Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen

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Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen
HARTMUT STÖCKL
Textsortenentwicklung und Textverstehen als Metamorphosen –
Am Beispiel der Werbung
1 Grundüberlegungen und Ziele
Dieser Beitrag verfolgt eine vergleichsweise einfache Idee. Er prüft, ob sich der
historische Wandel einer Textsorte, konkret Werbung, gewinnbringend mit dem
Begriff der Metamorphose beschreiben lässt. Hier werde ich argumentieren,
dass Textsortenentwicklung eher einer langsamen und durch viele Faktoren deterministisch erklärbaren Evolution gleichkommt als einer auf wundersame und
singuläre Weise erfolgenden Verwandlung. Wohl aber kennt die Werbegeschichte metamorphotische Phasen, in denen sich die Architektur der Texte auf
vielen konstitutiven Ebenen rasant und unvorhersehbar verändert. Aus der Gegenüberstellung evolutionärer und metamorphischer Prozesse und dem Nachdenken über ihr Wechselspiel innerhalb der Textsortenentwicklung erhoffe ich
mir eine genauere Modellierung des Werbewandels.
In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass der tief greifende Wandel
der Textsorte Werbung in den letzten 150 Jahren zwingende Rückwirkungen auf
die Art des Verstehens von Werbetexten haben muss. Scheint für die Mitte des
19. Jahrhunderts ein Textverstehensmodell angemessen, das von einem einfachen zeichengeleiteten Dekodieren und einem Transport von Bedeutungen ausgeht, so verlangt der moderne Werbetext des beginnenden 21. Jahrhunderts nach
einer anderen Konzeptualisierung von Verstehen. Hier müssen die aktive Sinngenerierung anhand weniger Zeichen und vielfältige Transfer- und Umkodierungsprozesse in einem breiten und prinzipiell offenen kontextuellen Rahmen
zentral gesetzt werden. Wahrnehmung und Interpretation von Werbetexten
kommen heute also metamorphischen Prozessen gleich: ein minimales Zeichenangebot verwandelt sich auf wundersame und kaum vorhersehbare Weise in
komplexen und offenen Sinn. Ein wesentlicher Faktor – aber nicht der einzige –
bei der Veränderung unserer Perzeptions- und Kognitionsmechanismen im Umgang mit Werbung ist das Zurückdrängen der sprachlichen Textanteile zugunsten bildlicher und paraverbaler Zeichenmengen. Dies muss naturgemäß mit
einem veränderten relativen Status des Verbalen und neuen Funktionsteilungen
zwischen Sprache und Bild einhergehen. Die Frage, welche Rolle die mengenmäßig zurückgedrängte Sprache im modernen Werbekommunikat spielt, möchte
ich abschließend behandeln.
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2 Diachrone Werbeforschung – Methodologische Fragen
Die historische Beforschung der Textsorte Werbung wirft eine Reihe von Fragen
auf und bedarf einiger methodischer Entscheidungen. Zunächst zeigt die vorliegende Forschungsliteratur zumindest drei größere, zumeist unabhängig voneinander verlaufende Strömungen, die meines Erachtens zwingend zu integrieren
sind.
1. Sprachlich-stilistisch: Werbetexte werden zum einen verwendet, um den
Sprachwandel auf verschiedenen Ebenen zu illustrieren – hier spiegelt Werbung ein sich veränderndes Sprachsystem. Wichtiger allerdings ist es, den
sich wandelnden werblichen Funktionalstil zu dokumentieren, und zwar auf
möglichst vielen Textbeschreibungsebenen.1 Diese linguistische Arbeit wird
durch die überbordende Fülle der Texte und deren stilistische Vielfalt sowie
die Uneinheitlichkeit der Methodik erschwert.
2. Inhaltlich-kulturell: Werbung wird oft als Spiegel sozialer Zustände, Wertvorstellungen, kultureller Moden sowie populärer Themen und Gestaltungsmittel gesehen. Hier liegt ein gewisser Schwerpunkt der Literatur zum
Werbewandel,2 spiegelt diese Sicht doch auch ein populäreres, dem Laien zugänglicheres Interesse an Werbung als dies die Sprachwissenschaft verspricht. Die kultur- und soziographische Sichtweise auf Werbung entspricht
einerseits der Praxis der Werbeagenturen, die vorwiegend Motive, Ideen und
psychosoziale Anknüpfungspunkte für Kampagnen reflektieren, weniger gestalterische Mittel und kaum sprachliche Techniken.3 Andererseits liegt sie
auch dem inzwischen populär und künstlerisch salonfähig gewordenen Sammeln von Werbung zugrunde.4
3. Medial-technisch: Werbung erobert schnell alle gängigen Medien der jeweiligen Zeit und ihre Geschichte kann prinzipiell als mediale Diversifikation verstanden werden. Das bedeutet, dass sich zu dem übergreifenden Funktional1
2
3
4
Stellvertretend für diese Bemühungen stehen z.B.: Manfred Görlach, Text Types and the
History of English (Berlin: de Gruyter, 2004), S. 141-62; Sabine Gieszinger, The History
of Advertising Language: The Advertisements in The Times from 1788 to 1996 (Frankfurt
a. M.: Lang, 2001); Sylvia Bendel, Werbeanzeigen von 1622-1798: Entstehung und Entwicklung einer Textsorte (Tübingen: Niemeyer, 1998).
Siehe z.B.: Stephane Pincas und Marc Loiseau, Eine Geschichte der Werbung (Köln:
Taschen, 2008); Bryan Holme, Advertising: Reflections of a Century (London: Heinemann, 1982); T.R. Nevett, Advertising in Britain: A History (London: Heinemann, 1982)
und Julian Sivulka, Soap, Sex and Cigarettes: A Cultural History of American Advertising
(Belmont: Wadsworth, 1997).
Pincas und Loiseau, S. 17-23.
Jeremy Myerson und Graham Vickers, Rewind: Forty Years of Design and Advertising
(London: Phaidon, 2002).
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stil Werbung jeweils mediale Substile bzw. mediale Textmuster herausbilden
– diese erschweren die Erforschung des Wandels. Bietet eine Beschränkung
auf ein Medium (z.B. Zeitung5) diesbezüglich auch Vorteile, so scheint mir
dennoch eine medienintegrative Sichtweise auf Werbewandel zwingend, weil
"Phasen medialer Wechsel von besonderem Interesse für die historische
Textsortenlinguistik sind".6 Dies ist zweifach zu reklamieren: erstens liegt
der Wandel gerade in der Entwicklung spezieller textueller Techniken für bestimmte Medien; zweitens wirken heute verschiedene mediale Typen in
komplexen Kampagnen zusammen, so dass systematische Wechselwirkungen der Stile zu erwarten sind. Beide Phänomene sollten nicht ausgeblendet
werden.
In historiographischer Arbeit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der zu untersuchenden Periode. Darauf, dass Werbung ein Jahrtausende altes Phänomen
ist, verweist Buchli,7 jedoch setzen die meisten textbasierten Forschungsarbeiten
erst in vergleichsweise junger Zeit ein, weil der eigentliche Werbetext erst im
17. Jahrhundert aus seinem Vorläufer, der Visitenkarte (trade card) entsteht.8
Kritisch betrachtet jedoch scheint vor allem die Entstehung der ersten vollwertigen Werbeagenturen die wesentlichste Zäsur zu sein. Auch hier gehen die
Angaben auseinander: Nevett9 gibt 1786 an, wir erfahren dort aber auch, dass es
noch 1866 nur 6 Agenturen in London gab10 – d.h. die Etablierung schreitet
langsam voran und viele frühe Agenturen sind Verkäufer von Werbeflächen, jedoch keine Strategen, Texter und Designer.11 Pincas/Loiseau12 datieren den Beginn der professionellen Werbung auf 1842; in diesem Jahr wird in Amerika die
erste Vorläuferagentur der heute weltweit operierenden Publicis Gruppe gegründet, zu der solche namhaften Agenturnetzwerke wie DMB&B oder Saatchi &
Saatchi gehören. Es scheint also sicher, davon auszugehen, dass erst die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wirkliche Professionalisierung der Werbung
bringt. Damit beginnt sich Werbung als Massenphänomen durchzusetzen und
der Kampf um das knapper werdende Gut Aufmerksamkeit ist eröffnet. Profes5
6
7
8
9
10
11
12
Siehe Gieszinger.
Eva-Martha Eckkrammer, Medizin für den Laien vom Pesttraktat zum digitalen Ratgebertext: Ausgliederung, Pragmatik, Struktur-, Sprach- und Bildwandel fachexterner Textsorten unter Berücksichtigung des Medienwechsels (Salzburg: Habilschrift, 2005), S. 40.
Hanns Buchli, 6000 Jahre Werbung: Geschichte der Wirtschaftswerbung und der Propaganda (Bd. 1-3, Berlin: de Gruyter, 1962-66).
Görlach nimmt 1625 bzw. 1650 als Beginn an, Gieszinger arbeitet mit Material ab 1788
und Bendel setzt 1622 ein.
Nevett, S. 63.
Ibid., S. 101.
Zur Entwicklung moderner Werbeagenturen in England siehe auch Diana Hindley und
Geoffrey Hindley, Advertising in Victorian England: 1837-1901 (London: Wayland,
1972), S. 27-41.
Pincas und Loiseau, S. 17.
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sionelle, nach 1842 entstehende Werbung zeichnet sich im Vergleich zu ihren
Vorläufern u.a. durch die folgenden Merkmale aus: Die Textproduzenten sind
keine Laien, sondern auf die Konzeptionalisierung von Werbung spezialisiert.
Sie halten Kontakt zu den Herstellern und erheben von außen relevante Daten
zum Produkt und zu dessen Stellung am Markt, die eine strategische Sicht auf
das Texten ermöglichen. Beständig sind die Werber nun auf der Suche, ihre eigene Praxis zu erneuern und effektiver zu machen.
Neben der Zeit, die ich also in etwa auf 1842-2009 eingegrenzt habe, stellt
sich die Frage nach dem zu untersuchenden Material, die bei dem immensen
Output der Werbebranche brisant ist. Jede Auswahl – und sei sie auch noch so
systematisch – wird bestimmte Phänomene und Entwicklungstendenzen ausblenden, so dass man ein repräsentatives Korpus wohl kaum erwarten kann.
Meines Erachtens ist vor allem eine gewisse Breite und Ausgewogenheit der
beworbenen Produkte, Branchen und Marken sinnvoll, weil dann die Möglichkeit besteht, textstilistische Entwicklungen bei Konstanz der Produktkategorie
nachzuzeichnen. Anthologien und Jahrbücher bieten hier – bei aller Problematik
– gute Quellen, da sie zumeist eine zeitlich ausgewogene Auswahl verfügbar
machen, die zudem besonders markante und Geschichte machende Beispiele
hervorhebt. Außerdem erfahren wir viel Wissenswertes über die näheren Umstände der Textentstehung, die Motive der Produzenten sowie die größere soziokulturelle Situation der jeweiligen Zeit. Meine Beobachtungen stützen sich vor
allem auf Pincas/Loiseau,13 Myerson/Vickers,14 Berger15 und Wiedemann.16 Vor
allem für die frühe Phase (1840-1870 und davor), für die weniger Texte vorliegen, habe ich die Korpora in Gieszinger17 und Görlach18 herangezogen aber auch
Hindley/Hindley.19 Generell geht es mir in diesem Beitrag darum, wichtige Eckpunkte einer größeren Entwicklungslinie in der Werbung der letzten 160 Jahre
zu skizzieren und dabei das Verhältnis von Metamorphosen und Evolution zu
bedenken.
Für die textanalytische Methodik gilt sicherlich: Je mehr Ebenen und Aspekte
Berücksichtigung finden, umso detaillierter und tiefgründiger fallen die Ergebnisse aus. Da der Wandel der Textsorte so umfassend wie möglich beschrieben
werden soll, kommen überspezifische Untersuchungen nicht in Frage. Stattdessen sollen die Veränderungen an prototypischen Beispielen möglichst facettenreich und der Komplexität der Texte angemessen charakterisiert werden.
Görlach und Gieszinger haben ähnliche methodische Vorstellungen und schla13
14
15
16
17
18
19
Stephane Pincas und Marc Loiseau, Eine Geschichte der Werbung.
Jeremy Myerson und Graham Vickers, Rewind: Forty Years of Design and Advertising.
Warren Berger, Advertising Today (London: Phaidon, 2001).
Julius Wiedemann, Advertising Now: Print (Köln: Taschen, 2006).
Sabine Gieszinger, The History of Advertising Language: The Advertisements in The
Times from 1788 to 1996.
Manfred Görlach, Text Types and the History of English.
Diana Hindley und Geoffrey Hindley, Advertising in Victorian England: 1837-1901.
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gen als Beurteilungskriterien und Untersuchungsebenen die folgenden vor, die
ich ergänzt und modifiziert habe:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Layout, Textform, Textlänge, Typographie
Textgliederung, funktionale Teile, Makrostrukturen
Themen, Motive, Argumente, Werbestrategie/-technik
Lexik und Morphologie
Syntax, Kohäsion/Kohärenz
Stil, rhetorische Mittel (insbesondere Sprachspiele, Ambiguität)
Sprache-Bild-Bezüge
Kontext und Situation
Unschwer ist zu erkennen, dass man die verschiedenen Aspekte in größere Dimensionen ordnen könnte: etwa nach Semantik, Syntax und Pragmatik oder
nach Form, Inhalt, Funktion. Genauso gut könnte man situationale von semantisch-funktionalen und strukturellen Gesichtspunkten scheiden. Mir scheint eine
etwas feinere Unterscheidung jedoch sinnvoller. Ich schlage daher vor, die textanalytischen Beobachtungen nach den folgenden Punkten zu sortieren: äußere
Textform, thematische und Sprachhandlungsstruktur, sprachlich-stilistische Gestaltung, Situation/Kontext. In Anbetracht der extremen Wandelbarkeit der
Textsorte Werbung ist die gängige Annahme hervorzuheben, dass es "conventional ways of expressing meaning [...] purposeful, goal-directed language activities, which form patterns of meaning in the social world"20 tatsächlich gibt
und wir sie mit dem Terminus Texttyp, Textsorte oder Genre bezeichnen.21 Deren Wandel will ich so nachzeichnen, dass sowohl die Radikalität und Vehemenz der Umbrüche über einen größeren Evolutionszeitraum als auch die Kontinuitäten des Werbetextens ersichtlich werden.
3 Evolution
Es ist weit verbreitet, die Entwicklung der Textsorte Werbung in größere Phasen
zu unterteilen.22 Damit verbindet sich zum einen die Vorstellung, soziokulturelle
Faktoren seien Auslöser für spürbaren und signifikanten Wandel. Zum anderen
suggeriert diese Verfahrensweise eine gewisse Homogenität der einer Periode
20
21
22
Michael Stubbs, Text and Corpus Analysis: Computer-Assisted Studies of Language and
Culture (Oxford: Blackwell, 1996), S. 11.
Zu einer Theorie der Textsorte bzw. des Textgenres innerhalb der anglistischen Linguistik
siehe auch John M. Swales, Genre Analysis: English in Academic and Research Settings
(Cambridge: CUP, 1999), S. 38-76.
Die Periodisierungen bei Greg Myers, Words in Ads (London: Arnold, 1994), S. 12-29,
Görlach, S. 144-7 und Gieszinger, S. 19 fallen verschieden aus, da sie an unterschiedlichen soziokulturellen Faktoren und Zäsuren orientiert sind.
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zugehörigen Werbetexte. Beide Annahmen sind nicht ganz korrekt. Punktuelle
metamorphotische Wandel der Textsorte können zu jeder Zeit eintreten, so dass
es innerhalb einer fixierten Periode eine Vielzahl von markanten Veränderungen
geben kann. Neben äußeren Faktoren bleibt vor allem der kreative Drang und
professionelle Druck zu neuen Formen des Werbens eine beständige interne
Kraft des Wandels. Ich will daher hier auf unorthodoxe Weise anders verfahren,
um die große evolutionäre Veränderung des Werbens als Textmuster beschreiben zu können. Für zwei Produktkategorien (Pharmaka, Automobile) greife ich
jeweils ein Textexemplar der Anfangsphase professioneller Werbung (1880) und
eines der jüngeren Werbephase (2000-2005) heraus. Durch einen Vergleich dieser beiden Extrempunkte lässt sich die lange Entwicklungslinie des Genres auf
unterschiedlichen Beschreibungsebenen erfassen. Dieser Methodik liegt die Annahme zugrunde, dass es Textexemplare gibt, die stellvertretend für die zu einer
Zeit prototypische Art zu werben stehen können. Behauptet wird dadurch nicht,
dass zu dieser Zeit keine andere Art von Werbung möglich gewesen wäre, sondern lediglich, dass die gewählten Texte die wichtigsten Züge des Prototyps klar
exemplifizieren. Im Folgenden versuche ich, soweit zulässig und möglich, von
den beobachteten Texteigenschaften zu verallgemeinern. Meine Behauptungen
werde ich, soweit es geht, anhand der gewählten Texte illustrieren.
Abb. 1: Beecham's Pills, England 1880,
Hindley/Hindley 1972, Illustration 5.7.
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3.1 Äußere Textform
In einer längeren Etablierungsphase der Textsorte Werbung verfügen die Anzeigen zunächst über kein eigenes graphisches Design.23 Sie ähneln den kurzen
Nachrichtentexten und offiziellen Verlautbarungen, zwischen denen sie im Medium Zeitung untergebracht sind und entsprechen formlosen, typographisch
neutralen und ungegliederten Fließtexten. In dem Maße, wie sich die Werbung
dann als eigene Textsorte findet und konsolidiert, emanzipiert sie sich in Typographie und Layout von ihrer medialen Umgebung. Die Geschichte der Werbung ist spätestens seit dem beginnenden 19. Jahrhundert eine rasante Diversifizierung ihrer äußeren graphischen Form. Gieszinger bezeichnet die typographische Markierung der sich konventionalisierenden funktionalen Textteile (d.h.
headline, body copy, signature line, slogan, standing details) als "secondary text
type marking". In der Arzneimittelanzeige von 1880 (s. Abb. 1) kann man gut
sehen, dass die Textüberschrift ("Beecham's Pills"), die standing details – hier
Informationen zu Erhältlichkeit und Packungsgröße – ("sold by all medicine
vendors"; "in boxes 13½ & 2/9 each") wie auch die Bildunterschriften ("in the
palace", "in the cottage", "at sea", "in the study") durch von der body copy abweichende Schrifttypen, -schnitte und -größen hervorgehoben werden. Der
Fließtext selbst erscheint relativ ungegliedert und typographisch neutral. In ähnlicher Weise setzt die Automobilanzeige von 1903 (s. Abb. 2) die Überschrift
durch Kursivdruck und Kapitälchen im Markennamen vom Fließtext ab. Die
signature line ("Cadillac Automobile Co.") sowie die standing details ("We'll be
glad to send you Booklet H for the asking [...]") werden schrifttechnisch kaum
hervorgehoben, das Layout verhilft ihnen aber zu einer graphischen Blockbildung. Schaut man dagegen auf die korrespondierenden, modernen Werbetexte
(s. Abb. 3 und 4), so fällt zunächst die Bildlastigkeit der Anzeigen auf. Die wenigen sprachlichen Aussagen werden entweder sauber vom Bild geschieden oder
aber als Beschriftung in das Bild integriert. Im Vordergrund der Wahrnehmung
steht nicht der Text, sondern eine große Bildfläche mit wenigen strategisch gewählten und visuell gestalteten Elementen. Insgesamt scheint die große Entwicklungslinie bezogen auf die äußere Textform von einem Zustand relativer
graphischer Unordnung und überbordender Fülle zu einem Zustand relativer
Ordnung und einer Sparsamkeit der Zeichen zu führen. Freilich verläuft diese
Evolution über viele Zwischenschritte und kennt eine große Variationsbreite zu
jedem gegebenen Zeitpunkt. Verallgemeinern aber lässt sich, dass die typo- und
textgraphische Gestaltung den professionellen Werbetext als solchen überhaupt
erst entstehen lässt, ihm dann in der Folge ein erkennbares und mehr oder weniger normatives Gesicht verleiht, um dann für Vielfalt und Abwechslung in der
Wahrnehmung zu sorgen und sich in der Neuzeit – gefördert durch die enormen
23
Görlach, S. 145 spricht von "total absence of graphic designs which makes the texts indistinguishable from other text types […]".
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technischen Möglichkeiten – als eigenständige semiotische Zeichenressource zu
emanzipieren und vor allem durch das Spiel mit Formen, Materialien und Konventionen ihren Bedeutungsanteil am Gesamttext zu vergrößern.24
Abb. 2: Cadillac, N.W. Ayer & Son, USA 1903,
Pincas/Loiseau 2008, S. 42.
Maßgeblich für die äußere Form eines Werbetexts ist auch die Art der verwendeten Bilder. Hier fällt in der extremen Gegenüberstellung von 1880/1903
und 2005 auf, dass nicht nur der Anteil der Bilder an der Textfläche gestiegen
ist. Das moderne, digital manipulierte Foto mit seinem Hyperrealismus hat auch
eine größere kommunikative Gewalt als die Zeichnung in schwarz/weiß. Je flexibler das Bild in pragmasemantischer und formal-stilistischer Hinsicht wird,
desto eher kann es in Konkurrenz zur Sprache treten. Die Teilung der kommunikativen Aufgaben zwischen Bild und Sprache ist zudem aber auch eine Frage
der konkreten Kommunikationsziele der Werber, von Moden, intendierter Vari24
Zu einer Theoretisierung der Typographie als Zeichenressource und ihrer Anwendung in
der Werbung siehe Hartmut Stöckl, "Werbetypographie: Formen und Funktionen", in Sylvia Bendel und Gudrun Held (Hg.), Werbung – grenzenlos: Interkultureller Blick auf multimodale Gestaltungsstrategien aktueller Werbetexte (Frankfurt a. M.: Lang, 2008), S. 1336.
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ation und inszenierten Normbrüchen. Für die Evolution der äußeren Textform
scheint mir die Annahme zumindest der folgenden großen Phasen plausibel:
1. Werbeanzeigen bestehen nur aus sprachlichem Text, der typographisch gar
nicht oder nur minimal markiert ist.
2. Zur Sprache treten Bilder hinzu – der sprachliche Text gewinnt graphische
Konturen dadurch, dass Textblöcke (funktionale Teile) durch Schriftstil und
Layout markiert werden. Der semantisch-pragmatische Bezug zwischen
Sprache und Bild ist meist redundant, nicht vordergründig und leicht zu erschließen. Der Gebrauch der Bilder ist symbolisch oder von der Präsentation/Demonstration des Produkts motiviert.
3. Die Werbung experimentiert mit den Layoutmöglichkeiten und etabliert verschiedene graphische Muster des Textsatzes und der formalen Integration der
Bilder ins Gesamtformat.
4. Bildmotive diversifizieren sich, scheinbar themenfremde Bilder erlangen Popularität, die Bezugsmöglichkeiten zwischen Sprache und Bild werden raffinierter und vordergründiger.
5. Der Anteil der Sprache geht zurück. Die Bilder drängen die Textblöcke an
den Rand oder integrieren sie in Form von natürlich wirkenden Schriftzügen
auf Bildelementen. Ein Zeichenminimalismus erfasst sowohl den sprachlichen Text als auch das Bild im Sinne einer Fokussierung auf wenige, zentrale
Aussagen. Dabei stehen Sprache und Bild immer mehr in einer komplementären Beziehung zueinander, sie bedürfen einander mit Blick auf die entstehende Gesamtbedeutung – sie folgen einer "transkriptiven Logik",25 d.h.
erklären und kommentieren sich wechselseitig, und funktionieren nach dem
Prinzip eines "Wort-Bild-Reißverschlusses".26
3.2 Thematische und Sprachhandlungs-Struktur
Werbetexte sind mit Blick auf die in ihnen verhandelten Themen und getätigten
Sprachhandlungen ein stark normatives Genre. Nachdem in der Anfangsphase
der Werbung vor allem die ausführliche Beschreibung des beworbenen Produkts
25
26
Werner Holly, "Mit Worten sehen: Audiovisuelle Bedeutungskonstitution und Muster
'transkriptiver Logik' in der Fernsehberichterstattung", Deutsche Sprache 1:2 (2006), S.
135-50.
Werner Holly, "Der Wort-Bild-Reißverschluss: Über die performative Dynamik audiovisueller Transkriptivität", in Helmuth Feilke und Angelika Linke (Hg.), Oberfläche und
Performanz (Tübingen: Niemeyer, 2009), S. 389-406.
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im Vordergrund steht, entwickeln sich mit der Konsolidierung der Textsorte die
folgenden prototypischen Themen und Sprachhandlungsfunktionen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Produkt nennen und (visuell) präsentieren
Produkteigenschaften beschreiben und Funktionsweise erklären
Produkt positiv bewerten
Produkt empfehlen und Zufriedenheit versprechen/garantieren
zum Kauf/Test des Produkts auffordern
über Produktdetails/Erhältlichkeit/Kontaktmöglichkeiten informieren
Geht es im Zuge der Professionalisierung des Werbens zunächst um den expliziten Vollzug all dieser Teilschritte, so streben die Werber später danach, die
verschiedenen Sprachhandlungen möglichst variantenreich zu realisieren. Dabei
kommt es immer mehr zu sprachlicher Indirektheit und zur Konzentration auf
einige Themen/Sprachhandlungen unter Auslassung anderer. Die Geschichte der
Werbung ist also unter dem Gesichtspunkt der thematischen und Sprachhandlungsstruktur ein Wandel vom Expliziten zum Impliziten und eine Entwicklung
hin zur Reduktion der Themen und Handlungen. Es scheint plausibel anzunehmen, dass der massenhafte Kontakt der Rezipienten mit dem Genre rasch zu einer Internalisierung des festen Musters führt. Dies entlastet die Textproduzenten
von der Notwendigkeit, jede einzelne Teilhandlung ausführen zu müssen. In zunehmendem Maße können sie darauf vertrauen, dass auch vergleichsweise minimalistische Zeichenangebote im Sinne des als Genrewissen verinnerlichten
Textmusters gelesen werden. Dieser Wandel lässt sich wiederum gut an den gewählten Textbeispielen illustrieren.
Die Arzneimittelanzeige von 1880 (s. Abb. 1) verwendet in traditioneller
Manier den größten Teil der Anzeige darauf, die Zweckbestimmung und den
Nutzen des Produkts in explizitester Art und Weise darzustellen ("[...] for
Nervous and Billous Disorders, such as wind and pain in the stomach, sick headache, giddiness, fulness and swelling after meals, dizziness and drowsiness [...]";
"for females of all ages [...]"; "[…] for removing any obstruction or irregularity
of the system"; "for a weak stomach, impaired digestion, and all disorders of the
liver [...]"). Hier mischt sich das nüchterne Beschreiben mit dem Versprechen
("[...] carry off all humours, and bring about all that is required"; "[...] strengthen
the whole muscular system, restore the long-lost complexion, bring back the
keen edge of appetite, [...] arouse [...] the whole physical energy of the human
frame"). Das Produkt wird positiv bewertet, indem auf seinen bisherigen Erfolg
verwiesen ("are admitted by thousands to be worth a Guinea a Box [...]"; "[...]
will be acknowledged to be WORTH A GUINEA A BOX"), die breite Wirksamkeit behauptet ("This is no fiction, for they have done it in thousands of
cases"; "These are 'FACTS' admitted by thousands, embracing all classes of society [...]") und der große Absatz des Produkts in hyperbolischer Weise angeführt wird ("[...] one of the best guarantees to the nervous and debilitated is that
BEECHAM'S PILLS have the largest sale of any patent medicine in the world").
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Ebenso findet sich die Aufforderung zum Kauf/Test; einmal in direkter und expliziter Weise ("Every sufferer is earnestly invited to try one box of these pills
[...]"), ein anderes Mal indirekt über nachdrückliches Empfehlen bzw. Warnen
("No female should be without them"). Komplettiert wird die Struktur durch das
Informieren über Erhältlichkeit ("prepared only, and sold wholesale and retail by
the proprietor [...]"; "sent post-free from [...]"; "sold by all druggists [...]") und
Verweise auf weiterführende Texte ("N.B. – Full directions are given with each
box").
Abb. 3: Pfizer Viagra, TAXI Canada, Kanada 2005, Wiedemann 2006, S. 191.
Vergleichen wir diese Anzeige mit dem modernen Pendant aus 2005 (s. Abb. 3),
so fallen zunächst der Slogan ("Talk to your doctor") und der Produktname (Viagra) als explizite sprachliche Handlungen des Aufforderns und des Nennens
/Präsentierens auf. Das Produkt selbst wird nicht näher beschrieben oder explizit
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bewertet. Aus den Bildzeichen (Hemd in Plastikhülle, angehefteter Reinigungsauftrag) und dem minimalen sprachlichen Text ("sunny dry cleaning",
"Wayne", "remove grass stains") lässt sich aber – wohl gemerkt nur bei Kenntnis des Medikaments und seiner vermeintlichen Wirkung – ein narratives Szenario konstruieren, auf dessen Hintergrund eine positive Produktbewertung möglich wird. Eine ähnliche Entwicklung – vom expliziten und vollständigen
Vollzug aller Teilhandlungen und -themen hin zu einer minimalistischen und
impliziten Umsetzung einer oder weniger – verdeutlichen auch die beiden Automobilanzeigen. Die Cadillac-Werbung (s. Abb. 2) nennt und präsentiert das
Produkt ("Cadillac Model B Touring Car"), beschreibt es ("for business or
pleasure, for quick and pleasant transit [...]"; "[...] strongly constructed, [...]
speedy [...]"; "[...] safely, smoothly and comfortably [...]"; "[...] larger wheels,
longer wheel-base, more roomy body"; "[...] Goodrich 3-inch detachable tires"),
bewertet es positiv ("No reliable automobile is so easy to buy, to operate, or to
maintain, as a Cadillac"; "No automobile at double the money is so [...]"; "[...]
superiority in design, construction and performance [...]") und fordert indirekt
zum Test/Kauf auf ("Full appreciation of Cadillac [...] is possible only by personal inspection and trial"). Hinzu kommen noch Informationen zu Preisen sowie ein Verweis auf eine Broschüre, die wohl ein Vorläufer des modernen Produktkatalogs ist. Hält man wiederum die moderne Anzeige aus 2004 (s. Abb. 4)
dagegen, so sieht man, dass sich der Text hier auf eine Teilhandlung beschränkt;
er beschreibt das Produkt äußerst knapp ("small but tough") und setzt das narrative Bild als visuellen Beweis ein.
Abb. 4: Volkswagen Polo, DDB London, UK 2005,
Wiedemann 2006, S. 583.
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Zusammenfassend lassen sich mit Blick auf die Evolution der Textstruktur zumindest vier wichtige Entwicklungstrends verallgemeinern.
1. Zahl und Explizitheit der getätigten Sprachhandlungen und abgehandelten
Textthemen nehmen ab. Mit einem Minimum an Zeichen wird eine kompakte und fokussierte Werbebotschaft konstruiert, die der Rezipient selbsttätig
und mit einem gewissen Maß an semiotischer Eigentätigkeit erschließen
muss.
2. Die Entwicklung verläuft von einem Zustand der Informationshäufung und
einer präzisen Beschreibung und Erläuterung des Produkts hin zu einer Informationsverknappung. Wurden früher mehrere Aussagen logisch miteinander zu einer komplexeren Argumentation verknüpft, so steht heute eine
zentrale Aussage, die in entscheidendem Maße bildlich getragen wird und
maximal prägnant wie persuasiv sein muss.
3. Die Evolutionslinie verläuft von vorwiegend beschreibenden, explikativen
und bewertenden Textstrukturen hin zu solchen, die auf einen einfachen
Merkmalstransfer aus einem werbefremden Bereich auf das beworbene Produkt27 hinauslaufen und zudem eher narrativ konstituiert sind.
4. Die Einstellung der Textproduzenten zur sprachlichen Handlung des Werbens wandelt sich von ernst, objektiv/nüchtern oder auch hyperbolisch anpreisend hin zu distanziert, ironisch-relativierend und semiotisch-spielerisch.
Der soziokulturelle Kontext der Werbung, d.h. das InformationsüberflussDilemma und der daraus folgende Mangel an Aufmerksamkeit sowie
schwindende Produktdifferenzierung und steigende Werbeablehnung gebieten eine Stilisierung der Werbekommunikation zum ästhetisierten Erlebnis.
3.3 Sprachlich-stilistische Gestaltung
An dem Beispiel der Cadillac-Anzeige lässt sich ablesen, dass der werbliche Stil
– abgesehen von jeweils modebedingten Schlüsselwörtern – pauschal betrachtet
vermutlich recht konstant geblieben sein dürfte. Wir kennen auch moderne Automobilanzeigen, die Produkteigenschaften beschreiben und erläutern und dabei
zu allerlei rhetorischen Figuren greifen, wie z.B. Parallelismus oder Vergleich.
Auch ist in Rechnung zu stellen, dass in Abhängigkeit von der Art des Produkts,
27
Guy Cook, The Discourse of Advertising (London: Routledge, 2001), S. 108ff. nennt eine
solche Merkmalsübertragung, die Winfried Nöth, Dynamik semiotischer Systeme: Vom
altenglischen Zauberspruch zum illustrierten Werbetext (Stuttgart: Metzler, 1977) detailliert semiotisch untersucht hat, "fusion".
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dem sozialen Status der jeweils adressierten Zielgruppe und dem Image der
Firma/Marke unterschiedliche Stile und Formulierungstechniken zum Einsatz
kommen. Eine starke stilistische Flexibilität des werblichen Textens ist ohnehin
zu konstatieren, ist doch das gezielte Abweichen von einer als Norm etablierten
Konvention, der bewusste Bruch mit Mustern und die neuartige Kombination
von bekannten Mitteln und Methoden das gestalterische Grundprinzip der Werbung. Diese Flexibilität hat meines Erachtens zugenommen, wenn man bedenkt,
dass die frühe Werbung recht stereotyp formuliert ist und sogar bestimmte standardisierte Routinen und Floskeln entwickelt hatte. Bei aller grundlegenden
Konstanz des Funktionalstils Werbung gibt es entlang der hier verfolgten großen
Evolutionslinie jedoch auch markante Wandelprozesse, die ich im Folgenden
kurz skizzieren möchte.
Auf der Hand liegt, dass die Wortgewaltigkeit und persuasive Argumentationsfreude der frühen Jahre einer kalkulierten Zeichenökonomie gewichen ist.
Das schließt nicht die ein oder andere lange und sprachmächtige Anzeige in der
Gegenwart aus, abnehmende Satzlängen und Textmengen sind aber ein unumstößlicher Fakt. Damit einher gehen größere Bildmengen und -formate, eine
Flexibilisierung der logisch-semantischen Bezüge zwischen Sprache und Bild
sowie generell veränderte Wahrnehmungsgewohnheiten.
Obwohl es technisierende Werbetexte insbesondere für bestimmte Produktkategorien nach wie vor gibt, scheint man sich von Wissenschaftlichkeit und
Technizität nicht mehr den Autoritätsgewinn zu versprechen, den man einmal
erzielte. Vielmehr setzt man auch bei technischen Produkten eher auf Allgemeinverständlichkeit, einfache Argumente und eine Popularisierung der Marke
mit ihren schwer objektivierbaren Werten. Viele der modernen Produktbehauptungen (claims) wirken geradezu banal und platt: Viagra wirkt und Autos sind
sowohl gelände- als auch straßentauglich, stabil, beseelt/lebendig, leidenschaftlich, schnell und schön – ohne dass große argumentative Anstrengungen unternommen werden. Es ist die Ästhetik des kommunikativen Erlebnisses, das
Textdesign und dessen paraverbale Qualitäten, welche die Einfachheit der Ideen
zuerst legitimieren und dann sublimieren. Im Vergleich dazu waren die Anzeigen der Anfänge um elaborierte Argumentationen bemüht und suchten Autorität
in der Anhäufung explizit beschriebener Produkteigenschaften.
Bemerkenswert an den ersten Werbetexten war ihre starke Kohäsivität, die
einzelnen sprachlichen Äußerungen wurden formal miteinander verbunden und
bezogen sich explizit aufeinander. Heutige Werbetexte sind hingegen durchweg
relativ schwach kohäsiv, auch wenn es sich um long copy handelt. Bei einer
starken logischen Sinnkontinuität der Texte empfindet man kohäsive Mittel
wohl als semantisch überdeterminiert und zeichenökonomisch wenig sinnvoll.
Syntaktisch betrachtet wandelt sich die Werbung von einer stark diskursiven,
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
159
expliziten Syntax hin zu einer disjunktiven Grammatik.28 Das bedeutet, viele
Satzstrukturen sind unvollständig und elliptische Satzfragmente werden unverbunden aneinandergefügt. Von dieser gängigen Technik erhofft man sich eine
perzeptionsfördernde und aufmerksamkeitserhöhende Wirkung, da die Information in kleine separate Blöcke gegliedert wird, die gut wahrgenommen und behalten werden. Außerdem müssen logische Bezüge zwischen den einzelnen
Phrasen vom Rezipienten selbst hergestellt werden, was seine Eigentätigkeit erhöht.
Historisch betrachtet sinkt auch der Grad der Förmlichkeit des Werbens. Sind
die frühen Werbetexte noch rein schriftsprachlich, so mutet die prototypische
moderne Werbung eher umgangssprachlich, gesprochen stilisiert an. Lombardo29
argumentiert, dass es vielfältige Parallelen zwischen gesprochener Sprache und
Werbesprache gibt, weil sich die Werber von einer "imitation of orality"30 zahlreiche Vorteile versprechen, so z.B. größere Authentizität, Unmittelbarkeit und
Glaubwürdigkeit. Die wichtigsten Indikatoren gesprochener Umgangssprache
sind: unvollständige Sätze, Mangel an Konjunktionen, Annahme geteilter Wissensbestände und daher Zeichenökonomie, Intimität der face-to-face-Kommunikation durch direkte Anrede (we, you, I), Wiederholung von Lexik und
Satzstruktur, stärkere Abhängigkeit der Botschaft von außersprachlichem Kontext, Nutzung paraverbaler Mittel (Typographie, Layout).
Abschließend lässt sich ein weiterer allgemeiner Trend des Wandels ausmachen, den man mit Simpson31 als eine Zunahme des tickle advertising und eine Abnahme des reason advertising fassen könnte. Während reason ads ihre
Botschaft offen, direkt und explizit auf der Basis logischer Zusammenhänge und
Argumente formulieren, setzen tickle ads auf indirekte Aussagen, implizite Botschaften und appellieren an Emotion, Vorstellungskraft und geheime Bedürfnisse und Wünsche. Ersterer Werbetyp bedarf geringerer Dekodierungsanstrengungen und semiotischer Eigenleistungen als letzterer. Freilich ist die
Wahl des Typs in gewisser Weise von der Produktkategorie abhängig und beide
Strategien lassen sich auch kombinieren – ein verstärkter Einsatz indirekter und
impliziter Botschaften scheint aber aus zumindest zwei Gründen evolutionstheoretisch sinnvoll. Erstens garantiert die widerständige, nicht auf den ersten
Blick nach einer automatisierten Routine dekodierbare Werbebotschaft Aufmerksamkeit, verlängert die Betrachtungszeit und vertieft die kognitive Auseinandersetzung mit dem Kommunikat. Zweitens sind in einer Zeit austausch- und
28
29
30
31
Hartmut Stöckl, Werbung in Wort und Bild: Textstil und Semiotik englischsprachiger Anzeigenwerbung (Frankfurt a. M.: Lang, 1997), S. 185-94.
Linda Lombardo, "Advertising as Motivated Discourse", in Linda Lombardo et al. (Hg.),
Massed Medias: Linguistic Tools for Interpreting Media Discourse (Mailand: LED,
1999), S. 105ff..
Ibid., S. 88.
Paul Simpson, "'Reason' and 'Tickle' as Pragmatic Constructs in the Discourse of Advertising", Journal of Pragmatics 33 (2001), S. 589-607.
160
HARTMUT STÖCKL
verwechselbarer Produktbehauptungen explizite Botschaften unprägnant und
wenig spektakulär. Hingegen lenken verrätselte Aussagen, zusätzliches Wissen
aktivierende und Inferenzen provozierende Äußerungen den Blick auf die Ästhetik und das Design des Werbekommunikats und verbessern somit die Chancen der Akzeptanz und des Behaltens.
3.4 Situation/Kontext
Im Folgenden soll kurz besprochen werden, wie sich die textexternen Faktoren
und Rahmenbedingungen der Werbung gewandelt haben. Dabei sind es vor allem die Medien, der Markt und Textproduzenten wie -rezipienten, die Veränderungen in der sozialen Praxis des Werbens herbeiführen.
Erwähnt wurde bereits, dass sich das werbliche Texten mit der Etablierung
von Agenturen kontinuierlich professionalisiert hat. Zum einen bedeutet dies eine zunehmend strategische Planung und Gestaltung der Kommunikation, die
bald auch der systematischen Reflexion von Kommunikationswirkungen Beachtung schenkt. Zum anderen setzt eine Arbeitsteilung ein (Text, Art, Kontakt),
die spezielle Fertigkeiten fördert aber auch die agenturinterne Kommunikation
intensiviert und durch vermehrte Kooperation zu effektiven und kreativen Lösungen führt. Für die Autorschaft des Werbetexts kann man also eine Entwicklungslinie von laienhaft/singulär zu professionell/multipel annehmen.
War die Anzeigen-Werbung anfangs an den Zeitungsleser adressiert und damit auf relativ kleine Zielgruppen eingegrenzt, so entstehen durch die Expansion
und Differenzierung der Medien größere Zielgruppen. Mit der Diversifizierung
der Medienangebote und der Hybridität sozialer Gruppen und Lebensstile fragmentarisieren diese allerdings spätestens seit den 80er Jahren immer stärker. In
ihrer Allgegenwärtigkeit und Masse bedroht sich die Werbung selbst, da sie
durch ein übergroßes Informationsangebot beständig die Aufmerksamkeit verknappt, um die sie kämpft. Der große Output der Werbebranche liegt wiederum
im ständigen Wachstum des Marktes begründet: von einer Situation, in der sich
Markenprodukte überhaupt erst etablieren, führt die Entwicklung hin zu einer
wahren Inflation der Produkte und Marken. Für die Rezipienten dürfte sich der
Status der Werbung ebenfalls verändert haben: Auch wenn Werbekritik schon
früh einsetzt,32 ist sie in ihrer artikulierten und grundsätzlichen Art doch eher ein
Phänomen der 60er bis 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Heute sieht man verstärkt auch das unterhaltende, popkulturelle, ja sogar künstlerische Element der
32
Görlach, S. 148f. nennt Addison (1710), Defoe (1722) und Johnson (1759) als frühe Werbekritiker und zeigt, dass vor allem das Hyperbolische und Aufmerksamkeitsheischende
aber auch die schiere Masse der Texte und ihre Vermischung mit journalistischen Inhalten
Anlass zu Bedenken gaben.
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
161
Werbung, das sich im Sammeln, Ausstellen und Prämieren von Werbekommunikaten äußert.
Den weitaus stärksten Wandel erfährt die Werbekommunikation durch den
Drang, neue technische Medien und öffentliche Orte zu erschließen, durch die
und an denen man werben kann. Die Werber erweisen sich dabei von Beginn an
als medientechnische Avantgarde. Schnell erkennen sie die Spezifika und Möglichkeiten neu verfügbarer Medien und finden adäquate Ausdrucksformen und
Gestaltungstechniken, an denen sich andere, öffentlichkeitswirksame Genres
gerne orientieren. Sieht man von den rein mündlichen Kommunikationsformen
des Werbens einmal ab (z.B. Marktschreier, fliegende Händler), so verläuft die
Entwicklungslinie hier vom schriftbasierten Printtext (Anzeigen, Plakate, Außenwerbung) über den Audiotext (Radio)33 hin zum audiovisuellen Text (Fernsehen/Kino)34 und findet ihren vorläufigen Abschluss in den vermeintlich interaktiven Werbeformen der Neuen Medien.35 Werbewandel ist also bezogen auf
die Medien und Orte des Werbens ein Prozess der Diversifikation – von monomedial zu multimedial. Damit einher geht die Potenzierung der verfügbaren Zeichensysteme, von Sprache solo hin zu Kombinationen mit Bild und Ton
(Musik/Geräusch).
Ein letztes wesentliches Wandelphänomen hängt sowohl mit der Professionalisierung des Werbens als auch mit der Diversifizierung der Medien zusammen. Werbeanzeigen und Plakate waren in der Etablierungsphase der Werbung
in der Regel isolierte Einzeltexte, die über einen längeren Zeitraum verwendet
wurden. Heute planen Marken für ihre Produkte langfristig angelegte Kampagnen, in denen mehrere Texte in einem Medium eine Serie bilden, innerhalb derer
sich Sinn auch über die Grenzen der Einzeltexte entfaltet. Zudem sind die Kampagnen crossmedial angelegt, d.h. zeitgleich oder in bestimmten Sequenzen erscheinen Texte in verschiedenen Medientypen. So bedienen Marken heute in der
Regel simultan den Print-, Radio-, TV-, Kino-, Plakat- und Onlinewerbebereich
und erzielen damit neben besseren Durchdringungswerten und nachhaltigeren
Kommunikationseffekten vor allem auch bewusst kalkulierte intertextuelle Be33
34
35
Zu einer grundlegenden Beschreibung der Radiowerbung als multimodaler Text siehe
Hartmut Stöckl, "Hörfunkwerbung – 'Kino für das Ohr': Medienspezifika, Kodeverknüpfungen und Textmuster einer vernachlässigten Werbeform", in Kersten Sven Roth und
Jürgen Spitzmüller (Hg.), Textdesign und Textwirkung in der massenmedialen Kommunikation (Konstanz: UVK, 2007), S. 177-202.
Zu einer Gegenüberstellung und Analyse von TV- und Radiowerbung siehe Hartmut
Stöckl, "Werbekommunikation: Linguistische Analyse und Textoptimierung", in Karlfried
Knapp et al. (Hg.), Angewandte Linguistik: Ein Lehrbuch (Tübingen: Francke, 2004), S.
233-54, S. 249ff..
Siehe hierzu Nina Janich, "Wirtschaftswerbung offline und online: Eine Bestandsaufnahme", in Caja Thimm (Hg.), Unternehmenskommunikation offline/online: Wandelprozesse
interner und externer Unternehmenskommunikation (Bonner Beiträge zur Medienwissenschaft 1, Frankfurt a. M.: Lang, 2002), S. 136-63.
162
HARTMUT STÖCKL
züge, die ein markeneigenes 'Sinnuniversum' schaffen und zu Indirektheit,
Implizitheit sowie Zeichenökonomie beitragen.
4 Metamorphosen
Eingangs hatte ich behauptet, dass die oben unter Abschnitt 3 erläuterten Entwicklungen der Textsorte Werbung nicht als Metamorphosen zu fassen sind,
sondern eher als evolutionärer Wandel. Es stellt sich daher die Frage, wie man
den Begriff der Metamorphose dazu in Beziehung setzt und was er bezeichnen
kann. Ich möchte Metamorphosen hier als markante, d.h. leicht wahrnehmbare
und mehr oder weniger radikale Gestaltveränderungen begreifen, die auf allen
Ebenen des Werbetexts punktuell vonstattengehen können. Die wahrgenommene Form des Textes ändert sich bei einer Konstanz des beim Rezipienten internalisierten Textmusters und der zugrunde liegenden Logik spürbar. Werbewandel kann somit als eine Abfolge einer Vielzahl von Metamorphosen
betrachtet werden, die die Evolution der Textsorte in unterschiedlichem Maße
prägen – einige beeinflussen das Genre und die Werbepraxis nachhaltiger als
andere. Markante Metamorphosen werblicher Gestaltung wären z.B.: der Einsatz von Bildern, die Adaptation werbefremder Texte (Gedichte, Lieder, Comic,
Gebrauchsanweisung), der Gebrauch des Reims, die Stilisierung der Kommunikate als Kunstwerke, die Verwendung von symbolischen Werbefiguren, die
Etablierung von Markenlogos, der Gebrauch ungegenständlicher, abstrakter
Bildmotive, die Gestaltung bildlicher und die Materialität des Textes betonender
Typographie, die absichtliche Vermischung von werblichem und journalistischem Inhalt (Entgrenzung der Werbung, Infomercial, Advertorial), der Einsatz
provokanter und tabuisierter Bildmotive, das Vorkommen von no-copy ads und
das Entstehen narrativer Werbetexte.
Es liegt auf der Hand, dass die einzelnen Metamorphosen schwer genau aufzuzeichnen sind, laufen sie doch letztlich auf die Frage hinaus, wer welchen
kühnen, hervorstechenden Gestaltungsschritt wann zum ersten Mal getan hat.
Hinzu kommt dann, dass es eine kritische Masse von ähnlich gestalteten Texten
geben muss, die der Metamorphose zu Prototypizität und Musterhaftigkeit verhelfen und so in der Wahrnehmung der Kommunikationsgemeinschaft verankern. Das Grundprinzip der Entstehung werblicher Metamorphosen ist der
Wunsch, aufzufallen, indem man ein zu einer bestimmten Zeit etabliertes und
als Norm wahrgenommenes Muster bricht, abwandelt oder mischt.36 Gaede37
präsentiert eine beeindruckende Sammlung von Werbekommunikaten, die er
36
37
In der Stilistik bezeichnet man dies als Unikalisierung der Texte, vgl. Barbara Sandig, Stilistik der deutschen Sprache (Berlin: de Gruyter, 1986), S. 147ff..
Werner Gaede, Abweichen... von der Norm: Enzyklopädie kreativer Werbung (München:
LangenMüllerHerbig, 2002).
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
163
nach den jeweils korrumpierten Normen (bildlich, sprachlich, typographisch,
ethisch, sozial etc.) und den neu entstehenden Mustern ordnet. Zu Beginn der
Professionalisierung der Werbung scheint die Suche nach effektiveren, für wiederkehrende Aufträge optimal geeigneten Text- und Gestaltungslösungen ein
plausibles Motiv für Metamorphosen. Die Werber erweitern ihr Repertoire, indem sie Mittel finden, die der angestrebten Persuasion dienlich sind. Die Metamorphosen sind also im Grunde davon getrieben, Aufmerksamkeit, Verständlichkeit, Akzeptanz, Behalten, Vorstellungskraft, Ablenkung/Verschleierung
und ästhetische Attraktivität zu sichern und zu optimieren.38 Meine Beobachtungen an verschiedenen Werbeanthologien39 legen die Vermutung nahe, dass viele
wichtige Metamorphosen schon früh, d.h. in den ersten 60 Jahren der sich professionalisierenden Agenturen erfolgen. Viele davon bleiben 'Eintagsfliegen' –
erst später werden sie als Trend oder Muster etabliert.
Neben den im System des Werbens und der Motivation der Werber verankerten generelleren Gründen für Metamorphosen gibt es meines Erachtens auch
spezifische Faktoren, die Metamorphosen begünstigen bzw. auslösen. Diese
eignen sich zu einer groben Typisierung von Metamorphosen und sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.
1. Neue Medien/Techniken: Starke metamorphische Veränderung erfährt der
Werbetext durch die Nutzbarmachung neuer Massenmedien und Medientechniken. Der Radiospot und der TV-Spot sind so entstanden und wirken auf
ältere Werbeformen zurück. So z.B. führt Radiowerbung zwangsläufig zu inszenierten Dialogen, diese finden sich dann auch bald in der Werbeanzeige.
TV-Spots entwickeln eine Reihe von Formaten; vor allem das narrative Muster ist prominent und wird dann auch in der Anzeigenwerbung adaptiert. Die
digitale Fotografie ist eine mediale Technik, die die Möglichkeiten des bildlichen Darstellens und der Kombination und Erschaffung von Welten potenziert hat – dies erzeugt eine spürbare Metamorphose der Kommunikate.
Evolutionär betrachtet ist Werbung multisensorisch, multikodal und multimedial geworden.
2. Neue Produkte: Die Werbegeschichte zeigt, dass neuartige Produktkategorien
wie z.B. Computer, Spielkonsolen oder auch social advertising und veränderte soziale Positionierungen von Produkten am Markt ein großes metamorphisches Potential besitzen. Die Werber streben offenbar danach, einem
neuen Produkt auch eine jeweils eigene gestalterische Identität zu verleihen,
so dass zu den spezifischen Inhalten eine entsprechend adäquate Form tritt,
die sich vom bisher Praktizierten deutlich abheben soll. Als sich z.B. das
38
39
Zu einem Modell des persuasiven Prozesses und den persuasiven Funktionen siehe Stöckl
1997, S. 67-77.
Insbesondere Pincas und Loiseau.
164
HARTMUT STÖCKL
Werben für gemeinnützige Organisationen und soziale Anliegen etabliert,
findet sich dafür ein eigener provokanter Stil, der den bewusst kalkulierten
Schock, eine Enttabuisierung und die Verwendung negativ konnotierter Inhalte betreibt.40
3. Einschneidende soziale Ereignisse: In einer inhaltlich-kulturellen Bespiegelung der Werbung wird betont, dass vor allem Kriege, Markteinbrüche,
Firmenkrisen oder -pannen und große soziale Verwerfungen zu radikalen
Veränderungen der Werbepraxis führen können. Solche Auslöser von Metamorphosen bewirken zunächst inhaltliche Akzentsetzungen, vermögen aber
auch der gesamten Gestaltung eine neue Form zu geben. Neben den bekannten Kriegs- und Nachkriegswerbungen, die einen spezifischen Stil pflegen,
lässt sich hier die relativ junge Tendenz anführen, zu aktuellen kulturellen
und sozialen Ereignissen spezielle Werbungen zu schalten. Diese kurzzeitigen Werbemaßnahmen versuchen gezielt, die Bekanntheit des jeweiligen Ereignisses und des öffentlichen Diskurses darüber auszunutzen und entsprechend positive Konnotationen auf das Produkt zu übertragen.
4. Kunstrichtungen: Kaum ein Faktor wirkt so metamorphisch wie das Bestreben der Werbung, ihre Texte an Kunststile und -techniken anzulehnen. Der
Wandel der verschiedenen modernen Kunstströmungen (z.B. Jugendstil, Kubismus, Bauhaus, Expressionismus, Pop Art etc.) lässt sich daher an der
Werbung sehr gut nachvollziehen. Einerseits arbeiten viele Künstler zeitweise direkt für die Werbung, andererseits entlehnt man einfach zitatartig
wichtige Gestaltungsmittel, die für die Erkennbarkeit des jeweiligen Stils
sorgen sollen und dem Kommunikat damit Prestige verleihen.
5. Ökonomisierungszwang: Ähnlich wie der gezielte Musterbruch oder die
Mustermischung ist auch die Verknappung der Botschaften und die strategische Ökonomie der Zeichen ein der Werbung eingeschriebenes Prinzip. Hier
zeigt sich ein gewisser Determinismus, der darin besteht, dass mit steigendem Werbedruck die verfügbare Aufmerksamkeit nachlässt. Um überhaupt
aufzufallen und wahrgenommen zu werden, reduziert man die Zeichen- und
Infomengen. Meines Erachtens ist dieses Motiv derzeit der wichtigste Auslöser werblicher Metamorphosen.
Abschließend noch kurz einige Bemerkungen zum Verhältnis von Werbeevolution und Metamorphosen und zu Erklärungsmodellen des Wandels allge-
40
Ohnehin gilt, dass Produktkategorien ihre eigenen Gestaltungsstile etablieren, so dass
auch Rezipientenerwartungen entsprechend aufgebaut werden, die man dann durch einen
gezielt produktfremden Stil bewusst enttäuschen kann.
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
165
mein. Keller41 prägt in seiner Sprachwandeltheorie die Vorstellung von Prozessen der "unsichtbaren Hand" und meint damit, dass es letztlich die Performanz
einzelner kommunikativ Handelnder und deren kumulative Effekte sind, die den
Wandel auslösen. In Anlehnung daran könnte man die Evolution der Textsorte
Werbung als im Verborgenen erfolgende Akkumulierung einzelner Metamorphosen betrachten. Es sind die 'invisible hands' in den Agenturen, die – der Kreativität verpflichtet – Textmuster und Gestaltungslösungen erfinden, um sie
immer wieder neu zu verwandeln. Diese Wandelprozesse laufen unaufhörlich,
denn jede metamorphische Innovation verblasst nach einiger Zeit – ein Prozess,
den Linguisten auch Demotivation nennen. Mit Fix42 könnte man von Prozessen
der Ästhetisierung durch Metamorphose und darauf folgender Anästhetisierung
durch Neutralisierung/perzeptiven Verschleiß des einstmals Neuartigen und
Auffälligen im massenhaften Gebrauch sprechen. Für die Werbung muss man
eine Recyclingmentalität reklamieren; d.h. frühere Metamorphosen lassen sich
mit gewissem zeitlichen Abstand wiederholen. Dies rührt daher, dass Werber in
den mittlerweile umfangreichen Archiven der Branche (agenturinterne und unabhängige, Zeitschriften, Internetarchive, Vereine, Museen, Anthologien/Jahrbücher) beständig nach gestalterisch-strategisch markanten Lösungen (seinerzeit
Metamorphosen) suchen und diese zu imitieren oder adaptieren streben. Die
long copy der Anfangsphase mag nach dem schon länger anhaltenden Trend zu
immer kürzeren Texten zu einem zukünftigen Zeitpunkt wieder attraktiv werden, weil sie – gemessen am kurzen kulturellen Gedächtnis einer Generation –
eine Metamorphose darstellen kann und somit Prägnanz, Aufmerksamkeit und
kommunikativen Gewinn verspricht. In diesem Sinne sind die Metamorphosen
der Werbung allesamt reversibel und daher eher schwach.
An die Seite der Metapher von der unsichtbaren Hand könnte man zu heuristischen Zwecken das Bild eines Teichs setzen, in den man Münzen wirft. Die
Münzen wären die jeweils neuartigen Gestaltungsmittel und Formen der Werbung; sie schlagen perzeptive Wellen, die aber nach einer Zeit zur Ruhe kommen. Am Grunde des Teiches, der quasi für das Reservoir kreativer Ressourcen
des Werbetextens steht, sedimentieren die Münzen, um als scheinbar neuartige
Metamorphosen wieder geborgen und in Umlauf gebracht zu werden. Wenn
man also Werbewandel, wie hier angeregt, als graduelle Evolution konzeptualisiert, die von punktuell und plötzlich auftretenden reversiblen Metamorphosen
getrieben wird, so dürfte die Kontinuität im Wandel relativ groß sein. Diskontinuitäten sehe ich vorwiegend in der konkreten sprachlich-stilistischen und visuell-gestalterischen Durchführung der Werbehandlung. Kontinuität liegt im zugrunde liegenden und als kommunikativ-kulturelles Wissen geronnenen Text41
42
Rudi Keller, Sprachwandel: Von der unsichtbaren Hand in der Sprache (Tübingen: Francke, 1994).
Ulla Fix, "Die Ästhetisierung des Alltags: Am Beispiel seiner Texte", Zeitschrift für Germanistik Neue Folge 1 (2001a), S. 36-53.
166
HARTMUT STÖCKL
muster der Werbung, das man als kognitive Folie benötigt, um metamorphische
Wandel überhaupt erst korrekt deuten zu können.
5 Textverstehen im Wandel
Hier ist kein Platz, ausführlich darzulegen, wie Textverstehen modelliert werden
kann, dazu sind die Ansätze zu zahlreich und vielgestaltig. Ich möchte vielmehr
die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass sich unsere Vorstellungen von Verstehen und Kommunikation in Abhängigkeit von wissenschaftlichen Moden und
vorherrschenden Denkparadigmen stark gewandelt haben. Sahen wir Verstehen
früher primär als Dekodieren des wahrgenommenen Zeichenangebots, als einen
kognitiven Nachvollzug semiotisch repräsentierter Bedeutungen, so betrachten
wir es heute als aktive mentale Konstruktion von Sinn, als ein kontext-, wissensund intentionsgeleitetes Handeln mit Zeichen. Ebenso hat sich unsere Sicht auf
Kommunikation vom telematischen Austausch fixer Botschaften über einen Kanal hin zur Vorstellung von Aushandeln und Kooperieren in einem sozialen
Ökosystem verändert. Die Metapher des Transports von Bedeutung ist den Metaphern vom Stimmen produzierenden Orchester und der Vernetzung verschiedener Wissensbestände zur Sinnkonstruktion gewichen.
Diese Gewichtungen gründen nicht etwa darin, dass wir heute entscheidend
mehr über das Verstehen wüssten. Damals wie heute ist Konsens, dass das Verstehen eine Relation zwischen dem Text/Zeichenobjekt, dem Wissen des Rezipienten und der Intention des Textproduzenten herstellt. Das Verstehen setzt
verschiedene Teilleistungen voraus – wie z.B. wörtliches/syntaktisches Verstehen, Sinn inferieren, logisch-semantische Textstruktur verstehen, Handlungsfunktion erkennen etc. – und produziert im Ergebnis eine Interpretation, die der
Aneignung und Erschließung von Wissensbeständen dienlich ist. Verschiedene
Faktoren beeinflussen den Prozess. So hängt der Verstehenserfolg von der Motivation des Rezipienten, von seiner Intelligenz und seinem Vorwissen, von der
Rezeptionssituation und vor allem von den Textqualitäten selbst ab. Letztere
sind oft unter vier Dimensionen gefasst worden: sprachliche Struktur, logische
Gliederung, Kürze/Prägnanz und Stimulanz. Es scheint mir vielmehr plausibel,
dass der Wandel und die Akzentsetzungen in der Konzeptualisierung des Verstehens auch maßgeblich von der Art der Texte herrühren, mit denen wir es innerhalb eines Genres primär zu tun haben. Anhand der bereits diskutierten
Werbebeispiele (Pharmaka, Automobile) will ich im Folgenden kurz aufzeigen,
wie veränderte Textpraktiken andere Annahmen über dominante Verstehensprozesse erfordern.
1. Für die frühe Werbung (Beecham's Pills, Cadillac), die alle Teilhandlungen
explizit mittels eines deskriptiv-explikativen Texts vollzieht, muss man ein
Verstehen annehmen, das von den Zeichen des Texts getrieben wird, d.h. einen bottom-up-Prozess. Sind die meisten Handlungen hingegen nicht rea-
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
167
lisiert und ist das (sprachliche) Zeichenangebot so dünn wie in der Viagraund der VW-Anzeige, so erlangen Wissensschemata, kultureller Kontext und
die Kenntnis der Textsorte eine primäre Bedeutsamkeit. Hier werden Rezipienten eher stärker top-down verfahren müssen.43 Vor allem, wenn Werbung
kaum mehr als solche zu erkennen ist44 und wenn sie in starkem Maße intertextuell operiert, werden internalisierte Musterkenntnisse und eine umfassende Berücksichtigung der Ko- und Kontexte zu einer entscheidenden
Voraussetzung des Verstehens.
2. Muss der Rezipient den frühen Werbetext in linearer Weise sukzessiv lesen,
weil ihm typographisch oder textdesignerisch keine Einstiegspunkte zwischendurch geboten werden, so kann er den modernen Werbetext delinear
verarbeiten. Der Rezipient wird hier wichtige Zeichen herausgreifen und –
gesteuert von seinem Textsortenwissen – entsprechend kombinieren, um eine
kontextadäquate Botschaft zu konstruieren. Der Wandel verläuft also von einer linearen Wahrnehmung und Dekodierung fixer Zeichen hin zu einer interaktiven, schemagesteuerten Auseinandersetzung mit wenigen, unterdeterminierten und daher kontextsensiblen Zeichen. Semiotische Verarbeitung mutiert zu semiotischer Interaktion.
3. Bilder werden in früher Werbung zumeist als redundantes Illustrationsbeiwerk verwendet. In moderner Werbung hingegen erlangen sie ein überaus
großes Gewicht, weil sie in eigenständiger Weise Bedeutungen verfügbar
machen, die im Zusammenspiel mit Sprache die Werbehandlung überhaupt
erst ermöglichen. Ist der Rezipient also zu Beginn auf eine rein sprachliche
Semiotik beschränkt, so synthetisiert er heute Sprache, Bild, Typographie
und Layout in eine komplexe Botschaft.45
43
44
45
Diese beiden zentralen Textverstehensmodelle firmieren heute unter der salience theory,
siehe Laurent Itti und Christof Koch, "A Salience-Based Search Mechanism for Overt and
Covert Shifts of Visual Attention", Vision Research 40 (2000), S. 1489-509 bzw. unter der
Schema-Theorie, siehe Wolfgang Schnotz und Maria Bannert, "Construction and Interference in Learning from Multiple Representations", Learning and Instruction 13 (2003), S.
141-56. Ersteres reklamiert, dass das Verstehen von den auffälligen Zeichen des kommunikativen Objekts gesteuert wird, letzteres, dass Verstehen von den mentalen Modellen
und Wissensschemata bestimmt ist.
Zu den Gestaltungsmitteln und Funktionsweisen solcher verdeckender Werbung siehe
Hartmut Stöckl, "Was hat Werbung zu verbergen?: Kleine Typologie des Verdeckens", in
Steffen Pappert, Melani Schröter und Ulla Fix (Hg.), Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken
in öffentlicher und institutioneller Kommunikation (Berlin: E. Schmidt, 2008), S. 167-92.
Anthony Baldry und Paul J. Thibault, Multimodal Transcription and Text Analysis: A
Multimedia Toolkit and Coursebook with Associated Online-Course (London: Equinox,
2005), S. 19 sprechen diesbezüglich vom "resource integration principle".
168
HARTMUT STÖCKL
4. Die frühen Werbetexte können – abgesehen von wenigen rhetorischen Techniken – wörtlich und pragmatisch direkt verstanden werden. Für moderne
Werbung verlängert sich der Weg von den Zeichen zum gemeinten Sinn,
weil bewusst Äußerungen gemacht und Bildwelten entworfen werden, die in
einem indirekten Bezug zur eigentlichen Werbebotschaft und -intention stehen. Die pragma-semantische Indirektheit hat drei Facetten: die präsentierten
Zeichen laufen den Erwartungen gegenüber der Textsorte zuwider,46 sie müssen auf sekundären Zeichenebenen (konnotativ/Mythos) gelesen werden und
sie führen via Metapher oder Metonymie zu anderen, eigentlich gemeinten
Bedeutungen.47
6 Anstelle eines Fazits – Statuswandel der Sprache im multimodalen Text
Mehrfach wurde betont, dass Bilder in der gegenwärtigen Werbung einen hohen
Stellenwert haben. Sie bilden zusammen mit Sprache, Typographie, Layout –
und in anderen als den Printmedien auch Musik, Geräusch, Stimmgestaltung –
multimodale Gesamtkommunikate. Die Forschung ist sich einig, dass sich dieser
Trend zur multisemiotischen Vertextung im letzten Vierteljahrhundert intensiviert hat.48 Dabei schreibt man vor allem dem Bild und dem Textgraphischen
(Textdesign) eine immer prominentere Rolle zu. Sprache dagegen sehen manche
als zunehmend marginalisiert und die massenmediale Flut der Bilder erzeugt
"sowohl Bilderfaszination und Bildermanie als auch Bilderfeindlichkeit und
Medienphobien".49
Den Werbern bieten Bilder von Beginn an kommunikative Vorteile, die sie
gezielt auszunutzen suchen. Dies erklärt die Vorreiterrolle der Werbebranche bei
der Entwicklung der Ressourcen effektiver visueller Kommunikation. Aus den
Eigenschaften von Bildern50 lassen sich die von der Werbegestaltung erhofften
Gewinne recht leicht erklären.51
46
47
48
49
50
51
Im Sinne von Herbert Paul Grice, "Logic and Conversation", in Peter Cole und J. L. Morgan (Hg.), Syntax and Semantics (Bd. 3, New York: Academic, 1975), S. 41-58 ist der Rezipient hier dazu angehalten, "konversationelle Implikaturen" zu konstruieren.
Zu einer Modellierung des Verstehens gegenwärtiger Werbetexte siehe Stöckl 2008, S.
173-80.
Siehe dazu Martin Kaltenbacher, "Perspectives on Multimodality: From the Early Beginnings to the State of the Art", Information Design Journal and Document Design 12:3
(2004), S. 190-207.
Torsten Hoffmann und Gabriele Rippl (Hg.), Bilder: Ein (neues) Leitmedium? (Göttingen:
Wallstein, 2006), S. 7.
Hartmut Stöckl, "Beyond Depicting: Language-Image-Links in the Service of Advertising", Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik (AAA) 34:1 (2009), S. 3-28, S. 6ff..
Zur Funktionsweise von Bildern in persuasiver Kommunikation allgemein siehe Paul
Messaris, Visual Persuasion: The Role of Images in Advertising (Thousand Oaks: Sage,
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
169
1. Ikonische Bildzeichen müssen dank ihrer Wahrnehmungsnähe in Rezeption
und Verstehen nicht umkodiert werden. Sie wirken unmittelbarer und sind
nur schwach grammatikalisiert. All dies senkt den Verarbeitungsaufwand
und erklärt die scheinbare Mühelosigkeit des Bildersehens und -verstehens.
2. Die simultane und ganzheitliche Wahrnehmung von Bildern sowie deren optischer Merkmalsreichtum führen dazu, dass sie schnell gelesen und gut behalten werden. Zudem haben sie direkten Zugang zu unseren Emotionen, was
für Anmutung und Appell von Bildern äußerst vorteilhaft ist.
3. In semantischer Hinsicht sind Bilder zum einen 'dicht', d.h. in eine Anordnung visueller Zeichen lassen sich viele Aussagen oder Botschaften 'hineinlesen'. Zu diesem Bedeutungsüberschuss gesellen sich andererseits eine
unzureichende Bestimmtheit und inhärente Vagheit. Umso wichtiger werden
sprachliche und situative Kontexte. Den Rezipienten verlangt dies eine größere kognitive und semiotische Eigentätigkeit ("Sympraxis"52) ab – dies steigert das für die Werber wichtige involvement, d.h. die Zuwendung zum
Textinhalt. Den Gestaltern eröffnet das Bild einen großen semantischen
Spielraum beim Verknüpfen von Sprache und Bild. Zudem ist die semantische Unbestimmtheit günstig für brisante, heikle oder tabuisierte Themen.
Über die Gründe für die Zunahme bildlicher Dominanz in der Werbung wie
auch in der generellen kommunikativen Landschaft mag man spekulieren. Allein
die aufgezählten Bildeigenschaften begründen den Trend vielleicht nicht ausreichend. Manche53 haben argumentiert, dass uns Bilder die Orientierung und Navigation in großen Datenmengen erleichtern, indem sie dem Leser ein
'Erschauen' der relevanten Informationen und somit eine selektive Lektüre ermöglichen. Insofern sind Bilder in der informationsüberfluteten und kommunikationswütigen Neuzeit vielleicht tatsächlich überlegen. Hinzu kommt die rasant
gestiegene technische Leichtigkeit im Umgang mit Bildern. Andererseits mag
das anthropologische Abbildungsbedürfnis gestiegen sein, weil es für unser Fühlen, Denken und Handeln in der uns umgebenden Welt wichtiger geworden ist.
52
53
1997). Messaris sieht iconicity, indexicality und syntactic ambiguity als Hauptmerkmale
von Bildern.
Rolf Klöpfer, "Sympraxis: Semiotics, Aesthetics and Consumer Participation", in J.
Umiker Sebeok (Hg.), Marketing and Semiotics: New Directions in the Study of Signs for
Sale (Berlin: de Gruyter, 1987), S. 123-48.
Gunther Kress, "Visual and Verbal Modes of Representation in Electronically Mediated
Communication: The Potentials of New Forms of Text", in Ilana Snyder (Hg.), Page to
Screen: Taking Literacy into the Electronic Era (London: Routledge, 1998), S. 53-79, S.
55ff..
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HARTMUT STÖCKL
Mit Fix54 könnte man die derzeitige Fixierung auf Bilder und gewisse Präferenzen für die visuelle Darstellung von Sachverhalten auch als "Denkstil einer Zeit"
fassen.
Klarer als die Gründe für den enorm gewachsenen Stellenwert der Bildkommunikation sind ihre Wirkungen. Für den multimodalen Werbetext hat die Zunahme der Bilder zwangsläufig eine Reduktion der sprachlichen Textanteile
sowie auch eine Veränderung des Status von Sprache im Gesamttext zur Folge.
Waren früher alle Teilhandlungen und -botschaften sprachlich verfasst, so wird
Sprache heute an den Rand gedrängt. An ihrer Stelle müssen Bilder wichtige
kommunikative Aufgaben der Textsorte übernehmen. Abschließend soll daher
in Beschränkung auf Printwerbung gefragt werden, welche prototypischen
Funktionen Sprache in bilddominierten Kommunikaten (Anzeigen/Plakate) noch
zufallen.55 Dabei gehe ich von einer aus den jeweils typischen Kodeeigenschaften von Sprache und Bild und ihren kommunikativen Stärken und Schwächen resultierenden Arbeitsteilung aus. Sollte der Anteil der Sprache auch noch
so gering sein, muss klar sein, dass nur eine konsequente Wechselseitigkeit der
Sinngenerierung als Verstehensmodell in Frage kommt.
1. Kontextualisierung: Sprache liefert – oft mit nur einem Wort oder einer kurzen Phrase – einen Kontext, in dem das Bild gelesen und mit Sinn angereichert wird. Diese generelle Funktion der Sprache mit Bezug auf das Bild
hatte Barthes56 mit dem Begriff "anchorage" im Auge. Der sprachliche Text
'verankert', d.h. kanalisiert und regelt die Deutung des Bildes. Das Bild eines
seine Violine zertrümmernden Geigers erlaubt viele Interpretationen – versehen mit der Textzeile "The number one address for classical music. And now
also for Rock... EMI" steht das Bild als zweifaches Symbol für die Art von
Musik, die der beworbene Laden verkauft.57
2. Produktinformation: Häufig reduziert sich die Aufgabe der Sprache darauf,
das beworbene Produkt zu nennen und in Form eines Slogans oder Claims
minimal zu beschreiben. Das Bild ist dann frei, einen visuellen Beweis oder
eine Illustration für die sprachlich ausgedrückten Produkteigenschaften aufzubauen. So z.B. ist "Hansaplast anti-sweat foot spray. Puts an end to smelly
feet." eine Nennung und Beschreibung des Produkts – das Bild entwickelt ein
hyperbolisches, fiktives Szenario (Hund verwendet ferngesteuerte Hunde54
55
56
57
Ulla Fix, "Zugänge zu Stil als semiotisch komplexer Einheit: Thesen, Erläuterungen und
Beispiele", in Eva-Maria Jakobs und Annely Rothkegel (Hg.), Perspektiven auf Stil (Tübingen: Niemeyer, 2001), S. 113-26, S. 121f..
Meine Überlegungen habe ich anhand des Materials angestellt, das auch Hartmut Stöckl
2008, S. 173-80 und Hartmut Stöckl 2009, S. 167-92 zugrunde gelegen hat.
Roland Barthes, "Rhetoric of the Image", in Stephen Heath (Hg.), Image, Music, Text
(London: Fontana, 1977), S. 32-51.
Wiedemann 2006, S. 36.
TEXTSORTENENTWICKLUNG UND TEXTVERSTEHEN ALS METAMORPHOSEN
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attrappe, um Herrchen die Pantoffel bringen zu lassen), welches das Problem
konkret illustriert.58
3. Schrift auf Bildobjekten: Sprache gibt ihre Eigenständigkeit teilweise auf,
wenn sie als Beschriftung auf Gegenständen ins Bild integriert wird, so z.B.
als Beschriftung der Produktpackung. Sie hat dann auch die Funktion der
präzisen Referenz auf einen bestimmten Sachverhalt, die das Bild allein nicht
immer verlässlich bewerkstelligen kann. In der Anzeige für einen permanent
marker wird der Schriftzug "Jimi Hendrix" – tätowiert auf das Dekolleté einer älteren Frau – Teil der Bildaussage und dient dort als Hinweis auf vergangene Zeiten und im Kontext der inferierten Argumentation als Beweis für
das Produkt.59
4. Adressierung des Rezipienten: Da Bilder grundlegende Probleme mit der Artikulation spezifischer Illokutionen haben,60 übernimmt Sprache bei bildlicher Dominanz auch vorzugsweise die Adressierung des Rezipienten, sei es
als Frage, Aufforderung, Warnung oder empfehlender Hinweis. "Have a nice
summer", "We strongly recommend the risotto" und "got milk?"61 wären Beispiele für direkte Sprechhandlungen, die bildlich nicht vorstellbar sind –
wohl aber kann man sie bildlich kontextualisieren.
5. Narration: Sprache eignet sich auch sehr gut zur Narration – dann allerdings
beansprucht der sprachliche Text mehr Platz im Gesamtkommunikat. Das
Bild zeigt häufig den fiktiven Handlungsraum, situative Umstände oder die
handelnden Personen – der Text entwickelt ein kleines Szenario, eine Geschichte oder dialogische Interaktion.
6. Bedeutungsspiel: Schließlich wird Sprache auch dazu verwendet, bewusst
Mehrdeutigkeiten auszulösen, die aber letztlich erst im Ergebnis der Interaktion von Sprache und Bild voll zum Vorschein kommen. Hier setzen äußerst
knappe sprachliche Formulierungen einzelne Begriffe, die metaphorischmetonymisch oder über andere Mechanismen einen Doppelsinn erlauben.
Der Claim "130 horses and 3 cows. Audi A4 with free leather interior" spielt
allein verbal mit der Metonymie von Pferd / Pferdestärke und Rind / Rinds-
58
59
60
61
Ibid., S. 206.
Ibid., S. 344.
Es ist zwar unstrittig, dass man mit dem Zeigen von Bildern bestimmte kommunikative
Handlungen realisiert. Ob und über welche formalen Mittel Bilder verfügen, um Sprechakte zu signalisieren, muss aber unklar bleiben. Siehe dazu Ulrich Schmitz, "Bildakte?
How to Do Things with Pictures", Zeitschrift für germanistische Linguistik (ZGL) 27
(2007), S. 419-33.
In der Reihenfolge ihrer Nennung: Wiedemann 2006, S. 76, S. 73, S. 116.
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HARTMUT STÖCKL
leder; eine entsprechende literalisierende Bebilderung (weite amerikanische
Prärie) bringt das semantische Spiel dann voll zur Geltung.62
Auffällig scheint, dass zumeist dann, wenn Sprache noch in einem längeren
Werbetext Verwendung findet, Anstrengungen unternommen werden, um Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form zu lenken. Dies geschieht einerseits
durch auffällige Stilisierungen, andererseits durch paraverbale Mittel wie Typographie, Layout und ein Hervorheben der Materialität und Herstellungstechnik
des Texts. So z.B. textet eine Gore-Tex Anzeige63 im Duktus eines Gedichts:
"Wind turns everything in its way into an instrument / Branches sing, rocks
howl, the leaves applaud / Wind turns the outdoors into a symphony." Eine Anzeige für die Motorradmarke MZ setzt den Text "Designed with the usual madcap German sense of humour. Proudly German" in Fraktur und verstärkt damit
die interessante Spannung zwischen der ironischen Textaussage und dem bekannten Stereotyp des humorlosen Deutschen.64
In dem Bestreben also, ihre Form und Sichtbarkeit vordergründig werden zu
lassen, gleicht die (Schrift-)Sprache dem Bild – unbedingte Wahrnehmbarkeit
hat oberste Priorität.
62
63
64
Ibid., S. 617.
Ibid., S. 477.
Ibid., S. 636.