s34-35_A24_Typografen Teil 1

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s34-35_A24_Typografen Teil 1
Berühmte Typografen [ Teil 1]
Adrian Frutiger,
die lebende Legende
Was ist Typografie? Der
Begriff kommt aus dem
Altgriechischen und
setzt sich zusammen
aus dem Wort „Typos“
für „geprägt“ oder
„Form“ und dem Begriff „Graphein“ für
„schreiben“, am besten übersetzt durch
„Arbeiten mit Schrift“.
Heute zählt ein Standardrepertoire von
Schriften zu jeder Betriebssystem- und
Software-Basisausstattung, aber wer weiß
schon, wer hinter diesen Schriften steckt
und wer sie entwickelt
hat? Die Liste der Typografen ist lang, einige
der berühmtesten stellen wir Ihnen in dieser
Serie vor.
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Adrian Frutiger lebt in Bremgarten bei
Bern in der Schweiz und gehört unumstritten zu den wichtigsten Schriftdesignern des 20. Jahrhunderts. Frutiger ist berühmt für seine Phantasie und sein vollendetes handwerkliches Können. Einer
breiten Öffentlichkeit ist er dennoch nach
wie vor unbekannt, obwohl man seinen
Arbeiten täglich begegnet, denn Frutiger
entwarf Schriften, Logos und Corporate
Images für die Post, Museen, Institutionen, Flughäfen und Metros.
Frutigers wohl bekannteste Schrift, die
Univers, eine Sans-Serif-Schrift, die unter
anderem die Hausschrift der Deutschen
Bank ist, stellt wohl die bedeutendste
Idee dar, die im 20. Jahrhundert auf dem
Gebiet der Schriftkunst konzipiert und
verwirklicht wurde. Sie machte Frutiger
mit einem Schlag weltberühmt. Die Univers besteht aus einer aufeinander abgestimmten Schriftfamilie von 21 Schnitten,
die Zug um Zug zu 63 Schnitten ergänzt
wurde. Alle Varianten haben dieselbe XHöhe, so dass man sie ohne Schwierigkeiten auf verschiedene Art und Weise auf einer Seite platzieren kann. Entstanden ist
die Univers als direkte Reaktion auf die
Futura, die Frutiger zu geometrisch war.
Endgültig zum Klassiker der Moderne
wurde Frutiger durch die von ihm 1968
entworfene OCR-B (Optical Character Recognition), die 1973 von der Computerindustrie aller Industrieländer zum Weltstandard erklärt wurde, sowie durch die
nach ihm benannte Frutiger, die er speziell für die Beschilderung des Pariser
Flughafen Charles de Gaulle geschaffen
hat. Durch ihre klare Lesbarkeit wurde die
Frutiger bereits kurz nach der Einführung
in Paris zu einer viel genutzten Schrift, sowohl für Drucksachen als auch für Orien-
tierungssysteme wie die Autobahnbeschilderung in Frankreich und der
Schweiz.
Insgesamt hat Frutiger über 170 Schriften
kreiert. Die Heidelberg-Tochter Linotype
Library (www.linotype.com) bietet eine
Sonder-Edition „Frutiger’s Life“ mit 173
Schriften an.
Schriften von
Adrian Frutiger
Président, (1952)
Phoebus, Ondine (1953)
Méridien, (1954)
Egyptienne F, (1955)
Lehrjahre
Adrian Frutiger, am 24. Mai 1928 als Sohn
eines Webers in Unterseen in der Schweiz
geboren, lernte bei der Druckerei Schlaefli in Interlaken den Beruf des Schriftsetzers. Im Anschluss an seine Lehrzeit erschien sein 1. eigenes Buch „Die Kirchen
am Thuner See“, das mit Holzschnitten illustriert war. Der junge Frutiger war ehrgeizig und wissensdurstig und so studierte er im Anschluss an die Lehre von 1949
bis 1951 Schrift und Grafik an der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich. Dort traf
er Alfred Willimann und Walter Käch, Lehrerpersönlichkeiten, die sein Leben prägten. Kächs Lehre, dass auch für eine zeitgenössische Druckschrift die Breitfeder
das letztlich entscheidende Form bildende Werkzeug bleiben müsse, und Willimanns Gedanken über das Zusammenwirken von Licht und Schatten beeinflussten den jungen Frutiger stark:
„Wenn ich auf einem weißen Blatt die Feder ansetze, so gibt man nicht Schwarz
hinzu, sondern man nimmt dem weißen
Blatt Licht weg. Gleich wie bei einem Bildhauer, der mit jedem Schlag Material
wegnimmt. Das war der wesentliche
Grundgedanke von Willimann, der mich
durch das ganze Leben begleitet. So verstand ich auch, dass das Wichtigste an
der Schrift die Zwischenräume sind.“
Ungewöhnlich ambitioniert und talentiert
Univers, (1957)
Concorde Apollo, (1962)
IBM-Univers, Serifa, (1964)
Devanagari Indien, (1967)
OCR-B, (1968)
Roissy Alphabet, Iridium, (1972)
Métro Alphabet, (1973)
Frutiger, (1976)
Glypha, (1977)
Icone, (1980)
Breughel, (1982)
Versailles, (1984)
Linotype Centennial, Avenir, (1986)
Westside, (1989)
Herculanum, Vectora, (1990)
Linotype Didot, (1991)
Pompeijana, (1992)
Rusticana, (1993)
Frutiger Signs, (1996)
Linotype Univers, (1997)
Frutiger Stones,
Frutiger Symbols, (1998)
Des Meisters Hände.
war auch die Diplomarbeit Frutigers, ein
Pliant (Faltprospekt) mit einer Holzschnittfolge auf 8 Tafeln mit dem Titel
„Die Entwicklung des lateinischen Alphabets“. Damit schloss er die Züricher Schule ab und begeisterte seine Lehrer ebenso
wie die Firma Deberny & Peignot, die ihn
als Schriftentwerfer nach Paris holte.
Vom Bleisatz
zum digitalen Design
Zusammen mit André Gürtler und Bruno
Pfaffli gründete Frutiger Anfang der 60er
Jahre sein eigenes Typografie- und Designstudio in Paris und arbeitete fortan
als freier Schriftgestalter für renommierte
Firmen wie Linotype, IBM, Air France und
Electricité de France.
„Es gibt Grundsätze, die sich in der
Schriftgestaltung kaum verändern. Es ist
auch ein Fehler, das Schriftdesign der
Technik anzupassen. Daraus entstehen
schlechte Schriften.“
Er blieb diesen Grundsätzen immer treu,
wagte aber auch Neues und nahm inter-
Auffällig unauffällig: In der Autobahnbeschilderung in Frankreich und
der Schweiz wird Adrian Frutigers Schrift Univers benutzt, hier an einer
Zahlstation an einer französischen Autobahn.
Alle Fotos: linotype-library GmbH
Adrian Frutiger, seine Schriften
haben die Typografie des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt.
essiert den aufkommenden Fotosatz zur
Kenntnis, der allmählich den seit Gutenberg angewandten Bleisatz ablöste. Doch
die elektronische Bildübertragung brachte zunächst Qualitätsverluste mit sich,
sprich, eine Verzackung der Ränder und
später die Vektorisierung der Umrisse.
Für das Formengefühl Frutigers war das
eine Leidenszeit, dennoch war die Umsetzung der alten Schriften vom Hoch- in den
Flachdruck für Frutiger eine der wichtigsten Erfahrungen.
Unabhängig vom Druckverfahren steht
bei Frutiger alles Gestalten unter ein und
derselben Prämisse, dem lesefreundlichen und effizienten Transport von Inhalten. Denn für Frutiger steht fest, „dass
Lesbarkeit und Schönheit ganz nahe beieinander stehen und dass die Schriftgestalt in ihrer Zurückhaltung vom Leser
nicht erkannt, sondern nur erfühlt werden
darf. Die gute Schrift ist diejenige, die sich
aus dem Bewusstsein des Lesers zurückzieht, um dem Geist des Schreibenden
und dem Verstehen des Lesenden alleiniges Werkzeug zu sein.“
Nun ist er 74 und arbeitet unermüdlich
weiter, doch Schriften entwickelt er nicht
mehr: „Dieses Kapitel ist für mich abgeschlossen. Es wäre völlig falsch, wenn ich
versuchen würde, etwas zu erzwingen.“
Auf seinen Erfolg angesprochen, gibt sich
Adrian Frutiger bescheiden und bringt
sein Lebenswerk auf den Punkt: „Ich hatte das Glück zu verstehen, dass die Schrift
etwas Lebendiges ist, wie eine Pflanze.“
y
Kerstin und Jörg Allner
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(Foto: Virgin Records LTD)
Während der Punk-Bewegung der 70er Jahre war emotionale Typografie
angesagt, hier das Cover der Sex-Pistols-LP „God Save the Queen“.
Berühmte Typografen [Teil 2]
emotionale
typografie
David Carson: durch Anarchie zu Weltruhm
Wenn es den Titel
des umstrittensten
Typografen des
20. Jahrhunderts gäbe,
David Carson hätte
diesen Titel verdient
wie kein Zweiter,
denn der ehemalige
Beach-Boy und
Weltklassesurfer hat
mit seinen
anarchistischen
Layouts höchst
gegensätzliche
Reaktionen
hervorgerufen.
Für das renommierte ZEIT-Magazin lieferte David Carson 1999 das Layout einer ganzen Ausgabe.
(Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim)
Von „der wichtigste amerikanische Designer des 20. Jahrhunderts“ bis „typografischer Triebtäter“ reichen die sehr emotionalen Reaktionen auf die emotionale Typografie von David Carson. Wie kommt es,
dass die einen ihn verehren und die anderen ihn ablehnen?
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PRINT & PRODUKTION 6/03
Vorläufer Dada
So revolutionär Carsons Arbeitsweise auch
erscheint, ganz vom Himmel gefallen ist sie
nicht. Rund 80 Jahre vor David Carson hat
es schon einmal während der Dada-Bewegung (Dada: frz. Kindersprache: Holzpferdchen) Ansätze gegeben, die scheinbar un-
umstößlichen Regeln der Typografie umzustoßen. Ausgangspunkt der internationalen künstlerischen und literarischen DadaStilrichtung war das am 5. Februar 1916 in
Zürich von dem deutschen Dichter Hugo
Ball gegründete Cabaret Voltaire. Zusammen mit dem Arzt Richard Huelsenbeck,
dem rumänischen Dichter Tristan Tzara, der
deutschen Sängerin Emmy Hennings und
dem elsässischen Maler und Bildhauer
Hans (Jean) Arp nutzte Ball das Cabaret Voltaire, um unter radikaler Ablehnung bislang
gültiger ästhetischer Wertmaßstäbe eine
Kunst der Anarchie und Subversion zu
schaffen. Wesentliche künstlerische Ausdrucksmittel der Bewegung waren Collage,
Montage und Assemblage, das Zusammenfügen von willkürlich aufgegriffenen und
aus unterschiedlichen Zusammenhängen
stammenden Einzelteilen zu neuen Gebilden. Zufall und Spontaneität wurden zum
Gesetz dieser gegen bürgerlich-konformistische Kunstideale rebellierenden „AntiKunst“. Die inhaltliche Aussage der Werke
trat in den Hintergrund gegenüber dem
Spiel mit der Form.Bis etwa 1924 lösten
sich die Dada-Gruppen überall auf – die
Haltung der Rebellion hatte sich verbraucht. Die provozierenden Ideen des
Dada beeinflussten jedoch eine Vielzahl
von Kunststilen wie Konstruktivismus, Surrealismus oder Abstraktion.
Die damals entwickelten künstlerischen
Mittel – die unkonventionelle Verwendung
der Typografie, die Fotomontage und das
Collagieren vorgefundener Materialien und
Gegenstände – wurden seither in Intervallen immer wieder eingesetzt und weiter
entwickelt. Dazu zählen die Punk-Bewegung der 70er Jahre um die britische Skandalband Sex Pistols mit ihrer anarchistischen Infragestellung sämtlicher Werte des Abendlandes
genauso wie der Sunnyboy David Carson mit seinen revolutionären Layouts für LifestyleMagazine.
2nd sight: The End of Print, vol. 2, mit Texten von Lewis Blackwell, 1997 erschienen, ist die konsequente
Fortsetzung von Teil 1, geht aber besonders auf Carsons Weltreisen in Sachen Grafik-Design ein.
(Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim)
Carsons Buch „The End of Print“ (mit einem Vorwort von David Byrne, erschienen
im Bangert-Verlag), erscheint inzwischen in der 5. Auflage und ist mit weltweit über
125 000 Exemplaren das bestverkaufte Designbuch aller Zeiten.
(Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim)
Selfmademan und Revoluzzer
David Carson war der Superstar der Grafikszene der 90er Jahre und der wichtigste
Vordenker des visuellen Erscheinungsbildes der MTV-Generation.
Als Sohn eines NASA-Testpiloten 1956 in
Corpus Christi, Texas, geboren und in Kalifornien aufgewachsen, ist Carson als Typograf zum größten Teil Autodidakt, denn er
war eigentlich Lehrer für Soziologie, brach
ein Designstudium erfolg- und lustlos ab
und besuchte erst mit Ende 20 ein paar
klassische Kunst- bzw. Designkurse. Nur
ein Workshop bei dem Schweizer Designer
Hans-Rudolph Lutz hat im wohl gefallen,
Lutz ist jedenfalls der einzige, den er als
Einfluss für seine Arbeit angibt.
Als ehemaliger Surfprofi (Carson war einer
der 10 besten Surfer der Welt) begann Carsons Karriere mit der Zeitschrift Beach Culture, die nach dem Erscheinen der 6. Ausgabe (1992) in einem finanziellen Desaster
endete. Trotz dieses Misserfolgs wurde Beach Culture zum Kultobjekt. Danach arbeitete er für die Zeitschrift Ray Gun, für deren
Erscheinungsbild er allein verantwortlich
Carsons Style
Was kennzeichnet Carsons Stil? Kurz gesagt, die totale Regel- und Wertelosigkeit!
Mit Freude zerstört er alles, was an Regeln
auf scheinbar heiligen Sockeln steht. Damit
führt er die Konventionen unserer Kommunikation ad absurdum. Carsons Arbeiten
lassen sich tatsächlich an Radikalität kaum
noch übertreffen. Dabei scheinen seiner
Kreativität und Experimentierfreude keine
Grenzen gesetzt zu sein. Kaum ein Text, der
vorne beginnt und linear bis zum Ende
durchläuft, mal gibt es keine Interpunktion,
Das Medium ist
die Botschaft
PRINT: David, an welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit und was sind Ihre weiteren Pläne für die Zukunft?
David Carson: Ich habe gerade ein Buch
über Marshall McLuhan* fertig gestellt mit
dem Namen „Book of Probes“. In diesem
Buch interpretiere ich mehr als 400 Zitate
von McLuhan über neue Medien, das Internet etc. Außerdem habe ich nach 5 Jahren
wieder ein neues Grafik-Design-Buch abgeschlossen mit dem Titel „Trek“. Es wird im
Sommer erscheinen und hat über 400 Seiten. Des Weiteren habe ich für Xerox einen
TV-Spot gemacht und außerdem arbeite
ich viel für die Surfwear-Firma Quicksilver.
* Anmerkung der Redaktion: Marshall McLuhan, kanadischer Medienforscher, * 21. 7. 1911 Edmonton, †
31. 12. 1980 Toronto, befasste sich mit der Veränderung der Gesellschaft durch die Massenmedien. Seine Werke: „Die Gutenberg-Galaxis“ 1962, deutsch
1968; „Understanding media“ 1964, deutsch „Die
magischen Kanäle“ 1968.
Kurt Schwitters (*20. 6. 1887 Hannover,
† 8. 1. 1948 Ambleside, England) gehörte zu
den Protagonisten der deutschen DadaBewegung. Hier seine „Typoreklame“
vom November 1924. (Foto: Kurt-SchwitterArchiv im Sprengel-Museum, Hannover)
war. Seine Arbeit durfte niemand sehen,
ehe sie nicht gedruckt war, selbst der Verleger musste auf die fertige Ausgabe warten.
Die Emotionen seiner Leser, so betont Carson immer wieder, sind ihm wichtiger als
die Lesbarkeit der Texte. Er möchte dass
der Leser die Seite aufschlägt und sagt
„Hey, was ist denn hier passiert?“
Das Londoner Creative Review Magazin
wählte Carson zum „Art Director of the Era“
und bezeichnete sein Layout für das Magazin Ray Gun als bedeudendste amerikanische Arbeit. Als Art-Director und Gestalter
für das Magazin Beach Culture gewann Carson über 150 Preise, darunter Best Overall
Design und Cover of the Year der Society of
Publication Designers in New York.
Carson führt auch Regie in Werbespots und
Video-Clips.
mal fehlen ganze Buchstabenserien. Satzblöcke und Absätze ignoriert er zumeist gewissenhaft, ganze Spalten verschmelzen
miteinander. Seine Zeitschriften beginnen
manchmal am Ende, das Inhaltsverzeichnis
findet sich in der Mitte wieder, Seiten sind
negativ paginiert. Einzelne Worte hüpfen
mitten aus dem Text heraus, zerschnittene
Photos sind in Textteile montiert, Kopierfehler werden zum Gestaltungsmerkmal.
Andererseits verfährt er auch ab und an –
wenn es keiner erwartet – erstaunlich konservativ.
Umsturz als Zwangsläufigkeit
Zug völlig umgekrempelt und neu definiert
worden. Wie immer man zum Werk von David Carson stehen mag, eines scheint unzweifelhaft zu sein: Er hat in der Typografie
als Kunstform das vollzogen, was in den anderen Künsten wie Musik, Literatur, Malerei und Bildhauerei schon lange vorher vollzogen worden ist. In einer Zeit, in der ein Arnold Schönberg die Musik oder ein Pablo
Picasso die Malerei neu definierte, war es
nur eine Frage der Zeit, bis ein beherzter
Gestalter sämtliche Regeln über den Haufen schmeißen musste. Einer musste kommen: David Carson.
www.davidcarson-design.com
y
Die Typografie war lange Zeit ein Hort der
Beständigkeit, mit ehernen, teils 500 Jahre Kerstin und Jörg Allner
alten Regeln. Der Kanon der Künste ist jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts Zug um
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Berühmte Typografen [Teil 4]
Der Reformator
Jan Tschichold war
einer der herausragendsten und einflussreichsten Typografen
des 20. Jahrhunderts.
Er war ein frühreifes
Genie, arbeitete als
Lehrer, schrieb viele
richtung- weisende
Bücher und arbeitete
sein Leben lang als Designer. Sein bewegtes
Leben ließ ihn zweimal
den Namen wechseln
und war, so scheint es,
auch in 2 Hälften
geteilt.
Kindheit in Leipzig
Geboren wurde Jan Tschichold am 2. April
1902 in der Buchdruckerstadt Leipzig als
Johannes Tzschichhold (die Eltern ließen
den Namen später in Tschichold ändern).
Er war der 1. Sohn des Schriftmalers Franz
Tschichold und seiner Frau Maria. Der Beruf des Vaters machte Jan Tschichold von
Kindheit an mit vielen Formen gemalter
Schrift bekannt. Seine Jugendzeit war geprägt von intensivem Lernen, Fleiß und
Disziplin. Ein wichtiges Erlebnis für ihn
war die Weltausstellung für Buchkunst
und Grafik in Leipzig, die er 1914 oftmals
besuchte, und auf der er seine Kenntnisse
über die Geschichte des Buchs und der
Schrift vertiefte. 1916, nach Beendigung
der Schulzeit, besuchte der erst 14-jährige Tschichold das Lehrerseminar Grimma
in der Nähe Leipzigs, weil er Zeichenlehrer werden wollte. 1919 brach er diese
Ausbildung aber vorzeitig ab, da er doch
lieber Schriftzeichner werden wollte. Fortan besuchte er die Akademie für grafische
Künste in Leipzig, wo er trotz seiner Jugend in die Schriftklasse von Professor
Hermann Delitsch aufgenommen wurde.
Dort erlernte er nebenher auch das Gravieren sowie die Techniken für den Kupferstich, Holzschnitt, Holzstich und das
Buchbinden. Nach einem einjährigen Aufenthalt beim Schriftkünstler Heinrich Wieynck in Dresden kehrte er nach Leipzig zurück und wurde 1921 von Walter Tiemann,
dem Direktor der Akademie, damit beauftragt, den Abendunterricht im Schriftschreiben zu erteilen. Nebenher war er
Meisterschüler Tiemanns geworden und
besaß ein eigenes kleines Atelier in der
Akademie. In dieser Zeit erhielt Tschichold regelmäßig Aufträge für den Entwurf von Inseraten für die Leipziger Mustermessen und schrieb zwischen 1921
und 1925 Hunderte solcher Inserate in
kalligrafischer Form, meist für die große
Leipziger Buchdruckerei Fischer & Wittig.
Der Einfluss des Bauhauses
1923 besuchte Tschichold die Ausstellung des Weimarer Bauhauses, die ihn
nachhaltig beeinflusste. Von nun an widmete er sich ganz der neuen Typografie:
asymmetrisch und mit grotesken Schriften. Dabei entwickelte sich eine enge
Freundschaft zwischen ihm und dem Bauhaus-Typografen Laszlo Moholy-Nagy
und anderen avantgardistischen Künstlern. Tschichold war von russischen
Künstlern derart beeindruckt, dass er sich
ab 1924 Iwan Tschichold nannte.
Der wandelbare Jan Tschichold,
ein Streiter für die Ästhetik des
Satzes.
Foto: Linotype Library GmbH
Im Oktober 1925 gab er das Sonderheft
„Elementare Typografie“ in der Zeitschrift
„Typografische Mitteilungen“ heraus,
das eine ungeheure Wirkung erzeugte
und ihn zur führenden Persönlichkeit der
typografischen Avantgarde machte. Ziel
der von ihm propagierten Umwälzung war
die „Einfachheit und Klarheit der Mittel“,
die Reduzierung der verwendeten Schriften auf die „einzig wahre Schriftform, die
Grotesk“ und die „Abschaffung des Ornaments“. Seine Thesen wurden ebenso leidenschaftlich gutgeheißen wie bekämpft,
aber innerhalb weniger Jahre zeigten sich
die Auswirkungen auf den Stil vieler
Druckerzeugnisse, denn Ornamente und
antiquierte Schriften begannen zu verschwinden.
So sah für Tschichold das Grauen aus: Inserate mit wildem Durcheinander verschiedener Schriftarten. (Alle Abbildungen aus
„Erfreuliche Drucksachen durch gute Typografie“ von Jan Tschichold, mit freundlicher Genehmigung des MaroVerlags Augsburg).
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Tschichold versuchte nun selbständig zu
werden und ließ sich Anfang 1926 in Berlin als Zeichner nieder, wo er auch Edith
Kramer heiratete. Im selben Jahr erreichte
ihn ein Brief von Paul Renner, der gerade
damit beschäftigt war, die neue Münchner Meisterschule aufzubauen und Tschichold nach München holte. Am 1. Juni
1926 trat Tschichold in die Dienste der
Stadt München und unterrichtete die
Meisterschüler und die Berufsschüler in
Typografie und Kalligrafie. Auf Druck der
bayerischen Behörden legte er den
Künstlernamen Iwan ab und nannte sich
wieder Jan.
Verfolgt und vertrieben
Im Jahre 1928 wurde Tschicholds Sohn
Peter geboren und sein Lehrbuch „Die
neue Typografie“ erschien. Das Buch
untermauerte seinen Ruf als Wortführer
der Avantgarde und wurde zur Bibel aller
jungen Setzer. Tschicholds Filmplakate,
u. a. für den Münchener Phoebus-Palast,
sowie sein gesamter Stil der modernen
Typografie wurden jedoch teilweise stark
angefeindet. Der heraufziehende Nationalsozialismus drohte die neue Typografie bereits kurz nach ihrer Entstehung zu
vertreiben und die schlimmsten Befürchtungen wurden Wirklichkeit, als 1933
nach der Machtübernahme der NSDAP
Jan Tschichold als „entarteter Künstler“
für mehrere Monate in „Schutzhaft“ genommen und aus dem Lehramt entlassen
wurde. Nach seiner Freilassung flüchtete
Tschichold mit seiner Familie nach Basel
in die Schweiz. Dort war die finanzielle Situation der Tschicholds anfangs sehr
schlecht: Jan bekam zwar eine Halbtagsstelle im Benno Schwabe Verlag und ei-
nen kleinen Lehrauftrag an der Baseler
Gewerbeschule, aber gute Gestaltungsaufträge waren rar. Hinzu kam die ständige Drohung der Nichtverlängerung seiner
Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis durch
die schweizerischen Behörden. Erst 1942
erhielt er, was zu der Zeit sehr selten war,
in Anerkennung seiner Leistungen das
Baseler Bürgerrecht.
Paradigmenwechsel
1935 erschien sein Buch „Typografische
Gestaltung“, das sowohl in der Gestaltung als auch inhaltlich den Wendepunkt
zur 2. Hälfte seines Lebens markiert. Der
neue Tschichold hatte den Einfluss des
Bauhauses und des Elementaren abgelegt und wandte sich wieder der klassischen Typografie und der Schriftkunst zu.
Seit 1938 hat sich Tschichold dann ganz
der Buchtypografie gewidmet. Er überließ
die unsymmetrische Anordnungsweise
der Werbetypographie und setzte fortan
fast alles auf Mitte. Daneben schrieb
Tschichold von 1933 bis 1946 eine große
Anzahl von Fachartikeln. 1941 endeten die
entbehrungsreichen Jahre mit einer Anstellung bei der expandierenden Baseler
Firma Birkhäuser und als Zeichen seines
Erfolges baute er sich 1944 ein Haus in
Berzona (Tessin).
Nachkriegsjahre in London
waltige Aufgabe, denn sie umfasste eine
vollständige Neuordnung der Typografie.
Tschichold führte feste Satzregeln ein,
um das formale Niveau dieses Druckwerks zu heben, und veröffentlichte das
Buch „Im Dienste des Buches“, das das
Regelwerk enthielt. In den wenigen Jahren in London erlangte Tschichold hohes
Ansehen und wurde zum Ehrenmitglied
des Londoner Double Crown Club ernannt.
Rückkehr in die Schweiz
Bald nach seiner Rückkehr in die Schweiz
Ende 1949 begannen Verhandlungen
über eine erneute Berufung an die Meisterschule für Buchdrucker in München.
Aufgrund unzumutbarer Bedingungen —
unter anderem sollte Tschichold auf die
schweizerische Staatsbürgerschaft verzichten — wurde daraus jedoch nichts.
Mittlerweile war eins von Tschicholds
wichtigsten Büchern erschienen, das
„Meisterbuch der Schrift“, in dem sich
seine 30-jährige Beschäftigung mit
Schriftformen aller Zeiten widerspiegelte.
Ab 1955 war Tschichold Typograf im Hoffmann-La- Roche-Konzern in Basel. Sein
am weitesten verbreitetstes und in die
meisten Sprachen übersetzte Buch „Willkürliche Maßverhältnisse der Buchseite“
erschien 1962 und wurde mittlerweile 18mal neu aufgelegt. 1967 erschien seine
bekannteste Schrift, die Sabon, bei Linotype, Stempel und Monotype.
Am 11. August 1974 starb Jan Tschichold in
Locarno in der Schweiz. Wenige haben
tiefere Spuren in der Typografie der letzten 50 Jahre hinterlassen als er. Jan Tschichold hat wesentlich dazu beigetragen,
die veraltete Typografie durch eine moderne, strukturierte und geregelte Typografie abzulösen.
y
Jörg und Kerstin Allner
Im Sommer 1945 kamen der berühmte
englische Buchdrucker Oliver Simon und
der Verleger der Penguin Books, Allan
Lane, nach Basel, um Tschichold als Typografen für den Verlag zu gewinnen. Tschichold sagte mit großer Freude zu und ab
1946 überarbeitete er die typografische
Form der Penguin Books. Das war eine ge-
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Berühmte Typografen [Teil 6]
Professor Charisma:
Unternehmen expandierte zum größten
deutschen Designbüro. MetaDesign war
hierzulande einer der Pioniere in Sachen
Corporate Design und verstand sich zeitweilig als eine Art Geschmackspolizei, die
die Vorgaben für ein einheitliches Erscheinungsbild wichtiger Marken definierte. So
mit der holländischen IT-Gruppe Lost
Boys. Nachdem Spiekermann nur noch im
Aufsichtsrat der MetaDesign AG tätig war,
führte die veränderte inhaltliche Ausrichtung – weg vom Design, hin zu mehr Beratung – zu bösen Umsatzeinbrüchen. Einige der besten Leute verließen das Unter-
ErikSpiekermann
Erik Spiekermann ist
einerseits als studierter
Kunsthistoriker,
Typograf, Hochschullehrer und Jurymitglied
internationaler Gestaltungswettbewerbe
selbst eine anerkannte
Autorität, andererseits
ist er bekannt dafür, anderen Autoritäten mit
drastischen Worten die
Leviten zu lesen. Der in
Berlin lebende Altlinke
kommt aus einfachen
Verhältnissen und hat
es als Autodidakt in Sachen Typografie bis an
die Weltspitze gebracht. Dennoch ist er
sich treu geblieben.
Obwohl aus den selbst
gemalten Wandzeitungen gegen das Großkapital Großaufträge von
VW und Audi geworden
sind, hält er an
seinen Prinzipien fest
und lehnt z.B. eine Zusammenarbeit mit Rüstungsunternehmen ab.
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PRINT & PRODUKTION 11/03
Erik Spiekermann wurde am 30. Mai 1947
als ältestes von 4 Kindern des Lastwagenfahrers Erich Spiekermann und seiner
Frau Barbara in Stadthagen geboren. Seine Jugend in Niedersachsen und später
im Rheinland war von der Nachkriegszeit
mit Hunger und Entbehrungen geprägt.
Als er 8 Jahre alt war, zog er mit seiner Fa-
Das grafische Konzept der Berliner
Verkehrsbetriebe ist einer von Spiekermanns großen Würfen.
Alle Fotos: Prof. Erik Spiekermann
milie nach Bonn, weil sein Vater dort eine
Stelle als Chauffeur antrat. Schon während der Schulzeit begann er mit einer 1.
kleinen eigenen Druckwerkstatt zu experimentieren. 1964, als 17-jähriger Gymnasiast, ging Erik Spiekermann nach Berlin,
um der Bundeswehr zu entgehen. Sein
Vater, der im Krieg Soldat war, meinte,
dass er selbst genug Uniform für sich und
seinen Sohn getragen habe. So kam es,
dass sich Spiekermann fortan in Berlin als
Pflastermaler und Straßenmusikant
durchschlug. Trotzdem machte er sein
Abitur. Sein Studium der Kunstgeschichte
an der Freien Universität finanzierte er mit
dem Druck von Flugblättern und Visitenkarten auf einer alten Tisch-Tiegeldruckmaschine, die er in einem Keller „gefunden“ und „vergesellschaftet“ hatte.
1973 ging er für 7 Jahre nach London, wo er
unter anderem am College of Printing und
bei der Branding-Agentur Wolff Olins arbeitete. 1979 zog er nach Berlin zurück
und gründete mit Florian Fischer und Dieter Heil „MetaDesign“. Ab 1983 führte er
die Firma als alleiniger Geschäftsführer
mit bis zu 12 Mitarbeitern weiter, bis er
1990 mit der Designerin Uli Mayer und
dem Banker Hans Christian Krüger zu
„MetaDesign Plus“ umfirmierte. Das
polierte MetaDesign unter anderem das
Corporate Design von Volkswagen, Audi,
Skoda, Lexus, Heidelberger Druckmaschinen, Boehringer Ingelheim sowie Berlins,
des Düsseldorfer Flughafens, und des
Wissenschaftsverlags Springer auf. Das
Unternehmen gründete Ableger in London, San Francisco und Zürich und beschäftigte zur besten Zeit mehr als 200
Mitarbeiter. 6 Jahre in Folge belegten die
Berliner Platz 1 im Ranking des Branchenblatts „Horizont“ für deutsche Agenturen
im Corporate Design. Die Firma wuchs
zwar mit der New Economy, behielt aber
dennoch lange den Alt-68er-Ruf, sozialer
zu sein als die anderen. So hat das Unternehmen, was sehr ungewöhnlich für die
Branche ist, sogar einen Betriebsrat. Spiekermann war lange Zeit die treibende Kraft
des Unternehmens, die MetaDesign in aller Welt repräsentierte. Doch trotz aller Erfolge begann es im Unternehmen Ende
der 90er Jahre zu kriseln.
Spiekermann wollte sich ab 1999 aus dem
aktiven Geschäft nach und nach zurückziehen. Leider gab es große Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Ausrichtung. Während er einen Zusammenschluss mit einer Werbeagenturgruppe
befürwortete, liebäugelten seine Partner
Zunächst als Hausschrift für sein jüngstes Büro „United Designers“ gestaltet,
ist FF Unit mittlerweile zu einer imposanten Familie mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten herangewachsen. 7 Strichstärken mit je 5 Versionen ergeben einen
Grundstock von 35 Fonts.
Spiekermanns Bildsprache für das
Informations- und Leitsystem des
Düsseldorfer Flughafens ist zurückhaltend, klar, einfach und international
verständlich.
nehmen und dazu kam dann 2001 die allgemeine Krise. Die Holländer spielten auf
Zeit und retteten MetaDesign im Sommer
aus der drohenden Insolvenz, bekamen
die Firma also fast geschenkt. Kaum hatten sie die Mehrheit, entließen sie auch
Hannes Krüger, den Vorstandsvorsitzenden, der den Merger betrieben hatte. Seit
Anfang 2002 hat Spiekermann keine Anteile mehr an seiner ehemaligen Firma.
Damit erging es ihm nicht besser als Commodore-Gründer Jack Tramiel oder AppleGründer Steve Jobs, die auch aus ihren
Unternehmen hinauskomplimentiert wurden. Man kann es Vatermord nennen oder
auch Scheidungsdrama – fest steht, dass
die Atmosphäre zwischen dem Meta-Vater und den Meta-Enkeln zurzeit noch vergiftet ist und man kein gutes Haar mehr
aneinander lässt.
Direkt nach seinem Ausstieg baute Erik
Spiekermann in Berlin-Schöneberg trotzig
seine nächste Agentur, United Designers
Network, auf. Mittlerweile ist sie mit Büros
in Berlin, London und San Francisco vertreten. Der Name Spiekermann zog nach wie
vor und so standen mit der Neugestaltung
der englischen Zeitschrift The Economist
und des Berliner Tagesspiegels gleich 2
neue Riesenaufträge ins Haus. Zurzeit arbeitet Erik Spiekermann mit einem Dutzend Kollegen im Berliner Büro am Corporate Design der Deutschen Bahn.
Spiekermann, Erik
Geboren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30. Mai 1947
in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Stadthagen/
Niedersachsen
Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Barbara und Erich Spiekermann
Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Wolfgang, Angelika,
Michael
Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dylan
Enkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Luke
Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Berlin
Herr Spiekermann,
sind Sie Links- oder Rechtshänder? . . . .Sehr rechts.
Ihre größte Stärke? . . . . . . . . . . . . . . . . . .Schnelle Auffassung.
Ihre größte Schwäche? . . . . . . . . . . . . . . .Schneller Überdruss.
Ihr Hauptcharakterzug? . . . . . . . . . . . . . . .Neugierde.
Ihr Motto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Lieber einen Freund verlieren, als einen Spruch
auslassen; oder ernsthaft: Man kann nicht
nicht kommunizieren
(Watzlawik).
Ihre Hobbys? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Lesen, Quatschen,
Rennrad fahren.
Welchen Beruf ergreifen
Sie im nächsten Leben? . . . . . . . . . . . . . . .Gitarrist.
Als Kind wollten Sie nie so
werden wie…? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Mein Turnlehrer.
Angenommen, die Welt ginge in
24 Stunden unter:
Was würden Sie noch tun? . . . . . . . . . . . .Kuchen backen und so
viele Freunde wie
möglich zum Essen einladen.
Ihr Lieblingsplatz auf
diesem Planeten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Auf einer Terrasse in der
Sonne, fast egal wo.
Schriften
Angenommen, die berühmte
Fee mit den 3 Wünschen erschiene,
welche wären die Ihren?
Alle Projekte sollten sofort erledigt sein;
alle Freunde, denen ich etwas versprochen, aber nicht gehalten habe, sollten
mir verzeihen; alle Bücher in meinen Regalen möchte ich auswendig kennen.
Ihre Lieblingsfarbe?
Grau, in allen Schattierungen.
Typografie ist ...
…die Inszenierung von Schrift und Bild in
der Fläche (Lange); dabei geht es vor allem darum, die Flächen zwischen dem
Gedruckten zu gestalten. Das nenne ich
die Tektonik.
34
PRINT & PRODUKTION 11/03
Obwohl Erik Spiekermanns Hauptinteresse als politisch denkender Mensch der
Gestaltung komplexer, öffentlicher Informationssysteme wie dem Orientierungssystem der Berliner Busse und Bahnen
gilt, hat er sich auch im Schriftentwerfen,
der Königsdisziplin im Grafikdesign, Meriten erworben. Er zählt auf diesem Gebiet mit seinen Klassikern FF Meta, ITC
Officina, FF Info und der neuen Schrift FF
Unit zu den weltweit erfolgreichsten Protagonisten. 1989 gründete er zusammen
mit seiner damaligen Frau Joan Spiekermann und dem Typografie-Punk Neville
Brody in Berlin das Versandhaus für
Computerschriften FontShop. Das Unternehmen ist heute das weltweit größte,
herstellerunabhängige Versandhaus für
Schriften mit Dependancen in Australien,
Belgien, Kanada, England, Frankreich, Japan, den Niederlanden, Norwegen, Österreich und den USA. Rund 40 000
Schriften von über 70 Herstellern bilden
die FontShop-Bibliothek, die auch aus
osteuropäischen, kyrillischen und asiatischen Zeichensätze sowie einer großen
Auswahl an Logos, Symbolen und Bildzeichen besteht. Von gleicher Güte ist
das Referenzwerk FontBook, das mit tausenden von Schriftmustern und Symbolsammlungen das umfassendste Lexikon
für digitalisierte Schriften weltweit ist.
Die 2. wichtige Produktgruppe bei FontShop sind Foto-CDs mit professionellen
Fotos weltweit führender Hersteller wie
PhotoDisc, Corbis, Digital Vision, Photo
Alto und Stockbyte. Seit 1995 veranstaltet FontShop in Berlin eine jährlich stattfindende internationale Typografie- und
Designkonferenz im Haus der Kulturen,
der ehemaligen Kongresshalle. Zu diesem Weltgipfel des Design finden sich regelmäßig rund 1 500 Fachbesucher ein.
Zu den Rednern gehörten bisher international angesehene Grafikdesign-Experten wie Prof. Bazon Brock, Neville Brody,
David Carson, Kai Krause, Günter Gerhard Lange, Carlos Segura, Gerard Unger, Prof. Kurt Weidemann, Stefan Sagmeister und selbstredend auch Erik Spiekermann, der Vater des Gedankens und
seit Beginn Moderator der Konferenz.
Das WM-2006-Logo und
die ästhetische Katastrophe
Im Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit stand Spiekermann im Winter 2002,
als er als Sprachrohr einer Kritikergemeinde das Logo zur Fußball-WM 2006 in
Deutschland als „Zumutung“ bezeichnete. Dabei kam der Unmut über das lustige
Smiley-Extasy-Sammelsurium an Zeichen
gar nicht aus Berlin, sondern aus dem
Umfeld einer englischen Designer-Fußballmannschaft, in der Spiekermann als
kantiger Vorstopper hin und wieder blaue
Flecken verteilt. Die englischen Kollegen
zeigten sich verstört, weil sie die Deutschen in der nüchternen Bauhaus- und
Minimalismus-Schublade hatten und nun
in den fröhlichen Smileys eine undeutsche Leichtigkeit des grafischen Seins erblickten. Erik Spiekermann fand wie immer deutliche Worte: Er nannte das Logo,
das von den Agenturen Whitestone (London) und Abold (München) gestaltet worden war, eine ästhetische Katastrophe
und sah einen riesigen Image-Schaden
auf Deutschland zukommen. 6, 7 Ideen
seien da in ein kleines Logo reingequetscht worden und die Gestalter seien
handwerklich unfähig, weil sie eine pseudo-moderne Schrift benutzt hätten, die
man heute nicht mehr benutzen könne,
so Spiekermanns harsche Kritik. Die kernigen Worte des Altmeisters fanden ein
großes mediales Echo und lösten eine
Springflut von kreativen Gegenvorschlägen aus (www.11designer.de, www.form.
de), die alle samt und sonders Entwürfe
blieben, weil der Deutsche Fußballbund
das Logo natürlich nicht noch einmal
überarbeiten lassen wollte.
Die Botschaft
Als Autor legendärer Fachbücher wie des
typografischen Romans „Ursache & Wirkung“, aber auch als Hochschullehrer an
der HfK in Bremen hat sich Erik Spiekermann einen Namen als Missionar in Sachen guter Gestaltung gemacht. Seine
Analysen sind entwaffnend scharfsinnig
und seine Urteile zuweilen vernichtend in
ihrer Deutlichkeit. Doch weil er weiß, wovon er spricht, nimmt man ihn umso ernster, auch wenn es ans Eingemachte geht.
Spiekermann sagt, die Typografie sei zum
Geldverdienen da, denn wenn es keine
Leute gäbe, die dafür bezahlten, würde es
keine 30 000 Schriften geben. Im Gegensatz zum Künstler, der seine Probleme visualisiert und verschlüsselt, sieht er sich
als Designer, der die Probleme seiner Auftraggeber visualisiert und entschlüsselt,
um sie besser darzustellen.
Bei Spiekermanns Lieblingsthema, der öffentlichen Hand, ereifert er sich mitunter
und lässt Sätze los wie: „Dort gibt es niemanden, der Geschmack hat, niemanden,
der weiß, dass es auch so etwas wie Kultur
gibt. Deshalb bekommt bei Ausschreibungen immer der billigste Anbieter den Zuschlag ... Und deshalb bekommen die immer
wieder Dreck, weil Dreck am billigsten ist.“
Aber auch die eigene Zunft bleibt nicht von
Spiekermanns Kritik verschont. Mit den
„Design-Stalinisten“, die mit ihrer „protestantisch-schwäbischen Verkniffenheit“
alles genau vorschreiben wollen, will er
nichts gemein haben, und die aktuelle
Welle anglo-amerikanischer Einflüsse auf
die Branche sieht er ebenso kritisch. Warum man, nachdem man in Europa alles
streng rational und metrisch aufgebaut
hatte, das ganze Computersystem auf das
amerikanische Zollsystem mit seiner
Zweiundsiebzigstel-Teilung umstellen
musste, will er nicht begreifen. Er hält den
durch wirtschaftliche Macht ausgeübten
Standard für einen absoluten Rückschritt.
Genauso wenig hält er von Designwettbewerben, an denen er sich nicht beteiligt,
weil es dabei seiner Meinung nach nur darum geht, dass sich Auftraggeber und
Agenturen gegenseitig schulterklopfend
gratulieren. Für ihn ist das nicht mehr als
wechselseitige Selbstbefriedigung.
Stattdessen forscht Erik Spiekermann lieber weiter an Informationssystemen, die
er gerne mit der Sprache vergleicht. Logos sind dabei die Substantive, die von lebendigen Verben, sprich Texten, begleitet
werden müssen, um eine funktionierende
Syntax zu bekommen. Die größte Sünde
in Sachen Typografie ist, so lehrt der
Meister, nicht zu lesen, was man gestaltet, und nicht zu fragen, wem es dient.
Erik Spiekermann, der auch der Präsident
des IIID (Internationales Institut für Informationsdesign) in Wien und Präsident der
ISTD (International Society of Typographic Designers) in London ist, hat am 17.
Oktober in Den Haag für seine Leistungen
im Bereich Typodesign und Typografie
den von der Hague Royal Academy of Art
und dem Meermanno Museum (The Hague) alle zwei Jahre vergebenen GerritNoordzij-Preis erhalten.
y
Kerstin und Jörg Allner
Berühmte Typografen [Teil 7]
Vater der Futura:
a
a
Futura
Paul Renner hat mit
seinem umfangreichen
Schaffen als SchriftenDesigner, Grafiker, Maler, Autor und Lehrer
Zeichen gesetzt. Seine
bekannteste Schrift,
die Futura, eine serifenlose Linear-Antiqua,
hat den Siegeszug der
serifenlosen Schriften
ausgelöst. Die Futura
war zeitweise so erfolgreich, dass die mit
ihr gestalteten Werbemittel zu einer Einheitslösung zu werden
drohten, weil die
Schrift einfach überall
zu finden war: das
Tatort-Logo, die Logos
von SPD, REWE,
Karstadt, Kaufhof, die
Ortsschilder der Bahn
genau wie die Artikel
in der BILD – alles in
Futura.
Paul Renner wurde am 9. August
1878 in der Großen Bergstraße 46 in
Wernigerode, einer Kleinstadt im
Vorharz, geboren. Weil sich die heutige Eigentümerin des Geburtshauses
quer stellte, hat die Stadt im September 2003 zu Paul Renners 125. Geburtstag in der Großen Bergstraße 11
eine Gedenktafel enthüllt, die den
großen Sohn der Stadt ehrt, gesetzt
natürlich in Futura. Renners Eltern
waren der fromme und in der Stadt
hoch geachtete Hofprediger, Kreisschulinspektor und Oberkonsistorialrat Dr. D. Ludwig Renner und seine
Frau Luise, geborene Biermann, die
Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers. Von den 8 Kindern der Renners überlebten 6, von denen Paul
das zweitjüngste war. Bereits 1891
46
PRINT & PRODUKTION 12/03
Paul Renner
starb Luise Renner, 2 Jahre später heiratete der Vater erneut und die 2. Frau, Anna
von Dithfurt, bemühte sich fortan, den
Renner-Kindern die Mutter zu ersetzen.
Die Erziehung im Hause Renner war
streng. Der Vater war durch seine Zeit als
Waise in den Frankeschen Stiftungen in
Halle pietistisch geprägt und duldete weder Widerspruch noch Müßiggang. Die
Kinder wuchsen isoliert von den Wernigeröder Kindern auf, weil der Vater verhindern wollte, dass sie den Wernigeröder
Dialekt annahmen. Ihr Freundeskreis rekrutierte sich ausschließlich aus den Kindern des Hofstaats des Grafen Stolberg.
Paul Renner besuchte wie seine Brüder
das Gräflich Stolbergische Gymnasium zu
Wernigerode. Er war hoch begabt und
entdeckte früh sein Talent für das Zeichnen und die Malerei. 1897, nach dem Abitur, ging Paul Renner dem Ratschlag seines Vaters folgend, der die Malerei für
eine brotlose Kunst hielt, nach Braunschweig, um dort an der Technischen
Hochschule Architektur zu studieren.
Schon nach einem Semester setzte er sich
dann doch gegen seinen Vater durch und
wechselte auf die Akademie der bildenden Künste nach Berlin, um dort Grafik
und Malerei zu studieren. 1899 schließlich ging Paul Renner nach München, die
Stadt, die für ihn fortan am wichtigsten
wurde. Da der Vater befürchtete, sein
Sohn könne im Trubel der Großstadt das
Lernen vernachlässigen, beorderte er ihn
bald an die kleinere Akademie nach Karlsruhe. Der Vater-Sohn-Konflikt eskalierte
wenig später, als Paul seinen Militärdienst im exklusiven 1. bayrischen Feldartillerie-Regiment ableistete, allerdings
gegen den Willen seines Vaters, der das
aufgrund der selbst zu finanzierenden
teuren Ausstattung als zu verschwenderisch empfand. Aber Paul Renner setzte
sich durch und blieb auch nach dem Militärdienst in München. 1903 starb der Vater und Paul Renner erbte etwas Geld.
1904 heiratete er in München Anna Sedlmayr und zog mit ihr für 1 Jahr nach Rom.
3 Kinder gingen aus dieser Ehe hervor, Luise, Otto und Christine. Zurück in München arbeitete Renner als freischaffender
Maler. Es entstanden zahlreiche Zeich-
nungen, Aquarelle und Ölgemälde, die
unter dem Einfluss der französischen Impressionisten standen. Trotz seines Talents blieb Renner der große Durchbruch
und der künstlerische Erfolg als Maler
verwehrt. Deshalb arbeitete er nebenher
als freier Illustrator, unter anderem für
das satirische Magazin Simplicissimus.
Als er 1906 Vater wurde, drängte es Renner, das Nebengeschäft zum Hauptberuf
zu machen und so nahm er 1907 eine
feste Anstellung als Illustrator beim Georg Müller Verlag in München an. Neugierig und akribisch zugleich arbeitete sich
Renner praktisch und theoretisch in die
Buchgestaltung und Typografie ein. Es erschienen hunderte Bücher des Georg
Müller Verlags in dieser Zeit, die durch
seinen typografischen Stil geprägt waren.
Gleichzeitig hatte Renner große Freude
daran, sein Wissen weiterzugeben. 1910
trat er dem Deutschen Werkbund bei. Die
Forderungen der Werkbündler nach Maßhalten, nach Zweckmäßigkeit und Gefälligkeit entsprachen genau seinem Weltbild. Von diesem Geist getragen, gründete er 1911 zusammen mit Emil Preetorius
die Münchener Schule für Illustration und
Buchgewerbe, die 1914 mit der Debschitzschule, einer Privatschule für freie und angewandte Kunst, zu den Münchener Lehrwerkstätten vereinigt wurde und deren
Stellvertretender Direktor er bis 1919,
unterbrochen durch die Kriegsjahre, war.
Den 1. Weltkrieg erlebte Paul Renner als
Ausbilder in einer Lehrkompanie für Feldartilleristen, für die er auch Lehrmaterialien verfasste. 1919 kaufte er sich ein Haus
in Hödingen am Bodensee, das zunächst
als Feriendomizil genutzt wurde und später zum Rückzugsort und Altersruhesitz
für Paul Renner wurde.
Steile Karriere
In den 20er Jahren wuchs Renners Ruf als
Lehrer und Autorität in Sachen Typografie
beträchtlich und eilte ihm bald voraus. Ab
1922 gestaltete er die Bücher der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart und im
gleichen Jahr erschien auch sein Lehrbuch
„Typographie als Kunst“. 1924 bat ihn der
Drucker und Verleger Jakob Hegner, eine
moderne Schrift zu entwerfen. Es ent-
stand die erste Fassung der Futura, die ihren Namen von Renners Freund Prof. Dr.
Fritz Wichert, Direktor der Städtischen
Kunstschule Frankfurt, erhielt. Die Bauersche Schriftgießerei in Frankfurt, bei der
die Schrift erschien, und auch Renner bewarben die Futura, die in Frankreich als
Europe herauskam, als die „Schrift unserer Zeit“, als Symbol für eine ganze Epoche – ein Anspruch, der sich später bewahrheiten sollte.
Im Jahr 1925 überredete Fritz Wichert Paul
Renner, in Frankfurt nicht nur seine Schriften gießen zu lassen, sondern auch zu
unterrichten. Renner willigte ein und wurde Leiter des Fachbereichs Kommerzielle
Kunst und Typografie der Frankfurter
Kunstschule. Bereits im Herbst desselben
Jahres kehrte er allerdings wieder nach
München zurück, weil ihn der nächste Ruf
in ein akademisches Amt ereilte. Er wurde
Oberstudiendirektor und Leiter der Grafischen Berufsschule in München. Am
1. 2. 1927 wurde Paul Renner sogar zum 1.
Direktor der neu gegründeten Münchner
Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker berufen, einer Gewerbeschule des
Deutschen Buchdrucker-Vereins für künftige Betriebsleiter. Diese Institution erlangte Weltruf unter der Führung von Paul
Renner, der sie bis 1933 leitete.
Im typografischen
Kriegszustand
Zu jener Zeit, in den 20er und 30er Jahren,
tobte ein Streit unter den Typografen, der
sich aus der unterschiedlichen Weltsicht
der Anhänger der verschiedenen Lager erklärte und aus heutiger Sicht kaum noch
nachzuvollziehen ist. Damals revolutionierte die moderne Kunst die Typografie,
insbesondere der Futurismus, der Dadaismus und der Konstruktivismus. Junge
Gestalter wie El Lissitzky, Laszlo MoholyNagy, Marcel Breuer, Jan Tschichold, Hermann Zapf, Adrian Frutiger, Paul Renner
und Kurt Schwitters distanzierten sich
von der kleinbürgerlichen Typografie der
Verlagshäuser und Druckereien, deren typografische Kultur sich an gebrochenen
Schriften oder Historismus und Jugendstil
orientierte. Sie propagierten und ideologisierten eine „Moderne Neue Typogra-
phie“, die „Grotesk-Typographie“, die die
junge Industriegesellschaft, den Fortschritt, die sozial orientierte proletarische
Fraternisierung und den Internationalismus symbolisierte. Es herrschte ein typografischer Kriegszustand zwischen
Grotesk- und Antiqua-Ideologen, der um
1924 seinen Höhepunkt erreichte. Für die
Nazis und deren kulturpolitische Organisation „Kampfbund für deutsche Kultur“
war die Grotesk Ausdruck eines „Kulturbolschewismus“, den sie mit allen Mitteln
bekämpften. Grotesk-Schriften galten als
„entartet“. In typografischer Hinsicht
wurde „Entartung“ als die Tendenz zu abstrakt geformten Buchstaben und einer
insgesamt mechanisch wirkenden Gestaltung definiert.
In dieser Situation verfasste Paul Renner
die Kampfschrift „Kulturbolschewismus?“, die 1932 bei Renners Freund Eugen Rentsch in Zürich erschien, weil das
Buch in Deutschland bereits nicht mehr
zu publizieren war. Der Inhalt war brisant,
denn das Buch enthielt auf 62 Seiten eine
flammende Verteidigung der Moderne in
Architektur und bildender Kunst und forderte Liberalität und Toleranz. Damit
machte Paul Renner sich endgültig zum
Feind der braunen Horden, die im Januar
1933 die Macht im Deutschen Reich an
sich rissen und die Fraktur bevorzugten
und zur „deutschen“ Schrift erklärten.
Alle grafischen Bereiche wurden in die so
genannte „durchgreifende moralische
Sanierung des Volkskörpers“ einbezogen
und unterschiedliche Fraktur-Schriften
sollten nun den vorherrschenden Größenwahn des 3. Reichs symbolisieren. Am
3. 1. 1941 wendete sich das Blatt jedoch,
als die Nazis die Fraktur als offizielle deutsche Schrift absetzten und sie sogar als
„Schwabacher Judenletter“ verunglimpften. Dieser radikale Richtungswechsel
hatte allerdings keinerlei ideologische
Hintergründe, sondern ganz praktische.
Der wahre Grund war, dass der Gebrauch
dieses Schrifttyps zu Verständigungsschwierigkeiten in den besetzten Gebieten führte.
Verbannung trotz höchster Ehren
Das Jahr 1933 war für Paul Renner der absolute Scheitelpunkt seines Lebens. Der
„Völkische Beobachter“ hatte Renner
gleich nach Erscheinen des „Kulturbolschewismus?“ zum Gegenstand des öffentlichen Hasses gemacht und im April
1933 wurde Renner, schon zuvor ein persönlicher Feind des neuen Innenministers
Wilhelm Frick, ohne richterlichen Beschluss als „Kulturbolschewist“ denunziert, als Schulleiter suspendiert und inhaftiert. Allerdings konnte er schon nach
einem Tag nach Intervention eines einflussreichen Freundes das Gefängnis wieder verlassen. Renner war verbittert und
ging in die innere Emigration. Er zog sich
in sein Haus am Bodensee zurück, von wo
er zwar weiter Fachartikel schreiben durfte, die Lehrtätigkeit aber war ihm fortan
untersagt.
Trotz der Suspendierung wurde Renner
vom Werkbund und dem Auswärtigen
Amt beauftragt die deutsche Abteilung
auf der 5. Triennale einzurichten, die das
grafische Schaffen in Deutschland repräsentieren sollte. Die Ausstellung war ein
großer Erfolg und Renner wurde mit dem
„Gran Diploma d´honore“ und dem Offizierskreuz der italienischen Krone ausgezeichnet. 1937 wurde er sogar in die Jury
der Pariser Weltausstellung berufen, danach wurde es still um ihn. Renner malte
wieder viel, schrieb an seiner (unvollendeten) Autobiografie und veröffentlichte
das Buch über Schrift- und Buchgestaltung „Die Kunst der Typografie“, das erstmals 1940 erschien.
Im Sommer 1944 wurde Paul Renner in
die Ereignisse um das Hitler-Attentat der
Widerstandsgruppe um den Grafen Stauffenberg verwickelt. Seine älteste Tochter
Luise, Mutter von fünf Kindern, war mit
dem Agrarhistoriker Dr. Heinz Haushofer,
Ministerialrat und Honorarprofessor an
der TH München, verheiratet. Heinz Haushofers Bruder, Dr. Albrecht Haushofer, gehörte zum Kreis der Verschwörer und
wurde nach dem Attentat am 20. Juli 1944
verfolgt. Da man seiner nicht sofort habhaft werden konnte, nahm man die ganze
Familie, also auch Renners Tochter Luise,
in Sippenhaft. Am 7. Dezember wurde Albrecht Haushofer aufgegriffen und Luise
kam daraufhin frei. Am 23. April 1945 wurde Albrecht Haushofer im Zuchthaus Berlin-Moabit ohne Gerichtsurteil hingerichtet und sein Bruder Heinz kam am selben
Tag frei und konnte zu seiner Familie zurückkehren. Paul Renner konnte aufatmen, doch Deutschland lag in Trümmern.
Im Jahr 1947 veröffentlichte Renner als
letzte große Arbeit das Buch „Ordnung
und Harmonie der Farben“. 1948 erlitt er
einen Schlaganfall, im November 1949
starb seine Frau Anna. Von nun an lebte
Paul Renner nur noch im Sommer in Hödingen, die Winter verbrachte er in einem
Münchner Hotel. Am 25. 4. 1956 starb
Paul Renner in Hödingen, wo er auch beigesetzt wurde.
Sein Meisterwerk, die Futura, ist zu einer
der verbreitetsten und am häufigsten kopierten Schriften der Menschheit geworden. Damit hat sich der klarste und rationalste Gedanke durchgesetzt und seinen
Schöpfer unsterblich gemacht.
y
Paul Renner
einer der führenden Köpfe der Typografie
des 20. Jahrhunderts.
Die karolingische Minuskel war das Ergebnis der in den Kanzleien und Schreibschulen Karls des Großen (2. 4. 747–28. 1. 814) unternommenen Schreibreform. Die
Schrift war im ganzen europäischen Abendland verbreitet. Von ihr stammen die
modernen Kleinbuchstaben ab.
Die Schwabacher Fraktur wurde von den Nazis zunächst zur „deutschen Schrift“,
später zur „Judenletter“ erklärt. (Abbildungen aus: Paul Renner, „Die Kunst der Typografie“, Reprint, MaroVerlag, Ausgsburg, 2004)
Kerstin und Jörg Allner
Einige der bekanntesten
Schriften von Paul Renner:
Futura (1928)
Plak (1928)
Futura black (1929)
Futura light (1932)
Futura Schlagzeile (1932)
Ballade (1937)
Renner Antiqua (1939)
Steile Futura (1952)
Paul Renner war auch ein
guter Zeichner, wie diese beiden Frauenakte beweisen.
Das Foto unten zeigt einen
kleinen Ausschnitt der Ausstellung „Paul Renner, dem
Schöpfer der Futura, zum 125.
Geburtstag“ im Harzmuseum
Wernigerode, 1. 10.–15. 11.
Fotos: Stadt Wernigerode
| Berühmte Typografen |
| Neville Brody |
Neville Brody ist ein TypoSuperstar, und sein Werk
zählt zu den Klassikern der
Moderne. Sein „Brody-Style“
definierte in den 80er Jahren
die internationalen Standards
im Zeitschriften-Design neu,
seine Plattencover für die
britische Anarcho-Elektronik-
Design-Popstar
band Cabaret Voltaire sind legendär, und die von ihm entworfenen Schriften dürfen in
keiner Mac-Standardsoftware
fehlen. Ob Mick Jagger in den
60ern, David Bowie in den
70ern oder Neville Brody in
den 80ern und 90ern, Großbritanniens Kreative sind exzentrisch und provozierend.
Design von der Insel vereint Innovation
und professionelles Marketing zu immer
neuen „Geschmackswellen“, die unaufhaltsam ihre Kreise um die Erde ziehen.
Auch der Brody-Look verbreitete sich
rasend schnell über den Planeten und
prägte entscheidend das Gesicht der 80er
und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nie
zuvor wurden visuelle Innovationen aus
der Typografie so schnell und so umfassend aufgegriffen und kopiert. Da man
dieses Phänomen eigentlich nur aus dem
Bereich der Popmusik – beginnend mit
den Beatles und den Stones – kannte,
nennt man Brody auch den ersten Popstar
des Grafikdesigns.
Sie sind zunächst junge, nonkonformistische Künstler in
einer Subkultur, sie reüssieren und zählen schließlich
selbst zum Establishment.
| 32
|
Musik
Neville Brody, der am 23.4.1957 in London zur Welt kam und auch dort aufwuchs, wollte eigentlich nach dem Schulabschluss Kunst studieren, besann sich
dann aber und nahm 1976 ein Grafik-Design Studium am altehrwürdigen „London College of Printing“ auf. Der akademische Lehrbetrieb mit seinen festen Abläufen und tradierten Lehrinhalten stand zu
jener Zeit in einem extremen Gegensatz
zu einer Jugendkultur, die sich mehr
durch Anarchismus, Punk und New Wave
auszeichnete, als dass sie durch Folgsamkeit glänzte. Damit waren die Spannun-
PRINT & PRODUKTION 3/2004
|
gen zwischen den Autoritäten und der
Avantgarde am College vorprogrammiert
und alsbald hatte auch der Student Neville Brody handfesten Ärger mit der Hochschulleitung. Brody hatte auf einem Entwurf für eine Briefmarke für die britische
Post den Kopf der Queen derart verdreht,
dass die Professoren darin den erfüllten
Straftatbestand der Majestätsbeleidigung erkannten. Damit war klar, dass Brody bereit war, alles in Frage zu stellen,
was er dann auch in jeder erdenklichen
Form tat. Er löste sich vollkommen von
den Konventionen des tradierten GrafikDesigns und erklärte für sich sämtliches
Regelwerk für obsolet. Seine Arbeit beschäftigte sich von nun an mit der Evolution einer neuen, visuellen Sprache, die
alles hinterfragt und nach einem Dialog
über die Rolle des Designs ruft. Charakteristisch für Brodys damaligen Stil war der
dekorative Einsatz von Ziffern und die Verwandtschaft zur Punk-Strategie, sich
Symbole und Zeichen anzueignen und
umzucodieren und Fotografie als Muster
oder grafisches Element einzusetzen.
Trotz aller ideologischen Radikalität führte Brody sein Studium jedoch brav zu
Ende. Neben dem Studium hatte er bereits für das freie Plattenlabel „Fetish
Records“ eine ganze Reihe von Plattencovern für Bands der Punk- und New-
Wave-Szene entworfen. Dabei entstanden experimentelle Designs, die mit den
nihilistischen Texten der Musiker korrespondierten. Man kann überhaupt mit Fug
und Recht behaupten, dass Musik generell einen sehr starken Einfluss auf Brodys
Arbeit hat. Nur sind es heute Jazzklänge,
zu denen Brody seinen Mac bedient.
The Face: ein Magazin
setzt einen neuen Standard
Neville Brody ging nach Abschluss seines
Studiums im Jahr 1981 von den Plattencovern zur Gestaltung von Magazinen über.
Sein Markenzeichen war damals ein rigoroser typografischer Fanatismus. Als Art
Director des englischen Jugend- und Modemagazins „The Face” (1981-1986) revolutionierte er die Art, in der Designer und
Leser mit dem Medium „Schrift“ umgingen. Viel Applaus erhielt Brody für seine
brandneue Idee, Schriften in das Design
sowohl einzubinden, als auch untereinander zu kombinieren. Anstatt das damals
übliche Letraset zu benutzen, zeichnete
Brody seine Headlines selbst, und weil er
mit den Fonts der 70er Jahre seine DesignVorstellungen nicht verwirklichen konnte,
ging er noch einen Schritt weiter und begann eigene Schriften zu entwerfen. Die
bekanntesten davon sind die Arcadia, die
Insignia, die Industria Solid und die Insig-
Foto: www.researchstudios.com
2003: Wandgestaltung für die Bar des
Institutes of Contemporary Arts in London.
Foto: www.researchstudios.com
nia Inline. Brody dazu in einem Interview:
„Das erste Alphabet, das ich entwickelt
habe, war sehr geometrisch, streng und
kaum gefühlsbetont. Es erinnerte an die
Schriftengestaltung der 30er Jahre, war
also auf eine Art faschistisch, und ich benutzte es als Kommentar auf den Zustand
des Landes, wie ich ihn sah.“ Brodys
Schriften waren alles andere als perfekt
gezeichnet und teilweise auch unharmo-
nisch ausgeglichen. Dieser anarchistische
Effekt war zum Teil beabsichtigt, andererseits stand ihm auch außerordentlich wenig Zeit zur Verfügung. Dazu Brody: „Ich
hatte gerade mal anderthalb Stunden, um
einen Vierseiter zu entwickeln.“ Da der
rauhe Look seiner Schriften exakt dem
Zeitgeist entsprach, wurde das Design
bald zu den meist imitierten Vorlagen für
Zeitschriften, Werbung und Grafikdesign.
Ende der 80er Jahre war der Marketingund Werbemarkt bereits übersättigt. Diese Entwicklung hing mit den technologischen Fortschritten im Computerbereich
zusammen, durch die Computer erschwinglich, Layoutprozesse insgesamt
vereinfacht und einem breiteren Publikum zugänglich wurden. Grafik-Design,
Typografie und Layout entwickelten sich
zu einer neuen Form der „Alltagskultur“
und zur „Kunst“.
1987 gründete Neville Brody sein erstes
eigenes Design-Studio, das sich heute
Research Studios nennt und Dependancen in London, Paris, Berlin und demnächst auch in New York unterhält. Eines
der ersten Projekte mit dem eigenen
Team war die Arbeit für das Magazin
„Arena“ (1987–1990), mit der Neville
Brody das Publikum auf eine völlig unerwartete Weise überraschte, indem er
den genau gegensätzlichen Kurs zu seinem Frühwerk einschlug. In „Arena“
setzte er plötzlich Typografie und GrafikDesign in nahezu minimalistischer und
undekorativer Weise ein. Damit widersetzte sich Brody bewusst der im Designbereich von ihm selbst mit ausgelösten vorherrschenden No-Order-Hysterie,
was wiederum zu einer eigenen Hysterie, der „mein-Gott-was-macht-er-dennjetzt-Hysterie“ führte.
|
Foto: www.bangertverlag.de
Die Layouts des Magazins „The Face“ begründeten Brodys Ruhm und wurden oft und gern kopiert.
1996/97: Das Cover des „Trendbuchs für
neues Grafikdesign G1“.
Die Grafiksprache
des Neville Brody
1988 veröffentlichte Brody sein erstes
Buch „The Graphic Language of Neville
Brody“, das zu den Schlüsselwerken zur
Popkultur der 80er gehört und sich zum
bestverkauften Design-Buch aller Zeiten
entwickelte. Zeitgleich zur Buchveröffentlichung eröffnete Brody in der Twentieth
Century Gallery im Victoria and Albert Museum in London eine Ausstellung unter
demselben Namen, die dann später in vielen Städten der Welt präsentiert wurde.
Durch diesen musealen Ritterschlag hatte
das Werk des erst 31-jährigen Designers
und Typografen endgültig eine globale
Bedeutung erlangt – ein typografisches
Frühwerk, das man bis dato für nicht möglich gehalten hatte. Es folgten Anfragen
aus aller Welt, so von den italienischen
Hochglanzmagazinen „Per Lui“ und „Lei“
und dem französischen Magazin „Actuel“. In Österreich eröffnete Brody die
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| Berümte Typografen | Teil 8 |
| Neville Brody |
1999: Poster zur FuseAusstellung in Tokio.
1994: Cover des zweiten Teils der „Grafiksprache des Neville Brody“.
Foto: www.researchstudios.com
1991: Aus Hunderten von Entwürfen für
die niederländische Post PTT wurden
schließlich drei ausgewählt und als Briefmarken vertrieben.
Foto: www.researchstudios.com
Foto: www.researchstudios.com
Foto: www.researchstudios.com
Arcadia
FF Autotrace Double
FF Autotrace Five
FF Autotrace Nine
FF Autotrace One
FF Autotrace Outline
FF Blur
FF Dirty Four
FF Dirty One
FF Dirty Seven One
FF Dirty Seven Two
FF Dirty Six One
FF Dirty Three
FF Dome
FF Dome Headline
FF Gothic One One
FF Gothic One One Condensed
FF Gothic One Two
FF Gothic One Two Condensed
FF Gothic Two One
FF Gothic Two Two
FF Harlem
FF Harlem Slang
Industria Inline
Industria Solid
Insignia
FF Pop Led
FF Pop Pop
FF Tokyo One
FF Tokyo One Solid
FF Tokyo Two
FF Tokyo Two Solid
FF Typeface Four One
FF Typeface Four Two
FF Typeface Seven
FF Typeface Six
FF World One
FF World Three
FF World Two
1992, CI des österreichischen
Staatsfernsehens ORF.
1991-1994, CI des Pay-TV-Senders Premiere.
Organisation „design-for-television company“, in Japan arbeitete er eng mit den
CD-Rom-Herstellern „Digitalouge“ zusammen.
Die 90er: weltweite Zeichen
1989 hat Erik Spiekermann mit seiner
Frau Joan in Berlin das Schriftenversandhaus Fontshop (www.fontshop.de) gegründet. Recht bald stellte sich heraus,
dass es auch eine rege internationale
Nachfrage nach modernen Schriften gab
und so hob Spiekermann 1990 gemeinsam mit Neville Brody Font Shop International (www.fontshop.com) aus der Taufe. Brody wurde Art-Director und Kopf des
typografischen Experiments Fuse. Dabei
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handelt es sich um „Pakete“ mit experimentellen digitalen Schriften und Anwendungsbeispielen, wie Poster oder Flyer,
die anfangs viermal jährlich veröffentlicht
wurden. Am 1. Mai 1991 erschien das Paket Nr. 1, „Invention“, das Brody zusammen mit Jon Wozencroft zusammengestellt hatte. In der Folge erschienen noch
17 weitere Fuse-Pakete, an denen so namhafte Typografen wie David Carson, Jeffrey Keedy, Rick Valicenti und Tibor Kalman mitwirkten und die so klingende Namen trugen wie „Religion“ (Fuse 8), „Pornography“ (Fuse 11) oder „Genetics“
(Fuse 16). Inzwischen erscheint Fuse nur
noch sporadisch, das zuletzt erschienene
Paket „Secrets“ (Fuse 18) aus dem Jahr
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2000 ist wieder einmal von Neville Brody
selbst produziert worden. Dazu hat er
auch die Schrift „ F Lies“ beigesteuert.
1994 erschien der zweite Teil des Grafikdesignbuches „The Graphic Language of
Neville Brody 2“ unter der Ägide von Jon
Wozencroft. Das Buch ist nicht nur ein
sehr persönlich geschriebenes Porträt
des Grafikers Brody, sondern auch ein
wichtiges Zeitdokument moderner Grafik
wegen der über 800 Arbeitsbeispiele aus
den verschiedensten Anwendungsbereichen vom Zeitschriftendesign bis zum
Entwurf neuer Schriften.
1995 veröffentlichte Brody mit seinem
Team in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift
Max eine 17seitige Strecke über London.
Foto: www.bangertverlag.de
SCHRIFTEN VON
NEVILLE BRODY
Die Aufgabenstellung der Redaktion lautete: „Visualisiert eure Stadt – mit völlig
freier Hand“ Das Ergebnis war eine Synthese aus Pfeilen, Flächen, Buchstaben
und Ziffern, kombiniert mit Frames und Videosequenzen, in einem animierten Layout, wie man es seinerzeit 1:1 auch auf
MTV und VIVA zu sehen bekam. Mit diesem Internet-Design auf Papier deutete
Brody bereits an, wem er von nun an mehr
Zeit widmen wollte: dem TV- und InternetDesign. So gestaltete Brody mit seinem
Team inzwischen die Corporate Identity
für Fernsehsender wie dem deutschen
Kabelkanal Premiere und dem Österreichischen Staatsfernsehen ORF. Außerdem entwarf er Briefmarken für die holländische Post und Logos für das Haus
der Kulturen der Welt in Berlin, Parco in
Japan und Greenpeace in England.
1996/97 veröffentlichte Neville Brody zusammen mit Lewis Blackwell „das Trendbuch für neues Grafikdesign G1“. In diesem Zusammenhang fertigte er Arbeiten
für die Deutsche Bank und Macromedia
an. Der Name Brody ist inzwischen ein
globaler Markenname. Brody betreibt seine eigene Layoutfirma, vertreibt seine eigenen Schriftfonts in aller Welt und prägt
die Images internationaler Kunden wie
Swatch, Nike, und The Body Shop. Sein
Schwerpunkt liegt heute auf dem Design
elektronischer Kommunikation und gemeinsam mit seinem Designteam entwickelt er unter anderem interaktive Oberflächen für das World Wide Web. Damit
hat es Brody geschafft mehr als 20 Jahre
lang permanent an der Weltspitze der Designer und immer auf der Höhe der Zeit zu
sein, auch als Schriftentwickler und Partner von Font Shop International in Berlin
und Font Works in London. Als Trendsurfer
erster Güte wird er wohl auch auf den Kronen der nächsten und übernächsten Geschmackswellen reiten. Kurzum: es lohnt
sich diesen Mann im Auge zu behalten. y
Kerstin und Jörg Allner
| Berühmte Typografen | Teil 10|
| Otl Aicher |
Foto: ERCO Leuchten GmbH, www.erco.com
Kritischer Blick:
Otl Aicher mit einem
Mitarbeiter von ERCO
am Leuchttisch.
Otl Aicher prägte fast
17 Jahre lang das
Erscheinungsbild des
Unternehmens.
Otl Aicher war einer der erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Gestalter des
20. Jahrhunderts. Sein Leben
Dackel in Regenbogenfarben:
Auch Waldi, das Maskottchen
der Olympiade, wurde nach den
CI-Vorgaben von Olt Aicher
produziert.
Der Gestalter
von Ulm
und Werk steht in enger
Verbundenheit zu der
Schwabenhauptstadt Ulm,
der Familie Scholl und der
Entwicklung einer neuen
Ausbildungsform für junge
Gestalter, dem so genannten
„Ulmer Modell“. Sein
Meisterwerk war die
Gestaltung des
Erscheinungsbilds der
XX. Olympischen Spiele in
München im Jahre 1972, den
„fröhlichen“ Spielen, die, wie
Otl Aicher, tragisch endeten.
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Jugend in Ulm
Otto, genannt Otl, Aicher wurde am
13.Mai 1922 in Ulm-Söflingen geboren.
Vater Anton Aicher arbeitete zunächst als
Fabrikarbeiter, holte später auf der
Abendschule sein Abitur nach und machte sich 1932 selbständig. In der Zeit des
Nationalsozialismus heranwachsend,
weigerte sich Otl Aicher konsequent, sich
vom NS-Staat vereinnahmen zu lassen.
Eine Haltung, die seine Familie, die dem
katholischen Widerstand nahe stand,
unterstützte. Otl weigerte sich der HitlerJugend beizutreten, was zur Konsequenz
hatte, dass er nicht zum Abitur zugelassen wurde. In dieser Zeit war es für Aicher
besonders wichtig, sich mit Freunden
auseinanderzusetzen, um einen Weg am
Rande des Obrigkeitsstaates zu finden.
Im Herbst 1939 schloss er eine enge
Freundschaft mit den Geschwistern
Scholl, deren älteste Schwester Inge er
1952 heiratete und die die Mutter der fünf
Aicher-Kinder Eva, Florian, Pia, Julian und
Manuel ist. Der Ulmer Aicher-SchollFreundeskreis war sich in seiner freigeistigen Grundhaltung und der Ablehnung
des NS-Regimes einig, obgleich Hans und
Sophie Scholl bis 1935 selbst begeisterte
Nazis gewesen waren. Doch spätestens
seit November 1937, als Hans, Inge, Werner und Sophie Scholl kurzzeitig wegen
„bündischer Umtriebe“ verhaftet worden
waren, hatte die Familie mit dem NS-System gebrochen.
Der Freundeskreis fand sogar während
des Krieges einen Weg, durch Rundbriefe
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miteinander zu kommunizieren und ihre
Gedanken auszutauschen. Bis 1942 ließen sie dazu das von Aicher entworfene,
selbst gefertigte Diskussionsblatt „Windlicht“ zirkulieren. Dann wurde die Gefahr
zu groß, da sie von den Nazis als „Bündische Betätigung“ hätte interpretiert werden können, was damals mit 16 Jahren
Gefängnis bestraft wurde. Hans Scholl
und seine Schwester Sophie gründeten in
München mit einer Handvoll Mitstreitern
die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“,
die regimekritische Flugblätter verfasste,
vervielfältigte und versandte. Auch Otl Aicher verurteilte das NS-System, war aber
zurückhaltend aus Angst um das Leben
seiner Familie und Freunde. So hielten
Hans und Sophie Scholl ihre Aktivitäten
vor den anderen geheim, um sie nicht in
Gefahr zu bringen. Am 18.02.1943 wurden
Hans und Sophie Scholl bei der Flugblattverteilung in der Münchner Universität
verhaftet. Am 22.02. erging das Todesurteil des Volksgerichtshofs, woraufhin
Christoph Probst, Sophie und Hans Scholl
sofort hingerichtet wurden. Nach der Hinrichtung wurde die Familie Scholl vorübergehend in „Sippenhaft“ genommen.
Vater Robert Scholl wurde unter anderem
wegen Hörens der BBC zu 18 Monaten
Haft verurteilt. In der Ulmer Lokalpresse
eröffnete der Kreisleiter unter der Überschrift „Wie lange noch Scholl?“ eine gnadenlose Hetzkampagne gegen die Familie, die daraufhin in den Schwarzwald
übersiedelte. Aicher, der im Felde stand,
hielt den Kontakt zu Inge Scholl mit der
Feldpost aufrecht. So erfuhr er von den
Vorfällen und wusste, wohin er gehen
musste, als er gegen Kriegsende, im Frühjahr 1945, desertierte. Im Schwarzwald
traf er sich mit der Familie Scholl, und gemeinsam versteckten sie sich auf einem
Bauernhof.
Aufbau und Neuanfang in Ulm
Nach dem Zusammenbruch kehrte die
Gruppe nach Ulm zurück, wo die Amerikaner Robert Scholl zum Oberbürgermeister
machten. In der Zeit des Wiederaufbaus,
der Neuorganisation des Staates und des
öffentlichen Lebens sahen Inge Scholl
und Otl Aicher die Möglichkeit, gemeinsam mit Gleichgesinnten an der Neugestaltung des Landes mitzuwirken. Sie veranstalteten Seminare, in denen sie über
neue Modelle und Staatsformen diskutierten.
Dem Muster dieser ersten Veranstaltungen folgend organisierten sie immer wieder derartige Zusammenkünfte, um Zeitthemen zu diskutieren und Lösungen zu
erarbeiten. Das erste große gemeinsame
Projekt war die Gründung der Volkshochschule Ulm, deren Leitung Inge Scholl
übernahm. Aicher prägte von Anfang an
das Erscheinungsbild der „Ulmer vh“,
gleichzeitig studierte er 1946/47 in München Bildhauerei. Allerdings empfand er
die Kunst im Allgemeinen und die Bildhauerei im Besonderen alsbald als zu indirekte Mittel der Kommunikation. Aicher
wollte direkter kommunizieren, Botschaften übermitteln und Systeme schaffen.
| Otl Aicher |
| Teil 10 | Berühmte Typografen |
Fotos: ERCO Leuchten GmbH, www.erco.com
Piktogramme: Der japanische
Grafiker Katsumi Masaru schuf
erstmalig 1964 für die
Olympischen Spiele in Tokio ein
Bildzeichensystem, das die einzelnen Sportarten kennzeichnete.
Für die Olympischen Spiele 1972
vereinfachte Otl Aicher diese
Piktogramme. Dies war der Auftakt
für die Entwicklung eines internationalen Verständigungssystems
im Auftrag der Firma ERCO.
Olympia forever: Alles über die
Olympiade 1972 in München findet
sich unter www.olympia72.de.
Also brach er sein Studium ab und eröffnete sein eigenes grafisches Atelier in
Ulm. Schon bald entwickelte er ein systematisches grafisches System für die vh.
So wurden z. B. die Themen der Donnerstags-Vorträge auf hochformatigen Plakaten angekündigt, während die allgemeinbildenden und praktischen Kurse auf quadratischen Formaten bekannt gegeben
wurden. Die Plakate für einen Monat bildeten jeweils eine gestalterische Einheit
durch Farbe und formale Elemente.
Die HfG, eine Episode in Ulm
Im Gedenken an ihre Geschwister Sophie
und Hans Scholl gründete Inge Scholl
1950 die Geschwister-Scholl-Stiftung, die
zur Trägerin der künftigen Hochschule für
Gestaltung Ulm wurde. Nach einer Anschubfinanzierung durch die Amerikaner
in Höhe von einer Million Mark, gegeben
unter der Maßgabe, dass deutsche Mittel
in gleicher Höhe beigesteuert wurden,
hob Inge Aicher-Scholl 1953 zusammen
mit ihrem Mann Otl Aicher und Max Bill,
die Hochschule aus der Taufe. Otl Aicher
wurde einer der wichtigsten Dozenten
und von 1962 bis zur Schließung 1968
auch Rektor der Hochschule. Mit der
Gründung der HfG löste Otl Aicher sein
Atelier auf. Alle Aufträge wurden nun von
den Studenten bearbeitet. Ein Projekt der
HfG machte die Hochschule besonders
bekannt: Die Studenten des Fachbereichs Produktgestaltung entwickelten
unter der Leitung von Hans Gugelot Radiogeräte für die Firma Braun. Diese wurden 1955 erstmalig präsentiert und sorgten für Aufsehen. Otl Aicher entwarf die
Skalen der Geräte, unter anderem auch
für den Plattenspieler SK 4, der als
„Schneewittchen-Sarg“ in die Designgeschichte einging.
1963, nach 10-jährigem Bestehen, hatten
die Dozenten an der HfG ein Ausbildungsprogramm für Gestalter entwickelt, das
durch einen hohen Praxisbezug und kurze
Studienzeiten als Vorbild für die Reorganisation an vielen deutschen Kunst- und
Werkkunstschulen diente und als Ulmer
Modell bezeichnet wurde. Teil des Modells waren so genannte Entwicklungsgruppen, die große Projekte selbstständig betreuten. Otl Aicher, Hans Gugelot,
Walter Zeischegg und Tomás Maldonado
waren feste Leiter dieser Gruppen. Otl Aichers Gruppe E 5 bekam 1962 von der
Deutschen Lufthansa den Auftrag die gesamten Werbemittel, Flugscheine, Flugpläne und Gepäckanhänger zu überarbeiten.
Im selben Jahr wurde Otl Aicher Rektor
der HfG und Gastdozent an der Yale University und in Rio de Janeiro. Ende 1964
wurde die E 5 aufgelöst und Otl Aicher
richtete sich erneut ein eigenes Büro ein.
In den folgenden Jahren kam es in der
Hochschule zu Auseinandersetzungen
zwischen den Mitgliedern des gestalterischen Bereichs, zu denen auch Otl Aicher
gehörte, und den Mitgliedern des wissenschaftlichen Bereichs. Dabei ging es um
die Frage, inwieweit sich Gestaltungsprozesse systematisieren ließen. Darüber
kam es zu großen Zerwürfnissen sowohl
innerhalb des Lehrkörpers, als auch mit
der Landesregierung, die schlussendlich
zur Schließung der unbequemen Hochschule führten. Die Teilnahme am wirtschaftlichen Aufbau hatte Aicher nämlich
nicht daran gehindert, sich immer wieder
politisch zu engagieren. Die Erfahrungen
|
mit dem NS-Staat hatten ihn zu einem
entschiedenen Verteidiger bürgerlicher
Entscheidungsfreiheit gemacht. Für die
Ostermärsche, die seit den 1950er Jahren
veranstaltet werden, entwickelte er ein
professionelles Erscheinungsbild. Anstatt
handgemalter Transparente wurden
Schriftplakate in einheitlicher Gestaltung
benutzt. Die weiße Taube, das Symbol der
Friedensbewegung, erschien als exakt
konstruiertes Zeichen auf den Plakaten
und Fahnen. Mit dem sachlichen und
nicht von linken Symbolen belasteten Stil
erhoffte man sich Unterstützung in bürgerlichen Kreisen. Außerdem konzipierte
Otl Aicher auch zahlreiche Plakate gegen
die Stationierung von Atomraketen in
Neu-Ulm. Nach dem 1968er Ostermarsch,
bei dem linke Studenten mit roten Fahnen
und Ho-Chi-Min-Rufen den Auftritt bestimmten, zogen sich Aicher und andere,
die aus dem bürgerlichem Lager stammten, von den Ostermärschen zurück.
Nichtsdestoweniger beteiligten sich Aicher und seine Frau auch weiterhin an Demonstrationen für Frieden und Abrüstung.
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| Berühmte Typografen |
| Otl Aicher |
Foto: www.sportmuseum-koeln.de
Otl Aicher museal: Im Deutschen Sportund Olympia-Museum in Köln findet sich
unter anderem eine reichhaltige
Sammlung von Olympia 1972 Objekten,
die in einer Dauerausstellung gezeigt
werden.
Schriften von Otl Aicher
RotisSansSerif
RotisSansSerif Bold
RotisSanSerif Extra Bold
RotisSansSerif Italic
RotisSansSerif Light
Olympische Spiele
in München 1972
Der Höhepunkt seiner Karriere war der
Auftrag, das visuelle Erscheinungsbild
der XX. Olympischen Spiele 1972 in München zu gestalten, den Otl Aicher und seine Mitarbeiter 1967 vom olympischen Organisationskomitee erhielten. Die besondere Aufgabe war es, ein neues Bild von
Deutschland zu zeigen und der Welt eine
Korrektur des Bildes vom Nazi-Deutschland zu liefern. Die Münchner Spiele sollten musisch und unpolitisch sein. Otl Aicher entwickelte ein Gesamtkonzept in einem schnörkellosen, geradlinigen und
prägnanten Stil. Er vermied die Farben
Schwarz, Rot und Gold und erfand stattdessen die Regenbogenspiele, heiter und
gelöst – so, wie die Spiele auf die Welt wirken sollten. Neben der ästhetischen hatten die Farben aber auch eine ordnende
Funktion: Blau signalisierte Sport, Grün
Presse, Orange Technik und Silber Protokoll. Als Schriftart wurde die von Adrian
Frutiger entwickelte klare, leichte Groteskschrift Univers gewählt. Ein weiterer
Teil des Gestaltungskonzeptes war die
Entwicklung von international verständlichen Piktogrammen für die verschiedenen Sportarten, die seither weltweit Verwendung finden. Sie funktionierten auf
dem Gelände, im Olympischen Dorf, im
Stadtverkehr und als farbige Vergrößerungen zur Kennzeichnung der Sportstätten. Die konsequente Einheitlichkeit war
ein sehr wichtiges Merkmal der Olympischen Spiele in München, sogar die Polizei und das Militär waren in das gestalterische System integriert. Alle farbigen und
formalen Elemente wurden nach strengen
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Gestaltungsgesetzen entwickelt. Aichers
Konzept erregte weltweit große Aufmerksamkeit.
Rotis aus Rotis
1972 zog Otl Aicher mit seiner Familie
nach Rotis im Allgäu, wo er ein weitläufiges historisches Mühlengrundstück erworben hatte. Inzwischen gehörten zu
seinen Auftraggebern unter anderem
BASF, Blohm + Voss, BMW, die Dresdner
Bank, ERCO und der Flughafen München.
Je mehr sich Aicher mit der Grafik beschäftigte, umso weiter entfernte er sich von
der bildenden Kunst. Im Rahmen seiner
gestalterischen Arbeiten setzte sich Aicher auch viel mit Schriften auseinander.
Er war ein Befürworter serifenloser
Schriftarten, war aber auch der Meinung,
dass eine Schriftart wie die Times wegen
ihrer Lesbarkeit für längere Texte besser
geeignet sei. In den 80er Jahren gestaltete Aicher aus der mittelalterlichen Minuskel eine neue Schriftart – die Rotis, die er
1988 fertig stellte. Mit der Rotis wollte Otl
Aicher die schmucklose Qualität der Groteskschriften und die Lesequalität der
klassischen Serifenschriften vereinigen.
Die neue Schriftart sollte nicht mehr mit
Zirkel und Lineal konstruiert sein, sondern Teil eines fließenden Prozesses sein.
Deshalb entwarf er breite Grundstriche
und relativ schmale Buchstaben mit größeren Buchstabenabständen, alles mit
dem Anspruch, dass nicht der einzelne
Buchstabe, sondern das Zusammenspiel
von Bedeutung ist.
Otl Aicher hat seine Gedanken und Ideen
in zahlreichen Büchern veröffentlicht. Eines davon ist das Buch „Typographie“
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RotisSansSerif Light Italic
RotisSemiSans
RotisSemiSans Bold
RotisSemiSans Exra Bold
RotisSemiSans Italic
RotisSemiSans Light
RotisSemiSans Light Italic
RotisSemiSerif
RotisSemiSerif Bold
RotisSerif
RotisSerif Bold
RotisSemiSerif Italic
von 1988, in dem er sagt „Typographie ist
nichts anderes als die Kunst, jeweils herauszufinden, was das Auge mag, und Informationen so schmackhaft anzubieten,
dass es ihnen nicht widerstehen kann.“
Am 1. September 1991 verstarb Otl Aicher
an den Folgen eines schweren Unfalls in
Rotis. Er war mit einem selbstfahrenden
Rasenmäher von seinem Grundstück auf
einen angrenzenden Weg gefahren, wo er
von einem Motorrad erfasst wurde. Sein
Werknachlass wurde im Sommer 1996
von der Familie Aicher-Scholl an das
Ulmer Museum/HfG-Archiv übergeben,
was sich im Nachhinein als eine sehr unglückliche Entscheidung erwies, weil damit 4000 Plakate, 27 000 Entwurfsblätter,
30 000 Dias sowie die Korrespondenz zu
rund 350 Projekten des epochalen Gestalters von Ulm in die Fänge einer Institution
gefallen sind, die das ihr anvertraute Kulturgut mehr schlecht, als recht verwaltet.
Armer Otl Aicher.
y
Kerstin und Jörg Allner
| El Lissitzky |
| Teil 11| Berühmte Typografen |
Der Konstrukteur
Lissitzkys Name ist untrennbar mit den
avantgardistischen Kunststilen Konstruktivismus und Suprematismus verknüpft.
Jan Tschichold, einer der fähigsten deutschen Typografen jener Zeit, beschrieb
den Tausendsassa El Lissitzky so: „Er war
von sprühendem Geist und lebhaften Bewegungen, schlank, eher klein von Gestalt und in seiner Art fast dandyhaft, aber
ernst. Er war von unbändigem Erfinderdrang erfüllt und musste, selbst in Gesellschaft anderer, immer irgend etwas tun:
fotografieren, zeichnen, schreiben.“
Avantgarde
Der russische Dichter, Pfeifenraucher, Kommunist
und Begründer der modernen Typografie
El Lissitzky war ein ausgesprochenes Multitalent,
das in vielen Kunstgattungen außerordentliches
geleistet hat. Er war Vortragsredner und
Theoretiker, Erfinder des Proun, Wegbereiter mo-
Geboren als Lasar (Jelieser) Morduchowitsch Lissitzky am 23.11.1890 in Potschinok/Russland, im Bezirk Smolensk,
wuchs El Lissitzky in einer gebildeten jüdischen Familie viersprachig auf (Russisch,
Jiddisch, Deutsch und Englisch). Seine Jugend verbrachte er in Witebsk und in
Smolensk. 1909, nach Abschluss des Realgymnasiums in Smolensk, wollte er eigentlich an der Kunstakademie in St.Petersburg studieren, wurde allerdings abgelehnt. Daraufhin siedelte El Lissitzky
nach Deutschland über und begann bei
Josef Maria Olbrich an der Polytechnischen Hochschule in Darmstadt Architektur und Zeichnen zu studieren. 1914, nach
Abschluss seiner Ausbildung als Architekt
und Diplom-Ingenieur, bereiste Lissitzky
die Schweiz, Italien und Frankreich, bis
ihn im August der Kriegsausbruch überraschte und er nach Russland zurückkehrte. Zunächst war Lissitzky in verschiedenen Moskauer Architekturbüros tätig, bis
er Mitte des Jahres 1919 nach Kiew übersiedelte, um dort in der Kunstsektion des
Kommissariats für Aufklärung Propagandamittel zu gestalten. Im gleichen Jahr berief ihn Marc Chagall als Professor und
Leiter der Grafischen Werkstätten und der
Architekturabteilung an die Kunsthochschule in Witebsk. Dort traf Lissitzky mit
Kasimir Malewitsch zusammen, der im
Herbst als Lehrkraft an die Kunsthochschule berufen wurde.
Malewitsch, der ukrainische Maler, hatte
1913 den dem Konstruktivismus nahe stehenden Suprematismus entwickelt. In
seinen Bildern („Schwarzes Rechteck auf
weißem Grund“, 1915) versuchte er die
malerischen Formelemente auf ihren
Nullpunkt zurückzuführen und mit der
ausschließlichen Verwendung von geometrisch-flächenhaften Elementarformen
jede Erinnerung an gegenständliche Materie zu verbannen. Der 12 Jahre ältere
Malewitsch übte auf El Lissitzky einen
enormen Einfluss aus, und in seinen Arbeiten zeigte sich innerhalb kürzester Zeit
ein radikaler Bruch von der naturnahen Figuration zur geometrischen Abstraktion.
Charakteristisch für den Konstruktivismus/Suprematismus war das Selbstverständnis seiner künstlerischen Vertreter, sich durch ihre Arbeit aktiv am Aufbau
einer neuen Gesellschaft beteiligen zu
wollen. Diese Strömung existierte nur in
einer kurzen Zeitspanne von nicht einmal
20 Jahren, war aber dennoch von großem
Einfluss auf die weitere Entwicklung von
Architektur, Kunst und Design. Lissitzky
bezeichnete sich selbst als „Konstrukteur“, sein fotografisches Selbstportrait
montierte er auf Millimeterpapier. Das
Bild wurde zu einem Symbol der Kunst
der 20er Jahre, abgedruckt in unzähligen
derner Ausstellungstechniken, Herausgeber von
Zeitschriften, visionärer Architekt und das leben-
Typografie im
Dienste der
Revolution:
El Lissitzkys Plakat „Schlagt die
Weißen mit dem
roten Keil“ diente
der Bürgerkriegspropaganda.
de Bindeglied zwischen der russischen und der
westeuropäischen Avantgarde der 20er und 30er
Jahre des 20. Jahrhunderts.
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| Berühmte Typografen | Teil 11 |
| El Lissitzky |
Konstruktivistische Typografie: „o. T. (Entwurf für ein Rosa Luxemburg Monument)“, El Lissitzky, 1919/20, Aquarell auf
Papier, Staatliches Museum für Gegenwärtige Kunst Thessaloniki. Foto: IkonenMuseum der Stadt Frankfurt
Büchern und Zeitschriften weltweit.
Es versinnbildlichte das Streben nach Kreativität durch die Kombination von moderner Technologie und menschlichem Intellekt.
Schlüsselbegriff Proun
Um 1920 entwickelt El Lissitzky den Begriff „Proun“ für seine Arbeiten. El Lissitzky hat sich zwar oft und vielfältig dazu geäußert, was „Proun“ bedeutet, dennoch
gibt es verschiedene Mutmaßungen über
den Ursprung seiner Wortschöpfung. Der
plausibelste Ansatz ist, „Proun“ als verkürzte Zusammensetzung aus „Projekt“
und ’UNOVIS’ zu sehen. UNOVIS (wörtlich
„Begründer der neuen Kunst“) war der
Name der Gruppe, die El Lissitzky in seiner Zeit an der Witebsker Schule ins Leben gerufen hatte. „Proun“ könnte man
also dementsprechend als „Projekt zur
Begründung der neuen Kunst“ übersetzen. Die Gemäldefolge „Proun“ zeichnen
sich durch ihre Verbindung zwei- und dreidimensionaler Formen aus, die kennzeichnend für Lissitzky gesamtes Werk
blieb.
1921 wurde El Lissitzky an die Kunsthochschule nach Moskau berufen, wo er für
kurze Zeit Monumentalmalerei und Archi-
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Kasimir Malewitsch: „Schwarzes Rechteck“, Öl auf Leinwand, Staatliches Museum für Gegenwärtige Kunst Thessaloniki. Foto: Ikonen-Museum der Stadt Frankfurt
geprägten Umfeld dieser Bauhaus-ähnlichen Schule seine Arbeit an den ProunBildern fort.
Die Goldenen 20er
tektur unterrichtete. Dort gestaltete er für
das Politische Direktorat der Westfront
das Plakat „Schlagt die Weißen mit dem
roten Keil“ und setzte im interdisziplinär
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Gegen Ende des Jahres 1921 siedelte Lissitzky nach Berlin über. Berlin war in den
zwanziger Jahren für osteuropäische
Künstler eine wichtige Drehscheibe zwi-
schen West und Ost, ein Ort des geistigen
Austauschs und der politischen Zuflucht.
Bisher waren die Kontakte der russischen
Kunstströmungen nach Europa jahrelang
äußerst beschränkt geblieben, und El Lissitzky wurde schon bald zum Botschafter
und Sprachrohr des russischen Konstruktivismus in Westeuropa. Erst mit dem Vertrag von Rapallo (16.04.1922) trat Russland aus der außenpolitischen Isolation.
Zunächst verkehrte Lissitzky in den Kreisen russischer Intellektueller und beteiligte sich an den Vorbereitungen für die legendär gewordene „Erste Russische Kunstausstellung“, die im Herbst 1922 in der
Galerie Van Diemen in Berlin stattfand.
Zum ersten Mal waren außerhalb Russlands die suprematistischen und konstruktivistischen Arbeiten einer jungen
Künstlergeneration zu sehen und es wurde deutlich, dass sich in Russland ein
starker, eigenständiger Zweig der modernen Kunst ausgebildet hatte.
1923 veröffentlichte Lissitzky seine „Topographie der Typographie“,
welche die Entwicklung der
Schriftgestaltung entscheidend beeinflusste und die die
wichtige Stellung der Buchgestaltung innerhalb seines Gesamtwerks verdeutlicht. Darin
manifestierte sich seine allmähliche Abwendung von der
futuristischen Typografie sowie als Novum der erstmalige
Einsatz von wahrnehmungspsychologischen Methoden,
die heute fester Bestandteil
der Werbung geworden sind.
EL Lissitzkys zweijähriger Aufenthalt in Berlin wurde durch
häufige Reisen in verschiedene Städte und Nachbarländer
unterbrochen, denn der rastund ruhelose Lissitzky war an
einer ganzen Reihe Projekte
beteiligt. Er hielt Vorträge, war Mitherausgeber von diversen Zeitschriften und der
Kreis von Leuten, mit denen er zusammengearbeitete, liest sich wie ein
„who-is-who“ der damaligen KunstAvantgarde (eine kleine Auswahl: Hans
Arp, mit dem Lissitzky 1925 das Buch „Die
Kunstismen“ veröffentlichte, Theo van
Doesburg und Cornelis van Esteren von
| El Lissitzky |
Die Mutter aller Installationen: El Lissitzkys Prounenraum.
der holländischen Bewegung „de Stijl“,
mit denen er sich zu einer konstruktivistischen Internationale zusammenschloss,
Lásló Moholy-Nagy und Mies van der
Rohe, Bauhaus, Raoul Hausmann, Kurt
Schwitters u.v.m.).
El Lissitzky nahm von Berlin aus viele Einladungen wahr und vermittelte die „Erste
Russische Kunstausstellung“ aus Berlin
nach Amsterdam. In Hannover erhielt er
Aufträge der Firma Pelikan, für die er unter anderem verschiedene Werbeplakate
entwarf. In der niedersächsischen Stadt
bot man ihm zudem die Gelegenheit, eine
lithografische Mappe zu gestalten. El Lissitzky wählte bezeichnenderweise die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“,
die schon Malewitsch inspiriert hatte. Im
gleichen Jahr konnte Lissitzky auf der Großen Berliner Kunstausstellung seinen
Prounenraum vorstellen, mit dem er zum
ersten Mal konsequent seine Vorstellungen dreidimensional umsetzte.
Ende 1923 erkrankte Lissitzky an Lungentuberkulose und verbrachte einige Zeit in
der Schweiz mit Kuraufenthalten. Die
Krankheit bzw. deren Folgen begleiteten
ihn für den Rest seines Lebens, sein
Schaffensdrang blieb jedoch ungebrochen. Aus andauernden Problemen mit
seiner Aufenthaltsgenehmigung resultierte 1925 Lissitzkys Ausweisung aus der
Schweiz. Der unerwartete Selbstmord
seiner Schwester bewog ihn zunächst
nach Moskau zurückzukehren, wo er Mitglied im Verband Neuer Architekten wur-
Typografie im Dienste der Wirtschaft I:
Der Sozialrevolutionär El Lissitzky verschmähte die Angebote aus der freien
Wirtschaft nicht. Hier eine Arbeit für den
Hannoveraner Schreibwaren-Hersteller
Pelikan aus dem Jahr 1924.
| Teil 11 | Berühmte Typografen |
Schwitters einen persönlichen Freund gefunden hatte. Zudem hatte er dort seine
spätere Frau, Sophie Küppers, die künstlerische Leiterin der Gesellschaft, kennen
gelernt. Die Kunsthistorikerin Sophie
Küppers, 1891 in Kiel als Arzttochter Sophie Schneider geboren, war damals Mutter zweier kleiner Söhne und Ehefrau von
P.E. Küppers, dem Gründer der Kestner
Gesellschaft.
El Lissitzly zeigte 1926 im Provinzialmuseum Hannover einen abstrakten Ausstellungsraum, den er kurz zuvor in der Internationalen Kunstausstellung in Dresden
präsentiert hatte und der nun als „Abstraktes Kabinett“ ständig im Provinzialmuseum verblieb. 1927, nach dem plötzlichen Tod von P.E. Küppers, ging Sophie
Küppers mit El Lissitzky nach Moskau,
wurde sowjetische Staatsbürgerin und
heiratete ihn. Ihre private Kunstsammlung mit Werken von Kandinsky, Klee,
Grosz, Mondrian, Leger und anderen vertraute sie als Leihgabe dem Provinzialmuseum in Hannover an. Die Bilder bekam
sie nie wieder zu Gesicht: 1937 wurden sie
von den Nazis beschlagnahmt und dienten wenige Wochen später in der Ausstellung „Entartete Kunst“ als Beispiel der
„Verworrenheit und Geisteskrankheit“
moderner Kunst.
Das Jahr 1928 wurde für die jungen Eheleute ein besonders ereignisreiches Jahr,
denn El Lisssitzky hatte den Auftrag erhalten, den sowjetischen Pavillon für die
Presseausstellung „Pressa“ in Köln zu
entwerfen. Unter seiner Leitung arbeitete
ein Team von 35 sowjetischen Künstlern
für das Projekt, das Leistungen und Erfolge der Sowjetpresse demonstrieren sollte. In der Halle standen verschiedene kinetische Objekte, die als Träger von Textund Bildinformationen fungierten, wie ein
nach Lissitzkys Entwurf ausgeführter Fotomontage-Fries von 24 Metern Länge.
Für den Katalog schuf Lissitzky dem Fries
ähnliche Collagen, die aus Zeitungsausschnitten und Fotografien zusammengesetzt waren. Diese neuen typografischen
und fotografischen Gestaltungsformen
wurden richtungweisend und gingen um
die ganze Welt. El Lissitzky und Sophie
Lissitzky-Küppers reisten von Köln aus
nach München, Wien, Frankfurt/M., Paris,
und Hannover, bevor sie erneut nach Moskau zurückkehrten.
Stalins langer Arm
Im Jahr 1930 kam der gemeinsame Sohn
Jen zur Welt und1931 übersiedelt die junge Familie nach Chodnja/Russland, wo
Lissitzky zum verantwortlichen Künstler
der permanenten Bauausstellung berufen wurde. Es folgen weitere Großaufträge zur Gestaltung von Propagandazeitschriften und großen Ausstellungen, immer wieder unterbrochen von mehrmonatigen Krankenhaus- und Sanatoriumsaufenthalten. Nach Stalins Machtübernahme
wurde El Lissitzky zum Abweichler von der
Parteilinie des Sozialistischen Realismus
erklärt, bekam keine Aufträge mehr und
starb am 30.Dezember 1941 im Alter von
nur 51 Jahren an Tuberkulose. Seine Frau
Sophie wurde mit ihrem jüngsten Sohn
Jen wegen ihrer deutschen Abstammung
nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion
als Staatsfeindin nach Sibirien verbannt,
wo sie ein Dasein in unvorstellbarer Armut fristen musste. Sophie Lissitzky-Küppers hat dort lange überlebt und ist auch
nach der Aufhebung des Urteils unter
Chruschtschow bis zu ihrem Tod 1978 mit
87 Jahren in Nowosibirsk geblieben. Kurz
vor ihrem Tod hat sie ihrem Sohn Jen eine
handgeschriebene Liste ihrer verschollenen Kunstwerke übergeben. Wäre der
Sohn der deutschen Kunsthistorikerin
und des russischen Konstruktivisten im
Besitz der Bilder, so hätte er ein gewaltiges Vermögen — nach dem heutigen
Marktwert an die 50 Mio. Euro. Trotzdem
ist der rechtmäßige Erbe machtlos, denn
bislang konnte er vor Gericht nicht beweisen, dass die Kunstwerke, die heute in
alle Winde verstreut sind, Eigentum seiner Mutter sind. Aber das ist eine andere
Geschichte.
y
Kerstin und Jörg Allner
Typografie im
Dienste der
Wirtschaft II:
Anzeige für
Pelikan aus dem
Jahr 1925.
de und seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule wieder aufnahm. Bereits im
Sommer des folgenden Jahres kehrte Lissitzky aus geschäftlichen wie aus privaten
Gründen nach Deutschland zurück, um an
der Internationalen Kunstausstellung in
Dresden teilzunehmen. Er zog nach Hannover, weil er dort in der progressiv ausgerichteten Kestner-Gesellschaft einen
loyalen Kreis von Förderern und mit Kurt
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PRINT & PRODUKTION 5/2004
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Kreatives Ehepaar: Zuzana Licko und Rudy VanderLans.
| Berühmte Typografen | Teil 13 |
| Zuzana Licko |
Von Bratislava
nach Berkeley
Zuzana Lickos Erfolg in einem hauptsächlich von Männern aus- Kindheit hinter
geübten Beruf und ihr Aufstieg zur bekanntesten
Schriftenentwerferin weltweit war ihr nicht in die Wiege gelegt
worden – im Gegenteil. Als Einwanderin in die USA machte sie
aus ihrer Außenseiterrolle eine Stärke. Ihre frühen Fonts haben
die digitale Typografie revolutioniert und eine ganze
Generation von Schriftenentwerfern inspiriert. Heute ist
Zuzana Licko, die mehr als 3 Dutzend Schriftenfamilien entworfen hat, verantwortlich für die Emigre Foundry, die derzeit
über 300 Schriften von rund 20 Designern anbietet.
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PRINT & PRODUKTION 10/2004
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dem Eisernen Vorhang
Zuzana wurde im Oktober 1961 in Bratislava, in der damaligen Tschechoslowakei
geboren. Ihren Eltern, dem Biomathematiker Vojtech Licko und der Histologin Veronika Licko, war es in der kommunistischen CSSR trotz ihrer Neigung verwehrt
geblieben, eine künstlerische Ausbildung
zu erhalten. Umso mehr förderten sie die
musischen Talente ihrer Tochter. Zu jener
Zeit erschütterten innenpolitische Unruhen die CSSR. Nachdem es im Herbst
1967 zu starken Protesten gekommen
und der Parteichef der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei Novotny
abgesetzt und durch den Reformpolitiker
Alexander Dubcek ersetzt worden war,
deutete sich 1968 ein umfassendes politisches Reformprogramm unter dem
Schlagwort „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ an, das als „Prager Früh-
Wandelbar: Das „Emigre“-Magazin erscheint immer mit wechselnden Layouts.
Oben das Cover der Ausgabe Nr. 64
RANT (2003), gestaltet von Rudy
VanderLans mit dem Font Fairplex von
Zuzana Licko. In dieser Ausgabe spielte
„Emigre“ den „Agent Provocateur“ und
fragte die jungen Designkritiker, ob sie es
mit den alten Hasen aufnehmen können.
ling“ in die Geschichtsbücher einging.
Doch die rasche innenpolitische Liberalisierung in der Tschechoslowakei stieß besonders in der Sowjetunion auf heftige
Ablehnung, auch die Regierungen der
DDR und Polens befürchteten ein Übergreifen der Liberalisierungswelle. Dies
führte in der Nacht vom 20. auf den 21.
August 1968 zum Einmarsch sowjetischer
Truppen, unterstützt von Truppenkontingenten der DDR, Polens, Ungarns und
Bulgariens, in die Tschechoslowakei. Wie
es das Schicksal wollte, hielten sich die Lickos just zu diesem Zeitpunkt für einen
Badeurlaub in Jugoslawien auf, als die
CSSR die Grenzen schloss. Schweren Herzens beschlossen Vojtech und Veronika
Licko in dieser Situation, nicht in die Heimat zurück zu kehren, obgleich sie dadurch keine Gelegenheit mehr hatten,
sich von den Verwandten und Freunden
zu verabschieden und sie nur Gepäck für
einen Badeurlaub dabei hatten. Doch die
große Politik hatte entschieden.
Sie verließen Jugoslawien und emigrierten aus dem kalten Krieg ins warme Kalifornien, wo sie sich San Fransisco niederließen. Die junge Familie besaß zwar wenig, die Eltern fanden aber bald Arbeit an
der örtlichen Universität und das Einzelkind Zuzana entwickelte sich prächtig.
| Zuzana Licko |
| Teil 13 | Berühmte Typografen |
Geschäftstüchtig: eine Anzeige für den
Font Solex von Zuzana Licko.
Schriften
von Zuzana Licko
Das Cover der Nr. 46 Fanzines and the
Culture of DIY (1998), gestaltet von Rudy
VanderLans mit dem Font Base
Monospace von Zuzana Licko. Diese
Ausgabe untersucht die Design-Kultur
der Fanzines und der Do-it-yourselfMagazine.
Durch ihren Vater und seine Arbeit als Mathematiker hatte sie bereits sehr früh Zugang zu Computern. Vojtech Licko war es
auch, der sie dazu inspirierte, ihre erste
Schrift zu entwerfen, ein griechisches Alphabet für seine mathematischen Formeln.
1981 nahm Zuzana Licko das Studium an
der Berkeley Universität auf. Sie begann
Architektur zu studieren, wechselte dann
aber im Hauptstudium zu „Visual Studies“, weil sie erkannt hatte, dass das Design orientierte Gestalten ihren Neigungen mehr entsprach, als das eher ingenieurwissenschaftliche Gestalten der Architekten. Das Studium, das sie mit einem
„Graphic Communications Degree“ abschloss, war ihr im Prinzip wie auf den
Leib geschneidert, ausgenommen der
Kalligraphie-Kurs – normalerweise die Paradestrecke der Typografen, den sie gehasst hat, weil man sie dort als Linkshänderin gezwungen hatte mit der rechten
Hand zu schreiben. Andererseits lernte
sie an der Berkeley Universität auch ihren
späteren Ehemann Rudy VanderLans kennen, der als Holländer ebenfalls ein
Außenseiter war.
Rudy VanderLans und „Emigre“
Rudy VanderLans wurde 1955 in Voorburg, Holland geboren. Er besuchte von
1974 bis 1979 die Königliche Akademie
Klare Botschaft: ein Emigre-Mousepad,
gestaltet von Rudy VanderLans mit dem
Font „Base“ von Zuzana Licko.
der Bildenden Künste in Den Haag. Seinem Wunsch entsprechend Illustrator zu
werden, spezialisierte er sich in Richtung
Grafikdesign. Nach dem Studium arbeite
er zunächst in Wim Crouwels renommierten Total Design Studio in Amsterdam, wo
er Corporate-Identity-Aufträge zu bearbeiten hatte. 1981 bewarb er sich für das
„UC Berkeley Graduate Programm“ und
wurde akzeptiert. Er zog nach Kalifornien
und lernte dort Zuzana Licko kennen und
lieben. Die beiden heirateten 1983. Damit
konnte VanderLans in Amerika bleiben.
Nach einem kurzen und anstrengenden
Gastspiel als Illustrator beim „San Francisco Chronicle“ begann VanderLans 1984
mit zwei weiteren holländischen Immigranten das Kulturjournal für eingewanderte Künstler „Emigre“ heraus zu geben.
Die ursprüngliche Idee war, kein ausgesprochenes Design-Magazin zu machen,
sondern verschiedene Arbeiten von
Künstlern zu zeigen, die in anderen Ländern gelebt hatten, von Kurzgeschichten
bis zur Architektur und zur Fotografie. Die
erste Ausgabe erschien im Format
11.5#x#17 Zoll, und da man zunächst kein
separates Budget für Schriftgestaltung
hatte, war der Text hauptsächlich auf
Schreibmaschine geschrieben und auf einem Kopierer der Größe entsprechend
angepasst worden. Doch bald begann Zuzana Licko mit dem gerade erst auf den
Markt gekommenen neuen Apple Macintosh und einem Bitmap-Font-Tool zu arbeiten und Schriften für das Magazin zu
entwerfen. Ungefähr zur gleichen Zeit
stellten die Emigre-Macher fest, dass sie
die Leser, die potentiellen Anzeigenkunden und auch die Zeitschriftenhändler, die
nicht wussten, in welche Kategorie sie
Emigre einsortieren sollten, mit ihrem
Konzept verwirrt hatten. Nach acht Ausgaben stellten die Emigre-Macher das
Konzept des Magazins um, und von nun
an erschien „Emigre“ mit einem deutlichen Fokus auf Grafikdesign.
Bis 1987 waren die ursprünglichen Initiatoren bis auf VanderLans ausgestiegen.
„Emigre“, das bis dahin eher unregelmäßig erschienen war, entwickelte sich zu einem quartalsweise erscheinenden Magazin. Ab 1988, mit der zehnten Ausgabe,
wurde Emigre von den Studenten der
Cranbrook Academy of Art in Michigan
hergestellt. VanderLans konzentrierte
sich als Herausgeber darauf, an Themen
zu arbeiten, die von anderen Designmagazinen vernachlässigt wurden, etwa weil
es nicht zur Tradition gehörte oder sie die
Themen noch für zu verfrüht erachteten.
Die Computertechnik gab ihm außerdem
die Flexibilität, jede Ausgabe komplett
neu zu gestalten. Manchmal liefen mehrere Artikel parallel auf den Seiten, jeder
Text unterschied sich durch die Schrift,
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Modula (1985)
Coarse Resolution (1985)
Lo-Res (1985 and 2001)
Citizen (1986)
Matrix (1986)
Lunatix (1988)
Oblong (1988)
Senator (1988)
Variex (1988)
Elektrix (1989)
Triplex (1989)
Triplex Greek (1989)
Journal (1990)
Modula Tall Greek (1990)
Senator Tall Greek (1990)
Tall Pack (1990)
Totally Gothic & Totally Glyphic
(1990)
Matrix Script Greek (1992)
Matrix Script (1992)
Quartet (1992)
Quartet Cyrillic (1992)
Narly (1993)
Dogma (1994)
Whirligig (1994)
Base Nine and Twelve (1995)
Base Nine Cyrillic (1995)
Modula Round & Ribbed (1995)
Soda Script (1995)
Filosofia (1996)
Mrs Eaves (1996)
Mrs Eaves Ligatures (1996)
Base Monospace (1997)
Hypnopaedia (1997)
Tarzana (1998)
Solex (2000)
Fairplex (2002)
Düsseldorf
21. – 27. 4. 2005
Leader of the Pack
www.interpack.com
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| Berühmte Typografen | Teil 13 |
| Zuzana Licko |
Schwungvoll: 12 Schriftschnitte der
Fairplex von Zuzana Licko in einem
Layout von Rudy VanderLans.
Multimedial: Emigre Cover Nr. 63 Scenic. The Acid Gospel Experience (2002). Layout:
Rudy VanderLans, Font: Fairplex. Diese Ausgabe ist dem Designer und Musiker Bruce
Licher und seiner Band Scenic gewidmet. Dem Magazin liegt Lichers CD „The Acid
Gospel Experience“ bei.
Fonts
Als Zuzana Licko im Jahr 1984 begann, erste Pixelschriften für den Macintosh zu
entwerfen, waren Bitmap-Schriften die
einzig erhältlichen für den Computer. Lickos erstes Ziel war eine Serie gut lesbarer Zeichensätze für Computerbildschirme und Matrixdrucker zu entwerfen. Lickos Schriften folgten dabei zunächst einer simplen Geometrie, deren nüchterne
und rationelle Erscheinung den Gegenpol
zu VanderLans’ freien Layouts bildeten.
Nach mehrfachen Nachfragen von Lesern,
wo man diese Schriften erhalten könne,
gründeten VanderLans und Licko ein eigenes Unternehmen zum Vertrieb digitaler
Schriften, die „Emigre Foundry“. Bereits
ab der dritten Ausgabe erschienen auch
Anzeigen für den Verkauf der Bitmap
Fonts im Magazin. Gleichzeitig überarbeitete Licko unter dem Namen „Emigre Graphics“ zu dieser Zeit für die Adobe Systems Inc. Bildschirmschriften. Das Geschäft mit den eigenen Schriften lief jedoch immer besser und 1989 hörten Licko
und VanderLans auf als Freelancer zu arbeiten, um sich ganz auf ihr eigenes Geschäft zu konzentrieren. Lickos Schriften
entwickelten sich parallel zu den Veränderungen des Magazininhalts. Als Emigre
damit begann, mehr Design-Theorie zu
veröffentlichen, konzentrierte sie sich auf
klassische Serifenschriften und entwarf
mit Mrs Eaves und Filosofia Neuinterpre-
Cover der Nr. 51 Summer 1999. Layout: Rudy VanderLans, Font: Base von Zuzana
Licko. Die 51 stellt eine Reihe von Künstlern vor (Stephen Farrell , Steve Tomasula,
Matt Owens, Elliott Peter Earls, Katherine McCoy, Lewis Blackwell, Philip Meggs, P.
Scott Makela, Anreas Lauhoff) und ist nicht mehr erhältlich.
Größe, Spaltenbreite, etc. und vermittelte
so den Eindruck, als ob man mehreren
Unterhaltungen gleichzeitig zuhörte. Sogar innerhalb von Sätzen veränderten
sich die Schriften, um die Stimmung und
den Rhythmus von gesprochenen Worten
nachzuempfinden und auch das Logo
wurde mehrfach verändert. Bis heute
steht jede Ausgabe jeweils unter einem
Leitthema, vorgestellt wurden unter anderem Ed Fella, Rick Valicenti und David
Carson aus den USA, sowie Vaughan Oliver, Nick Bell aus Großbritannien sowie
mehrere holländische Designer. Verschiedene kontroverse Artikel und Interviews
erschienen so über die Jahre und führten
dazu, dass das Designmagazin trotz anfänglicher Anfeindungen inzwischen zum
Kultprintobjekt avanciert ist, das an
45 000 Abonnenten verschickt wird.
Der Wechsel scheint indes das einzig Beständige bei „Emigre“ zu sein, denn mit
seiner neuesten, der 60. Ausgabe im Jahr
2000, hat das Magazin erneut seinen
Schwerpunkt verlagert. Nach wie vor gibt
es ein gedrucktes Magazin, das über Grafikdesign und neue Fonts berichtet, wie
zum Beispiel über die „Los Feliz“ von
Christian Schwartz. Der Schwerpunkt der
Ausgabe lag jedoch auf der beigelegten
CD „I-10 & W.AVE.“ der exzentrischen texanischen Band Honey Barbara, die Musik angeblich nur zur Erhaltung ihrer eigenen Gesundheit macht und weder auf
Tour geht noch Videos produziert.
Hörprobe gefällig?
Auf www.emigre.com/EMag.php?issue=
60 steht ein Song („Beat Again“, 4.3 MB)
zum Download bereit.
Im Interview Zuzana Licko
Geboren
In
Status
Links- oder Rechtshänderin?
Hobbies
Ihr Lieblingsplatz
Ihre Lieblingsfarbe?
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Oktober 1961
Bratislava, Slowakai
verheiratet mit
Rudy VanderLans
Linkshänderin
Keramik
(www.emigre.com/Ceramics.php)
Mein Zuhause in Berkeley, Kalifornien
Kommt darauf an wofür, ich mag viele
verschiedene Farben. Wenn ich allerdings in meinen Kleiderschrank schaue,
so ist die Hälfte meiner Kleidung allerdings schwarz und das ist beides, keine
Farbe und alle Farben zusammen.
Fonts: Mrs Eaves, Lo-Res und Filosofia.
tationen der Baskerville und Bodoni. Ab
den späten 80er Jahren wurden die Emigre-Fonts auch vom Mainstream wie z. B.
der New York Times, ABC und Nike verwendet. Seither erhält die Arbeit von Licko und VanderLans inzwischen immer
häufiger Ehrungen von allen Seiten. So
sind die beiden 1994 mit einem Chrysler
Award, 1997 mit einer Gold Medaille der
AIGA und 1998 mit dem Charles Nypels
Award für Innovationen in der Typgrafie
geehrt worden.
Emigre-Fonts bietet heute rund 50 Schriftenfamilien von ca. 20 Designern an. Von
einem Büro in Berkeley werden von Emgire Graphics auch Posters, T-Shirts und andere Artikel über einen Katalog und eine
Internetseite verkauft. (www.emigre.com)
y
Kerstin und Jörg Allner