s34-35_A24_Typografen Teil 1
Transcription
s34-35_A24_Typografen Teil 1
Berühmte Typografen [ Teil 1] Adrian Frutiger, die lebende Legende Was ist Typografie? Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und setzt sich zusammen aus dem Wort „Typos“ für „geprägt“ oder „Form“ und dem Begriff „Graphein“ für „schreiben“, am besten übersetzt durch „Arbeiten mit Schrift“. Heute zählt ein Standardrepertoire von Schriften zu jeder Betriebssystem- und Software-Basisausstattung, aber wer weiß schon, wer hinter diesen Schriften steckt und wer sie entwickelt hat? Die Liste der Typografen ist lang, einige der berühmtesten stellen wir Ihnen in dieser Serie vor. 34 PRINT & PRODUKTION 4/03 Adrian Frutiger lebt in Bremgarten bei Bern in der Schweiz und gehört unumstritten zu den wichtigsten Schriftdesignern des 20. Jahrhunderts. Frutiger ist berühmt für seine Phantasie und sein vollendetes handwerkliches Können. Einer breiten Öffentlichkeit ist er dennoch nach wie vor unbekannt, obwohl man seinen Arbeiten täglich begegnet, denn Frutiger entwarf Schriften, Logos und Corporate Images für die Post, Museen, Institutionen, Flughäfen und Metros. Frutigers wohl bekannteste Schrift, die Univers, eine Sans-Serif-Schrift, die unter anderem die Hausschrift der Deutschen Bank ist, stellt wohl die bedeutendste Idee dar, die im 20. Jahrhundert auf dem Gebiet der Schriftkunst konzipiert und verwirklicht wurde. Sie machte Frutiger mit einem Schlag weltberühmt. Die Univers besteht aus einer aufeinander abgestimmten Schriftfamilie von 21 Schnitten, die Zug um Zug zu 63 Schnitten ergänzt wurde. Alle Varianten haben dieselbe XHöhe, so dass man sie ohne Schwierigkeiten auf verschiedene Art und Weise auf einer Seite platzieren kann. Entstanden ist die Univers als direkte Reaktion auf die Futura, die Frutiger zu geometrisch war. Endgültig zum Klassiker der Moderne wurde Frutiger durch die von ihm 1968 entworfene OCR-B (Optical Character Recognition), die 1973 von der Computerindustrie aller Industrieländer zum Weltstandard erklärt wurde, sowie durch die nach ihm benannte Frutiger, die er speziell für die Beschilderung des Pariser Flughafen Charles de Gaulle geschaffen hat. Durch ihre klare Lesbarkeit wurde die Frutiger bereits kurz nach der Einführung in Paris zu einer viel genutzten Schrift, sowohl für Drucksachen als auch für Orien- tierungssysteme wie die Autobahnbeschilderung in Frankreich und der Schweiz. Insgesamt hat Frutiger über 170 Schriften kreiert. Die Heidelberg-Tochter Linotype Library (www.linotype.com) bietet eine Sonder-Edition „Frutiger’s Life“ mit 173 Schriften an. Schriften von Adrian Frutiger Président, (1952) Phoebus, Ondine (1953) Méridien, (1954) Egyptienne F, (1955) Lehrjahre Adrian Frutiger, am 24. Mai 1928 als Sohn eines Webers in Unterseen in der Schweiz geboren, lernte bei der Druckerei Schlaefli in Interlaken den Beruf des Schriftsetzers. Im Anschluss an seine Lehrzeit erschien sein 1. eigenes Buch „Die Kirchen am Thuner See“, das mit Holzschnitten illustriert war. Der junge Frutiger war ehrgeizig und wissensdurstig und so studierte er im Anschluss an die Lehre von 1949 bis 1951 Schrift und Grafik an der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich. Dort traf er Alfred Willimann und Walter Käch, Lehrerpersönlichkeiten, die sein Leben prägten. Kächs Lehre, dass auch für eine zeitgenössische Druckschrift die Breitfeder das letztlich entscheidende Form bildende Werkzeug bleiben müsse, und Willimanns Gedanken über das Zusammenwirken von Licht und Schatten beeinflussten den jungen Frutiger stark: „Wenn ich auf einem weißen Blatt die Feder ansetze, so gibt man nicht Schwarz hinzu, sondern man nimmt dem weißen Blatt Licht weg. Gleich wie bei einem Bildhauer, der mit jedem Schlag Material wegnimmt. Das war der wesentliche Grundgedanke von Willimann, der mich durch das ganze Leben begleitet. So verstand ich auch, dass das Wichtigste an der Schrift die Zwischenräume sind.“ Ungewöhnlich ambitioniert und talentiert Univers, (1957) Concorde Apollo, (1962) IBM-Univers, Serifa, (1964) Devanagari Indien, (1967) OCR-B, (1968) Roissy Alphabet, Iridium, (1972) Métro Alphabet, (1973) Frutiger, (1976) Glypha, (1977) Icone, (1980) Breughel, (1982) Versailles, (1984) Linotype Centennial, Avenir, (1986) Westside, (1989) Herculanum, Vectora, (1990) Linotype Didot, (1991) Pompeijana, (1992) Rusticana, (1993) Frutiger Signs, (1996) Linotype Univers, (1997) Frutiger Stones, Frutiger Symbols, (1998) Des Meisters Hände. war auch die Diplomarbeit Frutigers, ein Pliant (Faltprospekt) mit einer Holzschnittfolge auf 8 Tafeln mit dem Titel „Die Entwicklung des lateinischen Alphabets“. Damit schloss er die Züricher Schule ab und begeisterte seine Lehrer ebenso wie die Firma Deberny & Peignot, die ihn als Schriftentwerfer nach Paris holte. Vom Bleisatz zum digitalen Design Zusammen mit André Gürtler und Bruno Pfaffli gründete Frutiger Anfang der 60er Jahre sein eigenes Typografie- und Designstudio in Paris und arbeitete fortan als freier Schriftgestalter für renommierte Firmen wie Linotype, IBM, Air France und Electricité de France. „Es gibt Grundsätze, die sich in der Schriftgestaltung kaum verändern. Es ist auch ein Fehler, das Schriftdesign der Technik anzupassen. Daraus entstehen schlechte Schriften.“ Er blieb diesen Grundsätzen immer treu, wagte aber auch Neues und nahm inter- Auffällig unauffällig: In der Autobahnbeschilderung in Frankreich und der Schweiz wird Adrian Frutigers Schrift Univers benutzt, hier an einer Zahlstation an einer französischen Autobahn. Alle Fotos: linotype-library GmbH Adrian Frutiger, seine Schriften haben die Typografie des 20. Jahrhunderts entscheidend geprägt. essiert den aufkommenden Fotosatz zur Kenntnis, der allmählich den seit Gutenberg angewandten Bleisatz ablöste. Doch die elektronische Bildübertragung brachte zunächst Qualitätsverluste mit sich, sprich, eine Verzackung der Ränder und später die Vektorisierung der Umrisse. Für das Formengefühl Frutigers war das eine Leidenszeit, dennoch war die Umsetzung der alten Schriften vom Hoch- in den Flachdruck für Frutiger eine der wichtigsten Erfahrungen. Unabhängig vom Druckverfahren steht bei Frutiger alles Gestalten unter ein und derselben Prämisse, dem lesefreundlichen und effizienten Transport von Inhalten. Denn für Frutiger steht fest, „dass Lesbarkeit und Schönheit ganz nahe beieinander stehen und dass die Schriftgestalt in ihrer Zurückhaltung vom Leser nicht erkannt, sondern nur erfühlt werden darf. Die gute Schrift ist diejenige, die sich aus dem Bewusstsein des Lesers zurückzieht, um dem Geist des Schreibenden und dem Verstehen des Lesenden alleiniges Werkzeug zu sein.“ Nun ist er 74 und arbeitet unermüdlich weiter, doch Schriften entwickelt er nicht mehr: „Dieses Kapitel ist für mich abgeschlossen. Es wäre völlig falsch, wenn ich versuchen würde, etwas zu erzwingen.“ Auf seinen Erfolg angesprochen, gibt sich Adrian Frutiger bescheiden und bringt sein Lebenswerk auf den Punkt: „Ich hatte das Glück zu verstehen, dass die Schrift etwas Lebendiges ist, wie eine Pflanze.“ y Kerstin und Jörg Allner PRINT & PRODUKTION 4/03 35 (Foto: Virgin Records LTD) Während der Punk-Bewegung der 70er Jahre war emotionale Typografie angesagt, hier das Cover der Sex-Pistols-LP „God Save the Queen“. Berühmte Typografen [Teil 2] emotionale typografie David Carson: durch Anarchie zu Weltruhm Wenn es den Titel des umstrittensten Typografen des 20. Jahrhunderts gäbe, David Carson hätte diesen Titel verdient wie kein Zweiter, denn der ehemalige Beach-Boy und Weltklassesurfer hat mit seinen anarchistischen Layouts höchst gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen. Für das renommierte ZEIT-Magazin lieferte David Carson 1999 das Layout einer ganzen Ausgabe. (Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim) Von „der wichtigste amerikanische Designer des 20. Jahrhunderts“ bis „typografischer Triebtäter“ reichen die sehr emotionalen Reaktionen auf die emotionale Typografie von David Carson. Wie kommt es, dass die einen ihn verehren und die anderen ihn ablehnen? 36 PRINT & PRODUKTION 6/03 Vorläufer Dada So revolutionär Carsons Arbeitsweise auch erscheint, ganz vom Himmel gefallen ist sie nicht. Rund 80 Jahre vor David Carson hat es schon einmal während der Dada-Bewegung (Dada: frz. Kindersprache: Holzpferdchen) Ansätze gegeben, die scheinbar un- umstößlichen Regeln der Typografie umzustoßen. Ausgangspunkt der internationalen künstlerischen und literarischen DadaStilrichtung war das am 5. Februar 1916 in Zürich von dem deutschen Dichter Hugo Ball gegründete Cabaret Voltaire. Zusammen mit dem Arzt Richard Huelsenbeck, dem rumänischen Dichter Tristan Tzara, der deutschen Sängerin Emmy Hennings und dem elsässischen Maler und Bildhauer Hans (Jean) Arp nutzte Ball das Cabaret Voltaire, um unter radikaler Ablehnung bislang gültiger ästhetischer Wertmaßstäbe eine Kunst der Anarchie und Subversion zu schaffen. Wesentliche künstlerische Ausdrucksmittel der Bewegung waren Collage, Montage und Assemblage, das Zusammenfügen von willkürlich aufgegriffenen und aus unterschiedlichen Zusammenhängen stammenden Einzelteilen zu neuen Gebilden. Zufall und Spontaneität wurden zum Gesetz dieser gegen bürgerlich-konformistische Kunstideale rebellierenden „AntiKunst“. Die inhaltliche Aussage der Werke trat in den Hintergrund gegenüber dem Spiel mit der Form.Bis etwa 1924 lösten sich die Dada-Gruppen überall auf – die Haltung der Rebellion hatte sich verbraucht. Die provozierenden Ideen des Dada beeinflussten jedoch eine Vielzahl von Kunststilen wie Konstruktivismus, Surrealismus oder Abstraktion. Die damals entwickelten künstlerischen Mittel – die unkonventionelle Verwendung der Typografie, die Fotomontage und das Collagieren vorgefundener Materialien und Gegenstände – wurden seither in Intervallen immer wieder eingesetzt und weiter entwickelt. Dazu zählen die Punk-Bewegung der 70er Jahre um die britische Skandalband Sex Pistols mit ihrer anarchistischen Infragestellung sämtlicher Werte des Abendlandes genauso wie der Sunnyboy David Carson mit seinen revolutionären Layouts für LifestyleMagazine. 2nd sight: The End of Print, vol. 2, mit Texten von Lewis Blackwell, 1997 erschienen, ist die konsequente Fortsetzung von Teil 1, geht aber besonders auf Carsons Weltreisen in Sachen Grafik-Design ein. (Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim) Carsons Buch „The End of Print“ (mit einem Vorwort von David Byrne, erschienen im Bangert-Verlag), erscheint inzwischen in der 5. Auflage und ist mit weltweit über 125 000 Exemplaren das bestverkaufte Designbuch aller Zeiten. (Foto: Bangert-Verlag, Schopfheim) Selfmademan und Revoluzzer David Carson war der Superstar der Grafikszene der 90er Jahre und der wichtigste Vordenker des visuellen Erscheinungsbildes der MTV-Generation. Als Sohn eines NASA-Testpiloten 1956 in Corpus Christi, Texas, geboren und in Kalifornien aufgewachsen, ist Carson als Typograf zum größten Teil Autodidakt, denn er war eigentlich Lehrer für Soziologie, brach ein Designstudium erfolg- und lustlos ab und besuchte erst mit Ende 20 ein paar klassische Kunst- bzw. Designkurse. Nur ein Workshop bei dem Schweizer Designer Hans-Rudolph Lutz hat im wohl gefallen, Lutz ist jedenfalls der einzige, den er als Einfluss für seine Arbeit angibt. Als ehemaliger Surfprofi (Carson war einer der 10 besten Surfer der Welt) begann Carsons Karriere mit der Zeitschrift Beach Culture, die nach dem Erscheinen der 6. Ausgabe (1992) in einem finanziellen Desaster endete. Trotz dieses Misserfolgs wurde Beach Culture zum Kultobjekt. Danach arbeitete er für die Zeitschrift Ray Gun, für deren Erscheinungsbild er allein verantwortlich Carsons Style Was kennzeichnet Carsons Stil? Kurz gesagt, die totale Regel- und Wertelosigkeit! Mit Freude zerstört er alles, was an Regeln auf scheinbar heiligen Sockeln steht. Damit führt er die Konventionen unserer Kommunikation ad absurdum. Carsons Arbeiten lassen sich tatsächlich an Radikalität kaum noch übertreffen. Dabei scheinen seiner Kreativität und Experimentierfreude keine Grenzen gesetzt zu sein. Kaum ein Text, der vorne beginnt und linear bis zum Ende durchläuft, mal gibt es keine Interpunktion, Das Medium ist die Botschaft PRINT: David, an welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit und was sind Ihre weiteren Pläne für die Zukunft? David Carson: Ich habe gerade ein Buch über Marshall McLuhan* fertig gestellt mit dem Namen „Book of Probes“. In diesem Buch interpretiere ich mehr als 400 Zitate von McLuhan über neue Medien, das Internet etc. Außerdem habe ich nach 5 Jahren wieder ein neues Grafik-Design-Buch abgeschlossen mit dem Titel „Trek“. Es wird im Sommer erscheinen und hat über 400 Seiten. Des Weiteren habe ich für Xerox einen TV-Spot gemacht und außerdem arbeite ich viel für die Surfwear-Firma Quicksilver. * Anmerkung der Redaktion: Marshall McLuhan, kanadischer Medienforscher, * 21. 7. 1911 Edmonton, † 31. 12. 1980 Toronto, befasste sich mit der Veränderung der Gesellschaft durch die Massenmedien. Seine Werke: „Die Gutenberg-Galaxis“ 1962, deutsch 1968; „Understanding media“ 1964, deutsch „Die magischen Kanäle“ 1968. Kurt Schwitters (*20. 6. 1887 Hannover, † 8. 1. 1948 Ambleside, England) gehörte zu den Protagonisten der deutschen DadaBewegung. Hier seine „Typoreklame“ vom November 1924. (Foto: Kurt-SchwitterArchiv im Sprengel-Museum, Hannover) war. Seine Arbeit durfte niemand sehen, ehe sie nicht gedruckt war, selbst der Verleger musste auf die fertige Ausgabe warten. Die Emotionen seiner Leser, so betont Carson immer wieder, sind ihm wichtiger als die Lesbarkeit der Texte. Er möchte dass der Leser die Seite aufschlägt und sagt „Hey, was ist denn hier passiert?“ Das Londoner Creative Review Magazin wählte Carson zum „Art Director of the Era“ und bezeichnete sein Layout für das Magazin Ray Gun als bedeudendste amerikanische Arbeit. Als Art-Director und Gestalter für das Magazin Beach Culture gewann Carson über 150 Preise, darunter Best Overall Design und Cover of the Year der Society of Publication Designers in New York. Carson führt auch Regie in Werbespots und Video-Clips. mal fehlen ganze Buchstabenserien. Satzblöcke und Absätze ignoriert er zumeist gewissenhaft, ganze Spalten verschmelzen miteinander. Seine Zeitschriften beginnen manchmal am Ende, das Inhaltsverzeichnis findet sich in der Mitte wieder, Seiten sind negativ paginiert. Einzelne Worte hüpfen mitten aus dem Text heraus, zerschnittene Photos sind in Textteile montiert, Kopierfehler werden zum Gestaltungsmerkmal. Andererseits verfährt er auch ab und an – wenn es keiner erwartet – erstaunlich konservativ. Umsturz als Zwangsläufigkeit Zug völlig umgekrempelt und neu definiert worden. Wie immer man zum Werk von David Carson stehen mag, eines scheint unzweifelhaft zu sein: Er hat in der Typografie als Kunstform das vollzogen, was in den anderen Künsten wie Musik, Literatur, Malerei und Bildhauerei schon lange vorher vollzogen worden ist. In einer Zeit, in der ein Arnold Schönberg die Musik oder ein Pablo Picasso die Malerei neu definierte, war es nur eine Frage der Zeit, bis ein beherzter Gestalter sämtliche Regeln über den Haufen schmeißen musste. Einer musste kommen: David Carson. www.davidcarson-design.com y Die Typografie war lange Zeit ein Hort der Beständigkeit, mit ehernen, teils 500 Jahre Kerstin und Jörg Allner alten Regeln. Der Kanon der Künste ist jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts Zug um PRINT & PRODUKTION 6/03 37 Berühmte Typografen [Teil 4] Der Reformator Jan Tschichold war einer der herausragendsten und einflussreichsten Typografen des 20. Jahrhunderts. Er war ein frühreifes Genie, arbeitete als Lehrer, schrieb viele richtung- weisende Bücher und arbeitete sein Leben lang als Designer. Sein bewegtes Leben ließ ihn zweimal den Namen wechseln und war, so scheint es, auch in 2 Hälften geteilt. Kindheit in Leipzig Geboren wurde Jan Tschichold am 2. April 1902 in der Buchdruckerstadt Leipzig als Johannes Tzschichhold (die Eltern ließen den Namen später in Tschichold ändern). Er war der 1. Sohn des Schriftmalers Franz Tschichold und seiner Frau Maria. Der Beruf des Vaters machte Jan Tschichold von Kindheit an mit vielen Formen gemalter Schrift bekannt. Seine Jugendzeit war geprägt von intensivem Lernen, Fleiß und Disziplin. Ein wichtiges Erlebnis für ihn war die Weltausstellung für Buchkunst und Grafik in Leipzig, die er 1914 oftmals besuchte, und auf der er seine Kenntnisse über die Geschichte des Buchs und der Schrift vertiefte. 1916, nach Beendigung der Schulzeit, besuchte der erst 14-jährige Tschichold das Lehrerseminar Grimma in der Nähe Leipzigs, weil er Zeichenlehrer werden wollte. 1919 brach er diese Ausbildung aber vorzeitig ab, da er doch lieber Schriftzeichner werden wollte. Fortan besuchte er die Akademie für grafische Künste in Leipzig, wo er trotz seiner Jugend in die Schriftklasse von Professor Hermann Delitsch aufgenommen wurde. Dort erlernte er nebenher auch das Gravieren sowie die Techniken für den Kupferstich, Holzschnitt, Holzstich und das Buchbinden. Nach einem einjährigen Aufenthalt beim Schriftkünstler Heinrich Wieynck in Dresden kehrte er nach Leipzig zurück und wurde 1921 von Walter Tiemann, dem Direktor der Akademie, damit beauftragt, den Abendunterricht im Schriftschreiben zu erteilen. Nebenher war er Meisterschüler Tiemanns geworden und besaß ein eigenes kleines Atelier in der Akademie. In dieser Zeit erhielt Tschichold regelmäßig Aufträge für den Entwurf von Inseraten für die Leipziger Mustermessen und schrieb zwischen 1921 und 1925 Hunderte solcher Inserate in kalligrafischer Form, meist für die große Leipziger Buchdruckerei Fischer & Wittig. Der Einfluss des Bauhauses 1923 besuchte Tschichold die Ausstellung des Weimarer Bauhauses, die ihn nachhaltig beeinflusste. Von nun an widmete er sich ganz der neuen Typografie: asymmetrisch und mit grotesken Schriften. Dabei entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen ihm und dem Bauhaus-Typografen Laszlo Moholy-Nagy und anderen avantgardistischen Künstlern. Tschichold war von russischen Künstlern derart beeindruckt, dass er sich ab 1924 Iwan Tschichold nannte. Der wandelbare Jan Tschichold, ein Streiter für die Ästhetik des Satzes. Foto: Linotype Library GmbH Im Oktober 1925 gab er das Sonderheft „Elementare Typografie“ in der Zeitschrift „Typografische Mitteilungen“ heraus, das eine ungeheure Wirkung erzeugte und ihn zur führenden Persönlichkeit der typografischen Avantgarde machte. Ziel der von ihm propagierten Umwälzung war die „Einfachheit und Klarheit der Mittel“, die Reduzierung der verwendeten Schriften auf die „einzig wahre Schriftform, die Grotesk“ und die „Abschaffung des Ornaments“. Seine Thesen wurden ebenso leidenschaftlich gutgeheißen wie bekämpft, aber innerhalb weniger Jahre zeigten sich die Auswirkungen auf den Stil vieler Druckerzeugnisse, denn Ornamente und antiquierte Schriften begannen zu verschwinden. So sah für Tschichold das Grauen aus: Inserate mit wildem Durcheinander verschiedener Schriftarten. (Alle Abbildungen aus „Erfreuliche Drucksachen durch gute Typografie“ von Jan Tschichold, mit freundlicher Genehmigung des MaroVerlags Augsburg). 48 PRINT & PRODUKTION 9/03 Tschichold versuchte nun selbständig zu werden und ließ sich Anfang 1926 in Berlin als Zeichner nieder, wo er auch Edith Kramer heiratete. Im selben Jahr erreichte ihn ein Brief von Paul Renner, der gerade damit beschäftigt war, die neue Münchner Meisterschule aufzubauen und Tschichold nach München holte. Am 1. Juni 1926 trat Tschichold in die Dienste der Stadt München und unterrichtete die Meisterschüler und die Berufsschüler in Typografie und Kalligrafie. Auf Druck der bayerischen Behörden legte er den Künstlernamen Iwan ab und nannte sich wieder Jan. Verfolgt und vertrieben Im Jahre 1928 wurde Tschicholds Sohn Peter geboren und sein Lehrbuch „Die neue Typografie“ erschien. Das Buch untermauerte seinen Ruf als Wortführer der Avantgarde und wurde zur Bibel aller jungen Setzer. Tschicholds Filmplakate, u. a. für den Münchener Phoebus-Palast, sowie sein gesamter Stil der modernen Typografie wurden jedoch teilweise stark angefeindet. Der heraufziehende Nationalsozialismus drohte die neue Typografie bereits kurz nach ihrer Entstehung zu vertreiben und die schlimmsten Befürchtungen wurden Wirklichkeit, als 1933 nach der Machtübernahme der NSDAP Jan Tschichold als „entarteter Künstler“ für mehrere Monate in „Schutzhaft“ genommen und aus dem Lehramt entlassen wurde. Nach seiner Freilassung flüchtete Tschichold mit seiner Familie nach Basel in die Schweiz. Dort war die finanzielle Situation der Tschicholds anfangs sehr schlecht: Jan bekam zwar eine Halbtagsstelle im Benno Schwabe Verlag und ei- nen kleinen Lehrauftrag an der Baseler Gewerbeschule, aber gute Gestaltungsaufträge waren rar. Hinzu kam die ständige Drohung der Nichtverlängerung seiner Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis durch die schweizerischen Behörden. Erst 1942 erhielt er, was zu der Zeit sehr selten war, in Anerkennung seiner Leistungen das Baseler Bürgerrecht. Paradigmenwechsel 1935 erschien sein Buch „Typografische Gestaltung“, das sowohl in der Gestaltung als auch inhaltlich den Wendepunkt zur 2. Hälfte seines Lebens markiert. Der neue Tschichold hatte den Einfluss des Bauhauses und des Elementaren abgelegt und wandte sich wieder der klassischen Typografie und der Schriftkunst zu. Seit 1938 hat sich Tschichold dann ganz der Buchtypografie gewidmet. Er überließ die unsymmetrische Anordnungsweise der Werbetypographie und setzte fortan fast alles auf Mitte. Daneben schrieb Tschichold von 1933 bis 1946 eine große Anzahl von Fachartikeln. 1941 endeten die entbehrungsreichen Jahre mit einer Anstellung bei der expandierenden Baseler Firma Birkhäuser und als Zeichen seines Erfolges baute er sich 1944 ein Haus in Berzona (Tessin). Nachkriegsjahre in London waltige Aufgabe, denn sie umfasste eine vollständige Neuordnung der Typografie. Tschichold führte feste Satzregeln ein, um das formale Niveau dieses Druckwerks zu heben, und veröffentlichte das Buch „Im Dienste des Buches“, das das Regelwerk enthielt. In den wenigen Jahren in London erlangte Tschichold hohes Ansehen und wurde zum Ehrenmitglied des Londoner Double Crown Club ernannt. Rückkehr in die Schweiz Bald nach seiner Rückkehr in die Schweiz Ende 1949 begannen Verhandlungen über eine erneute Berufung an die Meisterschule für Buchdrucker in München. Aufgrund unzumutbarer Bedingungen — unter anderem sollte Tschichold auf die schweizerische Staatsbürgerschaft verzichten — wurde daraus jedoch nichts. Mittlerweile war eins von Tschicholds wichtigsten Büchern erschienen, das „Meisterbuch der Schrift“, in dem sich seine 30-jährige Beschäftigung mit Schriftformen aller Zeiten widerspiegelte. Ab 1955 war Tschichold Typograf im Hoffmann-La- Roche-Konzern in Basel. Sein am weitesten verbreitetstes und in die meisten Sprachen übersetzte Buch „Willkürliche Maßverhältnisse der Buchseite“ erschien 1962 und wurde mittlerweile 18mal neu aufgelegt. 1967 erschien seine bekannteste Schrift, die Sabon, bei Linotype, Stempel und Monotype. Am 11. August 1974 starb Jan Tschichold in Locarno in der Schweiz. Wenige haben tiefere Spuren in der Typografie der letzten 50 Jahre hinterlassen als er. Jan Tschichold hat wesentlich dazu beigetragen, die veraltete Typografie durch eine moderne, strukturierte und geregelte Typografie abzulösen. y Jörg und Kerstin Allner Im Sommer 1945 kamen der berühmte englische Buchdrucker Oliver Simon und der Verleger der Penguin Books, Allan Lane, nach Basel, um Tschichold als Typografen für den Verlag zu gewinnen. Tschichold sagte mit großer Freude zu und ab 1946 überarbeitete er die typografische Form der Penguin Books. Das war eine ge- PRINT & PRODUKTION 9/03 49 Berühmte Typografen [Teil 6] Professor Charisma: Unternehmen expandierte zum größten deutschen Designbüro. MetaDesign war hierzulande einer der Pioniere in Sachen Corporate Design und verstand sich zeitweilig als eine Art Geschmackspolizei, die die Vorgaben für ein einheitliches Erscheinungsbild wichtiger Marken definierte. So mit der holländischen IT-Gruppe Lost Boys. Nachdem Spiekermann nur noch im Aufsichtsrat der MetaDesign AG tätig war, führte die veränderte inhaltliche Ausrichtung – weg vom Design, hin zu mehr Beratung – zu bösen Umsatzeinbrüchen. Einige der besten Leute verließen das Unter- ErikSpiekermann Erik Spiekermann ist einerseits als studierter Kunsthistoriker, Typograf, Hochschullehrer und Jurymitglied internationaler Gestaltungswettbewerbe selbst eine anerkannte Autorität, andererseits ist er bekannt dafür, anderen Autoritäten mit drastischen Worten die Leviten zu lesen. Der in Berlin lebende Altlinke kommt aus einfachen Verhältnissen und hat es als Autodidakt in Sachen Typografie bis an die Weltspitze gebracht. Dennoch ist er sich treu geblieben. Obwohl aus den selbst gemalten Wandzeitungen gegen das Großkapital Großaufträge von VW und Audi geworden sind, hält er an seinen Prinzipien fest und lehnt z.B. eine Zusammenarbeit mit Rüstungsunternehmen ab. 32 PRINT & PRODUKTION 11/03 Erik Spiekermann wurde am 30. Mai 1947 als ältestes von 4 Kindern des Lastwagenfahrers Erich Spiekermann und seiner Frau Barbara in Stadthagen geboren. Seine Jugend in Niedersachsen und später im Rheinland war von der Nachkriegszeit mit Hunger und Entbehrungen geprägt. Als er 8 Jahre alt war, zog er mit seiner Fa- Das grafische Konzept der Berliner Verkehrsbetriebe ist einer von Spiekermanns großen Würfen. Alle Fotos: Prof. Erik Spiekermann milie nach Bonn, weil sein Vater dort eine Stelle als Chauffeur antrat. Schon während der Schulzeit begann er mit einer 1. kleinen eigenen Druckwerkstatt zu experimentieren. 1964, als 17-jähriger Gymnasiast, ging Erik Spiekermann nach Berlin, um der Bundeswehr zu entgehen. Sein Vater, der im Krieg Soldat war, meinte, dass er selbst genug Uniform für sich und seinen Sohn getragen habe. So kam es, dass sich Spiekermann fortan in Berlin als Pflastermaler und Straßenmusikant durchschlug. Trotzdem machte er sein Abitur. Sein Studium der Kunstgeschichte an der Freien Universität finanzierte er mit dem Druck von Flugblättern und Visitenkarten auf einer alten Tisch-Tiegeldruckmaschine, die er in einem Keller „gefunden“ und „vergesellschaftet“ hatte. 1973 ging er für 7 Jahre nach London, wo er unter anderem am College of Printing und bei der Branding-Agentur Wolff Olins arbeitete. 1979 zog er nach Berlin zurück und gründete mit Florian Fischer und Dieter Heil „MetaDesign“. Ab 1983 führte er die Firma als alleiniger Geschäftsführer mit bis zu 12 Mitarbeitern weiter, bis er 1990 mit der Designerin Uli Mayer und dem Banker Hans Christian Krüger zu „MetaDesign Plus“ umfirmierte. Das polierte MetaDesign unter anderem das Corporate Design von Volkswagen, Audi, Skoda, Lexus, Heidelberger Druckmaschinen, Boehringer Ingelheim sowie Berlins, des Düsseldorfer Flughafens, und des Wissenschaftsverlags Springer auf. Das Unternehmen gründete Ableger in London, San Francisco und Zürich und beschäftigte zur besten Zeit mehr als 200 Mitarbeiter. 6 Jahre in Folge belegten die Berliner Platz 1 im Ranking des Branchenblatts „Horizont“ für deutsche Agenturen im Corporate Design. Die Firma wuchs zwar mit der New Economy, behielt aber dennoch lange den Alt-68er-Ruf, sozialer zu sein als die anderen. So hat das Unternehmen, was sehr ungewöhnlich für die Branche ist, sogar einen Betriebsrat. Spiekermann war lange Zeit die treibende Kraft des Unternehmens, die MetaDesign in aller Welt repräsentierte. Doch trotz aller Erfolge begann es im Unternehmen Ende der 90er Jahre zu kriseln. Spiekermann wollte sich ab 1999 aus dem aktiven Geschäft nach und nach zurückziehen. Leider gab es große Meinungsverschiedenheiten über die zukünftige Ausrichtung. Während er einen Zusammenschluss mit einer Werbeagenturgruppe befürwortete, liebäugelten seine Partner Zunächst als Hausschrift für sein jüngstes Büro „United Designers“ gestaltet, ist FF Unit mittlerweile zu einer imposanten Familie mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten herangewachsen. 7 Strichstärken mit je 5 Versionen ergeben einen Grundstock von 35 Fonts. Spiekermanns Bildsprache für das Informations- und Leitsystem des Düsseldorfer Flughafens ist zurückhaltend, klar, einfach und international verständlich. nehmen und dazu kam dann 2001 die allgemeine Krise. Die Holländer spielten auf Zeit und retteten MetaDesign im Sommer aus der drohenden Insolvenz, bekamen die Firma also fast geschenkt. Kaum hatten sie die Mehrheit, entließen sie auch Hannes Krüger, den Vorstandsvorsitzenden, der den Merger betrieben hatte. Seit Anfang 2002 hat Spiekermann keine Anteile mehr an seiner ehemaligen Firma. Damit erging es ihm nicht besser als Commodore-Gründer Jack Tramiel oder AppleGründer Steve Jobs, die auch aus ihren Unternehmen hinauskomplimentiert wurden. Man kann es Vatermord nennen oder auch Scheidungsdrama – fest steht, dass die Atmosphäre zwischen dem Meta-Vater und den Meta-Enkeln zurzeit noch vergiftet ist und man kein gutes Haar mehr aneinander lässt. Direkt nach seinem Ausstieg baute Erik Spiekermann in Berlin-Schöneberg trotzig seine nächste Agentur, United Designers Network, auf. Mittlerweile ist sie mit Büros in Berlin, London und San Francisco vertreten. Der Name Spiekermann zog nach wie vor und so standen mit der Neugestaltung der englischen Zeitschrift The Economist und des Berliner Tagesspiegels gleich 2 neue Riesenaufträge ins Haus. Zurzeit arbeitet Erik Spiekermann mit einem Dutzend Kollegen im Berliner Büro am Corporate Design der Deutschen Bahn. Spiekermann, Erik Geboren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30. Mai 1947 in . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Stadthagen/ Niedersachsen Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Barbara und Erich Spiekermann Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Wolfgang, Angelika, Michael Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Dylan Enkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Luke Wohnort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Berlin Herr Spiekermann, sind Sie Links- oder Rechtshänder? . . . .Sehr rechts. Ihre größte Stärke? . . . . . . . . . . . . . . . . . .Schnelle Auffassung. Ihre größte Schwäche? . . . . . . . . . . . . . . .Schneller Überdruss. Ihr Hauptcharakterzug? . . . . . . . . . . . . . . .Neugierde. Ihr Motto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Lieber einen Freund verlieren, als einen Spruch auslassen; oder ernsthaft: Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawik). Ihre Hobbys? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Lesen, Quatschen, Rennrad fahren. Welchen Beruf ergreifen Sie im nächsten Leben? . . . . . . . . . . . . . . .Gitarrist. Als Kind wollten Sie nie so werden wie…? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Mein Turnlehrer. Angenommen, die Welt ginge in 24 Stunden unter: Was würden Sie noch tun? . . . . . . . . . . . .Kuchen backen und so viele Freunde wie möglich zum Essen einladen. Ihr Lieblingsplatz auf diesem Planeten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Auf einer Terrasse in der Sonne, fast egal wo. Schriften Angenommen, die berühmte Fee mit den 3 Wünschen erschiene, welche wären die Ihren? Alle Projekte sollten sofort erledigt sein; alle Freunde, denen ich etwas versprochen, aber nicht gehalten habe, sollten mir verzeihen; alle Bücher in meinen Regalen möchte ich auswendig kennen. Ihre Lieblingsfarbe? Grau, in allen Schattierungen. Typografie ist ... …die Inszenierung von Schrift und Bild in der Fläche (Lange); dabei geht es vor allem darum, die Flächen zwischen dem Gedruckten zu gestalten. Das nenne ich die Tektonik. 34 PRINT & PRODUKTION 11/03 Obwohl Erik Spiekermanns Hauptinteresse als politisch denkender Mensch der Gestaltung komplexer, öffentlicher Informationssysteme wie dem Orientierungssystem der Berliner Busse und Bahnen gilt, hat er sich auch im Schriftentwerfen, der Königsdisziplin im Grafikdesign, Meriten erworben. Er zählt auf diesem Gebiet mit seinen Klassikern FF Meta, ITC Officina, FF Info und der neuen Schrift FF Unit zu den weltweit erfolgreichsten Protagonisten. 1989 gründete er zusammen mit seiner damaligen Frau Joan Spiekermann und dem Typografie-Punk Neville Brody in Berlin das Versandhaus für Computerschriften FontShop. Das Unternehmen ist heute das weltweit größte, herstellerunabhängige Versandhaus für Schriften mit Dependancen in Australien, Belgien, Kanada, England, Frankreich, Japan, den Niederlanden, Norwegen, Österreich und den USA. Rund 40 000 Schriften von über 70 Herstellern bilden die FontShop-Bibliothek, die auch aus osteuropäischen, kyrillischen und asiatischen Zeichensätze sowie einer großen Auswahl an Logos, Symbolen und Bildzeichen besteht. Von gleicher Güte ist das Referenzwerk FontBook, das mit tausenden von Schriftmustern und Symbolsammlungen das umfassendste Lexikon für digitalisierte Schriften weltweit ist. Die 2. wichtige Produktgruppe bei FontShop sind Foto-CDs mit professionellen Fotos weltweit führender Hersteller wie PhotoDisc, Corbis, Digital Vision, Photo Alto und Stockbyte. Seit 1995 veranstaltet FontShop in Berlin eine jährlich stattfindende internationale Typografie- und Designkonferenz im Haus der Kulturen, der ehemaligen Kongresshalle. Zu diesem Weltgipfel des Design finden sich regelmäßig rund 1 500 Fachbesucher ein. Zu den Rednern gehörten bisher international angesehene Grafikdesign-Experten wie Prof. Bazon Brock, Neville Brody, David Carson, Kai Krause, Günter Gerhard Lange, Carlos Segura, Gerard Unger, Prof. Kurt Weidemann, Stefan Sagmeister und selbstredend auch Erik Spiekermann, der Vater des Gedankens und seit Beginn Moderator der Konferenz. Das WM-2006-Logo und die ästhetische Katastrophe Im Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit stand Spiekermann im Winter 2002, als er als Sprachrohr einer Kritikergemeinde das Logo zur Fußball-WM 2006 in Deutschland als „Zumutung“ bezeichnete. Dabei kam der Unmut über das lustige Smiley-Extasy-Sammelsurium an Zeichen gar nicht aus Berlin, sondern aus dem Umfeld einer englischen Designer-Fußballmannschaft, in der Spiekermann als kantiger Vorstopper hin und wieder blaue Flecken verteilt. Die englischen Kollegen zeigten sich verstört, weil sie die Deutschen in der nüchternen Bauhaus- und Minimalismus-Schublade hatten und nun in den fröhlichen Smileys eine undeutsche Leichtigkeit des grafischen Seins erblickten. Erik Spiekermann fand wie immer deutliche Worte: Er nannte das Logo, das von den Agenturen Whitestone (London) und Abold (München) gestaltet worden war, eine ästhetische Katastrophe und sah einen riesigen Image-Schaden auf Deutschland zukommen. 6, 7 Ideen seien da in ein kleines Logo reingequetscht worden und die Gestalter seien handwerklich unfähig, weil sie eine pseudo-moderne Schrift benutzt hätten, die man heute nicht mehr benutzen könne, so Spiekermanns harsche Kritik. Die kernigen Worte des Altmeisters fanden ein großes mediales Echo und lösten eine Springflut von kreativen Gegenvorschlägen aus (www.11designer.de, www.form. de), die alle samt und sonders Entwürfe blieben, weil der Deutsche Fußballbund das Logo natürlich nicht noch einmal überarbeiten lassen wollte. Die Botschaft Als Autor legendärer Fachbücher wie des typografischen Romans „Ursache & Wirkung“, aber auch als Hochschullehrer an der HfK in Bremen hat sich Erik Spiekermann einen Namen als Missionar in Sachen guter Gestaltung gemacht. Seine Analysen sind entwaffnend scharfsinnig und seine Urteile zuweilen vernichtend in ihrer Deutlichkeit. Doch weil er weiß, wovon er spricht, nimmt man ihn umso ernster, auch wenn es ans Eingemachte geht. Spiekermann sagt, die Typografie sei zum Geldverdienen da, denn wenn es keine Leute gäbe, die dafür bezahlten, würde es keine 30 000 Schriften geben. Im Gegensatz zum Künstler, der seine Probleme visualisiert und verschlüsselt, sieht er sich als Designer, der die Probleme seiner Auftraggeber visualisiert und entschlüsselt, um sie besser darzustellen. Bei Spiekermanns Lieblingsthema, der öffentlichen Hand, ereifert er sich mitunter und lässt Sätze los wie: „Dort gibt es niemanden, der Geschmack hat, niemanden, der weiß, dass es auch so etwas wie Kultur gibt. Deshalb bekommt bei Ausschreibungen immer der billigste Anbieter den Zuschlag ... Und deshalb bekommen die immer wieder Dreck, weil Dreck am billigsten ist.“ Aber auch die eigene Zunft bleibt nicht von Spiekermanns Kritik verschont. Mit den „Design-Stalinisten“, die mit ihrer „protestantisch-schwäbischen Verkniffenheit“ alles genau vorschreiben wollen, will er nichts gemein haben, und die aktuelle Welle anglo-amerikanischer Einflüsse auf die Branche sieht er ebenso kritisch. Warum man, nachdem man in Europa alles streng rational und metrisch aufgebaut hatte, das ganze Computersystem auf das amerikanische Zollsystem mit seiner Zweiundsiebzigstel-Teilung umstellen musste, will er nicht begreifen. Er hält den durch wirtschaftliche Macht ausgeübten Standard für einen absoluten Rückschritt. Genauso wenig hält er von Designwettbewerben, an denen er sich nicht beteiligt, weil es dabei seiner Meinung nach nur darum geht, dass sich Auftraggeber und Agenturen gegenseitig schulterklopfend gratulieren. Für ihn ist das nicht mehr als wechselseitige Selbstbefriedigung. Stattdessen forscht Erik Spiekermann lieber weiter an Informationssystemen, die er gerne mit der Sprache vergleicht. Logos sind dabei die Substantive, die von lebendigen Verben, sprich Texten, begleitet werden müssen, um eine funktionierende Syntax zu bekommen. Die größte Sünde in Sachen Typografie ist, so lehrt der Meister, nicht zu lesen, was man gestaltet, und nicht zu fragen, wem es dient. Erik Spiekermann, der auch der Präsident des IIID (Internationales Institut für Informationsdesign) in Wien und Präsident der ISTD (International Society of Typographic Designers) in London ist, hat am 17. Oktober in Den Haag für seine Leistungen im Bereich Typodesign und Typografie den von der Hague Royal Academy of Art und dem Meermanno Museum (The Hague) alle zwei Jahre vergebenen GerritNoordzij-Preis erhalten. y Kerstin und Jörg Allner Berühmte Typografen [Teil 7] Vater der Futura: a a Futura Paul Renner hat mit seinem umfangreichen Schaffen als SchriftenDesigner, Grafiker, Maler, Autor und Lehrer Zeichen gesetzt. Seine bekannteste Schrift, die Futura, eine serifenlose Linear-Antiqua, hat den Siegeszug der serifenlosen Schriften ausgelöst. Die Futura war zeitweise so erfolgreich, dass die mit ihr gestalteten Werbemittel zu einer Einheitslösung zu werden drohten, weil die Schrift einfach überall zu finden war: das Tatort-Logo, die Logos von SPD, REWE, Karstadt, Kaufhof, die Ortsschilder der Bahn genau wie die Artikel in der BILD – alles in Futura. Paul Renner wurde am 9. August 1878 in der Großen Bergstraße 46 in Wernigerode, einer Kleinstadt im Vorharz, geboren. Weil sich die heutige Eigentümerin des Geburtshauses quer stellte, hat die Stadt im September 2003 zu Paul Renners 125. Geburtstag in der Großen Bergstraße 11 eine Gedenktafel enthüllt, die den großen Sohn der Stadt ehrt, gesetzt natürlich in Futura. Renners Eltern waren der fromme und in der Stadt hoch geachtete Hofprediger, Kreisschulinspektor und Oberkonsistorialrat Dr. D. Ludwig Renner und seine Frau Luise, geborene Biermann, die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers. Von den 8 Kindern der Renners überlebten 6, von denen Paul das zweitjüngste war. Bereits 1891 46 PRINT & PRODUKTION 12/03 Paul Renner starb Luise Renner, 2 Jahre später heiratete der Vater erneut und die 2. Frau, Anna von Dithfurt, bemühte sich fortan, den Renner-Kindern die Mutter zu ersetzen. Die Erziehung im Hause Renner war streng. Der Vater war durch seine Zeit als Waise in den Frankeschen Stiftungen in Halle pietistisch geprägt und duldete weder Widerspruch noch Müßiggang. Die Kinder wuchsen isoliert von den Wernigeröder Kindern auf, weil der Vater verhindern wollte, dass sie den Wernigeröder Dialekt annahmen. Ihr Freundeskreis rekrutierte sich ausschließlich aus den Kindern des Hofstaats des Grafen Stolberg. Paul Renner besuchte wie seine Brüder das Gräflich Stolbergische Gymnasium zu Wernigerode. Er war hoch begabt und entdeckte früh sein Talent für das Zeichnen und die Malerei. 1897, nach dem Abitur, ging Paul Renner dem Ratschlag seines Vaters folgend, der die Malerei für eine brotlose Kunst hielt, nach Braunschweig, um dort an der Technischen Hochschule Architektur zu studieren. Schon nach einem Semester setzte er sich dann doch gegen seinen Vater durch und wechselte auf die Akademie der bildenden Künste nach Berlin, um dort Grafik und Malerei zu studieren. 1899 schließlich ging Paul Renner nach München, die Stadt, die für ihn fortan am wichtigsten wurde. Da der Vater befürchtete, sein Sohn könne im Trubel der Großstadt das Lernen vernachlässigen, beorderte er ihn bald an die kleinere Akademie nach Karlsruhe. Der Vater-Sohn-Konflikt eskalierte wenig später, als Paul seinen Militärdienst im exklusiven 1. bayrischen Feldartillerie-Regiment ableistete, allerdings gegen den Willen seines Vaters, der das aufgrund der selbst zu finanzierenden teuren Ausstattung als zu verschwenderisch empfand. Aber Paul Renner setzte sich durch und blieb auch nach dem Militärdienst in München. 1903 starb der Vater und Paul Renner erbte etwas Geld. 1904 heiratete er in München Anna Sedlmayr und zog mit ihr für 1 Jahr nach Rom. 3 Kinder gingen aus dieser Ehe hervor, Luise, Otto und Christine. Zurück in München arbeitete Renner als freischaffender Maler. Es entstanden zahlreiche Zeich- nungen, Aquarelle und Ölgemälde, die unter dem Einfluss der französischen Impressionisten standen. Trotz seines Talents blieb Renner der große Durchbruch und der künstlerische Erfolg als Maler verwehrt. Deshalb arbeitete er nebenher als freier Illustrator, unter anderem für das satirische Magazin Simplicissimus. Als er 1906 Vater wurde, drängte es Renner, das Nebengeschäft zum Hauptberuf zu machen und so nahm er 1907 eine feste Anstellung als Illustrator beim Georg Müller Verlag in München an. Neugierig und akribisch zugleich arbeitete sich Renner praktisch und theoretisch in die Buchgestaltung und Typografie ein. Es erschienen hunderte Bücher des Georg Müller Verlags in dieser Zeit, die durch seinen typografischen Stil geprägt waren. Gleichzeitig hatte Renner große Freude daran, sein Wissen weiterzugeben. 1910 trat er dem Deutschen Werkbund bei. Die Forderungen der Werkbündler nach Maßhalten, nach Zweckmäßigkeit und Gefälligkeit entsprachen genau seinem Weltbild. Von diesem Geist getragen, gründete er 1911 zusammen mit Emil Preetorius die Münchener Schule für Illustration und Buchgewerbe, die 1914 mit der Debschitzschule, einer Privatschule für freie und angewandte Kunst, zu den Münchener Lehrwerkstätten vereinigt wurde und deren Stellvertretender Direktor er bis 1919, unterbrochen durch die Kriegsjahre, war. Den 1. Weltkrieg erlebte Paul Renner als Ausbilder in einer Lehrkompanie für Feldartilleristen, für die er auch Lehrmaterialien verfasste. 1919 kaufte er sich ein Haus in Hödingen am Bodensee, das zunächst als Feriendomizil genutzt wurde und später zum Rückzugsort und Altersruhesitz für Paul Renner wurde. Steile Karriere In den 20er Jahren wuchs Renners Ruf als Lehrer und Autorität in Sachen Typografie beträchtlich und eilte ihm bald voraus. Ab 1922 gestaltete er die Bücher der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart und im gleichen Jahr erschien auch sein Lehrbuch „Typographie als Kunst“. 1924 bat ihn der Drucker und Verleger Jakob Hegner, eine moderne Schrift zu entwerfen. Es ent- stand die erste Fassung der Futura, die ihren Namen von Renners Freund Prof. Dr. Fritz Wichert, Direktor der Städtischen Kunstschule Frankfurt, erhielt. Die Bauersche Schriftgießerei in Frankfurt, bei der die Schrift erschien, und auch Renner bewarben die Futura, die in Frankreich als Europe herauskam, als die „Schrift unserer Zeit“, als Symbol für eine ganze Epoche – ein Anspruch, der sich später bewahrheiten sollte. Im Jahr 1925 überredete Fritz Wichert Paul Renner, in Frankfurt nicht nur seine Schriften gießen zu lassen, sondern auch zu unterrichten. Renner willigte ein und wurde Leiter des Fachbereichs Kommerzielle Kunst und Typografie der Frankfurter Kunstschule. Bereits im Herbst desselben Jahres kehrte er allerdings wieder nach München zurück, weil ihn der nächste Ruf in ein akademisches Amt ereilte. Er wurde Oberstudiendirektor und Leiter der Grafischen Berufsschule in München. Am 1. 2. 1927 wurde Paul Renner sogar zum 1. Direktor der neu gegründeten Münchner Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker berufen, einer Gewerbeschule des Deutschen Buchdrucker-Vereins für künftige Betriebsleiter. Diese Institution erlangte Weltruf unter der Führung von Paul Renner, der sie bis 1933 leitete. Im typografischen Kriegszustand Zu jener Zeit, in den 20er und 30er Jahren, tobte ein Streit unter den Typografen, der sich aus der unterschiedlichen Weltsicht der Anhänger der verschiedenen Lager erklärte und aus heutiger Sicht kaum noch nachzuvollziehen ist. Damals revolutionierte die moderne Kunst die Typografie, insbesondere der Futurismus, der Dadaismus und der Konstruktivismus. Junge Gestalter wie El Lissitzky, Laszlo MoholyNagy, Marcel Breuer, Jan Tschichold, Hermann Zapf, Adrian Frutiger, Paul Renner und Kurt Schwitters distanzierten sich von der kleinbürgerlichen Typografie der Verlagshäuser und Druckereien, deren typografische Kultur sich an gebrochenen Schriften oder Historismus und Jugendstil orientierte. Sie propagierten und ideologisierten eine „Moderne Neue Typogra- phie“, die „Grotesk-Typographie“, die die junge Industriegesellschaft, den Fortschritt, die sozial orientierte proletarische Fraternisierung und den Internationalismus symbolisierte. Es herrschte ein typografischer Kriegszustand zwischen Grotesk- und Antiqua-Ideologen, der um 1924 seinen Höhepunkt erreichte. Für die Nazis und deren kulturpolitische Organisation „Kampfbund für deutsche Kultur“ war die Grotesk Ausdruck eines „Kulturbolschewismus“, den sie mit allen Mitteln bekämpften. Grotesk-Schriften galten als „entartet“. In typografischer Hinsicht wurde „Entartung“ als die Tendenz zu abstrakt geformten Buchstaben und einer insgesamt mechanisch wirkenden Gestaltung definiert. In dieser Situation verfasste Paul Renner die Kampfschrift „Kulturbolschewismus?“, die 1932 bei Renners Freund Eugen Rentsch in Zürich erschien, weil das Buch in Deutschland bereits nicht mehr zu publizieren war. Der Inhalt war brisant, denn das Buch enthielt auf 62 Seiten eine flammende Verteidigung der Moderne in Architektur und bildender Kunst und forderte Liberalität und Toleranz. Damit machte Paul Renner sich endgültig zum Feind der braunen Horden, die im Januar 1933 die Macht im Deutschen Reich an sich rissen und die Fraktur bevorzugten und zur „deutschen“ Schrift erklärten. Alle grafischen Bereiche wurden in die so genannte „durchgreifende moralische Sanierung des Volkskörpers“ einbezogen und unterschiedliche Fraktur-Schriften sollten nun den vorherrschenden Größenwahn des 3. Reichs symbolisieren. Am 3. 1. 1941 wendete sich das Blatt jedoch, als die Nazis die Fraktur als offizielle deutsche Schrift absetzten und sie sogar als „Schwabacher Judenletter“ verunglimpften. Dieser radikale Richtungswechsel hatte allerdings keinerlei ideologische Hintergründe, sondern ganz praktische. Der wahre Grund war, dass der Gebrauch dieses Schrifttyps zu Verständigungsschwierigkeiten in den besetzten Gebieten führte. Verbannung trotz höchster Ehren Das Jahr 1933 war für Paul Renner der absolute Scheitelpunkt seines Lebens. Der „Völkische Beobachter“ hatte Renner gleich nach Erscheinen des „Kulturbolschewismus?“ zum Gegenstand des öffentlichen Hasses gemacht und im April 1933 wurde Renner, schon zuvor ein persönlicher Feind des neuen Innenministers Wilhelm Frick, ohne richterlichen Beschluss als „Kulturbolschewist“ denunziert, als Schulleiter suspendiert und inhaftiert. Allerdings konnte er schon nach einem Tag nach Intervention eines einflussreichen Freundes das Gefängnis wieder verlassen. Renner war verbittert und ging in die innere Emigration. Er zog sich in sein Haus am Bodensee zurück, von wo er zwar weiter Fachartikel schreiben durfte, die Lehrtätigkeit aber war ihm fortan untersagt. Trotz der Suspendierung wurde Renner vom Werkbund und dem Auswärtigen Amt beauftragt die deutsche Abteilung auf der 5. Triennale einzurichten, die das grafische Schaffen in Deutschland repräsentieren sollte. Die Ausstellung war ein großer Erfolg und Renner wurde mit dem „Gran Diploma d´honore“ und dem Offizierskreuz der italienischen Krone ausgezeichnet. 1937 wurde er sogar in die Jury der Pariser Weltausstellung berufen, danach wurde es still um ihn. Renner malte wieder viel, schrieb an seiner (unvollendeten) Autobiografie und veröffentlichte das Buch über Schrift- und Buchgestaltung „Die Kunst der Typografie“, das erstmals 1940 erschien. Im Sommer 1944 wurde Paul Renner in die Ereignisse um das Hitler-Attentat der Widerstandsgruppe um den Grafen Stauffenberg verwickelt. Seine älteste Tochter Luise, Mutter von fünf Kindern, war mit dem Agrarhistoriker Dr. Heinz Haushofer, Ministerialrat und Honorarprofessor an der TH München, verheiratet. Heinz Haushofers Bruder, Dr. Albrecht Haushofer, gehörte zum Kreis der Verschwörer und wurde nach dem Attentat am 20. Juli 1944 verfolgt. Da man seiner nicht sofort habhaft werden konnte, nahm man die ganze Familie, also auch Renners Tochter Luise, in Sippenhaft. Am 7. Dezember wurde Albrecht Haushofer aufgegriffen und Luise kam daraufhin frei. Am 23. April 1945 wurde Albrecht Haushofer im Zuchthaus Berlin-Moabit ohne Gerichtsurteil hingerichtet und sein Bruder Heinz kam am selben Tag frei und konnte zu seiner Familie zurückkehren. Paul Renner konnte aufatmen, doch Deutschland lag in Trümmern. Im Jahr 1947 veröffentlichte Renner als letzte große Arbeit das Buch „Ordnung und Harmonie der Farben“. 1948 erlitt er einen Schlaganfall, im November 1949 starb seine Frau Anna. Von nun an lebte Paul Renner nur noch im Sommer in Hödingen, die Winter verbrachte er in einem Münchner Hotel. Am 25. 4. 1956 starb Paul Renner in Hödingen, wo er auch beigesetzt wurde. Sein Meisterwerk, die Futura, ist zu einer der verbreitetsten und am häufigsten kopierten Schriften der Menschheit geworden. Damit hat sich der klarste und rationalste Gedanke durchgesetzt und seinen Schöpfer unsterblich gemacht. y Paul Renner einer der führenden Köpfe der Typografie des 20. Jahrhunderts. Die karolingische Minuskel war das Ergebnis der in den Kanzleien und Schreibschulen Karls des Großen (2. 4. 747–28. 1. 814) unternommenen Schreibreform. Die Schrift war im ganzen europäischen Abendland verbreitet. Von ihr stammen die modernen Kleinbuchstaben ab. Die Schwabacher Fraktur wurde von den Nazis zunächst zur „deutschen Schrift“, später zur „Judenletter“ erklärt. (Abbildungen aus: Paul Renner, „Die Kunst der Typografie“, Reprint, MaroVerlag, Ausgsburg, 2004) Kerstin und Jörg Allner Einige der bekanntesten Schriften von Paul Renner: Futura (1928) Plak (1928) Futura black (1929) Futura light (1932) Futura Schlagzeile (1932) Ballade (1937) Renner Antiqua (1939) Steile Futura (1952) Paul Renner war auch ein guter Zeichner, wie diese beiden Frauenakte beweisen. Das Foto unten zeigt einen kleinen Ausschnitt der Ausstellung „Paul Renner, dem Schöpfer der Futura, zum 125. Geburtstag“ im Harzmuseum Wernigerode, 1. 10.–15. 11. Fotos: Stadt Wernigerode | Berühmte Typografen | | Neville Brody | Neville Brody ist ein TypoSuperstar, und sein Werk zählt zu den Klassikern der Moderne. Sein „Brody-Style“ definierte in den 80er Jahren die internationalen Standards im Zeitschriften-Design neu, seine Plattencover für die britische Anarcho-Elektronik- Design-Popstar band Cabaret Voltaire sind legendär, und die von ihm entworfenen Schriften dürfen in keiner Mac-Standardsoftware fehlen. Ob Mick Jagger in den 60ern, David Bowie in den 70ern oder Neville Brody in den 80ern und 90ern, Großbritanniens Kreative sind exzentrisch und provozierend. Design von der Insel vereint Innovation und professionelles Marketing zu immer neuen „Geschmackswellen“, die unaufhaltsam ihre Kreise um die Erde ziehen. Auch der Brody-Look verbreitete sich rasend schnell über den Planeten und prägte entscheidend das Gesicht der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Nie zuvor wurden visuelle Innovationen aus der Typografie so schnell und so umfassend aufgegriffen und kopiert. Da man dieses Phänomen eigentlich nur aus dem Bereich der Popmusik – beginnend mit den Beatles und den Stones – kannte, nennt man Brody auch den ersten Popstar des Grafikdesigns. Sie sind zunächst junge, nonkonformistische Künstler in einer Subkultur, sie reüssieren und zählen schließlich selbst zum Establishment. | 32 | Musik Neville Brody, der am 23.4.1957 in London zur Welt kam und auch dort aufwuchs, wollte eigentlich nach dem Schulabschluss Kunst studieren, besann sich dann aber und nahm 1976 ein Grafik-Design Studium am altehrwürdigen „London College of Printing“ auf. Der akademische Lehrbetrieb mit seinen festen Abläufen und tradierten Lehrinhalten stand zu jener Zeit in einem extremen Gegensatz zu einer Jugendkultur, die sich mehr durch Anarchismus, Punk und New Wave auszeichnete, als dass sie durch Folgsamkeit glänzte. Damit waren die Spannun- PRINT & PRODUKTION 3/2004 | gen zwischen den Autoritäten und der Avantgarde am College vorprogrammiert und alsbald hatte auch der Student Neville Brody handfesten Ärger mit der Hochschulleitung. Brody hatte auf einem Entwurf für eine Briefmarke für die britische Post den Kopf der Queen derart verdreht, dass die Professoren darin den erfüllten Straftatbestand der Majestätsbeleidigung erkannten. Damit war klar, dass Brody bereit war, alles in Frage zu stellen, was er dann auch in jeder erdenklichen Form tat. Er löste sich vollkommen von den Konventionen des tradierten GrafikDesigns und erklärte für sich sämtliches Regelwerk für obsolet. Seine Arbeit beschäftigte sich von nun an mit der Evolution einer neuen, visuellen Sprache, die alles hinterfragt und nach einem Dialog über die Rolle des Designs ruft. Charakteristisch für Brodys damaligen Stil war der dekorative Einsatz von Ziffern und die Verwandtschaft zur Punk-Strategie, sich Symbole und Zeichen anzueignen und umzucodieren und Fotografie als Muster oder grafisches Element einzusetzen. Trotz aller ideologischen Radikalität führte Brody sein Studium jedoch brav zu Ende. Neben dem Studium hatte er bereits für das freie Plattenlabel „Fetish Records“ eine ganze Reihe von Plattencovern für Bands der Punk- und New- Wave-Szene entworfen. Dabei entstanden experimentelle Designs, die mit den nihilistischen Texten der Musiker korrespondierten. Man kann überhaupt mit Fug und Recht behaupten, dass Musik generell einen sehr starken Einfluss auf Brodys Arbeit hat. Nur sind es heute Jazzklänge, zu denen Brody seinen Mac bedient. The Face: ein Magazin setzt einen neuen Standard Neville Brody ging nach Abschluss seines Studiums im Jahr 1981 von den Plattencovern zur Gestaltung von Magazinen über. Sein Markenzeichen war damals ein rigoroser typografischer Fanatismus. Als Art Director des englischen Jugend- und Modemagazins „The Face” (1981-1986) revolutionierte er die Art, in der Designer und Leser mit dem Medium „Schrift“ umgingen. Viel Applaus erhielt Brody für seine brandneue Idee, Schriften in das Design sowohl einzubinden, als auch untereinander zu kombinieren. Anstatt das damals übliche Letraset zu benutzen, zeichnete Brody seine Headlines selbst, und weil er mit den Fonts der 70er Jahre seine DesignVorstellungen nicht verwirklichen konnte, ging er noch einen Schritt weiter und begann eigene Schriften zu entwerfen. Die bekanntesten davon sind die Arcadia, die Insignia, die Industria Solid und die Insig- Foto: www.researchstudios.com 2003: Wandgestaltung für die Bar des Institutes of Contemporary Arts in London. Foto: www.researchstudios.com nia Inline. Brody dazu in einem Interview: „Das erste Alphabet, das ich entwickelt habe, war sehr geometrisch, streng und kaum gefühlsbetont. Es erinnerte an die Schriftengestaltung der 30er Jahre, war also auf eine Art faschistisch, und ich benutzte es als Kommentar auf den Zustand des Landes, wie ich ihn sah.“ Brodys Schriften waren alles andere als perfekt gezeichnet und teilweise auch unharmo- nisch ausgeglichen. Dieser anarchistische Effekt war zum Teil beabsichtigt, andererseits stand ihm auch außerordentlich wenig Zeit zur Verfügung. Dazu Brody: „Ich hatte gerade mal anderthalb Stunden, um einen Vierseiter zu entwickeln.“ Da der rauhe Look seiner Schriften exakt dem Zeitgeist entsprach, wurde das Design bald zu den meist imitierten Vorlagen für Zeitschriften, Werbung und Grafikdesign. Ende der 80er Jahre war der Marketingund Werbemarkt bereits übersättigt. Diese Entwicklung hing mit den technologischen Fortschritten im Computerbereich zusammen, durch die Computer erschwinglich, Layoutprozesse insgesamt vereinfacht und einem breiteren Publikum zugänglich wurden. Grafik-Design, Typografie und Layout entwickelten sich zu einer neuen Form der „Alltagskultur“ und zur „Kunst“. 1987 gründete Neville Brody sein erstes eigenes Design-Studio, das sich heute Research Studios nennt und Dependancen in London, Paris, Berlin und demnächst auch in New York unterhält. Eines der ersten Projekte mit dem eigenen Team war die Arbeit für das Magazin „Arena“ (1987–1990), mit der Neville Brody das Publikum auf eine völlig unerwartete Weise überraschte, indem er den genau gegensätzlichen Kurs zu seinem Frühwerk einschlug. In „Arena“ setzte er plötzlich Typografie und GrafikDesign in nahezu minimalistischer und undekorativer Weise ein. Damit widersetzte sich Brody bewusst der im Designbereich von ihm selbst mit ausgelösten vorherrschenden No-Order-Hysterie, was wiederum zu einer eigenen Hysterie, der „mein-Gott-was-macht-er-dennjetzt-Hysterie“ führte. | Foto: www.bangertverlag.de Die Layouts des Magazins „The Face“ begründeten Brodys Ruhm und wurden oft und gern kopiert. 1996/97: Das Cover des „Trendbuchs für neues Grafikdesign G1“. Die Grafiksprache des Neville Brody 1988 veröffentlichte Brody sein erstes Buch „The Graphic Language of Neville Brody“, das zu den Schlüsselwerken zur Popkultur der 80er gehört und sich zum bestverkauften Design-Buch aller Zeiten entwickelte. Zeitgleich zur Buchveröffentlichung eröffnete Brody in der Twentieth Century Gallery im Victoria and Albert Museum in London eine Ausstellung unter demselben Namen, die dann später in vielen Städten der Welt präsentiert wurde. Durch diesen musealen Ritterschlag hatte das Werk des erst 31-jährigen Designers und Typografen endgültig eine globale Bedeutung erlangt – ein typografisches Frühwerk, das man bis dato für nicht möglich gehalten hatte. Es folgten Anfragen aus aller Welt, so von den italienischen Hochglanzmagazinen „Per Lui“ und „Lei“ und dem französischen Magazin „Actuel“. In Österreich eröffnete Brody die PRINT & PRODUKTION 3/2004 | 33 | | Berümte Typografen | Teil 8 | | Neville Brody | 1999: Poster zur FuseAusstellung in Tokio. 1994: Cover des zweiten Teils der „Grafiksprache des Neville Brody“. Foto: www.researchstudios.com 1991: Aus Hunderten von Entwürfen für die niederländische Post PTT wurden schließlich drei ausgewählt und als Briefmarken vertrieben. Foto: www.researchstudios.com Foto: www.researchstudios.com Foto: www.researchstudios.com Arcadia FF Autotrace Double FF Autotrace Five FF Autotrace Nine FF Autotrace One FF Autotrace Outline FF Blur FF Dirty Four FF Dirty One FF Dirty Seven One FF Dirty Seven Two FF Dirty Six One FF Dirty Three FF Dome FF Dome Headline FF Gothic One One FF Gothic One One Condensed FF Gothic One Two FF Gothic One Two Condensed FF Gothic Two One FF Gothic Two Two FF Harlem FF Harlem Slang Industria Inline Industria Solid Insignia FF Pop Led FF Pop Pop FF Tokyo One FF Tokyo One Solid FF Tokyo Two FF Tokyo Two Solid FF Typeface Four One FF Typeface Four Two FF Typeface Seven FF Typeface Six FF World One FF World Three FF World Two 1992, CI des österreichischen Staatsfernsehens ORF. 1991-1994, CI des Pay-TV-Senders Premiere. Organisation „design-for-television company“, in Japan arbeitete er eng mit den CD-Rom-Herstellern „Digitalouge“ zusammen. Die 90er: weltweite Zeichen 1989 hat Erik Spiekermann mit seiner Frau Joan in Berlin das Schriftenversandhaus Fontshop (www.fontshop.de) gegründet. Recht bald stellte sich heraus, dass es auch eine rege internationale Nachfrage nach modernen Schriften gab und so hob Spiekermann 1990 gemeinsam mit Neville Brody Font Shop International (www.fontshop.com) aus der Taufe. Brody wurde Art-Director und Kopf des typografischen Experiments Fuse. Dabei | 34 | handelt es sich um „Pakete“ mit experimentellen digitalen Schriften und Anwendungsbeispielen, wie Poster oder Flyer, die anfangs viermal jährlich veröffentlicht wurden. Am 1. Mai 1991 erschien das Paket Nr. 1, „Invention“, das Brody zusammen mit Jon Wozencroft zusammengestellt hatte. In der Folge erschienen noch 17 weitere Fuse-Pakete, an denen so namhafte Typografen wie David Carson, Jeffrey Keedy, Rick Valicenti und Tibor Kalman mitwirkten und die so klingende Namen trugen wie „Religion“ (Fuse 8), „Pornography“ (Fuse 11) oder „Genetics“ (Fuse 16). Inzwischen erscheint Fuse nur noch sporadisch, das zuletzt erschienene Paket „Secrets“ (Fuse 18) aus dem Jahr PRINT & PRODUKTION 3/2004 | 2000 ist wieder einmal von Neville Brody selbst produziert worden. Dazu hat er auch die Schrift „ F Lies“ beigesteuert. 1994 erschien der zweite Teil des Grafikdesignbuches „The Graphic Language of Neville Brody 2“ unter der Ägide von Jon Wozencroft. Das Buch ist nicht nur ein sehr persönlich geschriebenes Porträt des Grafikers Brody, sondern auch ein wichtiges Zeitdokument moderner Grafik wegen der über 800 Arbeitsbeispiele aus den verschiedensten Anwendungsbereichen vom Zeitschriftendesign bis zum Entwurf neuer Schriften. 1995 veröffentlichte Brody mit seinem Team in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Max eine 17seitige Strecke über London. Foto: www.bangertverlag.de SCHRIFTEN VON NEVILLE BRODY Die Aufgabenstellung der Redaktion lautete: „Visualisiert eure Stadt – mit völlig freier Hand“ Das Ergebnis war eine Synthese aus Pfeilen, Flächen, Buchstaben und Ziffern, kombiniert mit Frames und Videosequenzen, in einem animierten Layout, wie man es seinerzeit 1:1 auch auf MTV und VIVA zu sehen bekam. Mit diesem Internet-Design auf Papier deutete Brody bereits an, wem er von nun an mehr Zeit widmen wollte: dem TV- und InternetDesign. So gestaltete Brody mit seinem Team inzwischen die Corporate Identity für Fernsehsender wie dem deutschen Kabelkanal Premiere und dem Österreichischen Staatsfernsehen ORF. Außerdem entwarf er Briefmarken für die holländische Post und Logos für das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, Parco in Japan und Greenpeace in England. 1996/97 veröffentlichte Neville Brody zusammen mit Lewis Blackwell „das Trendbuch für neues Grafikdesign G1“. In diesem Zusammenhang fertigte er Arbeiten für die Deutsche Bank und Macromedia an. Der Name Brody ist inzwischen ein globaler Markenname. Brody betreibt seine eigene Layoutfirma, vertreibt seine eigenen Schriftfonts in aller Welt und prägt die Images internationaler Kunden wie Swatch, Nike, und The Body Shop. Sein Schwerpunkt liegt heute auf dem Design elektronischer Kommunikation und gemeinsam mit seinem Designteam entwickelt er unter anderem interaktive Oberflächen für das World Wide Web. Damit hat es Brody geschafft mehr als 20 Jahre lang permanent an der Weltspitze der Designer und immer auf der Höhe der Zeit zu sein, auch als Schriftentwickler und Partner von Font Shop International in Berlin und Font Works in London. Als Trendsurfer erster Güte wird er wohl auch auf den Kronen der nächsten und übernächsten Geschmackswellen reiten. Kurzum: es lohnt sich diesen Mann im Auge zu behalten. y Kerstin und Jörg Allner | Berühmte Typografen | Teil 10| | Otl Aicher | Foto: ERCO Leuchten GmbH, www.erco.com Kritischer Blick: Otl Aicher mit einem Mitarbeiter von ERCO am Leuchttisch. Otl Aicher prägte fast 17 Jahre lang das Erscheinungsbild des Unternehmens. Otl Aicher war einer der erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Gestalter des 20. Jahrhunderts. Sein Leben Dackel in Regenbogenfarben: Auch Waldi, das Maskottchen der Olympiade, wurde nach den CI-Vorgaben von Olt Aicher produziert. Der Gestalter von Ulm und Werk steht in enger Verbundenheit zu der Schwabenhauptstadt Ulm, der Familie Scholl und der Entwicklung einer neuen Ausbildungsform für junge Gestalter, dem so genannten „Ulmer Modell“. Sein Meisterwerk war die Gestaltung des Erscheinungsbilds der XX. Olympischen Spiele in München im Jahre 1972, den „fröhlichen“ Spielen, die, wie Otl Aicher, tragisch endeten. | 38 | Jugend in Ulm Otto, genannt Otl, Aicher wurde am 13.Mai 1922 in Ulm-Söflingen geboren. Vater Anton Aicher arbeitete zunächst als Fabrikarbeiter, holte später auf der Abendschule sein Abitur nach und machte sich 1932 selbständig. In der Zeit des Nationalsozialismus heranwachsend, weigerte sich Otl Aicher konsequent, sich vom NS-Staat vereinnahmen zu lassen. Eine Haltung, die seine Familie, die dem katholischen Widerstand nahe stand, unterstützte. Otl weigerte sich der HitlerJugend beizutreten, was zur Konsequenz hatte, dass er nicht zum Abitur zugelassen wurde. In dieser Zeit war es für Aicher besonders wichtig, sich mit Freunden auseinanderzusetzen, um einen Weg am Rande des Obrigkeitsstaates zu finden. Im Herbst 1939 schloss er eine enge Freundschaft mit den Geschwistern Scholl, deren älteste Schwester Inge er 1952 heiratete und die die Mutter der fünf Aicher-Kinder Eva, Florian, Pia, Julian und Manuel ist. Der Ulmer Aicher-SchollFreundeskreis war sich in seiner freigeistigen Grundhaltung und der Ablehnung des NS-Regimes einig, obgleich Hans und Sophie Scholl bis 1935 selbst begeisterte Nazis gewesen waren. Doch spätestens seit November 1937, als Hans, Inge, Werner und Sophie Scholl kurzzeitig wegen „bündischer Umtriebe“ verhaftet worden waren, hatte die Familie mit dem NS-System gebrochen. Der Freundeskreis fand sogar während des Krieges einen Weg, durch Rundbriefe PRINT & PRODUKTION 4/2004 | miteinander zu kommunizieren und ihre Gedanken auszutauschen. Bis 1942 ließen sie dazu das von Aicher entworfene, selbst gefertigte Diskussionsblatt „Windlicht“ zirkulieren. Dann wurde die Gefahr zu groß, da sie von den Nazis als „Bündische Betätigung“ hätte interpretiert werden können, was damals mit 16 Jahren Gefängnis bestraft wurde. Hans Scholl und seine Schwester Sophie gründeten in München mit einer Handvoll Mitstreitern die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, die regimekritische Flugblätter verfasste, vervielfältigte und versandte. Auch Otl Aicher verurteilte das NS-System, war aber zurückhaltend aus Angst um das Leben seiner Familie und Freunde. So hielten Hans und Sophie Scholl ihre Aktivitäten vor den anderen geheim, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Am 18.02.1943 wurden Hans und Sophie Scholl bei der Flugblattverteilung in der Münchner Universität verhaftet. Am 22.02. erging das Todesurteil des Volksgerichtshofs, woraufhin Christoph Probst, Sophie und Hans Scholl sofort hingerichtet wurden. Nach der Hinrichtung wurde die Familie Scholl vorübergehend in „Sippenhaft“ genommen. Vater Robert Scholl wurde unter anderem wegen Hörens der BBC zu 18 Monaten Haft verurteilt. In der Ulmer Lokalpresse eröffnete der Kreisleiter unter der Überschrift „Wie lange noch Scholl?“ eine gnadenlose Hetzkampagne gegen die Familie, die daraufhin in den Schwarzwald übersiedelte. Aicher, der im Felde stand, hielt den Kontakt zu Inge Scholl mit der Feldpost aufrecht. So erfuhr er von den Vorfällen und wusste, wohin er gehen musste, als er gegen Kriegsende, im Frühjahr 1945, desertierte. Im Schwarzwald traf er sich mit der Familie Scholl, und gemeinsam versteckten sie sich auf einem Bauernhof. Aufbau und Neuanfang in Ulm Nach dem Zusammenbruch kehrte die Gruppe nach Ulm zurück, wo die Amerikaner Robert Scholl zum Oberbürgermeister machten. In der Zeit des Wiederaufbaus, der Neuorganisation des Staates und des öffentlichen Lebens sahen Inge Scholl und Otl Aicher die Möglichkeit, gemeinsam mit Gleichgesinnten an der Neugestaltung des Landes mitzuwirken. Sie veranstalteten Seminare, in denen sie über neue Modelle und Staatsformen diskutierten. Dem Muster dieser ersten Veranstaltungen folgend organisierten sie immer wieder derartige Zusammenkünfte, um Zeitthemen zu diskutieren und Lösungen zu erarbeiten. Das erste große gemeinsame Projekt war die Gründung der Volkshochschule Ulm, deren Leitung Inge Scholl übernahm. Aicher prägte von Anfang an das Erscheinungsbild der „Ulmer vh“, gleichzeitig studierte er 1946/47 in München Bildhauerei. Allerdings empfand er die Kunst im Allgemeinen und die Bildhauerei im Besonderen alsbald als zu indirekte Mittel der Kommunikation. Aicher wollte direkter kommunizieren, Botschaften übermitteln und Systeme schaffen. | Otl Aicher | | Teil 10 | Berühmte Typografen | Fotos: ERCO Leuchten GmbH, www.erco.com Piktogramme: Der japanische Grafiker Katsumi Masaru schuf erstmalig 1964 für die Olympischen Spiele in Tokio ein Bildzeichensystem, das die einzelnen Sportarten kennzeichnete. Für die Olympischen Spiele 1972 vereinfachte Otl Aicher diese Piktogramme. Dies war der Auftakt für die Entwicklung eines internationalen Verständigungssystems im Auftrag der Firma ERCO. Olympia forever: Alles über die Olympiade 1972 in München findet sich unter www.olympia72.de. Also brach er sein Studium ab und eröffnete sein eigenes grafisches Atelier in Ulm. Schon bald entwickelte er ein systematisches grafisches System für die vh. So wurden z. B. die Themen der Donnerstags-Vorträge auf hochformatigen Plakaten angekündigt, während die allgemeinbildenden und praktischen Kurse auf quadratischen Formaten bekannt gegeben wurden. Die Plakate für einen Monat bildeten jeweils eine gestalterische Einheit durch Farbe und formale Elemente. Die HfG, eine Episode in Ulm Im Gedenken an ihre Geschwister Sophie und Hans Scholl gründete Inge Scholl 1950 die Geschwister-Scholl-Stiftung, die zur Trägerin der künftigen Hochschule für Gestaltung Ulm wurde. Nach einer Anschubfinanzierung durch die Amerikaner in Höhe von einer Million Mark, gegeben unter der Maßgabe, dass deutsche Mittel in gleicher Höhe beigesteuert wurden, hob Inge Aicher-Scholl 1953 zusammen mit ihrem Mann Otl Aicher und Max Bill, die Hochschule aus der Taufe. Otl Aicher wurde einer der wichtigsten Dozenten und von 1962 bis zur Schließung 1968 auch Rektor der Hochschule. Mit der Gründung der HfG löste Otl Aicher sein Atelier auf. Alle Aufträge wurden nun von den Studenten bearbeitet. Ein Projekt der HfG machte die Hochschule besonders bekannt: Die Studenten des Fachbereichs Produktgestaltung entwickelten unter der Leitung von Hans Gugelot Radiogeräte für die Firma Braun. Diese wurden 1955 erstmalig präsentiert und sorgten für Aufsehen. Otl Aicher entwarf die Skalen der Geräte, unter anderem auch für den Plattenspieler SK 4, der als „Schneewittchen-Sarg“ in die Designgeschichte einging. 1963, nach 10-jährigem Bestehen, hatten die Dozenten an der HfG ein Ausbildungsprogramm für Gestalter entwickelt, das durch einen hohen Praxisbezug und kurze Studienzeiten als Vorbild für die Reorganisation an vielen deutschen Kunst- und Werkkunstschulen diente und als Ulmer Modell bezeichnet wurde. Teil des Modells waren so genannte Entwicklungsgruppen, die große Projekte selbstständig betreuten. Otl Aicher, Hans Gugelot, Walter Zeischegg und Tomás Maldonado waren feste Leiter dieser Gruppen. Otl Aichers Gruppe E 5 bekam 1962 von der Deutschen Lufthansa den Auftrag die gesamten Werbemittel, Flugscheine, Flugpläne und Gepäckanhänger zu überarbeiten. Im selben Jahr wurde Otl Aicher Rektor der HfG und Gastdozent an der Yale University und in Rio de Janeiro. Ende 1964 wurde die E 5 aufgelöst und Otl Aicher richtete sich erneut ein eigenes Büro ein. In den folgenden Jahren kam es in der Hochschule zu Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern des gestalterischen Bereichs, zu denen auch Otl Aicher gehörte, und den Mitgliedern des wissenschaftlichen Bereichs. Dabei ging es um die Frage, inwieweit sich Gestaltungsprozesse systematisieren ließen. Darüber kam es zu großen Zerwürfnissen sowohl innerhalb des Lehrkörpers, als auch mit der Landesregierung, die schlussendlich zur Schließung der unbequemen Hochschule führten. Die Teilnahme am wirtschaftlichen Aufbau hatte Aicher nämlich nicht daran gehindert, sich immer wieder politisch zu engagieren. Die Erfahrungen | mit dem NS-Staat hatten ihn zu einem entschiedenen Verteidiger bürgerlicher Entscheidungsfreiheit gemacht. Für die Ostermärsche, die seit den 1950er Jahren veranstaltet werden, entwickelte er ein professionelles Erscheinungsbild. Anstatt handgemalter Transparente wurden Schriftplakate in einheitlicher Gestaltung benutzt. Die weiße Taube, das Symbol der Friedensbewegung, erschien als exakt konstruiertes Zeichen auf den Plakaten und Fahnen. Mit dem sachlichen und nicht von linken Symbolen belasteten Stil erhoffte man sich Unterstützung in bürgerlichen Kreisen. Außerdem konzipierte Otl Aicher auch zahlreiche Plakate gegen die Stationierung von Atomraketen in Neu-Ulm. Nach dem 1968er Ostermarsch, bei dem linke Studenten mit roten Fahnen und Ho-Chi-Min-Rufen den Auftritt bestimmten, zogen sich Aicher und andere, die aus dem bürgerlichem Lager stammten, von den Ostermärschen zurück. Nichtsdestoweniger beteiligten sich Aicher und seine Frau auch weiterhin an Demonstrationen für Frieden und Abrüstung. PRINT & PRODUKTION 4/2004 | 39 | | Berühmte Typografen | | Otl Aicher | Foto: www.sportmuseum-koeln.de Otl Aicher museal: Im Deutschen Sportund Olympia-Museum in Köln findet sich unter anderem eine reichhaltige Sammlung von Olympia 1972 Objekten, die in einer Dauerausstellung gezeigt werden. Schriften von Otl Aicher RotisSansSerif RotisSansSerif Bold RotisSanSerif Extra Bold RotisSansSerif Italic RotisSansSerif Light Olympische Spiele in München 1972 Der Höhepunkt seiner Karriere war der Auftrag, das visuelle Erscheinungsbild der XX. Olympischen Spiele 1972 in München zu gestalten, den Otl Aicher und seine Mitarbeiter 1967 vom olympischen Organisationskomitee erhielten. Die besondere Aufgabe war es, ein neues Bild von Deutschland zu zeigen und der Welt eine Korrektur des Bildes vom Nazi-Deutschland zu liefern. Die Münchner Spiele sollten musisch und unpolitisch sein. Otl Aicher entwickelte ein Gesamtkonzept in einem schnörkellosen, geradlinigen und prägnanten Stil. Er vermied die Farben Schwarz, Rot und Gold und erfand stattdessen die Regenbogenspiele, heiter und gelöst – so, wie die Spiele auf die Welt wirken sollten. Neben der ästhetischen hatten die Farben aber auch eine ordnende Funktion: Blau signalisierte Sport, Grün Presse, Orange Technik und Silber Protokoll. Als Schriftart wurde die von Adrian Frutiger entwickelte klare, leichte Groteskschrift Univers gewählt. Ein weiterer Teil des Gestaltungskonzeptes war die Entwicklung von international verständlichen Piktogrammen für die verschiedenen Sportarten, die seither weltweit Verwendung finden. Sie funktionierten auf dem Gelände, im Olympischen Dorf, im Stadtverkehr und als farbige Vergrößerungen zur Kennzeichnung der Sportstätten. Die konsequente Einheitlichkeit war ein sehr wichtiges Merkmal der Olympischen Spiele in München, sogar die Polizei und das Militär waren in das gestalterische System integriert. Alle farbigen und formalen Elemente wurden nach strengen | 40 | Gestaltungsgesetzen entwickelt. Aichers Konzept erregte weltweit große Aufmerksamkeit. Rotis aus Rotis 1972 zog Otl Aicher mit seiner Familie nach Rotis im Allgäu, wo er ein weitläufiges historisches Mühlengrundstück erworben hatte. Inzwischen gehörten zu seinen Auftraggebern unter anderem BASF, Blohm + Voss, BMW, die Dresdner Bank, ERCO und der Flughafen München. Je mehr sich Aicher mit der Grafik beschäftigte, umso weiter entfernte er sich von der bildenden Kunst. Im Rahmen seiner gestalterischen Arbeiten setzte sich Aicher auch viel mit Schriften auseinander. Er war ein Befürworter serifenloser Schriftarten, war aber auch der Meinung, dass eine Schriftart wie die Times wegen ihrer Lesbarkeit für längere Texte besser geeignet sei. In den 80er Jahren gestaltete Aicher aus der mittelalterlichen Minuskel eine neue Schriftart – die Rotis, die er 1988 fertig stellte. Mit der Rotis wollte Otl Aicher die schmucklose Qualität der Groteskschriften und die Lesequalität der klassischen Serifenschriften vereinigen. Die neue Schriftart sollte nicht mehr mit Zirkel und Lineal konstruiert sein, sondern Teil eines fließenden Prozesses sein. Deshalb entwarf er breite Grundstriche und relativ schmale Buchstaben mit größeren Buchstabenabständen, alles mit dem Anspruch, dass nicht der einzelne Buchstabe, sondern das Zusammenspiel von Bedeutung ist. Otl Aicher hat seine Gedanken und Ideen in zahlreichen Büchern veröffentlicht. Eines davon ist das Buch „Typographie“ PRINT & PRODUKTION 4/2004 | RotisSansSerif Light Italic RotisSemiSans RotisSemiSans Bold RotisSemiSans Exra Bold RotisSemiSans Italic RotisSemiSans Light RotisSemiSans Light Italic RotisSemiSerif RotisSemiSerif Bold RotisSerif RotisSerif Bold RotisSemiSerif Italic von 1988, in dem er sagt „Typographie ist nichts anderes als die Kunst, jeweils herauszufinden, was das Auge mag, und Informationen so schmackhaft anzubieten, dass es ihnen nicht widerstehen kann.“ Am 1. September 1991 verstarb Otl Aicher an den Folgen eines schweren Unfalls in Rotis. Er war mit einem selbstfahrenden Rasenmäher von seinem Grundstück auf einen angrenzenden Weg gefahren, wo er von einem Motorrad erfasst wurde. Sein Werknachlass wurde im Sommer 1996 von der Familie Aicher-Scholl an das Ulmer Museum/HfG-Archiv übergeben, was sich im Nachhinein als eine sehr unglückliche Entscheidung erwies, weil damit 4000 Plakate, 27 000 Entwurfsblätter, 30 000 Dias sowie die Korrespondenz zu rund 350 Projekten des epochalen Gestalters von Ulm in die Fänge einer Institution gefallen sind, die das ihr anvertraute Kulturgut mehr schlecht, als recht verwaltet. Armer Otl Aicher. y Kerstin und Jörg Allner | El Lissitzky | | Teil 11| Berühmte Typografen | Der Konstrukteur Lissitzkys Name ist untrennbar mit den avantgardistischen Kunststilen Konstruktivismus und Suprematismus verknüpft. Jan Tschichold, einer der fähigsten deutschen Typografen jener Zeit, beschrieb den Tausendsassa El Lissitzky so: „Er war von sprühendem Geist und lebhaften Bewegungen, schlank, eher klein von Gestalt und in seiner Art fast dandyhaft, aber ernst. Er war von unbändigem Erfinderdrang erfüllt und musste, selbst in Gesellschaft anderer, immer irgend etwas tun: fotografieren, zeichnen, schreiben.“ Avantgarde Der russische Dichter, Pfeifenraucher, Kommunist und Begründer der modernen Typografie El Lissitzky war ein ausgesprochenes Multitalent, das in vielen Kunstgattungen außerordentliches geleistet hat. Er war Vortragsredner und Theoretiker, Erfinder des Proun, Wegbereiter mo- Geboren als Lasar (Jelieser) Morduchowitsch Lissitzky am 23.11.1890 in Potschinok/Russland, im Bezirk Smolensk, wuchs El Lissitzky in einer gebildeten jüdischen Familie viersprachig auf (Russisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch). Seine Jugend verbrachte er in Witebsk und in Smolensk. 1909, nach Abschluss des Realgymnasiums in Smolensk, wollte er eigentlich an der Kunstakademie in St.Petersburg studieren, wurde allerdings abgelehnt. Daraufhin siedelte El Lissitzky nach Deutschland über und begann bei Josef Maria Olbrich an der Polytechnischen Hochschule in Darmstadt Architektur und Zeichnen zu studieren. 1914, nach Abschluss seiner Ausbildung als Architekt und Diplom-Ingenieur, bereiste Lissitzky die Schweiz, Italien und Frankreich, bis ihn im August der Kriegsausbruch überraschte und er nach Russland zurückkehrte. Zunächst war Lissitzky in verschiedenen Moskauer Architekturbüros tätig, bis er Mitte des Jahres 1919 nach Kiew übersiedelte, um dort in der Kunstsektion des Kommissariats für Aufklärung Propagandamittel zu gestalten. Im gleichen Jahr berief ihn Marc Chagall als Professor und Leiter der Grafischen Werkstätten und der Architekturabteilung an die Kunsthochschule in Witebsk. Dort traf Lissitzky mit Kasimir Malewitsch zusammen, der im Herbst als Lehrkraft an die Kunsthochschule berufen wurde. Malewitsch, der ukrainische Maler, hatte 1913 den dem Konstruktivismus nahe stehenden Suprematismus entwickelt. In seinen Bildern („Schwarzes Rechteck auf weißem Grund“, 1915) versuchte er die malerischen Formelemente auf ihren Nullpunkt zurückzuführen und mit der ausschließlichen Verwendung von geometrisch-flächenhaften Elementarformen jede Erinnerung an gegenständliche Materie zu verbannen. Der 12 Jahre ältere Malewitsch übte auf El Lissitzky einen enormen Einfluss aus, und in seinen Arbeiten zeigte sich innerhalb kürzester Zeit ein radikaler Bruch von der naturnahen Figuration zur geometrischen Abstraktion. Charakteristisch für den Konstruktivismus/Suprematismus war das Selbstverständnis seiner künstlerischen Vertreter, sich durch ihre Arbeit aktiv am Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligen zu wollen. Diese Strömung existierte nur in einer kurzen Zeitspanne von nicht einmal 20 Jahren, war aber dennoch von großem Einfluss auf die weitere Entwicklung von Architektur, Kunst und Design. Lissitzky bezeichnete sich selbst als „Konstrukteur“, sein fotografisches Selbstportrait montierte er auf Millimeterpapier. Das Bild wurde zu einem Symbol der Kunst der 20er Jahre, abgedruckt in unzähligen derner Ausstellungstechniken, Herausgeber von Zeitschriften, visionärer Architekt und das leben- Typografie im Dienste der Revolution: El Lissitzkys Plakat „Schlagt die Weißen mit dem roten Keil“ diente der Bürgerkriegspropaganda. de Bindeglied zwischen der russischen und der westeuropäischen Avantgarde der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. | PRINT & PRODUKTION 5/2004 | 33 | | Berühmte Typografen | Teil 11 | | El Lissitzky | Konstruktivistische Typografie: „o. T. (Entwurf für ein Rosa Luxemburg Monument)“, El Lissitzky, 1919/20, Aquarell auf Papier, Staatliches Museum für Gegenwärtige Kunst Thessaloniki. Foto: IkonenMuseum der Stadt Frankfurt Büchern und Zeitschriften weltweit. Es versinnbildlichte das Streben nach Kreativität durch die Kombination von moderner Technologie und menschlichem Intellekt. Schlüsselbegriff Proun Um 1920 entwickelt El Lissitzky den Begriff „Proun“ für seine Arbeiten. El Lissitzky hat sich zwar oft und vielfältig dazu geäußert, was „Proun“ bedeutet, dennoch gibt es verschiedene Mutmaßungen über den Ursprung seiner Wortschöpfung. Der plausibelste Ansatz ist, „Proun“ als verkürzte Zusammensetzung aus „Projekt“ und ’UNOVIS’ zu sehen. UNOVIS (wörtlich „Begründer der neuen Kunst“) war der Name der Gruppe, die El Lissitzky in seiner Zeit an der Witebsker Schule ins Leben gerufen hatte. „Proun“ könnte man also dementsprechend als „Projekt zur Begründung der neuen Kunst“ übersetzen. Die Gemäldefolge „Proun“ zeichnen sich durch ihre Verbindung zwei- und dreidimensionaler Formen aus, die kennzeichnend für Lissitzky gesamtes Werk blieb. 1921 wurde El Lissitzky an die Kunsthochschule nach Moskau berufen, wo er für kurze Zeit Monumentalmalerei und Archi- | 34 | Kasimir Malewitsch: „Schwarzes Rechteck“, Öl auf Leinwand, Staatliches Museum für Gegenwärtige Kunst Thessaloniki. Foto: Ikonen-Museum der Stadt Frankfurt geprägten Umfeld dieser Bauhaus-ähnlichen Schule seine Arbeit an den ProunBildern fort. Die Goldenen 20er tektur unterrichtete. Dort gestaltete er für das Politische Direktorat der Westfront das Plakat „Schlagt die Weißen mit dem roten Keil“ und setzte im interdisziplinär PRINT & PRODUKTION 5/2004 | Gegen Ende des Jahres 1921 siedelte Lissitzky nach Berlin über. Berlin war in den zwanziger Jahren für osteuropäische Künstler eine wichtige Drehscheibe zwi- schen West und Ost, ein Ort des geistigen Austauschs und der politischen Zuflucht. Bisher waren die Kontakte der russischen Kunstströmungen nach Europa jahrelang äußerst beschränkt geblieben, und El Lissitzky wurde schon bald zum Botschafter und Sprachrohr des russischen Konstruktivismus in Westeuropa. Erst mit dem Vertrag von Rapallo (16.04.1922) trat Russland aus der außenpolitischen Isolation. Zunächst verkehrte Lissitzky in den Kreisen russischer Intellektueller und beteiligte sich an den Vorbereitungen für die legendär gewordene „Erste Russische Kunstausstellung“, die im Herbst 1922 in der Galerie Van Diemen in Berlin stattfand. Zum ersten Mal waren außerhalb Russlands die suprematistischen und konstruktivistischen Arbeiten einer jungen Künstlergeneration zu sehen und es wurde deutlich, dass sich in Russland ein starker, eigenständiger Zweig der modernen Kunst ausgebildet hatte. 1923 veröffentlichte Lissitzky seine „Topographie der Typographie“, welche die Entwicklung der Schriftgestaltung entscheidend beeinflusste und die die wichtige Stellung der Buchgestaltung innerhalb seines Gesamtwerks verdeutlicht. Darin manifestierte sich seine allmähliche Abwendung von der futuristischen Typografie sowie als Novum der erstmalige Einsatz von wahrnehmungspsychologischen Methoden, die heute fester Bestandteil der Werbung geworden sind. EL Lissitzkys zweijähriger Aufenthalt in Berlin wurde durch häufige Reisen in verschiedene Städte und Nachbarländer unterbrochen, denn der rastund ruhelose Lissitzky war an einer ganzen Reihe Projekte beteiligt. Er hielt Vorträge, war Mitherausgeber von diversen Zeitschriften und der Kreis von Leuten, mit denen er zusammengearbeitete, liest sich wie ein „who-is-who“ der damaligen KunstAvantgarde (eine kleine Auswahl: Hans Arp, mit dem Lissitzky 1925 das Buch „Die Kunstismen“ veröffentlichte, Theo van Doesburg und Cornelis van Esteren von | El Lissitzky | Die Mutter aller Installationen: El Lissitzkys Prounenraum. der holländischen Bewegung „de Stijl“, mit denen er sich zu einer konstruktivistischen Internationale zusammenschloss, Lásló Moholy-Nagy und Mies van der Rohe, Bauhaus, Raoul Hausmann, Kurt Schwitters u.v.m.). El Lissitzky nahm von Berlin aus viele Einladungen wahr und vermittelte die „Erste Russische Kunstausstellung“ aus Berlin nach Amsterdam. In Hannover erhielt er Aufträge der Firma Pelikan, für die er unter anderem verschiedene Werbeplakate entwarf. In der niedersächsischen Stadt bot man ihm zudem die Gelegenheit, eine lithografische Mappe zu gestalten. El Lissitzky wählte bezeichnenderweise die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“, die schon Malewitsch inspiriert hatte. Im gleichen Jahr konnte Lissitzky auf der Großen Berliner Kunstausstellung seinen Prounenraum vorstellen, mit dem er zum ersten Mal konsequent seine Vorstellungen dreidimensional umsetzte. Ende 1923 erkrankte Lissitzky an Lungentuberkulose und verbrachte einige Zeit in der Schweiz mit Kuraufenthalten. Die Krankheit bzw. deren Folgen begleiteten ihn für den Rest seines Lebens, sein Schaffensdrang blieb jedoch ungebrochen. Aus andauernden Problemen mit seiner Aufenthaltsgenehmigung resultierte 1925 Lissitzkys Ausweisung aus der Schweiz. Der unerwartete Selbstmord seiner Schwester bewog ihn zunächst nach Moskau zurückzukehren, wo er Mitglied im Verband Neuer Architekten wur- Typografie im Dienste der Wirtschaft I: Der Sozialrevolutionär El Lissitzky verschmähte die Angebote aus der freien Wirtschaft nicht. Hier eine Arbeit für den Hannoveraner Schreibwaren-Hersteller Pelikan aus dem Jahr 1924. | Teil 11 | Berühmte Typografen | Schwitters einen persönlichen Freund gefunden hatte. Zudem hatte er dort seine spätere Frau, Sophie Küppers, die künstlerische Leiterin der Gesellschaft, kennen gelernt. Die Kunsthistorikerin Sophie Küppers, 1891 in Kiel als Arzttochter Sophie Schneider geboren, war damals Mutter zweier kleiner Söhne und Ehefrau von P.E. Küppers, dem Gründer der Kestner Gesellschaft. El Lissitzly zeigte 1926 im Provinzialmuseum Hannover einen abstrakten Ausstellungsraum, den er kurz zuvor in der Internationalen Kunstausstellung in Dresden präsentiert hatte und der nun als „Abstraktes Kabinett“ ständig im Provinzialmuseum verblieb. 1927, nach dem plötzlichen Tod von P.E. Küppers, ging Sophie Küppers mit El Lissitzky nach Moskau, wurde sowjetische Staatsbürgerin und heiratete ihn. Ihre private Kunstsammlung mit Werken von Kandinsky, Klee, Grosz, Mondrian, Leger und anderen vertraute sie als Leihgabe dem Provinzialmuseum in Hannover an. Die Bilder bekam sie nie wieder zu Gesicht: 1937 wurden sie von den Nazis beschlagnahmt und dienten wenige Wochen später in der Ausstellung „Entartete Kunst“ als Beispiel der „Verworrenheit und Geisteskrankheit“ moderner Kunst. Das Jahr 1928 wurde für die jungen Eheleute ein besonders ereignisreiches Jahr, denn El Lisssitzky hatte den Auftrag erhalten, den sowjetischen Pavillon für die Presseausstellung „Pressa“ in Köln zu entwerfen. Unter seiner Leitung arbeitete ein Team von 35 sowjetischen Künstlern für das Projekt, das Leistungen und Erfolge der Sowjetpresse demonstrieren sollte. In der Halle standen verschiedene kinetische Objekte, die als Träger von Textund Bildinformationen fungierten, wie ein nach Lissitzkys Entwurf ausgeführter Fotomontage-Fries von 24 Metern Länge. Für den Katalog schuf Lissitzky dem Fries ähnliche Collagen, die aus Zeitungsausschnitten und Fotografien zusammengesetzt waren. Diese neuen typografischen und fotografischen Gestaltungsformen wurden richtungweisend und gingen um die ganze Welt. El Lissitzky und Sophie Lissitzky-Küppers reisten von Köln aus nach München, Wien, Frankfurt/M., Paris, und Hannover, bevor sie erneut nach Moskau zurückkehrten. Stalins langer Arm Im Jahr 1930 kam der gemeinsame Sohn Jen zur Welt und1931 übersiedelt die junge Familie nach Chodnja/Russland, wo Lissitzky zum verantwortlichen Künstler der permanenten Bauausstellung berufen wurde. Es folgen weitere Großaufträge zur Gestaltung von Propagandazeitschriften und großen Ausstellungen, immer wieder unterbrochen von mehrmonatigen Krankenhaus- und Sanatoriumsaufenthalten. Nach Stalins Machtübernahme wurde El Lissitzky zum Abweichler von der Parteilinie des Sozialistischen Realismus erklärt, bekam keine Aufträge mehr und starb am 30.Dezember 1941 im Alter von nur 51 Jahren an Tuberkulose. Seine Frau Sophie wurde mit ihrem jüngsten Sohn Jen wegen ihrer deutschen Abstammung nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion als Staatsfeindin nach Sibirien verbannt, wo sie ein Dasein in unvorstellbarer Armut fristen musste. Sophie Lissitzky-Küppers hat dort lange überlebt und ist auch nach der Aufhebung des Urteils unter Chruschtschow bis zu ihrem Tod 1978 mit 87 Jahren in Nowosibirsk geblieben. Kurz vor ihrem Tod hat sie ihrem Sohn Jen eine handgeschriebene Liste ihrer verschollenen Kunstwerke übergeben. Wäre der Sohn der deutschen Kunsthistorikerin und des russischen Konstruktivisten im Besitz der Bilder, so hätte er ein gewaltiges Vermögen — nach dem heutigen Marktwert an die 50 Mio. Euro. Trotzdem ist der rechtmäßige Erbe machtlos, denn bislang konnte er vor Gericht nicht beweisen, dass die Kunstwerke, die heute in alle Winde verstreut sind, Eigentum seiner Mutter sind. Aber das ist eine andere Geschichte. y Kerstin und Jörg Allner Typografie im Dienste der Wirtschaft II: Anzeige für Pelikan aus dem Jahr 1925. de und seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule wieder aufnahm. Bereits im Sommer des folgenden Jahres kehrte Lissitzky aus geschäftlichen wie aus privaten Gründen nach Deutschland zurück, um an der Internationalen Kunstausstellung in Dresden teilzunehmen. Er zog nach Hannover, weil er dort in der progressiv ausgerichteten Kestner-Gesellschaft einen loyalen Kreis von Förderern und mit Kurt | PRINT & PRODUKTION 5/2004 | 35 | Kreatives Ehepaar: Zuzana Licko und Rudy VanderLans. | Berühmte Typografen | Teil 13 | | Zuzana Licko | Von Bratislava nach Berkeley Zuzana Lickos Erfolg in einem hauptsächlich von Männern aus- Kindheit hinter geübten Beruf und ihr Aufstieg zur bekanntesten Schriftenentwerferin weltweit war ihr nicht in die Wiege gelegt worden – im Gegenteil. Als Einwanderin in die USA machte sie aus ihrer Außenseiterrolle eine Stärke. Ihre frühen Fonts haben die digitale Typografie revolutioniert und eine ganze Generation von Schriftenentwerfern inspiriert. Heute ist Zuzana Licko, die mehr als 3 Dutzend Schriftenfamilien entworfen hat, verantwortlich für die Emigre Foundry, die derzeit über 300 Schriften von rund 20 Designern anbietet. | 58 | PRINT & PRODUKTION 10/2004 | dem Eisernen Vorhang Zuzana wurde im Oktober 1961 in Bratislava, in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Ihren Eltern, dem Biomathematiker Vojtech Licko und der Histologin Veronika Licko, war es in der kommunistischen CSSR trotz ihrer Neigung verwehrt geblieben, eine künstlerische Ausbildung zu erhalten. Umso mehr förderten sie die musischen Talente ihrer Tochter. Zu jener Zeit erschütterten innenpolitische Unruhen die CSSR. Nachdem es im Herbst 1967 zu starken Protesten gekommen und der Parteichef der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei Novotny abgesetzt und durch den Reformpolitiker Alexander Dubcek ersetzt worden war, deutete sich 1968 ein umfassendes politisches Reformprogramm unter dem Schlagwort „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ an, das als „Prager Früh- Wandelbar: Das „Emigre“-Magazin erscheint immer mit wechselnden Layouts. Oben das Cover der Ausgabe Nr. 64 RANT (2003), gestaltet von Rudy VanderLans mit dem Font Fairplex von Zuzana Licko. In dieser Ausgabe spielte „Emigre“ den „Agent Provocateur“ und fragte die jungen Designkritiker, ob sie es mit den alten Hasen aufnehmen können. ling“ in die Geschichtsbücher einging. Doch die rasche innenpolitische Liberalisierung in der Tschechoslowakei stieß besonders in der Sowjetunion auf heftige Ablehnung, auch die Regierungen der DDR und Polens befürchteten ein Übergreifen der Liberalisierungswelle. Dies führte in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 zum Einmarsch sowjetischer Truppen, unterstützt von Truppenkontingenten der DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens, in die Tschechoslowakei. Wie es das Schicksal wollte, hielten sich die Lickos just zu diesem Zeitpunkt für einen Badeurlaub in Jugoslawien auf, als die CSSR die Grenzen schloss. Schweren Herzens beschlossen Vojtech und Veronika Licko in dieser Situation, nicht in die Heimat zurück zu kehren, obgleich sie dadurch keine Gelegenheit mehr hatten, sich von den Verwandten und Freunden zu verabschieden und sie nur Gepäck für einen Badeurlaub dabei hatten. Doch die große Politik hatte entschieden. Sie verließen Jugoslawien und emigrierten aus dem kalten Krieg ins warme Kalifornien, wo sie sich San Fransisco niederließen. Die junge Familie besaß zwar wenig, die Eltern fanden aber bald Arbeit an der örtlichen Universität und das Einzelkind Zuzana entwickelte sich prächtig. | Zuzana Licko | | Teil 13 | Berühmte Typografen | Geschäftstüchtig: eine Anzeige für den Font Solex von Zuzana Licko. Schriften von Zuzana Licko Das Cover der Nr. 46 Fanzines and the Culture of DIY (1998), gestaltet von Rudy VanderLans mit dem Font Base Monospace von Zuzana Licko. Diese Ausgabe untersucht die Design-Kultur der Fanzines und der Do-it-yourselfMagazine. Durch ihren Vater und seine Arbeit als Mathematiker hatte sie bereits sehr früh Zugang zu Computern. Vojtech Licko war es auch, der sie dazu inspirierte, ihre erste Schrift zu entwerfen, ein griechisches Alphabet für seine mathematischen Formeln. 1981 nahm Zuzana Licko das Studium an der Berkeley Universität auf. Sie begann Architektur zu studieren, wechselte dann aber im Hauptstudium zu „Visual Studies“, weil sie erkannt hatte, dass das Design orientierte Gestalten ihren Neigungen mehr entsprach, als das eher ingenieurwissenschaftliche Gestalten der Architekten. Das Studium, das sie mit einem „Graphic Communications Degree“ abschloss, war ihr im Prinzip wie auf den Leib geschneidert, ausgenommen der Kalligraphie-Kurs – normalerweise die Paradestrecke der Typografen, den sie gehasst hat, weil man sie dort als Linkshänderin gezwungen hatte mit der rechten Hand zu schreiben. Andererseits lernte sie an der Berkeley Universität auch ihren späteren Ehemann Rudy VanderLans kennen, der als Holländer ebenfalls ein Außenseiter war. Rudy VanderLans und „Emigre“ Rudy VanderLans wurde 1955 in Voorburg, Holland geboren. Er besuchte von 1974 bis 1979 die Königliche Akademie Klare Botschaft: ein Emigre-Mousepad, gestaltet von Rudy VanderLans mit dem Font „Base“ von Zuzana Licko. der Bildenden Künste in Den Haag. Seinem Wunsch entsprechend Illustrator zu werden, spezialisierte er sich in Richtung Grafikdesign. Nach dem Studium arbeite er zunächst in Wim Crouwels renommierten Total Design Studio in Amsterdam, wo er Corporate-Identity-Aufträge zu bearbeiten hatte. 1981 bewarb er sich für das „UC Berkeley Graduate Programm“ und wurde akzeptiert. Er zog nach Kalifornien und lernte dort Zuzana Licko kennen und lieben. Die beiden heirateten 1983. Damit konnte VanderLans in Amerika bleiben. Nach einem kurzen und anstrengenden Gastspiel als Illustrator beim „San Francisco Chronicle“ begann VanderLans 1984 mit zwei weiteren holländischen Immigranten das Kulturjournal für eingewanderte Künstler „Emigre“ heraus zu geben. Die ursprüngliche Idee war, kein ausgesprochenes Design-Magazin zu machen, sondern verschiedene Arbeiten von Künstlern zu zeigen, die in anderen Ländern gelebt hatten, von Kurzgeschichten bis zur Architektur und zur Fotografie. Die erste Ausgabe erschien im Format 11.5#x#17 Zoll, und da man zunächst kein separates Budget für Schriftgestaltung hatte, war der Text hauptsächlich auf Schreibmaschine geschrieben und auf einem Kopierer der Größe entsprechend angepasst worden. Doch bald begann Zuzana Licko mit dem gerade erst auf den Markt gekommenen neuen Apple Macintosh und einem Bitmap-Font-Tool zu arbeiten und Schriften für das Magazin zu entwerfen. Ungefähr zur gleichen Zeit stellten die Emigre-Macher fest, dass sie die Leser, die potentiellen Anzeigenkunden und auch die Zeitschriftenhändler, die nicht wussten, in welche Kategorie sie Emigre einsortieren sollten, mit ihrem Konzept verwirrt hatten. Nach acht Ausgaben stellten die Emigre-Macher das Konzept des Magazins um, und von nun an erschien „Emigre“ mit einem deutlichen Fokus auf Grafikdesign. Bis 1987 waren die ursprünglichen Initiatoren bis auf VanderLans ausgestiegen. „Emigre“, das bis dahin eher unregelmäßig erschienen war, entwickelte sich zu einem quartalsweise erscheinenden Magazin. Ab 1988, mit der zehnten Ausgabe, wurde Emigre von den Studenten der Cranbrook Academy of Art in Michigan hergestellt. VanderLans konzentrierte sich als Herausgeber darauf, an Themen zu arbeiten, die von anderen Designmagazinen vernachlässigt wurden, etwa weil es nicht zur Tradition gehörte oder sie die Themen noch für zu verfrüht erachteten. Die Computertechnik gab ihm außerdem die Flexibilität, jede Ausgabe komplett neu zu gestalten. Manchmal liefen mehrere Artikel parallel auf den Seiten, jeder Text unterschied sich durch die Schrift, | Modula (1985) Coarse Resolution (1985) Lo-Res (1985 and 2001) Citizen (1986) Matrix (1986) Lunatix (1988) Oblong (1988) Senator (1988) Variex (1988) Elektrix (1989) Triplex (1989) Triplex Greek (1989) Journal (1990) Modula Tall Greek (1990) Senator Tall Greek (1990) Tall Pack (1990) Totally Gothic & Totally Glyphic (1990) Matrix Script Greek (1992) Matrix Script (1992) Quartet (1992) Quartet Cyrillic (1992) Narly (1993) Dogma (1994) Whirligig (1994) Base Nine and Twelve (1995) Base Nine Cyrillic (1995) Modula Round & Ribbed (1995) Soda Script (1995) Filosofia (1996) Mrs Eaves (1996) Mrs Eaves Ligatures (1996) Base Monospace (1997) Hypnopaedia (1997) Tarzana (1998) Solex (2000) Fairplex (2002) Düsseldorf 21. – 27. 4. 2005 Leader of the Pack www.interpack.com PRINT & PRODUKTION 10/2004 | 59 | | Berühmte Typografen | Teil 13 | | Zuzana Licko | Schwungvoll: 12 Schriftschnitte der Fairplex von Zuzana Licko in einem Layout von Rudy VanderLans. Multimedial: Emigre Cover Nr. 63 Scenic. The Acid Gospel Experience (2002). Layout: Rudy VanderLans, Font: Fairplex. Diese Ausgabe ist dem Designer und Musiker Bruce Licher und seiner Band Scenic gewidmet. Dem Magazin liegt Lichers CD „The Acid Gospel Experience“ bei. Fonts Als Zuzana Licko im Jahr 1984 begann, erste Pixelschriften für den Macintosh zu entwerfen, waren Bitmap-Schriften die einzig erhältlichen für den Computer. Lickos erstes Ziel war eine Serie gut lesbarer Zeichensätze für Computerbildschirme und Matrixdrucker zu entwerfen. Lickos Schriften folgten dabei zunächst einer simplen Geometrie, deren nüchterne und rationelle Erscheinung den Gegenpol zu VanderLans’ freien Layouts bildeten. Nach mehrfachen Nachfragen von Lesern, wo man diese Schriften erhalten könne, gründeten VanderLans und Licko ein eigenes Unternehmen zum Vertrieb digitaler Schriften, die „Emigre Foundry“. Bereits ab der dritten Ausgabe erschienen auch Anzeigen für den Verkauf der Bitmap Fonts im Magazin. Gleichzeitig überarbeitete Licko unter dem Namen „Emigre Graphics“ zu dieser Zeit für die Adobe Systems Inc. Bildschirmschriften. Das Geschäft mit den eigenen Schriften lief jedoch immer besser und 1989 hörten Licko und VanderLans auf als Freelancer zu arbeiten, um sich ganz auf ihr eigenes Geschäft zu konzentrieren. Lickos Schriften entwickelten sich parallel zu den Veränderungen des Magazininhalts. Als Emigre damit begann, mehr Design-Theorie zu veröffentlichen, konzentrierte sie sich auf klassische Serifenschriften und entwarf mit Mrs Eaves und Filosofia Neuinterpre- Cover der Nr. 51 Summer 1999. Layout: Rudy VanderLans, Font: Base von Zuzana Licko. Die 51 stellt eine Reihe von Künstlern vor (Stephen Farrell , Steve Tomasula, Matt Owens, Elliott Peter Earls, Katherine McCoy, Lewis Blackwell, Philip Meggs, P. Scott Makela, Anreas Lauhoff) und ist nicht mehr erhältlich. Größe, Spaltenbreite, etc. und vermittelte so den Eindruck, als ob man mehreren Unterhaltungen gleichzeitig zuhörte. Sogar innerhalb von Sätzen veränderten sich die Schriften, um die Stimmung und den Rhythmus von gesprochenen Worten nachzuempfinden und auch das Logo wurde mehrfach verändert. Bis heute steht jede Ausgabe jeweils unter einem Leitthema, vorgestellt wurden unter anderem Ed Fella, Rick Valicenti und David Carson aus den USA, sowie Vaughan Oliver, Nick Bell aus Großbritannien sowie mehrere holländische Designer. Verschiedene kontroverse Artikel und Interviews erschienen so über die Jahre und führten dazu, dass das Designmagazin trotz anfänglicher Anfeindungen inzwischen zum Kultprintobjekt avanciert ist, das an 45 000 Abonnenten verschickt wird. Der Wechsel scheint indes das einzig Beständige bei „Emigre“ zu sein, denn mit seiner neuesten, der 60. Ausgabe im Jahr 2000, hat das Magazin erneut seinen Schwerpunkt verlagert. Nach wie vor gibt es ein gedrucktes Magazin, das über Grafikdesign und neue Fonts berichtet, wie zum Beispiel über die „Los Feliz“ von Christian Schwartz. Der Schwerpunkt der Ausgabe lag jedoch auf der beigelegten CD „I-10 & W.AVE.“ der exzentrischen texanischen Band Honey Barbara, die Musik angeblich nur zur Erhaltung ihrer eigenen Gesundheit macht und weder auf Tour geht noch Videos produziert. Hörprobe gefällig? Auf www.emigre.com/EMag.php?issue= 60 steht ein Song („Beat Again“, 4.3 MB) zum Download bereit. Im Interview Zuzana Licko Geboren In Status Links- oder Rechtshänderin? Hobbies Ihr Lieblingsplatz Ihre Lieblingsfarbe? | 60 | PRINT & PRODUKTION 10/2004 | Oktober 1961 Bratislava, Slowakai verheiratet mit Rudy VanderLans Linkshänderin Keramik (www.emigre.com/Ceramics.php) Mein Zuhause in Berkeley, Kalifornien Kommt darauf an wofür, ich mag viele verschiedene Farben. Wenn ich allerdings in meinen Kleiderschrank schaue, so ist die Hälfte meiner Kleidung allerdings schwarz und das ist beides, keine Farbe und alle Farben zusammen. Fonts: Mrs Eaves, Lo-Res und Filosofia. tationen der Baskerville und Bodoni. Ab den späten 80er Jahren wurden die Emigre-Fonts auch vom Mainstream wie z. B. der New York Times, ABC und Nike verwendet. Seither erhält die Arbeit von Licko und VanderLans inzwischen immer häufiger Ehrungen von allen Seiten. So sind die beiden 1994 mit einem Chrysler Award, 1997 mit einer Gold Medaille der AIGA und 1998 mit dem Charles Nypels Award für Innovationen in der Typgrafie geehrt worden. Emigre-Fonts bietet heute rund 50 Schriftenfamilien von ca. 20 Designern an. Von einem Büro in Berkeley werden von Emgire Graphics auch Posters, T-Shirts und andere Artikel über einen Katalog und eine Internetseite verkauft. (www.emigre.com) y Kerstin und Jörg Allner