Welt
bisher nicht gab“.
… oder natürlich auch bei Jürgen Habermas (2001) …
Verhärtete Orthodoxien gibt es im Westen ebenso wie im Nahen und im Ferneren
Osten, unter Christen und Juden ebenso wie unter Moslems. Wer einen Krieg der
Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen,
abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen. Der „Krieg gegen
den TERRORISMUS“ ist kein Krieg, und im TERRORISMUS äußert sich auch der
verhängnisvoll-sprachlose Zusammenstoß von Welten, die jenseits der stummen
Gewalt der TERRORISTEN wie der Raketen eine gemeinsame Sprache entwickeln
müssen. Angesichts einer Globalisierung, die sich über entgrenzte Märkte durchsetzt, erhofften sich viele von uns eine Rückkehr des Politischen in anderer Gestalt nicht in der Hobbistischen Ursprungsgestalt des globalisierten Sicherheitsstaates,
also in den Dimensionen von Polizei, Geheimdienst und Militär, sondern als weltweit
zivilisierende Gestaltungsmacht.
Im Augenblick bleibt uns nicht viel mehr als die fahle Hoffnung auf eine List der
Vernunft - und ein wenig Selbstbesinnung. Denn jener Riss der Sprachlosigkeit entzweit auch das eigene Haus. Den Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung werden wir nur mit Augenmaß begegnen, wenn wir uns darüber klar
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Tau 1950
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werden, was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet. In
dieser Absicht nehme ich das alte Thema »Glauben und Wissen« wieder auf. Sie dürfen also keine »Sonntagsrede« erwarten, die polarisiert, die die einen aufspringen
und die anderen sitzen bleiben lässt.
… und schließlich noch ein wenig Jaron Lanier aus dem Jahr 2014 …
Abgesehen von Büchern geht es bei einem „Friedenspreis“ offensichtlich um Frieden, aber was meinen wir mit Frieden? Ganz sicher muss Frieden bedeuten, dass
keine Gewalt und kein TERROR benutzt werden, um Macht oder Einfluss zu gewinnen. Aber dem Frieden müssen außerdem schöpferische Eigenschaften innewohnen.
Die meisten von uns wollen keine statische oder stumpfsinnige Existenz akzeptieren, selbst wenn sie frei von jeder Gewalt wäre.
Wir wollen nicht die friedliche Ordnung akzeptieren, die uns autoritäre oder aufgezwungene Lösungen vermeintlich bieten, seien sie digital oder altmodisch. Genauso
wenig dürfen wir erwarten, dass zukünftige Generationen für immer unsere Version
einer nachhaltigen Gesellschaft akzeptieren, ganz gleich wie klug wir sind und wie
gut unsere Intentionen. Frieden ist also ein Puzzle. Wie können wir frei sein, ohne
die Freiheit zu missbrauchen? Wie kann Frieden gleichzeitig abwechslungsreich
und stabil sein?
Fehlen tut bei dieser Auswahl jedoch der erste Preisträger, der über den Hass in totalitären
Systemen und Bewegungen gesprochen, den Terrorismus aber nicht beim Namen genannt
hat: Leszek Kołakowski im Jahr 1977, genau an dem Tag, an dem, während er seine Rede in
der Paulskirche hielt, Hanns-Martin Schleyer entführt war und die Lufthansa-Maschine
Richtung Mogadischu flog.
Totalitäre Systeme und Bewegungen jeder Prägung brauchen den Hass weniger gegen äußere Feinde und Bedrohungen als vielmehr gegen die eigene Gesellschaft;
weniger, um die Kampfbereitschaft zu wahren, sondern mehr um diejenigen, die sie
zum Hass erziehen und aufrufen, innerlich zu entleeren, geistig kraftlos und
dadurch widerstandsunfähig zu machen. Die unaufhörliche, lautlose, aber klare Botschaft des Totalitarismus sagt: „Ihr seid perfekt, jene sind vollkommen verdorben.
Ihr würdet schon längst im Paradies leben, hätte die Bosheit eurer Feinde euch nicht
daran gehindert.“
So ist die Aufgabe dieser Erziehung weniger, eine Solidarität im Hassen zu schaffen,
als vielmehr eine Selbstgefälligkeit in den Zöglingen zu erzeugen und sie moralisch
und intellektuell ohnmächtig zu machen. Die Selbstgefälligkeit im Hassen soll mir
das Gefühl geben, dass ich ein glücklicher Besitzer absoluter Werte bin. So gipfelt
der Hass schließlich in einer grotesken Selbstvergöttlichung, die wie bei den gefallenen Engeln nur die Rückseite der Verzweiflung darstellt.
Zweites Suchfeld: „Lösung“
Die bislang gefundenen Absätze ergeben zusammen natürlich noch keine vollständige Friedenspreisrede, sondern erst einen Teil davon, in dem das Problem benannt wird. Mit einem
Eintrag im zweiten Suchfeld „Lösung“ sucht das Programm nun weitere Stellen aus. Bedienen wir uns – angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit – der Schloemann’schen Kritik an Navid Kermanis Friedenspreisrede und geben hier GEBET ein. Es beginnt mit Max
Tau aus dem Jahr 1950 …
„Ich kann nicht mehr.“ „Ich kann nicht mehr.“ Täglich dringt der Hilfeschrei zu uns.
Es ist nicht die Arbeitslast, die die Menschen drückt, es ist die Sinnlosigkeit, die sie
oft zur Verzweiflung treibt. Alle Konfessionen haben das gleiche GEBET. Sie bitten,
dass der Geist des Friedens die Menschen segnen möge. Oft haben die Menschen
dieses GEBET mechanisch nachgesprochen. Nur in den Augenblicken der Not hat sie
der Sinn dieses GEBETES erleuchtet. Sie suchten nach Frieden für sich selbst. Aber
der Friede ist unteilbar. Keiner kann ihn allein erreichen. Alle müssen versuchen
ihn zusammen zu finden. Der Krieg ist sinnlos. Keine Macht kann den Frieden diktieren. Nur die geistigen Kräfte vermögen ihn zu sichern.
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
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… es folgt Gabriel Marcel im Jahr 1964, dessen Preisrede mit einem Gebet endet …
Wenn es in meinem Werk einen Begriff gibt, der alle anderen überragt, so ist es
zweifellos der der Hoffnung, verstanden als Mysterium. Ein Begriff, habe ich gesagt,
wie belebt von innen her durch eine inbrünstige Antizipation. „Ich hoffe für uns auf
Dich“ habe ich geschrieben, und das ist auch heute noch die einzige Formulierung,
die mich befriedigt. Wir können noch deutlicher sagen: Ich hoffe auf Dich, der Du
der lebendige Friede bist, für uns, die wir noch im Kampfe liegen mit uns selbst und
gegeneinander, damit es uns eines Tages gewährt werde, in Dich einzugehen und an
Deiner Fülle teilzuhaben. Und mit diesem Wunsch, mit diesem GEBET, glaube ich
diese Betrachtung schließen zu dürfen.
… mit einem Gedicht von Nelly Sachs (1965) geht es weiter …
IN DER FLUCHT
welch großer Empfang
unterwegs Eingehüllt
in der Winde Tuch
Füße im GEBET des Sandes
der niemals Amen sagen kann
denn er muß
von der Flosse in den Flügel
und weiter Der kranke Schmetterling
weiß bald wieder vom Meer dieser Stein
mit der Inschrift der Fliege
hat sich mir in die Hand gegeben An Stelle von Heimat
halte ich die Verwandlungen der Welt –
Der Prototyp der Friedenspreis-KaraokeBox als Bestandteil der Friedenspreisausstellung zum 60jährigen Jubiläum
… und dass auch Frère Roger (1974) vom Gebet gesprochen hat, ist sehr naheliegend …
Es gibt Menschen, die fast nie den Widerhall der Anwesenheit Gottes in sich spüren.
Dies alles macht uns bewusst, dass es weder im GEBET noch im Glauben Bevorzugte
und Privilegierte gibt. Es ist wahr, zwischen Zweifel und Glaube, zwischen Leere
und Fülle, zwischen Angst und Liebe lässt sich keine klare Grenzlinie ziehen.
… selbst Max Frisch hat 1976 das Thema aufgegriffen …
Ob der Überlebenswille der Gattung ausreichen wird zum Umbau unsrer Gesellschaften in eine friedensfähige, weiß ich nicht. Wir hoffen. Es ist dringlich. Das GEBET entbindet nicht von der Frage nach unserem politischen Umgang mit dieser
Hoffnung, die eine radikale ist. Der Glaube an eine Möglichkeit des Friedens (und
also des Überlebens der Menschen) ist ein revolutionärer Glaube.
… wir würzen es ein wenig mit Jaron Lanier (2014) und seinen Gedanken zum Glauben…
Der neue Humanismus behauptet, es sei richtig, zu glauben, dass Menschen etwas
Besonderes sind, nämlich dass Menschen mehr sind als Maschinen und Algorithmen. Es ist eine Behauptung, die in Tech-Kreisen zu rüdem Spott führen kann, und
es gibt auch keinen Beweis, dass sie stimmt. Wir glauben an uns selbst und aneinander, aber es ist eben nur Glaube. Es ist ein pragmatischerer Glaube als der traditionelle Glaube an Gott. Er führt zum Beispiel zu einer faireren und nachhaltigeren
Wirtschaft und zu besseren, zurechnungsfähigeren Technologien.
Für manche Techies mag der Glaube an die Besonderheit des Menschen sentimental
oder religiös klingen, und so etwas können sie nicht leiden. Aber wenn wir nicht an
die menschliche Besonderheit glauben würden, wie könnten wir dann nach einer
humanistischen Gesellschaft streben? Darf ich vorschlagen, dass die Technologen
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Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - Winter 2015
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wenigstens versuchen so zu tun, als würden sie an die menschliche Besonderheit
glauben, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt?
… und natürlich darf das Ende der diesjährigen Rede von Navid Kermani nicht fehlen …
Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er zum GEBET aufrufen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um etwas Ungewöhnliches bitten –
obwohl es so ungewöhnlich in einer Kirche dann auch wieder nicht ist. Ich möchte
Sie bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo
und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten, den Kindern, die
Pater Jacques getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, den Alten, denen
er die Letzte Ölung versprochen hat. Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien
Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der
mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn GEBETE anderes als
Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder
ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der
Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so
bitte ich Sie, meine Damen und Herren, beten Sie für Jacques Mourad, beten Sie für
Paolo Dall'Oglio, BETEN Sie für die Christen von Qaryatein, beten Sie oder wünschen
Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern
können Sie sich dafür auch erheben, damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein
Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.
Die Zusammenstellung
Nachdem nun alle relevanten Absätze zu TERROR und GEBET gefunden wurden, beginnt
das Herzstück des Programms seine Arbeit. Denn bevor die Absätze geordnet werden können, wird der Nutzer mittels eines Fragenbogens zu seiner eigenen, einem Friedenspreisträger würdigen Haltung befragt. Hieraus ergeben sich die Logarithmen für die anschließende Anordnung der Absätze, die mit Einführungen wie „… wie mein Kollege Jürgen Habermas seinerzeit sagte, ist …“, „… ich möchte Jaron Lanier zitieren, der …“ oder „… halten
wir es doch wie Navid Kermani, indem wir …“ ergänzt werden.
Abschließend werden noch eine Begrüßungsformel und ein finaler Dank eingefügt und
fertig ist eine zehnminütige Friedenspreisrede, die der Nutzer nun vortragen kann. Er wird
dabei gefilmt und kann anschließend nicht nur den Film auf CD mit nach Hause nehmen,
sondern ist zudem in der Lage, in der Diskussion mit Freunden und Bekannten das ein oder
andere Zitat eines Friedenspreisträgers einzuwerfen – denn was man einmal in so einer
Situation vor laufender Kamera vorgetragen hat, das vergisst man so schnell nicht mehr.
Es ist rätselhaft, warum das Komitee diese Installation nicht mit nach Mailand genommen
hat. Aber vielleicht lag es ja daran, dass das Konzept vorgesehen hatte, die Friedenspreisreden in zahlreiche weitere Sprache übersetzen zu lassen, damit möglichst viele Nutzer aus
aller Welt in den Genuss dieser den Friedensgedanken verbreitenden Maschine hätten
kommen können. Es hätte wahrscheinlich das Budget gesprengt …
Frohe Festtage! Oder nach John Lennon: „So this is Christmas and what have you done?“
Die „Mitteilungen zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“
erscheinen mehrmals im Jahr. Weitere Meldungen und Termine sowie vieles
mehr finden Sie auch unter www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de.
Artikel, Terminhinweise und Anregungen sind herzlich willkommen! Mit einer Email
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