Deutschland? - Heinz-Kühn
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Deutschland? - Heinz-Kühn
Heinz-Kühn-Stiftung 14. Jahrbuch Mit der Heinz-Kühn-Stiftung unterwegs … Vorwort Grußwort des Ministerpräsidenten für das 14. Jahrbuch Seit fast zwanzig Jahren ist es gute Tradition, dass junge Journalistinnen und Journalisten, die mit einem Heinz-Kühn-Stipendium die Welt entdeckt haben, ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Jahrbuch unserer Stiftung veröffentlichen. Gleichzeitig berichten unsere ausländischen Stipendiatinnen und Stipendiaten über ihre Eindrücke, die sie während ihres Aufenthaltes bei uns in Nordrhein-Westfalen gewonnen haben. Ich freue mich, dass ich Ihnen nun das 14. Jahrbuch der Heinz-Kühn-Stiftung vorstellen kann. Wie immer ist es ein buntes Kompendium, das von vielen Teilen unserer Welt berichtet: „Wie geht es weiter auf Madagaskar?“ oder „Wie ist die Situation in Chile ein Jahrzehnt nach dem Ende der Pinochet-Diktatur? “Wer weiß schon Genaueres über ein kleines afrikanisches Land namens Malawi, das sich in Demokratie übt?“ Schöne Welt für kleine Fluchten – Kino in Kuba oder Indien und harte Realität – Kinderarbeit in Nepal.... Facetten unserer Welt, die wir durch das Fernsehen zu kennen glauben, und die, so berichten es die Erfahrungen dieses Buches, dann doch wieder ganz vielschichtig und eben nicht nur „heil“ sind, wie es uns zuweilen die Reiseprospekte versprechen. Mit der realen Welt vertraut werden – darum bemühen sich die Berichte dieses Bandes. Als ich im Juni an einem Brunch der Heinz-Kühn-Stiftung teilnahm, ist mir in den Gesprächen mit Stipendiatinnen und Stipendiaten noch einmal bewusst geworden, welche Chancen sich jungen Leuten, die ja noch am Anfang ihrer journalistischen Karriere stehen, mit solchen Reisen bieten: Einmal ohne Zeit- und Abgabedruck nach eigenen Ideen zu einem selbstgewählten Thema in einem Land der eigenen Wahl recherchieren und schreiben zu können, das sind im journalistischen Alltag heutzutage schon außergewöhnliche Arbeitsbedingungen. Wie gut die jungen Journalistinnen und Journalisten die seltene Freiheit genutzt und diese Aufgabe bewältigt haben, das ist in diesem Jahrbuch zu lesen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Freude mit dieser abwechslungsreichen und vielfach auch lehrreichen Lektüre, die Sie auf alle Erdteile blicken lässt und die bei so manchem von uns gewiss auch ein wenig Sehnsucht nach neuen Eindrücken und Einblicken aufkommen lassen wird. Wolfgang Clement Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen Vorsitzender des Kuratoriums der Heinz-Kühn-Stiftung Inhaltsübersicht Erfahrungsberichte der Heinz-Kühn-Stipendiaten Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien Deutschland vom 4. Juli bis 18. Dezember 1999 Catherine Banda Sikombe aus Sambia Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000 Annegret Böhme aus Deutschland Costa Rica vom 19. September. bis 21. Dezember 1999 Antje Deistler aus Deutschland Sambia vom 27. Juli bis 07. September 1999 Kerstin Eva Dreher aus Deutschland Botswana vom 21. Januar bis 21. April 2000 Victoria Eglau aus Deutschland Chile vom 06.Oktober 1999 bis 06. Januar 2000 Susanne Freitag aus Deutschland Senegal vom 30 April bis 27. Juli 1998 Chris Hulin aus Deutschland Nepal vom 09. März bis 09. Juni 2000 Nele Husmann aus New York Kuba vom 01. November 1999 bis 31. Januar 2000 Marianela J. Mendez aus Costa Rica Deutschland vom 04. Juli bis 18. Dezember 1999 Mahamadou Koné aus Mali Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000 Markus Mörchen aus Deutschland Namibia vom 05. Juli bis 04. Oktober 1999 Julia Morgenthaler aus Deutschland Ghana vom 30. Juni bis 28. September 1999 Natalja Mukasejewna aus Usbekistan Deutschland vom 09. Juli bis 4. November 1999 Ilija Nikolowski aus Makedonien Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000 Martin Roos aus Deutschland Madagaskar vom 18. Oktober 1999 bis 15. Januar 2000 Claudia Ruby aus Deutschland Madagaskar vom 13. März bis 26 April 2000 Almuth Schellpeper aus Deutschland Malawi vom 12 Juni bis 11. September 1999 Katinka Schröder aus Deutschland Malawi vom 10. Juli bis 10. Oktober 1999 Jan Tengeler aus Deutschland Israel vom 12. Juli bis 25. August 1999 Valentin Thurn aus Deutschland Mexico vom 02. April bis 02. November 1999 Sandra Weiss aus Deutschland El Salvador vom 1. August bis 2. November 1999 Nicole Wildberger aus Deutschland Indien vom 01. April bis 30. Juni 2000 Abdoulaye Mamadou Bâ aus Nouakchott, Mauretanien Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 4. Juli bis 18. Dezember 1999 Deutschland Deutschland, ein seltsames Land Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien Deutschland, vom 05.07. bis 19.12.1999, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung Abdoulaye Mamadou Bâ Deutschland Abdoulaye Mamadou Bâ Inhalt Zur Person Ankunft, Eingewöhnen und erste Beobachtungen in Deutschland In einer deutschen Zeitung Danke 13 Abdoulaye Mamadou Bâ Deutschland Zur Person Mit ungewissem Geburtstag wurde ich im Jahre 1966 in Aleg, im Süden Mauretaniens geboren. Meine Eltern waren Fulani und Nomaden. Wir hatten damals keinen festen Wohnsitz, deshalb konnten sie keine Geburtsurkunde für mich bekommen. Nach langer Dürre, von 1966 bis 1975 in der ganzen Sahelregion, siedelten meine Eltern sich in Aleg an. Endlich hatte ich eine Möglichkeit in die Schule zu gehen. Ich verbrachte meine gesamte Schulzeit in Aleg. Danach ging ich in die Haupstadt Nouakchott und studierte dort Jura. Im Jahr 1988 arbeitete ich als Journalist und Übersetzer in der Regierungspresseagentur (Agence Mauritanienne d'Information, AMI). Gleichzeitig war ich auch als Redakteur bei der einzigen täglichen Zeitung in Mauretanien tätig. Sie erschien in zwei Versionen "Horizons" auf französich und "Chaab" wurde auf arabisch. Diese Organe spielten für Journalisten eine große Rolle. Nur dort konnten Journalisten ein Ausbildung erhalten, weil es keine Fachschule für Journalisten in Mauretanien gab. Im Jahre 1991 wurde die Presse von der Kontrolle der Regierung befreit. Viele Zeitungsorgane wurden eingerichtet. Deswegen verließ ich die Regierungspresseagentur und nahm eine Anstellung bei der Privatpresse an. 1994 wurde ich als Presseassistent und Übersetzer bei der Deutschen Botschaft angestellt. Von der Heinz-Kühn-Stiftung bekam ich im Jahr 1999 ein Stipendium. Von Juli bis Dezember konnte ich einen viermonatigen Sprachkurs am GoetheInstitut Iserlohn besuchen und ein Praktikum beim General-Anzeiger in Bonn machen. Ankunft, Eingewöhnen und erste Beobachtungen in Deutschland Am 5. Juli kam ich in Düsseldorf an und wurde von Frau Op de Hipt am Flughafen abgeholt. Ich war überrascht darüber, dass sie Deutsch mit mir sprach. Ich versuchte sie zu verstehen. Aber es war so schwer für mich, dass ich kaum etwas verstand. Gleichzeitig kamen auch andere Stipendiaten an. Es waren Marianela Jímenez Mendez aus Costa-Rica und Yeshitla Kokeb aus Äthiopien. Sie hatten die Goethe-Institute in ihrer Heimat besucht und sprachen schon gut deutsch! Eineinhalb Stunden später kamen wir zum Goethe-Institut in Iserlohn. Nach einem Aufnahmetest sagte mir der Leiter des Instituts, dass mein Test gut sei und ich auf Grundstufe 2 Deutsch lernen müsse. Ich hatte keine Ahnung von Grundstufe 2. In meiner Klasse hatten wir noch 10 Kursteilnehmer aus der ganzen Welt, wie USA, Israel, Türkei, Schweden, Italien, Schweiz, Spanien, Großbritanien, usw. Deutschland Abdoulaye Mamadou Bâ Wenn ich mich vorstellte, wurde mir immer die Frage gestellt, wo Mauretanien denn liege? Ich antwortete immer ganz kurz und einfach, dass Mauretanien zwischen Marocco und dem Senegal liegt. Im Unterricht war es anstrengend für mich, weil ich kaum einen kompletten Satz auf Deutsch sprechen konnte. Es war klar, dass andere Klassenkameraden Deutsch schon länger als ich gelernt hatten. Deswegen konnte ich nicht nachlässig sein, sondern besonders fleißig. Ich scheute keine Mühe, um mein Deutsch zu verbessern. Meine Lehrerin ermunterte mich zum Lernen. Frühzeitig entdeckte sie meine Schwierigkeiten und kümmerte sich immer um mich. Sie half mir ziemlich viel, mit Deutsch gut umzugehen. Es war mir verboten, meine Muttersprache im Institut zu benutzen. Doch unterhielt ich mich manchmal auf Französisch oder Arabisch mit Afrikanern, die mein Deutsch nicht gut verstehen konnten. Eines Tages rief Frau Op de Hipt mich an und sagte mir mit erhobener Stimme, dass ich nach Mauretanien zurückgeschickt würde, falls ich weiterhin mit anderen Leuten nicht Deutsch spräche! Mein Zimmer im Wohnheim auf der Baarstraße überraschte mich auch. Es war so klein, als ob ich im Gefängnis wäre. Das Wohnheim liegt an einer verkehrsreichen Straße, deshalb konnte ich kaum einschlafen. Es gab keine andere Möglichkeit für mich, als entweder in der Mediothek oder in der Stadtbücherei zu arbeiten. Die Temperatur in Deutschland war mir unangenehm, weil es fast jeden Tag im Sommer regnete und im Herbst war es mir unerhört kalt. Mit dem unbeständigen Wetter zurechtzukommen, fällt einem Afrikaner ungeheuer schwer. Während der ersten drei Wochen in Iserlohn holte ich mir eine Erkältung. Meine Lehrerin, Frau Barbara Frankenberg, gab mir ein Geheimrezept. Unglaublich, aber es klappte wirklich, außer, dass ich so viele Kleider anziehen musste, als wenn ich in Sibierien gewesen wäre! Am Goethe-Institut Iserlohn erschien mir alles interessant. Mit zwei netten und offenen Zivildienstleistenden machte es mir großen Spaß, an einem Freizeitprogramm teilzunehmen. Durch die Reisen nach Amsterdam, Paris, Oberhausen, Bonn, Köln, Berlin, Potsdam, Weimar, Erfurt, Dortmund, Düsseldorf und Hamburg konnte ich Deutschland und deutsche Charaktereigenschaften besser kennenlernen. Auf der Reise nach Hamburg lernte ich deutsche Genauigkeit von den Zivis. Nach dem Programm sollten wir eigentlich um 20 Uhr am Sonntag über Bremen nach Iserlohn zurückfahren. Wir konnten es jedoch nicht schaffen, weil wir uns zwei Stunden lang auf der Autobahn verfuhren. Es wäre besser gewesen, zurückzufahren, ohne Bremen in der Nacht zu besichtigen. Die Zivis bestanden aber darauf, das Programm genau auszuführen. Endlich um halb vier am anderen Morgen kamen wir zu Hause an! Abdoulaye Mamadou Bâ Deutschland Die Reeperbahn in Hamburg schockierte mich. Die Lokale sind bis zum frühen Morgen geöffnet und die Leute arbeiten dort völlig frei, ohne Rücksicht auf die Polizei. In Mauretanien würden sie schon hinter schwedischen Gardinen sitzen. Bei meinem Aufenthalt in Deutschland lernte ich nicht nur Deutsch, sondern auch Kochen! Am Anfang ging ich mit Yeshitla immer zu McDonald's oder in einen Döner-Imbiss. In Mauretanien brauchen die Männer nicht zu kochen. Wegen der hohen Ausgaben für das Essen entschloss mich ich, selbst zu kochen. Ich war unerfahren im Kochen, infolgedessen hatte ich keine Ahnung, wie man kochen konnte. Im September kam Mahamadou Koné aus Mali, der fünf Jahre lang Student in Usbekistan war. Er konnte afrikanische Gerichte geschmacklich verfeinern. Im Verlauf von 2 Wochen wurde ich dank ihm ein guter Koch. Jetzt kann ich selbst Speisen für acht Personen zubereiten und Kochen macht mir Spaß! Die Iserlohner waren nett und hilfsbereit. Allerdings gab es auch manche gefühlskalten und konservativen Menschen. Mit dieser kleiner Stadt war nicht viel los und sie langweilte mich manchmal. Das Gespräch mit einem vierjährigen Mädchen auf der Straße blieb mir im Gedächtnis haften. Das Mädchen fragte mich, ob ich Frau oder Mann sei. Das Geschlecht von Menschen mit anderer Hautfarbe zu unterscheiden fiel ihr schwer. In Iserlohn lernte ich Leute aus der ganzen Welt kennen und ich sammelte mehrere Erkenntnisse zu den verschiedenen Kulturen. In einer deutschen Zeitung Am 22. Oktober fuhr ich nach Bonn, das selbstverständlich größer als Iserlohn ist. Trotzdem, ich vermisste Iserlohn, wo ich Freunde gewonnen hatte. Am 26. Oktober fing mein Praktikum beim General-Anzeiger an. Beim ersten Blick auf das Gebäude des General-Anzeiger konnte ich nicht glauben, dass ich in dem prächtigen Gebäude mein Praktikum machen würde. In Mauretanien wechselte der Zeitungsitz häufig, weil das Zeitungsbüro immer gemietet wurde. Beim General-Anzeiger gehört jeder Journalist zu einer bestimmten Redaktion. Die Journalisten konnten sich im gemütlichen Arbeitsbüro am Computer mit Fachgebietsartikeln beschäftigen. Am Schreibtisch war es möglich, Auskünfte im Internet zu suchen. Datenbank und Computer erleichtern ihnen die Arbeit. Wenn man die Web-Adresse des General-Anzeigers aufruft, kann man sogar die aktuellen Nachrichten online lesen. Dagegen hetzten sich die Journalisten in Mauretanien ab. Sie erkundigten sich über Nachrichten, aber erhielten meistens einen Korb. Manchmal stellte es eine Gefahr dar, die Journalisten zu informieren. Wenn die Nachrichten in der Zeitung erschienen, konnte der Auskunftgeber in Gefahr geraten, denn die Pressefreiheit war noch beschränkt. Deutschland Abdoulaye Mamadou Bâ In Mauretanien hatte nicht jede Zeitung Computer. Manche Journalisten mussten zuerst Artikel schreiben und dann gingen sie zum Computergeschäft. Dort gab es Schreibmaschinen und ein Internetangebot. Mit einem Wort: Die Journalisten in Mauretanien müssen schuften, sie sind nämlich immer unterwegs. Meine erste Reportage beim General-Anzeiger ging um das Thema: “Was haben Sie für die Umwelt getan?“ Ein Befragter zeigte uns seine Unterhose, die eine Frauenunterhose war, und sagte, dass es der beste Stoff zum Umweltschutz sei. Wie bezieht sich das auf Umweltschutz? Ich verstand noch nicht! Eine andere Reportage am 4. November hinterließ einen nachhaltigen Eindruck bei mir. Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich ein Interview mit einem Transsexuellen. Als Vater hatte Frau Kimberly Marx eine Familie mit zwei Kindern. Sie war 49 Jahre alt und Pilot vom Beruf. Am 21. Juni 1999 wurde sie nach einer transsexuellen Operation eine echte Frau. Als Mensch konnte ich ihre Motive verstehen. Aber sie/er würde in der Islamischen Gesellschaft nicht einfach angenommen. Deswegen fragte ich sie, wie sie über Gott denke. "Gott besteht aus Schönheit, Freiheit und Natur", erwiderte die "Blonde Baroness". Manchmal sah ich ein Frachtflugzeug in der Luft fliegen. Dann kam mir der Gedanke, dass der seltsamste Mensch in meinem Leben darin sitzen könnte ... Danke In diesem wunderschönen Land erlebte ich viel Eindrucksvolles. Es war wirklich schön, sich mit Leuten aus verschiedenen Hintergründen anzufreunden. Für diese Erinnerung danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, dem Goethe-Institut Iserlohn, dem General-Anzeiger und Deutschland. Ich würde gerne nach Iserlohn zurückgehen, wenn es nicht schneien würde. Catherine Banda Sikombe aus Sambia Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 31. August bis 17. Januar 2000 Deutschland Catherine Banda Sikombe Leben und Arbeiten in Deutschland Catherine Banda Sikombe aus Sambia Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung Deutschland Inhalt Zur Person Akademiker – heute ohne Zukunft? Integration Schichtarbeit in Deutschland Vielen Dank Catherine Banda Sikombe Catherine Banda Sikombe Deutschland Zur Person Catherine Banda Sikombe, Jahrgang 1975, studierte Journalismus am Evelyn Hone College in Lusaka, Sambia. Seit Oktober 1996 arbeitet sie als Redakteurin und Reporterin bei Radio Phoenix, einer privaten Radiostation in Lusaka. Ihre Fachgebiete sind Umweltprobleme und Gesundheitspolitik. Im Sommer 1999 absolvierte sie ein Praktikum bei Reuters in London. Während ihres Aufenhaltes als Stipendiatin der Heinz-Kühn-Stiftung in Deutschland hatte sie Gelegenheit, für zwei Monate in der Englisch-Afrika-Redaktion der Deutschen Welle in Köln mitzuarbeiten. Akademiker – heute ohne Zukunft? Immer mehr Hochschulabsolventen finden nach dem Studium keine Arbeit in Deutschland. In zehn Jahren, so schätzt das Arbeitsamt, wird es für 3,1 Millionen Hochschulabsolventen nur 900.000 freie Stellen geben. Die Studenten wissen dies natürlich und die meisten sehen ihre Zukunft nicht sehr optimistisch. Trotzdem studieren sie weiter. „Was soll ich sonst machen“, fragt die Kieler Germanistik-Studentin Karin Meyer, 22 Jahre alt. Ihr macht das Studium wenig Spaß, weil der Konkurrenzkampf um die späteren Arbeitsplätze heute schon in der Universität beginnt. Für andere Studenten, wie Dieter Braun, 25 Jahre alt, ist das kein Problem. Dieter studiert Wirtschaftswissenschaft an der Universität Göttingen. „Auch an der Universität muss man kämpfen. Man muss besser sein als die anderen, dann findet man schon eine Stelle“, meint er, Zukunftsangst kenne er nicht. „Ich werde nicht arbeitslos. Ich schaffe es bestimmt“, ist er überzeugt. Brigitte Brauker, 29 Jahre alt, hat es noch nicht geschafft. Sie hat an der Universität Köln Psychologie studiert. Obwohl sie ein gutes Examen abgelegt hat, ist sie noch arbeitslos. „Ich habe schon über 30 Bewerbungen geschrieben, aber die Antwort war immer negativ. Man sucht vor allem Menschen mit Berufserfahrung, und die habe ich noch nicht“, berichtet sie von ihren Erfahrungen bei der Jobsuche. Obwohl sie schon 29 Jahre alt ist, wohnt sie immer noch bei ihren Eltern. Eine eigene Wohnung ist ihr zu teuer. Vom Arbeitsamt bekommt sie kein Geld, weil sie noch nie eine Stelle hatte. Aber das Arbeitsamt kann ihr auch keine Stelle anbieten. Brigitte Brauker weiß nicht, was sie machen soll. Sie arbeitet zur Zeit 10 Stunden pro Wochen in einem Kindergarten. „Die Arbeit dort ist ganz interessant, aber das ist nicht mein Traumjob. Wenn ich in zwei Monaten noch keine Stelle haben sollte, dann gehe ich wahrscheinlich wieder zur Universität und schreibe meine Doktorarbeit“, schildert sie ihre Zukunftspläne. Aber auch für Akademiker mit einem Doktortitel ist die Stellensuche nicht viel einfacher. Deutschland Catherine Banda Sikombe Integration „Süden und Norden, Osten und Westen, das sind wunderschöne Seiten, die die Welt hat. Wenn man eine Seite ausschließt und glaubt, seine eigene Seite sei die schönere und bessere, dann verliert man so viel“. Natascha Marosevac weiß, wovon sie spricht. Sie lebte früher in Bosnien, als Kind aus einer gemischten Ehe. Ihre Eltern gehörten verschiedenen Nationalitäten an, und weil sie nicht die eine Nationalität gut und die andere schlecht finden wollte, blieb ihr nur die Flucht aus ihrer Heimat. Mittlerweile wohnt sie seit 10 Jahren in Köln. Heute, nach einigen schwierigen Jahren, hat sie eine Arbeit gefunden, die ihr gefällt. Sie arbeitet bei der Schulbehörde als Beraterin und hilft bei Problemen, die bei der Integration von ausländischen Kindern in der Schule entstehen. Integration ist schwierig, nicht nur in der Schule, aber auch dort. Denn oft kommen Missverständnisse und Intoleranz auch auf Seiten von Lehrern und Eltern vor. Dann ist es unheimlich schwer, ein Gespräch zwischen den betroffenen Personen herzustellen. Am besten funktioniert Integration, wenn Kinder gemeinsam etwas tun, in der Schule oder in der Freizeit. Schichtarbeit in Deutschland Viele Menschen in Deutschland machen Schichtarbeit. Ihre Arbeitszeit wechselt ständig. Sie tun es, weil ihr Beruf es verlangt (wie bei Ärzten, Krankenschwestern, Feuerwehrleuten und Polizisten), oder weil sie mehr Geld verdienen wollen. Schichtarbeiter und ihre Familien leben anders. Zum Beispiel Gabriele Kaiser aus Köln. Sie ist 32 Jahre alt, verheiratet und hat einen 11 Jahre alten Sohn und eine kleine Tochter von 2 Jahren. Sie arbeitet als Verkäuferin in einem Bahnhofskiosk jeden Tag von 17 bis 24 Uhr. Seit drei Jahren macht sie diesen Job. Ihr Mann Thomas, 35 Jahre alt, ist Facharbeiter und arbeitet seit zehn Jahren in einer Fabrik für Autoreifen. Er arbeitet in der Frühschicht von 5 Uhr morgens bis 13.30 Uhr, oder in der Nachtschicht von 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Einen gemeinsamen Feierabend kennen die Eheleute nicht. Wenn seine Frau arbeitet, hat er frei. Dann sorgt er für die Kinder und macht das Abendessen. „In der Woche sehen wir uns immer nur vormittags für ein paar Stunden. Da bleibt wenig Zeit für Gespräche und für Freunde“, sagt Gabriele Kaiser. Sie muss alle vier Wochenenden im Monat arbeiten. „Unsere Arbeit ist nicht gut für das Familienleben, das wissen wir. Mein Mann schläft nicht sehr gut und ist oft ziemlich nervös“, berichtet sie weiter. Catherine Banda Sikombe Deutschland Trotzdem wollen beide noch ein paar Jahre so weiter machen, denn als Schichtarbeiter verdienen sie mehr. Und sie brauchen das Geld, weil sie sich ein Reihenhaus gekauft haben. Die Familie Kaiser verdient gemeinsam 10.000 DM brutto pro Monat. Außerdem bekommen beide noch ein 13. Monatsgehalt und Thomas erhält auch noch Urlaubsgeld. Dafür können sie sich ein eigenes Haus, ein Auto, schöne Möbel und eine kleine Urlaubsreise pro Jahr leisten. Aber sie bezahlen dafür ihren privaten Preis: Weniger Zeit für Freunde und die Familie, Nervosität und Schlafstörungen. Arbeitspsychologen und Mediziner kennen diese Probleme und warnen deshalb vor langjähriger Schichtarbeit. Vielen Dank Ich bin der Heinz-Kühn-Stiftung sehr dankbar dafür, dass ich dieses Stipendium bekommen habe. Es war eine gute Erfahrung und ich habe sehr gut deutsch gelernt am Goethe-Institut in Iserlohn. Deutschland gefällt mir sehr. Danke schön dafür. Ich wünsche der Stiftung alles erdenklich Gute. Vielen Dank an Frau Op de Hipt von der Heinz-Kühn-Stiftung. Was soll ich sagen? Sie war immer für uns da, wie eine Mutter. Das hat mir sehr viel bedeutet und Deutschland für mich zu einer zweiten Heimat werden lassen. Vielen Dank, Frau Op de Hipt und alles Gute für die Zukunft. Es war wirklich wunderschön, Sie kennenzulernen. Vielen Dank an die Friedrich-Ebert-Stiftung in Lusaka, Sambia und besonders Herrn Doktor Reinhold Platte. Danke für alles. Dank auch an Gabriele Albers aus Hamburg, von der Net Bussiness Zeitung. Du bist eine gute Freundin, die ich nie vergessen werde. Was wäre das Leben ohne Freundinnen wie Dich? Dank an Antje Diestler aus Köln. Du bist sehr nett und es war schön, Dich zu treffen. Dankbar bin ich auch Mahamadou Koné aus Mali und Illiya Nikolovski aus Mazedonien. An die englische Redaktion bei der Deutschen Welle in Köln ebenfalls vielen Dank, besonders an Frau Susan Killick und an alle Mitarbeiter. Ich habe viel gelernt. Zuletzt möchte ich noch allen anderen danken, die mir geholfen haben. Annegret Böhme aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Costa Rica vom 19. September bis 21. Dezember 1999 Costa Rica Annegret Böhme Das Beispiel INBio: Schutz und ökonomische Nutzung der biologischen Vielfalt im tropischen Regenwald Von Annegret Böhme Costa Rica, vom 19.09. bis 21.12.1999 Costa Rica Inhalt Zur Person Eine Datenbank der Artenvielfalt Lotto ohne Hauptgewinn: Pharmaforschung heute Unterm Strich: Neue Strategien Viel Entwicklungshilfe, wenig Profite Wespen statt Gold: Sammeln für INBio Gelder für die Kokosinsel Überholtes Modell: INBio in der Kritik Bindet CO2 und Touristen: Die Verwertbarkeit des Waldes Annegret Böhme Annegret Böhme Costa Rica Zur Person Annegret Böhme, geboren 1965 in Jena, arbeitete in keiner Schülerzeitung mit und wollte mit 15 Jahren nie wieder einen Aufsatz zum Thema „Kunst ist eine Waffe im Klassenkampf“ schreiben müssen. Schulzeit in Thüringen, Ausbildung zur Kindergärtnerin in Ost-Berlin. 1988 Abendschulabitur in Leipzig. Nach dem Fall der Mauer Studium der Ethnologie, Soziologie und Psychologie in Marburg, Leipzig und Albany N. Y./USA mit Magisterabschluss 1996. Lebt und arbeitet in Köln, seit 1998 als freie Journalistin. Eine Datenbank der Artenvielfalt Pfeifend zieht Manuel Zumbado die Schubladen der Metallschränke auf, um nach dem Namensvetter des Weltbankchefs zu suchen, dem Käfer Metamasius Wolfensohni. Aber er hat den Schrank mit den Fliegen erwischt. Ob ich Zeit mitgebracht hätte, sie müssten hier gerade Platz schaffen. Hunderte von Fliegen schillern uns entgegen: Manche vertraut grün, andere Wespen zum verwechseln ähnlich. Manuel zeigt auf eine: „Auch neu – Meromacrus melansoni – irgendein kanadischer Funktionär“, sagt er und hat schon die nächste Schranktür geöffnet. „Kanada hat uns auch sehr viel geholfen“. Manuel Zumbado ist Kurator – spezialisiert auf Fliegen – im „Instituto Nacional de Biodiversidad“, kurz INBio, in Costa Rica. Ein neues Insekt sei wirklich nichts besonderes, sagt er, aber es dauere mitunter Jahre, bis es vollständig identifiziert sei. Der Käfer Metamasius Wolfensohni gehört zu den rund 400 Arten, die jährlich bei INBio für die Wissenschaft entdeckt und benannt werden. Forscher, Politiker, Chefs internationaler Organisationen, die die Arbeit des Instituts unterstützen, wie James Wolfensohn, haben heute gute Chancen, ihren Namen an Insekten oder Mikroorganismen zu vererben. Denn Costa Rica ist eines der artenreichsten Länder der Erde. Rund eine halbe Million Arten werden in dem Land, dass nur etwas größer ist als Niedersachsen, vermutet – eine der höchsten Konzentration von Biodiversität in der Welt. Doch nur schätzungsweise 17 Prozent davon sind bisher wissenschaftlich beschrieben. Besonders bei Mikroorganismen ist die Dunkelziffer hoch: Über 90 Prozent sind unbekannt. INBio will das ändern. Etwa 200 Mitarbeiter arbeiten im Institut in Santo Domingo de Heredia nahe der Hauptstadt San José. Mit Hilfe wissenschaftlicher Experten aus aller Welt erforschen sie systematisch den Artenreichtum des mittelamerikanischen Landes. Ziel des privaten Instituts, das 1989 auf Initiative der Regierung und einiger Wissenschaftler der Universität von Costa Rica gegründet wurde, ist eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme der Insekten, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen Costa Ricas – eine Art Datenbank der Arten. Costa Rica Annegret Böhme Doch INBio versucht aus der reichen biologischen Vielfalt auch ökonomisch Kapital zu schlagen. 1991 schloss es zum ersten Mal einen Vertrag mit dem USamerikanischen Pharmakonzern Merck & Co und wurde damit weltweit berühmt. Merck erhielt eine bestimmte Anzahl von Insekten, später auch Proben von Pflanzen und Mikroorganismen, um nach neuen Wirkstoffen für Medikamente zu suchen. Der Multi zahlte 1 Mio. Dollar dafür und half INBio beim Ausbau seiner technischen und wissenschaftlichen Kapazitäten. Dem Institut wurde außerdem zugesagt, dass es am Gewinn beteiligt wird, sollte Merck aus den costaricanischen Substanzen ein Medikament bis zur Marktreife entwickeln. Vom Vertrag sollten alle profitieren: Die Pharmaforschung, INBio und der Umwelt- und Artenschutz. Denn zwischen INBio und dem costaricanischen Umweltministerium wurde vereinbart, dass INBio in den staatlichen Nationalparks und Reservaten sammeln darf und dafür 10 Prozent der erwirtschafteten Beträge, sowie 50 Prozent der unter Umständen einmal eingehenden Gewinne an das Ministerium abtritt. Gelder, die direkt dem Umwelt- und Artenschutz zugute kommen sollten. Der Staat behielt außerdem ein Vetorecht für alle Verträge dieser Art. Noch bevor die Konvention über biologische Vielfalt von Rio de Janeiro 1993 in Kraft trat, hatte Costa Rica somit Regeln zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Artenvielfalt etabliert. Die INBio-Verträge, die Forschung, Technologietransfer und Umweltschutz möglich machen, avancierten zum Modell für eine gelungene Entwicklungshilfe. Und Bioprospektion – die systematische Suche nach Inhaltsstoffen und Genen in Pflanzen, Insekten oder Mikroorganismen, mit dem Ziel, neue Medikamente, Pestizide, Kosmetika oder andere Industrieprodukte zu entwickeln – galt seitdem als eine vielversprechende Möglichkeit, Biodiversität ökonomisch zu nutzen. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen. Doch es gab auch Skeptiker: Das Modell könne nicht funktionieren, denn Medikamentenentwicklung sei eine langwierige Angelegenheit. Bis Gewinne eingehen würden, könnte viel Zeit vergehen – zuviel Zeit, um das Artensterben zu stoppen. Regierungsunabhängige Organisationen in Costa Rica und in den Industrieländern kritisierten von Anfang an, dass INBio, als ein privates Institut, Nutzungsverträge über genetische Ressourcen abschließt, die doch nationales Eigentum sind. Das Institut sei intransparent, denn als privater Geschäftspartner hält es die Höhe der Gewinnbeteiligung und die Anzahl der an die Multis gelieferten Substanzen geheim. Und das Nord-Süd-Gefälle würde durch die Verträge lange nicht aufgehoben, denn 1 Million Dollar und ein bisschen Technologietransfer seien Peanuts, gemessen am Umsatz eines Pharma-Multis (Merck hat einen Umsatz von 10 Milliarden US Dollar im Jahr). Costa Rica gilt heute als Vorreiter im Umweltschutz. Ein Viertel des Landes stehen bereits unter Naturschutz. Doch die Euphorie über die Bioprospektions- Annegret Böhme Costa Rica verträge und die kritischen Diskussionen der ersten Jahre sind heute in Costa Rica einer anderen Realität gewichen: Das Resultat der bisheriger Forschung ist ernüchternd, die Millionengewinne blieben aus. Die Antwort auf die Frage, was bisher bei der Bioprospektion herausgesprungen ist, lautet: Jedenfalls kein Medikament. Lotto ohne Hauptgewinn: Pharmaforschung heute Medikamentenentwicklung ist langwierig und teuer. Pharmaforscher gehen inzwischen davon aus, dass nur eine von 300.000 bis 500.000 Substanzen wirksam ist. Die Kosten pro Medikament belaufen sich auf etwa eine halbe Milliarde Mark und bevor es Marktreife erlangt, können 10 bis 15 Jahre vergehen. Hinzu kommt, dass sich die Pharmaforschung in den letzten Jahren grundlegend geändert hat. Neue Technologien, wie Gentherapie und Molekularbiologie, erobern die westlichen Labors. Neben ihnen nimmt sich die systematische Suche nach Naturstoffen besonders umständlich und langwierig aus. „Shaman Loses its Magic“ titelte der „Economist“ im vergangenen Jahr die Nachricht, dass das US-amerikanische Pharmaunternehmen Shaman Pharmaceuticals seine Naturstoffforschung einstellt. Das Unternehmen hatte versucht, den langwierigen Prozess der Bioprospektion unter Rückgriff auf traditionelles Heilwissen abzukürzen. Es hat sich nicht gelohnt. Andere Pharmakonzerne schließen ihre Naturstoffabteilungen oder verringern die dafür vorgesehenen Budgets. Selbst bei den Befürwortern der Bioprospektionsverträge in Costa Rica ist die anfängliche Begeisterung abgeflaut. Pedro León ist Professor am Institut für Zellular- und Molekularbiologie der Universität von Costa Rica. Er spricht offen aus, was andere mir gegenüber so nicht zugeben: Zumindest in der Forschung für den humanmedizinischen Bereich hat Bioprospektion inzwischen kaum noch eine Chance. Um ein Produkt neu auf den Markt zu bringen, müsse man etwas finden, das viel besser sei als alles was es schon gäbe. Und das sei bereits eine ganze Menge. Außerdem dauere Bioprospektion zu lange. Die biologischen Substanzen müssen zunächst gesammelt, klassifiziert, selektiert, getrocknet und zermahlen werden, um dann die Extrakte im Laborversuch auf ihre biologische Aktivität zu testen. Zeigt ein Stoff Reaktion, muss der eigentliche Wirkstoff identifiziert werden. Weitere Versuche folgen. Auch Substanzen, die in ersten Versuchen eine Aktivität zeigten, könnten bei weiteren Testrunden ausscheiden, sagt der Biologe Pedro León: „Man macht einen Haufen Versuche, aber das Letzte was man erfährt, ist die Struktur des Moleküls. Und es kann sein, dass das, was man am Ende entdeckt, trivial ist oder uninteressant, oder dass man es bereits kennt“. Costa Rica Annegret Böhme Die moderne Pharmaforschung ist längst weiter. Mit Hilfe der kombinatorischen Chemie beispielsweise, kann sie den umgekehrten Weg gehen. Hier werden Moleküle erst entworfen und dann getestet. Die Forscher kennen die Molekülstruktur schon bevor sie die ersten Experimente machen. In hochmodernen Labors können so binnen viel kürzerer Zeit potentielle Arzneimittel gefunden werden. „Das ist ernüchternd für uns“, sagt Pedro León, „denn irgendwann haben wir mal geglaubt, Bioprospektion würde eine einfache Methode sein, die Artenvielfalt zu schützen. Aber wir mussten einsehen, dass es viel schwieriger ist, als wir erwartet haben“. Der Wissenschaftler Pedro León berät INBio als Mitglied der Vollversammlung. Er befürchtet, dass INBio sich zu abhängig von den Pharmakonzernen macht, dass deren Interesse weiter nachlassen könnte und die Gewinnbeteiligung in Zukunft immer geringer ausfällt. Etwa ein Dutzend Verträge hat INBio inzwischen abgeschlossen, beispielsweise mit Bristol Myers Squibb, Givaudan Roure, Diversa, British Technology Group, Indena oder Ely Lilly. Und bisher hat es immer Auftragsarbeit erledigt. Gesammelt, klassifiziert und aufbereitet, was die Multis haben wollten. „Die Interessen der Konzerne werden von den großen Absatzmärkten bestimmt, nicht davon, was wir hier brauchen. Unsere Probleme hier müssen wir selber lösen“, sagt Pedro León. Durch das tropische Klima hätte die Landwirtschaft in Costa Rica viele Probleme mit Plagen. Deshalb wäre es beispielsweise sinnvoll, via Prospektion nach organischen Pestiziden und neuen Futtermitteln zu suchen oder mit transgenetischen Pflanzen zu experimentieren, wie es das Molekularbiologische Institut der Universität bereits tut. Es müssten Produkte für den costaricanischen Markt gefunden werden – Nischen. Einfache Erfolge sieht der Wissenschaftler León heute nicht mehr voraus: Das sei nicht die Lotterie, die man am kommenden Sonntag gewinnen könnte, da bräuchte sich keiner Illusionen zu machen. Rodrigo Gámez hat diese Illusionen scheinbar noch. Glaubt er selbst noch an einen Hit, frage ich den Mitbegründer und Direktor von INBio: „In gleicher Weise, wie irgendeine Person in Costa Rica denkt, dass sie den Hauptpreis in der Lotterie gewinnen könnte“, antwortet er verschmitzt. Das denken dort allerdings viele, in den Straßen der Städte floriert der Lotterieverkauf, vor Weihnachten bilden sich regelmäßig große Wettgemeinschaften. Auf die Frage, ob er eine Spielernatur sei, lacht er und fügt hinzu: „Bedenken sie: Den Einsatz zahlen unsere Geschäftspartner!“ Annegret Böhme Costa Rica Unterm Strich: Neue Strategien Dass bisher kein Hauptpreis dabei war, stört Direktor Gámez nicht. Er ist einer von denen, die im Schuppen angefangen haben. Nicht einmal ein Reagenzglas hätte man am Anfang gehabt, sagt der INBio-Mitbegründer. Heute können die ersten Tests der Substanzen bereits im eigenen Labor gemacht werden. INBio würde längst keine grünen Blätter mehr verschicken. Es verlassen nur Substanzen das Haus, die bereits biologische Aktivität zeigen. Und für sie könne das Institut mehr verlangen, sagt Gámez. Doch auch die INBio-Riege versucht, mit neuen Strategien die ausbleibenden Millionen zu kompensieren. Im Labor treffe ich eine der beiden Chefinnen der Abteilung Prospektion, Ana Lorena Guevara. Im Hintergrund blubbern braungrüne Breie in großen Glasbottichen. „Wir haben Erfahrungen gemacht und dazu gelernt“, sagt Ana Lorena Guevara und weisst darauf hin, dass die Verträge heute anders gestaltet würden als früher. Seit ein, zwei Jahren vereinbart INBio Milestone-Payments mit den Vertragspartnern, d.h. das Institut erhält in der langen Phase der Medikamentenentwicklung Gelder für Etappensiege. Gezahlt wird also schon, bevor ein Medikament auf den Markt kommt, sobald die Patentierung beginnt. Außerdem sei beispielsweise mit dem US-Pharmaunternehmen Ely Lilly im Herbst 1999 eine viel höhere Gewinnbeteiligung vereinbart worden, als im MerckVertrag, der nach viermaliger Verlängerung im September 1999 auslief, sagt Ana Lorena Guevara (nach Angaben des Umweltministeriums wurden mit Merck 2 bis 3 Prozent ausgehandelt). Genaue Angaben will Guevara nicht machen. Für Agrarprodukte würden normalerweise 0,5 bis 1 Prozent verhandelt, für pharmazeutische Produkte 1 bis 3 Prozent. „Aber ich kann ihnen sagen: Es ist soviel, wie die Firmen in den USA untereinander zahlen würden. Das ist das wichtigste“, versichert Ana Lorena Guevara. Vertreter regierungsunabhängiger Organisationen in Costa Rica behaupten, dass in den USA „untereinander“ schon mal 10 Prozent gezahlt werden. Direktor Rodrigo Gámez gibt die Gewinnvereinbarungen mit 1 bis 2, beziehungsweise 2 bis 5 Prozent an, mehr sei für eine rohe Substanz illusionär. Die genaue Höhe der Gewinnbeteiligung bleibt jedoch weiterhin INBios Geheimnis. Das Pharmaunternehmen Ely Lilly ist nicht nur an pharmazeutisch verwertbaren Stoffen interessiert. Es sucht auch nach aktiven Substanzen für den Bereich Tiermedizin und für den Agrarsektor. Eine Gewinnbeteiligung sei auch in diesen Fällen garantiert, sagt die Prospektionschefin Ana Lorena Guevara. Nur fiele sie geringer aus als im Fall einer erfolgreichen Medikamentenentwicklung. In einigen anderen Verträgen sucht INBio nach Biopestiziden. Auch gab es bereits einen Vertrag mit dem Schweizer Unternehmen Givaudan Roure, um nach Riechstoffen und Aromen zu suchen. Doch den Costa Rica Annegret Böhme Hauptanteil der chemischen Prospektion macht die Suche nach Substanzen für den pharmazeutischen Bereich aus. Die Mitarbeiter der Prospektion träumen von einer eigenen Forschung. INBio erarbeite eine neue Agenda, sagt Ana Lorena Guevara. „Unsere Idee ist, parallel zu den Verträgen mit der Privatwirtschaft eine eigene Forschung aufzubauen. Doch dafür brauchen wir finanzielle Mittel und die haben wir noch nicht“. Viel Entwicklungshilfe, wenig Profite Zehn Jahre nach der Gründung des Instituts sieht Direktor Gámez einen seiner größten Erfolge in der Aufklärung der Bevölkerung. „Als wir anfingen kam der Begriff ‚Biodiversität’ den Leuten doch chinesisch vor!“ Heute sei ein großer Teil der Bevölkerung sich des besonderen Reichtums Costa Ricas bewusst. INBio kennt fast jedes Kind. Das Institut lädt regelmäßig Schulklassen ein und gibt didaktisches Material heraus: Spiele und Kinderbücher, in denen Pilze und Insekten die Protagonisten sind. „Wir führen hier alles durch, vom Kurs für Hausfrauen bis zum Seminar für mittelamerikanische Minister“, sagt Gámez nicht ohne Stolz. „Bioalphabetisierung“ heißen diese Maßnahmen im Fachjargon des Instituts. Für die Bildungsarbeit hat es in den letzten 3 Jahren den Etat beinahe verdreifacht. Neben der Inventarisation der Artenvielfalt, in die der größte Teil des INBio-Budgets fließt, arbeitet INBio außerdem an verschiedenen Umwelt- und Forschungsprojekten in den Nationalparks mit. Doch nach wie vor finanziert sich das Institut hauptsächlich über Entwicklungshilfe. Das Geld für die Inventarisation stammt zum größten Teil von internationalen Organisationen oder aus bilateralen Verträgen. Vor allem die Weltbank, Holland, Norwegen, Kanada sowie verschiedene US-Organisationen unterstützen INBio. Das wissenschaftliche Erfassen der Artenvielfalt ist eine vordringliche Aufgabe, und die Arbeit der Wissenschaftler im Institut ist weltweit anerkannt. INBio ist ein privates Institut, das eng mit der Regierung zusammenarbeitet, im öffentlichen Interesse und ohne eigene Gewinninteressen. Costa Rica ist ein politisch stabiles, demokratisches Land und hat immer wieder gezeigt, dass es den Umweltschutz ernst nimmt. Als erstes Land der Welt hat es ein umfangreiches Biodiversitätsgesetz verabschiedet, das die Konvention über biologische Vielfalt in nationales Recht umsetzt. Viele Regierungen und Organisationen halten hier Entwicklungshilfe für sinnvoll. Die Gelder aus den Prospektionsverträgen mit der privaten Wirtschaft machten in den letzten Jahren 10 bis 16 Prozent aller Einnahmen aus. Allerdings: Von Annegret Böhme Costa Rica den Funktionären im Umweltministerium, über die Mitarbeiter von INBio, bis zu ihrem Chef Gámez weist jeder darauf hin, dass der Technologietransfer und die Fortbildung des wissenschaftlichen Personals wichtiger und umfangreicher gewesen seien als die Geldbeträge, die die Bioprospektion bisher gebracht hätte. Die Angaben schwanken zwischen 3 und 7 Millionen Dollar, die das Institut insgesamt mittels Bioprospektion für Umweltschutz und Forschung landesweit erwirtschaftet hat. Der Wert des Technologie- und Wissenschaftstransfers käme hinzu, sei jedoch schwer zu schätzen. Und auch sein Nutzen. So ist INBio stolz auf ein nuklear-magnetisches Resonanzspektroskop zur chemischen Analyse organischer Substanzen. Das Gerät ist 300.000 Dollar Wert und das einzige in Zentralamerika und Panamá. Bei Bayer lacht man darüber. „Das ist spätestens in 5 Jahren völlig überholt“, sagt der Chef der Bayer „Life Science“ Forschungsabteilung, Klaus Frobel. Während sich die INBio Mitarbeiter noch über die Reagenzgläser freuen, führen die Wissenschaftler in den Labors der Pharma-Multis „Molecular-Modelling“ am Bildschirm durch. Auch der Wert der Fortbildung wissenschaftlicher Experten kann offensichtlich nicht geschätzt werden. „Wie will man wissen, was Ausbildung bei bestimmten Personen wert ist“, fragt die Prospektionschefin Ana Lorena Guevara. Jeder Vertrag schließe die Fortbildung des INBio-Personals ein. Die Projektleiter werden für ein bis zwei Monate in das Projekt eingearbeitet. Seltener gibt es in Verträgen mit Universitäten auch die Möglichkeit einer Doktorarbeit. Doch wer hier in Projekten seinen Doktor macht, käme meist von einer costaricanischen Universität, sagt Ana Lorena Guevara. INBio selbst könne seine Wissenschaftler nicht so lange entbehren. Experten, die die exakte Einordnung der Organismen vornehmen, werden bei INBio generell „internationale Taxonomisten“ genannt. Gibt es inzwischen auch costaricanische im Institut? „Nein“, sagt Direktor Rodrigo Gámez, „da ist keiner dabei. Bis jemand Taxonomist ist, dauert es 20 bis 30 Jahre. Sie müssen mal überlegen, was das kostet!“ Die Anzahl dieser Experten sei in artenreichen Länder umgekehrt proportional zur Anzahl der Arten. „Wir können es uns hier nicht leisten, dass sich jemand auf ein Grüppchen von Nachtfaltern spezialisiert. Wir haben andere Sorgen!“ Diese Erwartung hatte der INBio-Gründer Gámez vor ein paar Jahren aber durchaus. Doch noch heute denkt er positiv: „Sehen sie, die Internationalität der Taxonomisten ist ja wieder ein Vorteil für uns. Sie forschen mit uns, und wir sparen Personalkosten“. Wie viele INBio Mitarbeiter sich bis zu welchem Grad fortbilden konnten, kann mir keiner genau sagen. Sicher, Manuel Zumbado beispielsweise, war früher Wächter im Nationalpark, hat als Parataxonomist – also als Sammler – bei INBio angefangen und ist heute nationaler Spezialist für Fliegen. Viele, die inzwischen Forschungsprojekte in Nationalparks koordinieren, seien früher Costa Rica Annegret Böhme Sammler gewesen, erklärt Direktor Gámez. „Hier“, sagt er und zeigt auf zwei Bücher über costaricanische Artenvielfalt, „die Autoren waren früher ganz einfache Parataxonomisten“. Die Parataxonomisten sind eine Erfindung INBios. Es sind Männer und Frauen, die von INBio für das Sammeln in den Nationalparks ausgebildet werden, Leute vom Land, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kommen. Mit ihnen wollte INBio die lokale Bevölkerung in die Arbeit INBios einbinden. 39 gibt es zur Zeit im ganzen Land. INBio musste ihre Zahl etwas begrenzen. Der Grund: Zuviel unidentifiziertes Material staut sich bei INBio an. Viele möchten als Parataxonomist arbeiten. Doch wer für INBio sammeln möchte, muss zunächst einen Aufnahmetest bestehen. Zwei von zwanzig wurden im letzten Verfahren angenommen. Khanaki Caballero wurde lediglich Dritter. Der 24-jährige Guaymi-Indianer, aus einem Dorf an der Grenze zu Panamá kommend, möchte mehr lernen über den Artenreichtum. Seine Leute wüssten eine Menge über Pflanzen, sagt er, aber wenig über Insekten. Wenn er einmal als Sammler arbeiten könnte, begründet er seinen Berufswunsch, würde er sein Wissen an die Kinder weitergeben wollen, um sie sensibel für den Artenschutz zu machen. In der Hoffnung, beim nächsten Mal nachrücken zu können, macht Khanaki ein Praktikum bei dem Parataxonomisten Antonio Azofeifa – einem, der mehr Glück hatte. Wespen statt Gold: Sammeln für INBio Antonio Azofeifas Grundstück „Las Agujas“ liegt etwa 3 Stunden Fußmarsch entfernt von der nächsten Rangerstation im Regenwald, direkt neben dem Nationalpark Corcovado auf der Halbinsel Osa. In der Dämmerung sitze ich mit Antonio auf der Holztreppe zur Veranda und sehe zu, wie es dunkel wird, ganz dunkel, denn der Generator ist kaputt. Zwei Tukane schreien abwechselnd, Tropfen fallen auf das Vordach, dann ist es still. Durch eine kleine Schneise kann man von der Veranda des Holzhauses auf den Golfo Dulce sehen. Am anderen Ufer flackern die ersten Lichter auf. „Weißt du“, sagt Antonio plötzlich, „irgendeine bedeutende Person hat mal gesagt: “Jemand der hier eine kleine Finca hat, ist ein Millionär, aber er lebt in der größten Misere“. – Genauso ist es“. Antonio darf auf seiner Finca keine Bäume fällen und auch keine neuen anpflanzen, ebenso wenig wie landwirtschaftliche Nutzpflanzen. Denn Antonios 36 Hektar großes Grundstück liegt im Waldreservat, das wie ein Schutzmantel den Corcovado Nationalpark umgibt. Mit Park und Reservat stehen in Osa rund 140.000 Hektar Wald unter Naturschutz. Die Nutzung der privaten Fincas im Waldreservat ist zwar eingeschränkt möglich, doch um eine Genehmigung vom Umweltministerium zu erhalten, müsste Antonio erst einen Annegret Böhme Costa Rica Forstingenieur beauftragen und einen Bewirtschaftungsplan erstellen lassen. Das alles kostet Geld und das hat Antonio Azofeifa nicht. So wie ihm geht es fast allen Besitzern kleinerer Fincas im Waldreservat. Wie die meisten Männer in Osa hat Antonio Azofeifa jahrzehntelang als Goldsucher gearbeitet. Doch die Arbeit in der Mine hat ihn körperlich ausgelaugt und die Goldsuche bringt heute nichts mehr. Der Corcovado Nationalpark ist eines der Gebiete, in denen INBio biologische Proben sammelt. Seit etwa 5 Jahren stellt Antonio sein Grundstück als Quartier für einige INBio-Sammler zur Verfügung. Vier Männer und eine Frau sammeln im nahen Nationalpark Insekten, Pflanzen und Pilze und arbeiten und übernachten in Las Agujas. Das Arbeitszimmer hat große Fenster ohne Scheiben. An den Wänden sind Holztische angebracht, auf denen Mikroskope, Holzschachteln und Bestimmungsbücher stehen. Hier und da ein Einweckglas mit einem in Alkohol eingelegten Käfer, der für die Wissenschaft sterben musste. Der Praktikant Khanaki spießt Fliegen auf Stecknadeln, platziert sie neben metallicfarbenen Wespen in grün, gelb oder azurblau und versieht alles mit winzigen Zettelchen, die er mit seinem Namen und dem Fundort beschriftet hat. INBio hat das Haus ausgebaut, den Generator angeschafft und übernimmt ein paar laufende Kosten. Pachtgebühren bekommt Antonio nach eigenen Aussagen nicht. Er stellt das Grundstück zur Verfügung „damit es einen Wert bekommt“. Doch Antonio hatte Glück. Denn seit etwa 3 Jahren sammelt er selbst Wespen für INBio. Dafür bekommt er umgerechnet etwa 300 Dollar im Monat. Das sei ein ganz guter Durchschnittsverdienst, wenn es auch nicht viel ist für seine sechsköpfige Familie. Antonio ist INBio dankbar. Viele seiner ehemaligen Gefährten aus der Mine versuchen in der Tourismusbranche unterzukommen. Aber vor allem Jüngere verlassen die Halbinsel. Und wer sich gar nicht anders helfen kann, holt sich aus dem Wald was er zum leben braucht – auch ohne Genehmigung durch die Behörden. Gerade auf der Halbinsel Osa – eine der ärmsten Gegenden Costa Ricas – haben illegale Abholzung und Wilderei in den geschützten Gebieten in den letzten Jahren stark zugenommen. Gelder für die Kokosinsel Das Umweltministerium in Costa Rica ist knapp bei Kasse. Fast 15 Prozent der Böden in den staatlichen Nationalparks sind noch in Privatbesitz. Carlos Manuel Rodríguez, der Stellvertreter der Umweltministerin, wird ungern darauf angesprochen: „Das Problem ist, dass wir verpflichtet sind, die Böden zu bezahlen und das Geld dafür nicht haben. Wir sprechen hier von über 100 Costa Rica Annegret Böhme Millionen Dollar, die uns fehlen. Das ist wirklich ein ernsthaftes Problem.“ Auch für eine angemessene Kontrolle in den Nationalparks und für Revisionen der Bewirtschaftungspläne in den Reservaten fehle Personal und Geld, sagt Rodríguez. Die Beträge, die das Ministerium bisher von INBio erhalten hat, gibt der Stellvertreter der Umweltministerin mit ein paar hunderttausend Dollar an, keine ganze Million. Das Geld wurde für den Nationalpark „Isla de Coco“ ausgegeben. Die „Isla de Coco“ ist ein Eiland im Pazifik – Romanvorlage für Michael Crichtons Bestseller „Jurassic Park“, artenreich aber unbewohnt. Von dem Geld wurde dort eine Küstenwache eingerichtet, Parkwächter eingestellt und eine biologische Forschungsstation ausgebaut. Umweltschützern ist das zu wenig: „Laut Konvention über die biologische Vielfalt, muss die Verteilung der Gewinne gerecht und ausgewogen sein. Es geht nicht, dass einfach nur der Staat einen Teil bekommt und dann allein entscheidet, was er damit macht. Der Staat hat entschieden, das Geld an die „Isla de Coco“ zu schicken. Doch dort lebt kein Mensch! Die ganze Idee der gerechten und ausgewogenen Verteilung in der Konvention ist doch, dass die Bevölkerung, die im Umfeld der Parks lebt, an den Gewinnen beteiligt wird“. Silvia Rodríguez ist Soziologin und lehrt an der Nationalen Universität von Costa Rica Umweltwissenschaften. Sie engagiert sich für die Umsetzung der Biodiversitätskonvention in ganz Mittelamerika. In ihrem kleinen Zimmer in der Universität stapeln sich Kartons mit didaktischem Informationsmaterial. Unser Interview wird 11 mal unterbrochen, weil Kongresse und Veranstaltungen organisiert werden müssen. INBio ist Silvia Rodríguez auf der einen Seite zu privat, auf der anderen Seite zu nah an der Regierung. Die Kontakte des Instituts zur Politik seien so gut, dass es schon gefährlich wäre, denn das Institut hätte auf diese Weise eine sehr große Macht. So sei der heutige Stellvertreter der Umweltministerin Carlos Manuel Rodríguez früher Hausanwalt von INBio gewesen – und er ist nur ein Beispiel. In einem Land, in dem mich der Präsident per Handschlag begrüßt, weil ich im Journalistentross die einzige bin, die er noch nicht kennt, erscheint es mir skurril, etwas anderes zu erwarten. Doch Silvia Rodríguez will sich mit solchem Filz offensichtlich nicht abfinden: INBio sei in zu viele Entscheidungsprozesse eingebunden. Die Nutzung nationaler Ressourcen dürfe nicht einer Privatinstitution überlassen werden. Zumindest aber müsse die Bevölkerung über die Nutzung biologischer Ressourcen in ihrem Umfeld informiert werden und ein Mitspracherecht bekommen. Das sähe die Konvention über biologische Vielfalt vor, aber es sei im Fall von INBio nicht garantiert. Denn als privates Institut wahrt INBio sein Geschäftsgeheimnis und hält Teile seiner Verträge geheim. Keiner wüsste überhaupt, wie viele und welche Proben INBio sammelt. Annegret Böhme Costa Rica Die Einbeziehung der Gemeinden in der Nähe der Nationalparks, ihre Beteiligung an den Gewinnen, diene letztendlich der Verbesserung ihrer ökonomischen und sozialen Situation, argumentiert die Soziologin und Umweltexpertin Rodríguez. Die Situation der Landbevölkerung in Costa Rica sei prekär. Wenn die Regierung das nicht in Betracht zöge, sei Umweltschutz vor Ort nicht durchzusetzen. Für Silvia Rodríguez ist INBio kein perfektes Modell, denn es ist nicht transparent genug und es ermöglicht keine Partizipation. Wie sie denken viele in Costa Rica, die sich unabhängig von der Regierung für die Umsetzung der Konvention über biologische Vielfalt stark machen. Überholtes Modell: INBio in der Kritik „Que lindo!“ riefen die meisten meiner Kollegen bei der Tageszeitung La Nación aus, sobald ich ihnen erzählte, dass ich über INBio recherchieren werde. „Was für ein schönes Thema“. „Gloria nacional“ titelt die Kommentarseite zum 10 jährigen Bestehen des Institutes im Herbst 1999. Viele Costaricaner sind stolz auf INBio. Doch in Gesprächen mit Umweltschützern sehe ich eine Menge hochgezogener Augenbrauen und skeptisch nach unten gebogener Mundwinkel. „Wie kommst du darauf, INBio sei ein Modell?“, fragt mich Gerado, bio-dynamischer Kaffeeanbauer und engagierter Umweltaktivist, während wir im ÖkoImbiss einen Obstcocktail trinken. In Costa Rica gibt es eine relativ breite Umweltschutzbewegung. Allein zum Dachverband FECON (Federación Costarricense para la Conservación del Ambiente) gehören 25 verschiedene Gruppen. Sie fordern Partizipation. Sie wollen mitentscheiden, wie die Artenvielfalt genutzt wird. Nicht zu Unrecht sind sie deshalb stolz auf das neue Biodiversitätsgesetz, das 1998 verabschiedet wurde und die Konvention über biologische Vielfalt in nationales Recht umsetzt. Denn das besondere an diesem Gesetz ist nicht nur, dass es das erste umfangreiche Biodiversitätsgesetz in der Welt ist, sondern dass es am runden Tisch entstand. Vertreter der Zivilgesellschaft – auch INBio – und Regierungsvertreter handelten mehrere Monate lang eine Gesetzesvorlage aus und verabschiedeten sie im Konsens. Umwelt- und Artenschutz, sowie nachhaltige Nutzung biologischer Ressourcen soll nicht Chefsache des Umweltministeriums in San José bleiben. Das sieht das neue Gesetz vor. Die verschiedenen staatlichen und privaten Naturschutzgebiete werden zu kleineren Verwaltungseinheiten zusammengefasst, die zwar dem Umweltministerium unterstehen, sich aber selbstständig finanzieren und managen sollen. In sogenannten Lokalräten können Vertreter der lokalen Bevölkerung über das Management mitentscheiden. Costa Rica Annegret Böhme Außerdem sollen in Zukunft Akademiker, Umweltschutzorganisationen, Bauern und indianische Bevölkerung über nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt mitbestimmen können. Ihre Interessenvertreter bilden mit verschiedenen Ministern, beziehungsweise deren Vertretern, eine nationale Kommission (Comisión Nacional para la Gestión de la Biodiversidad, kurz CONAGEBIO). Diese entscheidet zukünftig über den Zugang zu biologischen Ressourcen und über die Verteilung der Gewinne aus ihrer Nutzung. Mit ihr wird in Zukunft jeder – auch INBio – neue Nutzungsverträge absprechen müssen. Auch einige Mitglieder der Kommission stehen INBio kritisch gegenüber. Für Diskussionsstoff sorgen die Geheimklauseln in den Verträgen, die Tatsache, dass INBio nur dem Umweltministerium Rechenschaft schuldig ist und allein das Umweltministerium am Gewinn beteiligt wird, sowie die mangelnde Transparenz – wer kontrolliert INBio und wie kontrolliert INBio die Multis? INBio war an der Entstehung des Gesetzes beteiligt und hat ihm zugestimmt. Einige Regeln INBios wurden sogar in das Gesetz aufgenommen. Doch: „INBio ist ein privates Institut und es wird sich in Zukunft nach den Regeln richten müssen, die wir im Moment erarbeiten“, sagt Isaac Rojas, der die Umweltschutzorganisationen in der nationalen Kommission vertritt. Er ist sich sicher, dass INBio in Zukunft mit Änderungen seiner Praxis rechnen muss: Sowohl was den Zugang zu biologischen Ressourcen betrifft, als auch die Verteilung der Gewinne. INBio-Mitarbeiter legen das Biodiversitätsgesetz anders aus und rechnen nicht mit Änderungen. Sie empfinden die Kritik als ungerechtfertigt und reagieren gereizt. Die geheimen Klauseln in den Verträgen würden von den Vertragspartner gefordert und seien durch das neue Biodiversitätsgesetz erlaubt. Das Geschäftsgeheimnis müsse gewahrt bleiben. „Wir haben die Regeln des Kommerzes nicht erfunden“, sagt Direktor Gámez. Der Stellvertreter der Umweltministerin, Carlos Manuel Rodríguez, bestätigt mir, dass er und die Ministerin selbstverständlich wüssten, wie hoch die Gewinnbeteiligung sei. Auch gäbe es keinen Grund zur Sorge, dass ein Multi das Institut über den Tisch ziehen könnte. Die Zusammenarbeit mit den Unternehmen sei vertrauensvoll. „Sie müssen bedenken“, sagt er „das sind Wissenschaftler, die da forschen; die haben hohe moralische Prinzipien“ und fügt hinzu, dass es im Falle eines Zweifels natürlich die Möglichkeit einer Kontrolle gäbe. INBio sei über ein Computersystem mit Merck verbunden. Das Institut liefere die Substanzen ohne Namen, aber mit Codes versehen. Über diese Codes hätte INBio Zugriff auf die mercksche Datenbank. So könne selbst die Umweltministerin den Weg der Stoffe verfolgen, nachdem sie INBio verlassen haben – „Im Falle eines Zweifels!“. Den Vorwurf, dass INBio für eine gerechtere Verteilung der Gewinne sorgen müsste, wollen die Entscheidungsträger bei INBio nicht gelten lassen. INBio sammle genau in fünf geschützten Gebieten, die gehören dem Staat und dort Annegret Böhme Costa Rica leben keine Menschen. Der einzige, dem INBio also Rechenschaft und Gewinnbeteiligung schuldig sei, wäre der Staat. Wie der Staat entscheidet wäre seine Sache. Direktor Rodrigo Gámez weist mich darauf hin, dass INBio nur biologische Substanzen sammle. Es würde ganz bewusst nicht auf traditionelles Heilwissen zurückgreifen, sei also auch hier weder der indianischen Bevölkerung noch irgendeiner Gemeinde etwas schuldig. Das sei eine politische Entscheidung gewesen, sagt Gámez, denn diese Dinge legal zu regeln sei zu kompliziert. „Wo fängt eine Gemeinschaft an und wo hört sie auf? Wer kann sich hier Indianer nennen und wer nicht?“ Doch im Vertrag mit der italienischen Firma INDENA heißt es, dass nach antimikrobischen und antivirualen Substanzen gesucht werden soll, die in der „traditionellen costaricanischen Medizin“ verwendet würden. Gámez bestätigt das. Jedoch würde INBio nur auf „volkstümliches, gemeines“ Wissen zurückgreifen. „Der Typ, der samstags auf dem Wochenmarkt in Heredia Heilpflanzen verkauft, zum Beispiel. Was der weiß, dass ist die Art von Volkswissen, die wir nutzen“. Auch von Akademikern publiziertes gehöre dazu. Also greifen sie auch auf das zurück, was Anthropologen bei der indianischen Bevölkerung erfragen und erforschen, frage ich ihn. „Nein. Indianisches Wissen nutzen wir nicht, weder direkt noch indirekt“. Und: Vieles von dem volkstümlichen Wissen sei ohnehin europäischer Herkunft, Kamillentee zum Beispiel. Doch Gámez widerspricht sich. Im Fall von INDENA hätte man ja nur nach Stoffen für den dermatologischen Gebrauch, für kosmetische Zwecke gesucht: „Und ich kann ihnen sagen: Von all den Stoffen, denen eine Wirkung nachgesagt wurde, ist im Laborversuch keiner erfolgreich gewesen. Ich will nicht sagen, dass es Indianern nicht hilft. Aber die leiden vielleicht unter anderen Bakterien und Pilzen als Italiener“. Der Direktor von INBio beschwert sich darüber, dass sich die Kritiker nicht richtig informierten. Doch meine eigene Erfahrung bestätigen die von Umweltschützern, die sich intensiver mit der Arbeit des Instituts beschäftigten: Es ist relativ schwer, verlässliche Informationen zu erhalten. Eindeutiges Informations- und Zahlenmaterial oder gar Statistiken sind schwer zu bekommen. Transparenz ist nicht die Stärke der costaricanischen Demokratie. Das gilt auch für INBio. Bindet CO2 und Touristen: Die Verwertbarkeit des Waldes Lohnt sich der ganze Aufwand eigentlich? Ist Biodiversität eine Ressource? Kann sie genutzt werden? „Ja“, sagt der Wissenschaftler Pedro León vom molekularbiologischen Institut der Universität. „Aber sie ist wie eine große Bibliothek, in der wir viele Bücher noch nicht gelesen haben. Die Herausforderung besteht darin, an diese Informationen heranzukommen. Doch, es ist Costa Rica Annegret Böhme eine Ressource und das ist ein Grund, warum wir sie schätzen. Vor 100 Jahren hat man die Wälder vernichtet, damit Costa Rica ein zivilisiertes Land wird. Das hat sich vollkommen geändert“. „Ja“, sagt auch die Soziologin Silvia Rodríguez, es mache Sinn, Regeln für die nachhaltige Nutzung aufzustellen. „Aber es muss andere Gründe geben, die Artenvielfalt zu schützen, als ihre ökonomische Verwertbarkeit“. Nur wie? Costa Rica sucht weiter nach Möglichkeiten, Umweltschutz zu finanzieren. Das Land hat die Bedeutung internationaler Verträge erkannt und die schnelle Umsetzung als Chance begriffen. Die Klimarahmenkonvention beispielweise, wurde ebenfalls 1992 in Rio de Janeiro verhandelt und trat 1994 in Kraft. Um die Erwärmung der Erdatmosphäre zu stoppen, verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten den Ausstoß der Gase zu reduzieren, die zum Klimawandel führen – hauptsächlich CO2. Auf der Klimakonferenz 1997 in Kioto wurde der Clean Development Mechanism vereinbart. Die Idee: Industriestaaten helfen den Entwicklungsländern bei Energieversorgung und Klimaschutz. Mittels Technologietransfer und Investitionen ermöglichen sie den Aufbau einer umweltfreundlichen Energieversorgung in Entwicklungsländern. Die so eingesparten Treibhausgase können sie sich auf ihre eigenen Klimaverpflichtungen anrechnen lassen. Bereits seit 1996 gibt es solche Pilotprojekte zwischen Industrieländern und Costa Rica. In San José wurde eigens ein Büro eingerichtet, das als Ansprechpartner für Investoren dient. Franz Tattenbach ist dort der Chef: „Wir sehen das CO2-Geschäft als eine Möglichkeit, unsere Biodiversität zu schützen und den Sektor der erneuerbaren Energie auszubauen. Es hilft uns, Projekte zu finanzieren, die wir ohnehin geplant hatten, für die uns aber das Geld fehlt. Natürlich wollen wir erneuerbare, saubere Energien. Aber Windenergie ist teuerer als Energie aus konventionellen Kraftwerken“. Kann sich der Investor das eingesparte CO2 für seine Klimaverpflichtungen gutschreiben lassen, kann er den Strom im Endeffekt billiger anbieten. 10 Prozent der Energie in Costa Rica würde heute schon aus Quellen kommen, die als Pilotprojekte starteten, so Tattenbach. Doch Costa Rica setzt nicht nur auf Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, mit Partnern aus Industrieländern, sondern auch auf das Modell des Waldes als CO2-Senke. Denn der Wald bindet Kohlendioxid. In Costa Rica wird das durch den Wald gebundene Kohlendioxid auf Zertifikate umgerechnet: „Certifiable Tradable Offsets“ (CTOs) repräsentieren eine bestimmte Menge Treibhausgasemissionen und werden von Costa Rica zum Verkauf angeboten. Mit dem Erlös sollen zum einen private Landeigentümer entschädigt werden, wenn sie sich verpflichten, Wald aufzuforsten, nachhaltig zu nutzen oder unter Naturschutz zu stellen. Zum anderen will der costaricanische Staat mit dem Geld Land in den Nationalparks aufkaufen, das sich noch in privater Hand befindet, sowie Projekte mit erneuerbarer Energie unterstützen. Annegret Böhme Costa Rica Durch den Ankauf von Emissionszertifikaten sind Investoren nicht mehr an ein bestimmtes Projekt gebunden, der costaricanische Staat nimmt die Planung, Finanzierung und Durchführung verschiedener Landnutzungs- oder Energieprojekte selbst in die Hand. Norwegen hat bereits für 2 Millionen Dollar Emissionszertifikate erworben. Der Preis liegt bei 10 Dollar für eine Tonne Kohlenstoff oder knapp 3 Dollar pro Tonne CO2. „Wir sind drauf und dran einen großen Deal über 3 Millionen Dollar mit einem privaten US -Energieproduzenten abzuschließen und wir handeln die Zertifikate jetzt über ganz normale Börsenmakler in New York, die alle möglichen Güter verkaufen. Das ist die Ökonomie des 21. Jahrhunderts! Wir handeln mit einem Gut, das zur Ware geworden ist. Saubere Luft ist rar geworden, die Freiheit, CO2 in die Atmosphäre zu blasen, ist kleiner geworden“, sagt Franz Tattenbach, zündet sich eine Zigarette an und lacht. „Ein Preis hat sich zu entwickeln begonnen. Es gibt jetzt Mechanismen für den Handel“. Doch eine ausreichende, rechtliche Grundlage gibt es für den Handel bisher nicht. Die Emissionszertifikate können zwar verkauft und erworben werden. Bisher kann sie sich aber kein Land und kein Unternehmen auf seine offizielle Klimaverpflichtungen anrechnen lassen. Denn das Klimaschutzprotokoll, das 1997 in Kioto von den Vertragsstaaten vereinbart wurde, ist noch nicht in Kraft und wird bis zur Klimakonferenz im November 2000 in Den Haag auch nicht in Kraft treten. Ob dann die Projekte aus der Pilotphase anerkannt werden, hängt davon ab, ob sie den im Protokoll vorgeschriebenen Richtlinien für den „Clean Development Mechanism“ im Endeffekt gerecht werden. Gerade die Anerkennung der Wälder als CO2-Senken aber ist umstritten, die USA ist dafür, Europa dagegen. Gestritten wird darüber, inwieweit die Regenwälder das Weltklima beeinflussen und wie sich dies evaluieren ließe. Solange der Wald nicht abgeholzt und verbrannt wird, bildet er einen geschlossenen Kreislauf. Erst wenn er verbrannt wird, wird CO2 frei, das die Atmosphäre zusätzlich belastet. Zum anderen sind Investitionen in Waldsenken-Projekte in Entwicklungsländern besonders preiswert zu haben. Schätzungen gehen davon aus, dass, wer ein Windkraftwerk in einem Entwicklungsland baut, etwa 7 bis 10 Dollar investieren muss, um eine Tonne CO2 einzusparen, also etwa dreimal soviel, wie er für eine Tonne eingespartes CO2 aus dem WaldsenkenProjekt entrichten müsste. Industrieländern würde es so sehr leicht gemacht, sich von ihren Klimaverpflichtungen freizukaufen. Für die Außenhandelsbilanz Costa Ricas spielt heute der Export von Mikrochips die größte Rolle. Im letzten Jahr schoss er in die Höhe und erreichte einen Umfang von 2 Milliarden US-Dollar im Jahr. Die andere wichtige Devisenquelle Costa Ricas ist der Tourismus. Fast eine Million Touristen kamen 1998 und ließen über 800 Millionen US-Dollar im Land. Die meisten Costa Rica Annegret Böhme von ihnen zieht es wegen der Strände und des Regenwaldes nach Costa Rica, fast 70 Prozent besuchen mindestens einen Nationalpark oder ein Reservat. Das Land wirbt mit dem ökologischen Image. Hängebrücken und Seilbahnen bahnen sich in rasend schnell zunehmneder Zahl ihren Weg durch den Urwald. Besucher können Führer anheuern um Meeresschildkröten beim Eier legen zuzuschauen, Delfine und Krokodile zu beobachten, glühende Lava aus nächster Nähe zu sehen oder tagelang durch den Regenwald zu streifen. Vom „Rafting“ in den Flüssen bis zum „Birdwatching“ wird jedes Angebot mit der Vorsilbe „Öko“ versehen. „Tourismus hat hier eben immer mit Natur zu tun“, erklärt mir Jimmy Trejos, der Führer, als er mich zusammen mit einer Gruppe älterer, skandinavischer Hobbyornithologen durch den Urwald von La Selva führt. La Selva ist eine biologische Forschungsstation, die täglich eine begrenzte Zahl von Touristen durch ihren Privatbesitz führt und sich so den Haushalt aufbessert. Der Tourismus ist momentan der einzige Sektor, in dem Costa Rica aus seinen Naturreichtümern wirklich Kapital schlägt. Auch INBio zapft diese Quelle an. Der INBio-Park ist zum 10 jährigen Bestehen des Instituts eingeweiht worden. Auf einem 5 Hektar großen Gelände entstand eine Art costaricanischer Mikrokosmos – Nachbildungen von verschieden Waldtypen mit Lagune, Freilichtbühne und Informationszentrum, das über Costa Ricas Artenvielfalt und die Arbeit von INBio belehrt. Besucher können auf asphaltierten Wegen durch Regen- oder Trockenwald schlendern und an „Bioalphabetisierungsmaßnahmen“ teilnehmen. Wer 18 Dollar Eintritt zahlt, ein Souvenir im „Biodiversitäts-Shop“ kauft und im Restaurant die Diversität costaricanischer Küche testet, kann das Schöne mit dem Nützlichen verbinden: Mit den Einnahmen will INBio sein Budget aufpäppeln. Denn langfristig möchte das Institut unabhängiger von seinen Geldgebern werden. „Wir planen, ein Drittel unseres Haushaltes in Zukunft selbst zu bestreiten“, sagt Rodrigo Gámez. INBio ist nicht gescheitert. Noch immer drücken sich Delegationen aus der ganzen Welt im Institut in Heredia die Klinke in die Hand. Die einen lassen Geld da, um die Arbeit des Instituts zu unterstützen, die anderen holen sich Anregungen. Für viele Regierungen in Mittel- und Lateinamerika hat INBio Beispielfunktion. Andere artenreiche Länder sind inzwischen hellhörig geworden: Aus Angst vor Biopiraterie – dem Schmuggel biologischer Substanzen für kommerzielle Zwecke – dürfen fast nirgendwo mehr Naturstoffe außer Landes gebracht werden. Doch nicht überall sind der Zugang zu den biologischen Ressourcen und ihre nachhaltige Nutzung so eindeutig geregelt wie in Costa Rica. Und so ist das Land heute das Mekka für Forscher der amerikanischen Tropen. Im Tropenforschungszentrum CCT, dem Forschungsinstitut La Selva oder bei INBio bieten sich ihnen beste Vorraussetzungen: „Ich habe hier alles: Artenvielfalt, Bibliothek und Computer – und einen leichten, weil geregelten Zugang“, erklärt mir ein amerikanischer Biologe. In vielen anderen Ländern sei das wis- Annegret Böhme Costa Rica senschaftliche Arbeiten aufgrund der Behinderung durch die Behörden fast unmöglich geworden. INBio hat einen Prozess in Gang gesetzt. Das ist sein Hauptverdienst. Die Aufklärung der Bevölkerung und die Inventarisierung der Artenvielfalt machen Sinn. Aber der großen Herausforderung, die Artenvielfalt ökonomisch zu nutzen, konnte INBio nicht gerecht werden. Den Ruf Vorreiter zu sein, wird Costa Rica behalten. Denn auf seine Experimentierfreudigkeit, auf die Beharrlichkeit, mit der es nach neuen Möglichkeiten sucht, die eigenen Ressourcen zu nutzen und auf die Geschwindigkeit, mit der es internationale Verträge in Taten umsetzt, kann sich das kleine Land mittlerweile so viel einbilden wie auf seine Artenvielfalt. Vor diesem Hintergrund wäre ihm ein Lottogewinn durchaus zu wünschen. Antje Deistler aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Sambia vom 27. Juli bis 07. September 1999 Sambia Antje Deistler Landwirtschaftliche Entwicklungsprojekte in Sambia Antje Deistler Sambia, vom 27. Juli bis 7. September 1999 Sambia Inhalt Zur Person Vorgeschichte: „Geschäftspartner“ Das wahre Afrika ADMADE – Hilfsprojekte im demokratischen Umbruch SLAMU – Tierschutz mit Geld und Gewehr Nachtrag: Apropos Südafrika... Antje Deistler Antje Deistler Sambia Zur Person Antje Deistler, geboren 1965 in Mülheim an der Ruhr. Studierte Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und Politik an der Uni Köln. Währenddessen Praktika und freie Mitarbeit bei „radio ffn“, dem „Kölner StadtAnzeiger“ und verschiedenen ARD-Sendern. Von 1996 bis ‘98 Redakteurin bei „Eins Live“, der jungen Hörfunkwelle des WDR. März/April 1998 achtwöchige Recherchereise nach Südafrika, Swasiland und Mosambik im Rahmen eines Stipendiums der Internationalen Journalisten Programme (ijp). Seit Januar 1999 wieder freie Hörfunk- und TV-Journalistin in Köln. Vorgeschichte: „Geschäftspartner“ Investment Centre, Lusaka. Die Regierungsbehörde zur Unterstützung der privaten Wirtschaft in Sambia. Ein kleiner, verwinkelter Flachbau an einer der Einfallstraßen. Ich habe einen Termin mit Peter Lintini, Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung, und gerade ist mein Thema geplatzt. „Wir haben seit zwei Jahren nichts mehr von unseren südafrikanischen „Geschäftspartnern“ gehört“, sagt er. Die Anführungszeichen an dem Wörtchen “Geschäftspartnern“ kann ich förmlich hören, auch wenn sie unausgesprochen bleiben. Denn Mr. Lintini, ganz Schlips-und-Kragen-Manager, kann seine Geringschätzung hinter den dicken Brillengläsern nicht verbergen, wenn er von der “South African Chamber for Agricultural Development in Africa“, SACADA, spricht. Mit dieser Organisation und ihrer Arbeit in Sambia wollte ich mich eigentlich während meines sechswöchigen Aufenthaltes beschäftigen. Seit 1995 arbeitet SACADA daran, südafrikanische Farmer in afrikanischen Entwicklungsländern südlich der Sahara anzusiedeln. Dort sollen die auswanderungswilligen Bauern günstig Land erwerben und sich niederlassen können. Im Gegenzug versprechen sie, ihr Kapital zu investieren und ihr agrartechnologisches Know How an die lokale Bevölkerung weiterzugeben. Damit soll die landwirtschaftliche Produktion des Gastlandes gesichert und im Anschluss – und mit der aktiven Hilfe der Südafrikaner – Fortschritte in Infrastruktur, in sozialen Bereichen und natürlich auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden. Interessant an SACADA ist für mich vor allem, dass es sich um eine rein weiße Organisation handelt. Sie wird zwar vom ANC finanziell unterstützt, doch die Programme richten sich an Buren. Südafrikanische Farmer mit den benötigten Möglichkeiten und dem Wissen, um an SACADA-Projekten teilzunehmen, sind fast ausschließlich Afrikaner. Und damit die ehemaligen Profiteure der Apartheid und, so sehen das zumindest viele von ihnen, jetzigen Verlierer im „New 58 Sambia Antje Deistler South Africa“. Außerdem ist die Entwicklungshilfeorganisation eng verbunden mit der „Freedom Front“ von Ex-General Constand Viljoen. Diese Partei (nicht zu verwechseln mit der faschistischen „Afrikaaner Weerstandsbeweging“ von Eugene Terre’Blanche) tritt für einen weißen „Volksstaat“ ein. Kein Wunder also, dass die Projekte von SACADA von der internationalen Presse auch schon misstrauisch als „Export der Apartheid“ in andere afrikanische Länder bezeichnet wurden. Dass Buren, noch dazu Mitglieder oder Sympathisanten der „Freedom Front“, als Wohltäter und Entwicklungshelfer in Schwarzafrika arbeiten wollen, nimmt ihnen kaum jemand ab. Seit einigen Jahren ist SACADA in Mosambik aktiv. Nach Auskunft des Vorstandsvorsitzenden Dries Bruwer und seiner Tochter Theuna in Pretoria wurden Anfang 1999 auch die ersten Projekte in Sambia aufgebaut, darunter ein Aufforstungsprojekt in Barotseland im Südwesten. Auch seien ihnen Grundstücke bei Mkushi im Copperbelt und am Lufubu Fluss zugewiesen worden. Dort würde ich im August viele mit SACADA zusammenarbeitende Farmer treffen können, schrieb Theuna Bruwer mir noch im April. Doch je näher mein Abflugdatum rückte, desto weniger Informationen bekam ich aus Pretoria. Zahlreiche E-Mails, in denen ich nach Kontaktpersonen und konkreten Ansprechpartnern vor Ort fragte, wurden vage oder gar nicht beantwortet. Fünf Tage vor meiner Reise gab es dann doch noch einmal eine Nachricht aus der Zentrale: Sorry, hieß es, wir haben es nicht geschafft. Niemand von SACADA werde in Sambia mit mir sprechen können, es wird nämlich niemand da sein. Probleme mit dem Fundraising. Andererseits gebe es bereits viele unabhängige südafrikanische Siedler dort, die später mit SACADA zusammenarbeiten wollen. Vielleicht könnte ich die ja besuchen?, versucht die Sprecherin mich zu trösten. Und nennt mir Peter Lintini vom Investment Centre. Der könne mir sicher helfen. Und da sitze ich jetzt, und der Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung, mein letztes Fünkchen Hoffnung, zuckt nur mit den Schultern. Natürlich gebe es eine ganze Menge südafrikanischer Farmer, die sich in Sambia angesiedelt haben. Aber von einer Verbindung zu SACADA weiß er nichts. Schon gar nicht kann er sich erklären, warum ausgerechnet er mir als Gesprächspartner und Fürsprecher der Organisation genannt wurde. Vor eineinhalb Jahren hat ihn mal jemand besucht, ja. Ein Vertreter von SACADA, der fette Investitionen von südafrikanischen Farmern in Außicht gestellt – und sich dann nie wieder gemeldet hat. Trotzdem ist dieses Treffen mit Peter Lintini aufschlußreich. Der sambische Busineßman hält wenig von den selbsternannten Entwicklungshelfern. Dabei sind ihm die hehren, wohltätigen Ziele, die sich SACADA auf die Fahnen geschrieben hat, völlig egal. Er ist an Investoren intereßiert, und in dieser Hinsicht haben die südafrikanischen „Geschäftsfreunde“ versagt. Seiner Meinung nach haben sie einfach nicht genug Geld zusammengekriegt. Ihr Programm, nach Antje Deistler Sambia dem die schwarzafrikanischen Gastgeber solvente neue Siedler erwarten können, die Kapital ins Land bringen und darüber hinaus auch noch Entwicklungshilfe leisten, hält er für pure Augenwischerei. Seiner Einschätzung nach ist SACADA eher eine Hilfsorganisation für verarmte Bauern. Und davon hat Sambia selbst genug. Findet er. Sambia ist groß, fast so groß wie Großbritannien und Frankreich zusammen, hat aber nur rund zehn Millionen Einwohner. Immer mehr Menschen, vor allem junge Männer auf der Suche nach Arbeit, zieht es in die Städte. Bereits jeder zehnte wohnt in Lusaka. Durch die Landflucht wachsen die Elendsviertel in den Städten immens an, die Kriminalität steigt. Auf dem Land versuchen die zurückgelassenen Familien, die inzwischen hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Von der Landwirtschaft können immer weniger Menschen leben, daher gehen die Ernteerträge ständig zurück. Wer in Sambia ein Stück Land erwerben will, braucht in der Regel kein Geld. Riesige Flächen sind unbesiedelt und liegen brach. Nur ein Zehntel wird bebaut. Die Regierung freut sich über jeden, der einen ehemals staatlichen Betrieb zu übernehmen bereit ist oder sogar eine neue Farm aufbauen möchte. Das bedeutet Jobs für die Landbevölkerung und vielleicht eine neue Sandpiste oder Straße in der nicht selten vollkommen unerschlossenen Wildnis. Deshalb gibt es Grundstücke gratis. Was man braucht, ist Geduld. Für die Anträge, die ihren Weg durch eine verschlungene Bürokratie nehmen müssen. Und für die Verhandlungen mit den Autoritäten vor Ort. Denn der traditionelle Chief – oder die Chieftainess – besitzt alles Land in der Region, in der sein/ihr Stamm lebt. Und er – oder sie – entscheidet letztendlich, wer sich wo niederlassen darf und wer ein Grundstück bekommt. Oder eben auch nicht. Wenn der Häuptling ablehnt, ist die Regierung machtlos. Doch das Investment Centre und Peter Lintini sind erstmal nicht wählerisch. Jeder, der Pionierarbeit auf dem Land leisten will, ist willkommen. Ohne Ansehen der Person, ohne irgendeine Überprüfung oder Voreingenommenheit. Die sambische Botschaft in Südafrika hat die zuständigen Stellen in Sambia über SACADA informiert. So weiß auch Peter Lintini von den Verbindungen zur „Freedom Front“ und dem Verdacht, dass diese Südafrikaner die Apartheid jenseits der heimatlichen Grenzen wiederbeleben möchten – auf Kosten des Gastlandes natürlich. „Aber die Buren haben uns viel zu bieten“, meint er. Südafrika ist eine Wirtschaftsmacht und nach Großbritannien der zweitgrößte ausländische Investor in Sambia. Da ist es ihm egal, dass südafrikanische Farmer ihren Ruf als notorische Rassisten nicht loswerden. Allerdings, räumt er ein, kontrolliere das Investment Centre die geförderten Projekte. Denn man sei sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst. Tatsächlich beklagten sich immer wieder Landarbeiter über schlechte Behandlung oder Missbrauch, Schläge und sogar Folterungen durch ihre zugewanderten weißen Sambia Antje Deistler Arbeitgeber. Dann leitet das Investment Centre die Beschwerden an die Polizei weiter. In besonders schweren Fällen werde der Täter des Landes verwiesen. Zum Beweis erzählt Lintini mir von einem Mann aus Simbabwe. Der sei ausgewiesen worden, nachdem er seine Arbeiter übel misshandelt hatte. Die Kontrolle funktioniere also gut. Andererseits wussten die Behörden schon bei seiner Einwanderung, dass der Antragsteller früher für die rhodesische Geheimpolizei gearbeitet hatte. Peter Lintini bezeichnet ihn ganz offen als „Ex-Folterer“. Ich kann die Geschichte nicht nachprüfen. Tatsache ist aber, dass die sambische Regierung keinen zukünftigen Investor wegen seiner Vergangenheit oder auch nur wegen seiner Herkunft ablehnt. Als ich frage, ob nicht ein bisschen Vorsicht gegenüber dubiosen Organisationen oder Einzelpersonen angebracht sei, lehnt sich Peter Lintini, der Direktor der Abteilung Wirtschaftsförderung beim Zambia Investment Centre, in seinem Chefsessel nach vorne und zeigt mir seine Hände. Die kleinen Narben, sagt er, stammen von Zigaretten, die ein paar Südafrikaner in seiner Jugend darauf ausgedrückt haben. Er schaut mich an wie um zu überprüfen, ob ich angemessen beeindruckt bin. Trotz dieser alten Wunden, fährt er fort, werde er heute keinen Buren daran hindern, nach Sambia zu kommen. Denn erstens gebe es Rassismus überall auf der Welt, und zweitens sei Sambia nach 35 Jahren Unabhängigkeit stark genug, mit diesen importierten Rassisten fertig zu werden. Die Zigarettengeschichte ist wieder so eine, die ich ihm glauben kann oder auch nicht. Aber ich weiß ungefähr, was er mit der „sambischen Stärke“ meint. Tribalismus und die notorischen gewaltsamen Stammeskonflikte (wie zwischen Tutsis und Hutu in Ruanda oder zwischen Zulus und Xhosas in Südafrika) sind in Sambia seit Jahrzehnten nicht vorgekommen. Und auch dem „weißen Mann“ wird viel Toleranz entgegengebracht. Sambier, das habe ich oft bemerkt, gehen mit dem Thema „Rasse“ erstaunlich entspannt um. Zum Beispiel Alex. Er ist Kellner im „Chasers“ in Lusaka, einer Bar im Stadtteil Rhodes Park. Hier treffen sich die, die es sich leisten können, Schwarze wie Weiße. Darunter Sambier ebenso wie deutsche, schwedische, kenianische oder südafrikanische Geschäftsleute und Engländer, die hier schon lange leben. „Expatriates“, wie die niedergelassenen Europäer genannt werden. Alex kennt die meisten schon lange, viele von ihnen sind Stammgäste. Nicht alle können sich benehmen. Berühmt-berüchtigt bei den Angestellten ist Tom Fowler. Der alte Herr hat lange in Kenia, Malawi und Simbabwe gelebt, bevor er vor ein paar Jahren mit seiner Familie nach Sambia kam. Ein Kolonialist von altem Schlag. Jeder kennt seine rassistische Einstellung Schwarzen gegenüber, er macht ja auch kein Geheimnis daraus. Von den Kellnern und Barmännern im „Chasers“ verlangt er, dass sie lächeln sollen. Immer. „Smile!“ befiehlt er, wenn Alex ihm seinen Gin-Tonic bringt, wenn er ihn einschenkt und später, wenn er die Rechnung bringt. Bei Weißen nimmt sich Mr. Fowler diesen Antje Deistler Sambia Ton nicht heraus. Alex lächelt ihn trotzdem strahlend an. Was Tom Fowler nicht weiß: Alex ist nicht gehorsam, sondern amüsiert. Seine Kollegen und er lachen ihn nicht an, sondern aus. Sie finden „seine Macken“ lustig, und sie mögen den sonnenverbrannten alten „Muzungu“, den Weißen, sogar ganz gern. Er stammt aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Klar ist Mr. Fowler ein Rassist. Sein Problem. Dieses achselzuckende, stets höfliche Selbstbewusstsein weißen Rassisten gegenüber habe ich in Sambia oft beobachtet. Ob es die mittellosen Landarbeiter auf Megafarmen weißer Besitzer vor der befürchteten Ausbeutung und Misshandlung schützen würde, wie Peter Lintini vom „Zambian Investment Centre“ hofft, bezweifle ich allerdings. Nach gut einer Woche in Lusaka musste ich mir also ein neues Rechercheprojekt suchen. Ich beschloss, im weitesten Sinn bei landwirtschaftlichen Projekten zu bleiben. Und fand sogenannte „Community Based Projects“ rund um die sambischen Nationalparks, die nicht nur der Landbevölkerung helfen, sondern auch gegen die Wilderei in den Tierreservaten vorgehen sollen. Das wahre Afrika „Zambia – the real Africa!“ heißt der Slogan, mit dem Sambia für sich als touristisches Reiseziel wirbt. Keine hohle Phrase. Das bekommt jeder, der Lusaka verlässt, körperlich zu spüren. Jedenfalls, wenn man so reist wie die meisten Sambier, nicht wie die paar Luxustouristen, die sich von einem Nationalpark zur nächsten 5-Sterne-Lodge fliegen lassen. Der überfüllte Minibus hoppelt über Teerstraßen, die aus Schlaglöchern bestehen oder über Sandpisten, kaum als solche erkennbar. Eventuell vorhandene Stoßdämpfer haben längst den Dienst quittiert. Die afrikanische Idylle haut einem fast die Bandscheiben raus. Draußen, hinter den gesprungenen Scheiben, erfüllt die Natur den Werbespruch. Wildnis über weite Strecken. Abgebrannte Steppen oder dichte Wälder. Die seltsamen weißen Baobab-Bäume ducken sich kahl und apokalyptisch unter dem blauen Himmel. Eine Bergkette am Horizont. Lusaka mit seinen Hochhäusern liegt nur ein paar Minuten hinter uns, hier fahren wir an steinzeitlich anmutenden Dörfern vorbei. Mit Elefantengras gedeckte Lehmhütten. Frauen, die riesige Krüge – oder Plastikkanister – auf dem Kopf balancieren. Hunderte von staubigen, lachend winkenden Kindern in zerrissener Kleidung am Wegesrand. Manchmal müssen wir anhalten, weil ein paar magere Kühe oder Ziegen über die Straße trödeln. Oder weil der Motor oder die Reifen oder die Bremsen oder was auch immer an diesem Vehikel streiken. Es ist wie in dem Bilderbuch, das ich als Kind hatte. Wie in „Jenseits von Afrika“. Wie im Klischee. Sambia Antje Deistler Ein paar Tage später sind wir in „Daktari“. South Luangwa Nationalpark. Ein geschütztes Flusstal östlich von Lusaka. Je weiter man sich vom Hauptort Mfuwe entfernt, desto schlechter werden die Straßen, bis sie irgendwann ganz verschwinden. Hier macht die fehlende Infrastruktur den Reiz für die Besucher aus. Foto-Safaris werden zu Fuß durch den Busch geführt. Auf Tierpfaden – andere Wege existieren nicht – wandern die Touristen, begleitet von einem Wildhüter und einem examinierten Führer, von einem Busch-Camp zum nächsten. Durch mannshohes Gras, durch Dickicht oder über weite, fast kahle Ebenen, die in der Regenzeit überschwemmt sind vom Wasser des Luangwa und seinen vielen kleinen Nebenflüssen. Das Wichtigste ist, was man auf diesen „Walking Safaris“ in den abgelegeneren Teilen des Parks nicht sieht: Andere Menschen. Dafür muss man sich in acht nehmen vor Elefanten, Flusspferden, Krokodilen, Löwen und Leoparden, und begegnet immer wieder großen Herden von Antilopen, Zebras, Büffeln oder einzelnen Giraffen. Aber so menschenleer und unberührt, wie es scheint, ist es in South Luangwa nicht. Auch hier leben Leute. Die Touristen nehmen sie nur nicht unbedingt wahr. Engländer, Italiener, Amerikaner, Deutsche und Südafrikaner kommen, um ein paar Tage Abenteuer zu erleben. Die Bisa und Ngoni verbringen ihren Alltag hier. Was für die zahlenden Gäste aus Übersee eine aufregende Wanderung voller Naturschönheiten ist, ist für die Bewohner dieser Gegend einfach ein verdammt langer und gefährlicher Weg zum nächsten Geschäft. 40 Kilometer müssen seine Leute zum Arzt oder zum Einkaufen gehen, erzählt mir Dambwele Mwale, der Headman von Mukasanga Village. Mukasanga ist eine Ansammlung von kleinen Dörfern im Norden des Parks. Die rund 700 Einwohner ernähren sich von dem, was ihre Felder hergeben. Außerdem gibt es ein paar Hühner, Kühe und Ziegen. Alles, was sie darüber hinaus brauchen, müssen sie sich im fernen Mfuwe besorgen. Das ist in der Trockenzeit, von Juni bis Anfang November, schon beschwerlich genug. Während der Regenzeit ist es komplett unmöglich. Dann könnten die Läden und die Klinik genausogut auf dem Mond liegen – unerreichbar. Spätestens im Dezember sind die Steppen und Grasebenen überschwemmt und zu großen Seen geworden. Ausgetrocknete Flussbetten, die die Touristen in der Saison mit angenehm klopfendem Herzen entlangspazieren, verwandeln sich in breite Ströme voller Flusspferde und Krokodile. Im Mai, wenn der Regen nachlässt, machen sich die ersten Dorfbewohner auf den Weg. Bis sie mit frischen Waren und Medikamenten zurückkommen, kann es Tage oder sogar Wochen dauern. Einige Flussarme werden noch zu viel Wasser führen, als dass man sie ohne Boot überqueren könnte. In dem Fall bleibt den Wanderern nur eins: Warten. Sie werden am Flussufer kampieren, ohne Zelt, schutzlos der Witterung, den Tieren und den Moskitos ausgesetzt. So lange, bis das Wasser zurückgeht. Und Antje Deistler Sambia später den ganzen Weg wieder zurückgehen, diesmal bepackt mit so viel, wie sie gerade schleppen und auf dem Kopf balancieren können. Möglicherweise landen sie aber auch erstmal auf dem Krankenbett. Wenn sie Glück haben, bricht die Malaria nämlich gerade aus, wenn sie in der Nähe der Klinik sind. Malaria ist in Sambia immer noch die Todesursache Nummer eins. In den abgelegenen Dörfern werden viele sterben, die während der Regenzeit von Moskitos infiziert wurden. Ohne ärztliche Hilfe und Medikamente müssen kranke Kinder und Alte schon viel Glück haben, um zu überleben. Kein Zweifel, sagt der „Headman“, das Dorf braucht medizinische Unterstützung, einen niedergelassenen Arzt und ein paar Krankenschwestern, und später will er ein Geschäft nach Mukasanga holen. Erreichen will Dambwele Mwale seine Ziele mit Hilfe des „Department of National Parks and Wildlife Services“, der sambischen Nationalparkbehörde. Die unterhält verschiedene Projekte, die einerseits die Armut der Landbevölkerung bekämpfen und andererseits die gefährdeten Tiere in den Parks schützen will. Das Geld dafür stammt – ausgerechnet – aus den Einnahmen der Jagd. ADMADE – Hilfsprojekt im demokratischen Umbruch Wie in Mukasanga Village bei South Luangwa leben die Menschen überall rund um die Nationalparks in ihren grasgedeckten Lehmhütten. Sie ernähren sich von Ackerbau und Viehzucht, wie sie das seit Jahrhunderten getan haben. Früher haben sie gejagt und Wild zur Nahrungsergänzung geschossen. Das dürfen sie nicht mehr, seit die Tiere, ihr „Essen auf vier Beinen“, von einem Tag auf den anderen durch die Nationalparks geschützt waren. Rund um die sambischen Tierreservate liegen sogenannte „Game Management Areas“ (GMAs), in denen die Jagd ausdrücklich erlaubt ist. Allerdings nur für viel Geld. Internationale Touristen zahlen mindestens 1000 US Dollar pro Tag, um einen Löwen, einen Büffel oder einen Leoparden töten zu dürfen. „Residents“, also sambische Staatsbürger, können für weniger Geld einen Jagdschein für eine bestimmte Anzahl und Sorte Wild bekommen. Meist sind diese einheimischen Jäger Geschäftsleute aus Lusaka oder anderen größeren Städten. Für Dambwele Mwale und die restlichen Dorfbewohner bleibt das Stück Papier unerschwinglich. Jahrzehntelang waren die Nachbarn der Parks von ihrer eigenen Umgebung abgeschnitten und entfremdeten sich dieser. Sie durften nicht jagen, und von dem Geld, das mit Jagd- oder auch Fotosafaris verdient wurde, sahen sie nichts. Heimlich wilderten sie für den eigenen Kochtopf – einen Büffel hier, eine Antilope dort. Viel mehr Schaden richteten die kommerziellen Wilderer an. Männer, die vor allem in den 70er und 80er Jahren von weit her kamen, um den uner- Sambia Antje Deistler sättlichen internationalen Markt für Elfenbein und Rhinozeros-Hörner zu beliefern. Das Horn eines Nashorns, in Asien als Potenzmittel gehandelt, war und ist Gold wert. Und so bedienten sich straff durchorganisierte, bis an die Zähne mit alten Armeegewehren bewaffnete Banden der Ortskenntnis und des Wissens der lokalen Bevölkerung. Als Führer und Träger verdienten sich die Dorfbewohner ein paar illegale Kwacha dazu. Die wenigen, vom Staat vernachlässigten und unzureichend ausgerüsteten Wildhüter hatten keine Chance gegen diese Übermacht. Ende der 80er Jahre waren sowohl Breitmaul- als auch Spitzmaulnashorn in ganz Sambia komplett ausgestorben, die Elefantenpopulation bedrohlich zusammengeschrumpft. Auch Löwenrudel, Leoparden und Büffel sah man viel seltener als früher. Ihre Köpfe, Felle und Hörner waren vermutlich jahrelang nach Europa und Amerika geschmuggelt worden, um dort als Trophäen an Wände genagelt zu werden. Das war die Zeit, in der das „Administrative Management Design“, kurz ADMADE, entwickelt wurde. 1988 wurde es vom National Parks and Wildlife Services etabliert, nach einer dreijährigen Pilotphase in Lower Lupande, einem Nachbargebiet von South Luangwa. Dem System lag eine einfache Erkenntnis zugrunde: Die Menschen müssen etwas von den Nationalparks haben, wenn sie sie wertschätzen und schützen sollen. Ein lebendes Tier sollte mehr einbringen als ein totes. ADMADE wurde mit US-amerikanischen Spendengeldern auf den Weg gebracht, um die Anwohner der Nationalparks an den Gewinnen aus der Tourismusbranche zu beteiligen. Das ist über zehn Jahre her. Dambwele Mwale hat drei Stühle auf den Platz neben dem Dorfbrunnen tragen lassen. Dort sitzen wir im Schatten des Sausage Tree; der graumelierte Headman, unser Dolmetscher Matthews und ich. Mr. Mwale versteht zwar Englisch, möchte aber nur in Bisa antworten, einer der 72 verschiedenen Stammessprachen und -dialekte in Sambia. Die Sonne scheint, und dutzende von unvorstellbar schmutzigen, neugierigen, fröhlich-rotznasigen Kindern drängeln sich um uns. An den Anblick von „Muzungus“ in ihren durchfahrenden Jeeps sind sie in dieser Gegend gewöhnt. Aber nicht an weiße Besucherinnen, die mitten auf dem Dorfplatz sitzen. Sie bestaunen hauptsächlich mein Aufnahmegerät und das Mikrofon, das ich ihrem Headman unter die Nase halte. Von Zeit zu Zeit kommen sie zu nahe und kichern und tuscheln laut, dann verscheucht er sie. Die Erwachsenen beobachten uns etwas würdevoller aus der Distanz und halten mühsam die eigene Neugier in Zaum. Das Oberhaupt des Dorfes ist eine Respektperson, das musste man mir nicht erst sagen. Rund 60 Jahre alt, so genau weiß er das selbst nicht, die Augen beinahe bläulich blass, aber aufmerksam. Er schafft es, mich milde von oben herab zu betrachten, obwohl ich ihn im Sitzen überrage. Höflich ist er, ein Antje Deistler Sambia Diplomat, der im Auftrag seines Dorfes nichts eventuell Schädliches sagen will. Vor allem nicht zu Weißen. Die sind ja dafür bekannt, dass sie es mit dem Naturschutz haben. Die Zusammenarbeit mit ADMADE und National Parks and Wildlife funktioniere ganz gut, versichert der Headman. Er ist überzeugt, dass die Wilderei durch die Projekte zurückgegangen ist. Niemand brauche sich jetzt mehr in den Dienst der illegalen Elfenbein- und Rhinozeroshorn-Jäger stellen. Das ist schließlich eine gefährliche Arbeit. Man kann erwischt werden und in die Schusslinie der Scouts geraten. Die standrechtliche Erschießung von Wilderern ist in Sambia zwar nicht erlaubt. Aber Wildhüter und Wilderer liefern sich zuweilen erbitterte Feuergefechte, in denen es um Leben und Tod geht. Noch vor kurzer Zeit war ein Wilderer in den Augen der Dorfbewohner eine Art Robin Hood, der sein Leben riskierte, um den Armen das zu geben, was die Reichen (die Regierung, die Weißen, die Ausländer...) ihnen vorenthalten wollten: Fleisch. Weil die Anwohner der Parks jetzt einen finanziellen Vorteil vom Schutz des Wildes haben, bröckelt dieser Mythos. Etwas zögerlich gibt Dambwele Mwale zu, dass es auch Probleme gibt. Seit sie keine Tiere mehr schießen dürfen, zerstören Elefanten und Hippos ganz ungehindert die kleinen Äcker der Bauern. Sie zertrampeln den Mais, grasen die Pflanzungen ab oder reißen am Ende der Ernte die Getreidespeicher ein und fressen sie leer. Der Unmut des Headman darüber, dass das Dorf sich nicht mehr wehren darf, ist deutlich sichtbar. Im täglichen Kampf ums Überleben sind die von den Touristen so geliebten Dickhäuter eben immer noch die Erzfeinde der Parkbewohner. Und dieses Problem findet sich überall, nicht nur am Rand des South Luangwa Nationalparks. Mr. Mwale appelliert an die Nationalparkbehörde, sie solle elektrische Zäune ziehen, um die Menschen und ihre Ernte zu schützen. Aber dafür ist kein Geld da, lautet die Antwort aus der Zentrale in Chilanga dann jedesmal. Der Verteilungsschlüssel sieht folgendermaßen aus: 25 Prozent der erwirtschafteten Einkünfte aus dem Tourismus behält die Regierung. Mit 40 Prozent werden die Scouts in den Parks unterstützt. Das Geld soll in Jeeps, Gewehre, Kleidung, Ausrüstung, Häuser und Löhne der Wildhüter fließen. Und in „Erziehung zum Naturschutz“. So gibt es in vielen Dörfern Imkerkurse. Anstatt einen unter Umständen jahrhundertealten Baum im Nationalpark zu fällen, um an den Honig der wilden Bienen in dessen Krone zu gelangen, sollen die Bauern lieber Bienenstöcke anlegen. 35 Prozent der ADMADE-Mittel schließlich kommen den Dörfern direkt zugute. Damit seien mittlerweile 15 neue Brunnen gebaut, 13 Getreidemühlen angeschafft, 26 Schulen und dreizehn Kliniken neu errichtet oder renoviert und sieben Autos für die kommunale Entwicklung angeschafft worden. Sambia Antje Deistler Eine der 13 Getreidemühlen steht in Mukasanga Village. Mr. Mwale führt mich durch das Dorf zu einem – in Deutschland würde man „Bretterverschlag“ sagen. Dies hier ist eher sowas wie ein „Ästeverschlag“. In der Mitte die metallene Mühle, von Wespen umtobt, voller Mehl und Staub, steht sie, irgendwie wie vom Himmel gefallen, da. Doch doch, beteuert der Headman, wenn sie erstmal benutzbar sei, werde sie eine große Hilfe darstellen. Dann müssten die Frauen nicht so viel Zeit mit dem mühsamen Zerstampfen der Maiskörner im Mörser verbringen. Statt dessen könnten sie andere Arbeiten verrichten. Vielleicht könne man mit dem „Posho“ auch noch ein bisschen Geld verdienen. Es fehlt nur noch der Treibstoff für den Motor. Wo der herkommen soll, kann mir keiner sagen. Neben dieser modernen Erfindung gibt es noch ein anderes Zeichen des Fortschritts in Mukasanga: eine Schule. Die ist jedoch hauptsächlich durch Fördermittel der umliegenden Lodges gebaut worden. Eine private Initiative, die mit ADMADE nichts zu tun hat. „Wir werden ja sehen, wer bisher auf dem Geld gesessen hat“, sagt Dambwele Mwale, und äußert sich damit verhalten optimistisch über die Strukturreform bei ADMADE. Dass sein Dorf – ebenso wie viele andere – kein allzu großes Stück vom ADMADE-Kuchen gesehen hat, weiß auch Charles Chiwele im „Department of National Parks and Wildlife Services“. Als stellvertretender ProjektKoordinator bei ADMADE gibt er den Chiefs die Schuld an der ungleichen Verteilung der Mittel. Die traditionellen Häuptlinge verwalteten bisher die Gelder und teilten sie in ihrem – teilweise recht großen – Gebiet auf. Theoretisch. Praktisch „sitzen“ sie, wie Dambwele Mwale es nannte, auf den Dollars. Nicht nur er, sondern alle Beteiligten sind davon überzeugt, dass der Löwenanteil grundsätzlich erstmal in die private Tasche der Chiefs floss. Was übrig blieb, wurde zwar für Schulen, Kliniken und so weiter genutzt. Doch in der Regel profitierte nur die nähere Umgebung des Chiefs. Wo er wohnte, gab es meist sehr schnell eine Verbesserung der Lebensqualität. Entlegene Siedlungen gingen lange leer aus. Doch niemand stellte die Häuptlinge zur Rede, verlangte einen Kassensturz oder fragte nach dem verschwundenen Geld. Ein Chief – oder eine Chieftainess – ist eine unanfechtbare Autorität, ein feudaler, souveräner Herrscher. An dieser Macht nagt die Reform bei ADMADE. Die großflächigen Einflussgebiete der Chiefs wurden in kleinere Einheiten aufgeteilt, in „Village Area Groups“, die die Sambier mit ihrer Vorliebe für Akronyme kurz „VAGs“ nennen. Hier sollen künftig gewählte Kommittees – in jedem VAG eines – über die Kassen bestimmen. Das bekommt auch Chieftainess Chiawa zu spüren. Ich treffe sie in ihrem Stadthaus in Lusaka. Einen traditionellen Häuptling stellt man sich wohl anders vor. Die Chieftainess wirkt eher wie eine First Lady: Sie ist klein und rund, trägt keine Federn auf dem Kopf, sondern ein elegantes Hauskleid und sitzt mir tee- Antje Deistler Sambia trinkend auf dem Sofa gegenüber. Nein, sagt sie, sie wisse nicht, ob sie im nächsten Jahr noch Vorsitzende des ADMADE-Ausschusses für Lower Zambezi sein wird. Es wäre ihr nicht recht, abgewählt zu werden, aber wenn sie die benötigten Stimmen nicht bekommt, wird sie daran nichts ändern können. Das weiß sie als erfahrene Politikerin. Ihr Gebiet, Chiawa, liegt im Süden des Landes. Man betritt ihren Machtbereich, nachdem man, von Chirundu kommend, den kreuzenden Fluss Kafue auf abenteuerliche Weise mit einem Ponton überquert hat. Es ist ein kleines Gebiet, ein schmaler Streifen den Sambesi entlang, das aber auch den Lower Zambezi Nationalpark einschließt. Für die rund 50 Kilometer vom Kafue bis zu den Campingplätzen und Lodges am Reservat braucht ein Wagen mit Vierradantrieb mindestens zwei Stunden. Hier lebt das Volk der Goa in den typischen kleineren und größeren Dörfern am Rand der unbefestigten Straße. Ein einziges Haus besteht nicht aus Lehm und Elefantengras: Das der Chieftainess. Es ist einfach zu finden, denn es steht auf einem Hügel, zwei Stockwerke hoch, aus Stein gebaut, mit einem bizarren gelben Türmchen auf dem Dach. Doch meist wohnt sie in ihrem Stadthaus in Lusaka. Die Kinder gehen aufs College in Kanada. Wie sie sich das alles leisten kann, darüber haben die Betreiber der Tourismusunternehmen am Lower Zambezi keinen Zweifel: Mit unserem Geld, sagen sie – hinter vorgehaltener Hand. Die ADMADE Projekte am Lower Zambezi werden seit kurzem mit dänischen Mitteln gesponsert. Doch die „Game Management Areas“, die umliegenden Jagdgebiete, werfen hier nicht sehr viel ab. Zu viel Dickicht, internationale Jäger tragen ihr Geld lieber woanders hin. So haben sich Campingplatz- und Lodgebetreiber in Eigeninitiative selbst dazu verpflichtet, einen Teil ihrer Gewinne in den lokalen ADMADE-Topf zu spenden. Seit drei Jahren tun sie das. Mit Erfolg, wie sie sagen. Die Wildhüter im Park können mit besserer finanzieller Unterstützung effektiver arbeiten. Noch im letzten Jahr, erzählt Chris Liebenberg, Inhaber des „Chongwe River Camp“, seien 56 Elefanten von Wilderern erschossen worden. Dieses Jahr erst drei. Auf die Chieftainess, die Verwalterin ihrer Spendengelder, ist er trotzdem nicht gut zu sprechen. Viel mehr könnte vor allem für die Dorfbevölkerung getan werden, meint er. Wenn sie nicht so viel für ihren eigenen aufwendigen Lebensstil abzweigen würde. Chieftainess Chiawa dagegen verteidigt, auf dem Sofa sitzend, das System der Chiefs als Kassenwarte. Bevor die Landbevölkerung durch den Kolonialismus von ihren eigenen Ressourcen und ihrer Umwelt entfremdet worden seien, habe Naturschutz immer in den Händen der Häuptlinge gelegen. Sie bestimmten, wer wann jagen durfte, nie wurde zu viel Schaden angerichtet. Mit ADMADE, sagt sie, sei die gute alte Tradition langsam wieder zurückgekehrt. Sambia Antje Deistler Charles Chiwele, der Mann von der Nationalparkbehörde, will diese Sicht der Dinge nicht mehr unterstützen. Die Chiefs zu eigenmächtigen Kontolleuren der Gelder zu machen, habe nur die Korruption gefördert. Es gehe jetzt darum, sagt er, der Korruption durch mehr Demokratie zu begegnen. SLAMU – Tierschutz mit Geld und Gewehr In der „Post“, einer der in Lusaka erscheinenden Tageszeitungen, stoße ich beim Frühstück auf eine Anzeige: Die „South Luangwa Area Management Unit“ (SLAMU), vormals „Luangwa Integrated Resource Development Project“ (LIRPD), gibt bekannt, dass größere Mengen Flusspferdfleisch zu verkaufen sind. Es habe wieder eine Tötungsaktion im South Luangwa Nationalpark stattgefunden. Der Gewinn komme den ländlichen Projekten von SLAMU zugute. Mit Aktionen wie diesen machen sich die Betreiber von SLAMU nicht unbedingt Freunde. Schließlich haben sie sich, ebenso wie ADMADE, neben der Bekämpfung der ländlichen Armut, dem Tierschutz verschrieben. Das Prinzip ist, bis auf Details, das gleiche: Die Landbevölkerung wird an den Gewinnen aus der Tourismusbranche beteiligt. „Culling“, also der systematische Abschuss ganzer Herden von Hippos oder Elefanten, wenn die Populationen zu groß werden, ist grundsätzlich umstritten. Befürworter nennen diese Maßnahmen „aktiven Naturschutz“, Kritiker finden „das Morden“ grausam und überflüssig. Sie vertrauen darauf, dass die Natur das Problem der Überbevölkerung selbst löst, durch Krankheiten oder Hunger beispielsweise. Doch diesmal sind nicht nur Naturschützer erbost. Dr. Brian Childs, einer der Verantwortlichen, hatte sich mit wütenden Hotelbesitzern, einem beleidigten Chief und mehreren indignierten ADMADE-Vertretern auseinanderzusetzen. Ein Teil des „Culling“ fand nämlich zur Hauptsaison statt, in der Nähe einer der teuersten Lodges in Mfuwe. Die zahlenden Gäste auf der Hotelterrasse wollten niedliche dicke Hippos beim Planschen im Fluss beobachten. Statt dessen mussten sie durch ihre Ferngläser ein Blutbad mitansehen. Ein anderer Teil des in Lusaka inserierten Fleisches stammte aus einer Aktion im Norden des Parks. Der dortige Chief war nicht gefragt worden – in seinen Augen eine unglaubliche Demütigung und Majestätsbeleidigung. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Norden eigentlich „ADMADE-Gebiet“ ist – Wilderei auf dem Boden der Konkurrenz lautete der dritte Vorwurf. Das alles weiß ich, als ich Brian Childs in der Mfuwe Lodge gegenüber sitze. Denn von seinen Projekten reden viele in South Luangwa. Selten haben Lodgebetreiber oder Safariguides Gutes zu sagen. Antje Deistler Sambia Dr. Childs hat zehn Minuten Zeit, SLAMU berät in der Luxusherberge gerade mit den norwegischen Geldgebern die Finanzierung für das kommende Haushaltsjahr. Der gebürtige Brite guckt mich müde an, als wolle er sich darüber beschweren, dass immer wieder dieselbe Kritik kommt. Tatsächlich hat SLAMU einen schlechten Ruf. Vielleicht klingen die Rechtfertigungen deshalb so routiniert. Das „Culling“ betreibt SLAMU schon seit Jahren, sagt er, aber nicht zum Spaß, wie er betont. Die Hippo-Bestände seien zu groß. Sie gefährdeten die Umwelt und sind auch selbst nicht mehr gesund. Ja, man könne zwar damit rechnen, dass irgendeine Seuche die Population schon auf natürliche Art und Weise dezimieren werde, aber davon haben die Dörfer rund um Mfuwe nichts. Durch Abschuss und Verkauf der überzähligen Flusspferde könne wenigstens etwas Geld für die Projekte gesammelt werden, und so komme man der Natur doch nur zuvor. Darüber hinaus habe „National Parks and Wildlife“, die Zentralbehörde in Chilanga, von der umstrittenen „Culling“Aktion im Norden gewusst und sie genehmigt. Die Wut des Chiefs führt Childs auf Kommunikationsprobleme zurück – er sei einfach nicht informiert gewesen, wahrscheinlich wegen irgendeiner nicht funktionierenden Funkanlage. Was allerdings nichts daran ändert, dass der Chief vom Erlös aus dem Verkauf „seiner“ Herde nichts gesehen hat und auch nichts sehen wird. Das Geld kommt ganz selbstverständlich den Projekten weiter südlich zugute, ein anderer Chief und andere Dörfer werden davon profitieren. Was SLAMU von ADMADE unterscheidet, ist im wesentlichen das System der Mittelverteilung. Zum Teil wird das Geld in Projekte investiert, zum Teil aber auch einfach in bar an die Dörfer verteilt. Kritiker – darunter Unternehmer in der Tourismusbranche, die Foto-Safaris im Luangwa-Tal betreiben – führen den Bevölkerungszuwachs rund um Mfuwe auf diese Praxis zurück. Es spreche sich natürlich herum, wenn irgendwo Geld verteilt wird, deshalb seien sämtliche Verwandte der hier ansässigen Familien aus ganz Sambia ins Tal gekommen. Die Folge: Schlechtere Lebensbedingungen und ein Zuwachs der Wilderei – die Leute müssen schließlich essen. Adam Pope glaubt trotzdem nicht, dass dieser Schuss grundsätzlich nach hinten losgegangen ist. Der „Expatriate“ koordiniert die Naturschutzaktionen der Europäischen Union in Lusaka. Dass der Bevölkerungsdruck, und damit auch die Gefahr für die Parks gestiegen ist, kann er bestätigen. Er wertet dies jedoch erstmal als Zeichen des Erfolgs von SLAMU. In South Luangwa gebe es Arbeitsplätze und Geld, und Regionen mit guter wirtschaftlicher Prognose ziehen überall auf der Welt Menschen an. Ganz normale Migration also. Das Problem sei jetzt die weitere Planung. Um die habe sich, das zeigt seine Erfahrung vor allem mit den Geberländern und auch mit der sambischen Regierung, niemand bisher ausreichend gekümmert. Es gebe keine Fort- Sambia Antje Deistler schritte in der Infrastruktur und kaum ein Konzept für die weitere Entwicklung der Tourismusindustrie. Darüber hätte ich gern mit einem Vertreter vom „Ministry of Tourism“ gesprochen. Leider konnte ich in den verbleibenden vier Wochen keinen Termin bekommen. Weder mit Minister Reverend Kapawa selbst, noch mit einem seiner Sekretäre. Seit SLAMU in der Gegend rund um Mfuwe aktiv ist, ist die Anzahl der Lodges von einer Handvoll auf beinahe 40 gestiegen. Brian Childs führt dies ursächlich auf die Arbeit seiner Organisation zurück. Der Zuwachs an Tourismusbetrieben sei auch der Grund für den Bevölkerungszuwachs, sagt er, nicht das verteilte Bargeld. Das „Safari Business“ bedeutet Arbeitsplätze. Eine von SLAMU durchgeführte Studie habe noch 1990 ergeben, dass 80 Prozent der Leute gegen das Tourismusgeschäft gewesen seien. Heute unterstützten es 95 Prozent der hier lebenden Menschen, weil sie – direkt oder indirekt – davon profitierten. Die fehlende Planung, von der Adam Pope spricht, macht auch Brian Childs zu schaffen. Gerade erst hat er Verhandlungen mit den verschiedenen Chiefs und allen anderen Autoritäten wie dem „Ministry of Land“ aufgenommen, um einen Nutzungsplan zu erstellen: Wer darf sein Hotel/Lodge/Camp wo aufbauen und wo darf überhaupt nichts mehr gebaut werden? Doch bis die Aufstellung fertig und offiziell ist, werde es noch lange dauern, prognostiziert er. Auch müsse der Zuzug und die weitere Ansiedlung von immer mehr Menschen kontrolliert werden, aber wie das funktionieren soll, darauf hat er keine Antwort. SLAMU wird in den nächsten Jahren versuchen, finanziell unabhängig und autark zu arbeiten. Dafür wurde der Etat bereits von 1,8 Millionen im Jahr 1998 auf eine Million Dollar zusammengekürzt. Langfristig will man ohne Spendengelder aus dem Ausland auskommen. In vier bis fünf Jahren wird sich NORAD, der norwegische Geldgeber, zurückziehen. Childs will verhindern, dass mit SLAMU dann passiert, was in diesem Fall normalerweise mit allen durch Spenden unterstützten Projekten in Sambia geschieht – eine neue Hilfsorganisation, ein neuer Spender springt ein oder das Projekt kollabiert. Also braucht SLAMU mehr Abgaben aus der Tourismusindustrie, die nur fließen, wenn noch mehr Veranstalter nach South Luangwa gehen. Mehr Straßen, eventuell noch ein oder zwei Flugplätze und eine bessere Infrastruktur werden die Folge und gleichzeitig die Bedingung für den gewünschten wirtschaftlichen Boom sein. Doch da droht die nächste Falle – wie überall auf der Welt, wo die Tourismusindustrie Fuß fasst. Noch sind Sambias Nationalparks relativ unberührte Naturlandschaften, die sich gerade von der Wilderei erholen. Doch mit immer mehr Touristen, besseren Straßen und besserer Erreichbarkeit werden Gebiete wie das noch unzugängliche South Luangwa-Tal zum eingeebneten, befahrbaren Zoo für die internationale Touristengemeinde. Aber eben möglicherweise auch zu einer etwas weniger feindlichen Umwelt für die Einwohner. Antje Deistler Sambia „Zambia – the real Africa“ – Wenn der Werbespruch Erfolg hat, wird er sich bald von selbst erledigt haben. Welchen Nutzen Projekte wie ADMADE und SLAMU grundsätzlich für den Wildbestand in den Nationalparks haben, darüber streiten sich Förderer und Kritiker. Die Wilderei sei zurückgegangen, bestätigt Wildhüter Goliath Muniama die Darstellung der Nationalparkbehörde. Er geht in South Luangwa Streife und findet heute nur noch vereinzelte Drahtschlingen, aber keine kommerziellen Wildererbanden mehr, sagt er. Ebenso wie Muniama sind die Anlieger des Lower Zambezi davon überzeugt, dass ihre Unterstützung für die Projekte bereits Erfolg gezeigt hat. Klare Zahlen über die Entwicklung der Tierpopulationen liegen aber nicht vor. Kritiker glauben, dass die Initiativen grundsätzlich zu spät gekommen seien. In ihren Augen erholen sich die Elefantenherden seit dem Ende der 80er Jahre nur deshalb wieder, weil in der „Convention on International Trade in Endangered Species“ (CITES) von 1989 ein weltweites Handelsverbot für Elfenbein ausgesprochen wurde. Für das Rhinozeros kamen alle Aktionen zu spät. Die Art ist in ganz Sambia restlos ausgestorben. Nur im kleinen Mosi oa Tunya Nationalpark auf der sambischen Seite der Victoriafälle gibt es wieder ein paar Breitmaulnashörner. Sie sind aus Südafrika importiert. Nachtrag: Apropos Südafrika... Wieder zuhause in Köln, habe ich mich noch einmal meinem ursprünglichen Thema gewidmet und die „South African Chamber of Agricultural Development in Africa“, SACADA, per E-Mail um eine Stellungnahme gebeten. Nachdem Sprecherin Theuna Bruwer mir vor einigen Monaten nur ausweichende bis keine Informationen gegeben hatte, antwortete sie jetzt prompt. Die Organisation befinde sich in einer Phase der Umstrukturierung, antwortet die Tochter des Vorstandsvorsitzenden Dries Bruwer. Der Eindruck, dass SACADA eine Art „Joint Venture“ zwischen ANC und Freedom Front war, hatte so viele private Investoren abgeschreckt, dass in letzter Zeit kaum noch Spenden gesammelt werden konnten. Mit einer politischen Körperschaft wollte niemand aus der Wirtschaft in Verbindung gebracht werden. Die derzeitige Umstrukturierung, von einer Stiftung hin zu einer unabhängigen öffentlichen Handelsgesellschaft, soll dieses Image abschaffen und die Investoren zurückholen. Den Plan, „ihre“ Farmer möglichst bald in Sambia anzusiedeln, hat SACADA noch nicht aufgegeben. Über das Bild des rassistischen Afrikaaners ist man sich bei SACADA durchaus bewusst. Man nennt die „Vorliebe“ der Buren, „unter sich zu bleiben“, aber lieber nicht „rassistisch“, sondern „ethno-kulturell“. „Natürlich“ vermischten sich die südafrikanischen Farmer nicht gern mit der lokalen Bevölkerung. Deshalb Sambia Antje Deistler sollten sie nicht als Einwanderer, sondern besser als ausländische Investoren angesehen werden. Das Thema „Volkszugehörigkeit“ sei von der sambischen Regierung jahrelang durch die Einführung der englischen Sprache als Amtssprache heruntergespielt worden, so denkt Theuna Bruwer in ihrer E-Mail schriftlich nach – vielleicht könnten die Sambier deshalb so wenig mit der traditionellen Einstellung der Buren anfangen. Ich frage mich, ob dieses Unverständnis so ein großer Nachteil ist. Kerstin Eva Dreher aus Deutschland Foto fehlt Stipendien-Aufenthalt in Botswana vom 21. Januar bis 21. April 1999 Botswana Kerstin Eva Dreher Botswana – ein Paradies für Afrikanische Elefanten? Von Kerstin Eva Dreher Botswana, vom 21. Januar bis 21. April 2000, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Botswana Kerstin Eva Dreher Inhalt: Zur Person 1. Einführung: 1.1 Wo, bitte schön, liegt Botswana? 1.2 Willkommen in Afrika 2. Elefanten – sind sie zu groß für diese Welt? 3. Botswana – ein Paradies für Elefanten? Ein Lagebericht 3.1 „Uns fragt keiner“ 3.2 CITES-Konferenz 1997 und die Folgen 3.3 Wilderei – kein Thema in Botswana? 4. Tourismus: das Geschäft der Zukunft 4.1 „A long way to go“ 4.2 Safari de luxe – Abu’s Camp 4.3 Umwelterziehung in Mokolodi 5. Wildlife-Management in Botswana 5.1 Funktioniert das System des „Community based97 natural resources management“? 5.2 Großwildjagd – auf der Suche nach dem ultimativen Kick 5.3 Culling – die einzige Alternative? 6. Die 11. CITES- Konferenz in Nairobi – Ergebnisse und Beurteilung 7. Schlussbemerkung 8. Dankeschön Kerstin Eva Dreher Botswana Zur Person Kerstin Eva Dreher, geboren am 28.8.1968 in Überlingen am Bodensee. Nach dem Abitur 15-monatiger Au-Pair-Aufenthalt in Paris. 1990 – 94 Studium der Germanistik, Anglistik und der Politischen Wissenschaften in Köln. Volontariat beim Burda Verlag und der Deutschen Journalistenschule in München und Offenburg. Seit 1997 freie Journalistin in Köln, hauptsächlich tätig für das WDR-Fernsehen. 1. Einführung 1.1. Wo bitte schön liegt Botswana? Ein dreimonatiges Stipendium in Afrika? Das ist ja toll! Und wo genau? Botswana? Davon hab ich ja noch nie etwas gehört! Wo um alles in der Welt liegt das denn? In West- oder Ostafrika? Am Meer? – So ähnlich verlief fast jedes Gespräch mit Kollegen oder Freunden, wenn ich von meinem bevorstehenden Afrika-Aufenthalt erzählte. Und das ist auch keinem zu verdenken. Wann hört oder liest man denn Nachrichten aus Afrika? Wenn irgendwo mal wieder ein Bürgerkrieg tobt, eine Naturkatastrophe herein bricht oder die Nigerianer mal wieder herrlichen Fußball spielen. All das hat Botswana nicht zu bieten. Das Fußballteam ist trotz internationaler Betreuung eher lausig, Unwetter toben hier so gut wie nie (es gibt allenfalls lange Dürreperioden) und einen Bürgerkrieg oder politische Unruhen hat es auch schon lange nicht mehr gegeben. Im Gegenteil – Botswana gilt als die Vorzeige-Demokratie Afrikas. Über Südafrika und zwischen Namibia, Sambia und Simbabwe gelegen, ist das Land mit ca. 582000 Quadratkilometern größer als Frankreich, hat auf dieser riesigen Fläche aber lediglich 1,6 Millionen Einwohner. Botswana ist einer der größten Rohdiamantenproduzenten der Welt, ist auch in Europa bekannt als erstklassiger RindfleischLieferant und aufgrund dessen im Vergleich zum restlichen Afrika relativ wohlhabend. Wenn Botswana in deutsche Schlagzeilen gerät, dann höchstens aufgrund der alarmierend hohen Aids-Quote (jeder Vierte ist HIV-positiv!). Ansonsten dürfte das Land nur Natur- und Tierliebhabern bekannt sein, denn Botswana ist mit der Kalahari, dem Chobe National Park und dem OkawangoDelta ein Paradies für Millionen wilder Tiere, allen voran für den Afrikanischen Elefanten. Botswana Kerstin Eva Dreher 1.2 Willkommen in Afrika Mit diesen Informationen im Gepäck trat ich meine Reise an. Gut informiert und bestens vorbereitet – wie ich dachte. Nach 13 Stunden Flug landete ich endlich in Gaborone auf dem «Sir Seretse Khama»-Airport, dem kleinsten internationalen Flughafen, den ich je gesehen hatte. Das erste, was mir auffiel, war das angenehme Sommerklima. Es war warm, aber nicht heiß und die Luftfeuchtigkeit war erträglich. Da war ich aus Westafrika ganz anderes gewohnt. Noch etwas war ganz anders, als ich es erwartet hatte: Jeder sagte freundlich «Dumela Ma» (Guten Tag), war hilfsbereit, nahm aber auch nicht weiter von mir Notiz. Eine allein reisende Weiße ist nichts besonderes in Botswana. Das Land kannte nie eine Apartheid und es leben viele Weiße hier: Batswana, Südafrikaner und auch einige Europäer. Also: Keine aufdringlichen Kofferträger, Taxifahrer, Geldwechsler oder Kettchenverkäufer am Flughafen. Niemand, der sich auf mich stürzte, von mir zum Essen eingeladen werden wollte oder eine Zigarette schnorrte. – Herzlich willkommen in einem ganz anderen Afrika! Doch nicht nur wir in Europa wissen wenig über Land und Leute in Botswana, auch umgekehrt herrscht Unkenntnis. Es gibt nur eine einzige Tageszeitung, die aber de facto weniger eine Zeitung als vielmehr ein kostenloses, staatliches Informationsblatt mit nur vier bis sechs Seiten ist. Die restlichen Publikationen sind Wochenzeitungen. Der staatliche Fernsehsender, der eigentlich seit einem Jahr „on air“ sein sollte, befindet sich noch immer im Aufbau, und die wenigen Radiostationen sind meist nur in der Hauptstadt zu empfangen. Nur selten finden internationale bzw. europäische Schlagzeilen den Weg in die Nachrichten. Über Deutschland sind nur die gängigen Klischees bekannt: Die Deutschen trinken Unmengen von Bier und fahren nur Porsche oder Mercedes. Um so erstaunter waren meine Kollegen vom Botswana Guardian, als ich mir nach zwei Wochen einen alten, klapprigen Ford zulegte. Ganz einfach, weil ich die Warterei auf völlig überfüllte Minibusse, Taxifahrer und Kollegen, die mich abholen wollten und nie oder mit mindestens zwei Stunden Verspätung kamen, leid war. Und das achso-typische deutsche Bier hat mir auch noch nie geschmeckt. Dabei hatte mich Collin, der Auszubildende vom Botswana Guardian, mit seiner Frage: „Is it true that you have beer-pipelines in every German household and that you pay the bill at the end of the month?“ eigentlich auf eine prima Geschäftsidee gebracht. Auf beiden Seiten war es ein hartes, aber äußerst vergnügliches Stück Arbeit, mit den Vorurteilen aufzuräumen. Die wichtigsten und prägendsten – aber auch härtesten – Lektionen für mich waren: „Auch wenn es nicht danach aussieht, es wird schon klappen“ und „Zeit ist relativ“. Kerstin Eva Dreher Botswana 2. Elefanten – sind sie zu groß für diese Welt? Loxodonta africana africana, so der lateinische Name des afrikanischen Savannenelefanten, ist ein ganz besonderes Tier. Mit einer Schulterhöhe von bis zu 2,90 Metern und einem Gewicht von bis zu 7.500 Kilogramm ist er das größte Landsäugetier. Er lebt gesellig in Gruppen mit einer festen Sozialstruktur. Diese Gruppen sind Familienverbände von durchschnittlich 10 Tieren, manchmal schließen sie sich auch zu einem ganzen Clan mit 60 oder 70 Angehörigen zusammen. Die Gruppen werden immer von einem weiblichen Tier angeführt, Bullen sind nur bis zum Alter von ca. 15 Jahren in der Herde gestattet. Danach ziehen sie alleine oder in einer kleinen Gruppe von Junggesellen umher. Nur zur Paarung, die ein paar Tage dauern kann, schließen sie sich kurzzeitig den Gruppen wieder an. Das Gefühl, einen dieser Riesen nicht im Zoo oder Zirkus, sondern in Freiheit, ohne Zäune oder Grenzen zu sehen, ist unbeschreiblich. Egal, ob man einen der großen Bullen durch die unendlich weite Savuti-Marsch stolzieren sieht oder eine mehrere hundert Tiere umfassende Herde beim Grasen am Chobe beobachtet – ich musste mich selbst immer wieder in den Arm kneifen, um zu begreifen, dass das kein Film oder Traum, sondern Realität war. Stundenlang konnte ich dort sitzen und einfach nur zuschauen. Sehen, wie sich Mütter mit ihren wenige Tage alten Kälbern im Schlamm suhlten, zwei Halbstarke ein kleines Kämpfchen veranstalteten, wie eine Herde durch den Grenzfluss ins benachbarte Namibia schwamm oder ein besonders vorwitziger junger Bulle mein Auto inspizierte und seinem Rüssel mehrfach um den Seitenspiegel schlang. Dass zu sehen macht süchtig, davon kann man einfach nicht genug bekommen. Man mag es einfach nicht wahrhaben, dass es nur noch wenige Länder geben soll, in denen dieses Schauspiel zum Alltag gehört! Es fällt schwer zu glauben, dass diese sensiblen, sanften und erstaunlich sozialen Tiere zu groß für diese Welt sein sollen. Warum eigentlich? Elefanten sind äußerst schlechte Futterverwerter, ein Großteil der aufgenommenen Nährststoffe wird einfach wieder ausgeschieden. Deshalb sind sie auch fast den ganzen Tag mit Fressen beschäftigt. Bis zu 200 kg Gras, Blätter, Wurzeln, Rinde und Früchte verschwinden jeden Tag im Magen eines erwachsenen Elefanten. Je nach Jahreszeit bevorzugen Elefanten unterschiedliche Pflanzenteile eines bestimmten Baumes oder Busches, manchmal sind es die Blätter, dann wieder die Rinde oder die Wurzeln. Die nahrhaften Mophane-Bäume gehören zu ihrer Lieblingsspeise, und das sieht man den Mophane-Wäldern im Norden Botswanas leider auch an. Nicht nur, dass viele Bäume, darunter auch die riesigen Baobabs (Affenbrotbäume), regelrecht geschält oder leergefressen werden – Elefanten lieben es auch, sich an ihnen kräftig zu reiben, Äste abzubrechen oder sie einfach umzustoßen. Bei Botswana Kerstin Eva Dreher einer großen Elefantenpopulation wird der „Schaden“, den sie durch dieses Verhalten anrichten, natürlich immer größer. Vor allem in der Trockenzeit werden die kargen Stellen rund um die wenigen Wasserlöcher und ein deutlich gelichtetes Flußufer am Chobe sichtbar. Ob die große Anzahl Elefanten die Vegetation zerstört oder lediglich verändert – darüber streiten sich die Experten. „Die weiten Steppen und Savannen Kenias oder Tansanias waren früher auch einmal Wälder – heute sind sie es nicht mehr. Und? Stört das heute jemanden? Wir Menschen denken einfach nur in viel zu kleinen Zeitschritten. Die Welt verändert sich eben – und wir Menschen können das sicher nicht aufhalten“ – behaupten viele. Die Gegenseite argumentiert: „Die Elefanten verdrängen andere, kleinere Tierarten, indem sie diesen das Wasser streitig machen. Außerdem verändern sie das gesamte Ökosystem Botswanas, indem sie die hiesige Fauna zerstören und so einen Nährboden für fremde, nicht heimische Pflanzen schaffen“. Jede Seite hat also gute Argumente, doch zählen diese wenig, solange sie nicht belegt sind. Und genau das ist der Knackpunkt: Es gibt noch viel zu wenig wissenschaftliche Ergebnisse. Licht ins Dunkel sollen einige laufende Forschungsprojekte bringen. Eines davon nennt sich «BONIC» und ist ein fünfjähriges Gemeinschaftsprojekt der Regierungen Botswanas und Norwegens. Das Projekt untersucht den Einfluss von Elefanten, anderen großen Pflanzenfressern und Buschfeuern auf die Entwicklung des Baumbestandes in der Chobe-Region. Gestartet wurde «BONIC» 1998, mittlerweile wurden Verwaltungsräume bereit gestellt, ein Camp für die Forscher errichtet und sogar erste Daten gesammelt. Forscher (und solche, die es werden wollen) nehmen die Vegetation der Chobe-Region genau unter die Lupe. In einem zweiten Schritt sollten sogenannte „Exclosures“ vom Nationalpark-Gelände abgeschirmt und die Entwicklung der Pflanzen dort genauestens untersucht werden. Der erste Teil der 150 Meter langen und 130 Meter breiten „Exclosures“ sollte komplett eingezäunt werden, so dass kein Pflanzenfresser auf das Gelände zur Nahrungsaufnahme gelangt. Der zweite, genauso große Teil würde von einem Zaun umgeben sein, der im unteren Bereich offen ist, also kleineren Pflanzenfressern Zutritt erlaubt, Elefanten jedoch fernhalten soll. Der dritte Teil würde gar nicht eingezäunt, er sollte nur als Kontrollfeld dienen, um die unterschiedliche Entwicklung zu den beiden anderen Teilen dokumentieren zu können. Als ich dort war um mir das Projekt anzusehen, sollten sechs der «Exclosures» schon lange stehen und die Forschungen eifrig vorangeschritten sein – so stand es zumindest auf dem offiziellen Zeitplan. Es hat mich einige Überredungskunst gekostet, den „District Wildlife Officer“ und Projektleiter Mr. Othomile zu überzeugen, mir das Projekt doch bitte zu zeigen. Als wir endlich an einer der «Exclosures» angekommen waren, wurde mir klar, weshalb. Der Zaun (der offensichtlich kurzzeitig wirklich gestanden hatte), war komplett zerstört. Ein- Kerstin Eva Dreher Botswana fach umgetrampelt. Von Elefanten, Büffeln oder anderen Tieren. So konnte hier natürlich nicht geforscht werden, denn jedes Tier hatte hier überall Zutritt. Mr. Othomile war darüber nicht einmal verärgert. „Wir haben die Firma, die die Zäune aufbauen sollte, ja noch nicht bezahlt“, war sein Kommentar. „Außerdem kommen die Norweger ja nächsten Monat. Die sollen ruhig mit eigenen Augen sehen, dass das hier eben nicht alles so funktioniert, wie es auf dem Papier steht!“ Das etwas enttäuschende Fazit: „BONIC“, ein Projekt, in dessen Ergebnisse viel Hoffnung gesetzt wurde, klappt offensichtlich nicht. Und man kann nur hoffen, dass vielleicht ein anderes Projekt funktioniert und endlich die ersehnten Forschungsergebnisse bringt. 3. Botswana – das Paradies für Elefanten? Ein Lagebericht Siebzehn Prozent der gesamten Fläche Botswanas sind als Nationalparks, weitere 20 Prozent als „Wildlife Management Areas“ ausgewiesen. Bis auf einen etwa 500 km langen, relativ dicht besiedelten Landstrich im Osten des Landes kann man tagelang durch die Kalahari fahren, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen. Den Kalahari-Highway im Westen und die wenigen Straßen im Süden säumen freilaufende Esel, Ziegen und Rinderherden. Ein anderes Bild bietet sich im Norden und in den Nationalparks, wo es genügend Flüsse und Wasserstellen gibt: Dort sind es Elefanten, Büffel, Zebras, Nilpferde, Antilopen, Krokodile und Löwen, denen man begegnet. Botswana hat die größte Elefanten-Population der Welt. Laut dem „Department of Wildlife and Nationalparks“ (DWNP) sind es mittlerweile 106.000 Tiere, mit einem jährlichen Wachstum von circa 5 Prozent, die sich in einem etwa 80.000 Quadrat-kilometer großem Gebiet aufhalten. Den Elefanten scheint es hier zu gefallen, in den letzten Jahrzehnten immigrierten immer mehr aus den umliegenden Ländern. Kein Wunder, denn Botswana bietet – zumindest aus Elefantensicht – das einzige friedliche Terrain der Region. In Angola tobt seit langem ein Bürgerkrieg, bei dem Elefanten immer wieder zwischen die Fronten geraten. Das gleiche gilt für den Caprivi-Strip in Namibia, in Simbabwe wird gecullt (d.h. bei einer Überbevölkerung werden ganze Herden abgeschossen) und in Sambia ist Wilderei ein großes Problem. Die Folge: Die Elefanten treffen sich in der friedlichen Mitte – in Botswana. Und obwohl die Nationalparks im Norden Botswanas weitläufig sind, wird es eng – und die Konkurrenz um Wasserlöcher, das Chobe-Ufer oder das Okawango-Delta, vor allem in der Trockenzeit, größer. Die Folge: Wildtiere, allen voran die Elefanten, drängen massiv auch in andere, nicht geschützte Gebiete vor. Botswana Kerstin Eva Dreher Damit sind wir auch schon beim größten Konflikt der Region: Flächenmäßig ist Botswana zwar riesengroß, aber es gibt nur relativ wenig fruchtbare und wasserreiche Regionen außerhalb der Nationalparks, und um die konkurrieren die Rinderzüchter auf der einen und die wilden Tiere auf der anderen Seite. Rinder-, Esel-, Ziegen- oder Hühner-Haltung ist in der Kultur der Batswana tief verankert. Rinder zu besitzen ist gleichbedeutend mit Wohlstand – und das seit Jahrhunderten. Ein einflussreicher Mann ist immer auch ein Viehzüchter. Auch das traditionelle Brautpfand wird in Rindern, und nicht in der Landeswährung Pula festgelegt. Botswanas ganzer Stolz ist der gigantische Schlachthof bei Lobatse, der größte des gesamten Kontinents. Rindfleisch ist nach Diamanten der einzige Exportschlager des Landes und somit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Tradition der Viehzucht hat auch heute noch nicht an Einfluss auf den Alltag der meisten Batswana verloren. Zu Beginn meines Aufenthalts wunderte ich mich immer wieder, wie schwer es doch war, mich mit meinen Kollegen vom Botswana Guardian am Wochenende zu verabreden. Die meisten fahren nach Hause, in ihre Heimatdörfer – dachte ich! Als ich mir den x-ten Korb von meinem Kollegen Keke holte, fragte ich dann aber doch mal genauer nach. Ergebnis: Er fuhr am Wochenende auf seine „Cattle Post“. Das sind weit entlegene Weiden, auf denen junge Männer das ganze Jahr über die Herden hüten. Bei diesem Gespräch erfuhr ich auch, dass Keke sein Geld nicht auf der Bank einzahlte, sondern in Ziegen, Hühnern und Esel investierte. Irgendwann werde er sich dann auch sein erstes Rind kaufen, verkündete er mit stolz geschwellter Brust. Einem Europäer mag das seltsam vorkommen, für einen Batswana ist es das normalste der Welt. Auch unter Politikern. Als der botswanische Botschafter in den USA nach langer Zeit mal wieder nach Hause kam, verschwand er zunächst. Tage später hatten ihn die Medien dann aufgespürt: Natürlich auf seiner „Cattle Post“ – wo sonst? Durch diese Geschichten wird klar, dass Rinder und andere Nutztiere bei den Batswana einen deutlich höheren Stellenwert als Wildtiere haben. Dabei spielt sicherlich die Tatsache eine große Rolle, dass die jeweiligen Viehhalter ihre Rinder, Esel und Ziegen besitzen und über ihre Schlachtung bestimmen, während Wildtiere Eigentum des Staates sind. Nur das „Department of Wildlife and Nationalparks“ kann bestimmen, wann ein Wildtier getötet werden soll. Wenn beispielsweise ein Löwe eine kleine Siedlung im Busch bedroht, darf dieser von den Einwohnern nicht einfach so erlegt werden. Zunächst einmal muss etwas passieren, dann muss das DWNP eingeschaltet werden, das über das weitere Schicksal des Löwen bestimmt. Wird an den Schreibtischen in der fernen Hauptstadt Gaborone dann beschlossen, den Löwen zu töten, rückt die sogenannte „Problem Animal Controll Unit“ aus und erlegt das Tier. Ein Prozess, der mehrere Tage oder Wochen dauern kann. Kerstin Eva Dreher Botswana 3.1 „Uns fragt keiner“ „Fragen des Arten- und Naturschutzes sind für die Einwohner in den betroffenen Regionen kaum von Interesse, da müssen Sie erst gar nicht nachfragen!“ – Diesen Spruch bekam ich von Regierungsoffiziellen zu hören, als diese von meinen Plänen erfuhren, in einige betroffene Dorfgemeinschaften zu fahren und die Leute vor Ort zu befragen. Um so erstaunlicher, was für Ergebnisse ich in den vielen Stunden sammelte, die ich auf dem Boden sitzend in Kgotlas (traditionelle Versammlungsorte in Dörfern) und im Schatten eines großen Baobabs (Affenbrotbaum) verbrachte. Die Einwohner von Khwai, Sankuyo und die Mitglieder des „Chobe Enclave Community Trust“ hatten – nach anfänglicher Scheu – nämlich durchaus etwas zu sagen. Mit wenigen Ausnahmen waren alle davon überzeugt, dass die Wildtiere, allen voran die Elefanten, die durch ihre Gebiete zogen, der Gemeinde durchaus Wohlstand verschaffen könnten. Auch wenn die meisten Angst vor Elefanten hatten und in ihnen vielfräßige Riesen, die ihre wenigen Felder zerstörten, sahen, erkannten sie durchaus, dass eine gesunde Wild- und Elefantenpopulation ihnen Arbeitsplätze im Tourismusbereich schaffen und sichern kann. Vor allem das vor wenigen Jahren eingeführte „Community based natural resources management“ (kurz CBNRM, mehr dazu in Kapitel 5) begrüßen sie, denken aber gleichzeitig, sie seien nicht genug integriert. Sie fühlen sich bevormundet von ihrer Regierung, aber vor allem von selbsternannten europäischen oder amerikanischen Elefanten-Experten, die die Tiere vielleicht ein, zwei Jahre studiert haben. „Uns fragt keiner und dabei leben wir doch seit Jahrhunderten mit diesen Tieren, Tag für Tag. Wir dürfen sie nicht besitzen, wir müssen nur mit ihnen leben. Wie – das interessiert doch keinen. Uns hat noch keiner gefragt, was wir von einem aktiven Elefanten-Management halten und wie das unserer Meinung nach aussehen sollte“. Bei dieser Antwort erstaunt es wirklich nicht, dass die meisten Einwohner Botswanas kein Verständnis für die meist sehr emotional geführten Diskussionen der weißen Tierund Artenschützer aufbringen können. Sie fühlen sich von ihnen bevormundet und reagieren mit Ignoranz und scheinbarem Desinteresse. Eine kleine Gruppe älterer Männer, die sich meine Fragerei zunächst tagelang in gebührendem Abstand angesehen hatte, kam schließlich auch zu mir und schilderte mir ihre Sicht der Dinge. Am Ende sagten sie mir, dass ich die erste Weiße gewesen sei, die an ihrer Meinung in bezug auf den zukünftigen Umgang mit den Elefanten interessiert gewesen sei. 3.2 Was für Konsequenzen hatte die CITES-Konferenz 1997? Die 10. Internationale Artenschutz Konferenz fand im Juni 1997 in Harare statt. Dort beschlossen die CITES-Staaten (CITES = Convention on International Trade in Endagered Species of Wild Fauna and Flora) das generelle Han- Botswana Kerstin Eva Dreher delsverbot mit Elefantenprodukten (Elfenbein, Häute, Lebendtiere, etc.) für Namibia, Simbabwe und Botswana aufzuheben. Der afrikanische Elefant wurde von Appendix I des Washingtoner Artenschutzabkommens (vom Aussterben bedrohte Tiere) auf Appendix II (gefährdete Tiere) herabgestuft. Für die drei Länder bedeutete dieser Entschluss, dass sie ihre Elfenbeinvorräte unter strengen Kontrollen und in beschränktem Umfang veräußern durften. Die Verkäufe waren genau geregelt, die Menge und Herkunft des Elfenbeins war den CITES-Kontrolleuren im Detail bekannt und alles war registriert. So verkaufte Botswana im vergangenen Jahr völlig legal 17,2 Tonnen Elfenbein an Japan. Das Geld aus dem Verkauf floss in einen Fond und wurde bislang nicht angetastet. Zugute kommen soll das Geld dem Elefantenschutz und Gemeinden, die in Elefantengebieten liegen. Die Gemeinden müssen lediglich einen Antrag an das „DWNP“ stellen, dieser wird dann geprüft und gegebenenfalls wird ein Betrag ausgezahlt. Auch von Elefanten verursachte Ernteschäden sollen damit beglichen werden. Eine gute Sache, darüber sind sich die meisten Batswana einig. Tier- und Artenschützer, Regierungsmitglieder und vor allem die Dorfbewohner. Warum soll man denn nicht von toten Elefanten profitieren? Ja, warum eigentlich nicht? In Botswana scheint der Handel mit Elfenbein – der ja nur einmal statt fand – gut geklappt zu haben. Die Wilderei hat nicht zugenommen (siehe Kapitel 3.3), es gibt nach wie vor genug Elefanten im Land, und die Regierung hat ein paar Millionen Dollar mehr auf dem Konto. Im staatlichen Elfenbeinlager in Gaborone stapeln sich immer noch 25 Tonnen Elfenbein, die noch mehr Geld bringen könnten. 25 Tonnen Elfenbein, das sind 5616 Stoßzähne, davon wurden 1021 von Wilderern beschlagnahmt, 3896 stammen von Elefanten, die eines natürlichen Todes gestorben sind und 648 Stoßzähne hat die „Problem Animal Controll Unit“ beim „Department of Wildlife and National Parks“ abgegeben. „Monatlich kommen hier etwa 50 Stoßzähne rein – wir platzen bald aus allen Nähten“, berichtet Ebi Elias, Wildlife Officer und Herr der Stoßzähne. Damit das nicht passiert, gibt’s im nächsten Jahr ein neues Elfenbein-Lagerhaus. 1021 beschlagnahmte Stoßzähne, das klingt zunächst einmal sehr viel – aber man darf nicht vergessen, dass das Elfenbein hier seit Jahren gelagert wird. „Pro Jahr sind es nur etwa 20 Stoßzähne, die den Wilderern abgenommen werden“, bestätigt Wildlife Officer Elias. Auf meine Frage, wie man denn feststellen könne, ob ein Stoßzahn aus illegalen Beständen komme, antwortet Ebi Elias: „Jeder einzelne Stoßzahn ist gekennzeichnet, und an der Markierung erkennt man ganz genau, wo, wann und unter welchen Umständen das Tier gestorben ist“. Da die Markierung lediglich aus einem mit einem dicken Edding aufgetragenen Zahlen- und Buchstabencode besteht (und leicht zu entfernen oder zu ersetzen ist), zweifle ich allerdings an dieser Behauptung. Kerstin Eva Dreher Botswana 3.3 Wilderei – Kein Thema in Botswana? „Gibt es in Botswana Wildererei?“ – „Nein, das ist bei uns überhaupt kein Problem!“ – „Und weshalb nicht?“ – Ich weiß nicht, wie oft ich während meiner drei Monate in Botswana diesen Dialog geführt habe. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus. Von „Batswana sind eben ehrliche Leute“ bis „Weil wir so eine gute Anti-Poaching Unit haben“ war alles dabei. Ich hatte ständig das Gefühl, den Leuten mit dieser Frage auf die Nerven zu gehen. Dementsprechend vielsagend waren auch die Antworten. Wer schon einmal in Afrika war, wird bestätigen können, dass man hier auf beinahe jede Frage eine Antwort bekommt, denn es gilt als unhöflich, nicht zu antworten. Auch wenn der Gefragte die richtige Antwort nicht kennt, wird etwas gesagt. Einem Fremden gegenüber wird nicht zugegeben, dass man etwas nicht weiß. Das führt (vor allem bei Fragen nach dem richtigen Weg) oftmals zu Verwirrungen, in diesem Fall war es genauso. Deshalb lasse ich lieber die Fakten sprechen. Vor allem in den ärmeren Ländern rund um Botswana, allen voran Sambia, ist Wilderei auch heute noch ein Thema. Auch in Kenia und Uganda glaubt man, durch die Lockerung des Elfenbeinhandels im südlichen Afrika wieder mehr Elefanten an Wilderer verloren zu haben. In Botswana ist das – zumindest nach offiziellen Angaben – nicht der Fall. Lediglich acht bis zehn Elefanten verliert man pro Jahr an Wilderer. Der Verdienst der „Anti Poaching Unit“ kann das allerdings nicht sein. Es gibt lediglich vier regionale Basistruppen, mit jeweils etwa 20 Männern. Eine 80 Mann starke Anti-WildererEinheit für dieses riesige Land kann nicht genug sein. Dazu kommt, dass das Material, das dieser Truppe zur Verfügung steht, in den meisten Fällen veraltet ist. Das gleiche gilt auch für die „Botswana Defense Force“, die an den Grenzen patroulliert und die „Anti Poaching Unit“ in ihrer Arbeit unterstützt. Man braucht sie nicht zu sehen – man hört sie. Mit ohrenbetäubendem Getöse fuhr einmal ein kleines Motorboot auf dem Chobe an mir vorbei. Dem Geräusch nach zu urteilen, war ich felsenfest davon überzeugt, dass jetzt gleich ein Hubschrauber um die Ecke biegen würde! Dennoch: Die Statistiken zeigen, dass nur wenige Elefanten den Wilderern in die Hände fallen. Was wohl vor allem daran liegt, dass es vor allem Einheimische sind, die auf illegale Jagd gehen. Und zwar wegen des Fleisches, und nicht wegen des Elfenbeins. Eine Antilope schmeckt einfach besser als ein Elefant, und die Jagd ist natürlich viel weniger aufwendig. Oft reicht schon eine geschickt aufgestellte Falle und ein Messer. Es bleiben kaum Spuren: Das Fleisch wird gegessen, die Knochen vergraben und die Felle entweder als Decke benutzt oder über die nahegelegenen Grenzen (meist nach Simbabwe) geschleust. Das bestätigte mir zumindest Bill, ein Farmer aus Panamatenga, dem östlichsten Stützpunkt in Botswana. Wird doch einmal ein Einheimischer beim Wildern erwischt, so erwartet ihn meist eine milde Strafe. Zumindest, wenn es sich um Botswana Kerstin Eva Dreher einen Fall nicht kommerzieller Wilderei handelt. Die Höchststrafe für solch ein Vergehen sind 1000 Pula (ca. 400 DM) und bis zu einem Jahr Gefängnis. Handelt es sich um einen Elefanten, der gewildert wurde, sieht das schon anders aus: 50.000 Pula (20.000 Mark) und bis zu zehn Jahren Gefängnis. Bei den mittlerweile sehr selten gewordenen Nashörnern (in ganz Botswana leben nur noch 24 Breitmaulnashörner unter strengster Bewachung, die Spitzmaulnashörner sind mittlerweile komplett ausgerottet) liegt die Strafe noch höher: 100.000 Pula (40.000) Mark und bis zu 15 Jahre Gefängnis. Ob es daran liegt, dass kommerzielle Wilderei in Botswana kaum ein Thema ist? Oder liegt es in der Natur der Batswana, dass sie mit dem Gesetz nur ungern in Konflikt kommen? In keinem anderen Land Afrikas gibt es schließlich so wenig Korruption! Hinter das Geheimnis dieser Fragen bin ich nicht gekommen. 4. Tourismus: Das Geschäft der Zukunft Es ist gar nicht so einfach, in Gaborone das „Department of Tourism“ zu finden. Es liegt zwar in der „Main Mall“, deren Geschäfte man spätestens nach dem zweiten Tag in der Hauptstadt auswendig kennt, doch die winzigen Geschäftsräume liegen im vierten Stock über einer Bank versteckt. Passanten auf der Straße danach zu fragen macht wenig Sinn – das musste ich dann nach einer halben Stunde auch feststellen. Egal, Mr. Mpulubusi, der Leiter des Instituts, wartete auf mich. Als ich dann endlich – 20 Minuten zu spät – vor ihm saß, war er doch sichtlich erfreut, jemanden gefunden zu haben, der ihm Gehör schenkte. Viele scheinen das nicht zu tun. Und so legte er auch sofort los: „Der Tourismus in Botswana hat eine große Zukunft vor sich. Doch es muss noch viel getan werden. Im Moment kommen 90 Prozent aller Besucher, um Wildtiere zu beobachten, vor allem die Big Five (Löwe, Elefant, Nashorn, Büffel und Leopard). Doch es gibt noch viel mehr Potenzial. Zum Beispiel die unendlichen Weiten der Kalahari. Dort gibt es zwar nicht so viel Großwild, aber es ist einfach ein unglaubliches Gefühl, über Tage hinweg nichts anderes als diese unendlich weite Wildnis um sich zu haben. Vogelbeobachter kommen dort übrigens auch auf ihre Kosten“. Mr. Mpulubusi hatte sein Thema gefunden: Die Kalahari. Etwa eine halbe Stunde erzählte er, was dort noch alles zu tun sei und wieviel Potenzial doch in der Steppenwüste stecke. Er wurde derart enthusiastisch, dass man hätte glauben können, er bekäme für jeden Kalahari-Besucher ein paar tausend Pula auf sein privates Konto überwiesen. Als er dann irgendwann einmal eine kleine Pause machte um Luft zu holen, war ich endlich am Zug und fragte ihn nach ein paar Fakten. Die Reaktion war ein langes Stöhnen, dann verschwand er hinter einem riesigen Kerstin Eva Dreher Botswana Papierstapel, schließlich fand er die Akte, die er gesucht hatte. „Die genaue Anzahl der Besucher kennen wir nicht, wir können lediglich sagen, wie viele Leute die Parks besucht haben. Im vergangenen Jahr waren das z.B. 142.943 Touristen, die die nördlichen Parks im Okawango Delta, Chobe und in den Salzpfannen aufgesucht haben. Das heißt die Regierung verdiente 9.082.290 Pula (ca. 3,7 Millionen DM) allein an Park-Eintrittsgebühren“. Was 1998 anbelangt, konnte mir Mr. Mpulubusi sagen, wieviel insgesamt mit den Touristen umgesetzt wurde: 648 Millionen Dollar. Das ist mehr, als die verarbeitende Industrie umgesetzt hat. Und da die Viehwirtschaft im vergangenen Jahr auch erstmalig rote Zahlen schrieb, ist Tourismus nach der Diamantenförderung mittlerweile der zweit- wichtigste Wirtschaftszweig. Als eines der „Big-Five“-Tiere ist der Elefant einer der entscheidenden Faktoren, die zu diesem Ergebnis führten. „Tourismus ist in Botswana das Geschäft der Zukunft. Bodenschätze gehen nämlich irgendwann einmal zu Ende, bis dahin müssen wir eine andere, neue Einnahmequelle aufgebaut haben – und das könnte die Tourismus-Industrie sein“ schwärmte Mr. Mpulubusi weiter. Mit seinen Plänen liegt der Leiter des Instituts sicherlich richtig, damit aber die Bevölkerung das auch so sieht, ist noch viel Aufklärungsarbeit vonnöten. Es müssen neue Wege gefunden werden, die Einheimischen an dem Geschäft mit den Touristen zu beteiligen. Das sah Mr. Mpulubusi genauso: „Unser Ziel ist es, dass die Gemeinden rund um die Nationalparks eines Tages mit den Wildtieren mindestens genauso viel Geld verdienen wie mit der Landwirtschaft heute. Das ist der Schlüssel zur Zukunft, daran müssen wir arbeiten“. 4.1 „A long way to go“ Die frustriertesten Menschen, die ich in Botswana getroffen habe, waren ein Deutscher und ein Ire, die im Rahmen eines EU-Projekts ein Tourismus-Konzept für Botswana entwickeln sollten. Die beiden waren nicht mehr ganz jung, übten ihren EU-Job schon eine ganze Weile aus und waren viel in der Welt rumgekommen. „Ich dachte eigentlich, ich sei mit allen Wassern gewaschen, doch das war vor dem Botswana-Auftrag“, erklärte der irische Vertreter seinen Verdruss. Doch warum ist es so schwer, ein Tourismus-Konzept für Botswana zu entwickeln? Immerhin gilt das Land doch als eines der exklusivsten Reiseziele des gesamten Kontinents. „Ja, ja, das ist auch so“, bestätigte Ian, der Ire, und fuhr fort: „Aber nur, wenn man sich in einer erstklassigen, privaten Lodge im Norden oder im Nationalpark einmietet. Am besten, man setzt sich in ein Flugzeug, fliegt ins Delta oder zum Chobe, genießt den Busch für ein oder zwei Wochen und fliegt dann wieder zurück in die Heimat. Auf diese Weise hat ihr Reisebüro, die Fluglinie und der Lodge-Betreiber viel Geld mit Ihnen gemacht. Auch Botswana hat an Ihnen verdient, schließlich müssen sie ja auch die Park-Gebühren zahlen. Bei den Einheimischen ist aber fast nichts von diesem Geld angekommen“. Recht hat Botswana Kerstin Eva Dreher er. Denn mit Botswanas Tourismus-Strategie „Low impact, high income“ (mit einer kleinen Zahl Touristen so viele Devisen wie möglich ins Land zu holen) verfolgt das Land zwar ein Programm, das den Kriterien der Umweltverträglichkeit zu folgen versucht, aber die Einheimischen haben herzlich wenig davon. Der traditionelle Batswana ist Viehzüchter oder Bauer, aber kein Unternehmer. „Dienstleistungsgewerbe“, „Service“ und „Infrastruktur“ sind Fremdwörter für die Einheimischen, und das macht es den Touristen, die sich auch außerhalb der Lodges bewegen wollen, nicht gerade einfach. Öffentliche Verkehrsverbindungen zwischen der Hauptstadt im Süden und dem touristischen Norden sind den wenigsten Touristen zuzumuten. Die einzige – zudem ziemlich heruntergekommene – Eisenbahn des Landes fährt nur bis nach Francistown, etwa die Hälfte der Strecke. Die Alternative sind Busse, die meist völlig veraltet, dreckig, ständig überfüllt und natürlich ohne Klimaanlage sind. Auf der gesamten, ca. 1000 Kilometer langen Strecke gibt es nicht ein einziges nettes Café oder Restaurant, das zum Halt und somit zum Geld ausgeben einladen würde. Ganz zu schweigen von unannehmbaren sanitären Einrichtungen. Kleine Einzelhändler oder Souvenirhändler gibt es so gut wie gar nicht. Das Kunsthandwerk, das in Botswana angeboten wird, stammt meist aus dem benachbarten Simbabwe. Handarbeit „Made in Botswana“ ist eine echte Seltenheit, es gibt nur ganz wenige Initiativen (meist Entwicklungsprojekte), die Souvenirs anfertigen. Es gibt eine Handvoll Schnitzer in Serowe, ein paar Weberinnen in Odi und die Korbflechterinnen in Etsa und Gumare. Die wenigen öffentlichen Campingplätze in den Nationalparks sind nicht nur runtergekommen und eigentlich nicht einmal einem Profi-Hardcore-Camper zuzumuten, sie sind auch noch zusätzlich zur Parkeintrittsgebühr (mittlerweile 25 Dollar am Tag) zu bezahlen. Sogar in Gaborone sind Taxis eine Seltenheit, aber wenigstens ein Café mit Sonnenterrasse gibt es im Stadtzentrum. Ein einziges. Ansonsten trifft man sich eben in einem der zwei großen, internationalen Hotels, dem „Gaborone Sun“ oder dem „Grand Palm“. Doch zurück zu Ian, der immer noch niedergeschlagen an seinem Rock Shandy süffelte: „Tourismus müsste viel mehr integriert werden, man muss den Fremden heutzutage etwas bieten, einen Grund geben, weshalb sie hier in Botswana ihr Geld ausgeben sollen. Und wenn dann die Bevölkerung auch noch etwas von dem Devisenbatzen abbekäme .....aber bis dahin ist’s hier noch ein langer, langer Weg. Die Menschen hier lieben ihre Rindviecher, das Geschäft mit den Touristen interessiert die wenigsten“. 4.2 Safari de luxe – Abu’s Camp Das sich mit Elefanten viel Geld verdienen lässt, zeigt das Beispiel von Randall Moore, der mit seinem Unternehmen „Elephant Back Safaris“ die teuerste Lodge des gesamten Landes, das „Abu’s Camp“ betreibt. „Low impact, high Kerstin Eva Dreher Botswana income“ – die Touristikstrategie Botswanas ist in „Abu’s Camp“ perfekt umgesetzt worden. Die im westlichen Teil des Okawango Deltas gelegene Lodge kostet am Tag stolze 1200 Dollar, Mindestaufenthalt sind fünf Tage. Dafür ist dann aber auch alles inklusive: Das täglich frisch gebackene Brot, die italienische Kupferbadewanne und natürlich die Ausritte mit den Elefanten. Die 15 gezähmten Elefanten machen das Camp zu etwas ganz besonderem, denn wer einmal die herrliche Natur des Okawango Deltas vom Rücken eines Elefanten aus entdecken durfte, will nie wieder etwas anderes. Die Tiere bewegen sich sicher in ihrem natürlichen Lebensraum, Hindernisse wie dichtes Buschwerk, tiefes Wasser und Sumpflöcher sind für sie kein Problem. Außerdem hat man aus drei bis vier Metern Höhe eine grandiose Sicht, und man kommt viel näher an Wildtiere heran, als in einem Auto mit störenden Motorengeräuschen. 1200 Dollar täglich, ein ganz schön dicker Batzen, aber offensichtlich gibt es genug Leute, die sich das leisten können. Randall Moore muss sich um seine Zukunft wenig Sorgen machen: Er ist für die nächsten Jahre ausgebucht. Randall Moore arbeitete jahrelang bei einem amerikanischen Wanderzirkus – als Betreuer und Trainer für Elefanten. Durch den Tod seines letzten Arbeitgebers in den USA kam er an afrikanische Zirkus-Elefanten, die er in den 80er Jahren nach vielen Widrigkeiten zurück in ihre afrikanische Heimat brachte und dort in die Freiheit entließ. Die Finanzierung dieses ungewöhnlichen Abenteuers gelang ihm mittels vieler Sponsoren und einer Buchveröffentlichung („Back to Africa“, Randall Jay Moore, 1989, Unifoto, Cape Town). Als Randall Moore einige Jahre später für ein Filmprojekt wieder auf der Suche nach trainierten, afrikanischen Elefanten war, fand er sie wiederum in Amerika. Auf diese Weise sahen dann auch die drei Afrikanischen Elefanten „Abu“, „Benny“ und „Cathy“ ihre angestammte Heimat wieder. Dieses Mal fand sich für die drei aber kein geeignetes Wildreservat, in das Randall Moore sie hätte entlassen können. Nach lang em hin und her hatte Moore die zündende Idee: „Elephant Back Safaris“ und das „Abu’s Camp“, benannt nach „Abu“, dem heute 36-jährigen Elefantenbullen, der zusammen mit der 37-jährigen „Cathy“ die Herde anführt. Von den restlichen elf Elefanten im Camp stammen die meisten aus Culling-Operationen im Krüger-Nationalpark, zwei weitere wurden im „Pilanesberg Game Reserve“ in Südafrika gefangen. Der einzige Elefant, der aus Botswana stammt, ist die fünfjährige „Kitimetsi“ (Dankeschön). Sie hatte den Anschluss an ihre Herde verloren und kam – in unterernährtem Zustand – von ganz alleine ins Camp. Die Versuche, sie von der Gruppe fernzuhalten und zurück in den Busch zu schicken, blieben erfolglos. Sie wollte sich der Herde Moores’ anschließen. An einem normalen „Arbeitstag“ tragen die Elefanten Touristen zweimal durch den Busch: Ganz früh morgens zum Sonnenaufgang und dann noch einmal am späten Nachmittag. Von 10 bis 16 Uhr dürfen die Elefanten – unter Aufsicht ihrer Mahouts (Trainer und Betreuer) – fressen, baden und spielen. „Ele- Botswana Kerstin Eva Dreher phant Back Safaris“ beschäftigt allein für die Elefanten 17 Mahouts, dazu kommen weitere 30, die im Camp für die Betreuung der Gäste oder im Büro für die Verwaltungsarbeit zuständig sind. Von Dezember bis Februar ist „Abu’s Camp“ geschlossen, in dieser Zeit werden die Elefanten oft für Filmprojekte engagiert, denn Moores’ Elefanten sind die größte gezähmte Herde afrikanischer Elefanten in Afrika und zudem eine der größten Herden gezähmter Bullen in der Welt überhaupt. Nur wenige Kilometer vom Touristencamp entfernt eröffnete Moore in seinem Konzessionsgebiet im vergangenen Jahr die „Botswana Elephant Training School“, eine Ausbildungsstätte für Elefanten und Mahouts. Darüber hinaus soll die Schule auch Forschern oder Filmcrews als Camp zur Verfügung stehen. Dort soll geprüft werden, inwiefern sich trainierte Elefanten in der Landwirtschaft und Flurbereinigung einsetzen lassen. Im nächsten Jahr soll dort auch ein Waisenhaus für Elefanten entstehen, denn bisher werden verwaist gefundene Jungtiere in Botswana sich selbst überlassen. Im Busch ist das für Jungtiere der sichere Tod. Auch Tiere, die durch die Zerstörung von Feldern oder ähnlichem aufgefallen sind und eigentlich ein Fall für die „Problem Animal Controll Unit“ wären, könnten hier ein neues Zuhause finden. „Wenn es uns gelingt, diese Tiere zu zähmen und sie in unsere Gruppe zu integrieren, wäre das doch eine gute Alternative zum Erschießen“, erklärt Moore. Das wichtigste Anliegen der „Elephant Training School“ ist jedoch, den Batswana eine Möglichkeit zu geben, Elefanten genauer kennenzulernen und zu sehen, dass die riesigen Tiere den Menschen nicht nur Schaden, sondern auch Nutzen bringen können. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass Moore mit dem lange herrschenden Vorurteil aufräumte, afrikanische Elefanten ließen sich nicht zähmen. Der Selfmade-Millionär Moore ist der Auffassung, dass Wildtierschutz nur dann von Interesse für die Einheimischen sein kann, wenn diese begreifen, dass sich damit auch Geld machen lässt. Er selbst ist das beste Beispiel dafür, dass diese Rechnung aufgehen kann. Eines jedoch darf beim Unternehmen „Elephant Back Safaris“ nicht vergessen werden: Das Thema Sicherheit. Denn auch wenn Moores Elefanten gezähmt sind, so bleiben sie doch wilde Tiere. Und wilde Tiere sind eben nicht immer und in jeder Situation berechenbar. Moores Elefanten im Okawango Delta bewegen sich im Busch und nähern sich täglich Löwen, Schlangen, Krokodilen und vielen anderen wilden Tieren – und das ist immer ein Sicherheitsrisiko. Bisher hatte es in der Geschichte von „Elephant Back Safaris“ nie einen ernsthaften Unfall oder ähnliches gegeben. Doch das änderte sich. Wenige Wochen vor meiner Abreise aus Botswana passierte das Unfassbare: „Nyaka Nyaka“, ein 27-jähriger Bulle aus Randall Moores Gruppe, tötete seinen Trainer. Bei einer Rast im Busch näherte sich der erfahrene Mahout und Forscher einem seiner Elefanten von hinten, der Elefant erschrak und attackierte den Südafrikaner. Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass dieser sofort in einen Schock fiel und wenige Minuten danach starb. Am nächsten Tag wurde „Nyaka Nyaka“ auf Ran- Kerstin Eva Dreher Botswana dall Moores’ Befehl erschossen. Die Schlagzeile zu dem Zeitungsartikel, der in der darauffolgenden Woche von dem tödlichen Unfall erschien, lautete: „Killer Elephant“. Ein besseres Beispiel dafür, wieviel Arbeit noch vor Randall Moore oder dem „Mokolodi Nature Reserve“ (siehe 4.3) liegt, hätte ich nicht finden können. Während meines Aufenthalts in Botswana ereigneten sich noch weitere tödliche Zwischenfälle mit wilden Tieren: Ein Tourist und sein Führer starben nach der Attacke eines Nilpferds, eine Frau wurde beim Beerenpflücken ebenfalls von einem Nilpferd zertrampelt, ein leichtsinniger Tourist wurde beim Angeln im Chobe von einem fünf Meter langen Krokodil gefressen und ein Jäger wurde von einem angeschossenen Leoparden angegriffen. Bei näherer Betrachtung dieser Unfälle stellte sich jedoch meist heraus, dass die Opfer einen Fehler gemacht hatten oder unaufmerksam waren. Wildtiere entscheiden sich in der Regel eher für die Flucht als für den Angriff. Wie schnell so ein Unfall aber passieren kann, wurde mir bewusst, als ich eines Morgens mein Badezimmer in einem Camp in Maun betrat und eine „Mosambique Spitting Kobra“ gerade dabei war, den Raum durch das geöffnete Fenster zu verlassen. Fühlen sich diese Schlangen bedroht, spucken sie ihrem Gegner mit einem ätzenden Gift aus bis zu drei Metern Entfernung zielsicher in die Augen. So bleibt ihnen genug Zeit zu verschwinden oder den gehandicapten Gegner anzugreifen. Wenn sie sich für letzteres entscheiden, kommt meist jede Hilfe zu spät, denn ihr Gift ist tödlich. Zu meinem Glück befand sich der Kopf der Kobra schon außerhalb des Fensters. Eines habe ich daraus gelernt: Im Busch gelten andere Regeln, mit denen wir nicht vertraut sind und deshalb oft Fehler machen – im Busch sollte man ein Fenster nicht einfach so über Nacht offenstehen lassen! 4.3 Umwelterziehung in Mokolodi Ein gutes Beispiel, wie man Geld verdienen und Arbeitsplätze sichern kann, Wildtierschutz sinnvoll betreibt und dabei Wissen vermittelt, ist das Programm des „Mokolodi Nature Reserves“, einem kleinen privaten Naturschutzpark nahe der Hauptstadt Gaborone. Das 5000 Hektar große Gebiet war früher einmal eine Rinderfarm, auf der neun Leute ihr tägliches Brot verdienten. Nachdem aber das Land von den Rindern überweidet war, entschloss sich der damalige Besitzer, die Viehzucht aufzugeben und stellte das Grundstück einer eigens dafür ins Leben gerufenen privaten Stiftung, der „Mokolodi Wildlife Foundation“, zur Verfügung. Zu den Vorsitzenden dieser Stiftung gehört u.a. der ehemalige Präsident Sir Ketumile Masire. Schirmherr ist der derzeitige Vize-Präsident General S. K. L. Khama, Sohn des Staatsgründers Sir Seretse Khama. Neun Jahre nach der Gründung 1991 sind auf der ehemaligen Ranch 70 Leute beschäftigt und zahlreiche Tierarten, wie zum Beispiel Giraffen, Krokodile, Nilpferde, Elefanten, Antilopen, Gnus und Leoparden zuhause. Sie leben dort Botswana Kerstin Eva Dreher wie in freier Wildbahn, Gehege gibt es lediglich für die Geparden, die vor vier Jahren als Waisen in den Park gebracht wurden, sowie für die angeschlossene Tierpflegestation. Zahlreiche Zucht- und Wiederansiedlungspro-gramme, etwa das Breitmaulnashorn-Zuchtprojekt oder das Elefanten-Waisenhaus, werden in Mokolodi, ähnlich wie in vielen deutschen Zoos, durchgeführt. Die einzigen Tiere, die im Park nicht wieder angesiedelt wurden, aber normalerweise in Botswana ihre Heimat haben, sind Büffel und Löwen. „Das ist leider nicht möglich, weil wir sonst mit unseren Schulklassen nicht mehr durch den Busch laufen können“, erklärte Tebelelo Tsheko, der Leiter des angeschlossenen „Enviromental Education Centers“. Das „Education Center“ ist das Herz des Parks. Jede Woche sind Schulklassen zu Besuch, für die der Park für ein paar Tage zum Freiluft-Klassenzimmer wird. In Mokolodi werden sie von erfahrenen Rangern und Guides in Sachen Natur- und Artenschutz unterrichtet. Sie sollen ihre Umwelt und die Tiere und Pflanzen, die in ihr leben, kennen- und schützen lernen. Sie sollen zum Beispiel begreifen, dass Elefanten nicht nur nichtsnützige, zerstörerische Vielfraße, sondern schützenswerte Lebewesen sind, die friedlich mit Menschen zusammenleben und sogar für sie arbeiten können. Sie gehen gemeinsam mit den Rangern in den Busch und beobachten die wenigen, verbliebenen Breitmaulnashörner Botswanas oder fangen sogar eine ausgewachsene Python, die dann jeder auch anfassen kann. Umwelterziehung – eine große Aufgabe und eine Investition in die Zukunft. „Diese Kinder sollen einen Sinn für den natürlichen Reichtum Botswanas entwickeln und lernen, diesen für künftige Generationen zu erhalten“, sagt Puso Kirby, der Parkmanager. Ein schöner Gedanke, der jedoch erst einmal finanziert werden muss. Kosten gibt es genug: Die Schülerbesuche müssen gesponsert, die Gehälter der 70 Angestellten (ParkRanger, Mechaniker, Erzieher, Biologen, Tierärzte etc.) bezahlt, der Fuhrpark in Ordnung gehalten und Futter gekauft werden. Doch auch das gelingt dem Mokolodi Wildlife Trust. Ein wichtiger Faktor sind diesbezüglich die Touristen, die an Gamedrives, Elefanten- oder Nashorn-Walks teilnehmen können. Bei einem solchen „Walk“ haben sie die Gelegenheit, Elefanten beim Baden zu beobachten oder ein Buschpicknick auf dem Gelände zu veranstalten; desweiteren ist es ihnen möglich, sich in eines der Chalets mit herrlichem Blick auf den Park einzumieten. Ein verpachtetes Restaurant auf dem Gelände bringt weiteres Geld, genauso wie das geplante Fortbildungs-Center für Manager. Sogar der Elefanten-Dung wird verkauft – als Gartendünger. Der Rest der Kosten wird durch Spenden, die aus aller Welt eintreffen, finanziert. Alles in allem ist das „Mokolodi Nature Reserve“ ein gelungenes Projekt, das Natur- und Artenschutz in den Alltag vieler Batswana einbindet und richtungsweisend für viele weitere Projekte dieser Art sein könnte. Kerstin Eva Dreher Botswana 5. Wildlife-Management in Botswana Wie die letzten Kapitel gezeigt haben, ist es Botswanas wichtigste Aufgabe, die Bevölkerung in den Tourismussektor zu integrieren. Denn der einzige Weg, sie für den Natur- und Artenschutz zu interessieren, führt über ihren Geldbeutel. „Nur wenn es gelingt, Batswana am Geschäft mit den Touristen zu beteiligen, steigt auch ihre Bereitschaft, sich aktiv am Natur- und Artenschutz zu beteiligen. Am Ende des Monats müssen sie sehen, dass es sich gelohnt hat – und das geht nur über den Geldbeutel“, meint Paul Schaller. Er hat sich ein ganzes Leben lang für den Wildtierschutz eingesetzt, unter anderem war er jahrelang Vorsitzender der „Kalahari Conservation Society“ und vieler anderer „NGOs“ (Non-Gouvermental-Organisations), die sich für den Artenschutz eingesetzt haben. Mittlerweile betreibt Paul mit Freunden ein kleines Camp in Maun und organisiert Ausflüge ins Delta und die umliegenden Nationalparks. Dabei achtet er darauf, so viele Batswana wie möglich anzuheuern. Sei es der Bootsführer, der die Touristen in seinem „Mokoro“ (Einbaum) durch das Delta schippert, die Köchin im Camp oder der Nachtwächter. „Das ist der einzige Weg, aktiven Naturschutz zu betreiben“, erklärt Paul. „Ich habe mir jahrelang den Mund fusselig geredet, das bringt nicht viel. Die Einheimischen haben es satt, wenn mal wieder ein selbsternannter Experte oder ein Regierungsangehöriger daherkommt und ihnen sagt, was sie tun und lassen sollen. Jetzt versuch ich’s eben im Kleinen. Bisher gelingt das. Meine Leute begreifen, dass sie nur Arbeit haben, weil ihre Umwelt intakt ist und die Touristen Tiere zu sehen kriegen“. Doch nicht nur im Kleinen, auch im Großen soll dieses Konzept zukünftig umgesetzt werden. So hat auch Botswanas Regierung bereits 1993 ein Konzept entworfen, das die Gemeinden, die in den Nationalparks oder deren unmittelbarer Nähe liegen (und für die Viehzucht aus diesem Grund verboten ist), am Geschäft mit den Touristen beteiligt. Das Projekt heißt „Community Based Natural Resources Management“, kurz CBNRM, und steckt eigentlich noch in den Kinderschuhen. Lediglich zwei Gemeinden praktizieren es seit ein paar Jahren, der „Chobe Enclave Trust“ im Chobe Nationalpark und die Gemeinde Sankuyo, die an den Moremi Nationalpark grenzt. CBNRM ist der Versuch, die Gemeinden an den natürlichen Resourcen ihres Gebietes zu beteiligen, indem die Regierung ihnen das Management und die Verwaltung dieses Gebietes überlässt. Eigentümer bleibt jedoch der Staat. Die Gebiete, die die Gemeinden zu verwalten haben, sind oft mehrere hunderttausend Hektar groß – keine leichte Aufgabe und für die Gemeindemitglieder gar nicht zu schaffen. Die wenigsten haben eine schulische Ausbildung, geschweige denn Ahnung von Tourismus und Marketing. Deshalb sieht das CBNRM vor, dass sich die Gemeinden einen Joint Venture Partner, also ein privates Safari- Botswana Kerstin Eva Dreher bzw. Tourismus-Unternehmen suchen, das diese Aufgaben für sie übernimmt. Das geschieht per Ausschreibung, um die sich die – meist von weißen Südafrikanern, Amerikanern oder Europäern geleiteten – Safari-Unternehmen bewerben. Wer der Gemeinde die besten Konditionen – und natürlich das meiste Pachtgeld – anbietet, erhält den Zuschlag. Zunächst einmal für ein Jahr. Sind beide Seiten mit dem Joint Venture zufrieden, verlängert sich der Vertrag um weitere drei Jahre und nach diesen um weitere fünf Jahre. Ein fairer Deal, denn Safari-Unternehmen wird eine bestimmte Anzahl von Betten gestattet, und für bestimmte Tiere gibt es eine Jagdquote. Sie investieren auf dem gepachteten Gebiet, bauen Camps für Touristen und gehen mit ihnen dort auf Beobachtungstour. Meist wird das Gebiet geteilt. Ein Teil wird für FotoSafaris genutzt, der andere für die – seit 1996 wieder erlaubte – Trophäenjagd. Das Personal für die Camps und die Safaris muss aus der Gemeinde rekrutiert werden, denn so sollen die Einheimischen das für den Tourismus nötige Know-how erlernen. Außerdem haben die Gemeinden großes Mitspracherecht, was auf ihrem Gelände geschieht. Egal, ob eine Brücke gebaut, ein Dach repariert werden muss oder jemand entlassen werden soll – nichts geht ohne die Zustimmung des Gemeinderats. Schließlich sollen sie auf lange Sicht irgendwann einmal selbst das Gebiet managen können. Für die Gemeinden ist dieses System oft die einzige – allerdings höchst lukrative – Einnahmequelle, denn das unternehmerische Risiko liegt ganz allein bei den SafariUnternehmen. 5.1 Funktioniert das System des „Community Based Natural Resources Management“? Ist CBNRM nur ein weiteres Projekt, das sich auf dem Papier wunderbar liest, aber in der Realität nicht umgesetzt wird, oder geht das Konzept auf? Das wollte ich von Karl-Heinz Gimpel, dem Inhaber des „Crocodile Camps“ in Maun, wissen. Sein Unternehmen ist mit der Gemeinde Sankuyo ein Joint Venture eingegangen. „Im Prinzip ist das Konzept sinnvoll, weil es die Gemeinden wirklich einbindet und sie ein großes Mitspracherecht haben. Das Problem ist nur, dass die Batswana keinerlei Erfahrungen in dem Geschäft mitbringen und es ist relativ schwer ist, sie wirklich dafür auszubilden und zu interessieren. Denn das Geld, das durch das Safari-Unternehmen bezahlt wird, kommt ja ohnehin rein. Man muss also in der Gemeinde erst mal jemanden finden, der eine Schulausbildung hat und überhaupt lernen will, wie man die natürlichen Resourcen am besten managt. Doch nur so entwickeln die Gemeindemitglieder auch ein Verantwortungsgefühl für ihre unmittelbare Umwelt“. Was ist mit den Tieren, die im Konzessionsgebiet leben? Fühlen sich die Dorfbewohner dafür verantwortlich? Kerstin Eva Dreher Botswana „Oh ja, denn die Gemeinden bekommen von der Regierung nur eine Jagdquote, wenn der Bestand in ihrem Gebiet nicht gefährdet ist. Je mehr Tiere, desto höher die Quote. Und mit den Jagdquoten machen sie nun einmal das meiste Geld“. Wie das? Es kommen doch viel mehr Touristen als Jäger, oder nicht? „Schon, aber mit den Jägern verdient man wesentlich mehr Geld. Auf unserem 100.000 Hektar großen Konzessionsgebiet darf ich 16 Betten für Foto-Safari-Touristen und 16 Betten für Jäger haben. Ein Foto-Tourist zahlt zwischen 200 und 400 US-Dollar am Tag. Ein Jäger lässt in zwei Wochen schon mal 50.000 US-Dollar im Land. Dafür wird er dann aber auch von 20 Leuten – die übrigens auch alle aus der Gemeinde kommen und bezahlt werden müssen – den ganzen Tag umhegt“. Das ist ja eine schöne Stange Geld! „Allerdings. Die Jagd auf einen Elefanten inklusive der Trophäen kostet den Kunden zwischen 30.000 und 40.000 US-Dollar, der Jagdunternehmer muss 10.000 Pula (ca. 4000 DM) an das „Department of Wildlife“ für die Lizenz abführen. Die Gemeinde bekommt etwa 20.000 bis 30.000 Pula (ca. 10.000 DM), inkusive der Jagdgebühren bringt ihnen ein Elefant fast 10.000 US Dollar. Ganz gleich, ob der Elefant nun geschossen wird oder nicht, denn die Dorfgemeinschaft hat ihre Quote ja an das Safari-Unternehmen weitergegeben, und es ist deren unternehmerisches Risiko, sie an einen Trophäenjäger zu verkaufen oder nicht“. Deren Risiko? Ist es nicht vielmehr Ihres? „Nein, wir kümmern uns ausschließlich um die Fototouristen, die ganze Jagdgeschichte habe ich an ein anderes Unternehmen weiterverpachtet. Wegen mir müsste es die Jagd gar nicht geben, aber mit Foto-Safaris ist einfach nicht so viel Geld zu verdienen. Der Verkauf der Jagdquoten ist die Haupteinnahmequelle der Gemeinde“. Wie hoch ist denn die Quote für Elefanten? „Zwölf Elefanten können wir schießen, das ist die maximale Quote für ein Konzessionsgebiet. In den kommerziellen Jagd-Gebieten sind es sechs, für ganz Botswana 120. Allerdings nutzen viele Gemeinden ihre Quoten noch nicht, das wird erst in den nächsten Jahren kommen. Insgesamt werden zur Zeit ca. 80 Elefanten pro Jahr durch Trophäenjäger geschossen“. Was sind die Vorteile von CBNRM? „Ein Vorteil ist sicherlich, dass die Dorfbewohner mehr auf ihre Umwelt achten. Konkret heißt das: Wenn jemand mitbekommt, dass illegal Jagd auf einen Elefanten gemacht wird, wird das sofort gemeldet. Denn wenn die mitkriegen, hey, da schießt jetzt jemand was von unserer Quote, bezahlt aber nichts dafür, werden sie sauer. Der Jagd-Safari-Unternehmer zahlt nämlich nicht nur für die Quote, sondern muss auch das Fleisch, die Haut und die Felle Botswana Kerstin Eva Dreher im Dorf abliefern. Nur die Trophäen darf der Jagdkunde behalten, dafür hat er ja schließlich gezahlt“. Gibt es auch Nachteile? „Meiner Meinung nach sollten die Dorfgemeinschaften auf lange Sicht Eigentum an dem Land und der ganzen Touristenoperation erwerben können. Das heißt auch, dass sie am unternehmerischen Risiko des ganzen Unternehmens beteiligt wären. Manchmal muss man in diesem Geschäft einfach auch mal Fehler machen. Fehler, die unter Umständen eben auch mal wehtun können. Nur so lernt man wirklich dazu“. 5.2 Auf der Suche nach dem ultimativen Kick – Großwildjagd im afrikanischen Busch Großwildjagd in Afrika – bei diesem Gedanken gefriert den meisten Tierschützern das Blut in den Adern, Jäger wiederum, bekommen ein Glitzern in den Augen. Als ich dieses Projekt in Angriff nahm, zählte ich mich eher zur ersten Gruppe. Nach langem hin und her fand sich dann schließlich auch ein ansässiger Berufsjäger, der sich bereit erklärte, mich zwei seiner (von der Idee wenig begeisterten) Klienten unterzuschmuggeln. Je näher der Termin für die Jagd rückte, desto unsicherer wurde ich. Wollte ich wirklich mitansehen, wie eines dieser wunderbaren Tiere, die ich oft stundenlang beobachtet hatte, abgeschossen wurde? Ja, ich wollte – dazu war ich ja schließlich hier. Zu einer Recherche gehören eben mehrere Seiten – auch wenn sie nicht immer angenehm sind. Mittlerweile hatte ich nämlich auch einige interessante Fakten über die Trophäenjagd gesammelt, die mich meine – doch eher europäische Sicht der Dinge – noch einmal überdenken ließen. Meine Suche nach Tierschützern, die das Wohlergehen der Tiere über das der Menschen und das der Vegetation stellen (die gibt es in Europa und Amerika schließlich zuhauf), blieb in Botswana erfolglos. Die Leute, die sich am meisten für ihre Umwelt interessierten, Tiere und Pflanzen genau kannten und sich für ihren Schutz einsetzten, waren fast alle Jäger. Eigentlich klar, denn Jäger gehen mit offenen Augen durch den Busch, sie kennen jede Vogelstimme, orten jedes Geräusch und beobachten Vegetation und Tiere genau. Jäger lieben den Busch, sie fürchten ihn nicht. Und sie schützen ihn, auch vor Wilderern. Wer eine Konzession für ein Jagdgebiet hat, bewacht das Gebiet und das darin lebende Wild. Die Konzession bedeutet schließlich sein finanzielles Auskommen, und Wilderer haben kein leichtes Spiel. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die der Meinung waren, dass Länder wie Kenia oder Tansania heute wesentlich gesündere Elefantenpopulationen beheimaten würden, wenn sie die Jagd auf Elefanten in den 60er Jahren nicht völlig abgeschafft hätten. Ein weiteres Problem dieser Länder war aber sicherlich auch, dass sich auch oberste Funktionäre am Kerstin Eva Dreher Botswana Geschäft mit Elfenbein – und somit auch an der Wilderei – beteiligten. Das gab es in Botswana nicht. Ein Jagdverbot für Elefanten gab es trotzdem, allerdings erst sehr viel später, 1983 nämlich. Man befürchtete damals, dass der genetische Pool für Bullen mit großen Stoßzähnen durch starke Bejagung zu klein werden könne. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Jäger schießen in der Regel Elefantenbullen mit großen Stoßzähnen, schließlich wollen sie sich ja auch eine große Trophäe an die Wand hängen. Doch die sogenannten „Big Tusker“ sind nicht allzu häufig und Jagdgegner befürchteten, dass die „Big Tusker“ noch vor der Weitergabe dieser genetischen Veranlagung an die nächste Generation abgeschossen würden. Dieses Argument der Jagdgegner ist übrigens auch heute noch nicht ganz aus der Welt. Trotzdem: In Abstimmung mit CITES gibt es in Botswana seit 1996 wieder eine Jagdquote für Elefanten. 120 erwachsene Bullen dürfen seitdem wieder jedes Jahr von Trophäenjägern geschossen werden. 120 Elefanten, bei einer Gesamtpopulation von offiziell 106.000 Tieren, das ist durchaus vertretbar, wenn man die Vorteile sieht, die die Trophäenjagd Land und Leuten bringt: Jährlich kommen knapp 200 ausländische Jäger (75 Prozent Amerikaner, 23 Prozent Europäer und 2 Prozent Afrikaner) und bescheren Botswana zirka 20 Millionen USDollar. Außerdem sichern sie etwa 1000 Einheimischen eine feste Anstellung, zum Beispiel als Spurenleser, Führer, Koch, Wächter, Wäscherin oder Putzfrau. Mit diesem Wissen im Gepäck trat ich also zu meiner ersten Großwildjagd an. Wenigstens fühlte ich mich in guten Händen. Paul Klotsch, ein Deutscher, lebte schon seit mehr als 30 Jahren als Berufsjäger in Afrika. Ein alter, erfahrener Hase also. Seine zwei Kunden waren auch Deutsche, einer kam zum Jagen, der zweite war nur zum Zuschauen mitgekommen. Als Paul und ich die beiden am Flughafen in Maun abholten, war erst mal ganz schön schlechte Stimmung. Die Kunden waren nämlich erst mal sauer. Der Gewehrkoffer war nicht auf dem Anschlussflug mitgekommen und lag noch irgendwo in Johannesburg herum. Zwei Tage später wurde er dann schließlich doch noch nachgeliefert. In der Zwischenzeit adaptierten sich Joachim und Peter erst einmal an das afrikanische Klima, inspizierten das First-Class-Camp – das sie, wie alle Jäger, ganz für sich alleine hatten – und tauschten abends am Feuer ihre bisherigen Jagderlebnisse aus. Weitere Themen waren Kalibergrößen, Stutzen, Gewehrtypen – auf alle Fälle jede Menge Jägerlatein, von dem ich noch nie in meinem Leben etwas gehört hatte. Ich genoss das tolle Camp (in dem man immer von ca. 20 Leuten gleichzeitig bedient wurde), mein Luxuszelt (mit eigenem Badezimmer und fließend Warmwasser selbstverständlich) und bestaunte jeden Morgen mit Paul die Fährten, die Elefanten, Leoparden und Löwen in der Nacht im Camp hinterlassen hatten. Nachdem die Gewehre angekommen waren, ging die Jagd dann los. Joachim merkte man das Jagdfieber richtig an, Botswana Kerstin Eva Dreher schließlich war er gekommen, um einen Büffel, einen Elefanten, ein Warzenschwein und eventuell auch einen Leoparden zu erlegen. Und gleich an diesen ersten Jagdtag hatte er Glück, beziehungsweise ein Büffel Pech. Doch ganz von vorne: Mit einem Geländejeep gingen wir vier plus einem Fahrer, einem Fährtensucher und Begleitleuten aus der Gemeinde auf die Suche nach Wild. Wir fuhren quer durch das Jagdgebiet, und nach nur einer halben Stunde stießen wir auf eine riesige Herde Büffel, etwa 500 Tiere. Wir folgten der Herde, und Paul und Joachim suchten mit dem Fernglas nach dem Bullen mit den größten Hörnern. Der war dann auch ziemlich schnell ausgemacht, also folgte das Fahrzeug im Schritttempo der Herde – und zwar solange, bis Joachim den Bullen gut ins Visier bekam. Dann ging alles ganz schnell. Joachim schoss und verfehlte das Herz des Bullen nur ganz knapp. Als der Schuss erschallte, hörte man auf einmal ein dunkles, lautes Grollen und sah minutenlang nur noch eine Staubwolke: Die Herde rannte davon, hunderte Hufe stoben über den festen Sandboden. Der angeschossene Büffel blieb jedoch nach etwa 30 Metern stehen. Als der aufgewirbelte Staub verflogen war, verließen Paul, Joachim und ich den Wagen und näherten uns zu Fuß. Der zweite Schuss ging in die Hüfte, so war die Gefahr, dass der Bulle uns angreift oder wegläuft, gebannt. Der dritte Schuss ging dann mitten ins Herz. Der Büffel brüllte ein letztes Mal. Laut, tief und unheimlich. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es mir eingebildet habe, aber ich glaubte eine Antwort, einen letzten Gruß seiner Herde aus dem Busch gehört zu haben. Seit dem ersten Schuss waren kaum zehn Minuten vergangen, und der eben noch so stolze Büffel war nichts anderes mehr als ein riesiger Klumpen Fleisch, der auf dem staubigen Boden lag. Joachim war voller Stolz – er hatte eine kapitale Trophäe erlegt. Sofort wurden die üblichen „Jäger-mit-BeuteFotos“ geschossen und dann der Büffel an Ort und Stelle ausgenommen. Die Geier, die in freudiger Erwartung schon die ganze Zeit dem Fahrzeug gefolgt waren, sammelten sich schon über unseren Köpfen. Viel wurde ihnen nicht gelassen – gerade mal der Mageninhalt, also ein riesiger Berg vorverdautes Gras und der meterlange Darm. Der Rest wurde verladen und ins Camp gebracht. Abends gab es dann ein köstliches „Buffalo Stew“. Das, die Hörner und der Schwanz waren das einzige, was Joachim von dem Büffel wiedersah. Der Rest ging an die Dorfgemeinschaft. Ich fragte Joachim, was er denn nach so einer Jagd fühle. Seine Antwort: „Stolz und Zufriedenheit“. Eine Woche verbrachte ich in Pauls Jagdcamp. Ich hatte genug Erfahrungen gesammelt. Es reichte auf alle Fälle, um mir ein Bild über die Trophäenjagd zu machen – ich musste nicht auch noch einen Elefanten sterben sehen. Was ich aus dieser Erfahrung gelernt habe? Ich kann mittlerweile die Faszination, die von der Großwildjagd ausgeht, nachvollziehen – wenn auch nicht verstehen. Ich lehne sie nicht mehr völlig ab, denn ich habe gelernt, dass die Trophäenjagd viel Geld in eine Dorfgemeinschaft bringt. Geld, mit dem Kerstin Eva Dreher Botswana Schulen oder Krankenstationen gebaut werden. Außerdem werden viele Arbeitsstellen für Einheimische geschaffen. Selbst für das Wild ist es nicht von Nachteil, denn Wilderei kann man in Jagdgebieten nahezu ausschließen. Vielleicht ist das der einzige Weg, die restlichen Wildtiere zu schützen. Dennoch: Meine Sache ist die Jagd nicht. 5.3 Culling – die einzige Alternative? „Die einzige Möglichkeit, die Elefanten-Überpopulation auf lange Sicht bei uns in den Griff zu kriegen, ist Culling“. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich diesen Satz während meiner Recherchen gehört habe. Von Safari-Unternehmern, Leuten aus dem DWNP, Regierungsoffiziellen – und auch von einigen, um die Pflanzen- und Artenvielfalt besorgten Naturschützern. Erst einmal zur Erklärung: Beim „Culling“ handelt es sich um das Abschießen ganzer Elefantenherden (die meist nur aus Elefantenkühen und Kälbern bestehen). Es ist ein grauenvolles Gemetzel, bei dem mit viel technischem Aufwand (Hubschrauber, Maschinengewehre, etc.) so viele Elefanten wie möglich getötet werden. Manchmal verschont man bei solchen Operationen die Jungtiere, um sie an Zoos oder andere Parks zu verkaufen. „Culling“ scheint – auch wenn es blutig zugeht und zunächst einmal fürchterlich grausam sein mag – die beste Methode zur Reduzierung des Elefantenbestandes in einem bestimmten Gebiet zu sein. „Culling“ ist in Botswana schon länger ein Thema, schließlich gab es in den Nachbarländern Südafrika und Simbabwe solche Operationen schon vor zehn Jahren. Aber noch zögert die Regierung Botswanas. Das liegt in erster Linie daran, dass weder die technische Ausrüstung noch das Know-how, das eine solche Operation erfordert, vorhanden sind. Außerdem fürchtet man auf internationaler Ebene an Reputation zu verlieren, denn vor allem das Beispiel Südafrika hat gezeigt, dass „Culling“-Operationen große Proteste nach sich ziehen. Da Botswana mit seiner Tourismus-Strategie „Low impact, high income“ nur die Reichen unter den Reisenden erreichen will, und diese Schicht nicht allzu groß ist, fürchtet man das Ausbleiben der Touristen – und ihrer Devisen. Aber auch im Land selbst ist „Culling“ umstritten. Ian Kharma, amtierender Vize-Präsident und sehr wahrscheinlich nächstes Staatsoberhaupt, ist, wie viele andere Tierschützer, ein entschiedener Gegner des Abschlachtens. Seine Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Die Frage „Wo soll man in Botswana denn cullen?“ können nicht einmal die Befürworter zufriedenstellend beantworten. „Cullt“ man dort, wo der Druck auf die Fauna am größten ist, nämlich in den Nationalparks, drängen die Elefanten in die Gebiete außerhalb der Parks: In die Dörfer und in die landwirtschaftlich genutzten Gebiete, wo sie viel mehr wirtschaftlichen Schaden anrichten können. Wird Botswana Kerstin Eva Dreher außerhalb der Parks „gecullt“, konzentrieren sich die riesigen Herden nur noch auf das Nationalpark-Gebiet – und der Druck auf die kleineren Tierarten und die Vegetation wird noch verstärkt. „Culling“ mag also in einem wesentlich kleineren, eingezäunten Gebiet – wie zum Beispiel dem Krüger Nationalpark – funktionieren, ist aber für die riesigen, glücklicherweise nicht eingezäunten Nationalparks in Botswana ungeeignet. Welche Methoden, eine Elefantenpopulation unter Kontrolle zu halten, gibt es noch? Zwangsumsiedlungen oder Kontrazeption, das heißt die AntiBaby-Pille, wären weitere Möglichkeiten. Diese sind aber zum einen sehr teuer und aufwendig, zum anderen noch nicht genügend erforscht. Es drängt sich die Frage auf, ob es wirklich sinnvoll ist, dass der Mensch zum Schutz der Natur gegen eine übermäßige Vermehrung der Elefanten eingreift. Schafft sich die Natur nicht vielleicht langfristig selbst eine Lösung, indem sie zum Beispiel bei einer stark überbeanspruchten Vegetation die Geburtenzahl der Elefanten absenkt? Der Gedanke ist gar nicht so abwegig, bei Mäusen zum Beispiel ist genau das der Fall. Einige Wissenschaftler mutmaßen außerdem, dass – sollte es in Botswana wirklich zu eng und das Futter zu knapp werden – ein Großteil der Elefanten wieder zurück in die umliegenden Länder emigrieren würden Der Druck auf die Vegetation Botswanas kann noch nicht so groß sein, wie die Regierung vermutet, denn sonst würden nicht weiterhin so viele Tiere aus den Nachbarländern einwandern. Botswana scheint für Elefanten also trotz aller Schwierigkeiten und Probleme immer noch ein Paradies zu sein. Wer kann überhaupt mit Bestimmtheit festlegen, wieviele Elefanten die großen Parks im Norden Botswanas verkraften? Schon 1991, als man ca. 50.000 bis 60.000 Elefanten in Botswana vermutete, hieß es, die Kapazität sei damit erschöpft. Heute leben – zumindest nach offiziellen Zählungen, denen ich nur bedingt Glauben schenke – 106.000 Elefanten im gleichen Gebiet. Und auch wenn sie ihre Spuren an manchen Stellen eindeutig hinterlassen, gibt es heute noch keine verlässlichen Forschungsergebnisse, die eindeutig bestätigen können, dass es in Botswana eine Elefanten-Überpopulation und ein dadurch verursachtes ökologisches Problem gibt. Kerstin Eva Dreher Botswana 6. Die 11. CITES Konferenz in Nairobi – Ergebnisse und Beurteilung Am gegen Ende meiner Recherchen fand in Nairobi, Kenia, die elfte CITES-Konferenz statt. Die erste nach dem gestatteten Elfenbeinhandel in Namibia, Simbabwe und Botswana. Dieses Thema kam auf der Konferenz natürlich auch wieder zur Abstimmung, denn Namibia, Simbabwe, Botswana und Südafrika hatten den Verbleib des afrikanischen Elefanten im Appendix II des Washingtoner Artenschutzabkommens (WA) beantragt. Außerdem forderten die vier Länder eine jährliche Elfenbein-Handelsquote; für Botswana sollten das 12 Tonnen pro Jahr sein. Desweiteren wollten sie mit Elefantenprodukten Handel treiben und forderten zudem die Erlaubnis ein, Lebendtiere ausführen zu dürfen. In Botswana versprach man sich davon die wachsende Elefanten-Population besser in den Griff zu kriegen und zusätzlich jedes Jahr ca. 20 Millionen US Dollar einzunehmen. Geld, das wieder in den Artenschutz zurückfließen sollte. Gegner dieses Antrags waren in erster Linie Kenia und Indien. Wieder wurden tagelang Argumente vorgetragen, hitzig debattiert und gestritten. Dann kam die Konferenz zu einer Entscheidung: Der afrikanische Elefant wurde für die Länder des südlichen Afrikas auf Appendix II des WA eingestuft, und auch Lebendtiere sollten weiterhin – natürlich streng kontrolliert – an angemessene und akzeptable Bestimmungsorte weitervermittelt werden dürfen. Der Handel mit Elefantenprodukten, also auch mit Elfenbein, wurde nicht wieder gestattet. Dieser Kompromiss ist durchaus sinnvoll, auch wenn das die wenigsten Menschen in Botswana verstehen werden. Die internationale Staatengemeinschaft hat den Elfenbeinhandel für die nächsten Jahre zwar untersagt, will den Antrag Botswanas, Südafrikas, Namibias und Simbabwes aber noch einmal zur Abstimmung bringen, wenn die zwei Langzeit-Kontrollprogramme, MIKE (Monitoring Illegal Killing of Elephants) und ETIS (Elephant Trade Information Systhem) neue Erkenntnisse gebracht haben. Diese Programme sind zwar schon länger angedacht, aber noch nicht vollständig aufgebaut und bislang nur in kleineren Pilottests erprobt. Bis zur nächsten CITESKonferenz wird es hierzu sicherlich neue Ergebnisse geben und die Frage, ob Elfenbeinhandel für das südliche Afrika gestattet werden soll, neu diskutiert werden. 7. Schlussbemerkung Wenn es um die Zukunft des afrikanischen Elefanten geht, schlagen die Emotionen immer hoch. Doch man darf dieses Thema weder so romantisch verklärt, wie einige Tierschützer sehen, noch unter rein kommerziellen Aspekten betrachten. Die Botswana Kerstin Eva Dreher Lösung liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Ich bin der Meinung, dass die Regierung Botswanas mit dem „Community Based Natural Resources Management“ einen ganz guten Kompromiss zwischen Mensch und Tier in den betroffenen Gebieten geschaffen hat. Doch eines gilt es festzuhalten: Es gibt noch viel zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse über den Bestand und die Wanderungen der Elefanten und ihre langfristige Wirkung auf die Umwelt. Dies wird eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre sein – für Botswana und die angrenzenden Länder. Überhaupt: Meiner Meinung nach ist eine langfristige Lösung für Elefanten (und viele andere Tiere) im südlichen Afrika nur länderübergreifend möglich. Denn es nutzt nur wenig, wenn man ausschließlich in Botswana ein sinnvolles Artenschutzsystem hat: Ein solches muss es für die gesamte Region, das heißt Botswana, Namibia, Angola, Simbabwe und Sambia, geben. Die Idee ist gar nicht so abwegig, erst im vergangenen Monat haben die Regierungen Botswanas und Südafrikas den ersten grenzüberschreitenden Nationalpark gegründet. Im Falle der Elefanten ist nun SADC (South African Development Community, eine 1980 gegründete Kooperationsinitiative für Staaten des südlichen Afrikas) gefragt. Elefanten halten sich nämlich nicht an Staatsgrenzen und wenn sie in Namibia, Simbabwe, Sambia und Angola eines Tages auch wieder in Frieden leben können, kann aus der gesamten Region ein Paradies werden. Ein Paradies, in dem man vielleicht eines Tages die letzten afrikanischen Elefanten in Freiheit beobachten kann. 8. Dankeschön All die wunderbaren, lehrreichen und manchmal auch erschreckenden Erfahrungen, die ich in meiner Zeit in Botswana machen durfte, bleiben unvergessen. Genauso wie die Hilfsbereitschaft vieler Menschen, die mich unterstützt haben, meine vielen Pläne in die Tat umzusetzen. Michael Meier von der Friedrich-EbertStiftung, Klaus Thüsing vom DED, Christian Nels von der GTZ, Herrn Schregle von der Deutschen Botschaft, Karl-Heinz Gimpel vom „Crocodile Camp“, dem Berufsjäger Paul Klotsch, Glenn Grant, meinen Kollegen und Kolleginnen vom Botswana Guardian und der Midweek Sun und allen anderen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, ein ganz großes Dankeschön. Natürlich auch an die Daheimgebliebenen, allen voran die Heinz-Kühn-Stiftung und ganz besonders Erdmuthe Op de Hipt. Danke für die vielen einmaligen Erlebnisse, die intensiven Eindrücke und die große Chance, eine andere Welt kennenzulernen. Victoria Eglau aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Chile vom 06. Oktober 1999 bis 06. Januar 2000 Chile Victoria Eglau Ein Land, durch das sich Risse ziehen – Chile ein Jahrzehnt nach dem Ende der Pinochet-Diktatur Victoria Eglau Chile vom 6. Oktober 1999 – 6. Januar 2000, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Chile Victoria Eglau Inhalt Zur Person „Welcome to the country that doesn’t want to remember the past“ „Pinochet, unser wichtigster Export-Artikel“ Oktober 1999: „Coooooperativa!“ – vier Wochen Hospitanz bei einer Radio-Legende – Einblicke in die chilenische Medienwelt von heute „Mit der Waffe der Wahrheit“ Manola Robles – die „Stimme der Wahrheit“ „Eine billige journalistische Arbeitskraft, jeden Tag stärker ausgenutzt“ Plausch mit dem Noch-Präsidenten Präsidentschaftswahl 1999 – für die Concertación ist die Zeit der leichten Siege vorbei Keiner spricht von Pinochet Ein Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft? – Besuch auf dem „Cementerio General“ Als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden – die Opfer, zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur Pedro Matta: Gegen das Vergessen Mario Sottolicchio: Mitleid für die Täter Leo Luna: Physisch zerstört, nicht psychisch Dr. Elena Gómez: Die „Verkapselung“ des Traumas Viviana Díaz: Für Wahrheit und Gerechtigkeit Nelson Caucoto: Wenn sich Türen plötzlich öffnen Nachtrag Chile Victoria Eglau Wenn man die Heimat kaum noch wiedererkennt – die Rückkehr aus dem Exil Ein Ort mit einer doppelten Geschichte: Chacabuco „Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen“: Salpeterstadt María Elena Wie auf einem anderen Planeten – Armut und soziale Unterschiede in Chile „Eine titanische Aufgabe“ – Indios suchen Wege aus dem wirtschaftlichen Abseits „Die historische Schuld des chilenischen Staates“ – Aufstand der Mapuche Dank an... 113 Victoria Eglau Chile Zur Person Victoria Eglau, geboren am 6. März 1970 in Hamburg. Studierte Politologie, Neuere Geschichte und Spanisch in Bonn. Immer wieder Fernweh, gestillt durch Auslandsaufenthalte in den USA, Frankreich und Spanien. Journalistische Erfahrung gesammelt durch Praktika, freie Mitarbeit und Vertretungen in den Semesterferien, u.a. bei Agence France Presse, Berliner Morgenpost, RIAS, Deutsche Welle und der Emigrantenzeitung „AUFBAU“ in New York. Nach dem Volontariat beim DeutschlandRadio als freie Rundfunkjournalistin tätig, vor allem für DLF, DeutschlandRadio Berlin und Deutsche Welle. Vertretungen bei WDR und EuroNews. Zur Zeit Redakteurin beim Deutschlandfunk. „Welcome to the country that doesn´t want to remember the past“ „Willkommen in dem Land, das sich nicht an seine Vergangenheit erinnern will.“ Juan Diego Spoerers Stimme klingt bitter, als er mich kurz vor der Landung auf dem Flughafen von Santiago de Chile in seiner früheren Heimat willkommen heißt. Während des sechzehnstündigen Fluges von Zürich habe ich meinen Sitznachbarn ein wenig kennengelernt. Der etwa Vierzigjährige mit dem graugesträhnten Bart hatte Chile kurz nach dem Militärputsch 1973 verlassen und lebt seitdem in Schweden, einem der Staaten, die die meisten chilenische Exilanten aufnahmen. Inzwischen verbringt der Rundfunk-Journalist wieder mehrere Monate pro Jahr in Chile, recherchiert dort für Reportagen und Berichte. Doch ständig leben zu wollen, in dem entlegenen Andenstaat, scheint Juan Diego nicht. „Ich bin sehr enttäuscht von Chile“, sagt er. Das Gespräch mit ihm hat mich eingestimmt auf meinen dreimonatigen Aufenthalt „am Ende der Welt“, hat Fragen aufgeworfen. Welche Rolle spielt im heutigen Chile die siebzehnjährige Pinochet-Diktatur, die der neue Staatspräsident Ricardo Lagos wenige Monate später als „die größte politische Tragödie des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen wird? Will sich das Land wirklich nicht an seine Vergangenheit erinnern? Welche Spuren hat dieses dunkle Kapitel der chilenischen Geschichte in der Gesellschaft hinterlassen? Und was denken die, die aus dem Exil zurückgekehrt sind (oder nur „halb“ zurückgekehrt sind, wie Juan Diego Spoerer) über Chile? Was für ein Land haben sie vorgefunden, wie sind sie dort empfangen worden? „Pinochet, unser wichtigster Export-Artikel“ Zwei Tage später, Samstag abend an der Plaza Nunoa in Santiago. Mit Maricel Contreras und Carolina Espinoza, zwei jungen Journalistinnen, sitze ich in einer Kneipe, die sich auch in Köln oder Paris befinden könnte. Maricel stellt mir die Frage, die ich in den kommenden Monaten immer wieder hören werde: „Was wis- Chile Victoria Eglau sen die Deutschen über Chile“? Ich druckse ein wenig herum, erkläre den beiden schließlich, dass in Deutschland die Berichterstattung über Chile meist in Zusammenhang mit Pinochet steht, dass also viele meiner Landsleute den lateinamerikanischen Staat wahrscheinlich immer noch mit der Militärdiktatur assoziieren. Als habe sie meine Antwort erwartet, sagt Maricel mit einer Mischung aus Ironie und Resignation „Tja, Pinochet ist eben unser wichtigster Export-Artikel“. Ich fühle mich ertappt. Auch ich bin ja hier, um mich über die Nachwirkungen der Diktatur zu informieren. Auch ich denke ja bei Chile erst einmal an Pinochet. Ich nehme mir vor, während meines Aufenthaltes zu versuchen, die „deutsche Brille“, die „europäische Brille“ abzunehmen, und meinem Gastland möglichst offen und unvoreingenommen zu begegnen. Und meinen Blick zu erweitern auf die gesamte Vielfalt der Themen, die die Chilenen heutzutage beschäftigen. Oktober 1999: „Coooooperativa!“ – vier Wochen Hospitanz bei einer Radio-Legende – Einblicke in die chilenische Medienwelt von heute Die Vielfalt der politischen Themen kennenlernen – wo wäre das besser möglich als beim meistgehörten Informationssender Chiles. Radio Cooperativa – das kennt in Chile jeder. Cooperativa hören die Taxifahrer in Santiago, und für den einsamen Wärter der Ruinenstadt Chacabuco in der nordchilenischen Wüste, der kein Telefon besitzt, bedeutet Radio Cooperativa die Verbindung zur Außenwelt. Wen man in Chile auf den beliebten Radiosender anspricht, der spitzt sofort die Lippen, um den einprägsamen Jingle „Cooooooperativa“ nachzuahmen. Mit einer sonoren, Glaubwürdigkeit und Seriosität versprechenden Stimme, ist dieses Erkennungslogo gesprochen. Doch den Ruf der Glaubwürdigkeit kann dem Sender sowieso keiner mehr nehmen. Er wurzelt in der Zeit der Diktatur, in der der Sender zu einem Synonym für mutige, offene und ausgewogene Berichterstattung wurde. Als in den achtziger Jahren die Proteste gegen das PinochetRegime immer lauter wurden, als jeden Abend Demonstrationen auf den Straßen stattfanden und der Staat seinen Unterdrückungsapparat in Gang setzte, da wurde das Hören der Cooperativa-Informationssendungen für die Chilenen zu einem täglichen, jedes Mal voller ängstlicher Spannung erwarteten Ritual. „Mit der Waffe der Wahrheit“ „Unsere Waffen waren die Wahrheit und die Genauigkeit“, erinnert sich Arnoldo Carreras García, der 1983 als junger Reporter bei Radio Cooperativa anfing. „Nach dem Putsch, während der siebziger Jahre, gab es nur eine Wahrheit in Chile: Die offizielle. Wir aber wollten ein breitgefächertes Bild von dem vermitteln, was in Chile geschah“. Als einziger Sender in Chile begann Radio Cooperativa in den Nachrichten über das Zitieren offizieller Quellen hinauszu- Victoria Eglau Chile gehen. Die Journalisten thematisierten Tabus wie das Verschwinden von Menschen, ließen dabei Familienangehörige und Freunde der Opfer zu Wort kommen, doch lieferten sie stets auch die amtliche Version der Vorkommnisse. Damit habe sich der Sender unangreifbar gemacht, meint Arnoldo, auch von den Vertretern des Militärregimes sei er mit der Zeit respektiert worden. Das rettete Radio Cooperativa wohl vor dem definitiven Sendeverbot, von dem viele andere Medien betroffen waren. Doch Drohungen und vorübergehende Schließungen gehörten für die Redakteure zum Alltag. Gehälter wurden mit großer Verspätung, in Raten und manchmal sogar in Naturalien ausgezahlt. Gab es doch keine Werbeeinahmen, weil die diktatur-freundliche Wirtschaft den Sender boykottierte. „Manchmal haben wir auf der Straße gestanden und gebettelt“, blickt Arnoldo Carreras García auf die schwierige Zeit zurück. Wie die Journalisten das ausgehalten hätten, frage ich ihn. „Wir fühlten, dass wir eine lebenswichtige Mission gegenüber dem Land erfüllten“, antwortet der hochgewachsene, weißhaarige Mann, der heute die Internet-Seiten des Radios betreut, mit großer Selbstverständlichkeit. Nicht nur hart, sondern auch „romantisch und schön“ sei die Arbeit während der Diktatur gewesen, betont Arnoldo und erzählt eine der vielen unglaublichen Geschichten, die Radio Cooperativa berühmt gemacht haben. Der Moderator der morgendlichen Informationssendung, Sergio Campos, wollte einmal auf eine für den Abend um acht Uhr geplante Protest-Aktion gegen das Pinochet-Regime hinweisen, die darin bestehen sollte, dass Chile in Dunkelheit versank. Alle Bürger sollten in ihren Wohnungen das Licht löschen. Weil eine direkte Ankündigung unmöglich war , benutzte Campos einen Trick: „Es ist acht Uhr abends, es ist acht Uhr abends“, sagte er in der, wie gesagt, am Morgen ausgestrahlten Sendung an – und ließ dann einen Chanson von Charles Aznavour einspielen, der mit den Worten begann: „Mach das Licht aus...“. Die Botschaft wurde verstanden. Manola Robles – die „Stimme der Wahrheit“ Vormittags gegen elf in der Calle Antonio Bellet 223 im schicken Santiagoer Stadtviertel Providencia. Die grau-verwitterte Villa, in der Radio Cooperativa untergebracht ist, wird von einer hohen Mauer umgeben. Durch das enge Großraumbüro im ersten Stock bewegt sich rastlos eine kleine, zierliche Frau um die fünfzig. Nach vorne gebeugt läuft sie rauchend ihren Parcours ab: Von ihrem Arbeitsplatz ins kleine Tonstudio, von dort zum Computer mit den Agenturmeldungen, schließlich zu einem der beiden ständig klingelnden Telefone, und wieder an den Schreibtisch. Manola Robles bereitet „El Diario de Cooperativa“ vor, das mittägliche Informationsprogramm des Senders. Wie jeden Tag ist sie auch heute um fünf Uhr morgens ins Büro gekommen. Mit Manola Robles arbeiten viele Kollegen nicht gerne zusammen. Sie sei anspruchsvoll und fordernd, heißt es. Außerdem verbreite sie nervöse Hektik, ihr Chile Victoria Eglau Arbeitsstil sei chaotisch. Während der Sendung am Mittag wirkt Manola konzentriert und abwesend zugleich. Mit ihren großen, ausdrucksvollen, ein wenig traurigen Augen blickt sie zuweilen nachdenklich auf einen unbestimmten Punkt an der Studiodecke. Dann wieder rauft sie sich den kurzen, rötlichen Haarschopf und nimmt einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Manolas Interviewpartner müssen sich auf bohrende, schonungslose Fragen gefasst machen. Die Journalistin nimmt kein Blatt vor den Mund. Das hat sie noch nie getan, auch nicht während der Diktatur, und dafür ist sie in Chile berühmt geworden. Von vielen Chilenen wird der Name „Manola Robles“ mit Ehrfurcht ausgesprochen. Er steht für Mut, für die bedingungslose Verpflichtung zur Wahrheit in einer Zeit, in der es lebensgefährlich war, die Wahrheit auszusprechen. „Ich habe niemals daran gedacht, ins Exil zu gehen“, sagt die Moderatorin von Radio Cooperativa heute. „Ich habe Angst gehabt, mehr als einmal, doch die Angst hat mich nicht gelähmt“. Aufhören, das stand für Manola, die während der Pinochet-Zeit als Reporterin des Senders arbeitete, niemals zur Diskussion. Auch nicht, nachdem die Diktatur ihr eigenes Leben schmerzlich berührt hatte. 1982 fand der militärische Geheimdienst bei einigen verhafteten Personen, die der Kommunistischen Partei nahestanden, die Telefonnummer von Manola Robles. Die junge Journalistin, im siebten Monat schwanger, machte gerade Urlaub am Meer. Zufällig – der ehemalige Staatspräsident Eduardo Frei Padre war gestorben – rief sie beim Sender an und erfuhr dadurch, dass sie vom Geheimdienst gesucht werde. Ihr Chef empfahl ihr, sofort nach Santiago zurückzukehren und auf Sendung zu gehen, so, als wäre nichts geschehen. „Es war furchtbar, sich hinter das Mikrophon zu setzen, in dem Bewusstsein dass sie dich suchten und jeden Moment auftauchen konnten“, erinnert sich Manola. Der psychische Stress, die Angst und die dann folgenden Verhöre waren zuviel: Die schwangere Frau verlor ihr Baby. „Pinochet me debe un hijo“ – „Pinochet schuldet mir ein Kind“, sagt die kleine Frau bitter, aber ohne Hass. Ein Kind, das in keiner Opferstatistik auftaucht. Viele Kollegen wissen es nicht einmal: Nach der Sendung um 14 Uhr geht Manola Robles zu ihrem zweiten Arbeitgeber – der Ärzte-Gewerkschaft. Ihr Mann, ein Wirtschaftswissenschaftler, war 1976, wenige Jahre nach dem Putsch, verhaftet worden. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis wurde bei ihm Kehlkopf-Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Seit ihm der Tumor entfernt wurde, ist er stumm, hat nie wieder Arbeit gefunden. Deswegen hat Manola einen Zweitjob – sie bringt die Familie durch. Das ihre beiden Kinder studieren können und dafür keinen Kredit aufnehmen mußten, darauf ist sie stolz. „Ich wollte nicht, dass sie sich verschulden wie so viele Studenten. Ihre Ausbildung möchte ich ihnen als Erbe mit auf den Weg geben.“ Victoria Eglau Chile „Eine billige journalistische Arbeitskraft, jeden Tag stärker ausgenutzt“ ‘„Ältere Semester“, wie Manola Robles und Arnoldo Carreras García, gibt es bei Radio Cooperativa kaum noch. Fast alle Reporter sind jung, die meisten unter dreißig. Alejandra Córdova zum Beispiel, 25, berichtet für den Sender aus „La Moneda“, dem chilenischen Regierungssitz. Elf Stunden Arbeit sind für sie das durchschnittliche Tagespensum, mindestens jedes zweite Wochenende arbeitet sie auch, selten gibt es dafür freie Tage zum Ausgleich. Rund 1.800 Mark verdient Alejandra im Monat, für eine eigene Wohnung oder wenigstens ein Zimmer reicht das nicht, schließlich muss die junge Journalistin ja auch noch ihren Studienkredit abstottern. Wie viele ihrer Kollegen wohnt sie also noch bei den Eltern. Auch bei anderen chilenischen Medien sind auffallend viele sehr junge Leute beschäftigt, die viel arbeiten und wenig verdienen. Jedes Jahr verlassen Tausende von Absolventen die Journalismus-Studiengänge der zahllosen chilenischen Hochschulen und Privatunis. Das Überangebot junger Arbeitssuchender drückt die Gehälter. Wer einen Job ergattert, schätzt sich glücklich und beklagt sich höchstens hinter vorgehaltener Hand über Arbeitsbedingungen und schlechte Bezahlung. „Ein Desaster“, nennt Manola Robles diese Situation. „Um guten Journalismus zu machen, muß man auch gut zahlen. Du kannst keinen guten Journalismus machen mit ganz jungen Leuten, die noch keine Erfahrung haben und denen Du nichts bezahlst. Das ist fatal. Die Jungen sollen ja arbeiten, aber sie müssen noch lernen. Folgendes passiert in diesem Land: Eine sehr billige journalistische Arbeitskraft, jeden Tag billiger, jeden Tag stärker ausgenutzt, ohne Alternative. Und die politische und wirtschaftliche Rechte, die alles kontrolliert. Welche Ethik kann es denn da geben?“, fragt Manola. „Welche Ethik kannst Du von einem 24jährigen verlangen, dem sie nichts bezahlen? Unglaublich gefährlich ist das, unverantwortlich!“ Die chilenischen Medien stehen überwiegend rechts. Achtzig Prozent des Zeitungsmarktes etwa, teilen sich die beiden der politischen Rechten nahestehenden Konzerne „El Mercurio“ und „Copesa“ untereinander auf. In der Fernsehlandschaft sieht es ähnlich aus. Canal 2, ein junger Sender, der durch seine seriöse und gleichzeitig frische Berichterstattung auffiel, musste im vergangenen November von einem Tag auf den anderen schließen. Im Gegensatz zu ihren Kollegen hatten die Moderatoren des Canal 2 die Dinge beim Namen genannt: Die Jahre zwischen 1973 und 1989 nannten sie „Diktatur“ und nicht schamhaft „Militärregierung“. Und Pinochet hieß bei ihnen „Ex-Diktator“ und nicht nur vorsichtig „Senator auf Lebenszeit“. Seine Unabhängigkeit wurde dem Sender wohl zum Verhängnis – die Werbeeinnahmen blieben aus. Chile Victoria Eglau Manola Robles von Radio Cooperativa macht die Concertación, die seit einem Jahrzehnt regierende Mitte-Links-Koalition, für die fehlende Pluralität auf dem chilenischen Medienmarkt verantwortlich. „Die Politiker der Concertación haben es nicht verstanden, dass eine Vielfalt von Medien notwendig ist, die das gesamte politische Meinungsspektrum dieses Landes widerspiegelt, damit die Demokratie bestehen kann und sich legitimiert. Hier gibt es weniger demokratische Medien als während der Diktatur – kannst Du das verstehen?“ Unverzeihlich sei das, sagt Manola. „Sie haben den chilenischen Journalismus wirtschaftlichen Interessengruppen überlassen“. Plausch mit dem Noch-Präsidenten Jeden Freitag ist „Frei-Tag“ bei Radio Cooperativa. Noch-Staatspräsident Eduardo Frei kommt ins Studio, um die sonntägliche Sendung „Conversando con el presidente“ („Unterhaltung mit dem Präsidenten“) voraufzuzeichnen. Der Plausch mit dem Regierungschef sei etwas ganz Neuartiges im chilenischen Rundfunk, erfahre ich. Für den Christdemokraten Frei ist die Sendung, die bis einige Wochen vor der Präsidentschaftswahl jeden Sonntag ausgestrahlt wird, in erster Linie ein Heimspiel. Radio Cooperativa steht seit 1979 der chilenischen Christdemokratie nahe. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dem Präsidenten hier ein ideales Forum geboten wird, um kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, diese vor breitem Publikum im besten Licht darzustellen. Frei kann zwar nicht wiedergewählt werden, doch werden ihm Ambitionen für die Präsidentschaftswahl im Jahre 2005 nachgesagt. In der heutigen Talk-Sendung geht es zunächst um Chiles größte indianische Minderheit, die Mapuche. Es werden O-Töne von einem Besuch Frei‘s in einer Schule eingespielt, die von Mapuche-Kindern besucht wird. Chile sei ein Land, in dem jeder seine Kultur entfalten könne, darf dann der Präsident erklären, und die Mapuche-Kultur bereichere Chile. Das die Mapuche-Sprache Mapudungun in den Schulen nicht unterrichtet wird, dass viele Indios unzufrieden sind mit ihrer Stellung im chilenischen Staat und dass während Frei‘s Amtszeit, in einigen Gebieten im Süden des Landes, Mapuche zum Aufstand übergegangen sind, erwähnen weder der Präsident noch der Moderator. Unterdessen verfolgt der Tross des Regierungschefs, ein persönlicher Referent und zwei Presseleute, die Aufzeichnung genau, vergleicht immer wieder mit dem Ablaufplan. Gegen Ende der Sendung dürfen Hörer Fragen zu allen möglichen Themen stellen. Die Anrufe sind allerdings aufgenommen und vorselektiert worden. Eine junge Frau will wissen, was der Präsident davon halte, dass in ihrem Ort ein Mädchen von der Schule flog, weil es geheiratet hatte. Der Präsident reagiert mit Empörung und starken Worten, spricht von einer „Schande für Chile“, verwechselt dann aber im Laufe seiner Antwort die Heirat mit einer Schwangerschaft. Frei‘s Presseleute werden nervös: „Das müssen wir schneiden.“ Victoria Eglau Chile Schließlich kommt die Sprache noch auf den in London inhaftierten ExDiktator Pinochet. Frei macht deutlich, dass er nur eine Frage zulassen will, und die Antwort darauf ist nicht neu, er hat sie schon unzählige Male gebetsmühlenartig wiederholt: Pinochet müsse in Chile vor Gericht gestellt werden, nicht im Ausland. Nach der Aufzeichnung verabschiedet sich Chefredakteurin Gema Contreras mit einem Augenzwinkern von dem hohen Gast: „Das nächste Mal reden wir dann aber wirklich über Pinochet...“ Von einem „Desaster“ des chilenischen Journalismus‘ hatte Manola Robles gesprochen. Ist es das, was sie gemeint hat? Präsidentschaftswahl 1999 – für die Concertación ist die Zeit der leichten Siege vorbei Schon von weitem ist die Musik zu hören. Cooler Hip-Hop und mitreißende Schlager dröhnen aus riesigen Lautsprechern, lassen die Zehenspitzen wippen an diesem sonnigen Vormittag in einer Armensiedlung von Santiago. In eine schmale Straße, zwischen niedrigen Häusern, ist eine Menschenmenge gequetscht worden. An langen Tischen wird den Menschen ein Frühstück serviert. Und dann kommt der, der auf der Bühne gleich eine gut inszenierte EinMann-Show bestreiten wird: Joaquín Lavín, rechter Kandidat bei der chilenischen Präsidentschaftswahl 1999. Langsam schiebt sich der noch junge Mann durch die fahnenschwenkende Menge, küsst Frauen und Kinder auf die Wange, lässt sich feiern. Lavín gibt sich gern als Mann aus dem Volk. Nie vergisst er bei Wahlkampfauftritten seine Frau und seine sieben Kinder zu erwähnen. Der populistische Diskurs des Kandidaten ist stets der gleiche: „Los problemas de la gente“, die Probleme der einfachen Leute wolle er anpacken: Überfüllte Arztpraxen, Arbeitslosigkeit und gestiegene Kriminalität. Das er regieren könne, habe er ja bewiesen: Als Bürgermeister von Las Condes, einer der reichsten Kommunen des Landes. Es ist kein Zufall, dass Lavín auf seiner Wahlkampfreise durch Chile vor allem die sozial benachteiligten Viertel besucht. Ein großer Teil der Stimmen der reichen Oberschicht ist ihm sicher, doch die Armen zählen nicht zur klassischen Klientel der Rechten. Aber diesmal werden so viele von ihnen rechts wählen wie noch nie. „Hier sehen Sie Henriqueta Pinto“, ruft Joaquín Lavín in die Menge und zeigt auf eine Frau an seiner Seite. „Henriqueta wartet seit Jahren auf einen Zuschuss für eine Wohnung. Sie spart für diese Wohnung. Dieses Problem haben viele.“ Lavín hält eine bunte Broschüre in die Höhe. „Hier, in meinem Heft mit sechzig konkreten Lösungen, können sie es nachlesen: Keine Familie, die sich anstrengt, wird mehr als drei Jahre auf eine Wohnung warten. Drei Jahre.“ Chile Victoria Eglau Bei vielen Chilenen, die von der Sozialpolitik der seit zehn Jahren regierenden Concertación enttäuscht sind, fallen diese Versprechen auf fruchtbaren Boden. Ich komme mit ein paar Frauen ins Gespräch, frage sie, ob sie für Lavín stimmen werden. „Ich wähle ihn“, sagt eine von ihnen, der ein Vorderzahn fehlt. Und warum? „Porque me gusta“ – „Weil er mir gefällt“, antwortet sie. „Ach was, Du wählst ihn doch nur, weil er Dir ein Frühstück schenkt“, ruft eine andere dazwischen. Und sie? „Ich werde für Lagos stimmen, weil ich will, dass die Demokratie bleibt.“ Das er während der Diktatur Mitarbeiter Pinochets war, erwähnt Joaquín Lavín nie. Auch nicht, dass viele der sozialen Probleme, die er anpacken will, ihre Wurzeln in der Zeit der Militärherrschaft haben. Von Pinochet hält der Kandidat der rechten „Allianz für Chile“ mittlerweile größtmögliche Distanz. Lieber präsentiert sich Lavín als unverbrauchter, unpolitischer „Macher“, der in die Zukunft blickt. Mit seinem Slogan „Viva el cambio“ – „Es lebe der Wechsel“, hat er das ganze Land überzogen. Kaum eine Mauer, die nicht mit dem gelben Spruch auf blauem Grund bepinselt wurde. „Viva el cambio“ steht auf unzähligen Postern und „Viva el cambio“ lautet der Refrain der eingängigen Popsongs. Ein Erfolgsrezept, meint der Politologe Ricardo Israel von der „Universidad de Chile“: „Lavín hat etwas sehr Beeindruckendes getan, das Teil seines Erfolgs ist. Er hat Ricardo Lagos das Konzept des Wechsels weggenommen. Der Begriff des Wechsels war entscheidend für Clinton, für Blair, für Schröder, für de la Rua in Argentinien und für Cardoso in Brasilien. Sich mit dem Wechsel zu idenfizieren, war ein sehr wichtiges Element ihres Wahlkampfes. Und hier hat Lavín es Lagos weggenommen.“ Erst sehr spät merkt Ricardo Lagos, Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses Concertación, dass ihm in Joaquín Lavín ein gefährlicher Herausforderer erwachsen ist. Plötzlich muss er kämpfen. Seitdem sich in den achtziger Jahren Chiles Christdemokraten und Sozialisten, Sozialdemokraten und Radikale zu einer Koalition gegen die Diktatur zusammenschlossen, haben sie alle wichtigen Wahlen gewonnen. Erst hatte die Concertación mit ihrer Kampagne für das „Nein“ zur Diktatur Erfolg – beim Referendum 1988 wählten die Chilenen Pinochet ab. Dann gewann sie die Präsidentschaftswahlen 1989 und 1993 – jeweils mit einem haushohen Vorsprung. 1999 ist alles anders. Wegen diverser Krisen – vor allem der Wirtschaftskrise, die die Arbeitslosigkeit auf mehr als 11 Prozent hat steigen lassen – sind die Popularitätswerte der MitteLinks-Regierung erstmals dramatisch abgesunken. Ricardo Lagos repräsentiert diese Regierung, steht für Kontinuität, doch hat die Kontinuität plötzlich einen negativen Touch bekommen. Davon profitiert der rechte Joaquín Lavín mit seinem Schlagwort des Wechsels. Und Ricardo Lagos hat noch ein anderes Problem: Er ist der erste sozialistische Kandidat der Concertación. Zwar hat er sich bei den koalitionsinternen Vorwahlen deutlich mit siebzig zu drei- Victoria Eglau Chile ßig Prozent der Stimmen gegen den Christdemokraten Andres Zaldivar durchsetzen können. Doch stehen viele Chilenen, auch viele traditionelle Wähler des Mitte-Links-Bündnisses, dem Sozialismus immer noch misstrauisch gegenüber, erinnern sich mit Unbehagen an die Instabilität der Regierung Allende. Santiago, an einem Sonntagnachmittag Ende November. Von einem wild hupenden Autokorso wird Ricardo Lagos zu einem Versammlungsplatz im Stadtteil Pudahuel eskortiert, wo er eine Wahlkampfrede halten wird. „Ricardooooooo“, feuert eine junge Frau, in einem der Schrittempo fahrenden Wagen, den sozialistischen Kandidaten an. Ein Passant schaut durchs heruntergekurbelte Fenster und sagt: „Ich bin Christdemokrat.“ „Na und!“, ereifert sich der Fahrer, „Wir haben doch auch zweimal für Euren Kandidaten gestimmt – für Aylwyn und für Frei.“ Eine Szene, die symptomatisch ist für die aufbrechende Spaltung innerhalb der Concertación, für die Skepsis konservativer Wähler gegenüber Lagos. Bei der Wahl am 12. Dezember gelingt es dann keinem der beiden Spitzenkandidaten, die absolute Mehrheit zu erringen. Der Vorsprung der Concertación gegenüber der „Allianz für Chile“ beträgt hauchdünne 0,5 Prozent. Die Rechte triumphiert, die Mitte-Links-Koalition leckt ihre Wunden. Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte wird es eine „segunda vuelta“, einen zweiten Wahlgang zwischen den beiden stärksten Kandidaten geben. Neu für Chile ist neben der Spannung dieses Wahlkampfes auch sein DuellCharakter, die Zuspitzung auf zwei Kandidaten. Die vier sogenannten „kleinen“ Bewerber für das Präsidentenamt – die Kommunistin Gladys Marín, die Grüne Sara Larraín, der Humanist Tomás Hirsch und der rechte unabhängige Kandidat Arturo Frei Bolívar – erhalten zusammen nur einen Bruchteil der Wählerstimmen. Doch das Ricardo Lagos bei der zweiten Wahlrunde am 16. Januar 2000 schließlich triumphiert, verdankt er einem Teil der kommunistischen Wähler. Das der rechte Kandidat Joaquín Lavín, nachdem seine Niederlage feststeht, ins Hotel Carrera, dem „Hauptquartier“ der Concertación fährt und dem Sieger Lagos die Hand schüttelt, ist ein ungewohnter Anblick für die Chilenen. Die Geste wird als Zeichen der politischen Aussöhnung und der Demokratisierung der Rechten gewertet. Chile wird nun zum zweiten Mal in seiner Geschichte von einem Sozialisten regiert werden. Und Monica und Leo, Karla und Manola, all meine Bekannten, die bei einem Wahlsieg Lavíns das Land verlassen wollten, können zuhause bleiben. Doch das die seit einem Jahrzehnt regierende Concertación irgendwann einmal die Macht abgeben wird, erscheint nach dieser Wahl erstens wahrscheinlicher und zweitens weniger bedrohlich. Chile ist ein gutes Stück weiter auf dem Weg zu einer vollständigen Demokratie. Chile Victoria Eglau Keiner spricht von Pinochet Für die ausländische Beobachterin ist es auffällig: Der in London inhaftierte Ex-Diktator Augusto Pinochet spielt im chilenischen Wahlkampf so gut wie keine Rolle. Vor allem die beiden Spitzenkandidaten vermeiden es, den Senator auf Lebenszeit auch nur zu erwähnen. Das sei logisch, meint der Politikwissenschaftler Ricardo Israel: „Keine Debatte wird die Meinung eines Chilenen zu dem, was Pinochet getan hat, verändern. Er ist entweder dafür oder dagegen. Also kann es keinem der Kandidaten ins Konzept passen, das Thema anzuschneiden, denn es ist unmöglich, damit Stimmen zu gewinnen. Er kann höchstens die eigenen Parteigänger überzeugen.“ Pinochet, sagt Israel im November, habe durch seine lange Abwesenheit aufgehört, das Zentrum der chilenischen Politik zu sein. Für den Chefredakteur der linken Zeitschrift „Punto Final“, Manuel Cabieses, ist Pinochet bereits „politisch tot“, er sei eine zu schwere Last für alle gesellschaftlichen Gruppen: „Im Grunde glaube ich, dass es für alle politischen und wirtschaftlichen Sektoren, selbst für die militärischen, eine enorme Erleichterung ist, dass sich Pinochet seit mehr als einem Jahr im Ausland befindet – auch wenn sie das so deutlich nicht sagen würden, und manche von ihnen Pinochet sogar verteidigen. Meiner Meinung nach fänden es alle besser, wenn Pinochet komplett aus der chilenischen Wirklichkeit verschwinden würde.“ Der rechte Kandidat Lavín habe durch die Abwesenheit Pinochets sogar eindeutig profitiert, glaubt der Politologe Israel: „Lavín hat die Gelegenheit genutzt und den General (Pinochet) nicht erwähnt, hat stattdessen von den Problemen geredet, die heutzutage wichtig für die Leute sind, wie Gesundheit und Bildung. Und deswegen hat er im Wahlkampf Erfolg gehabt. Wenn Pinochet in Chile wäre, wäre es Lavín wahrscheinlich nicht so gut ergangen wie das jetzt der Fall ist, denn alle würden nur darüber reden, was der General sagt oder nicht sagt.“ Ein Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft? – Besuch auf dem „cementerio general“ Normalerweise preisen die fliegenden Händler in Santiagos Bussen Eis am Stiel und Kaugummi, Kniestrümpfe und Krimskrams für den Haushalt an. Doch heute, an Allerheiligen, haben sie ihre Ware dem Tag angepasst und verkaufen Blumensträußchen, das Stück zu zwei Mark. Sie finden reißenden Absatz, denn die halbe Hauptstadt ist an diesem strahlend-schönen 1. November unterwegs zu ihren verstorbenen Angehörigen. Ich selbst fahre mit einem überfüllten Bus zum „cementerio general“, dem Zentralfriedhof von Santiago. Was als kurzer Besuch geplant ist, wird zu einem tagesfüllenden, eindrucksvollen Erlebnis. Victoria Eglau Chile Der „cementerio general“ hat zwei Eingänge. Ich komme von der Avenida Recoleta und muss mich erst an unzähligen Ständen mit Blumen, Getränken und Snacks vorbeischieben, bevor ich inmitten eines Menschenknäuels auf den Friedhof gelange. Dieser Zugang scheint mir der „populärere“ zu sein. Von dort ist es nicht weit zum Mahnmal für die Opfer der Pinochet-Diktatur. Eine breite, hohe Wand aus hellem Stein, in welche die Namen all der Ermordeten und Verschwundenen eingemeißelt wurden, mit dem Datum ihrer Verhaftung und ihrem Alter. Knapp 3000 Namen sind es. Vor dem Monument befindet sich eine Art kleiner Graben, zwischen Steinen liegen frische Blumen und Fotos von „detenidos desaparecidos“, von verschwundenen Häftlingen. Ich beobachte die Menschen, die vor diesem riesigen, symbolischen Grabstein stehen, und kann die Tränen kaum zurückhalten. Ein älteres Ehepaar wendet sich nach einer Weile des starren Dastehens ab, resigniert und in Trauer vereint – so kommt es mir vor – und geht gebückt und ohne sich noch einmal umzuschauen davon. Natürlich weiß ich gar nicht, ob der Name ihres Sohnes oder ihrer Tochter auf der weißen Wand steht, aber ich stelle es mir so vor. Eine Frau hält mahnend ein Plakat hoch, mit dem Schwarz-Weiß-Foto eines jungen Mannes: „Wann werde ich endlich wissen, wo ich ihm eine Blume hinlegen kann“, steht darauf. Als ich ein paar Stunden später noch einmal wiederkomme, ist sie immer noch da. Ein Typ, der mich schon seit längerem von der Seite angeschaut hat, spricht mich an. Was ich von all dem halten würde, will er wissen. Ich erkläre ihm, dass mich dieser Ort erschüttert und gebe die Frage an ihn zurück. Er antwortet ein wenig verschwommen, rückt schließlich mit der Sprache heraus: Die Angehörigen würden schon wissen, warum die Namen ihrer Kinder dort auf der Wand stehen. Es klingt wie eine Rechtfertigung des Mordens. Der junge Mann bemerkt meinen verwunderten Blick und fügt hinzu: „Yo soy pinochetista“, „Ich bin Anhänger Pinochets“. Das Grab von Victor Jara muss man kennen, ansonsten hilft nur Durchfragen. Die Asche des 1973, kurz nach dem Putsch, brutal ermordeten, populären Volkssängers ist versteckt in einer langen, hohen Wand kleiner Urnengräber. Von diesen „Urnen-Regalen“ gibt es unzählige auf dem Zentralfriedhof. Vor der quadratischen Plakette, hinter der die Urne steht, befinden sich so viele frische Blumen, dass der Name nicht zu erkennen ist. Nur ein Baum in der Nähe, in den Namen und Sprüche eingeritzt sind, läßt erahnen, dass der gefolterte und gequälte Victor hier seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Vor dem kleinen Grab, das sich etwa drei Meter über dem Boden befindet, stehen einige Menschen. Um dort eine Blume einzustecken, muß man eine etwas wacklige Leiter besteigen. Ein Mann um die vierzig hält die Leiter fest, wenn wieder jemand hinaufklettert, oder übernimmt es selbst, die Blume zu befestigen. Zwischendurch macht er ironische Bemerkungen. Ich frage ihn, ob er Victor Jara persönlich gekannt hat. Nein, sagt Chile Victoria Eglau er, persönlich nicht, aber er sei doch ein „companero“ gewesen, ein Genosse. Jara war Mitglied der Kommunistischen Partei. Chiles erster sozialistischer Präsident liegt in einem modern gestalteten Mausoleum begraben. Ein paar hochaufragende Stehlen aus hellem Stein, zwei Treppen, die zum Eingang der Gruft Salvador Allendes herabführen. Dort treffe ich einen mageren, älteren Herrn mit schütterem Haar und schlechen Zähnen, der sehr korrekt gekleidet ist. Er trägt einen Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat, Krawatte, Trenchcoat und Schal. In seinen Armen hält er so viele frische, bunte Blumen, dass er dahinter fast verschwindet. Aus dem Garten, erklärt er. Zu Ehren von Allende, seines Idols seit Jugendtagen, hat er sie hierher geschleppt, zusammen mit einer alten Kamera. Der Mann, der Ernesto Orellana heißt, bittet mich, ihn mit den Blumen zu fotografieren: Oben, auf dem Plateau über der Gruft und unten vor dem Eingang. Zum Andenken. Regelmäßig erweist Senor Orellana „seinem“ Präsidenten, der sich am 11. September 1973 im von den Putschisten bombardierten Regierungspalast „La Moneda“ das Leben nahm, die Ehre. Am Jahrestag des Putsches sei er auch hier gewesen, erzählt er. Da seien noch viel mehr Menschen gekommen, und ein riesiges Polizeiaufgebot habe die Lage unter Kontrolle gehalten. „Ich bin Sozialist“, sagt Orellana. Nach dem Putsch sei er ein halbes Jahr im Gefängnis gewesen. Er wirkt verbittert, älter, als er wahrscheinlich ist, ein wenig verwirrt. Er redet mit lauter Stimme von der Vergangenheit. Ein paar Besucher hören interessiert und voller Anteilnahme zu, andere wenden sich ab. Einer, der auf der Empore steht, fängt an, ihn von oben zu provozieren. Der kleine Mann lässt sich auf die politische Diskussion ein, ereifert sich, regt sich auf. Er tut mir leid. Vom Allende-Grab ist es nicht mehr weit zu dem wunderschönen, parkähnlichen Teil des Zentralfriedhofs, den man von der Avenida de la Paz aus betritt. Inmitten hoher Bäume befinden sich hier die Mausoleen der einflussreichen, chilenischen Familien, von Präsidenten und Industriellen. Prunkvolle steinerne Gebäude, so groß wie die Häuser der Lebenden. Dazwischen der vergleichsweise bescheidene kleine Grabstein von Orlando Letelier, dem in Washington D.C. ermordeten Außenminister der Regierung Allende. Zuletzt besuche ich den sogenannten „Patio 29“. Auf einer Wiese mit gelben Blumen lange Reihen von identischen, rostigen Eisenkreuzen, einige mit der Aufschrift N.N. Zwischen den Gräbern Wege, die zum Teil völlig zugewuchert sind. Wenige Besucher verirren sich zu diesem Teil des Zentralfriedhofs, auf dem nach 1973 Opfer der Diktatur anonym verscharrt wurden. Von einem Friedhofswärter erfahre ich, dass die Leichen der Opfer inzwischen identifiziert und umgebettet wurden. Auf dem Weg zum Ausgang komme ich an den dicht an dicht liegenden Gräbern der ganz normalen Leute vorbei. Es ist ein schönes, buntes Bild: Victoria Eglau Chile Familien drängen sich auf den schmalen Wegen, bewaffnet mit Schaufeln, Vasen und Blumenerde bepflanzen sie liebevoll die Beete. Die schlichten weißen Eisenkreuze sind umgeben von einem herrlichen Blumenmeer, das in allen Farben des Frühlings leuchtet. Es herrscht eine Atmosphäre der Geschäftigkeit, die nicht hektisch wirkt. Nach getaner Arbeit setzen sich manche einen Moment lang an den Rand der Gräber oder halten einen Plausch mit den Nachbarn. Es scheint mir, als habe ich auf dem „cementerio general“ so etwas wie ein Spiegelbild der chilenischen Gesellschaft entdeckt. Dieser Friedhof ist mehr als nur eine Ruhestätte der Toten. Er ist ein Ort der Vergangenheit und der Gegenwart, des Grauens und der Schönheit, der Opfer und der Täter und der Unbeteiligten, der Rechten und Linken, der Politischen und Unpolitischen, der verzweifelten Trauer und der stillen Andacht, der Reichen und der Armen und vor allem ein Ort des Todes und des Lebens. Als die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden – die Opfer, zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur Pedro Matta: Gegen das Vergessen Der Taxifahrer kennt den „Parque de la Paz“ nicht. Mit Hilfe der Adresse und des Stadtplans finden wir das Ziel gemeinsam. Der Friedenspark im Santiagoer Stadtteil Penalolen ist auf den ersten Blick ein idyllischer Ort. Gepflegte Rasenflächen, schattenspendende Bäume und ein Rosengarten laden zum Spazierengehen ein. Die Andenkordillere mit ihren schneebedeckten Gipfeln ist von hier aus besonders gut zu sehen. In dem kleinen Park ist es still, nur der leise Regen der Rasensprengeranlage ist zu hören, und in der Ferne rauscht der Verkehr. Das sich hier von 1974 bis 1978 eines der grausamsten Folterzentren der Pinochet-Diktatur befand, die berüchtigte Villa Grimaldi, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Eine große Tafel aus grauem Stein listet die Namen derer auf, die hier gepeinigt wurden. Insgesamt etwa fünftausend Menschen wurden in der Villa Grimaldi festgehalten, fast alle von ihnen gefoltert. Mindestens 240 Häftlinge starben oder verschwanden danach. Die Militärs selbst rissen das Haus schließlich ab, um die Verbrechen, die dort stattgefunden hatten, zu vertuschen. Ich bin mit Pedro Matta verabredet. Pedro wurde im Mai 1975 in die Villa Grimaldi verschleppt und dort zwei Wochen gefoltert. Er studierte damals Jura an der Universidad de Chile, war Mitglied der Sozialistischen Partei und aktiv in der Studentenpolitik. Nach einer Odysee durch verschiedene Lager und Gefängnisse wurde Pedro Matta im Juni 1976 freigelassen und floh in die USA. Erst 1991 kehrte er aus dem Exil nach Chile zurück. Die Geschichte der Chile Victoria Eglau Villa Grimaldi hat er seitdem Tag für Tag rekonstruiert. Durch unzählige Gespräche mit Opfern, Ex-Agenten des damaligen Geheimdienstes DINA und ehemaligen Kollaborateuren, auch durch die Auswertung von Gerichtsaussagen kennt er jedes Detail der fast vier Jahre währenden Barbarei, die diesem Ort seine traurige Berühmtheit verschafft hat. „Hier kamen die Gefangenen an“. Pedro Matta steht an dem Eisentor, durch welches damals die Kleintransporter der DINA zur Villa Grimaldi rollten. Drei Agenten hätten in der Regel das Opfer in Schach gehalten, ihm die Augen mit Tesafilm zugeklebt. „Nachdem die Person aus dem Wagen gestoßen worden war, wurde sie von acht bis zehn Leuten umringt und geschlagen und getreten, bis sie halb bewusstlos war“, so der hochgewachsene Mann weiter. „Ein Standard-System“. Nachdem in den ersten Monaten in Chile „experimentell“ gefoltert worden sei, hätten sich die Methoden Mitte 1974 „systematisiert“, erzählt Pedro Matta. Die Villa Grimaldi sei ein Ort der systematischen Folter gewesen. Wir gehen über den Rasen. Pedro zeigt die Grundrisse von Kammern, in denen Menschen stundenlang Elektroschocks ausgesetzt wurden. Er führt mich zu der Stelle, an der sich die Opfer von der Misshandlung „erholen“ durften. „Gefoltert wurde meist nur einmal am Tag“, sagt Pedro. Die DINA-Agenten hätten vermeiden wollen, dass Gefangene starben, bevor sie die erhoffte Information preisgegeben hatten. Wenn ein Häftling die Erwartungen nicht erfüllte und nicht „auspackte“, wurde er mit weiterer Folter bestraft. Pedro Matta schildert die perversen Quälereien in einem betont sachlichen Tonfall. Zwischendurch muss er sich immer wieder räuspern. Er erzählt, wie die Köpfe der Menschen in eine stinkende Brühe aus fauligem Wasser, Urin und Exkrementen getaucht wurden, bis sie keine Luft mehr bekamen. „Feuchtes U-Boot“ hätten die Folterer diese Methode genannt. Beim „trockenen U-Boot“ wurde dem Opfer eine Kapuze übergestülpt, die am Hals zugeschnürt wurde. Sie wurde erst wieder abgenommen, wenn die Person kurz vor dem Ersticken war. Der unvorstellbare Hass und die Menschenverachtung der DINA-Agenten wird an einer Geschichte Pedros besonders deutlich. Ein Führungsmitglied der linken Partei MIR war 1975 in die Villa Grimaldi verschleppt worden. Für den Mann hatten sich die Folterknechte eine besondere Quälerei ausgedacht: Er wurde in eine niedrige Holzkiste gesteckt. Wenn man ihn dann gelegentlich herauskommen ließ, konnte er sich nicht mehr aufrichten und musste auf allen Vieren laufen. Von den Wärtern wurde er deshalb als „kleiner Köter“ verhöhnt. Im Januar 1976 verschwand der Gefangene spurlos und tauchte nie wieder auf. Von einem Ex-Agenten der DINA erfuhr Pedro Matta bei seinen Recherchen, dass dem MIR-Politiker damals ein Tollwut-Virus injiziert wurde, an dem er dann vermutlich gestorben ist. Victoria Eglau Chile Zwanzig Prozent der Häftlinge in der Villa Grimaldi waren Frauen. Sie seien meist jung gewesen, viele Studentinnen, sagt Pedro. Man habe sie genauso grausam behandelt wie die Männer. Neben Folter und Schlägen hätten sie außerdem die Vergewaltigungen der Agenten und Wärter über sich ergehen lassen müssen. Eigentlich wollte Pedro Matta seinen Lebensabend in den USA verbringen. 1991, zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur, kam er eigentlich nur nach Chile, um im Prozess um das Verschwinden eines Freundes auszusagen. „Als ich hier war und die Versprechen von Gerechtigkeit und Wahrheit hörte, entschied ich, dass ich vielleicht etwas dazu beizutragen hätte. Und ich beschloss, zurückzukommen.“ Ich frage Pedro, ob er sich von dem, was er als junger Mann in der Villa Grimaldi erlebte, jemals erholen konnte. Nach einem kurzen Zögern antwortet er: „Eine Sache, die ich mir vorgenommen hatte, war, nicht zu vergessen. Und das bedeutet auch einen gewissen Grad von psychischer Verletzung“. Pedro räuspert sich. „Eine der einfachsten Möglichkeiten, sich von dem Erlebten zu erholen, ist ja gerade das Vergessen. Also ist der Vorsatz, nicht zu vergessen, aus psychologischer Sicht ein destabilisierendes und anormales Element.“ Pedro Matta hat den schmerzhaften Weg gewählt: Damit die zukünftigen Generationen Chiles erfahren werden, was in der Villa Grimaldi geschah, damit es eine Villa Grimaldi nie wieder geben wird. Mario Sottolicchio: Mitleid für die Täter Mario Sottolicchio ist Mitglied in Chiles sozialdemokratischer Partei PPD, will sich bei den nächsten Kommunalwahlen für das Bürgermeisteramt in seiner Stadt San Felipe bewerben. Vor kurzem schrieb er eine „carta abierta“, einen offenen Brief, an den Oberbefehlshaber der chilenischen Marine. Dieser hatte in einem Fernsehinterview erklärt, während der Diktatur habe es in der Marine keine Folter gegeben. Mario Sottolicchio weiß es besser: Er selbst wurde zwischen 1973 und 1976 zweimal, jeweils zehn Tage lang gefoltert: In Stützpunkten der Seestreitkräfte. Danach ging er für 13 Jahre ins Exil in die Bundesrepublik. Mario wurde damals zusammen mit einem seiner Brüder gefoltert – gleichzeitig und im gleichen Raum. Bis heute können die beiden nicht darüber sprechen, was sie gemeinsam erlebt haben. Eine frühere Freundin Marios hat ihm erst vor kurzem, nach mehr als zwanzig Jahren, gestanden, dass auch sie während der Diktatur Opfer von Folter war. Nur durch Zufall wurde er darauf aufmerksam, erst nach langem Drängen habe sie unter Tränen über ihre schreckliche Erfahrung sprechen können, erzählt Mario. Er könne die Folterer nicht hassen, sagt der bekennende Christ, er empfinde eher Mitleid für sie. Er habe zwar gelitten, doch habe er sich immer daran fest- Chile Victoria Eglau halten können, dass er es für seine Ideale, seine Träume tat. Die Folterer von damals aber müßten damit leben, aus purem Haß gehandelt und in den meisten Fällen blind Befehle befolgt zu haben. Mario erzählt die Geschichte eines Mannes, der im vergangenen Jahr in die von ihm geleitete „Beratungsstelle für Familien mit Problemen“ in San Felipe kam. Dieser Mann war Militär, er hatte im Alter von siebzehn Jahren den Befehl ausgeführt, einen der Linkspartei MAPU nahestehenden Priester zu erschießen. Wenige Tage nach seinem Besuch in der Beratungsstelle brachte der Mann seine Frau und deren Tochter um und nahm sich dann selbst das Leben. Vielleicht habe er seine eigene Vergangenheit nicht ertragen können, vermutet Mario Sottolicchio. Leopoldo Luna: Physisch zerstört, nicht psychisch Leo Luna war während der Regierung Salvador Allendes Student und Mitglied der christlichen Linkspartei MAPU. Vor dem Militärputsch 1973 war er maßgeblich an einer Spionage-Aktion beteiligt, bei der es darum ging, mit Hilfe von Kontaktpersonen Informationen über die Arbeit, Umtriebe und politischen Einstellungen der Marinesoldaten in Valparaíso zu beschaffen. Die Rache kam unmittelbar nach dem Putsch: Leo wurde festgenommen und gefoltert, ein halbes Jahr lang, bis seine Peiniger die Hoffnung aufgaben, etwas aus ihm herauszuholen. Sie zerstörten Leos Rücken. Erst nach insgesamt fünfjähriger Haft kam er frei, wurde operiert und dann in die Bundesrepublik Deutschland ausgeflogen. Physisch hätten sie ihn zerstört, sagt der heute Fünfzigjährige, doch psychisch nicht. Das nimmt man diesem positiv wirkenden Menschen ab. Doch ist er in Chile nicht wieder richtig auf die Beine gekommen. Leo hadert mit diesem Staat, in den er Mitte der neunziger Jahre zurückkehrte. Eine Existenzgründung scheiterte, er hat keinen festen Job, und die Ehe mit einer Deutschen ist zerbrochen. Wie auch die Ehe von Mario Sottolicchio. Den Mann, der seinen Folterern die Befehle gab, wird Leo nie vergessen. Erst vor kurzem ist er zufällig auf seine Adresse gestoßen. Was passieren würde, wenn er ihm auf der Straße begegnen würde? Leo lächelt. Vor allem würde sich wohl der andere bei seinem Anblick vor Angst in die Hosen machen, meint er dann. Dr. Elena Gomez: Die „Verkapselung“ des Traumas „Es gibt eine Art von Verkapselung des Traumas. Und den bewußten Wunsch, die traumatische Situation zu vergessen. Das sie quasi von einer Membran umgeben wird, die den Zugang verhindert. Doch was passiert? Es ist bekannt, dass tief-traumatische Erfahrungen, die nicht verarbeitet werden, Auswirkungen haben. Also zeigen sich diese Auswirkungen später. Etwa in Schwierigkeiten mit dem Partner, in einer sehr schlechten Beziehung zu den Kindern.... In diesem Victoria Eglau Chile Moment suchen die Betroffenen Hilfe.“ Dr. Elena Gómez ist Psychaterin. Sie arbeitet bei ILAS, dem „Lateinamerikanischen Institut für Psychische Gesundheit und Menschenrechte“ in Santiago. Die private Organisation behandelt traumatisierte Opfer der Pinochet-Diktatur, vor allem Menschen, die gefoltert wurden. Immerhin fünfzig Patienten waren 1999, im zehnten Jahr der Rückkehr zur Demokratie, bei ILAS in Behandlung. Die meisten von ihnen haben wenig Geld und können sich eine Behandlung in einer privaten psychotherapeutischen Praxis nicht leisten. Die Therapiestunden bei ILAS sind umsonst, höchstens ein kleiner Solidarbeitrag wird erhoben. Im letzten Jahr stand das Institut plötzlich selbst vor dem finanziellen Aus – die Ärzte und Therapeuten behandelten kostenlos weiter. ILAS bekommt keinen Pfennig vom chilenischen Staat, es finanziert sich über Zuschüsse ausländischer Organisationen. In Chile gab es niemals eine Entschädigung der Opfer von politischer Haft und Folter und der Angehörigen der Ermordeten und Verschwundenen. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie nahm sich der Staat nur in sehr begrenztem Umfang der Betreuung derer an, die unter der Diktatur gelitten hatten. Unter der ersten demokratischen Regierung Aylwyn wurde zwar das Programm PRICE ins Leben gerufen. Dr. Elena Gómez selbst arbeitete drei Jahre lang im Gesundheitsministerium, war dort an der Ausbildung von sieben interdisziplinären Teams beteiligt, die im ganzen Land zur Behandlung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wurden. Doch „verwässerte“ PRICE nach einiger Zeit, weil sich das Programm plötzlich auch um allgemeine, soziale Probleme von Familien kümmern sollte. „Die chilenische Gesellschaft hat das Thema der Menschenrechtsverletzungen unserer Auffassung nach schlecht behandelt“, sagt Dr. Elena Gómez, eine schmale Frau Ende vierzig mit ungestümem Wuschelhaar und einem einnehmenden Lachen. Es gebe nur eine partielle, vage soziale Anerkennung der Folter, und das, obwohl bekannt sei, wieviele Menschen gefoltert worden seien, an welchen Orten und auf welche Weise. „Die Politiker der Concertación haben zwar anerkannt, dass sich die Verletzungen der Menschenrechte nicht auf das Ermorden und Verschwindenlassen von Menschen beschränken, sondern dass auch Folter und Exil dazugehören. Aber um den Opfern wirklich Gerechtigkeit und Genugtuung widerfahren zu lassen, hätte man die Täter konsequent verfolgen müssen, und das ist nicht geschehen.“ Die Möglichkeiten der Therapeuten sieht Dr. Elena Gómez als begrenzt. Die Bewältigung des Traumas hänge doch ganz stark mit äußeren gesellschaftlichen Einflüssen zusammen, etwa damit, mit welcher Konsequenz Menschenrechtsverletzungen verfolgt würden. Manchmal, sagt die Psychaterin, würden Traumata auch erst durch externe Ereignisse „entkapselt“. „Der Tag, an dem Pinochet stirbt, wird ein ganz wichtiger Tag sein. Sicherlich werden viele Patienten noch einmal zu uns in die Therapie kommen“. Chile Victoria Eglau Viviana Díaz: Für Wahrheit und Gerechtigkeit „Dónde están?“ – „Wo sind sie?“, steht in großen, schwarzen Buchstaben auf einem Plakat. „Dónde están?“ ist auch in den silbernen Anhänger eingraviert, der an einer langen Kette um den Hals von Viviana Díaz baumelt. „Dies sind die Gesichter der verschwundenen Häftlinge. Hier sieht man Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die während der Militärdiktatur von den Geheimdiensten verschleppt wurden, und die wir bis heute nicht gefunden haben“. Viviana Díaz steht im Innenhof des Büros der AFDD, der „Vereinigung der Angehörigen verschwundener Häftlinge“ und zeigt auf eine lange Reihe von Schwarz-WeißBildern an der Wand. Mehr als tausend Menschen, die während der Diktatur spurlos verschwanden, werden in Chile heute noch vermisst. Einer davon ist der Vater von Viviana Díaz, der im Mai 1976 vom Geheimdienst DINA entführt und vermutlich in der Villa Grimaldi gefoltert wurde, und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Seitdem kämpft Viviana um die Wahrheit. „Mit der Zeit wurde mir klar, dass das, was ich erlebte, alle Angehörigen von Verschleppten erlebten. Da beschloß ich, alles beiseite zu lassen, mein ganzes persönliches Leben, um mich nur noch der Suche nach den Verschwundenen zu widmen. Und ich habe es nicht bereut“. Nach dem Tod der langjährigen Vorsitzenden Sola Sierra im vergangenen Jahr übernahm Viviana Díaz die Leitung der AFDD. Die etwa fünfzigjährige, einfach und natürlich wirkende Frau, deren dunkles, nach hinten gebundenes Haar mit grauen Strähnen durchzogen ist, strahlt Ruhe und Güte aus. Wenn sie spricht, tut sie es auf bescheidene und gleichzeitig entschlossene Weise. „Wo wir auch hingingen, sagte man uns, dass unsere Angehörigen nicht festgenommen worden waren, dass es gegen sie keinen Haftbefehl gab, dass wir logen, dass wir uns das alles nur ausdachten“, erinnert sich Viviana an die Zeit, als sie die Verschwundenen in Polizeikommissariaten, Gefängnissen und Lagern suchten. „Und lange Zeit waren wir die angeblichen Angehörigen der vermeintlich verschwundenen Häftlinge. Denn in Chile wurde jahrelang systematisch die Existenz dieses Problems geleugnet. Also dauerte es sehr, sehr lange, bis wir unseren Landsleuten beweisen konnten, dass das, was wir erlebten, Wirklichkeit war.“ Mit Demonstrationen und Hungerstreiks machte die AFDD unermüdlich auf das Problem der Verschwundenen aufmerksam. Die während der demokratischen Regierung von Patricio Aylwyn eingesetzte „Nationale Wahrheits- und Versöhnungskommission“ dokumentierte zwar im sogenannten „Rettig-Bericht“ die Verbrechen der Diktatur. „Doch die Frage nach dem Verbleib der Verschwundenen wurde nicht beantwortet“, sagt Viviana Díaz. Und auch die Namen der Täter tauchten nicht auf. Im Hof der AFDD hängt bei meinem Besuch im November 1999 eine Art Kalender. Er zählt die Tage des Arrestes von Ex-Diktator Pinochet in London. Das der General mittlerweile nach Chile zurückgekehrt ist, war für die Ange- Victoria Eglau Chile hörigen-Organisation eine große Enttäuschung. Viviana Díaz glaubt nicht daran, dass es möglich ist, Pinochet in Chile vor Gericht zu stellen (Stand November 1999). Auf die Arbeit der AFDD hatte Pinochets lange Abwesenheit eine positive Auswirkung: „Vor der Verhaftung von Pinochet war es in unserem Land sehr schwierig, von den Verletzungen der Menschenrechte zu sprechen. Wir wurden zum Beispiel nicht von der chilenischen Presse interviewt. Erst als Pinochet verhaftet wurde und die ausländischen Journalisten uns interviewten, hat auch das chilenische Fernsehen sich stärker für uns interessiert. Wir hatten vorher niemals die Möglichkeit gehabt, mit unserem Anliegen ständig im Fernsehen zu erscheinen.“ Ihre Organisation fühle sich heute nicht mehr allein, betont die AFDD-Vorsitzende. „Wir fühlen, dass es Unterstützung gibt. Zum Beispiel kam vor kurzem eine Delegation der politischen Jugendorganisationen zu uns. Von der christdemokratischen bis zur kommunistischen Jugend. Sie haben uns gesagt, dass wir sie alle zusammentrommeln können, wenn versucht werde, mit einem Gesetz einen Schlussstrich unter die Verbrechen der Diktatur zu ziehen. Sie würden sich mit uns dagegen mobilisieren. Und das ist wichtig für uns“. Und doch gibt es auch Rückschläge: Wegen Drohungen ultrarechter Gruppen steht Viviana Díaz seit einiger Zeit unter Polizeischutz. Schließlich erzählt sie noch davon, wie schmerzhaft es war, zu begreifen, dass die Verschwundenen nicht mehr am Leben sind. Trotz allem wollten sie weiterkämpfen „bis zum letzten Tag unseres Lebens“, sagt sie. Nicht nur für die volle Wahrheit, sondern auch dafür, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. „Keiner wird uns das Leben unserer Angehörigen zurückgeben, aber wir wollen Gerechtigkeit“. Nelson Caucoto: Wenn sich Türen plötzlich öffnen Nelson Caucoto sitzt in seinem winzigen Büro unter der an die Wand gehefteten Universellen Erklärung der Menschenrechte. Sein Wartezimmer ist voll, und ich bin froh, dass er eine halbe Stunde Zeit für mich gefunden hat. Nelson Caucoto ist einer der bekanntesten chilenischen Anwälte. Seit 1976 setzt er sich für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein. Nelson Caucoto arbeitete während der Diktatur unter dem Dach der Katholischen Kirche; dadurch habe er sich niemals wirklich gefährdet gefühlt, erinnert er sich. Über seine damalige Arbeit sagt der Anwalt heute: „Es bedeutete, gegen den Strom zu schwimmen, an Türen zu klopfen, die sich niemals öffneten, eine Gerechtigkeit anzustreben, die niemals waltete“. Erfolgserlebnisse waren selten, unzählige Prozesse wurden geschlossen – das Amnestiegesetz, das Pinochet 1978 erließ, machte es möglich. „Es gab eine Zeit, da war ich der einzige Anwalt, der in den Prozessen um das Verschwinden von Personen auftrat. Ich hatte alle diese Prozesse. Und es war ein immenser Schmerz, dass trotz meiner ganzen Bemühungen, vor den Militärge132 Chile Victoria Eglau richten, dem Kriegsgerichtshof und vor dem Obersten Gerichtshof, es kein Gehör für das gab, was ich sagte. Nie gaben sie mir recht, niemals.“ In den neunziger Jahren beginnt in der chilenischen Justiz ein langsamer Prozess des Wandels. Es gibt personelle Veränderungen, und es herrschen andere Rahmenbedingungen. Nelson Caucoto: „Die Richter merken heute, dass sie mehr Freiheit haben, mehr Autonomie. Sie werden nicht mehr von der Macht, der Diktatur unter Druck gesetzt“. Im Januar 1998 wird die erste Klage gegen Pinochet eingereicht. Der Anwalt gibt zu, dass er damals nicht an einen Erfolg glaubte: „Obwohl wir einen Prozess des Übergangs zur Demokratie erreicht hatten, hatten wir immer noch das Gefühl, dass Pinochet eine absolut unberührbare Person sei, dass keine juristische Aktion gegen ihn jemals Früchte tragen würde. Und das hat sich von heute auf morgen geändert – unsere Wahrnehmung hat sich geändert“. Heute liegen dem chilenischen Sonderrichter Juan Guzmán Tapia bereits 75 Klagen gegen den Ex-Diktator vor. Und wenn es gelingt, Pinochet sein Amt als Senator auf Lebenszeit und damit die Immunität zu entziehen, könnte er sogar vor Gericht gestellt werden. Nelson Caucoto spricht von einem neuen Klima, dass in der Justiz, in der Gesellschaft und beim Thema Menschenrechte herrsche. Die Verhaftung Pinochets in Europa sei dafür zweifellos von Bedeutung gewesen. Nach seinem größten Erfolgserlebnis gefragt, wehrt Caucoto erst ab: Das könne er nicht sagen. Doch dann sprudelt es aus ihm heraus: Ein Erfolg sei es doch, dass 19 Personen wegen der Mordaktion „Operación Albania“ hinter Gitter gebracht wurden, und dass die Verantwortlichen des Mordes an dem Journalisten José Carasco im Gefängnis sitzen, und dass Ex-DINA-Chef Manuel Contreras wegen des Mordes an David Silbermann, dem damaligen Chef der Kupfermine Chuquiquamata, vor Gericht gestellt wurde. Und dann sei es doch als großer Fortschritt zu werten, dass die Justiz seit einiger Zeit mit dem Tatbestand des „secuestro permanente“, der „andauernden Entführung“, das Amnestiegesetz umgehe. Von Bedeutung ist dieser Tatbestand vor allem für die Fälle der Verschwundenen. Prozesse um das Verschwinden von Personen hatten in der Vergangenheit kaum eine Chance, weil diese Verbrechen von der für die Jahre 1973 bis 1978 geltenden Amnestie abgedeckt wurden. Der Trick ist nun, das Verschwindenlassen einer Person als „andauernde Entführung“ zu interpretieren, denn dieser Tatbestand kommt im Amnestiegesetz nicht vor. Noch unklar ist hingegen, wie den Angehörigen der Opfer politischer Morde Gerechtigkeit verschafft werden könnte. Nelson Caucoto ist von der Witwe des 1973 gefolterten und ermordeten Sängers Victor Jara damit beauftragt worden, ihre Klage vor der chilenischen Justiz zu vertreten. „Richter Guzmán hat noch keinen Entschluss gefasst, wie er bei den Fällen der Ermordeten vorgehen will“, sagt der Anwalt. Für ihn steht allerdings fest, dass im Prozess gegen die Mörder Jaras die Genfer Menschenrechtskonvention Anwendung finden muß: „Victor Victoria Eglau Chile Jara war Kriegsgefangener. Und einen Kriegsgefangenen darf man nicht töten, schon gar nicht so, wie man Jara getötet hat.“ Nachtrag Bevor ich mich mit Pedro Matta im „Parque de la Paz“ getroffen habe, hatte ich mir in einem kleinen Lebensmittelladen neben dem Park etwas zu trinken gekauft. Warum ich nicht lieber auf dem Santa Lucía-Hügel spazierengehen würde, oder in einem anderen Park, fragt mich die Verkäuferin. „Weil mich dieser Ort interessiert“, antworte ich. Sie habe den Friedenspark noch nie betreten, sagt die Frau, sie sei apolitisch. Als ich sie frage, ob sie hier schon gearbeitet habe, als nebenan noch die Villa Grimaldi stand, will sie erst bejahen, sagt dann schnell „Nein“. Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: „Ihr in Deutschland habt ja auch nichts getan, bei Euch sind doch schreckliche Dinge geschehen und ihr habt nichts dagegen gemacht“. Der Vorfall macht mich nachdenklich. Offenbar hat die Frau meine Frage als Vorwurf verstanden, und hatte das Gefühl, sie müsse sich rechtfertigen. Dann hat sie mir etwas an den Kopf geworfen, was mich in einen Rechtfertigungszwang brachte. Mir wird deutlich, was ich vorher bereits geahnt hatte: Das ich mich als Deutsche für die Menschenrechtsverletzungen in Chile interessiere, stößt hier nicht nur auf Verständnis. Wenn man die Heimat kaum noch wiedererkennt – die Rückkehr aus dem Exil „Das Chile, in das wir zurückkamen, war nicht das Chile, das wir verlassen hatten. Es war ganz anders“, sagt Karla Stein heute über ihre Rückkehr aus dem deutschen Exil. Als Grundschülerin hatte sie 1973 kurz nach dem Putsch mit ihrer Familie Chile verlassen, als Abiturientin kehrte sie 1981 zurück, zu einem Zeitpunkt, als das Ende der Pinochet-Diktatur noch nicht abzusehen war. Hinter Karla lagen acht Jahre in Ostberlin, Jahre, in denen sie Wurzeln geschlagen hatte und es ihr gut ging. Auch ihre Eltern hatten in der DDR Fuß gefaßt, schnell Arbeit und Freunde gefunden. Die langersehnte Rückkehr in die Heimat war nicht leicht für die Familie: „Es war schwer für uns, für uns alle. Für meine Eltern, weil sie keine Arbeit bekamen. Wir hatten sehr viele finanzielle Schwierigkeiten. Ich habe mit einem Kredit an der Uni studiert, also ich bezahle mein Studium heute noch“. Karlas Vater, ein Gesangsprofessor, der vor dem Exil in der Kommunistischen Partei Chiles aktiv war, wurde nach der Rückkehr zunächst von keiner Universität beschäftigt. Erst im vergangenen Jahr fand er wieder eine feste Anstellung. Die Mutter, eine Journalistin, verkaufte Kuchen und Torten, bevor sie nach ein paar Jahren schließlich begann, ein paar Stunden an einem Institut für Kommunikationswissenschaft zu unterrichten. 134 Chile Victoria Eglau Karla selbst fühlte sich nach ihrer Rückkehr fremd in Chile. „Ich konnte die Zwiespältigkeit der Gesellschaft einfach nicht ertragen. Die Leute haben nie das gesagt, was sie meinten. Also, ich hatte ständig den Eindruck, dass die Leute alle lügen. Das hing mit verschiedenen Sachen zusammen. Politisch konntest Du Dich überhaupt nicht ausdrücken. Du musstest ständig auf der Hut sein. Du wusstest nicht, mit wem Du reden und wem Du was sagen konntest. Das war zu jener Zeit noch sehr gefährlich.“ Auch die moralische Zwiespältigkeit habe sie gestört, erinnert sich Karla. Das etwa Freundinnen nicht zugeben wollten, dass sie schon seit Jahren mit ihrem Freund schliefen. „Damit konnte ich nicht sehr gut leben“. Exil und Rückkehr beschreibt der chilenische Schriftsteller und Dramaturg Carlos Cerda in einer Romantrilogie. Das erste Buch „Morir en Berlin“ („In Berlin sterben“) beschreibt das Leben der Exilanten in der DDR. Im zweiten Roman „Una casa vacía“ („Ein leeres Haus“) geht es unter anderem um die Rückkehr in die Heimat. Der Exilant Andrés kommt einige Jahre vor dem Ende der Diktatur nach Chile zurück und findet ein verändertes Land, veränderte Menschen vor. „Ich habe den Eindruck, die Rückkehr kann schrecklicher sein als das eigentliche Exil“, meint Cerda, der selber elf Jahre in OstBerlin lebte. „Wenn Du das Land, in das Du zurückkehrst, kaum wiedererkennst, gibt es keinen anderen Ort mehr, an den Du zurückkehren kannst. Es war das einzige, was Deins war, und jetzt ist es nicht mehr Deins“. Die meisten Rückkehrer kämen mit großen Erwartungen, sagt Loreto Schnaake, Vorsitzende der Vereinigung für Chilenisch-Deutsche Freundschaft. „Sie denken: Ich komme nach hause, in mein Land, und alles wird leichter sein“. Meistens gestalte sich die Rückkehr aber sehr schwierig, und vielen falle es schwer, das zu akzeptieren. Loreto Schnaake, die Chile mit dreizehn verlassen hatte, kehrte Mitte der neunziger Jahre aus der Bundesrepublik in ihr Land zurück: „Ich habe in vier Ländern im Exil gelebt. Ich habe die Sprachen gelernt, studiert, gearbeitet. Ich habe mich immer integriert. Und als ich zurück nach Chile kam, war es schwieriger. Es war viel schwieriger. Ich hatte hier gar kein soziales Netz, ich kannte praktisch niemanden. Ich fühlte mich eigentlich sehr fähig, aber nach einigen Monaten war mein Selbstwertgefühl im Keller.“ Noch gut erinnert sich Loreto an die mühsame Arbeitsuche: „Ich habe gesucht, so wie man in Deutschland Arbeit sucht. Aber das bringt einem hier nichts. Hier funktioniert das anders. Aber ich hatte auch keine Freunde, die mir gesagt haben, wie es funktioniert. Also wurde ich deprimiert, ich fühlte mich frustriert, ich hatte das Gefühl, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin“. Hinzu kamen die Probleme als Frau: „Ich wußte ja, dass Chile ein machistisches Land ist. Aber es ist noch etwas anderes, Tag für Tag in einem solchen Land zu leben. Zum Beispiel hat keiner verstanden, dass ich mit Anfang dreißig nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Es gab Victoria Eglau Chile immer Witze, sozialen Druck: Paß auf, Du wirst den Zug verpassen und so. Eine Stigmatisierung von Frauen, die keine Kinder haben, die nicht heiraten oder die geschieden sind. Und ich kam doch froh und frei aus Europa“. Heute sei sie glücklich in Chile, sagt Loreto Schnaake. Längst hat sie einen guten Job gefunden, wurde mittlerweile sogar zur Stadträtin von SantiagoInnenstadt gewählt. Doch sie weiß, dass es längst nicht allen „retornados“ so ergangen ist wie ihr. Nach dem Ende der Diktatur sei die Freude über die Rückkehr der Exilanten zwar groß gewesen. Doch bei vielen Chilenen sei die Euphorie schnell Gefühlen wie Neid oder Mißtrauen gewichen. Häufig wurden die Rückkehrer als „Kommunisten“ über einen Kamm geschoren und als potentielle Aufrührer betrachtet – was die Jobsuche erschwerte. Dennoch glaubt Loreto Schnaake, dass sich die Mehrheit wieder integriert habe. „Sie haben es geschafft, hier zu leben, und zu überleben. Manche waren erstmal einige Jahre lang arbeitslos, manche mußten ganz von vorne anfangen, andere lange bei Verwandten wohnen, einige machten schwere psychische Krisen durch. Aber mit großen Schwierigkeiten haben es die meisten geschafft.“ Karla Stein, die heute bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago arbeitet, schloss sich nach ihrer Rückkehr in den achtziger Jahren der Protestbewegung gegen das Pinochet-Regime an. Sie erinnert sich daran, wie verängstigt und eingeschüchtert sie und ihre Freunde damals waren. „In diesen Jahren sind noch viele Leute umgebracht worden. Man hatte ständig Angst. Man hat trotzdem Sachen gemacht, aber immer mit Angst“. Auch Karla fühlt sich heute wohl im chilenischen Staat. Zwar hat sie viel auszusetzen am politischen System und an der Politik der „Concertación“ in den letzten zehn Jahren. Doch habe sich Chile seit der Diktatur grundlegend verändert: „Ich habe zum Beispiel noch die Angst vor der Polizei im Körper. Aber ich weiß, ich kann über die Straße gehen und sagen, was ich will, und nichts wird passieren. Es kann sein, dass mich irgendjemand zusammenschlägt. Aber es kann nicht sein, dass man mich verhaftet, oder dass ich verschwinde, oder dass man mich umbringt und das niemand etwas dagegen machen kann. Das ist eine ziemlich große Veränderung“. Auch der Schriftsteller Carlos Cerda zieht eine positive Bilanz: „Die autoritären Enklaven, sowohl im Heer als auch in der Justiz als auch in anderen staatlichen Institutionen, haben zwar eine vollständigere Demokratisierung verhindert. Aber obwohl diese Demokratie nicht perfekt ist, ist sie unendlich viel besser als die Diktatur“. Eines habe sich allerdings nicht verändert, meint Cerda. Die Chilenen seien immer noch so gespalten wie während der Diktatur: „Ohne gemeinsames historisches Projekt“. Chile Victoria Eglau Ein Ort mit einer doppelten Geschichte: Chacabuco Chacabuco? Verständnislose Blicke am Ticketschalter von „Turbus“ in Antofagasta. Ist das nicht eine der vielen stillgelegten Salpeter-Minen in der AtacamaWüste? Und was will die junge Frau mit dem Rucksack wohl dort? Die junge Frau mit dem Rucksack interessiert vor allem die Frage: Welchen Bus muß sie nehmen, um den Ort, von dem sie schon so viel gehört hat, zu erreichen? Ein Einheimischer mischt sich ein: Mit dem Bus nach Arica komme man auf der Panamericana in unmittelbarer Nähe Chacabucos vorbei. Am nächsten Morgen fahre ich gespannt meinem Ziel entgegen. Nach eineinhalbstündiger Reise durch die Wüste hält der Bus, der Fahrer gibt mir ein Zeichen zum Aussteigen. Mit meinem Rucksack bleibe ich in der beige-braunen Ödnis zurück. Endlose Weite, ringsum kein Baum, kein Strauch, kein Mensch. Mit dem Bus verschwindet auch das Motorengeräusch, nach wenigen Minuten umfängt mich eine Stille, wie ich sie noch nie erlebt habe. Eine vollkommene, irgendwie tote Stille. Instinktiv gehe ich ein paar Schritte, lasse meine Sohlen auf dem Schotter knirschen. Rechts von der Straße sehe ich jetzt die Ruinenstadt, die sich mit ihren grau-braunen Tönen kaum von der Landschaft abhebt: Chacabuco. An einer Mauer entlang laufe ich etwa zehn Minuten bis zu einem mit einer Eisenkette lose verschlossenen Tor. Daneben ein Schild, auf dem die Geschichte des Ortes stichwortartig zusammengefasst ist. Die Geschichte der Salpeterstadt, nicht aber die Geschichte des Lagers für politische Gefangene der PinochetDiktatur. Ich löse die Haken der Eisenkette und betrete die Geisterstadt. Links vom Eingang befindet sich ein kleines Museum, in dem stumpfe Glasflaschen und rostige Dosen, Patronenhülsen und alte Theater- und Kinoprogramme an die Salpeterstadt Chacabuco erinnern. Rufend laufe ich durch die offenen Räume, finde mich schon damit ab, dass der Wärter wohl in die Weihnachtsferien gefahren ist – da tritt mir Roberto Zaldivar entgegen, ein alter Mann mit Shorts und Baseball-Mütze. In seinem kleinen Wohnzimmer neben der grossen Küche, deren Mittelpunkt ein uralter, rostiger Herd ist, lernen wir uns kennen. Ich frage Roberto, wie er die Einsamkeit aushalte. „Ich bin nicht einsam, ich habe meine Erinnerungen“, sagt er. „Es gibt so viele Dinge, über die ich am Ende meines Lebens nachdenken muß, so viele Fragen, die ich mir noch beantworten will“. Außerdem gelte es doch, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten, und deswegen habe er die Aufgabe übernommen, Chacabuco zu bewachen und Besuchern die Ruinenstadt zu zeigen. Roberto Zaldivar stammt aus der Wüsten-Hafenstadt Antofagasta. Ein Arbeiter, der immer politisch aktiv war, der in den sechziger Jahren Volkstheater in den Armenvierteln organisierte und damit die Kulturpolitiker aus der Hauptstadt Santiago beeindruckte. Ein Autodidakt, ein hochgebildeter Mann, und mit seinen Victoria Eglau Chile siebzig Jahren immer noch ein geachteter Lokalpolitiker. Zur Zeit der Regierung Salvador Allendes gehörte Roberto der Linkspartei MAPU an, und nach dem Putsch wurde er als politischer Häftling in Chacabuco interniert. Chacabuco ist ein von allem Leben abgeschnittener Ort, auf den die Sonne vom Vormittag bis zum späten Nachmittag unbarmherzig herunterknallt. Die ehemaligen Anlagen zur Gewinnung und Verarbeitung des „weißen Goldes“ Salpeter wurden zum Teil abgebaut, zum Teil sind sie in sich zusammengefallen. Eisengerüste ragen wüst und sinnlos in den Himmel. Chacabuco ist ein Ort mit einer doppelten Geschichte – der Salpeter-Arbeiter und der politischen Häftlinge. Die niedrigen Häuser, in denen in der ersten Jahrhunderthälfte die Arbeiter und in den siebziger Jahren die Gefangenen hausten, sind nur noch Skelette, zum Teil Trümmerberge. An manchen Wänden sind Strichlisten zu sehen, Zeichen des Wartens auf die Freiheit. Auf der „Plaza“ der Geisterstadt zeugen zwei Bäume mit Schnitzereien vom Leiden und von den Träumen der Eingesperrten. Einen der Stämme hat ein Gefangener mit sparsamen Schnitten so verändert, dass darin der sterbende Jesus zu erkennen ist. In den anderen Baum schnitzte er das Profil einer Frau und darüber einen Engel. Bald nach ihrer Ankunft im Herbst 1973, hatten die rund 1.500 politischen Gefangenen angefangen, sich zu organisieren. Ein Ältestenrat wurde eingesetzt, und eine Reihe von Kommissionen, darunter eine Kultur-Kommission. Bald wurden Sprach- und Yogakurse angeboten, ein Astronom beobachtete die Sterne, es wurde Theater gespielt, es gab eine Wandzeitung und eine Literaturwerkstatt. „Es ging darum, den Zustand als politische Häftlinge so gut wie möglich zu überleben“, erinnert sich der Schriftsteller Jorge Montealegre. Er kam damals als 19jähriger in das Lager und fing dort mit dem Schreiben an. Beim „Festival des Liedes und der Poesie“, das die Lagerinsassen organisierten, wurde ein Gedicht von Jorge ausgezeichnet – die vergilbte Urkunde zeigt er noch heute mit Stolz. Das wichtigste literarische Thema der Chacabuco-Häftlinge sei die sehnsüchtig vermißte Familie oder die Geliebte gewesen, erzählt Jorge Montealegre. Er selbst hatte keine Verwandten – seine Gedichte drehen sich ausschließlich um das Leben in Chacabuco. Die „companeros“ forderten Jorge auf, nach der Befreiung aus der Haft „zu erzählen, was passiert ist“. Deswegen hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte dieses Ortes zu dokumentieren. „Es ist die Geschichte der Folter erzählt worden, der Menschenrechtsverletzungen, der Morde. Ich möchte diese Geschichte nicht ersetzen, aber ihr etwas hinzufügen. Und zwar eine Geschichte, die der Gefangenschaft ein menschliches Gesicht gibt. Die etwas mit Kreativität und Humor zu tun hat“. Wenn er an Chacabuco denke, sagt Jorge Montealegre, empfinde er eine „widersprüchliche Nostalgie“. Auch wenn es ein außergewöhnliches kulturelles Leben gab, das von den Soldaten und Bewachern weitgehend toleriert wurde – Chacabuco war und blieb doch Chile Victoria Eglau ein Gefängnis. Es herrschte militärischer Drill, „als wären wir Rekruten“, blickt Jorge zurück. Manchmal mußten die Gefangenen stundenlang in der glühenden Sonne stehen. Doch Folter wie etwa im berüchtigten Estadio Nacional in Santiago, in dem Jorge zuvor interniert war, gab es in Chacabuco nicht. „Die große Folter war die Ungewißheit“. Roberto Zaldivar zeigt mir, was in Chacabuco heute noch an Pinochet‘s Gefangene erinnert. In einem Haus befinden sich einfache Malereien an den Wänden – es wurde als katholische Kirche genutzt. In dem Raum, in dem der evangelische Gottesdienst abgehalten wurde, ziert ein Relief die Wände. Der Künstler kehrte vor einigen Jahren zurück, um sein Werk zu restaurieren. Schließlich führt mich Roberto zu der Ruine des Hauses, in dem von 1973 bis 1974 der bekannte Musiker Angel Parra wohnte – zusammen mit sieben anderen Häftlingen. Parra komponierte in Chacabuco ein folkloristisches Weihnachtsoratorium nach Lukas. Gewerkschafter aus der Wüstenstadt María Elena besorgten ihm eine Gitarre, dann studierte Parra das Stück ein: Mit Studenten und Arbeitern, Ärzten und Bauern. „Wir haben es zum ersten Mal am Weihnachtsabend 1973 gesungen, dort in Chacabuco“, erinnert sich Parra. „Es war sehr bewegend. ... Natürlich hatte keiner erwartet, dass in diesem Leiden, dieser Angst, diesem Nicht-Wissen, was mit uns, mit unserem Leben geschehen würde, ein Werk entstehen würde. Ein geistliches Werk, als Antwort auf die Gewalt, als Antwort auf den Schmerz“. Am 23. Dezember 1999 wird das Lukas-Oratorium erstmals nach 26 Jahren wieder in Chile aufgeführt. Angel Parra ist dafür aus Paris gekommen, wo er heute lebt. Die San Franciso-Kirche in Santiago ist bis auf den letzten Platz gefüllt, viele Besucher hören stehend zu. Kein Satz im Programmheft weist sie darauf hin, wo und unter welchen Umständen das Oratorium komponiert wurde. Doch der Geistliche, der ein paar einleitende Worte spricht, konfrontiert das Publikum mit der Geschichte des Werkes. Die Musik, die dann zu hören ist, berührt einen im tiefsten Inneren, sie ist gleichzeitig heiter und schmerzvoll, melancholisch und hoffnungsvoll. Als die letzten Takte verklungen sind, klatschen die Menschen bewegt und langanhaltend Beifall. Die Stimmung ist feierlich. Vielleicht hat Angel Parra ja etwas von dem erreicht, was er wollte: Einen Beitrag leisten zur Versöhnung der Chilenen. Was Roberto Zaldivar in Chacabuco leistet, ist ein Beitrag gegen das Vergessen. Wie lange er das noch kann, weiß keiner. Roberto ist krank. Die Zukunft der ehemaligen Salpeterstadt sieht er pessimistisch. Es gebe politische Kräfte, die den Ort mit der doppelten Historie für die Öffentlichkeit schließen wollen. Und das liegt möglicherweise nicht nur an den geringen Besucherzahlen, sondern auch an der Botschaft, die Chacabuco als ein Schauplatz der Diktatur aussendet. Die Regionalregierung hat zwar einen kleinen Teil zur Restaurierung des chilenischen Nationalmonuments beigetragen. Victoria Eglau Chile Doch sieht sie die Geisterstadt auch als geeigneten Ort für Popkonzerte und andere Massenevents. Und die hinterlassen Spuren – Graffitis an den Wänden zum Beispiel. In frischem Glanz erstrahlt seit einigen Jahren das frühere Theater der Salpeterstadt. Die Restaurierung hat das Goethe-Institut in Santiago übernommen. Seit Leiter Dieter Strauß Chacabuco vor zehn Jahren zufällig entdeckte, liegt ihm die Ruine am Herzen. „Das Thema Salpeterstadt – Salpeterstadt, die auch Mahnmal sein kann, weil sie Konzentrationslager war – hat natürlich unheimlich viel auch mit uns zu tun. Also erstmal der ganze Aspekt, wie ich mit meiner Vergangenheit umgehe. Da kann man gegenseitig eine ganze Menge voneinander lernen. Und zum anderen war es ja so, dass die Deutschen – nicht so stark wie die Engländer, aber auch sehr stark – am Salpeterbergbau beteiligt waren. Und drittens, wenn chilenische Partner sagen: Wir sind interessiert daran, mehr für den Denkmalschutz zu tun, überhaupt daran, das Denkmalschutzbewusstsein in unserem Land zu entwickeln, dann ist das natürlich eine Aufgabe für uns“. „Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen“ – Salpeterstadt María Elena Aus den Trümmern Chacabucos in die letzte bewohnte Salpeterstadt Chiles, María Elena. Etwa zwei Stunden brauche ich: Per Anhalter und zu Fuß. Doch mir kommt es so vor, als würde ich ans Ende der Welt fahren. Die letzten Kilometer lege ich im Transporter eines Obstverkäufers zurück, der in Antofagasta Wassermelonen gekauft hat. Drei Stunden Hinfahrt, drei Stunden Rückfahrt durch die Wüste. Wassermelonen sind in der Wüstenstadt María Elena Luxus. Sie erinnern mich an Juan Samuel, einen Bekannten aus Santiago. Juan wuchs in María Elena auf, zog – achtjährig – mit seinen Eltern in die Hauptstadt. Nach Jahren des politischen Exils in Deutschland kehrte Juan ein einziges Mal an seinen Geburtsort zurück – mit einer Wassermelone, die er auf dem Hauptplatz von María Elena an die Kinder verteilte. Auf diesem Platz, der „Plaza de Armas“, lässt mich der Obstverkäufer aussteigen. Der Mittelpunkt eines kleinen Städtchens mit schnurgeraden, staubigen Straßen. Vor manchen der niedrigen, heruntergekommenen Häuschen mit den vergitterten Fenstern sitzen Menschen – sie unterhalten sich oder starren ins Leere. Am Platz befinden sich eine Geschäftspassage und die Kirche, ein Theater und das Gewerkschaftshaus. Dort wohnt die 79-jährige Haydee Cayos. Als junges Mädchen war sie 1945 in die Salpeterwüste gekommen. Damals war María Elena noch eine Boomtown des „weißen Goldes“. Haydee wollte arbeiten, und Arbeit fand sie sofort, in einer Konditorei. Noch heute schwärmt die adrette und liebenswürdige, alte Dame von dieser Epoche, als die „gringos“, die Chile Victoria Eglau Nordamerikaner, in María Elena die Herren des Salpeterabbaus waren. Schöne, saubere Straßen und Häuser habe es in diesen Jahren gegeben, sagt sie. Und in den Geschäften habe man gut und billig einkaufen können. „Man lebte gut. Man sah keine Armut, wie man sie heute sieht“. Bevor die „gringos“ kamen, waren die Salpeterminen in der nordchilenischen Wüste vor allem in den Händen von Engländern, Chilenen und Deutschen. Mit dem Abbau des „weißen Goldes“ war um 1840 herum begonnen worden. Nach einer langen Anlaufzeit bescherte diese Industrie dem Land einige Jahrzehnte lang großen Reichtum. Salpeter diente vor allem zur Herstellung von Dünger und Schießpulver und wurde in vielen Ländern gebraucht. Doch der soziale Preis des Salpeterbooms sei groß gewesen, meint Claudio Castellón, Gründer und Leiter des anthropologischen Museums von María Elena: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die Salpeterindustrie die Ausbeutung von Menschen durch Menschen zur Grundlage hatte. Die Leute erhielten keine Gegenleistung für soviel Schweiß, soviele Opfer, soviele Tränen. Die Leute erhielten nicht einmal ein würdiges Gehalt. Sie bekamen Metallmünzen, Marken. Damit konnten sie im fabrikeigenen Laden Lebensmittel einkaufen. Das heißt, Du hattest gar keine Möglichkeit, Geld zu sparen, um etwas anderes in deinem Leben zu erreichen. Du hast nur gearbeitet, um zu essen“. Chile sei praktisch mit dem Salpeter entstanden, sagt Claudio. „Es war eine Epoche großen Wohlstands. Aber man darf sich nicht täuschen. Das war kein Wohlstand für die Arbeiter, das war Wohlstand für die Unternehmer“. Gewinne seien weder an die Beschäftigten weitergegeben, noch in die Forschung investiert worden. Als während des ersten Weltkriegs von dem deutschen Unternehmen Haber und Bosch ein Verfahren erfunden wurde, das eine synthetische Herstellung der Salpetersäure ermöglichte, wurden die chilenischen Salpeter-Barone davon quasi überrascht. Die Hoch-Zeit des „weißen Goldes“ war damit vorbei. Hört man Claudio Castellón zu, hat man bald den Eindruck, dass sich seit der ersten Jahrhunderthälfte für die Salpeter-Arbeiter gar nicht so viel geändert hat. Von den Nordamerikanern hatte der chilenische Staat die Industrie übernommen, nach dem Putsch kam dann die erneute Privatisierung. Die letzte funktionierende Salpetermine Chiles, María Elena, wird heute von dem Unternehmen Soquimich betrieben. Die Stadt María Elena gehört Soquimich. Und dennoch gibt es auf diesem privaten Territorium eine gewählte Stadtverwaltung. „Das Absurdeste, das es auf der Erde geben kann“, spottet Claudio Castellón, der selber Stadtrat der sozialdemokratischen PPD ist. Die Stadtverwaltung, traditionell mit einem rechten Bürgermeister an der Spitze, sei dem Unternehmen untergeordnet, ihre Politik von Soquimich abhängig. Und auch die Wähler würden von ihrem Arbeitgeber unter Druck gesetzt. „Dieses Dorf ist eine kleine Colonia Dignidad. Wenn Du hier in María Elena irgendjemanden fragst, wen er wählen wird, wird er sagen: Ich werde für Lavín (den rechten Präsidentschaftskandidaten) stimmen. Victoria Eglau Chile Und das muss er sagen. Denn wenn er sagt, dass er Lagos (den Mitte-Links-Kandidaten) wählt, muss er Angst haben, dass sein Chef das mitkriegt und ihn feuert“. Eine rechte Regierung wäre in Chile ein Garant dafür, dass sich an der unternehmerfreundlichen Arbeitsgesetzgebung, die noch aus der Diktatur stammt und den Beschäftigten kaum Rechte einräumt, nichts ändert. Aber auch die seit zehn Jahren regierende Mitte-Links-Regierung hat bisher vergeblich versucht, die schwachen und gespaltenen Gewerkschaften zu stärken – die Reformversuche scheiterten an der rechten Mehrheit im Senat. Wer von Soquimich entlassen wird, verliert auch sein bescheidenes Häuschen in María Elena. Eine Form von moderner Sklaverei, wenn sowohl der Job als auch die Wohnung vom Gutdünken des Arbeitgebers abhängen. Das ihr Schicksal in den Händen des Unternehmens liegt, wurde den Menschen in María Elena vor einigen Jahren knallhart vor Augen geführt. Pedro de Valdivia, benachbarte Salpeterstadt, Nationalmonument und ebenfalls im Besitz von Soquimich, gibt es nicht mehr. Ein Videofilm, der im Museum von María Elena angeschaut werden kann, zeigt Pedro de Valdivia als einen Ort pulsierenden Lebens, mit schmucken Häuschen, Arztpraxis, Schwimmbad und Konzerthalle. Heute ist es eine Geisterstadt. Nachdem Soquimich beschlossen hatte, dass der Standort nicht mehr rentabel sei, löste es die Siedlung auf. Die Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen. Damit auch wirklich keiner zurückblieb, wurden die Häuser beschädigt und damit unbewohnbar gemacht. Viele der Arbeiter verloren auch den Job, oder sie wurden nach María Elena umgesiedelt. Die Bürger dort haben Angst, dass es ihnen ähnlich ergehen wird. Das Unternehmen spricht zwar davon, María Elena noch acht bis zehn Jahre weiter zu betreiben. Doch manche fürchten, dass früher Schluss sein wird. Die 79jährige Witwe Haydee Cayos, die im Gewerkschaftshaus putzt und dafür dort ein Zimmer bewohnen darf, wüsste nicht, wo sie in diesem Fall hingehen sollte. „Für mich gibt es nach Gott nichts besseres als María Elena. Ich lebe so gut hier, ich habe mich so daran gewöhnt. Wenn die Leute sagen: María Elena wird es nur noch bis zu diesem Jahr geben, dann tut mir das weh. Ich sage mir: So etwas kann es doch nicht geben“. „Wie auf einem anderen Planeten“ – Armut und soziale Unterschiede in Chile Reise nach Jerusalem und Sackhüpfen, Kasperletheater und Tanzwettbewerb – die Hüttensiedlung Jesús Obrero in Santiago feiert ihr dreijähriges Bestehen mit einer ausgelassenen „fiesta“, bei der vor allem die Kinder auf ihre Kosten kommen. Auf der staubigen Straße unterhalb der Siedlung haben sich an diesem sonnigen Nachmittag im November rund siebzig Familien versammelt. Seit Ende Chile Victoria Eglau 1996 wohnen sie hier, am Rande der chilenischen Hauptstadt. Das Grundstück, das die überwiegend wohnungslosen Menschen damals besetzten, war zuvor ein grüner Hügel. Heute ziehen sich kleine Behausungen aus Holz, Pappe und Wellblech den Hang hinauf, der sich bei Regen in eine schlammige Rutschbahn verwandelt. „Die Häuschen stehen auf Stelzen, falls der Kanal über die Ufer tritt, den wir hier in der Nähe haben“, erklärt mir Paula Cartéz-Ortega. Sie gehört zu den Gründerinnen der Hüttensiedlung Jesús Obrero. Eine richtige Küche und ein eigenes Badezimmer besitzt sie ebensowenig wie die anderen Bewohner – dafür gibt es vier Gemeinschaftsbäder. Mit ihrem Ehemann und den beiden Töchtern, der fünfjährigen Estefanie und der zehnjährigen Macarena, wohnt Paula in zwei winzigen Zimmern – die ganze Familie schläft in einem Raum. Der Priester José Coneco von der Diözese Santiago, zuständig für Jesús Obrero, hält diese Lebensbedingungen für unzumutbar: „Die Leute haben zwar ihr Zimmer, ihr Häuschen, aber es ist ein sehr bescheidener Ort zum Leben. Ein Ehepaar hat hier keine Privatsphäre, keine Intimität. Manche Kinder haben keinen Ort zum Spielen oder um ihre Hausaufgaben zu machen. Und es ist nicht möglich, Gäste zu empfangen“. Als die Bewohner Jesús Obrero vor drei Jahren gründeten, brachten einige ihr Häuschen mit, doch die meisten schliefen erst einmal in Zelten. Das schmutzige Wasser des Kanals diente zum Waschen und Kochen. Paula Cartéz-Ortega erinnert sich mit Schrecken an den ersten Winter in dem behelfsmäßigen Lager. Finanzielle Unterstützung kam nach anfänglichem Zögern – schließlich handelte es sich um eine illegale Grundstücksbesetzung – von der Bürgermeisterin des Stadtteils. Das die Nachbarn heute feiern, ist nicht zuletzt ein Zeichen von Stolz: Wir haben es geschafft, wir haben hier überlebt. Die Menschen von Jesús Obrero gehören zu den 21,7 Prozent der Chilenen, die der letzten Erhebung des Planungsministeriums zufolge in Armut leben. Das sind mehr Arme als unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, Anfang der siebziger Jahre, jedoch deutlich weniger als vor zehn Jahren. Damals, nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, erfüllten fast vierzig Prozent der Bevölkerung Armutskriterien. Das sich die Zahl heute auf ein Fünftel verringert hat, führt der Soziologe Jaime Ruiz-Tagle, vom Büro der Internationalen Arbeitsorganisation in Santiago, vor allem auf die positive Entwicklung der chilenischen Wirtschaft zurück: „Es hängt mit dem Wirtschaftswachstum im Allgemeinen zusammen, mit dem Beschäftigungsanstieg – das war sehr wichtig – und vor allem mit der Zunahme der sogenannten sekundären Beschäftigung. Junge Leute und Frauen, die vorher meist nicht berufstätig waren, faßten plötzlich auf dem Arbeitsmarkt Fuß“. Die Vertretung der Internationalen Arbeitsorganisation befindet sich im wohlhabenden Stadtteil Vitacura, in einer gepflegten Straße mit vornehmen Villen und blühenden Vorgärten. Die Hüttensiedlung Jesús Obrero ist nur wenige Kilometer Victoria Eglau Chile entfernt, doch scheint sie auf einem anderen Planeten zu liegen. Chile gehört zwar nicht zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas, doch sind die sozialen Unterschiede dort besonders groß. Was die Ungleichheit der Einkommensverteilung betrifft, wird der Andenstaat nur noch von Brasilien übertroffen. „Crecer con igualdad“ – „Wachstum mit mehr sozialer Gerechtigkeit“, hieß denn auch der Wahlslogan des neuen Staatspräsidenten Ricardo Lagos. Der Sozialist Ricardo Solari, mittlerweile Minister für Arbeit und Soziales, skizziert die sozialen Reformvorhaben der neuen Regierung: „Die erste Maßnahme, zu der sich Lagos verpflichtet hat, ist die Einführung einer Arbeitslosenversicherung, die es in Chile nicht gibt und die von wesentlicher Bedeutung ist. Zweitens der Gesundheitsbereich. Durch eine Versicherung soll allen Chilenen das Recht auf ein Minimum an Leistungen durch den Staat garantiert werden. Drittens muß das System der Sozialversicherung reformiert werden, denn die Zahl der Chilenen, die sich außerhalb dieses Systems befinden, ist sehr groß“. Das die Einführung einer Arbeitslosenversicherung ganz oben steht auf der Agenda der neuen Mitte-Links-Regierung, hängt nicht zuletzt mit der Erfahrung der Wirtschaftskrise zusammen, die das Land bis vor kurzem lähmte. Als die Arbeitslosigkeit von offiziell knapp sechs auf mehr als elf Prozent schnellte, fehlte das soziale Netz, um die Entlassenen vorübergehend aufzufangen. Wer sich nicht mit Gelegenheitsjobs durchschlagen konnte, rutschte in die Armut ab. Die Deutsche Christa Fietz, die in Conchali, einem der ärmsten Stadtteile Santiagos, als Sozialarbeiterin tätig ist, hat dort im vergangenen Jahr bei einigen Kindern Unterernährung festgestellt. Viele Väter, die vorher auf Baustellen tätig waren, fanden plötzlich keine Arbeit mehr, überdurchschnittlich viele Mütter sind alleinerziehend. Mit regelmäßiger Sozialhilfe können sie nicht rechnen, höchstens mit sporadischen Leistungen durch die Gemeinde oder durch wohltätige Organisationen. Christa Fietz beschreibt die Armut in Conchali als eine verdeckte. Hinter hohen Mauern würden oft Großfamilien auf engstem Raum zusammenleben. Die Sozialarbeiterin arbeitet für Pro Nino, eine Organisation, die sich um die Aufdeckung der Misshandlung von Kindern bemüht und missbrauchte Kinder therapiert. Der Kindesmissbrauch würde durch die Probleme der Armen – Arbeitslosigkeit, in Alkohol ertränktem Frust, beengte Wohnverhältnisse – begünstigt, glaubt Christa Fietz: „Wenn dann der betrunkene Onkel nach Hause kommt und sich zu der 14jährigen Nichte ins Bett legt, dann lädt das natürlich eher dazu ein, als wenn man sein eigenes Haus hat und sein eigenes Zimmer, und den Kindern auch andere Räumlichkeiten bieten kann. Was natürlich nicht heißen kann: Die Armen missbrauchen ihre Kinder. Das ist immer ein bißchen schwierig. Es ist halt nur eine Häufung von Risikofaktoren, die woanders nicht so da ist. Das heißt, in anderen Bevölkerungsschichten gibt es auch den sexuellen Missbrauch. Der wird dann nur besser verdeckt und findet unter anderen Voraussetzungen statt“. Chile Victoria Eglau Endlich nicht mehr in Armut leben will Paula Cartéz-Ortega aus Jesús Obrero. Noch in diesem Jahr möchte sie die Hüttensiedlung verlassen und in das eigene Heim ziehen, für das sie schon so lange spart: „Das wünsche ich mir von ganzem Herzen für mich und meine Kinder. Ich muss doch auf die Gesundheit meiner Töchter achten. Hier gibt es herumstreunende Hunde, und aus dem Kanal kommen Ratten. Wegen all dieser Dinge muss man sich Sorgen machen um seine Kinder, und ich glaube, deswegen kämpfen viele Leute dafür, hier rauszukommen.“ „Eine titanische Aufgabe“ – Indios suchen Weg aus dem wirtschaftlichen Abseits Es ist ein hübsches Haus, das sich Ricardo Huaracán gebaut hat. Mit seiner Frau Teresa führt er mich durch das Wohnzimmer mit den großen Fenstern, zeigt mir die moderne Küche, das schöne Bad. Eine massive Holztreppe führt ins Obergeschoss, das ebenfalls komplett aus Holz besteht. Es riecht gut, es sieht warm und gemütlich aus. „Pinien und Zypressen“, erklärt mir Ricardo. Bäume, die er selbst gepflanzt hat, damals, bevor er sein Land in der Nähe der südchilenischen Stadt Temuco verließ und nach Santiago kam. Aus diesen Bäumen hat er sich nun, 26 Jahre später, sein Haus in der neuen Heimat gebaut. Ricardo ist einer von rund 500.000 Mapuche-Indios in Santiago. Etwa die Hälfte aller Mapuche wohnen in der Hauptstadt, die anderen leben im Süden des Landes. Ricardo kam 1973 mit seinem Bruder, seiner Frau und der kleinen Tochter nach Santiago. Wie so viele Mapuche entfloh er der Armut und Perspektivlosigkeit auf dem Lande, wollte sich in der Stadt eine Existenz aufbauen. Mit einem Kredit der Staatsbank gründeten er und sein Bruder damals eine Mechanik-Werkstatt. Ricardo hatte nur vier Jahre lang die Volksschule besucht. Schwierig sei die erste Zeit gewesen, erinnert er sich, als Indio und ohne Ausbildung. Doch er war fleißig und lernte schnell. Heute ist Ricardo Huaracán Chef eines gutgehenden Betriebes für Präzisionsmechanik mit drei Angestellten. Angst, wie damals, als er mit nichts in der Hand sein Dorf verließ, hat er nicht mehr. Ruhig macht ihn vor allem das Wissen, dass er seinen drei Kindern ein Studium ermöglicht hat – für ihn die wichtigste Investition. „Ich habe meine Familie durch die Ausbildung nach vorne gebracht“. Diskriminierung, sagt der kleine kräftige Mann mit den dichten schwarzen Haaren, spüre er nicht mehr. Längst nicht allen Mapuche ist es in der Stadt so gut ergangen wie Ricardo Huaracán. Die meisten schuften als schlechtbezahlte Lohnarbeiter, vor allem in Bäckereien. Die Indios werden als billige Arbeitskraft betrachtet. „Dadurch werden sie noch ärmer und rückständiger“, meint Eladio Antilef, selbst ein erfolgreicher Unternehmer. Mit seinem Bruder besitzt er eine Firma, die Bau- Victoria Eglau Chile fahrzeuge verkauft und verleiht. Etwa 25 Mitarbeiter beschäftigt er, doch davon sind nur die wenigsten Mapuche. Die fehlende Qualifizierung und Spezialisierung der Indios mache es unmöglich, geeignete Beschäftigte zu finden, sagt der Chef. Genau das aber will die „Asociación de Empresarios Mapuche“ (Vereinigung der Mapuche-Unternehmer) ändern, die Eladio Antilef im vergangenen Jahr gegründet hat. Sie will unter anderem ein technisches Ausbildungszentrum für junge Indios aufbauen. „Unsere Idee ist, nicht den Fisch zu schenken, sondern zu zeigen, wie man angelt“, erklärt Eladio. „Wir halten uns für fähig, wir halten uns für stark, um unserem eigenen Volk als Vorbild zu dienen, und für die Mapuche eine harmonische Entwicklung anzustreben“. Eine „titanische Aufgabe“ sei das, glaubt Eladio Antilef. Er selbst hat die Diskriminierung der Indios kennengelernt. Man kann diesem Mann sicher nicht nachsagen, dass er seine indianische Abstammung verleugnet. Er fühlt sich als Mapuche in Chile und nicht als Chilene. Doch als Unternehmer würde er lieber „Juan Perez“ heißen, als seinen Mapuche-Namen zu tragen. „Es ist doppelt so schwer, als Mapuche Unternehmer zu sein, als wenn man kein Mapuche ist“. Gerade als erfolgreicher Firmengründer stieß Eladio Antilef in seiner chilenischen Umwelt oft auf Misstrauen, gelten doch die Indios bei vielen als faul. Nachtrag: Die Bemühungen der „Vereinigung der Mapuche-Unternehmer“, ihrem Volk durch Qualifizierung bessere Berufschancen und damit einen Weg aus der Armut zu ermöglichen, haben im Dezember 1999 einen traurigen Rückschlag erhalten. Ihr Vorsitzender Eladio Antilef ist plötzlich und unerwartet gestorben. Jetzt führen Ricardo Huaracán und die anderen „empresarios Mapuche“ seine Initiative fort. „Die historische Schuld des chilenischen Staates“ – Aufstand der Mapuche Mapuche heißt: Mensch der Erde. Rund eine Million der rund 14 Millionen Chilenen identifizieren sich als Mapuche. Die Mapuche sind kämpferisch: Von allen Indio-Völkern haben sie am längsten den Spaniern widerstanden. Als ethnische Gruppe sind die Mapuche in der chilenischen Verfassung nicht anerkannt. Ihre Sprache „Mapudungun“ wird in keiner Schule unterrichtet. „Dies ist ein uniformes Land, in dem es heißt: Wir sind alle Chilenen“, meint Adolfo Millabur. „Vielleicht sind wir alle Chilenen, aber zuerst bin ich Mapuche“. Adolfo Millabur stammt aus Tirúa, einem Dorf im Süden, doch mittlerweile ist er im ganzen Land bekannt. Nicht nur ist er der erste und einzige Mapuche-Bürgermeister Chiles, er ist auch einer der führenden Köpfe der Lafkenche-Bewegung. Die Lafkenche, das sind die Mapuche, die an der Küste leben. Das Meer („Lafken“) hat für sie eine besondere spirituelle Bedeutung. Chile Victoria Eglau Von Temuco, der Hauptstadt der Region Araukanien, will ich nach Tirúa fahren. Da der einzige Direktbus des Tages leider nicht kommt, nehme ich einen Minibus und steige dann in ein klappriges Gefährt um, das sich einige Stunden lang Schotterstraßen auf und ab quält. Für die etwa hundert Kilometer lange Strecke brauche ich den ganzen Nachmittag. Wir fahren durch Weizenfelder, Wiesen und Wälder – eine idyllische Landschaft. In dieser Gegend zwischen Temuco und dem Meer befindet sich auch das Dorf, in dem die Eltern von Teresa Huaracán aus Santiago wohnen. Erst im vergangenen Jahr hätten sie Elektrizität bekommen, hat mir Teresa erzählt. Die Wasserversorgung klappe immer noch nicht, und die Zufahrtsstraße zum Ort sei nicht asphaltiert, so dass die Bewohner im Winter von der Außenwelt abgeschnitten seien. So gehe es den meisten Dörfern, in denen überwiegend Mapuche leben, erzählt Tirúas Bürgermeister Adolfo Millabur. Die Regierung Frei habe damit begonnen, Infrastruktur und Gesundheitsversorgung zu verbessern. Das sei zwar gut, aber auch längst überfällig – schließlich gehe es um ein Bürgerrecht. „Weil wir Mapuche sind, müssen wir doch nicht auf Straßen, auf Elektrizität und auf Wasser verzichten“. Tirúa liegt in der „zona de conflicto“, der Konfliktzone im Süden des Landes. Dort hat während der im März 2000 zu Ende gegangenen Regierungszeit von Staatspräsident Eduardo Frei der Aufstand der Mapuche gegen die Forstunternehmen begonnen. Die Indios wehren sich mit Gewalt gegen die Abholzung der Urwälder, die sie als ihr historisches Eigentum, ihre Erde betrachten. Während der Fahrt nach Tirúa habe ich die gerodeten Flächen und die Anpflanzungen schnellwachsender Tannen- und Eukalyptusbäume mit eigenen Augen gesehen. Holz, und aus Holz gewonnene Stoffe wie Zellulose, sind wichtige Exportprodukte der chilenischen Wirtschaft. Während der Pinochet-Diktatur konnten die Forstunternehmen Waldgrundstücke zu oft lächerlichen Preisen erwerben. Viele dieser Ländereien waren traditionelles Mapuche-Land, wurden auch nach wie vor von den Indios genutzt, gehörten aber offiziell dem Staat. Und der überließ sie den Holzexporteuren. Einen Baum zu fällen, ist für einen Mapuche ein Sakrileg. „Es gibt eine Tradition, dass jedesmal, wenn ein Baum gefällt wird, der zu Brennholz verarbeitet wird, zwei neue gepflanzt werden müssen – und wenn ein Obstbaum abgeholzt wird, sind es vier“, hat mir Eladio Antilef in Santiago erzählt. Der Lafkenche Luis aus Tirúa saß 1999 eine Woche im Gefängnis, weil er die Abholzung des Urwalds nicht hinnehmen wollte. Bei Zusammenstößen mit der Polizei am Lleu-Lleu-See wurde er verhaftet und „der Brandstiftung, des Raubes und des Anschlags auf Privateigentum“ angeklagt. Luis zufolge haben die Lafkenche einige Waldgrundstücke bereits „befreit“. Sie würden dort Tag und Nacht patrouillieren, und die Forstunternehmen hätten das Land aufgegeben. Die chilenische Presse berichtet fast täglich über den Konflikt im Süden. An Nachrichten über die Zerstörung von Forstmaschinen und über Auseinandersetzungen zwi- Victoria Eglau Chile schen Indios und dem Wachpersonal der Holzfirmen haben sich die Zeitungsleser gewöhnt. Die Täter werden in der Berichterstattung nicht selten als Terroristen bezeichnet, die die innere Sicherheit gefährden. Insgesamt 400 Mapuche seien 1999 festgenommen worden, weiß Luis, der einer der Führer der Lafkenche-Bewegung ist. Im „Lafkenche-Zentrum für Menschenrechte“ in Tirúa finden sie juristischen Beistand. Bürgermeister Adolfo Millabur unterstützt den Aufstand der Mapuche. „Die sozialen Konflikte funktionieren nicht per Brief. Auch nicht durch Versammlungen. Sie werden durch die Mobilisierung, durch die Proteste der Menschen gelöst.“ Auch die Mapuche könnten dieser Logik nicht entgehen. Das sie Gewalt anwenden, sei also legitim. Millabur sieht eine „historische Schuld“ des chilenischen Staates. Er erzählt von der sogenannten „Befriedung Araukaniens“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Völkermord wie im Kosovo sei das gewesen, nur habe die Welt es wegen der fehlenden Kommunikationsmittel nicht mitbekommen. Doch die Mapuche hätten überlebt, genauso wie sie die Versuche des Pinochet-Regimes überlebt hätten, ihre auf Gemeinschaftsbesitz basierenden Lebensformen zu zerschlagen. Jetzt müsse der Staat Verantwortung übernehmen und „eine neue Haltung zum Volk der Mapuche finden, es anerkennen und es auf eine Weise behandeln, die die Heilung der historischen Wunden erlaubt“. Die Ureinwohner-Behörde CONADI hat in den vergangenen Jahren Ländereien von den Forstunternehmen für die Mapuche zurückgekauft. Von einem Konflikt, der den ganzen Süden erfaßt hat, will ihr Direktor Rodrigo Gonzalez nichts wissen. Höchstens zwei Dutzend der mehr als 1.800 Mapuche-Gemeinschaften würden „gewisse Gewaltakte“ verüben, und die fänden in den rechts stehenden Medien nun einmal eine überdurchschnittlich große Beachtung. Dadurch entstehe der falsche Eindruck eines ausgedehnten Konfliktherdes, versichert der Politiker. Immer wieder betont Gonzalez, wie außerordentlich gut das Verhältnis der staatlichen CONADI zu den Indios sei. „Die Welt der Mapuche ist viel ruhiger, heiterer und traditionsbezogener, als es durch dieses Gewalt-Image scheint. Und zu dieser Welt, die ihre Traditionen, ihre Kultur und ihre Rituale hat, zu dieser Welt haben wir eine kontinuierliche, direkte Beziehung.“ Chile, so Rodrigo Gonzalez, habe in den kommenden Jahren die Chance, anzuerkennen, dass es ein multikulturelles Land sei. „Was wir wollen, ist, dass man uns nicht als eine Last betrachtet, sondern als eine Bereicherung für die Gesellschaft“, betont Adolfo Millabur. Als Beispiel nennt er die nachhaltige Entwicklung, die in den Reden der Politiker zum Modewort geworden sei. „Für uns Mapuche ist sie weder eine Mode, noch die erneute Erfindung des Rades. Sie war und ist für uns alltägliche Praxis“. Werte, wie den Respekt vor der Umwelt, wollten die Mapuche in die gesellschaftliche Entwicklung einbringen. Dafür erwarteten sie aber auch, Entscheidungen über ihre Chile Victoria Eglau eigenen Belange selber treffen zu können. „Wir sind keine Minderjährigen. Wir sind ein erwachsenes Volk. Also wollen wir auch die Autonomie und die Freiheit haben, zu entscheiden, was wir machen wollen, und was uns für uns am besten erscheint“. Dank an ... ... die Heinz-Kühn-Stiftung für die unvergessliche und unersetzliche Erfahrung, Frau Op de Hipt, die Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago, die Kollegen von Radio Cooperativa, die „Casa Luna“, meine chilenischen Freunde und Stephan Voellmicke. Susanne Freitag aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt im Senegal vom 30. April bis 27. Juli 1998 Senegal Susanne Freitag Zwischen Marabouts und Modernisierung Susanne Freitag Senegal, vom 30.04. – 27.07.1998, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Senegal Susanne Freitag Inhalt Zur Person Ein Traum, den es nicht gibt Ein Freitag in Dakar Die Marabout-Gesellschaft Musterschüler in der Krise oder „System D“ Der Wunsch nach dem Wechsel Zwischen Meetings und Marabouts – Der Wahlkampf Der Wahltag Das Ergebnis Ein Marabout im Parlament – Cheikh Abdoulaye Dièye Cheikh Amadou Bamba Superstar – Pilgern zum großen Magal Touba, die heimliche Hauptstadt Frauen im Senegal Das Dorf am Rande der Wüste „Das kann nur der Marabout entscheiden“ Die Wahrsagerin Entwicklung beginnt im Kopf – Der Marktgarten Abschied Susanne Freitag Senegal Zur Person Geboren 1967 in Wissel (heute Kalkar) am Niederrhein. Nach dem Abitur ein Jahr Au-Pair in Paris. Danach Studium der Politikwissenschaft und Germanistik in Stuttgart. Während des Studiums freie Mitarbeit bei verschiedenen Zeitungen. Nach dem Abschluss Volontariat bei SAT.1. Anschliessend freie Mitarbeit beim ZDF, Landesstudio NRW, und bei den WDR Redaktionen „NRW am Mittag“ und „Westpol“. Seit Januar 2000 Redakteurin im ZDF Landesstudio NRW. Ein Traum, den es nicht gibt „Viele, die hier herkommen, haben einen ganz bestimmten Traum von Afrika im Kopf, und genau dieser Traum geht hier gnadenlos den Bach runter“. Harte Worte, denke ich, als mir Berthold Franke, der Leiter des Goethe–Instituts in Dakar, seine Erfahrungen mit den zahlreichen Europäern schildert, die er hier hat kommen und gehen oder auch bleiben sehen. Die vielen Reisereportagen vermitteln ihn gerne: Den klassischen Traum von einem Afrika mit Elefanten, Giraffen und imposanten Naturschauspielen. Dieses Afrika findet man im Senegal tatsächlich nicht. Aber man findet etwas anderes. Amadou, ein Mitarbeiter der Friedrich-Ebert–Stiftung bringt mich nach 8 Stunden Flug in mein Hotel. Schon auf dem Weg vom Flughafen in die vor Autos überquellende und vor Leben strotzende Hauptstadt Dakar, wird dem Besucher das vor Augen geführt, was in diesem Land am meisten beeindruckt: Seine Gegensätze. Eben noch fährt Amadou an einer riesigen, wilden Müllkippe vorbei. Nach der nächsten Kurve eröffnet sich ein faszinierender Blick über das in der Sonne glitzernde Meer. Wir fahren vorbei an großen, herrschaftlichen Häusern, vor denen Bougainvilleen in allen Farben leuchten; ein paar Schritte entfernt Menschen, die am Strand in notdürftig zusammengestellten Pappkartons hausen, am Wegrand liegt eine tote Kuh. Amadou schaltet den Kassettenrekorder ein. Yossou N’Dour singt einen seiner Hits. An einer Kreuzung lacht sein Portrait von einem riesigen Plakat: Zahnpastareklame. „Hast du Kinder?“ fragt Amadou. Ich verneine. „Ich habe 10“, sagt er stolz. Ich sehe ihn fast bewundernd an. „Aber ich habe 2 Frauen“, fügt er erklärend hinzu und lacht, als er mein Gesicht sieht. Wir halten an einer Ampel. Sofort steht ein gebückt gehender Mann mit einem zerrissenen Hemd an der Autoscheibe und hält die Hand durchs offene Fenster. Sitzen Weiße in einem Fahrzeug, „Toubabs“ nennt man sie hier, könnte es sich lohnen. Toubabs sind für sie reich, unendlich reich. Senegal Susanne Freitag Mein Hotelzimmer, in dem ich ein paar Tage wohnen werde, ist dunkel und wenig einladend. Ganz in der Nähe ruft der Muezzin sein „Allahu Akbar“ – Gott ist allmächtig. Ein krächzender Lautsprecher sorgt dafür, dass er im ganzen Viertel gehört wird. Spätestens jetzt ist mir klar, dass mich hier etwas erwartet, das alle meine Vorstellungen vollständig über den Haufen werfen wird. Wer glaubt nicht gerne den Reisereportagen, die einen Traum vermitteln wollen? Ein Freitag in Dakar Es ist ein Gefühl, als ob plötzlich die Straßen vibrieren. Nichts geht mehr in der „Rue El Hadj Amadou Assane Ndoye“, zwischen dem zentralen „Place de l’Independance“ und einer mehrere hundert Meter entfernten Moschee. Normalerweise herrscht hier betriebsame Gelassenheit. Fliegende Händler bieten Batikhosen, T-Shirts, falsche Markenuhren und vereinzelte Schmuckstücke zweifelhafter Herkunft an, Frauen verkaufen Mangos am Straßenrand, ein paar Kinder betteln. Jetzt sieht man nur noch Männer. Sie strömen zu Hunderten zum Freitagsgebet – Pflicht für männliche Muslime, wenn nicht schwerwiegende Gründe wie Krankheit dagegen sprechen. Sie sind gut gekleidet. Viele tragen das Nationalgewand, den Boubou. Die Kleidung muss sauber sein zum Gebet. Auf der Straße breiten sie ihre Gebetsmatten aus, weil in der Moschee kein Platz mehr ist. Viele tragen eine bunte Plastikkanne mit Wasser bei sich, für die rituellen Waschungen vor der Zwiesprache mit ihrem Gott. Dann neigen sich hunderte Körper gleichzeitig Richtung Mekka. Ich stehe plötzlich mittendrin, versuche, zu meiner Wohnung zu gelangen – zwecklos. Die Marktstände am Straßenrand sind geschlossen. Ich komme mir fehl am Platze vor, will die religiöse Konzentration nicht stören, stolpere trotzdem über eine Gebetsmatte und ziehe mich schließlich ins nahegelegene, französische Kulturzentrum zurück. Noch Stunden später klingen die Gebetsgesänge aus der Moschee. Für Ibrahim ist Freitag ein besonders guter Tag. Freitag ist Almosentag, dann verdient er viermal so viel wie sonst. Ibrahim ist Bettler, eine Polio–Erkrankung hat seinen Körper verkrüppelt. Jeden Morgen sitzt er vor „seiner“ Moschee. Er ist aufs Betteln angewiesen. Der Glaube ist seine Lebensgrundlage und zugleich überlebensnotwendig. Die Gabe von Almosen ist Pflicht für jeden Moslem. Vor Gott sind alle gleich. Unabhängig von ihrer Rasse, ihrer Ethnie und ihrer sozialen Herkunft. Bei den Eigentumsverhältnissen darf es Unterschiede geben, sie sind sogar gottgewollt, sofern sie das Ergebnis eines gottgefälligen Verhaltens sind. Die reicheren Mitglieder der religiösen Gemeinschaft, der „Umma“, sind nach dem Koran dazu verpflichtet, die ärmeren zu unterstützen. Deshalb kann Ibrahim sich über Wasser halten. Es kommt vor, dass am Freitag eine glänzende Limousine neben ihm hält, das Fenster fährt fast lautlos herunter, der gutbetuchte Susanne Freitag Senegal Fahrer steckt ihm ein paar Francs zu. Weder Ibrahim noch dem Limousinenfahrer kommt das irgendwie komisch vor. Senegalesische Realität. Die Marabout–Gesellschaft Weit über 90 % der Senegalesen sind Moslems. Die Religion ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Seit vor vier Jahren die nationale Währung, der Francs CFA, um 50 % abgewertet wurde, geht es den Menschen schlechter. Die Gegensätze verschärfen sich. Vor allem in Dakar schockieren die Kontraste zwischen arm und reich jeden Tag aufs Neue. Der Islam hat deshalb eine integrative Funktion bekommen. Mit der Religion haben die Menschen einen Anlaufpunkt, eine letzte, wirklich verlässliche Größe im Leben. Vielleicht ist es die Überzeugung, dass alles ganz genau so sein muss, die die Menschen so aufgeschlossen, freundlich und hilfsbereit macht. Jeder gibt gerne Auskunft, auch wenn man als „Toubab“ nach ihrem Glauben fragt. Der Islam im Senegal ist tolerant. Andere Glaubensgemeinschaften werden gleichberechtigt behandelt. Staatschef Abdou Diouf ist zum Beispiel mit einer Christin verheiratet. Was zählt, ist der Mensch. Schon im 11. Jahrhundert brachten Berberstämme aus der Sahara und später Marokkaner den Islam in den Senegal. Die Ausbreitung erfolgte langsam, ließ Platz für Elemente der früheren Naturreligionen. Mit der Zeit erhielt der Islam im Senegal eine ganz besondere Ausprägung. Die Gläubigen sind in Bruderschaften organisiert. Diese Form der Organisation gibt es auch in anderen Ländern, aber nirgendwo ist ihre Bedeutung politisch und gesellschaftlich so groß wie hier. Etwa ein halbes Dutzend solcher Bruderschaften existieren im Senegal. Der Großteil der Gläubigen gehört zu den zwei größten Gruppen: Den Mouriden und den Tidjanen. Die Bruderschaft der Mouriden gilt als die bedeutendste im Senegal. Sie wurde im 19. Jahrhundert von dem inzwischen legendären Cheikh Amadou Bamba gegründet. Bamba war ein bedeutender religiöser Führer. Er lehnte sich gegen die Kolonialherren auf, und wurde deshalb mehrfach ins Exil verbannt. Seine Rückkehr aus dem Exil wird noch heute mit dem großen Magal gefeiert, der sich zu einem der größten Pilgerereignisse Westafrikas entwickelt hat. Der Gründer der Bruderschaft wird inzwischen wie ein Heiliger verehrt. In der weiteren Entwicklung prägten die Mouriden den Ausbau der Erdnuss–Monokultur, später auch den Handel und das Transportwesen. Damit verstärkte sich auch ihre Bedeutung in der Politik des Landes. Ihre heilige Stadt Touba ist fast ein Staat im Staat, ähnlich dem Vatikan. Eine eigene Polizei achtet darauf, dass das Rauchund Alkoholverbot tatsächlich eingehalten wird. Grundlagen des Mouridismus sind die heilige Schrift, das Gebet und vor allem die Arbeit. Die Bruderschaft ist Senegal Susanne Freitag streng hierarchisch gegliedert. An der Spitze steht der Khalif. Die folgende Ebene bilden rund 200 große Marabouts. Ihnen folgen bedingungslos die zahlreichen Anhänger des Glaubens, die Talibés. Dem Befehl der Marabouts und dem Befehl des Khalifen, Ndigel genannt, müssen sie folgen. Die Bruderschaft der Tidjanen ist zahlenmäßig größer als die der Mouriden und wesentlich älter. Um 1765 wurde sie von Cheikh Ahmed Tidiani gegründet. Ihr religiöses Zentrum liegt in Tivaouane, einer kleinen Stadt nordöstlich von Dakar. In der Wirtschaft sind die Tidjanen weniger präsent. „Wir bevorzugen Studium und Frömmigkeit, die Mouriden die Arbeit und das Geld“, sagte einst einer ihrer Anhänger. Die Tidjanen sind mehr an der arabischen Welt orientiert. Das hat allerdings keinen Einfluß auf das tolerante, senegalesische Bewusstsein im Hinblick auf alle anderen Religionen. Vor allem in der Mittelschicht und in ländlichen Gebieten ist dieses Bruderschaft verbreitet. Die Marabouts, die spirituellen Führer der Bruderschaften, haben die absolute religiöse Autorität und eine beträchtliche soziale und wirtschaftliche Macht. Sie haben eine Funktion als Mittler zwischen Allah und den Menschen auf der Erde. Diese Position in der gesellschaftlichen Ordnung und das tiefe Vertrauen, das ihnen die Glaubensgemeinschaft der Talibés entgegenbringt, sichern ihnen die Unterstützung vom Bettler bis zum Politiker. Von den Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft mit reichlich Spendengeldern bedacht, wird ihnen ein angenehmes, luxuriöses Leben ermöglicht. Viele Marabouts fahren große Limousinen und leben im Luxus. „Cadillac Marabouts“ nennt sie der Volksmund, ohne daran etwas auszusetzen. Stehen, wie in diesem Jahr, Wahlen ins Haus, sieht man häufig Staatskarossen in den heiligen Städten vorfahren. Dann wollen auch die Politiker von den Mittlern zwischen Allah und den Menschen profitieren. Sie geben ihnen Geld, und erhoffen sich davon ein gutes Wort in der Öffentlichkeit, oder sogar einen Ndigel für die Wahl. Ohne die Marabouts läuft nichts im Land, die Religion ist die treibende Kraft im Senegal. Musterschüler in der Krise oder „System D“ „Das ist der Senegalese nach der Geldabwertung“. Moustapha zeigt auf eine abstrakte Holzfigur, die den Kopf auf die Hände stützt. „Sie heißt der Denker“, erklärt der 22jährige Händler, „zu denken haben wir im Moment genug“. Moustapha ist einer von den vielen fliegenden Händlern Dakars. Sein Gebiet liegt in der Nähe des „Place de l’Independance“. Der erste Eindruck: Moderne Bankenhochhäuser, Hotels und andere Prachtbauten. Ganz in der Nähe die „Avenue Georges Pompidou“, die „Ponty“. Eine Einkaufs- und Flaniermeile, Paradies für Gutbetuchte, Taschendiebe, Straßenhändler. Mit etwas Phantasie könnte Dakar auch eine südeuropäische Großstadt sein. Wäre da nicht der Susanne Freitag Senegal Müll in den Straßen, wäre da nicht der Bettler, der sich auf einem rollenden Holzbrett mit den Armen abstößt. „Ein paar Francs Madame, bitte“. Dakar, dazu gehören auch die Hausfrauen, die sich mit dem Verkauf rosafarbener Kolanüsse durchschlagen, die das Gefühl von Hunger und Durst für Stunden beseitigen können. Die Kinder in ihren zerrissenen Kleidern, die mit sonoren Stimmen „He, Monsieur“ rufen, sich minutenlang an die Fersen der Bankiers heften, damit diese ein paar Geldstücke in die Konservendose werfen, die einst das Tomatenmark für das Reisgericht zu Hause enthielt. Und eben Menschen wie Moustapha, die hier täglich versuchen, ihre Waren an den Mann zu bringen, damit sie ihre Familie ernähren können. Auf den Straßen Dakars herrscht das System D. D wie Debrouillardise – D wir Durchschlagen. Lange galt der Senegal als Vorzeigestaat, ein „Musterländle“ in Afrika. Demokratie, Toleranz, politische und religiöse Offenheit – diese Attribute schrieb man dem Land auf die Flagge, und diese Attribute rechneten sich auf den Staatskonten. Die Entwicklungsgelder flossen mehr als üppig. Alles sollte noch schöner werden. Als IWF und Weltbank 1985 ein langfristiges Strukturanpassungsprogramm einführten, sollte die Grundlalge für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum geschaffen werden. Mehr Privatisierung, Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien, Effizienzsteigerung in der Landwirtschaft, Diversifizierung der Außenwirtschaft – mit diesen schönen Schlagworten aus der Welt der großen Industrienationen sollte der Senegal auch auf dem ökonomischen Sektor zum Vorzeigebeispiel werden. Die Wirtschaftsdaten sehen auf den ersten Blick wirklich gut aus. 5% Wachstum, eine minimale Inflationsrate, ein nicht nennenswertes Staatsdefizit. Die internationalen Geldgeber sind zufrieden. So zufrieden, dass die Institutionen von Bretton Woods in diesem Jahr nochmal einen Kredit von 2 Milliarden Francs CFA zugeschossen haben. Die Menschen im Senegal aber sind nicht zufrieden. Der Staat legt ihnen keine Rechenschaft ab, keiner weiß, wo die Entwicklungsgelder eigentlich geblieben sind. Einen der schwersten Schocks erlebte das Land bei der Abwertung des Francs CFA im Januar 1994. Der FCFA ist mit einem festen Wechselkurs an den französischen Francs gekoppelt. 100 FCFA entspreche einem französischen Francs. Seit der Abwertung stößt der Musterländle–Mythos an seine Grenzen. Zwei Drittel der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, nur in 16,7% der Haushalte gibt es fließendes Wasser, nur 23% haben einen Stromanschluss. Die einst erfolgreichen Exportgüter, wie Erdnüsse, Baumwolle und Reis, finden kaum noch Absatz, damit erlebt die Landwirtschaft eine ihrer schwersten Krisen, mit sichtbaren Folgen in den ländlichen Regionen des Landes. Lediglich der Export von Fisch und der Tourismus boomen noch, ansonsten ist der Senegal weitgehend auf Importe angewiesen. „Der Staat versagt total“, sagt Ibrahim Gueye, ein Wirtschaftsexperte, der sich seit Senegal Susanne Freitag Jahren um Investoren aus dem Ausland bemüht. „Es gibt gute Fachleute in der Privatwirtschaft, mit hervorragenden Qualifikationen, aber sie werden nicht gefördert. Sie sitzen mit ihrem Know–How zu Hause und sind arbeitslos. Existenzgründungen werden verhindert, und die Wirtschaft geht derweil weiter den Bach runter“. Geld bekommt der Staat immer dann, wenn er Entwicklungsprojekte in Aussicht stellt. Was aber aus den einzelnen Projekten wird, danach fragt schon ein Jahr später niemand mehr. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit investierte vor ein paar Jahren in ein ehrgeiziges Staudammprojekt nördlich von St. Louis. Die Vorgabe war, dass der Staat damit 50 % des Stromaufkommens produziert. Der Staudamm steht, hat inzwischen zu einer Bilharziose–Epidemie in der Bevölkerung geführt, aber noch keine einzige Kilowattstunde Strom erzeugt. „He Toubab, Neckermann macht’s möglich, billig billig“. Vor mir steht ein grinsender Händler und hält mir einen piepsenden, rosafarbenen Plastikwecker entgegen – „Made in Asien“. Ich stehe mitten im Getümmel, in den verwinkelten Straßen des Sandaga Marktes, in denen sich ein Marktstand an den anderen reiht, und Weiße besonders beliebte Opfer aufdringlicher Verkaufsstrategien sind. Der Sandaga–Markt ist fest in den Händen der Mouriden. Sie kontrollieren fast den gesamten Handel des Landes, und fast das ganze Transportwesen ist in den Händen der Marabouts von Touba. Ein Taxifahrer muss für sein Fahrzeug etwa 30 Mark am Tag bezahlen. Er zahlt sie meist an ein Transportunternehmen, das einem Mouriden gehört. Um einen Tagesverdienst einzufahren, muss er einen ganzen Tag, und manchmal auch die halbe Nacht, Fahrgäste transportieren. Ein Taxifahrer verdient am Tag zwischen fünf und sechs Mark, aber Taxifahren ist ein beliebter Job im System D. An manchen Tagen hat man in Dakar den Eindruck, dass es mehr Taxen als Einwohner gibt. Dass sie für die Mouriden unterwegs sind, ist ihren Autos leicht anzusehen. Aufkleber und Zeichnungen im Auto tragen das deutlich zur Schau: „Allah is the greatest“, Portraits von Cheikh Amadou Bamba, Fotos des großen Kalifen, oder die Aufschrift „Talibé“. Über 90% der Senegalesen arbeiten in diesem informellen Sektor. Sie zahlen keine Steuern und schlagen sich mit gelegentlichen Jobs durch. Über 90% dieses informellen Sektors wiederum ist in den Händen der Mouriden. Die Umsätze der Branche kommen der Wirtschaft des Landes nicht zugute. 3 Gruppen verdienen an dem schnellen und unsicheren Geschäft auf der Straße: Die Importeure, die mit Säcken voll Bargeld nach Asien reisen, um dort ihre Waren bar zu zahlen; die Zöllner, die Bestechungsgelder erhalten, damit die Billigwaren eingeführt werden können und natürlich die Marabouts. Die Gewinne werden nicht bei den Banken deponiert, sondern zu Hause gehortet. Sie helfen der Familie im System D zu überleben. Geplant wird bis morgen, dann wird man weiter sehen. Dem Land gehen auf diese Weise Milliarden ver- Susanne Freitag Senegal loren. „Wir befinden uns in einer gefährlichen Sackgasse“, sagt Momar Comba Diop, Sozialwissenschaftler am „Institut Fondamental de l’Afrique Noire“, IFAN. „Wir leben inzwischen in einem System des Neokolonialismus. Die Wirtschaft hier wird bestimmt von der Weltbank und von den großen französischen Unternehmen. Die senegalesischen Unternehmer haben gar nichts davon. Und das, was im informellen Sektor an Wirtschaft betrieben wird, ist reine Basar–Kultur“. Die internationalen Geldgeber setzten Großes voraus. Das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung sollten sich weiterentwickeln. Aber daraus ist nichts geworden. Nach wie vor sind in den ländlichen Gebieten 70% der Bevölkerung Analphabeten. Nur knapp über 60% aller Kinder können eine Schule besuchen. Und in den Krankenhäusern fehlen die notwendigen Materialien und Medikamente. „Ich habe in der letzten Woche neun Kinder sterben sehen“, erzählt mir Sarah. Sie arbeitet auf der Kinderstation des Hopital Dantec. „Hätte ich die richtigen Medikamente gehabt, ich hätte sie retten können. Aber Medikamente verschwinden hier sofort“. Sie hat beobachtet, dass sich Schwestern und Pfleger Medikamente in die eigene Tasche stecken. Im Ernstfall werden sie unter der Hand an Patienten verkauft. Auch das ist das System D. Eines ist trotz aller ökonomischen Schwierigkeiten geblieben: Die „Teranga“, die senegalesische Gastfreundschaft. Für einen Gast werden die letzten „Sous“ zusammengekratzt, damit er mit den Gastgebern Essen und Trinken kann. „Komm, setz dich zu uns“, heißt es dann, „mach es dir bequem und fühl dich wie zu Hause“. Der Sengal steht vor einer Zerreissprobe. Ständig wird der Strom abgestellt. Die Studenten kämpfen auf der Straße für eine bessere Ausbildung, und in der bei Touristen beliebten Ferienregion im Süden des Landes, der Casamance, ist der Separatistenkrieg wieder aufgeflammt. Die Leidtragenden des von aussen kontrollierten Wirtschaftswachstums sind die „Mamadou Normalverbraucher“. Ihr Geld besitzt seit der Abwertung keine Kaufkraft mehr. Der Niedergang der klassischen Landwirtschaft zieht immer mehr junge Menschen in die großen Städte, in denen es immer weniger Arbeit und immer mehr Kriminalität gibt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Senegal ist unter 20 Jahre alt. Mehr als die Hälfte dieser Bevölkerungsgruppe hat keinen Job. Das ist ein Grund dafür, dass die Religion, vor allem auch bei jungen Menschen, immer wichtiger wird. Im Wahljahr 1998 stehen die Parteien vor großen Herausforderungen. Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die Politik verloren. Wie Moustapha mit seinem „Denker“, der jetzt den nächsten Touristen anspricht: „Das ist der Senegalese nach der Franc–Abwertung. Ich mache Dir einen guten Preis“. Senegal Susanne Freitag Der Wunsch nach dem Wechsel „Es sind doch seit Jahren die gleichen, die da oben sitzen und uns regieren. Ich habe genug davon“. Niang klingt resigniert. Es ist Wahlkampf im Senegal. In drei Wochen wird ein neues Parlament gewählt. Niang befürchtet, das es mal wieder so ausgeht, wie immer. Seit 1970 leitet Abdou Diouf die Staatsgeschäfte, und schon lange vorher, unter dem ehemaligen Staatschef Senghor, regierte die „Parti Socialiste“, die PS. Sie meint Niang, wenn er von „denen da oben spricht“. Oppositionsparteien sind seit 1976 zugelassen. Seitdem ist auch Abdoulaye Wade von der politischen Bildfläche nicht mehr wegzudenken. Er ist Chef der „Parti Démocratique Sénegalais“ (PDS), der „einzigen wirklichen Oppositionspartei“, wie er selber sagt. Wade, das Urgestein, inzwischen 73 Jahre alt, will auch in diesem Jahr wieder versuchen, aus der ewigen Opposition herauszukommen. 18 Parteien stehen zur Wahl. Seit kurzem gibt es für Diouf und Wade eine ernste Herausforderung. Djibo Leïti Kâ, früher Mitglied der Regierung, sogar Ziehkind von Abdou Diouf, verließ mit einigen Parteikollegen unvermittelt die PS, um eine eigene Partei zu gründen. Jetzt sieht man ihn in Siegerpose auf zahlreichen Wahlplakaten, die glauben machen wollen, dass „Le Renouveau – Die Erneuerung“, der Schlüssel zur Veränderung sein soll. Niang mag auch daran nicht so recht glauben. Die Veränderung wird vom Volk geradezu beschworen. „Sopi“ heißt Wechsel und ist eines der magischen Worte, in diesen Wochen vor der Wahl. Das zweite Schlüsselwort heißt „Fraude“ und bedeutet Betrug. Wahlbetrug. Glaubt man Abdoulaye Wade, hätte er schon die letzten Wahlen gewonnen, hätte Dioufs Partei nicht massiv gepfuscht. Es ist wieder soweit. Mai 1998. Jeden Tag füllen „Fraude“ –Geschichten und –gerüchte die Titelseiten der Tagespresse, und die Sendungen der oppositionellen Privatradios. Wahlkarten sollen gefälscht worden oder einfach verschwunden sein. Falsche Ausweise und Führerscheine sind im Umlauf. In den Computern suchen zahlreiche Senegalesen ihren registrierte Namen, vergeblich. Statt dessen finden sie die Namen von Toten oder Säuglingen. Niang hat seine eigenen Erfahrungen mit der „Fraude“ gemacht. „Vorgestern kam ein Freund zu mir“, sagt er. „Er hat mir 10.000 Francs CFA geboten, damit ich ihm meine Wahlkarte überlasse!“ 10.000 Francs CFA, das sind rund 30 Mark. Für viele Familien ist das mehr, als sie in einer Woche verdienen können. Ein kleines Vermögen, cash auf die Hand. Auch für Niang ist das viel Geld. Aber er hat abgelehnt. „Mein Freund hätte mit seiner Karte die PS gewählt. Es ist ein Skandal, was in diesem Land gerade abläuft. Stell dir mal vor, er geht zu einer Mutter, die gerade nicht weiß, wie sie den Reis und den Fisch für ihr „Thieboudienne“ bezahlen soll – ist doch klar, wie sie sich entscheidet. Ich will, dass sich hier etwas ändert. Ich werde selbst wählen“. Susanne Freitag Senegal Am Eingang des Betriebshofes des öffentlichen Busunternehmens SOTRAC sitzen etwa 60 Männer und Frauen. „Wir wollen unser Geld“, haben sie an die Mauer geschrieben. Sie streiken. Seit vier Monaten haben sie ihren Lohn nicht bekommen. Man munkelt, die Regierungspartei habe sich mit den Kosten für den Wahlkampf übernommen, so dass jetzt kein Geld mehr da sei, um die eigenen Arbeiter zu bezahlen. Streik bei öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es regelmäßig, das Problem ist immer das gleiche. Der Schulhof im Dakarer Stadtviertel HLM 4 B. Ein sandiger Platz, von der Straße abgetrennt durch eine Mauer. In der Mitte ein großer Baum. In seinem Schatten sitzen vier Männer auf einer Bank, ein paar andere stehen zusammen und diskutieren. In dieser Schule sollen sie ihre Wahlkarten abholen, und seit drei Tagen ist der zuständige Beamte nicht aufgetaucht. „Seit Tagen nehme ich mir ein paar Stunden frei“, sagt ein Mann nachdenklich, „und immer ist es umsonst. Ich will doch demokratisch wählen. Manchmal schäme ich mich ein bisschen, hier im Senegal zu leben. Seit Jahren versuchen sie hier eine Demokratie einzurichten, aber es funktioniert einfach nicht. Ich glaube, die da oben sind schon zu lange die gleichen“. Der Wahlbeamte kommt auch heute nicht. Und trotz allem sollen es in diesem Jahr die demokratischsten, transparentesten Wahlen seit der Unabhängigkeit werden. Zum ersten Mal gibt es bei den Parlamentswahlen ein unabhängiges Kontrollgremium, die ONEL (Observatoire national des élections législatives). 165 Mitarbeiter sollen eine durchschaubare, demokratische Wahlabwicklung sichern, „Fraude“-Vorwürfen nachgehen. Sie haben schon vor der Wahl alle Hände voll zu tun. „Wir tun alles, damit die Wahlen transparent sind“, sagt der ehemalige General Mamadou Niang, Präsident der ONEL. Er hat den Status eines neutralen Beobachters, denn senegalesische Militärs, egal ob im Dienst oder in Rente, können weder wählen, noch gewählt werden. „Die ONEL ist ein großer Fortschritt in der Wahlgeschichte des Senegal. Sie gibt ein bisschen von dem verlorenen Vertrauen zurück“, sagt Penda Mbow. Sie lehrt Geschichte an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar. „Die demokratischen Institutionen sind doch ansonsten nur leere Hüllen. Wenn man zum wiederholten Mal sieht, dass eine Wahl zu nichts führt, dann gibt man irgendwann eben auf. Zwischen Meetings und Marabouts – Der Wahlkampf Gedränge auf dem großen Platz vor dem Hafen von Dakar. Die Sonne brennt unerbittlich vom wolkenlosen Himmel. Tausende sind dem Aufruf der Regierungspartei gefolgt, am „Megameeting“ der „Parti Socialiste“ teilzunehmen. Ousaman Tanor Dieng, Spitzenkandidat der Partei, wird zum Volk sprechen, zum Senegal Susanne Freitag letzten Mal, bevor an den Urnen eine Entscheidung getroffen wird. „Comitée d’organisation du Megameeting“ steht auf den Anstecknadeln der Ordner, die inzwischen einige Mühe haben, die aufgeheizte Menge zu kontrollieren. „Meetings“ heißen die bunten Werbeveranstaltungen der 18 Parteien. Seit Wochen touren ihre Vertreter in alle Regionen des Landes, damit jeder sie sehen kann. Politik zum Anfassen. So wollen es die Senegalesen, das hat eine Studie der Universität St. Louis ergeben. Bei den „Meetings“ der letzten Wochen gab es Tote und zahlreiche Verletzte. Die Stimmung wird vorher gründlich aufgeheizt. „Meetings“ beginnen niemals pünktlich, sondern immer so spät, dass die Frauen, die der Partei nahestehen, Zeit haben mit einem bunten Fest die Menge in Stimmung zu bringen. „Wir sind Menschen des Tanzes, deren Füße Kraft bekommen, wenn sie den harten Boden stampfen“, so beschrieb der Ex–Präsident und Schriftsteller Leopold Sedhar Senghor den Tanz auf seine poetische Art und Weise. Die Parteien hoffen, dass auch sie durch den Tanz der Frauen Kraft bekommen, ihr Volk zu überzeugen. Das ist in diesen Tagen nicht leicht. Die Polizei hat eine Eisenbarriere aufgebaut, um die Ehrentribüne, auf der Ousman Tanor Diengs Rednerpult bereitsteht, abzuschirmen. Die Menschen harren seit fast vier Stunden auf dem Platz aus, die Masse tobt. Dann fährt „Tanor“, begleitet vom Geheul zahlreicher Sirenen, vor. Gut gesichert durch breitschultrige Bodyguards mit Militäranzügen, Spiegelsonnenbrillen und Handys betritt er die „Meetingarena“. Jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Barrieren fallen, Menschen stolpern übereinander. Ich wundere mich, dass keine Panik ausbricht. Alle wollen in seiner Nähe sein. Zwei Minuten spricht der Mann, auf den alle gewartet haben, zum Volk, dann zieht er unter tosendem Beifall wieder zu seiner klimatisierten Limousine, steigt ein und fährt zum nächsten Termin. Danach löst sich die Menge auf, als sei nichts gewesen. Der Marktplatz in Rufisque bietet ein ähnliches Szenario. Hier spricht der Vertreter der großen Oppositionspartei, Abdoulaye Wade. Bevor der mit seinem Diskurs beginnt, betet er einige Koranverse. Das haben sie sich immer mehr angewöhnt, die Politiker. Religion ist vielleicht kein Opium fürs Volk, aber sie ist der wichtigste Faktor in ihrem Leben. Ohne die Grundlage Religion könnten auch die Politiker nicht überleben. Insgeheim hoffen sie, damit auch die Vertreter der religiösen Bruderschaften auf ihre Seite zu ziehen. Aus Erfahrung wissen sie, dass eine Empfehlung des Marabout ihren Wahlsieg bedeuten kann. Das war noch eine schöne Zeit für Abdou Diouf, als er sich der Unterstützung der Marabouts gewiss sein konnte. In schöner Regelmäßigkeit verkündete der große Khalif von Touba seinen „Ndigel“ zur Wahl. Die Talibés folgten und wählten Abdou Diouf. Inzwischen hat sich einiges verändert. Der neue Khalif der Mouriden, Serigne Saliou Mbacké, interessiert sich weniger für die Politik. „Meetings“ in der heiligen Stadt hat er streng verboten, und einen „Ndigel“ spricht er nicht aus. Susanne Freitag Senegal „Die Marabouts sind schlauer geworden“, sagt Boubacar Kanté, Rechtswissenschaftler an der Universtität St. Louis und im Spitzengremium der Wahlkontrollorganisation ONEL. „Sie wissen, dass die Wahlen trotz allem immer demokratischer werden, dass es tatsächlich immer weniger Möglichkeiten gibt, zu pfuschen. Sie wissen auch, dass sie für eine direkte Wahlempfehlung verantwortlich gemacht werden können. Und sie können sicher sein, dass die Politiker nach wie vor bei jeder großen Entscheidung nach Touba oder Tivaouane fahren, um den Segen für ihr Vorhaben zu bekommen. Sie haben ihre Strategie verändert und legen sich einfach nicht mehr fest“. Tatsächlich fahren die Staatskarossen oft in die heiligen Städte. Djibo Ka, der abtrünnige Ex-Minister der PS, wurde unter großem Interesse der Öffentlichkeit beim Marabout der Mouriden in Touba gesehen, kurz bevor er das Regierungsbündnis verließ, um mit seiner eigenen Partei in den Wahlkampf zu ziehen. Inzwischen haben sich die Marabouts auch andere Möglichkeiten der Einflussnahme geschaffen. Mit Handy und Laptop findet man sie an den Schnittstellen zwischen Politik und Wirtschaft. „Marabout Mondains“ nennt man diese neue Generation, die sich geschickt zu Strippenziehern in politischen und wirtschaftlichen Unternehmen gemacht hat. Die Bedeutung der Marabouts bei den Wahlen ist nach wie vor da, aber immer schwerer zu durchschauen. Der Wahltag Dakar, 24. Mai. An den Kassen des Riesenstadions Iba Mar Diop drängen sich die Menschen. Sie wollen keine Karten für ein Fußballspiel kaufen, sondern ihre Wahlkarten abholen. Ich bin mit einem Reportage–Team von „Sud FM“ dabei. „Sud FM“ ist die größte, private Radiostation im Senegal und zur Zeit einer der am meisten gehörten Radiosender im Land. Seit fast vier Wochen arbeite ich dort, und von Anfang an haben mich meine Kollegen wie eine von ihnen behandelt. Mein Kollege Birima Fall und ich sind „Mannschaft 5“. Aus sechs Wahlbezirken werden wir über den Tag hinweg live berichten. Heute sind alle Kollegen ausnahmslos im Einsatz. Alle sind ausgeflogen, in die verschiedenen Stadtteile Dakars und in die Regionen des Landes. Alle stehen jetzt auf Schulhöfen, in Klassenzimmern, beobachten, fragen, analysieren und berichten. Vier Wochen Wahlkampf liegen hinter uns, vier Wochen durcharbeiten, ohne einen einzigen freien Tag, in einem Studio, in dem es überall an Material fehlt. Die Menschen stehen Schlange vor den abgeschabten Türen einer Schule im Stadtteil Gibraltar. Auf dem sandigen Schulhof und in den Schulklassen, in denen sonst Kinder Lesen und Schreiben lernen, drängen sich heute ihre Eltern und Großeltern. Viele Menschen halten sich kleine Transistorradios ans Ohr. Das Radio ist das Medium Nummer 1, erst recht seit man im Senegal zwischen meh- Senegal Susanne Freitag reren Sendern wählen kann. Vor 5 Jahren war das undenkbar. Die Privatradios haben aufgeholt. „Sud FM“ war die erste Radiostation, die überregionale Informationen in französischer Sprache, aber auch in Wolof gesendet hat. Inzwischen sind andere nachgezogen. Sehr zum Verdruss der Regierungspartei, die bei ihrem staatlichen Haussender RTS penibel darauf achtet, dass keine Kritik über den Äther geht. Ein Mann spricht uns an: „Ihr müsst mal da rüber, in die Schule gehen. Da gibt es Probleme mit der Tinte. Das müsst ihr mal berichten. Sonst wird doch wieder derselbe Pfusch betrieben, wie beim letzten Mal“. Die, die ihre Stimme abgegeben haben, erkennt man an ihrem leuchtend pinken Zeigefinger. Den nämlich muss jeder Wähler in einen Topf mit Tinte tauchen, die man nicht entfernen kann. In die Kabine geht jeder mit 18 Wahlzetteln. Der „richtige“ Zettel kommt in den Umschlag, 17 andere werden weggeworfen. Noch Monate später werden die Brotverkäufer in ihren kleinen Holzbuden die Baguettes in Wahlzettel einwickeln. Wir folgen dem Rat des aufmerksamen Hörers und gehen in die andere Schule. Dort ist der Schulhof für die Menschenmassen viel zu eng. Stimmen werden laut, zwei Leute streiten sich, es kommt zu einem Gerangel. Ein empörter Wähler kommt aus dem Waschraum. „Da, siehst du, ich habe mir gerade die Hände gewaschen. Die Tinte ist weg. Das ist „Fraude – Betrug“. Die Mitglieder des unabhängigen Wahlkommitees sind unterwegs, um neue Tinte zu besorgen, aber das kann dauern. In einem anderen Raum gibt es Ärger, weil ein falscher Pass entdeckt wird. Im Klassenraum 4 kommt ein alter Mann, nachdem er seine Stimme abgegeben hat, zum zweiten Mal herein. „Ich möchte gerne noch einmal wählen“, sagt er. Die Vorsitzende des Wahlbüros und die Vertreter der ONEL versuchen ihm zu erklären, dass das nicht geht. Der Mann sieht sie verständnislos an: „Aber das habe ich bei den letzten Wahlen doch auch immer gemacht“. Wir treffen Abdoulaye Wade in seiner schattigen, gut klimatisierten Villa im Nobelviertel Point E. Der in einen blauen Boubou gekleidete, ewige Oppositionelle ist in seinem Element. „Diese Regierung ist schon wieder dabei, uns zu betrügen“. Längst hat er über das Radio von den vereinzelten Problemen gehört. „Die Tinte ist abwaschbar, die Büros haben viel zu spät aufgemacht, Wahlzettel fehlen“. Er zählt die Unregelmäßigkeiten auf, die im Laufe des Vormittags bekannt geworden sind. Wieder ist von „Fraude“ die Rede. Er kritisiert Staatschef Abdou Diouf, der am Morgen unter großem Aufwand und großem Medieninteresse in einer Schule gewählt hat. Das sei Wahlkampf. Diouf habe damit verbotenerweise die Wahlkampagne verlängert. Er selbst ist optimistisch, dass er der Sieger der Wahlen sein wird. In der Parteizentrale der „Parti Socialiste“ herrscht schon am frühen Nachmittag Partystimmung. Man gibt sich siegessicher. Musik kommt aus großen Lautsprechern, die Vorbereitungen für die Wahlparty am Abend laufen schon, Susanne Freitag Senegal obwohl es noch nicht einmal vorläufige Ergebnisse gibt. Wir werden in ein Besprechungszimmer geführt und dürfen in einer bequemen Sitzecke Platz nehmen. Man bringt uns eisgekühlte Cola, Wasser, Kaffee und eine große Dose mit Keksen. Die Partei hat Geld und zeigt es auch. Wir sprechen die Parteifunktioäre auf die Vorwürfe von Wade an. „Das ist typisch für ihn. Aber offen gesagt: Ihr bei Sud FM tut auch immer so, als sei die PS der einzige große Wahlbetrüger. Eure Berichterstattung ist wirklich einseitig. Eigentlich ist es nämlich die PDS, die betrügt“. Den Vorwurf der einseitigen Berichterstattung lässt Birima nicht auf sich sitzen, denn gerade bei Sud FM wird auf Ausgewogenheit und Diskurs viel Wert gelegt. Man diskutiert ein bisschen, bestimmt, aber höflich, wie es üblich ist im Senegal. Nichts ist so wichtig, wie der Dialog. Selten gehen Menschen im Streit auseinander, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Sie bringen sich immer Respekt entgegen, auch am Wahltag. Hochrechnungen kommen an diesem Tag von uns, den Journalisten. Die Wahlhelfer zählen die Stimmen per Hand aus. Militärs bewachen die fest verschlossenen Türen, keiner kommt dort hinein. Die Anzahl der Stimmen wird in vorgedruckte Tabellen eingetragen, und sobald wir die ersten Ergebnisse in den Händen halten, wird live berichtet. Das Ergebnis Die endgültigen Wahlergebnisse werden erst Wochen später bekanntgegeben. Die PS hat erkennbar die meisten Stimmen. Doch vor allem im Großraum Dakar hat sie einige Bezirke verloren. Im Viertel HLM 4B hat sie keine Mehrheit bekommen. Abdoulaye Wade hat unter anderem in Touba die meisten Stimmen erhalten. Er hatte dort einen Marabout als Kandidaten aufgestellt. Das bringt Punkte. Die Regierungspartei musste empfindliche Dämpfer hinnehmen. Ihr Abtrünniger Djibo Ka fuhr ein fulminant gutes Ergebnis ein. „Es ist ein Schritt in die richtige Richtung“, meint Birima, „wir sind auf dem Weg, eine Demokratie zu werden.“ In den Wochen nach der Wahl wird noch viel über das Ergebnis diskutiert. Abdoulaye Wade und sechs andere Oppositionsparteien wollten die Wahl für ungültig erklären. Mamadou Diop, Bürgermeister von Dakar und Kandidat der PS, weigerte sich, anzuerkennen, dass er von den politischen Gegnern in manchen Bezirken der Hauptstadt aus dem Rennen geschlagen wurde. Die „Fraude“–Diskussion ist nach dem Wahltag noch lange nicht vorbei. Eines ist klar: Einen wirklichen Wechsel hat es nicht gegeben. Die PS bleibt die dominierende Kraft im Staat. „Aber“, so Boubacar Kanté von der ONEL, „das Bewusstsein des Wählers hat sich verändert. Sicherlich hat es Unregelmä- Senegal Susanne Freitag ßigkeiten gegeben, aber sie kamen keinesfalls nur von Seiten der PS, sondern von allen Parteien gleichermassen. Ich glaube, sie hatten nicht einmal Einfluss auf das Endergebnis“. Im neuen Parlament hat die „Parti Socialiste“ nun 93 von 140 Sitzen, Abdoulaye Wade und seine PDS haben 23 Sitze gewonnen. Djibo Ka und seine „Renouveau“ sind nach ihrer „Wir sind der Schlüssel zum Wechsel“– Kampagne mit 11 Sitzen im Parlament vertreten. Damit steht in diesem Jahr fest: Es ist nicht mehr gottgegeben, dass die Regierungspartei immer an der Spitze steht. Zum ersten Mal haben die Wähler gesehen, dass ihre Stimme etwas bewirkt. Ein Marabout im Parlament – Cheikh Adoulaye Dièye Sein schneller Einzug ins Parlament hat viele überrascht. Cheikh Abdoulaye Dièye, der Marabout, zog mit seiner Partei FSDBJ (Front pour le Socialisme et la Democratie – Benno Jubel) auf Anhieb ins neue Abgeordnetenhaus ein und stach damit viele der kleinen Parteien aus, die schon seit Jahren auf dem politischen Plan sind. Ich treffe Cheikh Abdoulye Dièye in seinem Haus. In einem großen, kahlen Raum sitzen vier Männer auf dem Boden. Einer beginnt zu beten, ein anderer singt Koranverse. Dièye ist ihr Lehrer. Ein blendender Rhetoriker. Kenner sagen, er habe eine der besten Wahlkampagnen gemacht, aber auch eine der demagogischsten. Er ist ein sehr umstrittener Parlamentarier. Vor allem deshalb, weil er als spiritueller Führer einer Bruderschaft der in der Verfassung festgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat entgegensteht, und zudem nur eine religiöse Minderheit vertritt. Er selbst sieht das anders. „Ich bin nicht als Mouride angetreten, sondern als Politiker. Ich setze mich dafür ein, dass die Grundwerte wieder in die Politik zurückgebracht werden. Außerdem haben mich nicht nur Mouriden gewählt, sondern auch Vertreter anderer religiöser Gruppierungen“. Er übt heftige Kritik an der Politik, in der immer mehr gelogen werde. Für viele mag er eine Art letzte Rettung gewesen sein. Wie nie klammern sich die Menschen an die Religion, und damit hatte er als Marabout von Anfang an gute Karten. „Das Problem ist, dass die Menschen die Politiker nicht mehr ernst nehmen können. Sehen sie sich das Schauspiel doch an. Immer wenn sie etwas Wichtiges tun müssen, fahren sie nach Touba und nach Tivaouane, um sich den Segen ihres Marabout zu holen. Anstatt die Religion zum Ausgangspunkt ihres Handelns zu machen, handeln sie erst, und holen sich dann die spirituelle Genehmigung dafür. Die Religiösen werden von den Politikern missbraucht, sie werden als Zugpferde für eine bestimmte Wählerschaft gesehen, weil man sie, je nach Interesse, manipulieren kann. Dann benutzt man sie in der heißen Phase des Wahlkampfes, um sie anschließend Susanne Freitag Senegal wieder fallen zu lassen. Ab ins Kämmerlein, zum Beten. Das ist doch unseriös“. Seine Worte klingen wie gedruckte Wahlbroschüren, er mustert mich mit einem direkten und doch ein bißchen abschätzigen Blick. Dièye will zurück zur traditionellen senegalesischen Familie, ist ein Befürworter der Polygamie. Von dem 1972 eingeführten Gesetz zum Schutz der Familie hält er wenig. Das seien Werte aus der westlichen Welt, und dort könne man schließlich sehen, dass die gesellschaftliche Moral immer mehr verfalle. Befürworter einer modernen Gesellschaft im Senegal sind skeptisch. Vor allem Frauenverbände befürchten, dass die Wahl von Cheikh Abdoulaye Dièye für die Durchsetzung ihrer Interessen einen Rückschritt bedeuten kann. „Frauen können sich jetzt scheiden lassen“, sagt er, „aber schauen Sie doch, wo das hinführt. Was wird aus den Kindern? Diese verlorenen Kinder gab es früher nicht. Wenn ein Staat ein neues Familienrecht einführt, dann muss er auch die Verantwortung tragen.“ Die traditionelle senegalesische Familie als Dreh- und Angelpunkt des Lebens – damit ist auch klar, welche Rolle der Frau in der Gesellschaft zukommt. „Mit ihm kommen diese ganzen alten Fragen wieder hoch“, fürchtet Codou Bop, die an einem Frauenforschungsprojekt arbeitet. „Die Verbesserungen, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre erstritten wurden, werden plötzlich wieder in Frage gestellt“. Tatsache ist, dass der Marabout in der Beliebtheitsskala der Bevölkerung sehr weit oben steht. Die Wähler halten ihm zugute, dass er sich im Wahlkampf und bei der Eröffnung der neuen Legislaturperiode vor allem in einem Punkt von anderen Politikern unterschieden hat: Er stellt das Volk und die Menschen in den Mittelpunkt, nicht das Geld und die Macht. Das hat es bei den etablierten Parteien schon lange nicht mehr gegeben, und damit ist er zwar ein konservativer, aber ein glaubwürdiger Politiker. Cheikh Amadou Bamba Superstar – Pilgern zum großen Magal An der Nationalstraße 1 von Dakar nach Rufisque steht eine riesige Menschentraube. Mit großen Gepäcktaschen im Arm oder auf dem Rücken warten sie auf die selten gewordenen Transportmittel, die sie in die heilige Stadt Touba bringen sollen. Dort findet an diesem Wochenende das größte religiöse Ereignis des Jahres statt: Die große Pilgerfahrt des Magal. Drei Tage lang wird die Rückkehr des Sektengründers Cheikh Amadou Bamba aus dem Exil gefeiert. Ich sitze gemeinsam mit meinem Kollegen Khaly Seck und Ahmad, einem Zeitungskollegen, im Teamwagen von Sud FM. Aus dem Cassettenrekorder tönen Männergesänge. Es sind Lieder, die das Leben Cheikh Amadou Bambas besingen. Es klingt, als hätten sie sich in Trance gesungen, fremdartig für europäische Ohren. Der Magal zieht in jedem Jahr Senegal Susanne Freitag weit mehr als eine Millionen Menschen aus dem Senegal und aus anderen islamischen Staaten an. In diesem Jahr werden 1,5 Millionen Pilger erwartet, mehr als je zuvor. Beobachtet man das Straßenszenario, erscheint das durchaus glaubwürdig. Schon wenige Kilometer hinter der Stadtausfahrt von Dakar geht auf den Straßen gar nichts mehr, und am Rand stehen immer noch Tausende und warten. Khaly Seck, der als Radiokorrespondent über das religiöse Superereignis berichten wird, ist aufgeregt. Auch dem Kollegen der Zeitung merkt man die Spannung an: Beide sind selbst überzeugte Mouriden. Ich sitze mit gemischten Gefühlen auf der Rückbank. Wie wird es sein, wenn sich Millionen Menschen in einer einzigen Stadt drängen? „Der Magal ist unser größtes Fest“, begeistern sich meine Kollegen, „du wirst schon sehen, das ist wirklich etwas besonderes“. Daran habe ich schon länger keinen Zweifel mehr. Dann werden sie ruhig. Blättern beide im „Destinée du mouridisme“, einem Pamphlet, in dem die Grundsätze des Mouridismus und die große Bedeutung von Cheikh Amadou Bamba euphorisch beschrieben werden. Ich schaue aus dem Fenster. Alles, was vier Räder hat, ist mobil gemacht worden, um so viele Menschen wie möglich zu transportieren. Die blau-gelben Kastenwagen, die „Car Rapid“, sehen aus wie fahrende Sardinendosen. In einem Wagen, in dem man gedrängt 20 Personen unterbringen kann, sitzen und stehen jetzt bis zu vierzig Menschen. Auf dem Dach, wo normalerweise das Gepäck transportiert wird, sitzen sie dichtgedrängt, andere hängen sich einfach an die hinteren Türen, um dann stundenlang im Stau zu stehen oder eben zu hängen. Wir fahren an einem qualmenden Wrack vorbei, einer dieser völlig überladenen Kleinbusse ist einfach in den Graben gekippt. Ich denke an die Menschen auf dem Dach.…. In jedem Jahr gibt es Tote, aber das scheint an diesem Tag keine Rolle zu spielen. Riesige Transportlaster quälen sich durch die völlig verstopfte, stinkende Straße und verdecken zeitweise den Blick auf die imposanten Baobab–Felder. Auf den schmalen Kanten der meterhohen Seitenwände sitzen sie dichtgedrängt, wie auf Pferderücken. Ein Zustand, den man nach meinem westeuropäischen Empfinden nicht mal eine Viertelstunde aushalten kann, ohne fürchterliche Schmerzen zu bekommen oder irgendwann einfach runterzufallen. Die großen Transporter werden hier „Où sommes nous? – Wo sind wir?“ genannt. Die Menschen, die im Inneren zusammengepfercht sitzen, sehen während der ganzen Fahrt nur den Himmel. Deshalb fragen sie immer wieder, wie weit sie inzwischen schon gekommen sind. Die Wagen gleichen überfüllten Viehtransportern. Parallel zur Straße verläuft die Eisenbahnlinie, auf der normalerweise Erdnüsse transportiert werden. Heute schleppt sich dort ein Zug entlang, den man kaum noch als Zug erkennen kann. Pilger quellen aus Fenstern und Ladeluken, das Dach ist eine schwarze Menschenmasse, und Susanne Freitag Senegal in den Zwischenräumen, die zwei Waggons voneinander trennen, ist kein Millimeter Platz mehr. Auch dort drängen sich die Pilger, festgeklammert an allen greifbaren Vorsprüngen. Auf der Gegenfahrbahn kommen die leeren Fahrzeuge zurück, die die ersten Massen in Touba abgeladen haben. Sie fahren jetzt wieder nach Dakar, um die zu holen, die dort immer noch warten. Trotz allem sehen die Pilger glücklich aus. Sie lachen, scherzen miteinander, treffen sich. Sie sind vereint in dem festen Willen, auch in diesem Jahr wieder mit dabei zu sein. Touba ist in diesen Tagen eindeutig die Hauptstadt des Landes. Wer zum Magal in die Stadt kommt, wird untergebracht und verpflegt. In unserer Unterkunft, einem großen Haus im Stadtzentrum, wohnen an diesem Wochenende fast 300 Menschen. „Herzlich Willkommen“, begrüßt mich der Hausherr, ein sehr zurückhaltender Mann. „Wir freuen uns, dass sie gekommen sind, um mit uns den Magal und Cheikh Amadou Bamba zu feiern“. Überall in den Räumen und in allen Fluren liegen Matratzen. In einem der Zimmer hat Sud FM ein Studio improvisiert. Von hier aus wird die gesamte Berichterstattung gemacht. Ich sehe aus dem Fenster auf eine Straßenkreuzung, sie ist voll mit Abfällen. Es ist fast unmöglich in die Nähe der weithin sichtbaren, prächtigen Moschee zu gelangen. Sie scheint in ein Menschenmeer gebaut zu sein. Die ganze Straße ist eine wogende Pilgermenge. Einmal mittendrin, hat man keine andere Wahl, als sich mitdrängeln zu lassen. Der Blick der Menschen ist merkwürdig verklärt. Viele singen, so wie ich es zuvor im Auto gehört habe. Schon tagsüber drängen Massen von Menschen zu den heiligen Gebetsstätten. Zur Moschee, zur Bibliothek, zum Friedhof und zu den Häusern der Marabouts. Allesamt Prachtbauten, wie ich sie bis dahin nirgendwo im Senegal gesehen habe. Vor den Toren der Moschee sitzt ein Bettler neben dem anderen. Ihre Körbe sind randvoll mit Silbermünzen. Der Magal öffnet den Gläubigen Herz und Portemonnaie. Eine Frau, die vor mir im Gedränge steht, bricht in Tränen aus. Nicht aus Trauer, sondern aus religiöser Extase, wie man sie hier häufig beobachten kann. Den Blick völlig entrückt, einfach im vollkommenen Glück in Touba zu sein. Am reichlich mit Gold verzierten Schrein des heiligen Cheikh Amadou Bamba, im Inneren der prächtigen Moschee, stehen Ordner, die dafür sorgen, dass die Pilger etappenweise hereingelassen werden. Die Gläubigen stürmen die Kammer regelrecht, wenn sie an der Reihe sind. Es regnet Geldstücke, die jeder Pilger beim Eintreten in den Raum wirft. Auf dem Boden sammelt sich ein Vermögen an. Mehrmals am Tag tragen die Ordner ganze Säcke voller Bargeld aus den heiligen Stätten heraus. Vergoldeter Glaube. Ich habe mir für den Magal einen traditionellen Boubou anfertigen lassen. Der Stoff ist dick, die Hitze ist unbeschreiblich. „He, guck mal, die Toubab, sie hat einen Boubou an, willkommen beim Magal“, sagt ein kleiner Junge. Viele Senegal Susanne Freitag begrüßen mich freundlich, sie freuen sich ehrlich, dass ich ihr größtes Ereignis mit ihnen teile, Interesse habe, an dem, was sie am meisten bewegt. Ich habe inzwischen einen Punkt erreicht, an dem ich nichts mehr aufnehmen kann. Ich bin einem Kreislaufkollaps nahe. Der Magal überfordert die Sinne. Überall Menschen, festlich gekleidet. Die Geräuschkulisse bilden ihre Gesänge, ihre Gebete und das Geschrei der Markthändler, die am Rande das Geschäft ihres Lebens machen. Dazwischen hupende Autos, die einfach in die Menge hineinfahren. Es riecht nach Schweiß, Urin, Abgasen und Müll – und es gibt kein Entrinnen. Die Häuser der Marabouts sind marmorne Gemächer. Die Luft wird den spirituellen Führern gleich von mehreren Seiten zugefächelt, während draußen eine nahezu mörderische Hitze herrscht und zu Eisblöcken gefrorenes Wasser reißenden Absatz findet. Die Menschen vor der Tür haben irgendwo in den Tiefen ihrer prächtigen Boubous unendlich viel Geld verborgen. Über die Summen redet niemand. Insgesamt sind es Milliarden. Sie tragen sie in die Häuser der Geistlichen, auch wenn sie selbst kaum etwas haben. „On contribue – wir tragen etwas bei“, das ist für sie die wahre Erfüllung. Haben sie einen Tag vorher noch gebettelt, stehen sie jetzt hier, um das erbettelte Geld demjenigen zu geben, der für sie eine Verbindung zu Gott herstellen soll. Durch den Marabout erhoffen sie sich den Zugang zum Paradies. Vor der Pilgerfahrt habe ich Khaly Seck in seinem kleinen Zimmer mit den schimmeligen Wänden besucht und gefragt, ob es ihn nicht störe, dass der Marabout in unendlichem Luxus lebt und andere Menschen gar nichts haben. Er musterte mich mit einem Blick, der mir deutlich machte, dass man als Mitteleuropäer wirklich gar nichts verstanden hat. Wahrscheinlich stimmt das sogar. „Nein“, sagte er, „das muss so sein. Der Marabout braucht diese Umgebung, damit er seine Arbeit machen kann. Er muss sich jeden Tag die Sorgen der Talibés anhören, da ist es nur gerecht, wenn er sich um seinen materiellen Wohlstand keine Sorgen machen muss“. Auch Khaly hat zum Magal ein Vermögen mitgebracht. „Wenn ich meinen Beitrag leiste, dann hilft mir der Marabout später vielleicht ins Ausland zu kommen, wenn Gott es will. Oder er hilft einem Arbeitslosen, sich mit einer Boutique selbständig zu machen, und gibt ihm das Startkapital. Wenn dir jemand etwas gibt, dann wirst du sicher auch eine Möglichkeit finden, ihm etwas zu geben. Du wirst sicher auch noch eine Gelegenheit finden, mir etwas zu geben, für das, was ich im Moment für dich tue. Du kannst mir dein Cassettengerät geben. Das käme mir sehr entgegen“. Er sagt das nicht im Scherz. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am letzten Tag, ein großer Teil der Pilger ist schon wieder auf dem Weg nach Hause, wird die Straße vor der großen Moschee weiträumig abgesperrt. Dann fährt unter dem Getöse heulender Sirenen eine Staatskarosse nach der anderen vor: Die offizielle Delegation macht dem großen Khalifen ihre Auf- Susanne Freitag Senegal wartung. Lamine Cissé, der Innenminister des Landes, überbringt die Grüße des Präsidenten. Ein großer Teil des Kabinetts ist vor Ort, auch Abdoulaye Wade fährt vor. Gemeinsam mit den Vertretern der großen Familien des Landes empfangen sie den Segen des großen Khalifen. Damit wird die Pilgerfahrt endgültig zur eindrucksvollen Demonstration der religiösen Macht in einem Staat, der sich selbst als laizistisch bezeichnet. Es ist eben ein Land voller Gegensätze. Touba, die heimliche Hauptstadt Touba ohne Pilger, die Straße ohne Stau. Erst jetzt wird mir bewusst, wie gut sie ausgebaut ist. Die große Moschee liegt vor uns. Seit Jahren ist das imposante Gotteshaus eine Baustelle. Die Moschee soll niemals fertig werden, weil jeder Khalif seinen eigenen Stil mit einbringen soll. Im Moment ist es Serigne Saliou M’Backé. Er hat tonnenweise teuersten portugiesischen Marmor importieren lassen, um damit die Außenfassade neu zu schmücken. Innen sind zahlreiche Wanderarbeiter aus mehreren afrikanischen Ländern dabei, komplizierte Ornamente in Gips zu meißeln. Anschließend sollen sie bemalt werden. Für den Bau der großen Moschee wurden im Jahre 1997 allein 300 Millionen Francs CFA gesammelt. Eine Reihe von Unternehmen hat sich zusammengeschlossen, um „einen Beitrag zu leisten“. Die Gesamtkosten werden auf weit mehr als 10 Milliarden Francs geschätzt. Hier scheint das ganze Geld zu sein, das dem Land sonst an allen Ecken fehlt. Die Mouriden stellen ihrem Marabout den Mittwoch zur Verfügung. Früher fanden sich an diesem Tag tausende Gläubige auf den großen Erdnussfeldern der Mouriden ein, um einzig und allein für Gotteslohn zu schuften. Heute können sie am Mittwoch auch andere Tätigkeiten verrichten, solange sie nur der Gemeinschaft dienen. „Bamba ist physisch nicht mehr da, aber seine Geschichte geht hier weiter“. Wir sind im Zentrum der studentischen Organisation mit dem komplizierten Namen Hizbuthutharkhiya. Am Rande von Touba betreiben sie ein imposantes Forschungs- und Lehrzentrum, das im ganzen Land seinesgleichen suchen muss. Eine geistige Elite, Lehrer, Rechtsanwälte, Ärzte, zieht hier die Fäden, im Dienst von Cheikh Amadou Bamba oder seines irdischen Vertreters, des großen Khalifen. Die Organisationsstruktur ist, wie in der gesamten Bruderschaft, streng hierarchisch. „Wir sind in verschiedenen Divisionen organisiert“, erklärt unser Fremdenführer beim Gang durch das gut abgeschottete Zentrum. Es gibt einen Hygieneservice, eine Abteilung für Finanzen, medizinische Versorgung, Kultur, Kommunikation, Ausbildung“. Über 300 kleine Talibés lernen in der hauseigenen Schule den Koran. Ihre Eltern geben sie für Jahre bedingungslos in die Hände der Marabouts, auch wenn sie von ihm zum Betteln auf die Straße Senegal Susanne Freitag geschickt werden. Die Kinder haben gerade Pause. Kleine Kerle in bräunlichen Einheitsjacken, die ihnen am dünnen Körper herunterhängen. Ich will ein Foto machen, werde aber sofort zurückgepfiffen. Fotografieren innerhalb des Gebäudes streng verboten. Wir kommen zu einem prachtvollen Gebäude, das anlässlich des 100. Magal vor drei Jahren errichtet wurde. Ein riesiger Rundbau, innen eine Halle mit großen Ohrensesseln, Büchern, Bildprojektoren, Gebetsteppichen. Zwei überlebensgroße Bilder von Cheikh Amadou Bamba dominieren den Raum. Nebenan stehen zwei Villen. Eine für Frauen, eine für Männer. Hier werden am Magal die Ehrengäste untergebracht. Sie haben einen Blick auf das luxuriöse Haus des großen Khalifen und eine eigene Moschee. Die Anlage verfügt über eine moderne Großküche mit eigener Bäckerei und Metzgerei. Heute arbeitet hier niemand. Vor kurzem, bei der großen Pilgerfahrt, waren hier hunderte Menschen mit der Verpflegung der Gläubigen beschäftigt. In einem großen Hof kochen sieben Frauen in riesigen, gusseisernen Kochtöpfen das Essen für die Talibés und für die anderen Personen im Haus. Beim Magal waren im gleichen Hof 300 Kochtöpfe der gleichen Größe im Einsatz. Tausende Menschen wurden von hier aus versorgt. Rund um die Stadt sind viele Baustellen entstanden. Touba expandiert. Viele Senegalesen bauen hier ein Ferienhaus, statt an der Küste. Zur Zeit wird ein eigener Flughafen geplant. „Radio Touba“ soll schon bald auf Sendung gehen und ein riesiges, eigenes Krankenhaus ist im Bau. Touba ist eine Stadt im Aufbruch. Betrachtet man die Reichtümer, die hier in den Aufbau einer intakten Infrastruktur gesteckt werden, hat Touba Dakar schon heute den Rang abgelaufen. Frauen im Senegal Eine schwerverletzte Frau wird ins Hôpital Dantec eingeliefert. Sie hat Knochenbrüche und mehrere Wunden. „Nicht bestimmbare Unfallursache“ steht in dem Krankenhausbericht. Ulrike Schmidt, Ärztin im Praktikum aus Berlin, hat Dienst an diesem Tag. „Wir haben erfahren, dass diese Frau die dritte Ehefrau einer Familie ist. Es hat Streit gegeben. Aber das dürfen wir in dem Bericht nicht schreiben. Offiziell ist sie verunglückt“. Fatou ist 22 Jahre alt, studiert Englisch an der Universität Cheikh Anta Diop. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag zu Hause und betet. In diesen Tagen feiern sie den Gamou, den Geburtstag des Propheten. Dann pilgern, wie beim Magal, die Gläubigen nach Tivaouane. Die ganze Familie ist an diesem Tag versammelt, arbeiten sieht man vor allem die Frauen. Es ist eine unüberschaubare Gruppe von etwa vierzig Menschen. Fatou stellt mir zuerst ihre Mutter vor, dann eine andere Frau: „Das ist die zweite Frau meines Vaters“, Susanne Freitag Senegal sagt sie. Ich frage sie, ob sie es sich vorstellen könne, eine von zwei Ehefrauen zu sein. „Nein“, lacht sie. „Ich wäre viel zu eifersüchtig“. Ich frage sie, was sie tun könne, wenn ihr Mann sie vor vollendete Tatsachen stellen würde. Würde sie ihn verlassen? „Nein, verlassen kann ich ihn deswegen nicht“, gibt sie zu, „nicht wegen einer zweiten Frau“. Marie ist 19 und bildhübsch. Zur Zeit ist sie arbeitslos. Manchmal kann sie als Kleidermodel bei Modeshows arbeiten. Früher jobbte sie in einem libanesischen Restaurant. Bis der Besitzer sie vor die Wahl stellte. Entweder sie geht mit ihm ins Bett, oder sie ist ihren Job los. Marie zog es vor, den Job aufzugeben. Jetzt arbeitet dort eine andere junge Frau. Marie lebt allein mit ihrer Mutter. Ihr Vater hatte drei Ehefrauen, ihre Mutter war die „Dritte“ und todunglücklich dabei. Sie ließ sich scheiden. Für Marie steht seitdem fest, dass sie nur einen Mann mit modernen Einstellungen heiraten wird. „Für meine Mutter war das eine Qual“, sagt sie, „bei mir soll es einmal besser sein“. Bis zu vier Frauen darf ein senegalesischer Mann heiraten, wenn es nach dem Koran geht. Voraussetzung ist, dass er sie alle ernähren kann und alle gleich gut behandelt. Viele Frauen kennen eine andere Realität. Ich treffe Codou Bop. Sie koordiniert die Arbeit der Forschungsgruppe „Grefels“, die die Situation der Frauen unter muslimischem Recht untersucht. Die Polizei in Kaolack hat eng mit ihnen zusammengearbeitet. Sie waren bei Gerichtsprozessen dabei, haben Zeitungen analysiert und festgestellt: Die Gewalt gegen Frauen im Senegal hat zugenommen, aber keiner will darüber sprechen. „Es gibt Vergewaltigungen. Frauen werden geschlagen und übel zugerichtet. Aber selbst wenn die Polizei eingreift und der Sache nachgeht, selbst wenn die Fälle vor Gericht landen: Geregelt werden solche Verbrechen nicht von der Justiz. Die Familien machen das unter sich aus“, erklärt Codou Bop, „damit keiner das Gesicht verliert. Welche Konsequenzen das letztendlich für die Frauen hat, will dann keiner mehr wissen. In den seltensten Fällen lösen sich die Probleme zu ihren Gunsten. „Sutura“ bezeichnet einen der Grundwerte im Senegal: Den Schein wahren. Gäbe eine Frau zu, dass ihr Mann sie schlecht behandelt, könnte das auf sie selbst zurückfallen. Vielleicht verdient sie es so? Vielleicht kann sie ihre Kinder nicht ernähren? Nur eins von vielen Problemen, mit denen sich die Forschungsgruppe beschäftigt. Tausende Mädchen, die genaue Zahl ist nicht bekannt, werden jährlich auch im Vorzeigestaat Senegal immer noch beschnitten. Die grausame Zeremonie findet in abgelegenen Dorfhütten statt, meist durchgeführt von den älteren Frauen des Dorfes oder der eigenen Großmutter. Viele Kinder sterben an Infektionen, denn die „Operation“ wird meist ohne Betäubung und Desinfektionsmittel durchgeführt. „Wir haben die Männer darauf angesprochen“, sagt Codou Bop, „sie ziehen sich einfach aus der Affäre. Mit dem Argument: „Das machen doch die Frauen, wieso sollen wir dann daran schuld sein?“ Senegal Susanne Freitag Aber gerade in ländlichen Gebieten ist eine unbeschnittene Frau nicht gesellschaftsfähig, sie kann nicht verheiratet werden. Das aber ist zum Überleben notwendig, die Familien haben aus ökonomischen Gründen keine andere Wahl. Ein Bewusstsein für die gesundheitlichen Risiken gibt es in den ländlichen Gebieten nicht. Das niedrige Bildungsniveau dort, die Tatsache dass über 70% der Frauen nicht einmal lesen können, macht es schwierig, Aufklärung zu betreiben. Und bei den Männern und den Marabouts in den Dörfern fehlt das Verantwortungsgefühl. In der Nähe von Kaolack hat es eine Frauengruppe mit Hilfe von „Grefels“ geschafft, das Bewusstsein so zu verändern, dass sich das gesamte Dorf jetzt kollektiv gegen die Beschneidung gewandt hat. „Die Situation ist besser geworden, in den letzten zwanzig Jahren, aber es gibt noch viel zu tun“, sagt die kämpferische kleine Frau. „Vor allem muss der Staat eingreifen für seine Frauen, auf denen viel zu oft die gesamte Last der Erziehung und Ernährung der Familie liegt. Wenn der Staat nicht dafür sorgt, dass das Bildungsniveau ansteigt, dann werden wir diese Probleme ewig haben. Die Menschen müssen sich doch erst einmal bewusst werden können, was mit ihnen passiert“. Solange sich an der Bildungssituation im Staat nichts ändert, setzt Codou Bop auf gezielte Aufklärungskampagnen. Denn die Einschulungsraten, die der Senegal heute vorzuweisen hat, sind alles andere als ermutigend. Das Dorf am Rande der Wüste Endlos zieht sich die staubige Straße hinauf in den kargen Norden des Senegal. Seit acht Stunden bin ich unterwegs und habe schließlich nur noch einen Wunsch: Einfach irgendwann ankommen. Mein Ziel ist das Dorf Medina Ndiatebe, das nur noch wenige Kilometer von der mauretanischen Grenze entfernt ist. Je weiter wir nach Norden kommen, desto karger wird die Landschaft. Den letzten Hinweis auf so etwas wie Zivilisation habe ich vor vier Stunden in St. Louis gesehen, sieht man von dem großen Werbeplakat mit dem Marlboro–Mann einmal ab, das in dieser Umgebung mehr als grotesk erscheint. Die heiße Luft verschlägt mir den Atem, als der Kleinbus einen Zwischenstopp macht. Ich steige aus, und muss mich sofort wieder setzen. Schwer vorzustellen, dass man dieses Klima länger als einen Tag überstehen kann. Ein Mann steigt zu, nachdem er eine lebendige Ziege auf das Dach des Busses gebunden hat, auf dem sich meterhoch das Gepäck türmt. Weiter geht’s. Ich sitze direkt an der offenen Türe, dort wo der Boy Fahrgeld kassiert und Passagiere einlädt. Plötzlich fängt es an zu regnen. Das zumindest denke ich im ersten Moment, als mir Wassertropfen ins Gesicht spritzen. Ein Blick nach draußen zeigt mir: Regen kann das nicht sei. Der Boy ist außer mir der ein- Susanne Freitag Senegal zige, der auch etwas abbekommt. Er riecht an seinen Fingern. Mein Verdacht bestätigt sich, als ich die gelben Flecken auf meinem T-Shirt sehe: Ich werde von der Ziege auf dem Dach bepinkelt. Schicksalsergeben warte ich auf das Ende dieser Reise. Nach einer weiteren Stunde Fahrt durch die endlose Steppenlandschaft sieht man sie endlich: Die große Wasserpumpe, die das ganze Dorf dominiert. Ich bin angekommen. „Das kann nur der Marabout entscheiden“ Wir sitzen auf einer Bastmatte unter dem Schatten eines Baumes, der die allerschlimmste Hitze nur notdürftig abhält, im Hof einer bescheidenen Lehmhütte. Mamadou hat mich eingeladen. Engagiert betreut er im Dorf mehrere Projekte. Er will die Entwicklung in der kargen Region voran bringen. Der Empfang bei ihm ist warm und herzlich, trotzdem sieht Mamadou immer traurig aus. In den Tagen meines Aufenthaltes im Dorf habe ich ihn nicht ein einziges Mal lachen sehen. Er gehört zur Familie des großen Dorf–Marabouts, der auch überregional sehr einflussreich sein soll. In der Gegend des Fouta überwiegt die Bruderschaft der Tidjanen. Mamadou will mir helfen, einen Termin beim Marabout zu bekommen. „Was willst du genau wissen? Ich muss seinem Sohn deine Fragen übermitteln, dann sagt er uns, ob wir einen Termin bekommen können“. Es ist schwierig. Eigentlich möchte ich wissen, welche Aufgaben ein Marabout in einem solchen Dorf hat, wer zu ihm kommt, wo er die Anliegen der Region und des Dorfes sieht. Am Mittag bekommen wir einen Termin beim Sohn des großen Marabouts. Bei ihm werde ich „vorbesichtigt“. Es sind ein paar hundert Meter bis zu seinem Haus, aber bei der Hitze kommt es mir vor, wie ein nicht enden wollender Gewaltmarsch. Ein schmaler Sandweg führt dorthin, vorbei an einer hübschen, gelben Moschee. An ihrem Fundament sitzt ein Talibé mit einer Holztafel in der Hand und singt versunken einen Koranvers. Je näher wir dem Haus kommen, desto mehr Talibés sitzen am Straßenrand. Wir nähern uns einem riesigen, für die Verhältnisse des Dorfes sehr luxuriösen Haus. Hier wohnt der Sohn, gemeinsam mit seinen drei Frauen. Hier wird auch der Koran gelehrt, im Hof sitzt eine Gruppe von jungen Männern und schreibt Verse auf Holztafeln. Fast eine Stunde warten wir in einem mit dicken Teppichen ausgelegten Raum, in dem sich nichts außer einem großen Wandvorsprung befindet, der uns als Bank dient. Der Sohn des Marabout ist ein korpulenter, breitschultriger Mann, der uns in Jogginghose und T-Shirt empängt. Er spricht kein Französisch, oder will es nicht sprechen. In der Fouta–Region ist man auf die ehemaligen Kolonialherren nicht gut zu sprechen und vermeidet ihre Sprache wo immer es geht. Mamadou übersetzt. Er werde die Fragen an seinen Vater weiterleiten, sichert mir der Senegal Susanne Freitag Sohn zu, mit der Bitte, am Nachmittag noch einmal zu erscheinen um endgültig zu klären, ob ich den Marabout sehen darf. Wer hätte gedacht, dass das so kompliziert ist? Ich frage Mamadou, ob er denkt, dass wir einen Termin bekommen. Er antwortet ernst: „Das kann nur der Marabout entscheiden“. Der Marabout des Dorfes wohnt in einem riesigen Haus, weniger modern als das seines Sohnes. In einem großen Innenhof sitzen mehrere Dutzend junger Talibés im Kreis, in der Mitte eine große Schüssel mit dem Nationalgericht „Thieboudienne“ – Fisch mit Reis. Das Essen sieht ärmlich aus, als habe man für die Kinder nur die Reste verwertet. Sie lachen verstohlen und schauen zu der „Toubab“, die mit einem Tuch ihren Kopf verhüllt hat, um zum großen Marabout zu gehen. Am hinteren Ende des Hofes ist das Zimmer des Marabouts El Hadj Hamdou Rabbi Ndiath. Ich schätze sein Alter auf etwa 70 Jahre. Mit Touba ist das hier überhaupt nicht vergleichbar. Der Boden ist aus Lehm statt aus Marmor, immerhin sitzt das geistliche Oberhaupt auf einem bequemen Teppich. Trotzdem wirkt alles ein bisschen schmuddelig. Ein kleiner Junge steht neben ihm, und fächelt ihm Luft zu. Ich nehme vor ihm Platz, Mamadou übersetzt wieder. Ich beginne mich höflich zu bedanken, dass er mir die Ehre erweist, mich bei sich aufzunehmen und meine Fragen zu beantworten. Aber der Marabout unterbricht, und bittet mich sofort zur Sache zu kommen. Ich frage ihn, was für ihn das wichtigste an seiner Aufgabe sei. Es dauert eine Weile mit der Übersetzung. Dann bekomme ich folgende Antwort: „Gott ist für uns alle da, wie die Sonne. Forschung ist sehr wichtig“. Dann schickt er uns weg. Alle anderen Fragen solle ich mit seinem Sohn besprechen, der mich für den späten Abend noch einmal in sein Haus einlädt. Die Wahrsagerin Sie sitzt vor ihrer kleinen Hütte und wirft Muscheln auf eine Strohmatte. Einmal fährt sie mit der Hand hindurch, schaut aufmerksam auf die bizarren Formationen, und dann weiß sie Bescheid. Pennda Banndo Sohto Bahno lebt in einem mauretanischen Flüchtlingscamp. Aus einer Handvoll Muscheln liest sie die Zukunft. Das hat sie von ihrem Marabout gelernt. „Nicht jeder kann das“, sagt sie, und ein bisschen stolz ist sie schon, „nur der Marabout hat die Fähigkeit, es dir beizubringen“. Pennda wirft die Muscheln für mich. „Heute Nacht wirst du allein sein. Viele Menschen sind um dich herum, aber du kennst sie nicht. Sie bleiben dir fremd“. Klingt nicht sehr beruhigend, denke ich, aber ich sage mir, dass es mit diesen Dingen meist nicht allzuviel auf sich hat. Zukunft lesen, „Gri Gri“–Amulette tragen, einen Talisman haben – der Islam hat es zu damaligen Zeiten geschickt verstanden, all diese animistischen Susanne Freitag Senegal Traditionen und Riten mit einzubeziehen. Die Traditionen existieren heute noch, werden sogar von den Marabouts selbst praktiziert. Fast jedes kleine Kind hat ein Lederband um den Bauch gebunden, an dem ein kleines verschnürtes Päckchen hängt. Das ist der „Gri Gri“, den die Eltern vom Marabout anfertigen lassen. Er bringt Glück und vertreibt böse Geister. Ich hoffe, mehr darüber zu erfahren, am Abend, wenn ich den Sohn des Marabouts noch einmal treffe. Es ist stockfinster. Strom gibt es in Medina Ndiatebe nicht. Mamadou läuft vor mir her, ich kann ihn nur ahnen, und hoffe, dass ich auf dem unwegsamen Sandboden nicht in etwas Falsches trete. Von weitem hört man nun das Singen der Talibés, ansonsten ist es still im Dorf. Sehen kann man sie nicht, es ist merkwürdig, fast unheimlich. Wir treffen den Sohn des Marabouts auf dem Dach seines Hauses, dort ist es ein bisschen kühler. Hunderte Stimmen singen monoton ihre Koranverse – der Gesang scheint in der Luft zu schweben, liegt wie eine Wolke über dem Haus. Außer dem Sohn des Marabout sind etwa 20 Menschen auf dem Dach. Ich kann sie kaum erkennen. In der Mitte spendet eine Petroleumlampe fades Licht, dann geht links von uns der Vollmond auf. Eine unwirkliche Situation. „Wir lehren 12 Fächer hier. Islamisches Recht und islamische Moral sind die wichtigsten Hauptfächer. Der Marabout ist der Lehrer. Er bestimmt, was unterrichtet wird, und wie“. Meine Fragen werden sehr präzise beantwortet. Gebraucht wird der Marabout in allen Lebenslagen. Gibt es Probleme mit der Fruchtbarkeit in der Familie, Geisteskrankheiten, will ein Mensch beruflich weiterkommen, Neugeborene brauchen einen Gri Gri, in all diesen Fällen wendet man sich an den Marabout. Um diese Aufgaben erfüllen zu können, müssen seine Söhne oft nach Europa fliegen, denn auch dort leben senegalesische Familien, die die religiösen Dienste des Marbout in Anspruch nehmen wollen. „Dass es Gott wirklich gibt, können wir den Menschen natürlich nicht zeigen“, sagt er, „aber wir können ihnen Gott näher bringen und eine Verbindung schaffen“. Das scheint offenbar auch die Fußballmannschaft des Ortes zu überzeugen. Wenn ein wichtiges Spiel ansteht, kommen die Spieler vorbei, um sich den Beistand von oben zu holen. „Ein Marabout kann sehr viel bewirken. Die Kriege in der Welt könnten beigelegt werden, die Menschen könnten den Marabout darum bitten“. Ich frage, warum es dann noch immer keinen Frieden in der Casamance gebe. Die Erklärung scheint einfach und doch unglaublich: „Der Präsident ist noch nicht bei meinem Vater gewesen, da kann er dann auch nichts machen“, sagt er. Ich gebe zu bedenken, dass der Präsident vielleicht seinen eigenen Marabout habe, ob das nichts nütze. „Es tut mir leid“, sagt er, „was andere Marabouts machen, das kann ich nicht sagen. Natürlich müsste Gott eigentlich ein Ende Senegal Susanne Freitag des Krieges wollen. Aber der Marabout tut nur seine Pflicht, wie ein Arbeiter. Er kann mit seinen Gebeten die Wünsche an Gott weitergeben. Aber Allah ist der einzig Allmächtige“. Ich verabschiede mich, und als ich in die Gesichter um mich herum sehe, die ich für einen Augenblick fast vergessen hatte, erinnere ich mich an die Worte der Muschelleserin: „Heute nacht wirst du allein sein. Viele Menschen sind um dich herum, aber du kennst sie nicht. Sie bleiben dir fremd“. Entwicklung beginnt im Kopf – Der Marktgarten „In den siebziger Jahren hat das Dorf eine Pestepidemie erlebt“, erzählt Mamadou. „Wir mussten damals viele Tote begraben. Ich stand dort plötzlich mit lauter Greisen und Kindern. Es waren überhaupt keine jungen, kräftigen Männer da. Sie sind aus Medina Ndiatebe in die Stadt gezogen. Da habe ich mir gedacht, jetzt muss ich etwas tun, um auch die jungen Leute hier zu halten. Seitdem gibt es das Projekt“. Wir stehen auf einem Stück Land am Ende des Dorfes. Es sind die einzigen 80 ha in der näheren Umgebung, die wirklich grün aussehen. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Boden total ausgetrocknet ist. Hier sind die Auswirkungen der fortschreitenden Desertifikation im Norden des Landes mehr als deutlich sichtbar. Jedes einzelne Pflänzchen, das hier am Leben erhalten wird, bedeutet mühselige Arbeit. Sie kultivieren Kartoffeln, einige Bohnen, ein bisschen Reis. „Am Anfang hatten wir 200 Mangobäume angepflanzt“, erinnert sich Mamadou. Einer davon steht mitten auf dem Feld. Er ist der einzige, der überlebt hat. „Wahrscheinlich wollte Allah nicht, das hier Mangos wachsen“. Hilfe bekommt Mamadou im Moment von Reyna. Sie ist Amerikanerin, lebt seit zwei Jahren im Dorf und arbeitet mit den Frauen zusammen. „Wir wollen, dass die Frauen hier auf dem Feld mitarbeiten. Das Gemüse, das sie hier ernten, sollen sie für alle auf dem Dorfmarkt verkaufen. Sie sollen sehen, dass das, was sie tun, dem ganzen Dorf zugute kommt, und das man hier etwas schaffen kann, wenn man zusammen arbeitet“, sagt sie. Aber Mamadous und Reynas Projekt stößt an Mentalitätsgrenzen. „Ich bemühe mich“, sagt Mamadou, „mindestens einmal am Tag hier vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen. Es ist mir schon passiert, dass ich zwei Tage nicht da war, und die Frauen haben die Früchte ihrer Arbeit einfach mit nach Hause genommen, um sie für die eigene Familie zu kochen“. Die beiden sind sich einig: Das Dorf kann sich nur dann entwickeln, wenn sich in den Köpfen etwas ändert, wenn die Menschen beginnen, nicht nur bis morgen zu denken, sondern langfristig. Begossen werden die Pflanzen mit dem Wasser des Senegal, das Feld liegt direkt am Flussufer. Dort wird das Flusswasser von zwei elektrischen Pumpen nach oben befördert. Eine Pumpe leckt, die andere arbeitet mehr oder weniger effektiv vor sich Susanne Freitag Senegal hin. Geld für eine neue Pumpe ist nicht da. Mamadou und Reyna haben sich um Spenden und andere Unterstützung gemüht. Aber die Gelder fließen spärlich. Zuschüsse, die seit Jahren versprochen waren, wurden schließlich doch nicht gezahlt. Mamadou hat einen Verdacht: „In Medina Ndiatebe wählt man nicht die Regierungspartei, das mag ein Grund sein, warum das hier so schwierig ist“. Vielleicht lacht er deshalb nie. Er hat seine ganze Energie in sein Projekt gesteckt. Eigentlich wollten sie am Ende des Feldes einen Laden aufmachen. Dort stehen jetzt vier Mauern mit einem halb kaputten Dach, das Gebäude verfällt, weil die Mittel zum Aufbau fehlen. Vielleicht hat Allah auch das einfach nicht gewollt? Die Sonne brennt unerbittlich vom Himmel, alle hier warten sehnsüchtig darauf, dass der längst überfällige Regen kommt. Das wird in jedem Jahr ein bisschen später. Mamadou will, dass sein Projekt gleichzeitig eine Bildungsmassnahme ist. Die Jugendlichen aus dem Dorf sollen Arbeit und Zukunft haben. Die Menschen sollen auf ihrer Erde für sich selbst arbeiten. Das sollen sie begreifen. Aber dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Und immer mehr Menschen verlassen das Dorf. Wenn die Sonne untergeht, taucht sie Medina Ndiatebe in ein rötlich–oranges Licht. Die karge Strauchlandschaft sieht dann warm und fast einladend aus. Dann treffen sich die Frauen des Dorfes mit großen Plastikschüsseln auf dem Kopf um Wasser zu holen. „Ich finde, sie sehen aus, als wenn sie von innen leuchten“, sagt Reyna. Am Ende des Jahres muss sie „ihr“ Dorf verlassen. Bis dahin, sagt sie, will sie wenigstens noch dafür sorgen, dass die Pumpe am Fluss repariert werden kann. Abschied Am Tag meiner Abreise schenken mir meine Kollegen von Sud FM einen Boubou. Ich bin total gerührt. Viele Leute, die ich im Laufe der letzten Monate kennengelernt habe, kommen vorbei, um sich zu verabschieden. Jetzt habe ich verstanden, dass es hier etwas anderes gibt als den Reisereportagen–Traum. Diese besondere Art der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Eine Art, sich um den anderen zu kümmern, für ihn Verantwortung zu tragen, wie ich sie in Europa nie erlebt habe. Es wird mir fehlen, dass es plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, „Guten Tag“ zu sagen, wenn man einen Raum betritt. Es ist die senegalesische Gastfreundschaft, die „Teranga“, die sich über alle Widersprüche des Landes hinwegesetzt. „Was hat dir am besten gefallen?“, fragt mich meine Kollegin Hélène. Mir fehlen die Worte. Es waren so viele Dinge. Die Freundlichkeit, die Farben, die Art und Weise der Menschen, trotz vieler Schwierigkeiten nicht aufzugeben und trotzdem zu lachen. Es war spannend, dabei zu sein, als im Land gewählt wurde, und es war wichtig, die europäischen Maßstäbe einmal über Bord werfen zu müssen, Senegal Susanne Freitag weil sie hierher einfach nicht passen wollen. Als das Flugzeug abhebt, sehe ich zum letzten Mal die Lichter von Dakar, erahne das Viertel, in dem ich gewohnt habe, und weiß, dass ich zu Hause viele Dinge anders sehen werde, als drei Monate zuvor. „Wenn jemand in Dein Land kommt heiße ihn willkommen und behandele ihn gut. Er wird immer wiederkommen wollen“. (Yossou N’Dour, aus „tourista“) Chris Hulin aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Nepal vom 09. März bis 09. Juni 2000 Nepal Kinderarbeit in Nepal Von Chris Hulin Nepal, vom 09.03. – 09.06.2000 Chris Hulin Nepal Chris Hulin Inhalt „Shangri-La“ – Vom Mythos Nepal Kinderarbeit in Nepal Ein paar Zahlen Nepals „Wilder Westen“ Straßenkinder Abschied von einem Mythos – Kinderarbeit in Teppichfabriken Danke 189 Chris Hulin Nepal „Shangri-La“ – Vom Mythos Nepal Vom Mythos „Shangri-La“ aus James Hiltons Roman „Der verlorene Horizont“ lebt der Nepal-Tourismus bis heute. In Hiltons Buch ist „Shangria-La“ der Name eines versteckten Tals im Himalaya, in dem Menschen friedlich das Idealbild einer menschlichen Gemeinschaft in einem Kloster leben. Ein Paradies. Die Utopie dachte sich Hilton zwischen den zwei Weltkriegen des letzten Jahrhunderts aus. Seit Hiltons Buch träumen westliche Sinnsucher ebenso wie Trekkingtouristen vom verlorenen Paradies in einem verborgenen Hochtal des Himalayas. Nepals Tourismusbranche hat diesen Traum längst erkannt und träumt vom eigenen „Shangri-La“ in harter westlicher Währung. Gerne flechten sich Guesthouses, Hotels und Geschäfte darum ein „Shangri-La“ in den Namen und beschwören den Mythos weiter. Erst seit 1950 dürfen Fremde nach Nepal reisen. Mit dem ersten Demokratieversuch und der damit einhergehenden Öffnung des Landes, wurde Nepal von einem Tag auf den anderen vom Mittelalter in die Neuzeit katapultiert. Länger als Tibet war Nepal ein verbotenes Land. Nach dem ersten Besuch eines Europäers, eines französischen Jesuitenpaters in der Mitte des 17. Jahrhunderts, sind bis dahin nur rund 200 Europäer in Nepal gewesen. Vor der Eroberungslust der britischen Kolonialherren auf dem indischen Subkontinent war Nepal durch den Dschungel im Terai, dem südlichen Flachland, geschützt. Der Urwald war Malariagebiet und galt als undurchdringliche Fieberhölle. Heute sind vom einst undurchdringlichen Urwald nur noch zwei Nationalparks geblieben. Nach den Bergen ist der Dschungel – Tiger und Rhinozeros sei Dank – Nepals zweites touristisches Standbein. Der Norden des Landes wird damals wie heute von den Bergen des Himalayas geschützt. Nach wie vor bildet das Himalayamassiv eine fast undurchdringliche Grenze. Wer weiß, ob es ohne diese Berge das Königreich Nepal überhaupt gäbe? 800 km misst das Land in seiner Ost-West Ausdehnung. Von Norden nach Süden sind es durchschnittlich nur 200 km. Eingekeilt wird dieses kleine Rechteck von den Supermächten Indien und China. Gute Beziehungen zu den großen Nachbarn sind in Nepal deshalb außerordentlich wichtig. Indien hat großen Einfluss auf Nepal und auch mit China möchte man es sich nicht verscherzen. Deshalb wird es z.B. dem Daila Lama nicht erlaubt die in Nepal lebenden Tibeter zu besuchen. Von Nepal als einem paradiesischen, friedlichen Land zu sprechen, hieße, das alltägliche Leben der Menschen in Nepal zu ignorieren. Innerhalb von 50 Jahren ist die Bevölkerung in Nepal explodiert. Lebten Anfang der fünfziger Jahre ungefähr fünf Millionen Menschen in Nepal, waren es 1998 rund 22 Millionen Menschen. Kinder sind die Altersversicherung der Eltern, und ein Sohn garantiert nicht nur die Rente, sondern ist für gläubige Hindus auch Nepal Chris Hulin unerlässlich auf dem Weg ins Jenseits. Der älteste Sohn entzündet traditionell den Scheiterhaufen, auf dem der Körper des toten Vaters liegt. Kann der Sohn diese Aufgabe nicht wahrnehmen oder gibt es gar keinen Sohn, wird diese Aufgabe von dem nächsten männlichen Verwandten übernommen, aber der Weg ins Jenseits oder eine Wiedergeburt wird dann nicht so glatt verlaufen. Nepal ist ein junges Land. Gut 45 % der Bevölkerung ist nach einer Zählung von UNICEF (1994) unter 16 Jahre alt. Nepal ist auch ein armes Land. Auf der Liste der ärmsten Länder der Erde rangiert es irgendwo zwischen Platz fünf und Platz zehn, je nachdem, wie man zählt. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen liegt in Nepal bei ungefähr 210 US Dollar im Jahr (Baedeker 1999). Diese unglaublich niedrige Zahl spiegelt die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse der nepalischen Bevölkerung nur unzureichend wieder. Auf dem Land, wo rund 90% der nepalischen Bevölkerung lebt, wird diese Summe wohl nie erreicht. In abgelegenen Gebiete, wie z.B dem äußersten Westens Nepals, spielt Geld häufig keine oder nur eine sehr geringe Rolle. Die Menschen dort leben in der Regel von der Landwirtschaft und dem Tauschhandel. In Kathmandu und dem Kathmandu-Tal sehen die Verhältnisse natürlich anders aus. Hier wird mit Geld bezahlt, genauer gesagt mit harten Dollars. Das gilt zumindest für Touristen. Kein Hotel, kein noch so kleines Guesthouse, das seine Zimmerpreise nicht in Dollar nennt. Ein Nepali verdient durchschnittlich ungefähr 2200 nepalische Rupien im Monat, das sind rund siebzig Mark. Ein Lehrer verdient soviel. Selbst in einem armen Land wie Nepal, reicht dieses Geld kaum um eine Familie zu ernähren. Kinder, die in Kathmandu häufig als die unsichtbaren „guten Geister“ in Restaurants, kleineren Hotels und Guesthouses arbeiten, verdienen viel, viel weniger. Manchmal auch nichts, bis auf eine tägliche Mahlzeit und etwas Kleidung. Dafür arbeiten sie häufig zehn bis sechzehn Stunden am Tag. „Shangria-La“, das ist etwas für Touristen, die in ihren Zimmern fließendes Wasser haben und sich aufgebracht beschweren, wenn dieses Wasser nicht heiß genug aus der Leitung kommt. Wer früh morgens einige Schritte durch Chetrapathi geht, das direkt an Kathmandus Touristenviertel Thamel grenzt, sieht woher die Nepalis ihr Wasser bekommen: Männer waschen sich an öffentlichen Pumpen auf den ungepflasterten Straßen und Frauen pumpen dort das Wasser für ihren Haushalt in bauchige Krüge. Bei aller pittoresken Ursprünglichkeit ist das vor allem anstrengend. Von heißem Wasser zum Duschen redet hier niemand. Chetrapathi ist quirliges Viertel. Viele Sherpas aus den Bergen leben dort. Aber auch einer meiner Kollegen vom Fernsehen und meine Sprachlehrerin. Ein ganz normales Viertel eben. Und wenn das Wasser aus den öffentlichen Pumpen gerade im Sommer nur noch spärlich fließt, liegt das nicht nur an der Sommerzeit, sondern auch am Wasserbedarf der Touristen, die soviel mehr Wasser benötigen als die Nepalis. Trotzdem Chris Hulin Nepal merken die Touristen vom Wassermangel in der Regel nichts. Für sie kommt das Wasser allabendlich aus den bunt bemalten Tankwagen, die frisches Bergwasser bester Qualität in die Reservoirs der Hotels pumpen. Das Wasser für die Bevölkerung ist oft von schlechterer Qualität. Gerade für die kleinen Kinder ist das ein Problem. Von tausend Kindern sterben in Nepal 128 bevor sie das 5. Lebensjahr erreicht haben. Sie sterben an Durchfall und Lungenentzündung, an Unterernährung, den schlechten hygienischen Verhältnissen und der mangelnden medizinischen Versorgung (Für mehr als 20 Millionen Menschen gibt es gut 1000 Ärzte, die wenigsten von ihnen leben in den armen ländlichen Gebieten). Trotzdem lebt der Mythos von „Shangri-La“. Heilige Plätze sind im Himalaja tausend Mal heiliger als anderswo, sagen alte Schriften. Wer hier meditiert wird die Früchte der guten Taten ernten. Nepal ist von den Göttern gesegnet. Wir Deutschen scheinen eine besondere Schwäche für das kleine Land im Himalaja zu haben. Nach den Indern sind die Deutschen die zahlenmäßig stärkste Touristengruppe in Nepal. Viele kommen der Berge wegen. Schließlich stehen acht der vierzehn Achttausender der Erde in Nepal. Der Weg zum Everst Base Camp gleicht zur Trekkingsaison eher einer bevölkerten Fußgängerzone, als einem einsamen Bergpfad. Aber viele kommen auch wegen „Shangri-La“, der Spiritualität und dem Buddhismus. Das ist merkwürdig, denn Nepal bezeichnet sich als das einzige Hindu-Königreich der Erde. Über 80 % der Bevölkerung ist offiziell hinduistischen Glaubens. Die Zahl ist nur bedingt richtig: In einem Hindu-Königreich ist es nicht unbedingt ratsam anderer Religion zu sein. Und im hinduistischen Vielgötterhimmel ist auch noch Platz für Lord Buddha. Immer wieder habe ich in Nepal Menschen getroffen, die sich als Hindus und Buddhisten bezeichneten. 1950 wurde Tibet von den Chinesen besetzt. Bis heute ist Tibet besetzt. 1959 floh der Daila Lama, das geistige Oberhaupt der Tibeter, nach Indien. In Dharamsala sitzt seitdem die tibetische Exilregierung. Viele Tibeter flüchteten über die Berge nach Nepal und blieben dort. Der tibetisch-buddhistische Einfluss im Land ist spürbar und sicherlich auch ein Grund, warum so viele Westler von Nepal fasziniert sind. In den Bergen leben fast nur Menschen buddhistischen Glaubens. Aber so einfach ist das nicht. Genauso wenig wie es „den Nepali“ gibt, gibt es „die Religion“ in Nepal. Hindu-Königreich hin oder her. Gut fünfzig verschiedene Ethnien leben in Nepal mit mindestens genauso vielen Sprachen. Offizielle Amtssprache ist Nepali, das von gut 50 % der Bevölkerung gesprochen wird. Die gebildeten und jeder, der in der Tourismus-Branche arbeitet, spricht mehr oder weniger gut Englisch. Aber in Gebieten jenseits der touristischen Routen nützt oft weder Englisch noch Nepali. Denn Nepal ist ein Vielvölkerstaat. Nirgendwo wird das sichtbarer als in Kathmandu, Nepals Nepal Chris Hulin „Melting pot“. Hier leben Sherpas, Tamangs, Gurungs und, nicht zu vergessen, die ursprüngliche Bevölkerung des Kathmandu-Tals, die Newars. Als Fremde ist es faszinierend die unterschiedlichen Volksgruppen an ihrer Kleidung, ihren Gesten und ihren Gesichtszügen zu unterscheiden. Nepal wird oft gepriesen für seine Toleranz, ein Land in dem die unterschiedlichsten Volksgruppen und Religionen friedlich miteinander leben. Wieder einmal der Traum vom „Shangri-La“. Ich hatte während meines dreimonatigen Aufenthalts in Nepal manchmal das Gefühl, als sei diese Toleranz nur eine sehr dünne Schicht, unter der durchaus auch große Konflikte schwelen. Das hierarchische Kastensystem tut ein übriges dazu. Treffen sich zwei Nepalis zum ersten Mal, prüfen sie, so war meine Erfahrung, häufig die Nachnamen, denn daran lässt sich auch die Kaste des Gegenübers abschätzen. Höher, niedriger oder gleich, ist eine wichtige Frage, auch wenn seit 1960 das Kastenwesen offiziell keine Rolle mehr spielt. Nepalis aus einer niedrigen Kaste bezeichnen ihren Nachnahmen oft einfach als „Nepali“. Nach wie vor sind z.B. Ehen von Angehörigen unterschiedlicher Kasten problematisch. Der höher gestellte Partner rutscht – quasi als Bestrafung – eine Kaste niedriger. Und trotzdem ist es spürbar, das „Shangri-La“, die Mystik oder die Spiritualität oder was auch immer, das die Sinnsucher aus dem Westen nach Nepal zieht. Selbst in Kathmandu mit seinen lauten, schmutzigen und verstopften Straßen. Den wild wuchernden neuen Betonhäusern, die seit einigen Jahren auch höher als die bis dahin üblichen vier Stockwerke gebaut werden dürfen. Es ist da, in den neugierigen freundlichen Gesichtern der Menschen, die jeden freundlichen Blick mit einem Lächeln belohnen und fast jedem längeren, interessierten Gespräch eine Einladung folgen lassen. Es ist auch da, ganz früh, wenn morgens die Frauen Butterlämpchen, Blüten und Essen an den kleinen Altären opfern, die überall auf Kathmandus Straßen stehen. Manchmal stehen diese Altäre so klein und unscheinbar in einer Ecke, das man sie glatt übersehen könnte. „Shangri-La“ spürt man abends, wenn man keuchend die 365 Stufen zu Swayambunath hochgeklettert ist, dem großen buddhistischen Stupa, der ein Wahrzeichen Kathmandus ist. Unter den allwissenden Augen Buddhas präsentiert sich dann Kathmandu im Abendsonnenschein. Die ersten Müllfeuer gehen an, aber das ist von diesem Standort aus egal, trotz des Elends, das dahintersteckt sieht es einfach schön aus. Und wem die Götter gnädig sind, für den zerreißen sie vielleicht für ein paar Minuten die Smogglocke über Kathmandu und geben den Blick auf die Gipfel des Himalayas im Abendsonnenschein frei. „Shangri-La“. Chris Hulin Nepal Kinderarbeit in Nepal Ohne Frage: Kinderarbeit ist schlimm. Jedes Kind sollte das Recht haben, seine Kindheit unbeschwert und ohne Arbeit genießen zu können. Was aber, wenn Kinder arbeiten müssen, weil Armut, Hunger oder soziale Traditionen Kinderarbeit fordern und akzeptieren? Kinderarbeit findet in Nepal täglich, unbemerkt, millionenfach statt. Die meisten Kinderarbeiter sitzen nicht hinter Webstühlen als Teppichknüpfer oder arbeiten als Fabrikarbeiter. Diese Kinder gibt es auch. Aber die meiste Kinderarbeit findet unbezahlt und ganz unspektakulär auf dem Land statt. 90 % aller Kinderarbeit ist Landarbeit. Die Kinder arbeiten häufig auf den Feldern ihrer Eltern oder Verwandten und natürlich werden sie nicht dafür bezahlt. Ohne Zweifel gibt es die Kinder, die in Fabriken schonungslos ausgebeutet werden und dafür allenfalls einen kargen Lohn bekommen. Aber es sind wenige, gemessen an den Kindern, die täglich harte Landarbeit verrichten, ihre kleinen Geschwister hüten und auch noch das Essen für ihre Familien kochen, weil die Eltern auf dem Feld sind. Wir touristischen Besucher Nepals sehen diese Kinderarbeit fast nie. Wir sehen auch die Kinderarbeiter in kleinen Hotels und Restaurants nicht. Und erst Recht nicht die vielen Kinder, die als sogenannte „domestic servants“, als kleine Haussklaven in privaten Haushalten unter guten oder schlechten Bedingungen leben. Manchmal sind die Bedingungen sehr schlecht. Manchmal bekommen diese Kinder auch eine Chance, weil sie von ihren „Herrschaften“ zur Schule geschickt werden. Eine Chance, die viele Kinder in ländlichen Gebieten nie bekommen. Wir Westler kennen fast nur die medienwirksame Kinderarbeit. Die Kinder aus den Teppichfabriken und die Mädchen, die jährlich in indische Bordelle verkauft werden. Natürlich sind diese Schicksale schrecklich und natürlich ist jedes einzelne Kinderleben es wert, geschützt zu werden. Aber was ist mit den vielen, ja den meisten Kinderarbeitern, die nicht in unseren westlichen Medien vorkommen? Wir sollten uns die Frage stellen, ob wir vielleicht einer romantischen Vorstellung nachhängen, wenn wir Kinderarbeit in Nepal so rigoros verdammen. Viele Familien könnten ohne die Arbeit ihrer Kinder, bezahlt oder unbezahlt, nicht existieren. Sollten wir darum nicht lieber darüber nachdenken, wie die Lebensbedingungen der arbeitenden Kinder verbessert werden können? Meiner Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Bekämpfung der Kinderarbeit in Bildung. Nur Kinder die ein Minimum an Bildung bekommen, also lesen, schreiben und rechnen können, haben später eine Chance sich aus dem Kreislauf von Hunger und Armut zu befreien. Die Forderung, für arbeitende Kinder eine geregelte Arbeitszeit mit festen Pausen, Mindestlohn und Zeit für Schulunterricht zu verlangen, mutet ketzerisch an. Natürlich, Kinder sollten nicht arbeiten. Was Nepal Chris Hulin aber, wenn sie es müssen? Ist dann nicht eine kontrollierte, geschützte Arbeit, die Platz für Unterricht läßt, nicht besser als unkontrollierter Wildwuchs? In meinen drei Monaten in Nepal habe ich Entwicklungshilfeprojekte kennengelernt, die nach diesem Prinzip arbeiten. Mich hat dieser pragmatische Ansatz beeindruckt, weil er dem unsichtbaren Heer der Kinderarbeiter gerechter wird als idealistische Forderungen, die an den Umständen scheitern. Wenn es gelingt diese pragmatischen Konzepte umzusetzen, glaube ich, hoffe ich, sind wir dem Ziel, Kinderarbeit abzuschaffen, ein gutes Stück näher gekommen. Ein paar Zahlen „Obwohl Nepal die UN-Konvention für die Rechte des Kindes im September 1990 ratifiziert hat, erfolgt die Umsetzung dieser Rechte in Nepal eher langsam.“ Dies stellte die UNO im Mai 1996 in ihrem Länderreport zu Nepal fest. An dieser Feststellung hat sich auch vier Jahre später nicht viel geändert. Die Rechte und Lebensbedingungen von Kindern werden in Nepal erst seit der Demokratisierung des Landes 1989 wahrgenommen. Bis sie auch wirklich ernstgenommen werden, dauert es wohl noch ein paar Jahre. Dabei ist das Land ein junges Land. Die Situation und Lebensbedingungen von Kindern müsste allein deshalb schon interessieren. CWIN, Child Workers in Nepal, die bekannteste nepalische Organisation, die sich für die Rechte von Kindern einsetzt, kam 1997 zu dem Ergebnis, das über die Hälfte (52%) der nepalischen Bevölkerung Kinder und Jugendliche sind. Die ILO, International Labour Organisation, zählt in ihrem Bericht über die Situation der Kinderarbeit in Nepal vom Oktober 1998 insgesamt 6,23 Millionen Kinder zwischen 5-14 Jahren. Das entspricht bei einer Bevölkerung von fast 22 Millionen Menschen immer noch mehr als einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Und Nepals Bevölkerung wächst. Seit der Öffnung des Landes 1950 hat sie sich mehr als verdreifacht. Mit dem Wachsen der Bevölkerung verschwindet immer mehr landwirtschaftlich nutzbare Fläche. Besonders im Kathmandu Valley ist diese Entwicklung deutlich sichtbar. Noch vor zwanzig Jahren exportierte Nepal Reis nach Indien. Heute muss das Land den Reis bei seinen Nachbarn einkaufen, weil die Erträge nicht mehr reichen. Doch es mangelt dem Land nicht nur an Reis, sondern auch an Arbeitsplätzen. Jeder, der Arbeit hat, ist froh darüber. Wenn ein Kind mit seinem Einkommen wesentlich am Unterhalt einer Familie beteiligt ist, ist es schwierig Kinderarbeit einfach zu verdammen. Die Frage „Warum müssen Kinder arbeiten?“ lässt sich also ganz einfach beantworten: „Weil sie es müssen“. Der Hauptgrund für die Kinderarbeit liegt sicherlich in der erschreckenden Armut des Landes. Nepal gilt als eines der zehn ärmsten Länder der Welt. Je Chris Hulin Nepal nachdem, wie gezählt wird, liegt es irgendwo zwischen Rang fünf und Rang zehn. Neben der immensen Armut gibt es noch viele andere Gründe, warum Kinder arbeiten müssen. Einer ist die in den letzten Jahren erschreckend gestiegene Scheidungsrate. Die Kinder haben nicht mehr den schützenden Halt einer traditionellen Familie. Viele Kinder laufen auch von zu Hause fort, wenn ein Elternteil wieder heiratet. Das Märchen von der bösen Stiefmutter, bzw. dem bösen Stiefvater, ist in Nepal leider keins. Auch die mangelnde Bildung der Familien begünstigt Kinderarbeit. Viele Eltern sehen keinen Sinn darin, ihre Kinder zur Schule zu schicken, da die Schulausbildung nicht automatisch eine spätere oder sogar bessere Arbeit garantiert. Zudem ist die Unterrichtsqualität mancher nepalischer Schule so schlecht, dass die Kinder den Unterricht zu Recht als Zeitverschwendung betrachten. Nepalische Schulklassen, vor allem auf dem Land, bestehen aus Kindern, die zwischen ein und vierzehn Jahren alt sind. Die GTZ berichtet mir von einem Fall, in welchem in einer Schule in den Bergen ein Lehrer aus dem Terai unterrichtet. Der Unterricht musste schon deshalb scheitern, weil Schüler und Lehrer unterschiedliche Sprachen sprechen. Nepal ist ein Vielvölkerstaat, mit mindestens 50 verschiedenen Ethnien, und längst nicht in allen Winkeln und Tälern des kleinen Landes wird die Landessprache Nepali gesprochen. Viele Schulgebäude sind in einem erbärmlichen Zustand: Es gibt weder Strom noch Wasser, keine Fensterscheiben und keine Heizung. Und im Winter kann es auch in gemäßigteren Zonen, als den Bergregionen, empfindlich kalt werden. In der Regel fehlen Schulbücher, Stifte und Papier. Oft steht vor der Tafel, wenn es eine gibt, ein Lehrer, der aus einem Buch vorliest und die Kinder sprechen ihm nach. Mehr Unterricht ist nicht möglich. Die staatlichen Schulen – private Schulen gibt es in armen, ländlichen Regionen in der Regel nicht – sind zwar kostenlos, aber der Schuluniformzwang ist eine weitere finanzielle Hürde, die viele Eltern nicht nehmen wollen oder können. Ich habe auf meinen Reisen über Land in Nepal oft Kinder gesehen, die in einer Schuluniform auf dem Feld standen und arbeiteten. Diese Kinder haben sonst keine Kleider. Die Schuluniform wird Tag und Nacht getragen bis sie dem Kind vom Körper fällt. Unter diesen Umständen glauben manche Eltern nur zu gerne den Versprechungen von Mittelsmännern, die einen gut bezahlten Job in der Stadt versprechen, mit dem die Kinder dann ihre Familien ernähren können. Auch schicken viele Eltern ihre Kinder als Haushaltshilfen in die Stadt, weil sie hoffen, dass die Kinder dort nicht nur die Möglichkeit haben Geld zu verdienen, sondern zusätzlich in die Schule gehen können. Tatsächlich kommt dies auch vor. Dann gibt es Gebiete in Nepal, in denen es keine Schule gibt. Wo aber die Schule fehlt, stellt sich die Frage „Arbeit oder Schule“ natürlich erst gar nicht. Und schließlich gibt es auch soziale Gründe für Kinderarbeit. In Nepal wird Nepal Chris Hulin Kinderarbeit auch als natürlicher Teil der Kindheit gesehen und akzeptiert. Gerade die Kinder niedriger Kasten sind davon betroffen. Selbst im „wohlhabenden, gebildeten Kathmandu-Tal“ wird niedrigkastigen Kindern der Schulbesuch verweigert, eben weil sie aus einer niedrigen Kaste stammen. Deshalb unterstützt die Deutsch-Nepalische Hilfsgemeinschaft eine Schule in Bhaktapur, 10 Kilometer von Kathmandu entfernt. In diese Schule gehen die Kinder von Straßenkehrern, die von den strengen Kastenvorschriften besonders betroffen sind und von anderen Schulen ausgeschlossen werden. Und schließlich ist Kinderarbeit auch ein Problem von Angebot und Nachfrage: Viele Arbeitgeber bevorzugen Kinderarbeiter, weil sie billiger sind als Erwachsene. Sie können leichter gezwungen werden, länger und härter zu arbeiten und sie erledigen Arbeiten, die Erwachsene nicht machen würden. Die Ausbeutung von Kindern wird erleichtert durch ein ineffizientes Justizsystem, das die existierenden Gesetze zum Schutz der Kinder nicht oder nur unzureichend kontrollieren kann. Unter diesen Umständen die Abschaffung der Kinderarbeit in Nepal zu fordern, ist also trotz guten Willens bestenfalls eine naiv-romantische Zielsetzung. Aus diesem Grund hat die GTZ ihr Projekt, gegen den Wunsch der nepalischen Regierung, auch „Improvement of the situation of child laboures“ – „Verbesserung der Situation arbeitender Kinder“ genannt und nicht „Projekt zur Abschaffung der Kinderarbeit in Nepal“. „Dass es in wenigen Jahren keine Kinderarbeit in Nepal mehr geben wird, ist Quatsch“, sagt Charlotte Addy, Projektleiterin des GTZ-Projektes in Nepal. „Wir können nur versuchen, die Situation der arbeitenden Kinder zu analysieren und diese dann zu verbessern, indem die Kindern z.B. ein Minimum an Schulbildung erhalten“, so Charlotte Addy. „Dazu müssen wir aber natürlich auch wissen, wer überhaupt ein Kinderarbeiter ist? Bis heute gibt es keine Definition“. Die GTZ hat in einer ihrer Broschüren einige Punkte aufgelistet, mit denen sie Kinderarbeit definiert. Der wichtigste lautet: „Ein Kinderarbeiter ist ein Kind, das keine Kindheit hatte und keine lebenswerte und befriedigende Zukunft haben wird.“ Konkret heißt das, dass Kinder, die unter 14 Jahren eine Vollzeitarbeit erledigen einer Arbeit nachgehen, die gefährlich für ihre soziale, psychische und physische Entwicklung ist durch ihre Arbeit keine Zeit haben zur Schule zu gehen nicht das natürliche Recht der Kinder auf Spielen und Ausruhen haben die physisch, psychisch, sexuell oder emotional ausgebeutet werden in einem Lohnarbeitsverhältnis beschäftigt sind Kinderarbeiter sind. Mehr als fünf Millionen Kinder in Nepal, schätzt die GTZ, sind direkt oder indirekt als Kinderarbeiter beschäftigt. Chris Hulin Nepal Der größte Teil der Kinderarbeit ist unsichtbar. Neun von zehn Kinder, so die ILO, leben auf dem Land. In den ländlichen Gebieten, wo rund 90% der Gesamtbevölkerung Nepals leben, ist Kinderarbeit „normal“. 86 % aller Kinderarbeit, so die GTZ, geschieht auf dem Land. Kinder arbeiten auf den Feldern ihrer Eltern oder Familien. Acht von zehn Kindern werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Arbeit in den Familien stattfindet. Je ärmer ein Gebiet ist, umso mehr Kinder arbeiten: In den ärmeren Berg- und Hügelregionen arbeiten mehr Kinder als im wohlhabenderen Flachland des Terais. Je größer eine Familie ist und / oder je gebildeter, umso weniger müssen die Kinder arbeiten. Mädchen arbeiten „traditionell“ mehr als Jungen. Auf 80 arbeitende Jungen kommen 100 arbeitende Mädchen (ILO). Traditionell arbeiten die Jungen eher als bezahlte Arbeitskräfte als die Mädchen. Die arbeitenden Mädchen gehen auch weniger zur Schule als die arbeitenden Jungen. Hier steht das Verhältnis 100 zu 234 (ILO). Von den 2,596 Millionen arbeitenden Kinder gehen 1,587 Millionen neben ihrer Arbeit auch zur Schule. 1,004 Millionen Kinder arbeiten ausschließlich. Diese Zahlen sagen nur wenig über den tatsächlichen Bildungsstand der Kinder aus. Generell ist es auch hier so, dass mehr Kinder in städtischen Gebieten arbeiten als auf dem Land. Dies hat verschiedene Ursachen, wie z.B. ein niedrigeres Bildungsniveau auf dem Land gegenüber dem der Stadt, schlicht und ergreifend fehlende oder fast zerstörte Schule, keine Lehrer in entlegenen Regionen oder zu lange Schulwege. Ob die Kinder die Schule tatsächlich beenden, erfassen die Zahlen nicht. Viele Eltern sehen in der Schule einen praktischen Babysitter, der die kleinen Kinder betreut, während sie selbst auf den Feldern arbeiten. Sobald die Kinder groß genug sind um zu Hause mitzuarbeiten, kommen sie nicht mehr in die Schule. In diesem Fall von Schulbildung zu sprechen, trifft also nur bedingt zu. Wie die Situation auf dem Land ist, davon konnte ich mir auf einer Reise in ein GTZ-Projektgebiet persönlich ein Bild machen. Nepals „Wilder Westen“ Draußen sind es vierzig Grad. Mindestens. Das weiß ich, bevor ich die Tür des klimatisierten GTZ-Jeeps öffne. Trotzdem trifft mich die Hitze wie ein Schlag. Ich war bisher immer nur in Kathmandu oder in höheren Regionen. Tagsüber angenehme fünfundzwanzig bis dreißig Grad, nachts so kühl, dass es sich gut schlafen lässt und bis auf ein paar Mücken keine lästigen Tiere. Und nun das. Es ist nicht nur heiß, es ist auch schwül und in diesem Klima potenziert sich die Kraft der Gerüche. Nepalganj, die größte Stadt im westlichen Terai, direkt an der Grenze zu Indien, ist eine lebhafte Stadt. Die Stadt wirkt sehr indisch. Nepal Chris Hulin Wir, Mohan Raj Sharma, der das GTZ-Projekt in Doti betreut, ein Chauffeur und ich, sind unterwegs nach Doti, Nepals westlichster Provinz. Gestartet sind wir heute morgen um sieben, von dem schönen Rana Palast in Patanm, indem die GTZ ihr Büro hat. Wer in Nepal reist, sollte keinen empfindlichen Magen haben. Die Serpentinen, raus aus dem Kathmandu-Valley, runter auf den Ost-West Highway durchs flache Terai, fordern, trotz Reisetabletten, meine Konzentration. Gut, dass ich so mit mir beschäftigt bin, sonst würde ich mir vielleicht noch Gedanken über den Verkehr machen. „Verkehrsunfälle sind die häufigste Todesursache bei Entwicklungshelfern“ erzählt mir Charlotte Addy. Aber das ist später und so nehme ich die im Straßengraben (wenn es einen gibt, oft ist der Straßengraben hundert Meter den nächsten Hang runter) liegenden Busse und Lkws als normal hin. Jetzt ist es später Nachmittag, wir haben die erste Etappe geschafft und ich hocke auf dem Rand einer Beeteinfassung und warte. Worauf? Keine Ahnung. Mohan und der Chauffeur sind gemeinsam verschwunden und ich übe mich in der nepalischen Tugend zu warten und mir keine Gedanken zu machen. Irgendwann wird irgendetwas passieren. Ich sitze auf dem Hof einer Fachhochschule oder etwas ähnlichem und darum dauert es nicht lange, bis der erste Mensch auftaucht, der sich mit mir unterhalten möchte. Leider kann die sympathische junge Frau mit Baby kein Englisch und mein Nepali reicht gerade mal dazu, meinen Namen zu sagen, woher ich komme und was ich mache. Netterweise setzt sich die Frau trotz meiner eingeschränkten Gesprächsfähigkeiten neben mich und so brüten wir gemeinsam in der Hitze und Schweigen. Irgendwann kommt dann Mohan und sagt: „Ja, hier übernachten wir“. Ich bekomme ein Zimmer mit Ventilator – den ich sofort anstelle und dann wieder aus, weil der Lärm der Ventilatorflügel schlimmer ist als die Hitze – und einem Moskitonetz über dem Bett, das mich für die Nacht nichts Gutes ahnen lässt. War dann aber doch nicht so schlimm. Am nächsten Tag fahren wir weiter auf dem schnurgeraden Ost-West Highway. Immer weiter durch Bananenpflanzungen und Maisfelder. Hinter uns liegt schon Lumbini, Buddhas Geburtsort. Wie so oft an Plätzen der Weltgeschichte, hat der Ort etwas ernüchterndes an sich. Hier war es also. Aha. Später fahren wir durch den Bardia Nationalpark, der wilder und ursprünglicher sein soll als der bekanntere Chitwan Nationalpark, und im Gegensatz zum Chitwan soll man hier die Tiger wirklich noch zu Gesicht bekommen. Ich starre also angestrengt in den Wald, vielleicht ist der König des Dschungels ja tagsüber unterwegs, und sehe nichts als Bäume. Wir stoppen auf einer Brücke. Ziemlich tief unter uns fließt ein Fluss und auf einer Sandbank in der Sonne dösen zwei Krokodile. Meine ersten Krokodile in freier Wildbahn! Auch Mohan ist beeindruckt und so photographieren wir beide die schlafenden Krokodile, bis uns eine Patrouille mit Maschinenpistolen bewaffneter Chris Hulin Nepal Soldaten zum sofortigen Weiterfahren auffordert. Was wir schleunigst tun. Die Soldaten bewachen den Nationalpark, bzw. die Tiere, die darin leben, vor Wilderern. Eigentlich kein schlechter Job für die Armee, denke ich. Immer weiter geht unsere Fahrt. „Far Western“ ist nicht nur eine Bezeichnung, sondern tatsächlich ziemlich weit weg. Zumindest, wenn man Kathmandu als Zentrum Nepals betrachtet. Dörfer und Menschen werden immer weniger. Wir fahren auf neu gebauten Brücken über weiß schäumende Flüsse. „Bis vor drei, vier Jahren“, sagt Mohan, „dauerte die Fahrt nach Doti noch länger. Es gab keine Asphaltstraße und keine Brücken. Über jeden Fluss musste man mit einem Floß übersetzen“. Fast bedauere ich, dass es heute nicht mehr so ist. Wie aufregend schön müsste es sein, mit dem Jeep auf ein Floß zu fahren, über den Fluss zu setzen und die immer unberührter werdende Landschaft langsam zu entdecken. „Touristenromantik“, denke ich, während die Natur durch klare Panoramascheiben vollklimatisiert an mir vorbeizieht. Ob die Menschen die hier wohnen, dem Floßverkehr hinterher trauern? Wohl kaum, schließlich gibt es durch die Straße und die Brücken endlich eine Busverbindung nach Kathmandu. Vor dem Bau der Straße war die Hauptstadt viel zu weit entfernt, so dass Handel und Händler die nähere Verbindung nach Indien nahmen. Endlich biegen wir ab und fahren immer entlang des Seti Kholas, des weißen Flusses in die „Hills“. Was man in Nepal so Hills nennt. Grün bewaldete zwei- bis dreitausend Meter hohe Berge, die bei uns „Alpen“ heißen. Die Hügel sind übersät mit einem Muster von Zick-Zack-Pfaden. Wir fahren durch ein Tal mit einem rotblühendem Rhododendronwald. Der Rhododendron ist Nepals Nationalblume und hat nichts mit den kleinwüchsigen Exemplaren in deutschen Parkanlagen zu tun. Hier ist der Rhododendron ein Baum. Wir haben Glück, dass wir noch die letzte Blüte sehen. Schließlich kommen wir im GTZ-Haus in der Nähe von Silghadi an. Es gibt eine Dusche mit fließend kaltem Wasser, ich bekomme ein mit Bambusmöbeln schön eingerichtetes Zimmer und in der Küche wartet schon unser Dhal Baat, Reis mit Linsen und Gemüse, Nepals Nationalgericht, auf uns. Abends setze ich mich auf die Terrasse des GTZ-Hauses. Das Haus steht direkt über einem Tal. Unten fließt der Seti, die Hügel sind sanft geschwungen und grün. Der Mond erscheint pünktlich hinter einer Hügelspitze und geht leuchtend, in einem nicht minder leuchtenden Sternenhimmel, auf. „Könnte auch die Toskana sein“, denke ich, bevor ich ins Bett gehe. Nich mal Touristenromatik. Am nächsten Morgen gibt‘s statt Sternen und Mond Adler am Himmel. Nicht einen, sondern eins, zwei, drei, vier, viele. Mit Rücksicht auf meine europäischen Essgewohnheiten („Europäer wollen jeden Tag etwas anderes essen“) hat Mohan für mich frische Papaya und Tee zum Frühstück machen lassen. Er selbst isst, wie alle anderen, natürlich Dhal Baat. Dann fahren wir los. Ich werde heute mit der Street-Drama-Group „Sarvanam“ gemeinsam drei Nepal Chris Hulin Dörfer in der Umgebung besuchen und mir ihre Aufführungen anschauen. Im „Far Western“ leben die Menschen noch nach traditionellen Vorstellungen. Die Frauen gehören ins Haus, Kinder, und besonders Mädchen, sollen lieber arbeiten als zur Schule zu gehen. Traditionell wird Kinderarbeit akzeptiert. „Es ist für diese Kinder die Regel zu arbeiten“, so Charlotte Addy, „und die Ausnahme zur Schule zu gehen“. 45,5 % der Bevölkerung in Doti sind unter 14 Jahren alt. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt, fahren wir an mehreren, fast mannshohen Gras oder Reisigbündeln auf sehnigen Beinen vorbei. Was von hinten komisch aussieht, ist, von vorne betrachtet, ein Kind, das Futter für die Tiere oder Holz für den Herd gesammelt hat und nun nach Hause schleppt. Die Beine, die diese Lasten tragen, sind immer weiblich. In dieser Region glaubt man, dass Männer nichts tragen sollen. Frauen, die ich später frage, warum nicht ihre Männer die schweren Holzbündel oder auch Steine zum Häuserbau tragen, fangen bei der Frage an zu kichern. Absurde Vorstellung. Eine weiter Besonderheit in Doti ist die Kastenverteilung: Die Hälfte, der in Doti lebenden Bevölkerung, gehört zu einer niedrigen Kaste, gut 40% sind hochkastige Chetris, der Rest verteilt sich auf andere Kasten und Religionen. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass die einen für die anderen arbeiten. Praktisch bedeutet es, dass den Angehörigen der niedrigen Kasten z.B. die Benutzung des Dorfbrunnens verboten ist, weil sie das Wasser verunreinigen würden. Sie werden von den Chetri-Dorfbewohnern gezwungen, ihr Wasser an einem anderen Ort zu holen. Das bedeutet oft weite Fußmärsche, um zweimal täglich das nötige Wasser für eine Familie zu holen. Natürlich ist auch das Frauenarbeit. Manche Frauen und Mädchen sind alleine zwei Stunden pro Tag mit Wasser holen beschäftigt. Ein neues Problem kommt auf Doti und die ganze Region „Far Western“ noch zu. Viele Männer verlassen ihre Familien und gehen zum Arbeiten nach Indien. Ein bis zwei Mal im Jahr, an Feiertagen, besuchen sie ihre Familien und bringen neben Kleidung und Konsumartikeln noch ein Geschenk besonderer Art mit: AIDS ist die still tickende Bombe der Region. Die Frauen mit denen ich mich unterhalten habe, wissen zwar was Kondome sind, aber von AIDS und was die Krankheit bedeutet, haben sie noch nie gehört. „Und was sollen Kondome“ sagte mir eine Frau „solange ich nicht zwei Söhne habe?“ Ein paar Dörfer weiter sagte mir ein „field-worker“, gibt es schon die erste Familie in der alle, die Eltern und die Kinder, HIV-infiziert sind. Wie soll man diese Problem lösen? Was sollen Plakate und Broschüren, wo noch nicht einmal jeder zweite lesen und schreiben kann? Also hat sich die GTZ entschlossen, die vielen Probleme der Menschen in Doti von einer Street-Drama-Group darstellen zu lassen. Die Idee dahinter ist so einfach wie gut: Die Theatergruppe bereist mit GTZ Mitarbeitern das Projektgebiet. Anschließend wird ein Stück geschrieben, das die besonderen Problem der Menschen in dieser Region zum Thema hat. Mit diesem Stück wandert die Chris Hulin Nepal Street-Drama-Group anschließend in dem Projektgebiet von Dorf zu Dorf. Die GZT hofft, dass die Menschen in Doti über die Themen im Stück frei sprechen können, leichter zumindest, als über die eigenen, echten Probleme. Mohan hat für mich ein Treffen mit den Mitgliedern der Theatertruppe „Savanam“ – „Hier und Jetzt“ an einer Wegbiegung verabredet. Tatsächlich erwarten mich am Treffpunkt schon fünf Leute. Ein Redakteur der lokalen Station von Radio Nepal ist auch dabei. Ab jetzt reise ich zu Fuß, denn die schmalen Serpentinen sind eher Pfade und auch per Jeep nicht zu schaffen. Zu meiner Überraschung geht es erst Mal runter von der Straße, eine steile Böschung hinab und wir stehen am Flussufer des Seti Kholas, der sich hier ganz zahm gibt und glatt und breit fließt. Hellgrauer, weicher Sand liegt an den Ufern des Setis, dazwischen einige große Findlinge, die die Morgensonne schon aufgewärmt hat. Über uns kreist ein Adler. Wo kein Fluss ist, ist Wald. Kanada hatte ich mir immer so vorgestellt. Und darum wundere ich mich auch nicht über den Einbaum, der am anderen Flussufer liegt. Das hier ist Indianerland. Leider ist der Fährmann des Einbaums nicht ins Sicht. Wir rufen und pfeifen, aber nichts passiert. Also üben wir uns wieder mal in der nepalischen Tugend des Abwartens und suchen uns ein Platz auf den warmen Steinen. Schließlich, für meinen Geschmack viel zu schnell, kommt ein Junge am Ufer entlang. Für zwei Rupien zieht er seine Kleider aus, springt ins Wasser und schwimmt auf die andere Seite. Fünf Minuten später ist er mit dem Fährmann zurück. Ich steige zu meiner ersten Fahrt auf einem Fluss in einem Baumstamm und wir setzen über. Fünf Rupien kostet die Fahrt für sechs Personen. Also pro Person etwa drei Pfennige. Vor lauter Staunen über den Preis falle ich zum Schluss fast ins Wasser. Glücklicherweise sind wir da aber schon am anderen Ufer angekommen. Sofort geht es in einem atemberaubendem Tempo los. Ich spreche ein stilles Dankgebet für meine Trekkingschuhe, die ich heute morgen angezogen habe. Alle anderen sind in Turnschuhen oder Flip-Flops. Unser Weg geht bergauf. Nur bergauf und das ziemlich steil. Ich sehe mit Erleichterung, dass zumindest der Kollege von Radio Nepal ebenso schnauft und schwitzt wie ich. Die Schauspieler sind schon seit zwei Wochen in Doti unterwegs. Scheint ein gutes Trainingslager gewesen zu sein, wir können mit ihrem Tempo kaum mithalten. Schneller sind nur noch die Frauen und Kinder aus den Dörfern, die uns schwer beladen immer wieder überholen. Die meisten sind barfuß. Endlich sind wir oben. Im Dorf erwarten uns noch weitere Schauspieler von Sarvanam. Die Vorstellung beginnt sofort. Mit lautem Rufen, Klatschen und Singen wird das Dorf auf einem kleinen Platz zusammengetrommelt. Mir ist schleierhaft, wie ein Mensch nach zweistündigem Aufstieg noch soviel Luft zum Singen haben kann. Aber die Schauspieler haben damit ganz offensichtlich kein Problem. Erst kommen nur die Kinder, aber je länger das Stück Nepal Chris Hulin dauert, um so mehr Erwachsene kommen auch dazu. Das Stück erzählt eine Familiengeschichte mit Vater, Mutter, Kind, Großvater, Nachbarn und Verwandten. Es geht darum, ob die Tochter weiter zur Schule gehen darf oder besser zu Hause hilft. Es geht um häusliche Gewalt und Alkohol. Um die Männer, die wegen der Arbeit nach Indien gehen, die Frauen die deshalb alles alleine machen müssen, und um AIDS. Es geht um so vieles, dass ich das schulterzuckende, nepalische, „What to do?“, das dann immer alles beim Alten belässt, verstehen kann. Aber die Menschen auf dem Dorfplatz amüsieren sich, sind mucksmäuschenstill vor Spannung und lachen und singen mit. Fernsehen gibt es hier nicht. Selbst wenn die Menschen wohlhabender wären, hätten sie doch keinen Strom. Auch Radios können sich nur wenige leisten. Wo es ein Radio gibt, da hört das gesamte Dorf mit. Über unseren heutigen „Ausflug“ wird mein Kollegen von Radio Nepal eine Stunde Programm machen. Nach der Vorstellung gibt es für die Schauspieler, uns beiden Journalisten und einen amerikanischen Studenten, der die Truppe schon seit einigen Tagen begleitet, ein Essen. Dhal Baat, was sonst. Ich lerne zu essen, während mir eine versammelte Dorfgemeinschaft aus zwei Metern Abstand zuschaut. Kein so gutes Gefühl, denn die Menschen in Doti produzieren nicht genügend Lebensmittel für ihren Bedarf. Die kleinen Bergfelder geben nicht genug her, um eine Familie ein ganzes Jahr lang satt zu machen. Das Essen abzulehnen wäre jedoch absolut unhöflich. Also esse ich und hoffe, dass mein erster Versuch ohne Besteck zu essen, nicht in einem unappetitlichen Desaster endet. Nach dieser Pause geht es sofort weiter. Heute gibt es noch in zwei anderen Dörfern eine Vorstellung. Die Prozedur läuft immer gleich ab und bleibt doch spanned: Erst kommen nur die Kinder, dann auch die Erwachsenen und zum Schluss ist das ganze Dorf da. Ich bin besonders von Anita beeindruckt. Anita ist zehn Jahre alt und spielt das Kind im Stück. Der Vater im Stück ist auch im „echten“ Leben ihr Vater. Anita hat gerade Schulferien, lebt sonst in Kathmandu, spricht fließen englisch und will später mal – nein, nicht Schauspielerin, sondern Ärztin werden. Ich bin beeindruckt, wie gut sie die Geschichte des Dorfmädchens spielt, dessen Vater nicht mehr will, dass sie zur Schule geht. Anita nimmt mich auf dem Heimweg an die Hand und erklärt mir die Welt in Doti. Das der Seti Khola im Moment nicht weiß ist, obwohl Seti weiß heißt, weil er jetzt vor dem Monsun nur noch wenig Wasser hat, dass die vielen singenden und tanzenden Menschen, an denen wir vorbeikommen, Hochzeiten feiern, weil im Moment der Mond günstig für Hochzeiten steht und das „phul“ das nepalische Wort für Blume ist. Die Hochzeiten, die wir sehen, sind alles Kinderhochzeiten. Kinder zwischen zehn und fünfzehn Jahren werden miteinander verheiratet. Wenn die Zeit gekommen ist, meistens wenn das Chris Hulin Nepal Mädchen seine Periode bekommt, zieht die Ehefrau in das Haus ihres Mannes. Bis es soweit ist, bleibt sie bei ihren Eltern. Kinderhochzeiten sind in Doti (noch) üblich. Ich habe mindestens fünf gesehen. Braut und Bräutigam feiern getrennt voneinander. Beide sitzen in einer Art Sänfte, die aus einem Stuhl oder Sessel an zwei Stangen gebaut wurde. Der verschüchterte Bräutigam hält einen aufgespannten Regenschirm gegen die Sonne über sich und trägt eine große, verspiegelte Sonnenbrille. Die Jungen sitzen mit ernster, unbewegter Miene hinter ihren zu großen Sonnenbrillen in ihren Sänfte und scheinen von der johlenden Menge ganz unberührt. Die Kinderbräute sind gar nicht zu erkennen. Die Mädchen werden vollständig in einen roten, goldverzierten Sari eingewickelt, der sogar das Gesicht bedeckt. Sie sind zusammengekauerte Bündel, die in diesem Leben vermutlich keine Wahl mehr haben werden. Anita ist vom Schicksal der Mädchen, die in Kathmandu ihre Schulfreundin sein könnten, nicht beeindruckt: Zu weit ist diese Leben von ihrem entfernt. Ich kann es kaum fassen, dass beide Mädchen im selben Land leben. Die eine noch fast im Mittelalter, die andere im 21. Jahrhundert. Anita nimmt mich an die Hand, sagt: „Komm, wir rennen durch jedes Dorf“ und als ich frage warum, sagt sie nur „Darum“. Und darum rennen Anita und ich zurück nach Silghadi. Rennen durch jedes Dorf, die silberglänzenden Steinstufen am Seti entlang, der an dieser Stelle seinem Namen wieder alle Ehre macht und ziemlich wüst, weiß schäumt. Erst als Anita eine Hängebrücke hüpfend überqueren will – „Darum“ – kriege ich es mit der Angst und kapituliere. Wir sind trotzdem vor allen anderen da und stoßen mit Cola auf unseren Sieg an. Straßenkinder „Ich mag Straßenkinder“, sagt Sumnima Tuladhar. „Sie sind clever und habe eine wunderbare Art, die Probleme des Lebens zu meistern .Gesellschaftliche Erwartungen interessieren sie nicht“. Die winzige Thika in Sumnimas Augenwinkel blitzt, während sie das sagt. Eigentlich gehört die Thika bei einer nepalischen Frau auf die Mitte der Stirn, zwischen die Augenbrauen, knapp oberhalb der Nasenwurzel. Aber Sumnima gehört zu den Frauen, die – gebildet und selbstbewusst – ihr Leben selbst bestimmen. Da ist der kleine Thikafunkelstein im Augenwinkel schon fast ein Symbol. Sumnima Tuladhar ist Pressesprecherin von CWIN, Child Workers in Nepal, Nepals bekanntester NGO (Non Gouverment Organisation), die sich seit 1987 für die Rechte der Kinder in Nepal einsetzt. Entstanden ist CWIN aus der Arbeit einer Gruppe von Studenten an Kathmandu‘s Tribhuvan University, die sich für Nepal Chris Hulin die Rechte von Kindern einsetzten. Gauri Pradhan, der Gründer von CWIN und ehemaliger Studentenführer, ist bis heute der erste Vorsitzende von CWIN und so etwas wie eine Kultfigur in Nepal. Aus der kleinen, studentischen Organisation machte er eine der ersten, und bis heute einflussreichsten NGOs in Nepal. Finanziell unterstützt wird CWIN vor allem von Redd Barna aus Norwegen und von Plan International. Die ausländischen Geldgeber meinen es gut mit CWIN. Und so hat CWIN seit 1989, dem Jahr der Demokratisierung Nepals, verschiedene Hilfsangebote für „Children at risk“ aufbauen können. Neben einem „Drop-In-Centre for street children“, hat CWIN zwei Kinderheime in Kathmandu, eins für Jungen und eins für Mädchen. Es gibt ein „Education sponsorship programme“ für bedürftige Kinder, „skill-training/education programme“ für Kinder über vierzehn Jahre und seit 1998 betreibt CWIN sogar eine Notrufnummer für Kinder. Geld, Macht und Einfluss einer Hilfsorganisation werden in Nepal jedoch einfacher gemessen. Gezählt wird in Toyota Jeeps. Vor der Tür der CWIN-Zentrale parken gleich zwei davon. CWIN ist eine durch und durch professionelle Organisation, die nach westlichen Standards arbeitet. Keine Selbstverständlichkeit in Nepal. Durchaus international bekannte Organisationen verblüffen durch „Telefonzentralen“, in denen kein einziger Mitarbeiter englisch spricht, gleichwohl aber ausländische Journalisten betreut. Bei CWIN ist das nicht so. Das Verwaltungsgebäude steht in einem gepflegten grünen Garten, in dem zwei Gärtner eifrig den Rasen mit der Schere kürzen. Schnipp- Schnapp, das würde in Europa vielleicht mit dem Rasenmäher erledigt, aber sonst? Am großen Tor muß ich mich anmelden, mit Name, Organisation und Unterschrift, um anschließend im Verkaufs- und Besucherzentrum von einem netten Sekretär in Empfang genommen zu werden. Sumnima holt mich ab und führt mich in das CWIN-Pressezentrum, das genausogut irgendwo in Deutschland stehen könnte. Die Wände sind mit Regalen voller Aktenordner bedeckt. Fachbücher stehen daneben und Infomaterial liegt nach Themen geordnet aus. Nur die Schuhe muß ich nach nepalischer Sitte doch ausziehen, bevor ich den Raum betreten darf und mich mit Sumnima an einen niedrigen Tisch auf den Boden setze. Noch bevor wir unsere Gespräch beginnen, wird uns süßer, heißer Milchtee serviert. Das ist in Nepal obligatorisch. Unvorstellbar, einem Gast keinen Tee anzubieten. In den drei Monaten in Nepal habe ich gelernt, die Haut auf dem Tee rasch mit zwei Fingern abzuheben und als braunen Klumpen am Glasrand festzukleben. Würde ich noch drei Monate länger bleiben, würde mich der braune Klumpen am Glasrand vermutlich nicht Mal mehr stören. Sumnima Tuladhar arbeitet seit mehr als zehn Jahren für CWIN. Sie war sechzehn als sie mit der Arbeit bei CWIN begann. „Die Idee von CWIN hat mich tief bewegt“, sagt sie. „Bevor es CWIN gab, hat man Straßenkinder für schlechte Menschen gehalten, die zu Recht auf der Straße gelandet waren und die deshalb Chris Hulin Nepal auch schlecht behandelt werden durften. Erst CWIN hat den Menschen die Augen geöffnet und gezeigt, dass diese Kinder durch die Umstände zu Straßenkindern geworden sind“. Die Umstände, die die Kinder auf die Straße treiben, hat CWIN nicht ändern können. Aber das die Situation dieser Kinder inzwischen auch von der nepalischen Gesellschaft wahrgenommen wird, ist auch CWIN‘s Verdienst. Genauso wie die Tatsache, das Nepal die UN-Konvention für die Rechte der Kinder unterzeichnet hat. Mein Interesse an den Straßenkindern Nepals bringt Sumnima zum Lächeln. Denn eigentlich ist schon der Begriff „Straßenkinder in Nepal“ nicht richtig. Straßenkinder gibt es (fast) nur in Kathmandu und selbst da sind es nicht viele, verglichen mit den Kindern die als „domestic servant“, also als Haushaltshilfe, oder in einer Fabrik arbeiten. „Rund hundert Straßenkinder gibt es zur Zeit in Kathmandu“, sagt Sumnima, „wenn man Straßenkind als ein Kind definiert, das ohne seine Eltern oder sonstige Erwachsene alleine seinen Unterhalt wie auch immer verdient und keinen festen Wohnsitz hat“. Doch auch die Entwicklungshilfe hat ihre Moden und „Straßenkinder“, sagt Sumnima, „waren eine Mode der neunziger Jahre. Es ist viel Geld in Projekte für Straßenkinder geflossen, obwohl sie, so hart das klingt, nur einen verschwindend kleinen Teil der bedürftigen Kinder ausmachen.“ Die vielen Kinder, die tagsüber und am frühen Abend die Touristen mit „Which country are you from?“ und „Please, buy me some milk“ ansprechen, sind in der Regel keine „echten“ Straßenkinder. Sie werden von ihren Eltern auf die Straßen Thamels, Kathmandu‘s Touristenviertel, geschickt, um betteln zu gehen und kehren abends mit dem Verdientem zu ihren Familien in die Slums zurück. Viele Touristen lassen sich von den mageren Kindern überreden, ihnen ein Packung Milch oder besser noch Milchpulver zu kaufen. Nicht ahnend, dass die Kinder diese Milch oft im selben Laden an den Verkäufer zu einem niedrigeren Preis zurück verkaufen. Der Shopbesitzer verdient also mindestens zweimal. Die anderen, die „echten“ Straßenkinder, haben keine Familien mehr, zu denen sie abends zurückkehren. Die Kinder leben in Gruppen zusammen, sie sind die Familie und sie tun, was ihnen gefällt. Wild und frei ist dieses Leben, trotz aller Risiken. Abends sieht man die Kinder manchmal in kleinen Grüppchen, in einer Ecke um ein kleines Feuerchen sitzen und rauchen. Manchmal torkeln sie auch laut und betrunken durch die Gassen und beschimpfen jeden, der ihnen über den Weg läuft. Zweimal bin ich in meiner Zeit in Kathmandu nachts an Kindern vorbeigekommen, die schlafend in der Gosse lagen. Kein schönes Gefühl, wenn man selber gerade auf dem Weg in ein frischbezogenes Bett ist. In der Regel schlafen die Kinder aber an weniger exponierten Orten. Die vielen Tempel bieten mit ihren Nischen und Dächern einen trockenen Schlafplatz. Und sie Nepal Chris Hulin versprechen Schutz. Denn die Straßenkinder müssen ständig auf der Hut sein vor Wachmännern und Polizisten, die mit ihren hölzernen Schlagstöcken nicht zimperlich umgehen. „Misshandlungen von Straßenkinder, auch von der Polizei sind keine Seltenheit“, sagt Sumnima. CWIN versucht mit Schulungen die Polizisten auf die Problematik der Straßenkinder aufmerksam zu machen. Die Polizei soll, wenn sie solche Kinder aufgreift, CWIN anrufen, statt die Kinder ins Gefängnis zu sperren. Mehr und mehr funktioniert das auch. Trotzdem sind die Kinder vor Misshandlungen nicht sicher. Vor jedem Hotel in Thamel, Kathmandu‘s Touristenviertel, steht ein, meist uniformierter, Wachmann. Was uns zum Lachen reizt, wenn die Wachmänner in Phantasieuniformen hackenknallend und zackig grüßend, jeden ausländischen Gast empfangen, ist für die Kinder kein Spaß. Für viele Wachmänner scheint es eine Art Sport zu sein, vorbeilaufenden Straßenkindern ihren hölzernen Schlagstock mit einem satten „Plopp“ über den Kopf zu ziehen. Die Kinder drehen den Spieß um und laufen so dicht vorbei, dass sie gerade eben nicht mehr von den Wachmännern erwischt werden. Trotzdem habe ich in den drei Monaten in Nepal oft ein „Plopp“ gehört. Die Familien der Kinder leben oft mehrere Tagesreisen von Kathmandu entfernt auf dem Land. Die Kinder sind aus den verschiedensten Gründen allein in der Stadt: Die Eltern, ein Stiefelternteil oder Verwandte haben sie zum Geldverdienen in die große Stadt geschickt oder die Kinder versuchten häuslicher Gewalt zu entfliehen oder die Kinder sind von einer „Arbeitsstelle“ in Kathmandu abgehauen und so auf der Straße gelandet oder die Langeweile zog sie nach Kathmandu. Der Mythos Hauptstadt lockt nicht nur Erwachsene nach Kathmandu. „Man kann sich gar nicht vorstellen“, sagt Charlotte Addy, Leiterin des GTZ-Projekts zur „Verbesserung der Situation arbeitender Kinder“, „wie wenig Anregung es in den Dörfern für die Kinder gibt. Wie langweilig es dort ist“. Die Kinder auf Kathamandus Straßen gehören den verschiedensten Ethnien an, sprechen unterschiedliche Sprachen und kommen aus allen Gegenden Nepals. Allerdings fast nur aus Gebieten, die an einer „black-topped-road“, einer Asphaltstraße liegen. Denn erst mit den Straßen dringt der Glamour der Hauptstadt und des modernen Lebens in entlegene Dörfer. Nur Gebieten mit Straßen sind durch Busse mit Kathmandu verbunden. Folgerichtig hat CWIN seit 1999 direkt am Bus-Terminal in Kathmandu ein „Contact Centre for migrant children at risk“ eingerichtet. Immer wenn ein neuer Bus einrollt, wird per Lautsprecher auf das „Contact Centre“ hingewiesen. Seit 1999 gibt es das „Contact Centre“. Ob die Lautsprecherdurchsagen die Kinder wirklich davor bewahren in der Gosse zu landen? Zumindest erfahren sie von CWIN, hören, dass es neben der Auffangstation am Busterminal auch ein CWIN „Drop in Centre“ gibt, wo es etwas zu Essen gibt und einen Platz zum Ausruhen. Für Chris Hulin Nepal kranke Straßenkinder gibt es die CWIN „Health Clinic and Counseling Service“.Aber die meisten Kinder steigen nicht aus dem Bus aus und bleiben bei CWIN, sondern sie landen auf der Straße. Zuvor waren die meisten von ihnen irgendwo als Kinderarbeiter, in einer Ziegelfabrik, in einem Hotel oder einem privaten Haushalt tätig. So wie Hari. Der heute fünfzehnjährige hat in einem Teashop und in einer Teppichfabrik gearbeitet, bevor er einen „field worker“ von CWIN traf und mit ihm ging. Er war zehn Jahre alt, als er nach dem Tod seines Vaters alleine nach Kathmandu kam. „Auf der Arbeit bekam ich kein Geld, aber in der Fabrik gab es wenigstens zweimal am Tag zu essen. Aber ich durfte das Fabrikgelände nicht verlassen, ich war eingesperrt und wurde viel geschlagen. Das Leben auf der Straße ist besser, dachte ich. Man kann schlafen solange man will, und wenn man Geld hat, kann man es ausgeben wofür man möchte“, sagt Hari. „Fast alle Kinder“, so Sumnima, „werden bei ihrer Arbeit ausgebeutet, körperlich misshandelt und gequält“. Kein Wunder, dass viele Kinder lieber abhauen und das unsichere aber freie Leben auf der Straße den Schlägen und der Ausbeutung der Erwachsenen vorziehen. Auf der Straße leben die Kinder in Gangs, um sich vor den Übergriffen der Erwachsenen, der Polizei und anderer Gangs zu schützen. Die Gang ist die Familie, mit der die Kinder leben. Mädchen gibt es in diesen Gangs fast nie. „Mädchen sind zu verletzlich und zu unselbständig“, sagt Sumnima, „um auf der Straße zu überleben.“ In der nepalischen Gesellschaft ist ein alleinlebendes Mädchen unvorstellbar. Mädchen, die alleine auf der Straße leben, fallen auf und sind vielfältigen Übergriffen ausgesetzt. „Die Mädchen, die vielleicht für kurze Zeit auf der Straße leben, landen, wenn sie nicht zu uns oder einer anderen Hilfsorganisation kommen, in der Prostitution“, stellt Sumnima sachlich fest. In Nepal sitzen Männer an der Spitze des gesellschaftlichen Lebens und der Familien. Ein Mann oder ein Junge ist immer mehr wert als eine Frau oder ein Mädchen. Selbst auf der Straße bleibt es bei dieser Trennung. Hari lebte länger als anderthalb Jahre auf Kathmandus Straßen. Er bettelte, arbeitete als Ragpicker, als Müllsammler, und stahl. Irgendwann traf er auf einen „field worker“ von CWIN und beschloss sein Leben zu ändern. Seitdem lebt er in einem Haus für Jungen von CWIN. Er hat Lesen und Schreiben gelernt und verdient etwas Geld mit dem Malen von Postkarten, die bei CWIN im Besucherzentrum verkauft werden. „Mein Traum ist es“, sagt Hari, „einen Beruf zu lernen und zurück nach Hause zu gehen. Vielleicht sehe ich meine Schwester wieder“. „Ragpicker“, Müllsucher, ist eine typische Kinderarbeit. Die kleinen, dunklen und zerlumpten Gestalten mit den riesigen Säcken über der Schulter, sieht man in Kathmandu an jeder Ecke. Mit einem Stock durchstochern die Kinder die Müllhaufen, die überall auf den Straßen aufgeschüttet liegen – selbst vor dem Grundstück des Premierministers – nach Verwertbarem. Nach dem Nepal Chris Hulin Motto: „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ sind Metall und Plastik für die Kinder, Essensreste und Pappe für die Kühe. Ihre Heiligkeiten, die Kühe, sind nicht wählerisch und fressen mit Genuss alte braune Pappkartons. Manche Kinder arbeiten auch als „Kontrolleure“ für die „Tempos“. „Tempos“, das sind die, inzwischen elektrisch betriebenen, kleinen Minibusse, in die bis zu zehn Personen passen oder auch fünfzehn – je nach Bedarf. Die Busse haben ihre festen Routen durch die Stadt und halten auf Handzeichen überall. Eine Fahrt damit kostet fünf Rupien, die von den Kindern eingesammelt werden. Die Kinder fahren hinten auf einem Trittbrett mit. Autos, Rikschas und Mofas brausen oft nur um Haaresbreite an den nackten Beinen vorbei. Manchmal trauen sich auch Touristen mit Abenteuerlust, auf der Suche nach authentischem, nepalischem Leben, in die Tempos. Sie zahlen sieben Rupien für eine Fahrt. Die zwei Rupien „Gewinn“ teilen sich Schaffner und Fahrer. Umgerechnet sind das für jeden drei Pfennige. Ein Betrug, wenn man es denn so nennen will, den man als Tourist noch nicht einmal wahrnimmt. Die anderen Kinder leben vom Betteln, von Taschendiebstählen oder werden von älteren Kindern und Erwachsenen als Diebe oder Einbrecher eingesetzt. Selbst auf der Straße sind die Kinder also nicht sicher vor dem Missbrauch der Erwachsenen. „Diese Kinder habe jegliches Vertrauen in Erwachsene verloren. Das macht es für uns so schwer, mit ihnen zu arbeiten.“ sagt Sumnima. Wie sollen sie auch Vertrauen haben? Shreshta sieht aus wie acht, ist aber schon zehn. Er kauert zusammengesunken auf einem Stuhl in dem blühenden Garten des CWIN Headquarters. „Meine Stiefmutter hat mich zum Geldverdienen nach Kathmandu geschickt. Ich fuhr zusammen mit Freunden los“, erzählt er mit kratziger Stimme und guckt mich dabei nicht an. „Ich war acht Jahre alt“, übersetzt Sumnima, „und habe meine Freunde schon auf der Busfahrt nach Kathmandu verloren“. Angekommen in der Stadt schlief Shreshta auf der Straße und verdiente sein Geld als „Ragpicker“. Mit einer Gruppe von Freunden „lebte“ Shreshta in der Nähe des Busterminals. Manchmal hatte er soviel Geld verdient, dass er zwei mal am Tag warm essen konnte und manchmal musste er hungrig einschlafen. Wenn er Heimweh hatte, dachte er an die Schläge der Stiefmutter. Zu Shreshtas schlimmsten Erlebnissen auf der Straße gehört ein nächtlicher Überfall von einer Bande älterer Straßenjungen. Sie verprügelten die kleineren und raubten sie aus. Solche „Bandenkriege“ sind normal. Die „„CWIN field worker““, die die Kinder auch nachts an ihren Lagerplätzen besuchen, hören immer wieder davon. Durch einen Freund erfuhr Shreshta vom „Common Room“ von CWIN. Dort blieb er manchmal für kurze Zeit. Das Leben auf der Straße lockte ihn. Irgendwann wurde Shreshta schwer krank und von einem Freund zu CWIN gebracht. Kaum war er wieder gesund, rannte er weg. „I was addicted to money“, sagt Shreshta, „Ich war süchtig nach Geld“. Chris Hulin Nepal „Wofür hast Du das Geld denn gebraucht?“, frage ich ihn. „Für Alkohol und Zigaretten. Ich war oft betrunken“. Shrestah sinkt noch mehr in sich zusammen. Nach mehr als sieben Monaten auf der Straße kam Shreshta schließlich von selbst zu CWIN. Jetzt lebt er in einem Heim für Jungen, er lernt und spielt Straßentheater. „Er ist einer unsere talentiertesten Schauspieler“, sagt Sumnima und lächelt. Das Straßentheater ist ein Projekt von ehemaligen Straßenkindern für Straßenkinder. Viele der Kinder haben Probleme in einer „normalen“ Schule stillsitzend zu lernen. In der Theatergruppe lernen sie spielerisch und habe vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben Erfolg. Außerdem ist das Kinderstraßentheater auch eine gute Möglichkeit Straßenkinder zu erreichen. Viele von den Straßenkindern sind nämlich an den Hilfsangeboten der verschiedenen NGO‘s nur bedingt interessiert. Eine warme Mahlzeit ist in harten Zeiten willkommen, aber in ein Heim mit geregeltem Stundenplan gehen und wieder ohne eigenes Geld sein, das wollen die meisten nicht. Trotz aller Härten bietet das Leben auf der Straße auch Vorteile. Die Kinder leben ohne Stundenplan und ohne Erwachsene, die ihnen sagen, was sie zu tun oder zulassen haben. Sie haben ihr eigenes Geld und bestimmen selbst was sie damit machen. Ob sie davon ins Kino gehen und dafür mit leerem Magen schlafen müssen, oder ob sie lieber ein warmes Essen kaufen ist letztlich ihre Entscheidung. Das Geld geht auch für Drogen drauf: Alkohol, Zigaretten und Klebstoff. „Wann“, fragt Charlotte Addy von der GTZ, „hat ein nepalisches Kind schon mal die Chance hundert Rupien am Tag zu verdienen? Soviel Geld verdienen viele Erwachsene nicht am Tag“. Hundert Rupien, etwa drei Mark dreißig, dafür bekommt man in Thamel kein Bier. Aber für viele Nepalis sind hundert Rupien tatsächlich ein durchschnittlicher Tageslohn. Nicht nur für ein Kind sind hundert Rupien also richtig viel Geld. Noch dazu in Nepal, wo es nicht üblich ist, den Kindern Taschengeld zu geben. Wie auch? Bei hundert Rupien Tageslohn ist Taschengeld für die Kinder nicht drin. Aber selbst bei besserverdienenden Familien gibt es kein Taschengeld. Die Eltern bezahlen für die Kinder: Kino, Süßigkeiten und kleine Wünsche. Die Straßenkinder fühlen sich also zu recht frei und unabhängig. „Seit ich bei CWIN bin, bin ich gut geworden“, sagt Sheshta. „Ich will Schauspieler werden“, sagt er zum Schluss. Als ich ihm die Kopfhörer gebe, um unser aufgezeichnetes Interview anzuhören, lächelt er zum ersten Mal. Nepal Chris Hulin Abschied von einem Mythos – Kinderarbeit in Teppichfabriken Seit Ende 1995 engagiert sich Rugmark gegen die Kinderarbeit in nepalischen Teppichfabriken. Gegründet wurde die Organisation von Entwicklungshilfeorganisationen, Teppichfabrikbesitzern und privaten Spendern. Rugmark ist sicherlich eine der bekannteren nepalischen NGOs. In Köln ist das europäische Büro von Rugmark. Deutschland ist der Hauptabnehmer der nepalischen Teppiche, erst weit dahinter folgen die USA. Die nepalische Teppichindustrie hat durch die Kampagne gegen Kinderarbeit und auch durch die Arbeit von Rugmark einen empfindlichen Schlag versetzt bekommen. Das Interesse an den Teppichen ließ deutlich nach, nachdem die europäischen und amerikanischen Käufer erfuhren, unter welchen Bedingungen die Teppiche hergestellt wurden. Wurden sie das wirklich? Einige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, und die nicht genannt werden möchten, sprechen von einer indischen List, mit der der nepalischen Teppichindustrie bewusst geschadet wurde. Was an diesen Gerüchten dran ist, habe ich nicht festgestellt. Tatsächlich ist der Schaden erheblich gewesen. Der Imageverlust ist bis heute nicht wieder gut gemacht. Manche Entwicklungshelfer schätzen den Schaden für das Land, die Industrie und die Menschen höher ein, als den Nutzen. Charlotte Addy, Projektleiterin bei der GTZ, der deutschen „Gesellschaft für technische Zusammenarbeit“, hält Rugmark inzwischen fast für überflüssig. „Die nepalischen NGOs haben in den neunziger Jahren sehr gute Arbeit geleistet“, sagt sie. „Heute arbeiten vielleicht noch tausend Kinder in Teppichfabriken. Die Fabrikbesitzer sind nicht daran interessiert, Kinder zu beschäftigen“. Zu groß ist der Imageverlust und zu gering ist der Nutzen. Die GTZ finanziert ein Kindergartenprojekt für die Kinder aus Teppichknüpferfamilien, an dem sich Fabrikbesitzer und Teppichknüpfer begeistert beteiligen. Mütter, die sich während der Arbeit um ihr kleinen Kinder kümmern müssen, knüpfen nicht so gut Teppiche und schaffen weniger Quadratmeter. Es ist eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung. Ich bin bei Rugmark verabredet. Das Büro ist im New Plaza untergebracht. Das Haus sieht so aus wie es heißt: Viel glänzender Marmor, um die Ecke ist das Parlamentsgebäude, und die spiegelnden Aufzüge fahren mit westlicher Musikberieselung. Im Büro erwartet mich Dipa Regmi. Sie ist eine der „Programme Officer“ von Rugmark und wird mit mir zu einer von Rugmark zertifizierten Teppichfabrik fahren, sowie in einige der „Rehabilitationcentre“ für die Kinder. Rugmark geht es gut. Ich bekomme eine professionelle Pressemappe mit viel Papier, Zahlen, Fakten, Hochglanzprospekten mit glücklich lächelnden Kindern und einem Aufkleber „We support Rugmark“. Die Fabrik, die wir uns anschauen, gehört zu den „mittelguten“, sagt Dipa. Ich sehe Erwachsene an Webstühlen, die so groß sind, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass solche Webstühle von Kin- Chris Hulin Nepal dern bedient werden können. Die Fabrik ist nicht besonders schmutzig, laut oder staubig. Die Wolle wird mit Naturfarben aus der Schweiz gefärbt. Bis auf ein paar kleine Kinder, sind keine Kinder zu sehen. Die Teppicharbeiter leben mit ihren Familien auch auf dem Gelände. Direkt über der Arbeitshalle sind die Wohnungen, oder besser Schlaf- und Kochstellen, der Familien. Wie es da aussieht darf ich nicht sehen. Dipa lächelt auf meine Frage nach den Bedingungen dieser „Wohnungen“. „Well...“, sagt sie. Mehr nicht. Zafar Ahmed, der Fabrikbesitzer und einer der Gründer von Rugmark, versichert mir: „Meine Arbeiter verdienen im Schnitt zwischen drei- und viertausend Rupien im Monat und können sich eine Privatschule für ihre Kinder leisten“. Später bestätigt mir Dipa die Zahl. Ein paar von den kleinen Kindern helfen beim Wolle aufwickeln. Aber hier von Kinderarbeit zu sprechen, erscheint mir übertrieben. Ehrlich gesagt hatte ich in einer Fabrik, die die Rugmarkbedingungen unterzeichnet hat, auch keine Kinderarbeit erwartet. Dipa zuckt die Schultern: „Sehr viele Teppichfabriken haben sich verpflichtet, unsere Bedingungen einzuhalten“. Mir kommt die Stimmung aller Beteiligten eher so vor, als wollten alle die gerade zart wiedererblühte Pflanze Teppichproduktion schützen. Alle wirken sichtlich bemüht, die Imageverluste der Vergangenheit durch vorbildliche Bedingungen wieder gut zu machen. Kinderarbeit wäre da fehl am Platz. „Wenn dies das Ergebnis von Rugmarks-Arbeit wäre“, denke ich, „wäre es nicht schlecht“. Wir fahren weiter in die Rugmark Kinderheime. Ich weiß nicht, wie viele Kinderheime ich mir in Nepal angeschaut habe. Zehn sind es zum Schluss ganz bestimmt gewesen. Die Kinder in den Heimen bekommen eine Schulausbildung, in der Regel (nicht immer) genügend zu essen und sprechen alle leidlich gut englisch. Engagiertere Heime „kümmern“ sich auch nach der Schule um die Kinder. Bei Rugmark gibt es nach der Schule Tanz- und Singgruppen. Die Rugmarkhäuser liegen im guten Mittelfeld. Die Kinder, mit denen ich spreche, erzählen von der Arbeit in der Fabrik. Ein Junge zeigt mir seine Narben zwischen den Fingern. Kein Kind ist unter zwölf Jahre alt, die meisten sind älter. Bei allen Kindern, mit denen ich spreche, liegt die Zeit als Kinderarbeiter schon mindestens ein Jahr zurück. Nachdem ich abends einen Blick auf das Zahlenmaterial von Rugmark geworfen habe, finde ich eine Erklärung. 1999 hat Rugmark insgesamt 35 Kinder aus Teppichfabriken gerettet. Wieviele von diesen Kinder in ein Rugmark Kinderheim gekommen sind, und wieviele zu ihren Familien zurückgebracht wurden, ist den Zahlen nicht zu entnehmen. Ich werfe einen Blick auf die Gesamtbilanz von Rugmark. Von 1996 bis Ende 1999 hat Rugmark 347 Kinder, die in Teppichfabriken arbeiteten, gerettet. 121 davon waren Mädchen, 226 Jungen. 150 dieser Kinder konnten wieder mit ihren Familien vereint werden. Ohne zynisch sein zu wollen: Ich finde diese Zahlen als Gesamtbilanz einer so bekannten Organisation wie Rugmark klein. Ich frage mich, was all die Rugmark-Mit- Nepal Chris Hulin arbeiter in dem großen Büro des New Plaza Buildings tun? Hat jedes Kind einen eigenen Betreuer? Mich beschleicht der Gedanke, das Entwicklungshilfe auch ein Geschäft ist, von dem nicht nur die Bedürftigen leben. Ich will das nicht verurteilen. Was gäbe es für mich in Nepal mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium zu tun? Arbeit ist in Nepal selbst für gut ausgebildete Menschen Mangelware. Die Stelle bei einer NGO wie Rugmark gehört zu den Traumjobs. Und an jedem Arbeitsplatz hängt in der Regel eine Familie. Trotzdem frage ich mich: „Wozu der ganze Hype?“ Was ist mit den Kindern, die unter mittelalterlichen Bedingungen in Mienen arbeiten? Was mit denen, die als Steinklopfer mit ihren Familien in den Flußtälern sitzen, von Baustelle zu Baustelle ziehen und per Hand Straßenschotter herstellen? Ich will nicht von dem Heer der „domestic servants“ reden, den Kindern, die als Haushaltshilfen teilweise wie Sklaven leben. Und schon gar nicht von der Masse der Kinder, die auf dem Land arbeiten. Aber 347 Kinder in vier Jahren? Kann man so zählen? Natürlich nicht. Jedes einzelne von diesen Schicksalen war die Mühe Wert. Was sagte Charlotte Addy mir: „Die nepalischen NGO‘s haben in den neunziger Jahren sehr gute Arbeit geleistet“. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Vielleicht kümmert sich Rugmark jetzt einfach um andere Kinder. Wäre doch eine gute Sache. Ein kleiner Nachtrag: Mein Vorsatz, in Nepal über die Kinderarbeiter in Teppichfabriken zu schreiben, scheiterte, weil es das Problem schlicht nicht mehr gibt. Verschiedene Entwicklungshilfeorganisationen bestätigten mir meinen Eindruck. Kinderarbeit in Teppichfabriken gibt es in Nepal (fast) nicht mehr. Wann scheitert eine Recherche schon Mal aus einem guten Grund? Danke Die Zeit in Nepal wird für mich immer eine besondere Zeit bleiben. Ich habe viel gelernt und viele Erfahrungen gemacht. Nur gute. Eine Menge Menschen haben mich unterstützt, in Deutschland und in Nepal. Mein Dank geht an alle. Einige möchte ich trotzdem hervorheben. Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung, die mir die einmalige Chance gegeben hat, drei Monate lang in einem aufregenden, fremden Land gründlich zu einem Thema zu recherchieren. Was mir am Anfang wie eine kleine Ewigkeit erschien, war am Ende fast zu kurz. Mein besonderer Dank geht an zwei Kollegen von der Deutschen Welle: Bedanken möchte ich mich bei Günther Knabe, dem Leiter der Asienabtei- Chris Hulin Nepal lung. Er stattete mich, ohne mich vorher zu kennen, mit so reichen Empfehlungsschreiben aus, dass mir schon alleine damit in Nepal nichts mehr passieren konnte. Bedanken möchte ich mich auch bei Anke Rasper, Redakteurin im englischen Programm der Deutschen Welle. Sie war, kurz vor meiner Abreise nach Nepal, in Kathmandu und betätigte sich als Feuerwehr, als mein geplantes Praktikum bei Nepal Television (NTV) zu scheitern drohte. Es hat dann tatsächlich doch alles geklappt. Bedanken möchte ich mich auch bei den Kollegen von NTV: Sie haben mich herzlich und kollegial aufgenommen. Dank an Charlotte Addy, Projektleiterin der GTZ in Nepal. Sie ließ mich ihr GTZ Projekt in Doti, Nepal‘s „Wildem Westen“, besuchen. Die zehn Tage in Doti, abseits von jedem touristischen Pfad, gehören zu meinen besten Erinnerungen. Dank an Mohan Raj Sharma, der mir in Doti immer mit Rat und Tat geholfen hat. Dank auch an Andreas Falk, dem 1. Vorsitzenden der DeutschNepalischen-Hilfsorganistion, der mich zu einer unvergesslichen Feier nach Lamidanda mitnahm. Ich habe alle Blumen ganz unverdient bekommen. Dank an Ludwig Debuck, der mit vielen Tipps und seinen ausführlichen Internetseiten meine Reiseplanung wesentlich unterstützt hat. Dank an Gereon Wagener, der so unvorsichtig offen mit einer Journalistin über das schwierige Thema „girls-trafficking“ gesprochen hat. Und an Rolf Schmelzer, der mich mit vielen interessanten Gesprächspartnern bekannt gemacht hat. Dank an: Dr. Novel Kishore Rai, Ram Thapa, Philipp Thapa, Erika Becker, Geeta Manandhar, Ann-Katrin Bauknecht, Indira Rana, Philipp Holmes, Gerald Heng und die Kinderhilfe Mainz. Ich habe bestimmt noch jemanden vergessen und hoffe, Sie sehen es mir nach. Zum Schluss geht mein herzlicher Dank an Erdmuthe Op de Hipt und Ute Maria Kilian von der Heinz-Kühn-Stiftung, die mich und mein Projekt mit soviel Aufmerksamkeit und Herzlichkeit „betreut“ haben. Nele Husmann aus New York Stipendien-Aufenthalt in Kuba vom 01. November bis 31. Jannuar 2000 Kuba Nele Husmann Kino in Kuba – eine Revolution auf Celluloid Von Nele Husmann Kuba, vom 01.11.1999 bis 31.01.2000 Kuba Nele Husmann Inhalt Zur Person Ein Bericht über Kubas Filmlandschaft Das Filmfest Die kubanische Kinogeschichte Interview mit dem Kinokritiker Frank Padron Das Kinoprogramm Die Produktion Interview mit dem Schauspieler Enrique Molinas Die Kinoklubs Die Zensur Interview mit dem Regisseur Fernando Perez Die Ausbildung junger Cineasten Deutsches Kino in Kuba Interview mit dem Regisseur Daniel Diaz Torres Neue kubanische Filme Neue Filmprojekte für das Jahr 2000 221 Nele Husmann Kuba Zur Person Nele Husmann, am 20. März 1970 in Wesel am Niederrhein geboren, sammelte, während ihrer Banklehre bei der Westdeutschen Landesbank in Düsseldorf, von 1989 bis 1991 im Lokalteil der Neuen Ruhr Zeitung erste journalistische Erfahrungen. Von 1991 bis 1993 volontierte sie beim Anlegermagazin Börse Online in München. Danach arbeitete sie bei Werben & Verkaufen, Forbes, dem Börse-Online-Korrespondentenbüro Frankfurt, Reuters und Capital. Seit Februar 2000 berichtet sie für Börse Online als Wall-Street-Korrespondentin aus New York. Ein Bericht über Kubas Filmlandschaft Um drei Häuserblocks steht eine Menschenschlange. Schon seit mehr als zwei Stunden verharren die Menschen, das Anstehen gewöhnt, vor dem Cine Yara, dem größten und schönsten Kino Havannas. Plötzlich kommt Bewegung in die Masse. Der Einlass beginnt. Alles drängelt sich nach vorn. Polizisten versuchen, die Menge zurückzudrängen. Die große Scheibe des Kinofoyers zerbricht. Ein Journalist filmt die Szene. Ein Mann in Zivil entreißt ihm die Kamera – ist es ein aufgebrachter Bürger oder die Geheimpolizei? Eine Szene aus dem größten Kinospektakel Lateinamerikas: Dem 21. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna, Anfang Dezember 1999. In einer Schaureihe über den neuen nordamerikanischen Film läuft „Eyes wide Shut” von Stanley Kubrick – vielleicht das einzige Mal in ganz Kuba. Jeder will diesen Film sehen. Viele nehmen sich Urlaub, um keinen, der wenigen europäischen und amerikanischen Filme zu verpassen. Die Stadt ist im Ausnahmezustand – für die ganzen elf Tage, die das Festival läuft. Der Kinobesuch ist eine Flucht vor dem harten Alltag. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Versorgungslage in ganz Kuba schwierig. Seit der amerikanische Dollar als zweite Währung neben dem Peso legalisiert wurde, kann man in Kuba fast alles Lebensnotwendige kaufen – es ist nur eine Frage des Preises. Eine Lux-Seife für zwei Dollar, ein Liter Speiseöl für drei Dollar, ein kleiner Fernseher, Marke Samsung, für 350 Dollar – das wäre kein Problem, wenn nicht weiterhin die staatlichen Löhne für Arbeiter, Lehrer oder Ingenieure zwischen zehn und 20 Dollar im Monat rangieren würden. Jeder Kubaner erhält eine Lebensmittelkarte für stark subventionierte Produkte. Doch die Mengen sind rationiert. Allein davon wird niemand satt. Wer mehr will, als überleben, braucht einen Job, der Dollars einbringt. Kuba Nele Husmann Das hat zu einer dramatischen Flucht Intellektueller, Ingenieure und Wissenschaftler aus ihren angestammten Berufen geführt. Lehrer fahren Taxi, Ingenieure spielen Kellner in Touristenrestaurants. Oder sie vermitteln Fremdenzimmer und private Restaurants gegen eine versteckte Provision. Innerhalb sehr enger Schranken erlaubt die kommunistische Regierung, mit Fidel Castro an der Spitze, kleine private Betriebe, die Zimmer vermieten oder Restaurants mit maximal zwölf Stühlen betreiben. Doch erhebt der Staat so hohe, von den Einnahmen unabhängige Steuern, dass sich die private Initiative nur lohnt, wenn das Restaurant jeden Abend voll besetzt ist. Es bleibt der Schritt in die Illegalität. Leute fahren verbotenerweise Touristen in ihren Privatautos, sie vermieten illegal unangemeldete Zimmer, sie stellen vier bis fünf zusätzliche Stühle in ihr Restaurant. Manche verkaufen gefälschte Zigarren an Touristen. Dabei riskieren sie hohe Geld- oder gar Gefängnisstrafen. Kontakte zu Ausländern sind unerwünscht – viele Kubaner fürchten sich, auf der Straße mit Ausländern gesehen zu werden. Viele Frauen riskieren trotzdem Liebschaften mit Ausländern – es ist der leichteste Weg, aus Kuba herauszukommen. Dafür nehmen sie es in Kauf, dass Ihnen für den Tatbestand „ Prostitution“ zwischen einem und vier Jahren Gefängnis blühen. Trotz aller Restriktion: Kuba ist ein faszinierendes Land, und die meisten Kubaner strahlen vor Lebensfreude und Offenheit. Kuba hat eine, im lateinamerikanischen Vergleich, traumhaft niedrige Analphabetenquote. Jedem Kubaner stehen kostenlos Krankenhäuser zur Verfügung – die zum Teil so gut sind, dass sie Kranke aus der ganzen Welt anziehen. Das kulturelle Angebot reicht bis zum Nationalballett – das ist für eine Karibikinsel außergewöhnlich. Die Kubaner sind ein Volk leidenschaftlicher Kinogänger. Der Eintritt kostet landesweit weniger als 20 Pfennig in nationaler Währung – das ist selbst für kubanische Verhältnisse ausgesprochen billig. Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. In den letzten zehn Jahren kamen nur wenig neue Filme nach Kuba. Die Wirtschaftskrise hat auch die kubanische Kinolandschaft in Mitleidenschaft gezogen. Gab es früher mehrmals die Woche neue Leinwandauftritte, wechselt das Programm heute in Havanna, selbst in den besten Kinos, nur noch alle zwei bis vier Wochen. Die ganze Zeit läuft nur ein einziger Film. In den Provinzkinos ist die Lage noch schlechter. Die meisten Kinosäle sind verfallen und brauchen dringend eine Renovierung. Trotzdem hat Kuba es geschafft, innerhalb Lateinamerikas Filmlandschaft eine herausragende Stellung beizubehalten. Kubanisches Autorenkino feiert rund um die Welt Erfolge, wie zum Beispiel „Erdbeere und Schokolade – Fresa y Chocolate” vom 1996 verstorbenen Regisseur Thomas Gutierrez Alea. Der Film ist berühmt – nicht nur wegen seiner Klasse, sondern auch weil Titon, wie die Kubaner ihren Lieblingsregisseur nennen, selbst bei politisch problematischen Themen Nele Husmann Kuba kein Blatt vor den Mund nimmt. Internationale Regisseure leihen sich kubanische Kamerateams aus, wenn sie auf der Insel filmen wollen. Und Studenten aus der ganzen Welt kommen nach Kuba, um sich an den Universitäten zu professionellen Cineasten auszubilden. Das 21. Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos Die Pressekonferenz zum Start des 21.Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna, ist eigentlich ganz unspektakulär. Wie üblich kommt Alfredo Guevara, der Chef des ICAIC, eine halbe Stunde zu spät, wie üblich trinkt er während seiner Rede einen kleinen Cognac. „Auf dem Filmfest werden wir insgesamt 89 Spielfilme zeigen, davon gehen 36 in den Wettbewerb ein. Hinzu kommen 24 Dokus, elf Zeichentrickfilme, 36 Drehbücher und 23 Kinoplakate. Mexiko, Brasilien und Argentinien sind am stärksten vertreten, Kuba reicht zwei Filme ein, und interessant ist, dass diesmal aus Ecuador zwei Filme kommen“. Nach der Rede geht es zum wahren Ereignis über: Die Kellner des „Hotel Nacional“ bringen silberne Tabletts voller Häppchen in den Saal. Und die 150, vorwiegend kubanischen Journalisten, fegen die Tabletts in weniger als 30 Sekunden leer. Besonders beliebt: Die halben Äpfel, in die Pickser zum Aufpicken der Häppchen gesteckt sind. Sie werden nicht sofort gegessen, sondern eingesteckt für die ganze Familie. Äpfel sind eines der knappsten Güter überhaupt – einer kostet einen Dollar. „Das ist erst seit der Wirtschaftskrise so”, entschuldigt sich ein kubanischer Journalist, dem die Situation peinlich ist, „aber wir kommen hier in Kuba alle schwer über die Runden”. Vor diesem Hintergrund ist es umso faszinierender, was dieses Filmfest auf die Beine stellt. Im letzten Jahr gab es rund 800 Filmvorführungen mit mehr als 600.000 Besuchern. Dieses Jahr ist der Andrang noch größer: Über elf Tage stehen zu jeder Tageszeit lange Schlangen vor fast allen Kinos, selbst die Retrospektive sowjetischer Filme ist komplett ausverkauft. Interessant dabei: Das Festival schert sich, genau wie die gesamte Insel, nur wenig um Angebot und Nachfrage. Vor den Wettbewerbsfilmen aus Lateinamerika gibt es den geringsten Andrang. Die großen Kassenschlager sind die amerikanischen Filme, allen voran „Eyes wide shut”, die spanischen Werke und die dänische Dogma-Reihe. Die Kinotüren gehen erst zu, wenn nicht nur alle Sitze belegt sind, sondern auch auf allen Gängen kein Flecken mehr frei ist. Selbst die zeitgleich stattfindenden Massendemonstrationen für die Rückkehr des sechsjährigen Elian, dessen Mutter und Stiefvater auf einem Fluchtversuch ertranken und der bei einem Onkel in Miami untergekommen ist, haben kaum Einfluss auf den Rummel vor den Kinos. Kuba Nele Husmann Es gibt meist zwei gleichlange Schlangen: Eine für Kinobesucher mit normalen Eintrittskarten, und eine zweite für Besucher mit Akkreditierung. Beide sind fast gleich lang, doch mit Festivalausweis gibt es größere Chancen auf Einlass. „Diesmal habe ich auch einen Ausweis abgekriegt”, lacht Ramon, ein 23jähriger Kunststudent. Natürlich nicht offiziell, sondern auf Umwegen über einen Freund, dessen Bekannter beim ICAIC arbeitet und Zugriff auf die Automaten hat, die Ausweise herstellen. „Wir mussten ihn lange bequatschen, und dann hat es nur einen Dollar gekostet.“ Andere Mitarbeiter des ICAIC, die selbst kein Interesse oder das Geld nötiger haben, verkaufen ihre Akkreditierungen für bis zu sieben Dollar. „Es gibt jedes Jahr viele gefälschte Ausweise, obwohl wir die Technik immer wieder verändern”, erzählt der ICAIC-Chefeinkäufer Roberto Smith de Castro. „Dabei geht es den Fälschern weniger ums Geld, sondern darum, hereinzukommen. Ich kann das sogar verstehen“. Wer endlich ins Kino gekommen ist, muss noch mehr Widrigkeiten ertragen. „Der Zustand der Kinos ist ein Drama”, sagt Smith de Castro. Bei vielen liegen die Toiletten genau zwischen Foyer und Vorführraum. Sie sind in erbarmungswürdigem Zustand. Ein widerlicher Gestank zieht die Sitzreihen hinunter. Auch die Säle mancher Kinos sind dringend erneuerungsbedürftig. Der Plüsch ist abgewetzt, der Teppich verschlissen und einige Sitzreihen fehlen ganz. Die Renovierung der Projektoren kostet soviel Geld, dass für die Säle nichts übrig bleibt. „Das ICAIC versucht zu helfen, wo es möglich ist”, beteuert Smith de Castro, „aber auch in nächster Zukunft gibt es nur kleine Reparaturen“. Das Filmfest findet nicht ohne Grund jedes Jahr im Winter statt. Oft fallen die Klimaanlagen im Sommer wegen Überlastung aus, und die Kinosäle verwandeln sich in unerträglich heiße Saunen. 1990, als der Staat keine Unterstützung mehr aus Russland erhielt, sah es so aus, als könne das Filmfest nicht mehr stattfinden. Doch Alfredo Guevara, ein Mann mit unzählbaren Kontakten, setzte sich ins Flugzeug, um seine über die ganze Welt verteilten Kinofreunde anzupumpen. Inzwischen, nach knapp zehn Jahren der Selbstfinanzierung, bleibt sogar unter dem Strich ein kleiner Überschuss. Ein Grund dafür ist das neue Marketingkonzept des ICAIC: Jetzt läuft vor jedem Film ein zehnminütiger, immer gleicher Werbestreifen. Absurderweise kommt das Geld irgendwie immer noch aus der Staatskasse, denn bis auf wenige Ausnahmen schalten Staatsfirmen wie Havannauto Mietwagen, Romeo und Julia-Zigarren, Cristal-Bier, der Club Havanna und das Hotel Nacional (beide für normale Kubaner nicht zugänglich), die Werbung. Nele Husmann Kuba Auch die Kinozeitschrift „Cine Cubano”, die während des Filmfests eine tägliche Sonderausgabe produziert, lebt selbstfinanziert von der Werbung. „Langsam geht es wieder aufwärts”, sagt Chefredakteurin Maruja Santos Martinez. Die Auflage von 3.000 Exemplaren ist zwar noch dürftig, aber die vergangenen sieben Jahre war das Magazin aufgrund von Geld- und Papiermangel überhaupt nicht erschienen. Davor war sie die größte Kulturzeitschrift Kubas, mit einer Auflage von 20.000 bis 30.000 Exemplaren vierteljährlich. Das Filmfestival kommt bis in die Provinz. Viele Filme gehen, nachdem sie in Havanna gezeigt wurden, auf eine Reise in die sechs größten Städte Kubas, wo sie einen oder zwei Tage laufen. Auch hier bietet sich das gleiche Bild wie in Havanna: Lange Schlangen vor den Kinosälen. Professionelle Festivalbesucher aus Europa sind weniger angetan von den diesjährigen Festivalfilmen: „Es ist kein einziger, wirklich großer Film dabei“, sagt stellvertretend der Schweizer Geri Krebs, der für die „taz“ über die Festspiele berichtet. In früheren Jahren waren anspruchsvollere Filme und größere Namen am Start. Den ersten Preis, die schwarze Koralle, erhält die große Ausnahme: „Garaje Olimpo – Garage Olympus“ von Marco Becchis aus Argentinien. Der Film geht unter die Haut. Er zeigt die Grausamkeit der Folter während der Militärdiktatur in Argentinien. Den Publikumspreis gewinnt „Un paraiso bajo las estrellas – ein Paradies unter den Sternen“, eine schwungvolle kubanische Komödie. Der Film erhält auch die Korallen für die beste Vertonung und die beste Filmmusik. Guevara selbst ist stolz auf das, was er und seine Mitarbeiter erreicht haben: „Auch wenn die Kinosäle in außerordentlich schlechtem Zustand sind, gehen die Leute einfach gern ins Kino. Besonders beim Filmfest: 600.000 bis 800.000 Menschen besuchen die Kinos in diesen Tagen in der Hauptstadt – und das bei einer Einwohnerzahl von zwei Millionen Menschen.” Carlos Diegues, der Regisseur des brasilianischen Eröffnungsfilms „Orfeo – Orpheus”, drückt im Teatro Karl Marx aus, was so viele ausländische Cineasten jedes Jahr wieder auf das Filmfest in Havanna treibt: „Das Festival ist für mich jedes Jahr wie ein Familientreffen. Man sieht sich das ganze Jahr nicht, und doch bleibt man sich sehr nah. Danke”. Die kubanische Kinogeschichte Das Kino vor der Revolution Am 23. Januar 1897 findet die allererste Filmvorführung in Havanna statt. Der Franzose Gabriel Veyre eröffnet sein Kino „Lumiere“ im Teatro Tacon auf der Prachtstraße Havannas, dem Prado. Die erste Vorführung zeigt Stumm- Kuba Nele Husmann filme wie „Ankunft eines Zuges”, „Die Puerta del Sol in Madrid” und „Die Ankunft des Zaren in Rußland“. Nur zwei Wochen danach finden die ersten Filmaufnahmen in Kuba statt. Veyre dreht: „Die Simulation eines Feuers” mit den Feuerwehrleuten Havannas. Der erste größere Film aus Kuba handelt vom Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier zwischen 1898 und 1902. Nach dem ersten Weltkrieg gewinnen die Amerikaner stärkeren Einfluss auf Kuba – und die kubanische Filmlandschaft. Distributoren wie Columbia, Warner Brothers, Fox, United Artists, Goldwyn Mayer und Universal Pictures eröffnen ihre Niederlassungen in Havanna. Geld spielt eine große Rolle. Aber das ist nicht alles. „Es gefällt den Kubanern besser als das europäische Kino”, erklärt Mario Piedra, Professor für Filmgeschichte an der Universität von Havanna und Marketingexperte beim ICAIC. Die temperamentvollen Inselbewohner ziehen die schnellen Schnitte und rasanten Komödien aus den USA den oft melancholischen Filmen aus Italien, Frankreich oder Deutschland vor. Der Tonfilm kommt 1930 nach Kuba. Inzwischen dominiert der US-Film so sehr, dass kubanische Filme, wie die Werke eines Enrique Diaz Quesados, kaum einen Verleih finden. Der erste kubanische Film-Regisseur dreht eine ganze Reihe von Filmen, die aber später, während eines Brandes, komplett vernichtet werden. „Bis 1959 gab es immer wieder Versuche, kubanisches Kino zu machen, doch ließ sich dafür kaum Geld finden, und der neoliberale Staat unterließ jeden Eingriff in den freien Markt“, sagt Piedra. „Was entstand, war geprägt von schlechter technischer Qualität, viel Erotik und zweifelhaften Themen”. Dies ist die offizielle ICAIC-Version. Dadurch, dass die meisten vorrevolutionären Werke zerstört sind, lässt sich die wirkliche Qualität des frühen Kinos kaum nachprüfen. „Die Revolution tut so, als ob es vor dem ICAIC überhaupt keine kubanische Filmkultur gab”, empört sich der unabhängige Journalist Reynaldo Escobar, „doch das stimmt nicht”. Ein umfangreiches Buch, „Cronologia del Cine Cubano – Chronologie des kubanischen Kinos” von Arturo Agramonte, berichtet über das kubanische Kino vor 1959 und könnte für mehr Hinweise sorgen. Doch es ist hoffnungslos vergriffen – die erste und letzte Ausgabe stammt von 1966. Die Revolution In den Fünfziger Jahren entsteht eine nationalistische Bewegung von Kubanern, die sich an der immer größeren Präsenz der US-Kultur in Kuba stört. 1952 startet Castro den Angriff auf die Kaserne Moncada in Santiago de Kuba, doch er scheitert und kommt ins Gefängnis. 1953 produziert eine Reihe junger Kubaner, darunter Julio Garcia Espinosa, Tomas Gutierrez Alea und Alfredo Guevara den Film „El Megano”. Espinosa Nele Husmann Kuba und Alea studierten in Rom und waren vom Neorealismus inspiriert. So entsteht eine kritische Dokumentation über ein besonders armes Viertel der Provinzstadt Matanzas. Der Film wird am 5. 11. 1955 ein einziges Mal aufgeführt. Danach konfisziert ihn das Batista-Regime. Gutierrez Alea macht mit kommerziellem Kino weiter. Er dreht viele Wochenschauen mit kleinen Sketchen, wodurch er den Umgang mit Schauspielern lernt. Unterdessen trainiert Fidel Castro die Guerilleros in der Sierra Maestra, einem mit Dschungel überzogenen Gebirge im Osten des Landes. Mit von der Partie ist der Cineast Alfredo Guevara, ein enger Freund Castros. „Das ist ein entscheidender Punkt für die Entwicklung der kubanischen Kinokultur”, sagt Piedra. Als die Revolution am 1. Januar 1959 siegt, ist Kuba ein reiches, aber von den Vereinigten Staaten wirtschaftlich abhängiges Land. Kuba hatte sechs Jahre vor seiner Kolonialmacht Spanien eine Eisenbahn, hatte als erstes Land der Welt vor den USA ein Telefon ohne Handvermittlung und war das vierte Land der Welt mit einem Fernsehsender. „Castro ist der erste Politiker weltweit, der das Medium Fernsehen voll für seine politischen Zwecke benutzt”, sagt Piedra. „Der Fernseher war Castros Weg zur Kommunikation mit dem Volk. Und Castro wusste auch, wie wichtig das Kino ist“. Dem Einfluss Alfredo Guevaras ist es zu verdanken, dass auf der 20-PunkteListe aller Dinge, die die Revolution erreichen will, auf Platz 13 die Errichtung einer nationalen, kubanischen Kinokultur aufgeführt ist. 80 Tage nach dem Sieg der Revolution wird das Nationale Kubanische Kinoinstitut ICAIC gegründet. Zu den ersten Mitgliedern zählt genau die Truppe, die die Dokumentation “El Megano” gedreht hatte. Außerdem schlossen sich die drei wichtigsten Amateur-Kinoclubs an (Siehe Kinoclubs). Das ICAIC veröffentlicht ein Statut über seine Politik, das sich in den letzten 40 Jahren nicht verändert hat: 1) 2) 3) 4) Kino ist Kunst Das Kino soll dazu beitragen, ein ideologisches Bewusstsein zu schaffen Es soll die Bevölkerung mit der Revolution verbinden Es ist ein Medium der Kultur und soll eine nationale Identität aufbauen „Das ICAIC verstand sich nie als Unternehmen, sondern als eine kulturelle Bewegung. Es wollte nicht die UFA sein, sondern Bauhaus oder Sturm und Drang. Und es ist tief verwurzelt in der Revolution”, sagt Mario Piedra. Das ICAIC hatte zwei grundlegende Missionen, nämlich die Entwicklung einer nationalen Kinokultur und die Erziehung eines neuen Publikums. Doch zunächst musste es eine technische Infrastruktur aufbauen. „Jeder, der vor der Revolution in Kuba das Kino entwickeln wollte, dachte an ein kleines Hollywood”, erzählt Piedra. „Doch das ICAIC wollte statt großer Studiobauten trag- Kuba Nele Husmann bare Kameras, um auf der Straße zu filmen.“ Um nicht von Europa oder den USA abhängig zu sein, kaufte das ICAIC alles Equipment für Filmentwicklung, Nachbearbeitung und Tonstudio. Doch das technische Personal fehlt. Die einzigen beiden Personen im ICAIC, die ihr Handwerk gelernt haben, sind Gutierrez Alea und Espinosa. Deshalb sind Dokumentarfilme „en vogue“. So können die Regisseure nicht nur ihr Handwerk lernen, sondern zugleich den dramatischen Umbruch in ihrem Land festgehalten. Noch 1958 kommen 96 Prozent aller in Kuba gezeigten Kinofilme aus den USA. Knapp zwei Jahre lang konkurriert das ICAIC mit den US-Distributoren. Dann brechen die USA die Beziehungen zu Kuba ab. Im Gegenzug verstaatlicht die Revolutionsregierung alle Filmvertriebe und Kinos. In weiser Voraussicht hatte das ICAIC bereits einiges Filmmaterial gesammelt. Zusätzlich erweitert es das Spektrum der Länder, aus denen es Filme zeigt. 50 Prozent aller Ausstrahlungen stammen jetzt aus sozialistischen Ländern, 20 Prozent kommen als Raubkopien aus den USA, und die übrigen 30 Prozent entfallen auf den Rest der Welt. „Die Puristen der Revolution wollten alle US-Filme verbieten”, erinnert sich Piedra, “doch Fidel war dagegen. Er wusste, dass das Volk diese Filme sehen wollte. Also wurden sie nach qualitativen Kriterien und Aussagen ausgesucht”. Im ganzen Land entstehen neue Kinosäle. Die Sechziger Jahre Die Sechziger Jahre sind die produktivste Zeit des kubanischen Kinos. Wie die Politiker erfasst auch die Kreativen eine große Aufbruchstimmung mit ungekanntem Enthusiasmus. „Das war wie ein großes Fest”, sagt Piedra. „Keiner musste an den wirtschaftlichen Erfolg denken. Es gab keinen Druck vom Produzenten. Es war eine Zeit der großen Freiheit.” In der ersten Etappe müssen die kubanischen Regisseure eine eigene Sprache suchen. Ohne den Dokumentarfilmer Santiago Alvarez ist das kubanische Kino nicht vorstellbar. Er entwickelt die Wochenschau zu einer Kunstform. Alvarez verabschiedet sich von den harten Schnitten zwischen zwei Nachrichten und verbindet sie spielerisch. Er bewirkt einen kreativeren Umgang mit der Kamera. Und er beginnt, Wochenschauen zu nur einem einzigen Thema zu machen. Das ist der Schritt von der Wochenschau zum Dokumentarfilm. Am berühmtesten wird die Dokumentation „Now – Jetzt” von 1965. Unterlegt mit einem hebräischen Lied gegen den Rassismus der US-Sängerin Lena Home, zeigt Alvarez Bilder der Diskriminierung und der Brutalität gegen schwarze USBürger. Plötzlich gehen die Menschen ins Kino, um die Wochenschau zu sehen, und nicht den Spielfilm, der danach läuft. „Die Wochenschau ist klar politisch, aber keine Propaganda. Denn Alvarez verkompliziert die Ideen, statt sie verein- Nele Husmann Kuba fachend zu verkaufen. Alvarez ist eher Künstler als Kommunikator. Das gefällt der Regierung nicht immer”, erklärt Piedra. Kinomobile, Kinos auf Rädern, bringen die Filme in die abgelegensten Dörfer, dorthin, wo sich der Bau eines Kinos nicht lohnt. Mit einem 16mm-Projektor und einem Stromaggregat ausgestattet, fahren Lkw‘s von Dörfchen zu Dörfchen, wohin aus dem ganzen Umkreis die Menschen strömen. Die Vorstellungen sind gratis. Der Regisseur Octavio Cortazar dreht 1967 die rührende Dokumentation „Por primera vez – Zum ersten Mal”. Er zeigt die Faszination der Bauern, die zum allerersten Mal bewegte Bilder sehen. Mit dem Benzinmangel der 90er Jahre verschwinden die Kinomobile jedoch sang- und klanglos. Ab 1960 entstehen die ersten Spielfilme in Kuba. Gutierrez Alea dreht einen Kriegsfilm über die Revolution „Historia de la Revolucion”, die an HollywoodKino erinnert. Espinosa zeigt im neorealistischen „Cuba Baila – Kuba tanzt” den Alltag einer Arbeiterfamilie. Das sind noch keine großen Filme. Am besten ist Alea: „Zwölf Sitze”, ist ein gut gemachter Film, und „Der Tod eines Bürokraten” ist eine Satire über zuviel Bürokratie, die erst im Kuba der 80er Jahre eine besondere Schärfe bekommt. „La primera carga al machete – Die erste Schlacht mit der Machete” – von Manuel Octavio Gomez 1968/69 gedreht – ist ein Historienfilm über den Unabhängigkeitskrieg Kubas gegen Spanien. Der Film ist eine Mischung zwischen Dokumentation und Fiktion. Er stellt die Idee des Guerillero-Generals Maximo Gomez dar; wie die schwarzen Sklaven gegen die Übermacht der mit Gewehren und Lanzen ausgerüsteten Spanier ankommen könnten: Durch den Einsatz ihres täglichen Arbeitsinstruments auf den Zuckerrohrfeldern – der Machete! „La carga al machete“ ist für die Kubaner zum geflügelten Wort geworden, wie man eine Situation in allerletzter Minute für sich entscheidet. Octavio Gomez gestaltete seinen Film wie eine Wochenschau von 1868, mit viel Kontrast, damit es wie ein alter Film aussieht. Die Kamera schaukelt in den Schlachtszenen wild hin und her und vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, mittendrin zu stecken. „Dieser Film hat zwar einen Preis in Venedig bekommen, doch für das kubanische Publikum war er viel zu avantgardistisch”, erzählt Piedra. Im Kontrast dazu steht der Film von Julio Garcia Espinosa aus dem gleichen Jahr: „Las aventuras de Juan Quin Quin – Die Abenteuer des Juan Quin Quin” ist ein Publikumsschlager. Espinosa kombinierte alle nur erdenklichen Stilmittel des amerikanischen Kinos, um es so zu demontieren. Der Film zerstört die Illusionen, die im US-Film aufgebaut werden und spielt mit ihnen. Schließlich baut er alle Puzzleteile wieder zusammen – und eine gute Komödie entsteht. Bis heute findet „Memorias del subdesarollo – Erinnerungen an die Unterentwicklung” von Tomas Gutierrez Alea international unter Kinokennern die meiste Beachtung. Sogar in den USA erschienen Bücher zum Film. Kuba Nele Husmann „Alea ist der einzige kubanische Regisseur, der sich sein Leben lang gesteigert hat”, urteilt Piedra. „Würden wir das kubanische Kino ohne die Werke seiner Hauptfigur sehen, wäre es wohl nur mittelmäßig“. In „Memorias” ist die Hauptfigur Sergio ein Antiheld, der außerhalb des neuen Systems steht. „Die Konterrevolutionäre, die glauben, sie könnten in ihre bequeme Unwissenheit zurückkehren, machen sich etwas vor. Die gleichen Illusionen haben die Revolutionäre, die meinen, sie könnten dieses Land aus seiner Unterentwicklung reißen”, ist sein Schlüsselsatz in diesem Film. Sergio gehörte der wohlhabenden Oberschicht an, doch Eltern und Ehefrau reisen aus, als ihr Mietsblock gemäß neuer Revolutionsgesetze in die „Volksgewalt“ übergeht. Sergio bleibt allein zurück, findet sich aber auch in der veränderten Welt nicht zurecht und verliert sich immer mehr. „1968 war Sergio ein negativer Typ, den die Leute im Kino unsympathisch fanden. Heute stimmen viele Menschen ihm zu”, sagt Piedra. „Das ist das wahre Geheimnis von Titons Filmen: Sie waren visionär, weil sie viel später wahr wurden. Das ist auch der Grund, warum er sie ohne Probleme zur jeweiligen Zeit drehen konnte – sie hatten damals nicht die gleiche Bedeutung wie heute”. Die Siebziger Jahre 1967 stirbt Che Guevara in Bolivien. Ein Jahr später startet eine neue Offensive der Revolution, alle werden enteignet, auch die Eigentümer kleinere Geschäfte. Von 1970 bis 1976 muss die Kunst ideologisch korrekt und immer politisch sein. Viele Künstler und Intellektuelle verlassen das Land. Die einzige Institution, die ihre eigene Idee durchboxt, ist das ICAIC – es weigert sich, Filme nach russischer Machart zu drehen. Beispiel ist ein Film, den das Publikum wirklich gern sieht: “El Hombre de Maisinicu – Der Mann aus Maisinicu” von Manuel Perez. Es ist zum ersten Mal ein ganz normaler Film, fast ein Krimi. Von Ideologie weit und breit keine Spur. 1976 findet ein Parteikongress statt, der das ganze Land erneut verwandelt. Aus den bisherigen sechs Provinzen Kubas werden 14 gestückelt, um die Macht Havannas besser durchsetzen zu können. Eine sozialistische Verfassung wird verabschiedet. Damit hört auch das ICAIC auf, als eigenständiges Institut zu existieren. Die Kinos, bislang vom ICAIC betrieben, werden an die verschiedenen Provinzen verteilt, wo sie den neugegründeten „Provinzzentren für Kino” unterstellt werden. Die Idee dahinter: Die Kinos machen ein gutes Geschäft. Jetzt sollen die Einnahmen den Provinzen selbst zukommen. Doch der Plan scheitert. Ohne die zentrale Organisation des ICAIC verschwinden oft Filmrollen auf dem Weg von einer Provinz in die andere, oder sie kommen kaputt an. Einzig die Kinos in Havanna bleiben profitabel. Auch als klar wird, dass es sich um eine Fehlentscheidung handelt, korrigiert Castro nichts. Erst heute wird überlegt, die Kinos Nele Husmann Kuba wieder dem ICAIC zu unterstellen – doch das Institut will die verschlissenen, unrentablen Säle um keinen Preis der Welt zurückhaben. Zwischen 1976 und 1980 wird alles bürokratisiert. Jedes Unternehmen erhält Gelder nach einer Rangliste. Hierauf rangiert das Kino mit der Priorität fünf, lange nach dem Zuckeranbau. Dementsprechend erhält es viel zu wenig Benzin und Transportmittel, die bei der Filmproduktion natürlich entscheidend sind. Ein Zustand, der sich bis heute gehalten hat. Die Achtziger Jahre Alfredo Guevara will sich 1980 Luft schaffen: Er lässt Humberto Solas die in Kuba berühmte Geschichte der Cecilia Valdez verfilmen. Cecilia ist eine hübsche Mulattin aus dem Waisenhaus, die sich in ihren weißen Halbbruder verliebt. Der verlässt sie, um eine reiche Weiße zu heiraten. Cecilia bittet einen Bekannten, etwas gegen die Hochzeit zu tun. Doch der Bekannte bringt den geliebten Bräutigam um, statt der Braut! Es ist von vornherein klar, dass diese romantische Tragödie als Kostümfilm sehr teuer wird, und man findet eine spanische Produktionsgesellschaft, die die Hälfte der Kosten übernimmt. Guevara wollte eine große, teure Produktion, um das rigide System, dem jeder Mut zum Risiko fehlte, ein einziges Mal wirklich zu überwinden. Als das ICAIC eine Mulattin für die Rolle der Cecilia sucht, melden sich über tausend Frauen. Cecilia gilt in Kuba ebenso als Sexsymbol wie als Nationalheiligtum. Doch Humerto Solas engagiert schließlich eine ältere Weiße für die Hauptrolle: Die bereits 40-jährige Daisy Granado. Sein Film zielt stark auf den Inzest ab, der in Kuba zwischen Mutter und Sohn als viel anrüchiger gilt, als zwischen Bruder und Schwester. Also verändert Solas die Geschichte und riskiert, einen Mutter-Sohn-Inzest im Film darzustellen. Der Versuch scheitert, weil die Kubaner ihre Heldin nicht wiedererkennen. Die Kritik verreißt „Cecilia”. Guevara erreicht immerhin ein Ziel: Er gewinnt eine Menge spanischer Autos und Lkw‘s, die nach dem Ende der Dreharbeiten beim ICAIC bleiben. Doch „Cecilia” bringt das Fass zum Überlaufen: Guevara wird abgesetzt und als Botschafter für die UNESCO nach Paris geschickt. Sein Vize, Julio Garcia Espinosa, übernimmt den Chefsessel des ICAIC (siehe: Die Zensur). Espinosa zeigt sich als Chef ohne Rückgrat: Er versucht, es allen Recht zu machen. Unter ihm entstehen Filme, die wenig kosten, populistisch sind und geringen künstlerischen Anspruch haben. Das Kino fällt in eine Krise. Später wird diese Epoche das „Graue Jahrzehnt“ genannt. Espinosa verändert vor allem den Entscheidungsprozess, welche Filme realisiert werden. Bislang entschied Guevara persönlich. „Er war eine intellektuelle Instanz, die von allen Regisseuren respektiert wurde. Sein Auswahlprozess hatte nichts mit Zensur zu Kuba Nele Husmann tun. Alfredo war kein Funktionär, kein Quadratschädel, der Ja oder Nein sagte, sondern jemand, der sich mit den Künstlern auseinandersetzte”, sagt Piedra. Jetzt fällt Espinosa, ein frustierter Regisseur, selbst die Entscheidung, welche Projekte umgesetzt werden – das ist schlimmer als jeder Funktionär. Espinosa installiert drei Kreativgruppen. Die erste leitet Gutierrez Alea, der als besonders kritisch gilt. Die zweite übernimmt Humberto Solas, der Künstler. Und die dritte läuft unter Manuel Perez, einem linientreuen Revolutionär. Je nach Geschmack dürfen sich die Regisseure aussuchen, mit wem sie arbeiten wollten. Die Regisseure müssen ihre Filme miteinander diskutieren. Die letzte Entscheidung aber behält Espinosa immer für sich. „Se permuta – Es wandelt sich” von Juan Carlos Tabio ist ganz typisch für diese Zeit. Er ist so billig wie nur möglich hergestellt worden: Von fünf Metern gedrehtem Film wurde einer verwendet – sonst werden bis zu 30 Meter gedreht. Etliche Komödien der gleichen Machart entstehen. Auch Gutierrez Alea und Solas filmen in dieser Zeit, aber ihre Filme unterliegen strengen Regeln. Alea muss für “Hasta cierto puncto – bis zum einem gewissen Punkt” seine Hauptidee aufgeben: Einen Regisseur zu filmen, der das Macho-Gehabe der Hafenarbeiter einfangen will, und dabei die menschlichen Tragödien vor seiner Nase nicht sieht. Statt dessen muss Titon sich auf einen Nebenstrang kaprizieren, die Liebesgeschichte zwischen dem Regisseur und einer Hafenarbeiterin. Humberto Solas urteilt über diese Zeit: „Die Leute sind vor lauter Filmen blind für die Probleme der Wirklichkeit“. Die Neunziger Jahre „Alicia en el Pueblo de Maravillas – Alice im Wunderdorf ” von Daniel Diaz Torres ist der letzte Film, der in einer von Espinosas Kreativgruppen entsteht. Er wird ausgerechnet in der Gruppe des Hardliners Manuel Perez entwickelt. Diaz Torres hatte bisher zwei Filme gedreht, die unter recht schwachen Drehbüchern litten. Für diesen Film holt Diaz Torres sich deshalb zwei kreative Humoristen an die Seite, die einen barocken, kritischen und ironischen Humor pflegen. Der ganze Film ist wie ein Delirium. Alles ist ironisch – selbst die Musik. Es handelt sich um eine absurde Geschichte, die von Metaphern lebt. Über diesen Film kommt es zum politischen Eklat. Er wird nur wenige Tage gezeigt – ausschließlich vor Parteifunktionären, die den Film verabscheuen (siehe: Zensur). „Alicia“ veranlasst, dass Espinosa als Chef des ICAIC abgesetzt und Alfredo aus Paris zurückgeholt wird. Als erstes, nach seiner Rückkehr, führt Guevara die Sprechweise ein, dass „Alicia” nicht konterrevolutionär ist: „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Feinde der Revolution sich den Film zu eigen Nele Husmann Kuba machen. Die Revolutionäre selbst aber dürfen kritische Punkte zeigen und auch im Kino die Situation kritisieren, um sie zu verbessern”. Und nichts anderes machen Filme wie „Erdbeere und Schokolade”, „Guantanamera”, „Madagaskar” oder „La vida es silbar”, die seit dem Beginn der 90er Jahre gedreht wurden. Der nächste größere Film, der nach Guevaras Rückkehr realisiert wird, ist „Adorables Mentiras – Bewundernswerte Lügen” von Gerardo Chijona. Eine Liebesgeschichte, bei der alle sich von Anfang bis Ende belügen. Manche interpretieren ihn als Anspielung auf die vielseitigen Realitäten in Kuba. Der Produktionsprozess der Filme verändert sich in den 90er Jahren erneut. Der Geldmangel in der Periodo Especial, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, macht zahlreiche Koproduktionen nötig (siehe: Die Produktion). Die revolutionären Werte fallen, und die Leute suchen nach längst verlorengegangenen Werten wie Tradition, Familie, Freundschaft, die in Zeiten, wenn man sich rund 18 Stunden des Tages ums Überleben kümmern muss, verloren gehen. Einige Frauen verlassen sogar ihre Familien, um sich für Touristen zu prostituieren. Nach „Alicia” entsteht der Fernsehfilm „Maria Antonia”. Es ist ein Melodrama über Prostituierte aus den Fünfziger Jahren, vor der Revolution. Der ganze Film spielt in dieser Zeit, bis zum Schluss des Films ein modernes Touristentaxi vorfährt. Das ist eine mehr als provokante Anspielung auf die „Jineteras”, wie die Frauen, die sich heute aus Geldgründen mit Touristen einlassen, im Volksmund genannt werden. Erst 1998, als häufig mehr als 500 Prostituierte auf dem Malecon vor dem Luxushotel „Melia Cohiba“ auf ausländische Freier warten, greift der Staat hart durch: Die Jineteras werden verhaftet und in Massenprozessen hart abgeurteilt. Der Meilenstein dieser neuen, kritischen Filme ist „Fresa y Chocolate – Erdbeere und Schokolade” von Tomas Gutierrez Alea von 1993. Der Film handelt von einem Schwulen und der Intoleranz, auf die er in der kubanischen Gesellschaft stößt. Zwar haben sich zu der Zeit, als der Film in die Kinos kam, die Diskriminierungen von Homosexuellen schon gelindert, doch noch immer ist das Thema gewagt. Doch Alfredo Guevara zeigt den Film zum ersten Mal auf den Filmfestspielen in Havanna. Ein sehr geschickter Zug, denn selbst wenn der Film später beschlagnahmt worden wäre, hätte ihn halb Havanna bereits gesehen gehabt. „Alle anderen, realistischen, kritischen Filme sind durch dieses Werk und seinen Erfolg erst möglich geworden”, sagt Piedra. „Es hatte so viel Auswirkungen auf Kuba wie kaum ein anderer Film.“ Reflexive, interessante und kritische Werke entstehen. Die Regisseure zeigen die Not, die Einschränkungen und den Wunsch nach Veränderung, die ganz Kuba erfassen, in ihren Filmen. Kuba Nele Husmann „Madagaskar” von Fernando Perez gibt diese schwierige Zeit am besten wieder. Er stellt die Misere, die Enge und die Armut dar, unter der alle Kubaner leiden. Paul Perez Ureta, Kubas bester Kameramann, filmte die schwarzweißen Bilder. Die Einstiegsszene des Films ist vielleicht die beste der ganzen kubanischen Kinogeschichte. Man sieht vier Menschen mit vor schlimmster Anstrengung verzerrten Gesichtern, ganz nah, und der Zoom, der sie ganz gemächlich immer weiter aus dem Auge verliert, verrät dem Zuschauer erst nach mehr als einer Minute, dass diese Männer auf dem Fahrrad einen steilen Berg hochfahren. Das Fahrrad ist ein Symbol für die Periodo Especial: Die Kubaner mussten notgedrungen auf Drahtesel zurückgreifen, als der öffentliche Nahverkehr wegen des Benzinmangels zusammenbrach. 1995 entstehen noch zwei andere kubanische Filme: „Pon tu pensamiento en mi – Denk an mich”, von Arturo Soto, einem der ersten kubanischen Absolventen der internationalen Filmschule Kubas, der EICTV. Und „Guantanamera”, der letzte Film von Tomas Gutierrez Alea, den er kurz vor seinem Tod gemeinsam mit Juan Carlos Tabio dreht. Diese böse Satire macht sich über eine Direktive der Bürokratie lustig, die es wirklich gegeben hat. Es ist ein witziger, aber recht durchschnittlicher Film, der sich plötzlich, zwei Jahre nach seiner Uraufführung, im Mittelpunkt von Castros Kritik wiederfindet. Erneut gelingt es Guevara, die Situation zu entschärfen. Fernando Perez dreht 1998 „La vida es silbar – Das Leben heißt Pfeifen”, einen anspruchsvollen Film, der vor bitterbösen Anspielungen und Metaphern strotzt (siehe: Perez-Interview). 1999 entsteht „Las profecias de Amanda – die Prophezeiungen von Amanda”, von Pastor Vega. Der auf Tatsachen beruhende Film stellt das Leben einer Wahrsagerin dar. Und er ist völlig unpolitisch, wie auch die anderen Werke, die in diesem Jahr gedreht werden: Der Geschichtsfilm „Operación Fangio”, vom argentinischen Regisseur Alberto Lecchi und die Komödie „Un paraiso bajo las estrellas – Ein Paradies unter Sternen”, von Gerardo Chijona (siehe: Neue Filme). Vielleicht hat das kubanische Kino kurz vor der Jahrtausendwende seine politische Ausrichtung verloren, vielleicht ist es aber auch ein Anzeichen dafür, dass es einigen Kubanern schon wieder besser geht. Oder es ist die Folge der verstärkten Koproduktionen: Filme, die sich nur mit kubanischer Selbstbeschau befassen, haben international nur sehr bedingt Erfolg. Mario Piedra: „Wir haben das Kino, das wir uns leisten können. Es wird zum Glück nie wieder so sein, wie vor der Revolution, weil das Niveau nachhaltig gestiegen ist. Aber es wird eine kleine Kinolandschaft bleiben, wie die von Österreich oder Holland”. Nele Husmann Kuba Interview mit Frank Padron Frank Padron ist einer der bedeutendsten Kinokritiker Kubas. Er hat eigene Fernseh- und Radiosendungen und schreibt für verschiedene Zeitungen. Während des Filmfests publiziert er täglich Kritiken in der Festivalzeitschrift. Frage: Was halten sie vom kubanischen Kino der 90er Jahre? Padron: Das letzte Jahrzehnt konzentrierte sich darauf, die sozialen Widersprüche in Kuba aufzudecken, während man in früheren Epochen einen offizielleren Standpunkt einnahm. Havanna, das eigene Land und dessen Inselhaftigkeit, spielen eine immer größere Rolle, sowie die Probleme, die der Tourismus mit sich bringt. Und schließlich die Sexualität als ein Thema, das früher nicht möglich war. Ja, man kann von einer kompletten, inhaltlichen Umorientierung sprechen, die mit der ideologischen Öffnung des Staates einhergeht. Frage: Hat das Einfluss auf die Form? Padron: Natürlich, wir sehen jetzt viel leichtere, weniger komplexe Filme, als etwa in der Blütezeit des kubanischen Kinos, den 60er Jahren. Damals gründete die Wochenschau des ICAIC eine neue Form des Journalismus, es gab sehr außergewöhnliche, transzendente Filme von großem Wert. Frage: Was halten Sie von den Koproduktionen? Padron: Es gibt eine Reihe ausgezeichneter Werke, die nur mit Hilfe der ausländischen Finanzierung möglich waren. Die ganze Zukunft des kubanischen Films hängt vom wirtschaftlichen Erfolg ab. Ich hoffe, dass wir bald eine materielle Basis haben, um sieben bis acht Filme pro Jahr zu produzieren. Frage: 1995 ist der wichtigste kubanische Regisseur, Tomas Gutierrez Alea, verstorben. Gibt es Nachwuchs, der ihn ersetzen kann? Padron: Er war wirklich einer der besten. Zum Glück hat er uns aber sehr viel hinterlassen. Und wir haben weitere ausgezeichnete Regisseure wie Orlando Rojas, Gerardo Chijona, Arturo Soto, Tabio, Enrique Alvarez und natürlich Fernando Perez. Frage: Wie steht es um die Ausbildung von kubanischem Kinonachwuchs? Padron: Die internationale Filmschule EICTV in San Antonio de los Banos ist exzellent, aber sie stellt nur sehr wenig Plätze für kubanische Studenten zur Verfügung. Gerade in diesem Semester dürfen vier, statt üblicherweise nur zwei Kubaner dort studieren. Die ISA, von der Universität von Havanna, bildet zwar auch Regisseure aus, aber sie ist stärker auf Theater und Schauspieler ausgerichtet. Die Zukunft der kubanischen Talente ist stark von Autodidaktik abhängig. Frage: Lässt die Kinobegeisterung der Kubaner angesichts immer weniger Filme nach? Kuba Nele Husmann Padron: Überhaupt nicht. Die Kubaner sind ein sehr treues Publikum. Sie geben den Filmschaffenden massive Unterstützung. Sie sind stolz auf ihr Kino: Kubanisches Publikum sucht kubanischen Film. Das Kinoprogramm Der alte Mann schüttelt den Kopf: „Nein, heute gibt es keine Vorführung im Kino“. Und wann wieder? Erneutes Kopfschütteln: „Vielleicht in zwei Tagen, am Donnerstag“. Der pensionierte Lehrer steht vor dem Kino in Camaguey, Hauptstadt einer der 14 Provinzen Kubas. Eigentlich sollte „Alles über meine Mutter“ vom spanischen Regisseur Pedro Almodovar laufen, doch mangels Publikum bleibt das Kino geschlossen. Das fehlende Interesse liegt nicht am Film: „Ich habe den Film schon zweimal gesehen, und die meisten anderen Bewohner der Stadt auch. Er ist exzellent – aber er läuft jetzt schon über drei Wochen“, erzählt der Alte. In Havanna macht natürlich kein Kino zu, aber die Situation ist ähnlich: In den großen Sälen, wie Yara und Payret, wird wochenlang der zuletzt eingetroffene Film gezeigt, und die anderen Kinos halten sich mit den alten Filmen über Wasser. Klar, dass Kinos oft gähnend leer sind. Dennoch ist die Situation in der Hauptstadt wesentlich besser als in der Provinz. Die kleinsten Städte haben es am schwierigsten: „Es ist schon einen Monat her, dass wir überhaupt eine Filmrolle hier hatten“, erklärt Senora Rosa, die hinter der Kasse des Kinos von Niquero sitzt, einer kleinen Provinzstadt im Osten mit leergefegten Gassen. Auch sie verkauft notgedrungen nur Eintrittskarten für die Videovorführung. Sie hofft, Anfang 2000 einen der neuen kubanischen Filme vom Filmfest zeigen zu können: „Dann wird das Kino zum Bersten gefüllt sein!“, freut sie sich. „Wir haben einen dramatischen Mangel an Filmen“, erklärt Ines Duanes, die Verantwortliche für das Kinoprogramm im „Centro Provincial de Cine“ in Santiago de Kuba, der zweitgrößten Stadt Kubas. Sie verteilt die Filmrollen, die das ICAIC, das kubanische Filminstitut, ihr aus Havanna schickt, über die 26 Kinos in ihrer Provinz. Alle zwei Wochen erhält sie einen neuen Film. Falls es keinen gibt, schickt das ICAIC einen alten Film zur Wiederholung. Doch es mangelt nicht nur an neuen Filmen, sondern auch an Kopien. Vor der Krise gab es ausreichend Kopien, um alle Kinos der Provinz gleichzeitig zu versorgen. Heute begnügt sich eine Provinz mit einer Rolle, und es kann Monate dauern, bis ein kleiner Ort einen Film bekommt, wenn er überhaupt bis dort gelangt. „Die Kopien sind zu teuer, und wir können sie nur kurze Zeit behalten, ehe wir sie in eine andere Provinz weiterreichen müssen“, so Duanes. Videos sind daher willkommen, um die abgelegenen Kinos überhaupt offen zu halten. 1999 sind 57 verschiedene Videos des ICAIC gezeigt worden. Nele Husmann Kuba „Die Videos werden immer wichtiger, weil das Publikum natürlich nur ins Kino geht, wenn es etwas neues gibt“, erklärt Duanes. Das Provinzzentrum strengt sich nach Kräften an, möglichst viele Filme in die Provinz zu holen: So gibt es Reihen zu bestimmten Themen mit Wiederholungen alter Filme, die während der Stadtfeste laufen. „Aber wir können vom ICAIC nichts fordern, was es selbst nicht hat“, findet Duanes. Das ICAIC kann nicht zaubern: „Wir können zur Zeit etwa 20 Filme pro Jahr einkaufen“, erklärt Roberto Smith de Castro, Cheffilmeinkäufer des ICAIC, „zu mehr reicht unser Budget nicht“. In der Zeit vor der Revolution beherrschten amerikanische Distributoren wie Fox Film oder Columbia die Kinolandschaft. Außerdem gab es einen kleinen, französischen Filmverleih. Eine mexikanische Anstalt belieferte vor allem die ländlichen Kinos mit mexikanischen und argentinischen Produktionen. Denn die US-Filme hatten einen großen Nachteil: Sie waren nicht synchronisiert, sondern einfach untertitelt – damit konnte die Landbevölkerung, die zum großen Teil nicht lesen und schreiben konnte, nichts anfangen. Nach der Revolution 1959, brachte das neugegründete ICAIC Filme aus aller Welt nach Kuba. Der Staat stellt einen Finanzierungsfonds für den Einkauf von Filmen bereit. Smith de Castro beteuert, dass die Auswahl der Filme nicht ideologisch gefärbt war: „Die USA waren eben einer von vielen“. 1990/91 gibt es schlagartig kein staatliches Geld mehr für den Filmeinkauf. Über zwei bis drei Jahre kann fast kein neuer Film gezeigt werden. Das Kino lebt allein von Wiederholungen. 1994 tritt eine wesentliche Verbesserung ein: Der Staat erlaubt dem ICAIC, sich selbst zu finanzieren. Das Filminstitut erhält Mittel durch den Verleih von Equipment, Schauspielern und Technikern an ausländische Filmproduktionen, die auf Kuba drehen. Für sie ist es extrem günstig, auf Kuba zu drehen. Die ersten ausländischen Filme laufen wieder auf Kuba‘s Leinwänden – wenn auch noch spärlich. Das Kino Camaguey hat eigenmächtig beschlossen: Wenn bei der Sonntagsvorstellung weniger als die Hälfte der Kino-Tickets verkauft werden, bleibt das Kino montags, dienstags und mittwochs geschlossen. Innerhalb der kubanischen Planwirtschaft ist das erstaunlich. Für Fidel Castro ist es eine Prestigefrage, das die Kinos offen sind, egal wie der Markt ist. Das Kino in Camaguey zeigt statt dessen Videofilme. Vor der Leinwand wird ein kleiner Fernseher plaziert, in den die Besucher aus ihren Kinosesseln starren. Karatefilme aus Hongkong und ähnlicher Schund laufen. „Das kann sich eigentlich kein Mensch angucken“, seufzt der Lehrer, der eigentlich den Film von Almodovar ansehen wollte, „aber was soll man sonst machen?“ Kuba Nele Husmann Die Produktion Eigentlich sollte die Pressekonferenz im Hotel Nacional in Havanna über die neuen Film-Projekte im Jahre 2000 informieren, doch die rund 100 Journalisten, hauptsächlich Kubaner, sorgen sich wegen der Finanzierung. Seit der Wirtschaftskrise 1990 ist dem ICAIC das Geld für eigene Produktionen ausgegangen. Wer heute einen Film drehen will, muss selbst das Geld dafür organisieren. Der Weg, den die meisten beschreiten, ist die Suche nach europäischen Koproduzenten. Die Angst vor Beeinflussungen liegt nah. „Aber wir verlieren doch unsere eigene, kubanische Kinokultur!“, schimpft ein Journalist. „Es gibt keinen anderen Weg, als uns auf die Koproduktionen einzulassen“, sagt Gustavo Fernandez Pascual, Produzent beim ICAIC. Die Einnahmen, die das ICAIC aus dem Verleih von Ausrüstung und Personal an ausländische Cineasten verdient, fließen größtenteils in die Modernisierung. Es bleibt höchstens Ibermedia, ein spanisches Unterstützungsprogramm für lateinamerikanische Medien. Der Staat zahlt nur noch die Peso-Gehälter der Filmschaffenden. „Seit dem internationalen Erfolg von „Erdbeere und Schokolade“ ist es leichter geworden, ausländische Produzenten von der Qualität des kubanischen Kinos zu überzeugen“, sagt Fernandez Pascual. Die kubanischen Filmschaffenden sind überzeugt, dass die Koproduktionen sehr sinnvoll sind, und sie beteuern, dass sie keinen ausländischen Einfluss in ihren Filmen spüren: „Keiner muss eine neue Figur fürs Drehbuch erfinden, weil ein ausländischer Produzent unbedingt einen deutschen Schauspieler will“, sagt Daniel Diaz Torres, der gerade an der zweiten Koproduktion mit deutschen Produzenten arbeitet. Camilo Vives, Chefproduzent des ICAIC, erklärt: „Wir machen immer noch genau die Filme, die wir machen wollen. Nur die Finanzierung und der Vertrieb werden von den Koproduzenten beeinflusst. Und wenn ein Koproduzent die Umsetzung der Ideen des Regisseurs ernsthaft in Gefahr bringt, dann machen wir diesen Film lieber gar nicht, anstatt alles zu verändern“. Allerdings tauchen Probleme auf: Das ICAIC kann nicht länger selbst bestimmen, welcher Film Priorität bei der Umsetzung hat: Die Regisseure, die zuerst das Geld für ihr Projekt zusammenhaben, können auch zuerst filmen. „Das Hauptkriterium für die Umsetzung eines Films bleibt die Qualität“, sagt Gustavo Fernandez Pascual. „Aber natürlich spielen auch die Kosten eine Rolle. Billigere Projekte kommen leichter durch, während teuere länger warten müssen.“ Bekannte Regisseure haben es leichter, Koproduzenten zu finden. So gerät der Nachwuchs ins Hintertreffen. Um dies zu vermeiden, will Chefproduzent Camilo Vives einen ICAIC-Fonds für Nachwuchsregisseure einrichten: „Wir wollen ein Nele Husmann Kuba bis zwei Filme pro Jahr ohne ausländische Unterstützung umsetzen, und dabei speziell jüngere Regisseure berücksichtigen“. Die wirtschaftliche Misere Kubas wurde schon drei bis vier Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion spürbar. Die Kinowirtschaft ist nur eine Branche von vielen, die zeigt, dass Zentralismus, Planwirtschaft und der pyramidenhafte Aufbau aller Beziehungen innerhalb einer Unternehmung, eher zu stumpfer Pflichterfüllung statt zu blühender Prosperität führen. Allein die Buchhaltung ist in einem Land wie Kuba schwierig: Es gibt keinen echten Wert zwischen Peso und Dollar. Zwar hat der Staat für den Umtausch der Privatleute einen Dollar für 21 Pesos festgelegt, doch das ist genauso willkürlich, wie die Buchhaltung vieler Staatsfirmen, die einfach einen Dollar mit einem Peso gleichsetzen. Lange hat auch das ICAIC Bilanzen von Filmproduktionen schöngerechnet. Ausgaben: eine Million Peso. Einnahmen: Zwei Millionen Peso. Macht: eine Million Peso Gewinn. Doch im Filmgeschäft müssen fast alle Ausgaben, wie etwa für Kameras, Filmmaterial, oder Benzin, in Dollars bezahlt werden. Die Einnahmen aus der nationalen Distribution und den Filmvorführungen hingegen, kommen ausschließlich als Pesos in die Kassen. In der Rechnung wurde komplett vernachlässigt, das eigentlich von den Ausgaben, in Höhe von einer Million Pesos, 800.000 in Dollars angefallen sind. Diese Summe wurde versteckt vom Staat subventioniert. Um diesen „Dollarfaktor“ bereinigt, steckte die Produktion schon immer in den roten Zahlen. 1990 kommt es zum Absturz: Der Staat streicht die Dollar-Subvention ans ICAIC. Und natürlich hat auch die nationale Vertriebsgesellschaft keine Dollars, um sie ans ICAIC zu bezahlen. Schließlich erhält die Produktionsgesellschaft des ICAIC eine Ausnahmegenehmigung vom Staat, selbst verdiente Dollars behalten zu dürfen und eigenständig mit ihnen zu wirtschaften. Die meisten anderen Betriebe müssen alle Einnahmen sofort an den Staat abführen und für jede Ausgabe einen Antrag an den Staat stellen. Dann endlich, 1995, erhält die Produktion des ICAIC selbst die Genehmigung, in Dollars zu operieren. Damit ist das Institut so gestellt, wie vor der Revolution – es arbeitet 100 Prozent marktwirtschaftlich. In der zwischen Dollar und Peso schwankenden Wirtschaft ist es schwierig, die Filmschaffenden gerecht zu bezahlen. Beispielsweise wird ein Kameramann für 150 Dollar pro Tag an ausländische Produktionen verliehen – ihm selbst steht aber nur ein Gehalt von zehn Dollar pro Monat zu. Firmen, die Dollar verdienen, dürfen ihren Mitarbeitern als Anreiz eine „Jabita“ aushändigen – eine Plastiktüte mit Dollar-Produkten wie Seife, Shampoo, Zahnpasta oder Öl. Das ICAIC jedoch nicht. Als Kompensation dafür serviert die Kantine des ICAIC ein wesentlich besseres Mittagessen als andere Betriebe. Damit waren viele zufrieden. Kuba Nele Husmann Erst seit einem Jahr gibt es ein neues Gesetz, aufgrund dessen einem ICAICMitarbeiter auch ein Anteil der Dollar-Einnahmen aus seiner Arbeit zusteht. Doch noch holpert die Umsetzung: Nur einige Glückliche erhalten statt eines Mittagessens plötzlich 10 Dollar pro Tag – das ist ein ganzer Peso-Monatslohn. Nur die Schauspieler haben größere Freiheiten, eigenständig Verträge auszuhandeln. Sie verlangen von ausländischen Produktionen zusätzlich zu den 200 Dollar, die ans ICAIC fließen, die gleiche Summe für sich – sonst spielen sie eben nicht gut. Musiker und Schauspieler werden vom Staat nicht so streng überprüft wie normale Bürger, weil allen klar ist, dass sie bei der nächsten Einladung ins Ausland nicht zurückkommen würden: Jorge Perugorria etwa, der Star aus „Erdbeere und Schokolade“, verdient in Spanien inzwischen 80.000 Dollar pro Auftrag. Interview mit Enrique Molinas Enrique Molina ist seit 29 Jahren Schauspieler und arbeitet für Fernsehen und Film. Er hat in vielen Werken der 90er Jahre mitgewirkt. Er ist Hauptdarsteller in „Un Paraiso bajo las Estrellas – ein Paradies unter den Sternen“, der bei den 21. Filmfestspielen von Havanna den Publikumspreis gewonnen hat. Auch in „Hacerse el Sueco – den Dummen spielen“, einer deutschen Koproduktion, die im Januar gedreht wird, hat er eine Rolle. Frage: Schauspieler zeigen in Kuba kaum Allüren. Warum? Molina: In Kuba wohnt niemand im Schneckenhaus. Das gilt nicht nur für Filmschaffende, sondern für alle Künstler. Wir braten uns keine Extrawurst, sondern leben ganz normal. Frage: Aber Sie genießen doch sicher einige Privilegien? Molina: Nein, wirklich nicht. Ich wohne in einem ganz normalen Haus, mit den ganzen kleineren und größeren Problemen, die alle lösen müssen. Ich koche zusammen mit meiner Frau, gehe zum Markt. Und dieses Alltagsleben ist auch die wichtigste Quelle der Inspiration für einen Künstler: Der direkte Kontakt mit den Leuten ist entscheidend, wenn man sie mit Kunst erreichen will. Frage: Viele Schauspieler sind in die USA ausgewandert. Molina: Stimmt, aber das betrifft nicht nur Schauspieler und Regisseure, sondern auch Ingenieure und Ärzte. Sie verdienen dort mehr Geld. Dieses Problem gibt es auch in allen anderen lateinamerikanischen Ländern. Einige gehen nur für eine bestimmte Zeit ins Ausland, etwa nach Spanien, um ein paar Filme zu realisieren. Andere bleiben für immer. Doch das ist ein harter Kampf ums Überleben. Einigen geht’s gut, anderen sehr schlecht. Die meisten Kollegen aber sind hier in Kuba geblieben. Frage: Sie auch. Nele Husmann Kuba Molina: Aber nicht, weil ich masochistisch bin, sondern weil es mir gefällt, dafür zu kämpfen, dass ich gute Arbeit mache. Hier kämpft das ganze Land – und ich auch. Frage: Wie werden sie bezahlt? Molina: Bis vor zwei Jahren bekamen wir ausschließlich Peso-Gehälter, auch wenn das kubanische Filminstitut ICAIC uns für Dollar an ausländische Produktionen ausgeliehen hat. Seit die wirtschaftliche Situation sich etwas erholt, erhalten die Schauspieler neben ihrem Peso-Lohn zwischen 30 und 50 Prozent dessen, was das ICAIC mit uns verdient, in Dollar. Frage: Das heißt aber auch, dass es Ihnen als Schauspieler besser geht als anderen Berufsgruppen. Molina: Als Fidel den Dollar freigegeben hat, hat er gesagt, dass der Dollar Unterschiede innerhalb der Bevölkerung schaffen würde. Aber auch andere Berufsgruppen wie Ärzte und Professoren erhalten Prämien, wie etwa Dollar-Boni oder eine Jabita. Kuba öffnet sich, die Lebensqualität steigt. Das ganze Leben hier verwandelt sich langsam, aber sicher. Frage: Der jüngste kubanische Film, „Un paraiso bajo las Estrellas“, ist weniger kritisch als frühere Werke. Liegt das daran, das die Situation sich verbessert hat oder daran, dass die Leute nichts mehr davon hören wollen, wie schlecht es ihnen geht? Molina: Weder noch. Hier in Kuba gibt es keine Zensur für Cineasten. Es ist vielmehr so, dass Chijona die Idee zu dieser Komödie hatte und sie umgesetzt hat, als er das Geld dafür zusammenbekam. Und das Ergebnis ist offensichtlich ein großer Erfolg. Das heißt aber nicht, dass künftig keine kritischen Filme gemacht werden. In zwei bis drei Monaten kommt „Lista de Espera – Warteliste“ in die Kinos, ein sehr heftiger, kritischer Film von Juan Carlos Tabio über tageslanges Warten an einem Omnibusterminal. Den Leuten passieren unterdessen größere und kleinere Katastrophen. Die Schauspieler, die mitgewirkt haben, hören sich sehr begeistert und glücklich an. Auch das ICAIC ist guter Hoffnung…...das scheint ein großer Film zu sein. Die Kinoclubs Im Wohnzimmer ist es sehr dunkel. Eine Frau steht am Bügelbrett, ihr Mann sitzt auf dem Sofa. Umständlich tastet sie nach dem Bügeleisen, schließlich ruft sie den achtjährigen Sohn, der ihr helfen soll. Es knistert, die Bildqualität ist schlecht, und das Format füllt nur ein Viertel der Leinwand des „Cine Cubanacan“ in Santa Clara. Der Saal hat schon bessere Tage gesehen: Einige Sitze fehlen ganz, andere sind verschlissen oder aufgeschlitzt, und durch die hinteren Reihen des Kinos und das Foyer Kuba Nele Husmann zieht ein strenger Geruch nach Urin. „Liebe ist blind” heißt der Videofilm, der gerade auf der Leinwand vergrößert wird. Er handelt von einem blinden Ehepaar mit einem sehenden Sohn, das von seinem Alltag erzählt. Der Regisseur selbst, der 44-jährige Antonio Albalat, ist blind. Vor zwei Jahren musste er seine Arbeit in einem Kunstinstitut wegen seiner Augen aufgeben. Jetzt dirigiert er seinen Kameramann, um seine fünfminütigen Filme zu drehen und zu schneiden. Schlechte Schnitte, zu lange Dialoge und eine starre Kamera würden die Profis zu recht an dem Film monieren. Doch was zählt, sind die Liebe und die Anstrengung, die aus dem Film erkenntlich werden. Und der Stolz, den Albalat ausstrahlt, während sein Film vor dem Publikum von rund 80 Cineasten präsentiert wird. Albalat ist Mitglied des 1976 gegründeten Kinoclubs „Cubanacan“ von Santa Clara. Einmal im Jahr, im November, veranstaltet der Club ein Amateurfilmfest, das „Festival del Invierno”, zu dem er andere Amateurclubs Kubas einlädt. Zu gewinnen gibt es Ehrenpreise, aber auch eine Reihe von Sachpreisen. Als Jury sind Cineasten des ICAIC aus Havanna angereist, so zum Beispiel Raul Perez Ureta, der wohl beste Kameramann Kubas. Auch das Staatsfernsehen hat eine junge Mitarbeiterin der Programmabteilung gesandt, die beurteilen soll, ob das ein oder andere Werk im Fernsehen ausgestrahlt werden könnte. Die Arbeit der Amateure wird ernst genommen, insbesondere seit 1984, als das ICAIC einen Verband aller Kinoclubs Kubas gründete. Der erste Kinoclub in Kuba entstand 1928, rund 30 Jahre, nachdem es die erste Kinovorstellung in Havanna gegeben hatte. José Manuel Valdez Rodriguez und Fernando Ortiz, zwei der ersten Filmkritiker der Insel, gründeten ihn, um gemeinsam ausländische Filme anzusehen und zu diskutieren. 1948 formierte sich der Kinoclub Havanna. Bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise 1990 wuchs die Zahl der Clubs auf über 120. Dann verringerte sich die Zahl der ausgestrahlten Filme dramatisch und damit auch die Zahl der „Aficionados“. Heute gibt es noch rund 45 Kinoclubs. Der größte ist der von Santa Clara, mit rund 130 Mitgliedern. „Wir sind stolz darauf, die kubanische Kultur durch unser Engagement zu bereichern”, sagt der Gründer und Präsident des Cubanacan-Clubs, Miguel Secades, zum Auftakt des Festivals. Secades ist ein Vereinsmeier mit streng sozialistischer Ausrichtung. Secades hat ein Punktesystem als Anreiz für die Mitglieder eingeführt, nach dem für die Teilnahme an Clubabenden, das Drehen eigener Filme oder das Gewinnen von Preisen auf Festspielen, Punkte verteilt werden. Wer die meisten Punkte innerhalb eines Jahres sammelt, wird geehrt und erhält einen kleinen Preis. „Manchmal liegt in einer Amateur-Arbeit mehr Wert und Qualität als in einem Profi-Werk”, erklärt Secades. „Und das, obwohl wir so wenig finan- Nele Husmann Kuba zielle Mittel zur Verfügung haben. Denn der Laie macht seine Arbeit mit Liebe und nicht für Geld.” Die Werke des Clubs sind sehr humanistisch: „Politische Themen interessieren uns wenig, aber natürlich wären solche Filme auch möglich”, sagt Albalat. Wöchentlich treffen sich die Mitglieder, um über Filme zu diskutieren oder an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Der Club erhält keine staatlichen Mittel, sondern finanziert sich allein durch Spenden oder Geld von Mitgliedern. So stiftete die UNESCO dem Club eine Videokamera. Die spanische Botschaft kündigte an, eine weitere zu spendieren. Die Arbeiten des Clubs werden in Schulen und an der örtlichen Universität vorgeführt. Trotz der Knappheit von Filmmaterial und den damit verbundenen Kosten, hat der Cubanacan-Club 1999 zwölf Filme fertiggestellt. Er gehört damit zu den produktivsten Clubs, denn nur wenige widmen sich nicht nur der Theorie, sondern auch der Praxis. So hat zum Beispiel der OCIC, der katholische Kinoclub Kubas, erst zum Papstbesuch 1997 begonnen, selbst Filme zu drehen. „Es war uns wichtig, die Reden des Papstes selbst aufzunehmen”, sagt die 77jährige Georgina Preval, die lange Zeit dem Club vorstand und heute als Ehrenpräsidentin fungiert. Der OCIC hat heute 19 aktive Mitglieder und eine angestellte Sekretärin. Vor der Revolution gab der OCIC den „Nationalen Kinoführer” heraus, eine wichtige Filmzeitschrift. Nach der Revolution schlossen sich viele Mitglieder dem ICAIC an, und die Zeitung wurde eingestellt. Der OCIC führt die Klassifizierung der Filme in qualitativen und moralischen Kategorien als Archiv weiter. Einmal im Monat gibt es Klubabende. „Wir haben leider immer wieder Probleme mit der kubanischen Regierung”, erzählt Preval. „So ist es besonders schwierig, Papier zu bekommen.” Auch ein Mitglied des OCIC erzählt von Schikanen durch die Behörden: „Vor dem Milleniumwechsel wollten wir eine christliche Filmreihe in kleinen Sälen organisieren. Doch das war unmöglich, weil uns keine Räume genehmigt wurden – ohne jede Begründung“. Die große Mehrzahl der 50 auf dem Filmfest vorgeführten Beiträge, beschäftigt sich mit sozialen Themen. Ein Film zeigt die Reisen des jungen Che Guevara mit einem besonders begeisterten Unterton, andere zeigen Künstler oder Musiker. Nur ein Film hat einen künstlerisch, abstrakten Wert: „Ring, Ring”, ein Film über einen Wecker. „Für die Ausstrahlung im Fernsehen ist leider kein einziger geeignet”, sagt Tania Alarcon. „Die meisten Filme haben zwar interessante Ansätze, erreichen aber leider die erforderliche Qualität fürs Fernsehen nicht”. Das ist noch recht diplomatisch ausgedrückt. Viele Filme konnten offenbar nicht geschnitten werden, so dass die gefilmten Szenen im Original, ohne jede Bearbeitung, gezeigt werden. Oftmals filmten die Laien, um den Titel und die Kuba Nele Husmann Mitwirkenden zu nennen, einfach die Schrift von einem Computerbildschirm ab. Die meisten Dokumentarfilme sind langatmig und leiden unter vielen Wiederholungen. Nur selten kommt ein Kommentator zu Wort – die Themen müssen sich durch die interviewten Personen erklären. Die Preisverleihung des Filmfests findet im Galakino, neben dem besten Hotel der Stadt, dem „Santa Clara Libre“, statt. In den Mauern sind noch Einschusslöcher von den Revolutionskämpfen zu sehen. Santa Clara war die erste Stadt, die von Che Guevara und seinen Rebellen eingenommen wurde. Seit zwei Jahren ruhen hier die wiedergefundenen, vermeintlichen Überreste Che Guevaras unter einem riesengroßen Betondenkmal. Die Bühne ist feierlich geschmückt, jede Menge Topfpflanzen und zwei Sofasessel aus den 70er Jahren stehen bereit. Eine Opernsängerin singt zur Eröffnung. Eine bekannte Fernsehansagerin ist aus Havanna angereist, um die Präsentation, gemeinsam mit einem Stadtoffiziellen, zu moderieren. Es hagelt Lob von allen Seiten: „Wir sind stolz auf die hervorragende Arbeit, die unsere Genossen auf so vortreffliche Weise gestalten. Sie stärken unsere Region und unterstützen den revolutionären Prozess auf Kuba. Die Kinoclubs bilden ein Bollwerk gegen die Gefahren des kulturellen Hegemonismus der Globalisierung…..” Die Rede des Stadtoffiziellen dauert über zehn Minuten. Es folgt die Übergabe von Sachpreisen, die verschiedene Staatsfirmen gestiftet haben. Es werden kleine Kunstwerke, Gläsersets und mehrere Fernsehantennen – ein Renner, weil wohl besonders schwer zu finden – überreicht. Die chinesische Botschaft hat eine Plastiktüte mit allerlei Seifen und Badeöl spendiert. Antonio Albalat gewinnt den Hauptpreis, ein Kinderfahrrad. Er holt seinen kleinen Sohn, der über beide Ohren strahlt, mit auf die Bühne. Schließlich werden die Gewinner der Ehrenpreise auf die Bühne zitiert. Es gibt ein heilloses Durcheinander, weil die Reihenfolge nicht abgestimmt ist und ein schon sehr altes Jurymitglied die Gewinner viel zu schnell herunterleiert. Hier gewinnt Albalat für seinen Film “Liebe ist blind” den zweiten Preis. Zusätzlich wird sein Kameramann ausgezeichnet für die geschickte Farbwahl – mit dem bisschen was Albalat noch sieht, kann er selbst nicht mehr filmen. Er dirigiert nur, was zu filmen ist. Albalat strahlt vor Stolz, obwohl er abermals beteuert: „Der schönste Moment ist der, wenn man einen Film fertigstellt. Mir kommt es darauf an, etwas zu tun, was andere motiviert”. Albalat geht von der Bühne. Andere Prämierungen folgen. Die Fernsehmoderatorin, offenbar zugleich Sängerin, ergreift das Mikrofon und singt eine recht schräge Liebesschnulze. Der Saal beginnt sich sichtlich zu leeren.…. Nele Husmann Kuba Die Zensur „Innerhalb der Revolution geht alles, gegen die Revolution geht nichts”, diese Worte Fidel Castros, kurz vor der Invasion in der Schweinebucht 1962, prägen die kubanische Kulturlandschaft bis heute – mit Interpretationen bis in Punkt und Komma. „Entscheidend ist, dass Castro nicht außerhalb der Revolution sagte, was das grammatikalisch richtige Gegenteil von innerhalb wäre, sondern gegen die Revolution”, interpretiert Mario Piedra vom ICAIC. „Das lässt entschieden mehr Spielraum”. Viele der kubanischen Spielfilme sind erstaunlich kritisch, nicht nur an dem Maßstab gemessen, dass sie innerhalb eines totalitären Regimes gedreht wurden. Schon „Erinnerungen an die Unterentwicklung” (1968) von Thomas Gutierrez Alea, ein Filmklassiker Kubas, geht radikal mit der schwierigen Rolle der bürgerlichen Intellektuellen nach der Revolution um. „Der Tod eines Bürokraten”, den Gutierrez drei Jahre früher drehte, hat im heutigen Kuba eine viel kritischere Bedeutung als damals, weil die zentralistische Bürokratie längst allen über den Kopf gewachsen ist. In der jüngsten Zeit sorgt vor allem Fernando Perez für Furore, mit systemkritischen Filmen. „Madagaskar” (1995) zeigt junge Leute, die in Kuba so wenig Perspektiven sehen, dass sie überall lieber wären als in ihrer Heimat. „La Vida es silbar – Das Leben heißt pfeifen” (1998) zeigt eine junge Frau, die manische Gähnattacken befallen, sobald sie Reden von kubanischen Parteifunktionären hört. „Ich konnte immer alles machen, was ich wollte – ohne Einschränkungen”, sagt Perez, nach politischer Zensur befragt. „Wir haben, besonders im Kino und Theater, viel mehr Freiheit, als die ausländische Presse darstellt”. Auch Daniel Diaz Torres, der den Skandalfilm „Alice im Wunderdorf ” drehte, beteuert: „Ich konnte immer alle Filme machen, die ich wollte”. Doch Torres erlebte das kubanische Regime 1990 am eigenen Leib: „Die Situation, in der ich mich damals wiederfand, war sehr unangenehm und ausgesprochen widersprüchlich”. Eine wichtige Erklärung für die allgemein erstaunliche Freiheit der kubanischen Filmlandschaft, liegt wohl in der engen Freundschaft, die Fidel Castro und Alfredo Guevara, der Präsident des ICAIC, seit ihrer gemeinsamen Zeit 1948 in der juristischen Fakultät der Universität von Havanna pflegen. Guevara kämpfte 1958/59 an der Seite Castros in der Sierra Maestra für die Revolution. Doch Castro pflegt den linken Hardliner-Kurs, während Guevara eher links-liberal eingestellt ist. Die Freundschaft zu Castro gibt Guevara eine starke Rückendeckung. „Das ICAIC war immer in die kubanische Kulturpolitik verwickelt”, erzählt Piedra, „auch als Gegengewicht. Es stellt sich bis Kuba Nele Husmann heute gegen den sozialistischen Realismus”. Doch manchmal besiegten die Parteihardliner den offenen Kurs des ICAIC. „Guevara hat viele Feinde”, erklärt Piedra. Die erste Zensur verhängte das ICAIC 1961 selbst, als Guevara den Film „pm”, von Guillermo Cabrera Infante, über das schillernde Nachtleben in Kuba verbietet. Ein Affront gegen die Revolution, die das Vergnügen längts eingedämmt haben wollte. Guevara, damals erst 32 Jahre alt, wollte in der politisch angespannten Situation, kurz vor der Invasion der Schweinebucht, die Moral der Bevölkerung nicht stören. Später sagte er oft: „Wäre ich erfahrener gewesen, hätte ich den Film nicht verboten”. Seine Entscheidung war ein schwerer Schlag für die Intellektuellen, die bis dahin glaubten, dass die Revolution die große Freiheit bringt. Erst 1981 bekommt das ICAIC ernsthafte Schwierigkeiten mit der Zensur durch die Regierung. Alfredo Guevara muss seinen Platz als Chef des ICAIC räumen und wird als Kulturbotschafter für die UNESCO nach Paris geschickt. „Viele sehen den Grund für seinen Abgang in dem Kostümfilm „Cecilia” von Humberto Solas, der eine Menge Geld verschluckt hatte”, sagt Piedra, „doch das war nur die Spitze des Eisbergs.” An die Stelle von Guevara rückt Julio Garcia Espinosa – ein drastischer Wechsel für das ICAIC, denn Espinosa, der als Regisseur nur einen erfolgreichen Film drehte, fährt einen Slalomkurs, um es allen Parteifunktionären recht zu machen. Die neuen Filme erzählen vom Alltag, haben keinen künstlerischen Anspruch, sind populistisch und kosten wenig. Doch plötzlich taucht Daniel Diaz Torres‘ „Alice im Wunderdorf ” auf, eine bitterböse Realsatire, die vor Metaphern auf die politische Situation nur so strotzt. Alice wird von der Polizei in ein Dorf verfrachtet, in dem alle Dissidenten und Quertreiber kaserniert sind. Es gibt einen Bürgermeister, der ein strenges Regiment führt. Doch zum Schluss des Films flieht Alice, und mit ihr, verkleidet, der Bürgermeister. Doch er wird entdeckt und von der höchsten Brücke Kubas in die Tiefe gestürzt. „Der Darsteller hat optisch zwar keine Ähnlichkeit mit Fidel Castro, aber dessen Gestik und Mimik entspricht dem Oberkommandanten eins zu eins”, lacht Reynaldo Escobar, ein kritischer, freier, kubanischer Journalist, der hin und wieder in „Tagespiegel” und „taz” publiziert. Er hat die damalige Situation aufmerksam verfolgt. Denn Torres‘ Film wird nicht verboten, sondern läuft nur wenige Tage in einem einzigen Kino in Havanna, dem Cine Yara. „Es war unmöglich, als normaler Bürger in das Kino zu kommen. Die Karten wurden ausschließlich an paramilitärische Gruppen, wie die „Brigaden für die schnelle Antwort”, verkauft. Und die blieben meist für zwei oder drei Vorstellungen im Kino sitzen”, erzählt Escobar. „Am Ende der Vorstellungen sind die Trupps aufgesprungen und haben die Parteiparolen „Es Nele Husmann Kuba lebe die Revolution” und „Heimat oder Tod” gebrüllt. Das sollte eindrucksvoll demonstrieren, dass das Volk gegen diesen kontrarevolutionären Film war”.Doch nach Escobars Angaben kannte fast jeder Bürger Havannas einen der ins Kino abbestellten Linientreuen – deshalb wurde dieses politische Manöver schnell durchschaut. Die offizielle Erklärung dieser Handlung weicht nur wenig ab: „Der Film ist von Parteihardlinern eingesetzt worden, um das ICAIC zu demontieren”, erklärt Mario Piedra. Denn der Film war, vor der eigenartigen Uraufführung in Kuba, im Juni 1990, schon ohne große Probleme im Januar auf die Berlinale geschickt worden und hatte dort einen Preis gewonnen. Hintergrund der Aktion: Die Partei plante, das ICAIC mit dem Fernsehen und der Kinoabteilung der „Bewaffneten Kräfte” zusammenzulegen, um kurz nach Ausbruch der Wirtschaftskrise Geld einzusparen. Die Mitarbeiter des ICAIC wehrten sich mit Händen und Füßen. „In diesem Moment kam die Order der Regierung, ich betone, nicht des Chefkommandanten, Alicia im Cine Yara zu zeigen”, sagt Piedra. „Die Parteifreunde wurden gezielt aufgefordert hinzugehen, und einen kontrarevolutionären Film zu sehen. Die Zeitungen druckten Verrisse über den Film, die jedoch nicht von den üblichen Filmkritikern geschrieben waren”. Die Aktion misslang laut Piedra gründlich: „Die Parteimilitanten erwarteten etwas schreckliches, doch sie kamen aus dem Kino und sagten: Das war doch nicht kontrarevolutionär, sondern einfach nur ein kritischer, abgehobener Film”. Hinzu kam, dass der Film symbolisch so überladen ist, dass eine Vielzahl, der zum Anschauen gezwungenen Zuschauer, ihn schlichtweg nicht verstand. Aber keiner sagte das, was die Regierung hören wollte: „Schließt das ICAIC”. Nach dieser Schlappe ordert Fidel Castro persönlich Alfredo Guevara aus Paris zurück in den Chefsessel des ICAIC. Guevara hält als erstes eine beherzte Rede, in der er Diaz Torres rehabilitiert. Aber Diaz Torres filmt später nie wieder Filme mit derart heftiger Kritik (siehe Interview). Auch um den Film „Guantanamera“, den der Starregisseur Tomas Gutierrez Alea 1995 kurz vor seinem Krebstod fertigstellte, gab es Rummel, aber erst lange nach seiner Uraufführung. Die Komödie handelt von einer Direktive, die es zu Zeiten der Ölknappheit auf Kuba wirklich gab, und führt sie spielerisch ins Absurde: Die Bürokratie verlangte Anfang der 90er Jahre, das Tote, bei ihrer Überführung über die Insel, an jeder Provinzgrenze umgeladen werden, damit das Benzin jeder Provinz nur innerhalb ihrer Grenzen verfahren würde. Im Film wird als erste Leiche ausgerechnet die Schwiegermutter des Ideengebers nach der neuen Methode verfrachtet, und nach etlichen Wirren entdeckt der Hauptdarsteller, dass ein wildfremder Mann an der Stelle seiner Schwiegermutter beerdigt wird. Kuba Nele Husmann Das Publikum lachte damals herzhaft über den Film, und die Kritiker würdigten ihn übereinstimmend als „weder den besten, noch den gewagtesten Film Gutierrez Aleas. Doch am 26. Februar 1998, gegen ein Uhr Nachts, greift Fidel Castro, am Ende einer im Fernsehen live übertragenen, siebeneinhalbstündigen Rede, den Film drastisch an: „Das ist ein kontrarevolutionäres Filmchen, das es zu bekämpfen gilt. Nicht solche Komödien brauchen wir, sondern Filme, die den Heroismus und die Errungenschaften der Revolution feiern”. Reynaldo Escobar berichtet: „Die Welt der kubanischen Intellektuellen fuhr erschreckt zusammen. Wochenlang erwarteten wir, dass dieser Abschnitt der Rede in der Parteizeitung Granma abgedruckt würde, was bedeutet, dass das Wort Castros in eine Direktive umgesetzt wird. Leicht hätte sich ein Rückfall in die Zeit von 1971 bis 1976 abspielen können, die einer Kulturrevolution à la Peking glich”, sagt Escobar. Doch das Problem löst sich diplomatisch: Guevara bekennt sich auf einer Pressekonferenz kurz darauf zur Revolution und zu Fidel Castro, sagt aber, dass es sich bei dem Angriff gegen „Guantanamera” um ein Missverständnis handele. „Castro musste damals gleich mehrere Schritte zurückgehen”, erzählt auch Mario Piedra vom ICAIC. Es wird kolportiert, dass Castro später in kleinem Kreis zugab, den Film nicht persönlich gesehen und nicht gewusst zu haben, dass er vom Starregisseur Gutierrez Alea sei. „Der Angriff auf Gutierrez Alea war eine Ungeheuerlichkeit”, regt sich Escobar noch heute auf. „Denn Tomas war das personifizierte Argument, dass im sozialistischen Kuba keineswegs eine alles lähmende, politische Zensur herrsche. Es reichte aus, auf seine Werke hinzuweisen, um kundzutun, dass kritische Kunst innerhalb der Revolution sehr wohl möglich sei. Wer in Kuba fehlende politische Freiheit beklagte, dem hielten Verfechter des Systems entgegen, was ihnen fehle, sei nicht Freiheit, sondern Talent”. Wo Freiheit aufhört und Selbstzensur anfängt, ist schwer zu unterscheiden. Auf dem Filmfest des Cubanacan-Laien-Filmclubs in Santa Clara wurden rund fünfzig Dokumentar-Videofilme von interessierten Laien gezeigt. Fast die Hälfte handelten von sozialen Themen, die wenig Gefahrenpotential bergen: Einrichtungen für Blinde, Taube und Kinder mit Downsyndrom. Der Tenor ist: Sei froh und dem Staat dankbar – es gibt keine einzige negative Stimme. Auch die anderen Werke beschäftigten sich mit harmlosen Themen aus dem Umfeld der Amateure. Der Vorsitzende des Filmclubs Cubanacan, Miguel Secades, beteuert, es gäbe keine zensierende Instanz, und dass sehr wohl immer wieder kritische Filme entstünden. „Es handelt sich dabei um Selbstzensur”, sagt Reynaldo Escobar. Die Laien-Festivals sind eine Art Trampolin, um auch im Fernsehen gesendet zu werden – deshalb entstehen hauptsächlich Filme, die dem Staat gefallen könnten. „Man macht das, was sich verkauft”, sagt der Journalist, „nur dass es in Kuba keinen gibt, der kauft, aber einen, der autorisiert!” Nele Husmann Kuba Die Erfahrungen von Pedro, einem chilenischen Revolutionskämpfer, der seit Jahren in Kuba lebt, bestätigen diese These. Pedro ist Hobbyfilmer, der auf einigen Laienfestivals Preise kassiert hat, und dessen Filme sowohl im belgischen, wie im schwedischen Fernsehen gezeigt wurden. „Ins kubanische Fernsehen habe ich es nicht geschafft”, erklärt er, „weil ich darauf bestanden habe, nichts wesentliches aus den Filmen herauszuschneiden”. Im ersten Fall handelt es sich um „Von Angesicht zu Angesicht”, einer Dokumentation über das Leben einer Aids-Kranken im Endstadium. Zufällig starb sie einen Tag nach den Dreharbeiten. „Wir fragten sie, wie sie und ihre Freunde sich mit AIDS ansteckten, und sie antwortete: „Durch Sex, einige aber auch durch Selbstinfizierung.”, erzählt Pedro. Damit berührte die Kranke ein kubanisches Tabuthema: Anfang der 90er Jahre wurden die Aids-Kranken in Spezialkrankenhäusern kaserniert, die ihnen materiell einen guten Lebensstandard boten. Als viele während der Wirtschaftskrise hungerten, steckten sich etliche Jugendliche absichtlich an, um in den Genuss der Sonderbehandlung zu kommen. „Das Fernsehen bot mir an, den Film zu senden, wenn ich diese Stelle herausschneide. Doch das war gegen meine Moral”, erzählt Pedro. Der zweite Film heißt „Schmetterlinge aus Papier” und bringt eine bekehrte Dirne aus den Jahren vor der Revolution und eine Jinetera, wie die leichten Mädchen, die sich für Touristen prostituieren, genannt werden, im Gespräch zusammen. „In dem Film tauchten natürlich die großen Tourismuszentren mit den Prostituierten auf, und wieder forderte das Fernsehen: Lass diese Szenen weg, und wir senden den Film”, sagt Pedro. „Es ist für die Partei ein Riesenunterschied, ob vielleicht maximal 2000 Leute den Film auf verschiedenen Filmfesten sehen, oder ob er im Fernsehen vor fünf Millionen Menschen läuft”. Pedro erzählt von einem jungen Freund, der zwei äußerst gewagte Filme drehte. Einen über die verheerende Situation der Alten während der Periodo Especial, den anderen über Probleme, die die Freigabe des Dollars als Zweitwährung in Kuba auslöste: „Jetzt arbeitet er fürs Fernsehen, als Redakteur einer Witze-Sendung. Der Staat hat ihn auf ganz elegante Weise mundtot gemacht”. Interview mit Fernando Perez Fernando Perez gilt als einer der besten lebenden Regisseure Kubas. Sein letztes Werk, „Das Leben heißt Pfeifen“, wurde für den spanischen Filmpreis Goya nominiert. Frage: In einer Schlüsselszene des Films überfällt die Protagonistin eine herzhafte Gähnattacke, ausgerechnet während die kommunistische Partei Kubas Kuba Nele Husmann ihr einen Preis überreicht. Wie sind solche Bilder im staatlichen, kubanischen Film möglich? Perez: Ich konnte immer alles machen, was ich wollte – ohne Einschränkungen. Das Fernsehen und die Zeitungen stehen unter starker Kontrolle, aber Kunstformen wie Kino und Theater sind offener. Wir haben mehr Freiheit, als die internationale Presse darstellt. Mir gefällt es aber nicht, als kritisch zu gelten. Ich versuche nur, die Wirklichkeit auf Kuba darzustellen – und die lässt sich nicht schwarz und weiß zeichnen. Frage: Wie ist der Titel „Das Leben heißt Pfeifen“ zu verstehen? Perez: Der Titel ist etwas ironisch gemeint, weil es im Leben um so viel mehr geht, als nur zu pfeifen. Keiner pfeift, wenn er traurig ist. In der Schlussszene, auf dem Platz der Revolution, treffen die Hauptpersonen der drei Handlungsstränge des Films zusammen. Meine Tochter Bebe, die im Film mitwirkt, muss dabei gleichzeitig weinen und pfeifen. Vor dem Dreh verzweifelte sie, weil sie glaubte, das ginge nicht. Doch ich sagte ihr: „Davon handelt das ganze Leben. Man muss in den schlimmsten Situationen optimistisch bleiben“. Das zentrale Thema des Films ist die Suche nach dem persönlichen Glück. Es geht um Freiheit und Individualismus. Frage: Also um die uramerikanische „Pursuit of Happiness“ – den Traum vom Glück? Perez: Ich weiß bereits seit langem, dass die Suche nach dem Glück eine individuelle Suche ist. Der Mensch hat auch kollektive Träume, aber selbst die werden individuell ausgeführt. Ich glaube nicht an Utopien. Mein Film sagt den Menschen, dass sie keine Angst haben sollen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Die Individualität darf nicht sterben. Deshalb findet die letzte Szene auch auf dem Platz der Revolution statt – ein Ort, der für jeden Kubaner eine besondere Bedeutung hat. Frage: Diese Aussage steht im Gegensatz zu Tomas Gutierrez Aleas Meisterstück „Memorias del Subdesarollo – Erinnerungen an die Unterentwicklung“ von 1968. Sein Antiheld Sergio, ein bürgerlicher Individualist, hat Schwierigkeiten, sich in die neue gemeinschaftliche Ordnung nach der Revolution einzufügen – und er wirkt recht unsympathisch dabei. Perez: Beide Filme drücken ein Gefühl aus, das die Menschen zu der Zeit bewegte, als die Filme gedreht wurden. Mein Film ist aus den neunziger Jahren, Thomas‘ aus den Sechzigern, nach der Revolution. In dem kollektiven Prozess einer Revolution wird man überrannt, wenn man nicht aufpasst. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen den Filmen: Sergio ist ganz passiv, lässt alles geschehen. Meine Helden rennen zum Platz der Revolution, auf der Suche nach ihrem Glück. Sergio würde langsam schreiten. Frage: Inwiefern sind Sie in ihrer Arbeit von der wirtschaftlichen Krise Kubas betroffen? Nele Husmann Kuba Perez: Ich bin sehr privilegiert. Selbst 1994, mitten in der „Periodo Especial“, wie wir die Wirtschaftskrise nennen, konnte ich den Film „Madagaskar“ drehen. Doch leider bin ich nicht die Regel. Die neunziger Jahre haben das kubanische Kino in eine tiefe Krise gestürzt. Eine neue, vielversprechende Generation von Filmschaffenden konnte nie filmen und ihre Ideen verwirklichen. So verlor das kubanische Kino dramatisch an Dynamik. Doch jetzt geht es wieder aufwärts. Auf diesen Filmfestspielen werden zwei kubanische Koproduktionen gezeigt. Frage: Woher nehmen Sie den Optimismus? Ist es nicht eine Frage der Zeit, bis Kuba wieder aus der Mode gerät und die Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen? Dann wird Kuba nur noch so viel produzieren können, wie die kleine Insel aus eigener Kraft schafft. Perez: Ich bin so zuversichtlich, weil selbst in der größten Krise, als viele hungerten, weitergefilmt wurde – ein Wunder, das es in keinem anderen Land der Welt gegeben hätte. Solange wir hier keinen Mainstream produzieren und das Kino seine kubanische Identität behält, werden wir international von Gewicht bleiben. Wir machen schließlich kein Kino, um die Kassen zu füllen, sondern um einen intellektuellen Dialog anzuregen. Frage: Mit dem Tod von Tomas Gutierrez Alea hat das kubanische Kino seinen wichtigsten Produzenten verloren. Wo ist der Nachwuchs? Perez: Es gibt so viele gute, junge Leute, dass ich gar keine einzelnen nennen mag. Wir Alten lassen sie immer bei Projekten mitmachen, damit sie lernen können. Hätte ich die Millionen von Francis Ford Coppola, ich würde sie unter unserem Nachwuchs in Havanna verteilen. Heraus kämen ganz wunderbare Arbeiten. Frage: An welchen Projekten arbeiten Sie gerade? Perez: Ich denke gleichzeitig über drei nach. Die italienische Autorin Anna Assenza gab mir die Rechte, ihre Lebensgeschichte zu verfilmen. Gerade schreibe ich das Drehbuch, und vielleicht kann ich nächstes Jahr in Italien filmen. Noch fehlt aber die Finanzierung. Auch das zweite Projekt ist sehr teuer, so dass ich es eher langfristig planen muss. Ich möchte die Geschichte des kubanischen Marathonläufers Andarin Carvajal erzählen, der mit allen Mitteln kämpfte, um an der Olympiade in San Diego 1903 teilzunehmen. Das dritte Projekt ist leichter zu verwirklichen: Eine einfache Liebesgeschichte, die hier in Havanna spielt. Sie wird eine Hommage an den französischen Regisseur Rene Clair, dem seine Produzenten das Ende seines Films umgeschrieben haben. Meine Geschichte wird das Ende haben, das er damals nicht durchsetzen konnte. Kuba Nele Husmann Die Ausbildung Rund eine Stunde dauert die Fahrt von Havanna, ehe man nach einer kilometerlangen Palmenallee auf einen schlichten, mehrstöckigen Plattenbau trifft. Kein Schild weist den Weg. San Antonio de los Banos ist zwar nur 35 Kilometer von Havanna entfernt, doch die Distanz könnte kaum größer sein: Hier die temperamentvolle, laute Metropole, dort flaches Land. Der große Schulkomplex liegt inmitten von landwirtschaftlichen Kooperativen. Zwischen Orangenplantagen lernt der Nachwuchs des lateinamerikanischen Kinos sein Handwerkszeug, in der Internationalen Schule für Kino und Fernsehen, EICTV. „Auch wenn der Ort hier abgeschieden erscheint, ist es spannend”, erzählt Ariana, eine 28-jährige Austauschschülerin von der Kunsthochschule für Medien in Köln. „Es geht hier zu, wie auf einem großen Hochzeitsbasar”. Das sieht der Direktor der Schule, der argentinische Drehbuchautor Alberto Garcia Ferrer, etwas anders: „Der Ort hier ist wie ein Kloster. Der Arbeitstag läuft von neun Uhr morgens bis elf Uhr abends”. Der Ort ist mit umfangreichen Sportanlagen ausgestattet – es gibt sogar ein großzügiges Schwimmbecken. Die EICTV wurde im Dezember 1986 gegründet, als eine „Institution für die Formierung und technisch-künstlerische Ausbildung von professionellen Fernseh- Film- und Videoschaffenden, die hauptsächlich aus Lateinamerika und der Karibik, Afrika und Asien stammen sollten”, heißt es in der Informationsbroschüre. Der damalige Chef des ICAIC, Julio Garcia Espinosa, begeisterte Fidel Castro von der Idee, eine Kino-Schule für junge Lateinamerikaner zu gründen. „Der kubanische Staat war so großzügig und hat nicht nur das Schulgebäude gestiftet, sondern gewährt auch jährliche, finanzielle Zuwendungen”, erklärt Ferrer. Denn das Schulgeld von 5000 Dollar im ersten und 7000 Dollar im zweiten Schuljahr deckt die Kosten bei weitem nicht. Seit Gründung haben 277 Studenten aus 36 Ländern die Schule absolviert. Zusätzlich gab es Werkstattkurse für 2095 Externe. Die Stiftung des „Neuen Lateinamerikanischen Films“ ist der offizielle Schirmherr der Schule, ihr Präsident kein geringerer als der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez. „Er kommt in der Regel zwei bis dreimal im Jahr zu Besuch”, sagt Ferrer, „und gibt einen Kurs im Drehbuchschreiben”. Die Ausbildung an der EICTV dauert zwei Jahre. Im ersten Jahr durchlaufen alle Schüler die Stationen Regie, Produktion, Drehbuch, Fotografie und Schnitt. Im zweiten Jahr suchen sie sich dann ein Metier aus. „Die Schule ist sehr praxisbezogen”, erklärt Ariana. „Die Professoren sind echte Profis und keine Theoretiker“. Der Erfolg gibt der Schule recht: 14 Filme von Absolventen sind bereits mit Preisen ausgezeichnet worden. Arturo Soto, der Regisseur von „Denk an mich”, ist der erfolgreichste kubanische Graduierte. Ein Nele Husmann Kuba ungewöhnlich hoher Prozentsatz der Ehemaligen arbeitet in kinobezogenen Berufen. „Es ist sehr hilfreich für den späteren Beruf, alle Bereiche der Filmwirtschaft kennengelernt zu haben”, sagt die 27-jährige Veronica aus Bolivien, die die Schule vor fünf Jahren besucht hat. Seither hat sie an sechs Kurzfilmen mitgearbeitet, aber immer in verschiedenen Positionen. Eigentlich ist sie auf Drehbuch spezialisiert, doch sie hat auch schon als Regieassistentin oder Verantwortliche für den Ton gearbeitet. Veronica setzt sich mit anderen Schülern in die etwas schäbige Kantine, die alle Schüler kostenlos versorgt. Die Schule hat eine exakt festgelegte Quote, wieviele Schüler aus welchen Ländern aufgenommen werden. Nur zwei bis vier stammen aus Kuba. „Als Kubaner habe ich die gleiche Aufnahmeprüfung absolviert wie alle anderen. Nur, dass ich das Schulgeld nicht in Dollars, sondern die gleiche Summe in kubanischen Pesos bezahle”, erzählt der 27-jährige Manuel. Das heißt, er zahlt nach dem staatlich festgelegten Sortenwechselkurs nur den zwanzigsten Teil dessen, was die anderen Schüler aufbringen. Manuel ist begeistert von der Schule: „Das Tolle hier ist die Internationalität. Das ist wie beim Arbeiten für den Film oder das Fernsehen: Du triffst eine Menge Leute mit sehr verschiedenen Meinungen und Hintergründen. Und Du lernst, Dich damit auseinanderzusetzen oder auch einfach, die Andersartigkeit zu tolerieren“. Doch die EICTV ist nicht die einzige kubanische Filmschule, die eine Menge Studenten aus der ganzen Welt anzieht. Die Universität der Künste in Havanna, die ISA, bietet einen besonderen Studiengang fürs Kino an. Er wird von rund 100 Kubanern und 40 ausländischen Studenten, vorwiegend aus Lateinamerika, besucht. „Die Ausbildung hier ist exzellent” sagt der 25-jährige Tarick aus Ecuador, „und ausgesprochen billig.” Er und seine ausländischen Kommilitonen zahlen 2500 Dollar Studiengebühr pro Jahr. Ihr Studium dauert fünf Jahre. Im Gegensatz zu der EICTV ist die ISA weniger verschult, bietet dafür aber weniger Praxis. „Ihr stehen einfach nicht die gleichen Mittel zur Verfügung wie uns”, sagt auch Ferrer. Oft gibt es nur zwei oder drei Unterrichtsstunden in einer ganzen Woche. Andres, 23 Jahre, aus Kolumbien, studiert schon seit zweieinhalb Jahren an der ISA. „Mich zieht nicht allein das günstige Leben in Havanna an, obwohl es in der Welt wohl einzigartig ist, für weniger als einen Dollar ins Kino, ins Theater oder in Musikkonzerte gehen zu können”. Wichtiger für ihn ist die Freundlichkeit der Kubaner: „In Kolumbien hätte ich keine Chance, auch nur mit einem drittklassigen Fernsehregisseur zu sprechen. Hier in Kuba hingegen, kennen die Leute überhaupt keine Starallüren, sondern sind freundlich, offen und hilfsbereit, selbst wenn es sich um echte, erstklassige Berühmtheiten handelt”. Kuba Nele Husmann Deutsches Kino in Kuba Peter Timm ist zufrieden: Seine zwei Wochen in Kuba sind fast vorbei, und er hat jede Menge Stoff für seinen neuen Film. Der deutsche Regisseur, der mit „Go, Trabi, Go” seinen größten Hit landete, will einen Film auf Kuba drehen: „Bis Mitte 2000 steht das Drehbuch, und in zwei Jahren, also Ende 2001, ist der Film fertig”. Die Protagonistin, eine junge Managerin eines deutschen Tourismuskonzerns, soll auf Kuba einen Ort für ein neues Hotel suchen. Doch sie verliert ihre Koffer, ihr Geld und ihr ganzes Equipment, so dass sie allein auf der Insel dasteht und sich im kubanischen Alltag zurechtfinden muss. Sie schlüpft illegal bei einer Familie unter und erlebt den oft sehr skurrilen Alltag Kubas mit Schlangestehen, Lebensmittel- und Wasserknappheit. Sie erfährt, dass die meisten Taxifahrer studierte Ingenieure sind, und dass in den Hotels viele Lehrerinnen als Putzfrauen arbeiten, weil sie mehr Dollar-Trinkgeld erhalten, als ihr gesamter Monatslohn in ihren angestammten Berufen einbringt. „Der Film soll Lust auf Kuba machen, und auch Leute ansprechen, die bereits auf Kuba Urlaub gemacht haben”, sagt Timm. Die Idee zu dem Film ist ihm selbst während eines Familienurlaubs in Varadero, dem größten Strandressort Kubas, gekommen. „Ich habe schon mit der Produktionsgesellschaft des ICAIC, dem staatlichen kubanischen Filminstitut, gesprochen”, erzählt Timm, “und die sind sehr interessiert.” Es geht darum, Ausrüstung und rund 80 Techniker vom ICAIC auszuleihen. „Wenn das nicht geht, lasse ich alles selbst einfliegen. Besonders wichtig: Notstromaggregate”, plant Timm. Er will in nur 40 Drehtagen fertig sein. Kuba ist in – die Musik, die Filme und selbst das nicht allzu einfallsreiche Essen. Kein Wunder, dass jetzt auch deutsche Produktionsgesellschaften und Regisseure die Insel entdecken. Während der Erfolgsfilm „Erdbeere und Schokolade” das internationale Interesse sanft weckte, schlug Wim Wenders Musikfilm „Buena Vista Social Club” ein, wie eine Bombe. Der eher mittelmäßige Dokumentarfilm wurde zu einem echten Kassenschlager. Kaum ein Zuschauer weiß, dass eine Holländerin namens Sonia Herman Dolz schon 1997, zwei Jahre früher, einen ähnlichen, aber wesentlich einfühlsameren Film „Lagrimas Negras – Schwarze Tränen” über eine Musikgruppe aus Santiago de Kuba drehte. Gerade ist die erste deutsch-kubanische Koproduktion, von der deutschen Produktionsgesellschaft BMG finanziert, fertiggestellt worden. „Kleines Tropikana” von Daniel Diaz Torres handelt von einem Deutschen (Peter Lohmeyer in der Hauptrolle) auf Kuba. Jetzt beginnen die Dreharbeiten zu einer weiteren deutsch-kubanischen Koproduktion, „Den Dummen spielen”. Diesmal arbeitet Daniel Diaz Torres mit Kinowelt zusammen (siehe Interview). Nele Husmann Kuba Kubanisches Kino ist im Kommen in Deutschland. Schon seit fünf Jahren findet in Hoechst, bei Frankfurt am Main, ein kleines Filmfest statt, dass ausschließlich kubanische Produktionen zeigt. Hunderte von Interessierten füllen das kleine Programmkino bis zum letzten Platz, und 1999 wurden die Filme erstmals an weitere Kinos in Hessen weitergereicht. Deutsche Filme sind in Kuba dagegen eher Mangelware. Kurz vor den Internationalen Filmfestspielen organisierten verschiedene europäische Botschaften in Havanna gemeinsam eine europäische Filmwoche. Thema: Literaturverfilmungen. Während Portugal mit „Erklärt Perreira” und Österreich mit der Verfilmung von “Schlafes Bruder” recht aktuelle, qualitativ hochwertige Filme lieferten, gab es von deutscher Seite „Maldita” – ein recht dröger Film, aus dem viele Kubaner schon nach zehn Minuten hinausliefen. „Die Idee für die europäische Woche stammte vom spanischen Kulturinstitut”, erklärt Gerhard Trümper, Botschaftssekretär an der deutschen Botschaft in Havanna. „Sie wollten ein Gegengewicht zum zeitgleich stattfindenden iberoamerikanischen Gipfel setzen”. Das Problem war, das jede Botschaft im Heimatland möglichst kostenlos Filme auftreiben musste, und zwar mit spanischen Untertiteln. „Nur vier deutsche Filme erfüllten die Kriterien Untertitel und Literaturverfilmung, und von denen war „Maldita” noch der beste”, gesteht Trümper ein. Auf dem Internationalen Filmfest in Havanna läuft, auf Anregung des Goethe-Instituts in Mexiko-City, seit 1995 regelmäßig eine Reihe aktueller, deutscher Filme. In Kuba selbst gibt es keine Niederlassung. „Wir lassen die Filme für ein Festival in Mexiko City, das jährlich im November stattfindet, untertiteln. Da macht es wenig Mühe, die Filme in Havanna einen Monat später noch einmal zu zeigen”, erklärt Dietmar Geisendorf, der Leiter des Goethe-Instituts in Mexiko-City. 1999 wurden „23”, „Kurz und Schmerzlos”, „Bin ich schön”, „Tod, Liebe, Leben”, „Viehjud Levi” und „Aprilkinder” gezeigt – allerdings läuft jeder Film nur ein einziges Mal. „Wir versuchen, das neue deutsche Kino repräsentativ zu zeigen und ein Bild vom aktuellen Deutschland zu vermitteln”, sagt Geisendorf, der die Filme jedes Jahr auf der Berlinale aussucht. Die Filme werden vom Kulturintermediär Internationes mit Untertiteln versehen – die Kosten teilen sich das Goethe-Institut und Internationes. Später behält Internationes die Rechte und verleiht die Filme, zum Beispiel nach Spanien. Eine freie Mitarbeiterin des Goethe-Instituts, die in Havanna lebt, Petra Röhler, übernimmt die Organisation mit dem ICAIC, wann und in welchem Kino welcher Film gezeigt wird. So lief 1995 eine Wim-Wenders-Reihe und der Stummfilm „Metropolis” mit Klavierbegleitung. 1996 gab es eine WernerHerzog-Retrospektive und 1997 wurden Filme von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta gezeigt. 1998 und 1999 liefen neue deutsche Filme. Kuba Nele Husmann Außerdem initiiert Röhler gemeinsam mit der kubanischen Cinemathek Retrospektiven deutscher Filme. So gab es 1999, anlässlich des Goethejahrs, eine Reihe von Goetheverfilmungen. Die Filmeinkäufer vom ICAIC hingegen haben schon lange keine deutschen Filme mehr eingekauft – seit dem Zusammenbruch der DDR. „Trotz einiger Bemühungen haben wir bisher nicht den Kontakt zu den richtigen Leuten bekommen”, erklärt Roberto Smith de Castro, Chefeinkäufer des ICAIC. „Aber es gibt auch keine Initiativen von Seiten der Deutschen, ihre Filme nach Lateinamerika zu bringen. Dabei könnte Kuba doch ein perfekter Brückenkopf nach Lateinamerika sein”. Interview mit Daniel Diaz Torres Der kubanische Regisseur ist durch den satirischen Skandalfilm „Alice im Wunderdorf ” berühmt geworden. Der letzte Film „Kleines Tropikana” war eine deutsche Koproduktion mit Peter Lohmeyer in der Hauptrolle. Frage: An welchem Projekt arbeiten Sie zur Zeit? Diaz Torres: An einer bittersüßen Komödie mit dem Titel „Hacerse el Sueco (wörtlich: Den Schweden machen) – Den Dummen spielen”. Wieder soll Peter Lohmeyer die Hauptrolle spielen, diesmal als Ausländer, der nach Kuba kommt, um Touristen über das Ohr zu hauen. Er kommt im Haushalt eines Ex-Polizisten unter, was einige Turbulenzen nach sich zieht. Er verliebt sich in Alicia, die Tochter des Ex-Polizisten. Am Ende verändern sich Peter und der Ex-Polizist. Frage: Also schon wieder eine Alicia. Ist das eine bewusste Anspielung auf ihren politisch anstößigen Film: „Alice im Wunderdorf“? Diaz Torres: Mir gefällt einfach der Name sehr. Mehr nicht. Außerdem arbeite ich wieder mit dem gleichen Drehbuchautor wie damals zusammen. „Alicia“ ist eine Satire, die Ende 1987 als Idee entstand und ganz typisch für die Zeit ist. Der jetzige Film wird eher eine traurige Komödie. Frage: Ohne jegliche gesellschaftliche Kritik? Diaz Torres: Höchstens da, wo sie in den Film hineinpasst. Alles andere wäre sehr oberflächlich. Ich arbeite diesmal – zum ersten Mal – sehr intensiv an den einzelnen Charakteren. Die Zuschauer sollen an die Leute glauben können. „Den Dummen spielen” wird wie ein realistisches Märchen, das in Havanna Centro, einem etwas heruntergekommenen Stadtteil Havannas, spielt. Natürlich gibt es Lokalkolorit. Wenn ich aber zu viele nationale Probleme einbringe, verliert das internationale Publikum schnell das Interesse. Es würde eine einzige, örtliche Selbstschau. Frage: Heißt das auch, dass Sie jetzt auf die ausländischen Geldgeber Rücksicht nehmen müssen? Nele Husmann Kuba Diaz Torres: Systemkritische Filme bleiben auf nationalem Niveau und interessieren kein weltweites Publikum. Es ist nicht leicht, dafür Geldgeber zu finden. Keine ausländische Produktionsgesellschaft wartet auf eine Koproduktion mit Kuba. Da ich schon einen internationalen Film gedreht habe, hatte ich es etwas leichter als andere. Frage: Seit den Problemen mit Alicia haben Sie sich völlig auf recht unpolitische Komödien zurückgezogen. Warum? Dürfen Sie etwa nicht? Diaz Torres: Die Zeit damals war sehr unangenehm und sehr widersprüchlich. Aber zum Schluss löste sich alles auf, und ich konnte alle Filme realisieren, die ich wollte. Andere Filme, als die, die ich gemacht habe, hätten mich nicht interessiert. Der Humor war mir immer wichtig, aber nicht so überdreht wie in „Alicia“. Jetzt neige ich zu etwas reflektierteren Arbeiten. Man muss ehrlich sein mit sich selbst und seine eigene Sicht vertreten. Und ich habe keine Angst vor dem Wort Komödie. Ein Film kann lustig und trotzdem tiefgründig sein. Wichtig für die Kinolandschaft jedes Landes ist, dass es eine Vielfalt der Stilarten gibt: Publikumsschlager wie „Ein Paradies unter den Sternen” von Gerardo Chijona und gleichzeitig kritische, weniger eingängige Werke wie „Madagaskar“ und „Das Leben heißt Pfeifen” von Fernando Perez. Frage: Wie wird „Den Dummen spielen” finanziert? Diaz Torres: Ich rechne damit, dass der Film etwa eine Million Dollar kosten wird. Die Dreharbeiten starten Mitte Januar 2000 und dauern rund sieben bis acht Wochen. Das ICAIC gibt etwas Geld, aber das meiste stammt von Kinowelt, unserem deutschen Koproduzenten. Frage: Hat sich das Niveau der kubanischen Filme verschlechtert, seit es Koproduktionen gibt? Werden jetzt Projekte bevorzugt, die Kassenschlager sein könnten, statt auf den intellektuellen Anspruch zu achten? Das ICAIC kann ja kaum noch über die Realisierung von Projekten entscheiden, weil das Geld fehlt. Diaz Torres: Nein. Filme wie „Erdbeere und Schokolade” und „Das Leben heißt pfeifen” wurden koproduziert, und es sind beides anspruchsvolle Werke. Andererseits wurden hier in Kuba, auch unter der alleinigen Regie des ICAIC, schon extrem schlechte Drehbücher umgesetzt. Es gab Filme, die überhaupt kein Publikum fanden. Früher war nicht alles besser. Frage: Wie sieht ihre persönliche, finanzielle Situation als Regisseur aus? Verdienen Sie mehr, wenn es sich um eine Koproduktion handelt? Diaz Torres: In Kuba erhalten alle Regisseure feste Monatsgehälter in Peso, die nicht sehr hoch sind. Dafür ist das Leben hier sehr preiswert, man braucht nicht sehr viel Geld. Die Koproduktion bringt mir persönlich finanziell nichts. Kein Kubaner macht Kino, um damit reich zu werden. Kuba Nele Husmann Neue kubanische Filme Zwei kubanische Filme haben auf dem Filmfest ihre Premiere gefeiert. Operación Fangio – Die Operation Fangio Diese kubanisch-argentinische Koproduktion spielt im Havanna der frühen Fünfziger Jahre und gibt eine wahre Begebenheit frei wieder. Der unbeliebte kubanische Diktator Fulgencio Batista hält ein Formel-1-Rennen auf dem Malecon ab – als Shootingstar kommt der legendäre Weltmeister Fangio aus Argentinien. Doch die „Bewegung 26. Juli“ – benannt nach dem Jahrestag des ersten, gescheiterten Revolutionsversuchs Castros beim Angriff auf die MoncadaKaserne – kidnappt die Hauptperson: Fangio. Die Gruppe junger, wohlhabender und gebildeter Kubaner versucht ihr möglichstes, es ihrem Opfer nicht nur bequem zu machen, sondern ihn auch von der Richtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Das will kaum gelingen – bis es während des Rennens zu einem tödlichen Unfall, genau vor der US-Botschaft kommt. Nachdem alle Versuche des Regimes, den Rennfahrer pünktlich vor dem Start zu befreien, gescheitert sind, ändert sich die Strategie der Polizei: Fangio soll sterben, um die Schuld der „Bewegung 26. Juli“ anzulasten. Ein spannender Krimi um das Leben des Rennfahrers setzt ein. Wäre das Drehbuch nicht gemeinschaftlich von Kubanern und Argentiniern geschrieben worden, möchte man den dargestellten Edelmut der Revolutionäre kaum glauben. So aber ist der Film eine spannende und gut gelungene Unterhaltung. Un paraiso bajo las estrellas – Ein Paradies unter Palmen Der Film von Gerardo Chijona ist eine perfekte Verwechslungskomödie. Rita, die Tochter einer Kabaretttänzerin im berühmten Tropikana, fängt gegen den Willen ihres Vaters dort an – und wird direkt Primaballerina, weil sie dem Chef des Tropikana so gut gefällt. Sie verliebt sich in einen jungen Mann, wird schwanger und heiratet. Dann kommt das Kind. Zum Entsetzen aller ist es schwarz – wie der Chef vom Tropikana! Natürlich löst sich in der Komödie alles in Wohlgefallen auf. Der Film operiert mit ein paar schon etwas alten, kubanischen Witzen, wie zum Beispiel: Der Vater, auf dem Totenbett, schreckt wieder auf, und sagt: „Sie haben mich nicht in den Himmel gelassen, dort wird alles mit Dollars bezahlt”. Die Pressesprecherin des ICAIC, Mirtha, schwärmt: „Das ist echtes Kino – dem Film ist der Publikumspreis der Festspiele sicher”, der TAZKritiker stöhnt: „Das ist ja das reinste Hollywood-Kino”. Beide behalten recht. Nele Husmann Kuba Neue Projekte für das Jahr 2000 Hacerse el Sueco – Den Dummen spielen Regie: Daniel Diaz Torres Drehbuch: Daniel Diaz Torres und Eduardo del Llano Produktion: ICAIC, Kinowelt – Igeldo SA(Deutschland-Spanien), Impala (Spanien) Inhalt: Siehe Interview mit Diaz Torres Las Noches de Constantinopla – Die Nächte von Konstantinopel Regie: Orlando Rojas Drehbuch: Orlando Rojas und Manuel A. Rodriguez Produktion: ICAIC, El Paso (Spanien) mit Unterstützung von Ibermedia Inhalt: Der junge Hernan gewinnt einen bedeutenden Preis bei einem Wettbewerb für erotische Literatur. Vor Schreck fällt seine Oma in ein Koma. Zuvor hatte die diktatorische, autoritäre Alte ihn zur Strafe mit dem Bewachen ihres Hauses beauftragt. Jetzt legt sich ein Hauch von Freiheit über die ganze Familie, die der Junge kaum noch im Zaum halten kann. Miel para Ochun – Honig für Ochun Regie: Humberto Solas Drehbuch: Elia Solas Produktion: ICAIC Inhalt: Roberto, 36 Jahre, kehrt nach dem Tod seines Vaters nach Kuba zurück, nachdem er die meiste Zeit seines Lebens im Ausland verbracht hat. Er ist davon besessen, seine Mutter zu finden. Doch um ihn herum brechen jede Menge Konflikte aus. Seine Kusine Pilar und der Taxifahrer Antonio sorgen dafür, dass diese Saga sich in völlig neue Richtungen entwickelt. Honig für Ochun – das bezieht sich auf die afrokubanische Religion in Kuba. Fast alle Häuser haben einen kleinen Altar für die wichtigsten Götter wie Ochun. Um sie zu besänftigen, werden ihnen Opfergaben gebracht, wie Parfüm, Rum oder eben Honig. Kommando Vampiro en La Habana – Kommando Vampir in Havanna Regie: Juan Padron Drehbuch: Juan Padron Produktion: ICAIC, ISKRA Inhalt: Zehn Jahre nach dem extrem beliebten Komikfilm “Vampire in Havanna” dreht Juan Padron die Fortsetzung. Im ersten Film hatte Vampisol” dafür gesorgt, dass die Vampire auch bei Tageslicht nach Herzenslust Blut saugen können. Im zweiten Film erscheint die veränderte Formel Vampisol 2 auf dem Schwarzmarkt. Es wird in den Kellern des berühmten Clubs Pepitos her- Kuba Nele Husmann gestellt. Das neue Produkt wird während des zweiten Weltkrieges von Nazis in einer der größten und gefährlichsten Operationen eingesetzt, ohne dass seine Schöpfer, die Vampire, Verdacht schöpfen. Nada – Nichts Regie: Juan Carlos Cremata Drehbuch: Juan Carlos Cremata und Manuel Rodriguez Produktion: ICAIC, DMVB Films (Frankreich), PHS Films (Spanien) Inhalt: Dieser Film soll der erste Part eines Dreiteilers “Nichts”, “Niemals” und “Niemand” werden. Gehen und nicht Gehen, das ist die Frage für die junge Carla, die als Angestellte in einem Postamt arbeitet. Ihre Eltern wandern nach Miami aus und schreiben sie in eine Lotterie ein, damit sie eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhält. Eines Tages verschüttet Carla im Postamt versehentlich Kaffee über einen Brief und entdeckt so ihre Leidenschaft, heimlich anderen Menschen zu helfen. Lista de Espera – Warteliste Regie: Juan Carlos Tabio Drehbuch: Arturo Arango, Juan Carlos Tabio, mit der Mitarbeit von Senel Paz Produktion: ICAIC, Tornasol Films (Spanien), Amaranta (Mexiko), DMVB Films (Frankreich) und Unterstützung von Ibermedia Inhalt: 1993, als das öffentliche Transportsystem Kubas wegen Benzinmangels fast komplett zum Erliegen gekommen ist, steht ein kaputter Omnibus am Busterminal. Emilio, Jaqueline und die anderen, die auf der Warteliste für diesen Bus standen, kommen sich auf der Suche nach Lösungen für ihr Transportproblem immer näher. Pata Negra – Schinken Regie: Luis Oliveros Drehbuch: Manuel Perez Paredes und Jose Maria Sacristan Produktion: ICAIC, El Paso (Spanien), Izaro Films (Spanien) Inhalt: Jose wird von einem japanischen Multikonzern in lateinamerikanische Länder geschickt, um dort die Möglichkeiten auszutesten, eine Schweinezucht für Schinken aufzubauen. In der Karibik erlebt er das größte Abenteuer seines Lebens. La Mafia en La Habana – Die Mafia in Havanna Regie: Ana Diez Drehbuch: Manuel Perez Paredes Produktion: ICAIC, Igeldo (Spanien?) Komunikazioa (Spanien), Impala (Spanien) Canal Plus (Spanien) mit TV Espanola und der Unterstützung von Eurimages und Ibermedia Nele Husmann Kuba Inhalt: Ein Dokudrama über die Präsenz und den Einfluss der Mafia im Havanna vor der Revolution. Mit eindrucksvollen Archivaufnahmen, Musik dieser Epoche und Zeitzeugen. Projekte des ICAIC in der Entwicklungsphase, für die noch keine Koproduzenten gefunden worden sind: Entre Ciclones – Zwischen Wirbelstürmen Regie: Enrique Colina Drehbuch: Antonio Jose Ponte, Eliseo Altunaga und Enrique Colina Cita con Gertrudis – Verabredung mit Gertrud Regie: Mayra Vilasis Drehbuch: Mayra Vilasis El Barbaro del Ritmo – Der Barbier mit Rhythmus Regie: Jorge L. Sanchez Drehbuch: Jorge L. Sanchez Miradas – Blicke Regie: Enrique Alvarez Drehbuch: Sigfrido Ariel und Enrique Alvarez Roble de Olor – Duftende Eiche Regie: Rigoberto Lopez Drehbuch: Rigoberto Lopez und Eugenio Hernandez Espinosa Danke Ich möchte mich von ganzem Herzen bei der Heinz-Kühn-Stiftung – und allen voran bei Erdmuthe Op de Hipt – bedanken, dass ich trotz der anfänglichen Bedenken nach Kuba reisen konnte. Der Aufenthalt im letzten, wahrhaft kommunistischen Land der Welt war für mich einmalig. Kaum zu glauben, dass noch vor zehn Jahren die Hälfte der Welt so aussah. Wie es mir gefallen hat? Schwer zu sagen: Mal war ich ganz euphorisch über die Freundlichkeit der Kubaner, dann enttäuscht von der Berechnung, mit der einige mich taxierten. Oft war ich entrüstet von den alltäglichen Repressionen des Regimes, fühlte mich eingeschnürt von der Enge des Alltags und den Schwierigkeiten kleinster Besorgungen. „Nimm die Situation doch nicht schwerer als die Kubaner“, sagte mir ein kubanischer Freund. Er hat Recht: Trotz aller Probleme, Ungerechtigkeiten Kuba Nele Husmann und wirtschaftlicher Sorgen, verlieren sie nie ihre Lebensfreude und Hilfsbereitschaft. Ich möchte meinen neuen kubanischen Freunden Keti, Reynaldo, Yoani, Mario und Mari herzlich dafür danken, dass sie mir ihr so widersprüchliches Land etwas näher gebracht haben. Auch dem kubanischen Filminstitut ICAIC und seinen Mitarbeitern, sowie der Zeitschrift „Cine Cubano“ gilt mein Dank, dass sie mich so freundlich aufgenommen und meine Fragen so offen diskutiert haben. Marianela J. Mendez aus Costa Rica Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 04.Juli bis 18. Dezember 1999 Deutschland Aller Anfang hat eine Ende... Marianela Jiménez Méndez Deutschland, vom 07.07. bis 18.12.1999, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung M. J. Mendez Deutschland M. J. Mendez Inhalt Zur Person 04.07.99 Ein Blick in die Vergangenheit 26.07.99 Du hast, ich nicht... 11.08.99 Dunkler Mittwoch 25.09.99 Herzen klopfen, Herzen schlagen und dann wurde alles Rot! 13.10.99 Willkommen in Deutschland 27.10.99 Un cafecito? 10.11.99 So lebt die Politik 04.12.99 Heinz-Kühn-Stiftung 269 M. J. Mendez Deutschland Zur Person Marianela Jiménez Méndez wurde am 11.05.1971 im Turrialba, Costa Rica, geboren. Nach einigen Jahren Geschichtsstudium an der Universität von Costa Rica, studierte sie Journalismus und Kommunikationswissenschaften an der gleichen Universität. 1994 machte sie ihren Bachelor of Arts und 1996 ihr Staatsexamen. 1997 arbeitete sie für die Tageszeitung „La Nación“ in San José. Seit September desselben Jahres arbeitet sie als Korrespondentin für „The Associated Press“ (AP) in San José. 04.07.99 Ein Blick in die Vergangenheit Die letzte Wolke – Costa Rica liegt hinter mir. Meine Gedanken sind schon in Deutschland. Ich freue mich. Trotzdem habe ich ein komisches Gefühl aus Angst und Neugierde. Warum werde ich sechs Monate in diesem fremden Land leben? Die Frage habe ich viele Male gehört und bis jetzt habe ich noch keine gute Antwort gefunden. Ich war noch klein, als ich zum ersten mal etwas über Deutschland gehört habe. Mein Vater hat mir viel erzählt, von der Zeit, als Bischof Bernhard Thiel als Missionar in dem Indianergebiet Talamanca gelebt hat. Für mich war es sehr interessant, ein Photo von dem großen Deutschen zwischen all den kleinen und dunkelhäutigen Indianern zu sehen. Ein so altes Photo….. schwarz/weiß, aber wirklich schön. Außerdem hat mein Vater noch andere Verbindungen zu Deutschland: Er ist ein sehr treuer Fan von Bayern München. Woher er solche Interessen hat weiß ich nicht. Aber das Lustige ist, dass er nicht der Einzige in meinem Land ist, in dem die Deutschen für drei Sachen bekannt sind. Erstens: Fußball – es ist möglich, dass Spiele der Bundesliga im costaricanischen Fernsehen zu sehen sind. Zweitens: Bier – Namen wie Pilsen oder Bavaria , zwei der beliebtesten Biere Costa Ricas, sind der deutschen Sprache entnommnen. Und dann drittens: Touristen – jedes Jahr kommen fast eine Million Touristen nach Costa Rica. Ungefähr 20 Prozent sind Deutsche, die Costa Rica in den 80er Jahren entdeckt haben. Danach begann eine neue Welle der Einwanderung, nicht nur aus Deutschland, sondern aus ganz Europa. Wenige wissen allerdings, dass dieses Phänomen schon mehr als 150 Jahre alt ist. Trotz der geographischen Entfernung und dem Fehlen moderner Kommunikationsmittel, wurden zwischen Februar und März 1848 verschiedene Freundschafts- und Handelsverträge zwischen Costa Rica und England, Frankreich sowie den Hanseatischen Republiken unterzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war Costa Rica erst 27 Jahre von Spanien unabhängig. Costa Rica war sehr klein: Kaum 100.000 Ein- M. J. Mendez Deutschland wohner, 6 Städte und 50 Priester. Costa Rica war noch keine Republik und die wenigen Kaffee-Exporte waren das größte Ereignis in dem Land. Das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Costa Rica wurde durch später abgeschlossenen Verträge gestärkt. Zur gleichen Zeit, im 19. Jahrhundert, kamen die ersten Einwanderer nach Costa Rica. Sie haben ihr Schicksal in fernen und exotischen Ländern gesucht. Im Gegensatz zu anderen Ländern des Kontinents, z. B. Chile oder Brasilien, haben sich die Deutschen in Costa Rica nicht zu starren Gemeinden zusammengeschlossen. Die meisten sind alleine oder nur mit ihren Familien eingewandert. „In Costa Rica haben viele Deutsche die Liebe für die entfernte Heimat und die eigenen Traditionen erhalten. Trotzdem haben sie sich mit gleicher Intensität mit der Wahlheimat identifiziert“. So schrieb der costaricanische Unternehmer Franz Sauter, dessen Vater Anfang diesen Jahrhunderts Stuttgart verließ, in Costa Rica seine Familie gründete und dessen Nachkommen noch heute dort leben. Desweiteren schrieb Sauter in einem Essay über 150 Jahre deutsche Geschichte in Costa Rica, dass viele Namen wie Strassburger, Ross, Niehaus, Streber, van Patten oder Steller auf ein bis zwei Jahrhunderte deutsche Einwanderungsgeschichte zurückgehen. Die Zahl der deutschen Immigranten war nicht so hoch, aber rückblickend ist unschwer zu erkennen, dass diese Deutschen die wirtschaftliche und politische Entwicklung stark beeinflussten. Dieser kurze Blick in die Geschichte Costa Ricas kann mir vielleicht helfen mein Interesse an Deutschland zu erklären..… Der Flug dauert noch ein paar Stunden. Was kann ich erwarten, von diesem Aufenthalt in Deutschland? Was werde ich Neues sehen, lernen, erfahren? Dies ist nur der Anfang. In sechs Monaten könnte ich vielleicht alle Antworten kennen. 26.07.99 Du hast, ich nicht.… Die Sonne hat mich geweckt. Vielleicht ist heute ein typischer Sommertag. Aber wie kann ich das wissen. Für mich ist das Wetter perfekt. Aber ich bin noch nicht an diese langen Tage, an die vielen Stunden Sonne gewöhnt. An meinem ersten Tag in Iserlohn, wo das Goethe-Institut liegt, habe ich ein paar Stunden am Nachmittag geschlafen. Um 18.30 Uhr bin ich aufgestanden und habe gedacht: „Mein Gott, ich habe so viel geschlafen. Ist schon ein neuer Tag angebrochen?“ Denn es war draußen sonnig und hell, etwas unmögliches zu dieser Uhrzeit in meinem Land, wo Winter, Herbst oder Frühling nicht existieren und wo es nur Trocken- oder Regenzeit gibt. Na ja, später habe ich viel über diese Situation gelacht. M. J. Mendez Deutschland Das Leben hier gefällt mir! Jeden Tag habe ich Unterricht und ich glaube, mein Deutsch ist schon besser als am ersten Tag. Wir sind hier mehr als 100 Studenten aus der ganzen Welt. Es gibt trotzdem drei größere Gruppen: Die Spanier, die Amerikaner aus den USA und die Japaner. Aus Lateinamerika sind wir nur zu dritt. Ich wohne, wie die anderen, in einem Wohnheim. Jeden Tag, auf meinen Weg zum Institut, kann ich die schönen alten Häuser, die es hier gibt, bewundern. Sie sind so groß, dass ich manchmal glaube, es handele sich um eine Burg. Und eine Burg ist wiederum anders als ein Schloss. Jetzt kenne ich den Unterschied. Das ist großartig für mich. In Costa Rica haben wir keine Burg, kein Schloss und kein Haus, so wunderbar wie hier. Trotz der schönen Anblicke auf meinem Weg: Am Ende kam ich müde am Goethe-Institut an. Fast 20 Minuten oder mehr muss ich laufen. Aber heute habe ich mir ein Fahrrad gekauft. Es handelt sich um ein hellblaues, gebrauchtes Rad. Klein, genau wie ich. So am Anfang, hatte ich Angst vor den Autos in der Stadt. Aber ich habe gelernt, dass hier die Autos, im Unterschied zu Costa Rica, respektvoll und vorsichtig gegenüber den Fahrrädern sind. Und in vielen Städten gibt es spezielle Wege und Verkehrszeichen für Fahrräder. So ist es auch für kleine Kinder sicher. Wo ich herkomme sieht man so etwas nicht. Fahrrad fahren ohne Unfallgefahr gibt es nicht. Das Fahrrad bleibt nur für kurze Ausflüge am Wochenende und das bedeutet nicht, dass es sicher ist. Hier in Deutschland habe ich gesehen, dass Leute jeden Alters mit dem Fahrrad fahren. Wenn meine Eltern das sehen könnten! Ich habe versucht, meiner Mutter Fahrrad fahren beizubringen. Aber sie hat so große Angst und sagt immer, dass sie schon zu alt sei. Aber so ist das in meinem Land und mit meiner Mutter. Ich bin hier glücklich mit meinem Fahrrad. Aber ich kann nicht mit meinem Fahrrad in eine andere Stadt fahren – so sportlich bin ich nicht. Auch habe ich kein Auto. Deswegen fahre ich mit dem Zug. Die Verbindungen hier sind unglaublich gut. Es gibt auch viele andere Möglichkeiten, z.B. S- und U-Bahn in großen Städten. Von Iserlohn aus, einer kleinen Stadt mit etwa 100.000 Einwohnern, kann ich ganz Deutschland bereisen. Vielleicht brauche ich viel Zeit, um das zu machen, aber wichtig für mich ist, dass dies überhaupt möglich ist. Wenn jemand mich verstehen möchte, muss er Costa Rica besuchen. Dort gibt es nur zwei Chancen: Entweder du hast ein Auto, oder du fährst mit dem Bus. Aber das ist, glaube ich, verständlich, denn Costa Rica ist ein Land, so groß wie Niedersachsen. Wenn ich z. B. von Düsseldorf nach Münster fahre, ist das die gleiche Distanz, wie in meinem Land von der einen Küste zu der anderen an der schmalsten Stelle. Mittelamerika ist klein. Trotzdem bereitet eine Fahrt in ein Nachbarland sofort Kopfschmerzen, nur wenn man an die vielen Stunden, die man braucht, denkt, egal ob mit Auto oder Bus. Von Costa Ricas Hauptstadt San José bis nach Panama Stadt braucht man 16 Stunden mit dem Bus, mit 3 Stops: Zwei zum Essen und einen an der Grenze. Aber hier, von Iserlohn nach Zürich, M. J. Mendez Deutschland brauche ich nur 8 Stunden. „Nur“, sage ich, obwohl ich weiß, dass dies für viele Leute viel Zeit ist. Und das Ticket finde ich vielleicht ein bisschen teuer, aber für diese, viele Kilometer lange Reise ist es verständlich. Wenn ich ein Auto hätte, dann würde ich fahren und keinen Zug mehr benutzen. Warum? Die Straßen, Landstraßen und Autobahnen sind hier perfekt! In Costa Rica haben die Straßen so viele Schäden und Löcher. Ohne ein Auto mit Allradantrieb ist es fast unmöglich. Aber hier, so schön, ein Traum. Na klar, abgesehen von den Staus. 11.08.99 Dunkler Mittwoch Heute ist das Ende der Welt. Heute wird etwas passieren. Das haben alle in den Medien, und auch Wahrsagerinnen und Hexen gesagt. Die alten Damen haben Angst. Andere Leute haben auch Angst. Vielleicht waren die Kirchen in diesen Tagen deshalb ganz voll. Die Furcht vor dem Phänomen, das wir nicht verstehen können, ist immer die gleiche. Immer schon und egal in welchem Land. Die Sonnenfinsternis wird heute in Deutschland und in anderen Ländern zu sehen sein. Die Medien haben seit Tagen darüber informiert, jeden Tag neue Informationen, jeden Tag wird die Angst größer. Die Erwartungen sind so groß. In Costa Rica haben die Zeitungen auch über dies große Ereignis in Deutschland berichtet, das hat meine Schwester mir gesagt. Heute ist endlich der Tag, auf den wir gewartet haben. Der Tag, an dem alles dunkel wird. Wir hatten Unterricht. Meine Lehrerin war sehr nervös und fast niemand konnte sich auf die deutsche Sprache konzentrieren. Trotzallem waren wir nicht vorbereitet für „diesen Moment“. Erst gestern haben wir eine Brille, eine Spezialbrille, um die Finsternis zu sehen, bestellt. Aber es war schwer, mehr als hundert Brillen in Iserlohn und in den nahegelegenen Städten zu finden. So, für 9 DM pro Person haben wir eine bunte und komische Brille, „Made in Rumänien“, bekommen. Nach einer Fotosession in unserem Klassenraum gingen wir zusammen auf einen Berg, ganz nah bei Iserlohn. Musik, Bier und die Nervosität hat die Zeit vertrieben. Wir warteten, aber wir wussten schon, dass es keine totale Finsternis wird. Plötzlich sagte die erste Person: „Ich kann es sehen!“ Aber es war kein Wunder, sondern der Anfang der Finsternis. Ich versuchte einmal, zweimal, viele Male etwas zu sehen. Mit meiner Brille war alles dunkel, aber nur weil ich wirklich gar nichts sehen konnte. Auch die anderen Studenten konnten nichts sehen. Viele lustige Situationen, schöner Nachmittag. Am Ende wusste ich nicht, ob tatsächlich nichts passiert war, oder meine rumänische Brille nur ein Stück Karton mit Aluminiumpapier war. Ein bisschen enttäuscht gingen wir zurück und später sahen wir die schönen Eindrücke im Fernsehen. Aber es war ganz interessant zu beobachten, wie in M. J. Mendez Deutschland einem modernen und fortschrittlichem Land wie Deutschland, die Leute sich noch über die Macht der Natur wundern können. Na ja, das Leben geht weiter. Wir leben noch! Heute war nicht das Ende... Aber Achtung, in wenigen Monaten kommt das Jahr 2000 und niemand weiß, was passieren kann... 25.09.99 Herzen klopfen, Herzen schlagen und dann wurde alles Rot ! Die Politik! Eine der größten Leidenschaften des Menschen. Wegen der Politik gingen Freundschaften zu Ende, entwickelte sich oft großer Hass gegen den Gegner und Kriege nahmen so ihren Anfang. Aber es ist nicht immer so. Vor einigen Monaten fanden in vielen deutschen Bundesländern in Deutschland die Kommunalwahlen statt. Mit einer wichtigen Änderung im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen: Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte wurden zum ersten Mal direkt von den Bürgern gewählt. Die Konkurrenz war enorm. In jeder Stadt, von jeder Partei, eine Bürgerversammlung oder auch Stände an verschiedenen Stellen. Dort gab es eine große Menge von kleinen Dingen: Bleistifte, Kugelschreiber, Lineale oder Streichholzschachteln, natürlich alles kostenlos für die lieben Bürger. Und die Straßen waren voll von Plakaten mit Fotos von den Kandidaten. Manchmal habe ich gedacht, dass könnte ein bisschen gefährlich sein: Wenn ich zum Beispiel den Kandidat XX von der Partei ZZ gar nicht mag, und ich fahre so durch die Gegend und sehe in jeder Straße 10 mal das Plakat mit einem Photo von ihm. Ich könnte doch plötzlich einen Herzinfarkt kriegen, oder? Die Kommunalwahlen waren am Ende eine Katastrophe für die SPD und ein großer Erfolg für die CDU. Die SPD verlor in fast allen Städten. Nur in NRW, wo traditionell die Einwohner mehrheitlich die SPD wählen, konnte die Partei teilweise ihre Ehre retten. Doch warum gab es ein so beschämendes Resultat? Es ist für mich nicht einfach, dies in wenigen Worten zu erklären. Aber ich will es versuchen. Nach einem Jahr unter der Regierung von Gerhard Schröder sind die Deutschen sehr unzufrieden mit ihm und seiner Partei: Höhere Steuern und weniger Geld für Sozialausgaben sind nur zwei Gründe dafür. Und dann wurde die Situation noch schlimmer, nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine im März 1999. Nach 136 Tagen als Finanzminister war Lafontaine plötzlich weg. In diesem Moment hat er nichts gesagt. Aber der Skandal kam später, als er offen über die inhaltlichen und persönlichen Kämpfe in Partei und Regierung, besonders jedoch mit Kanzler Schröder berichtete. „Das Herz schlägt links“, das Buch von Lafontaine: 320 Seiten, die viele schon gelesen haben... Ein Beweis dafür ist das Resultat der Kommunalwahlen. M. J. Mendez Deutschland 13.10.99 Willkommen in Deutschland Die Reiseagentur „Goethe-Institut“ ist die Beste! Mit den „Zivis“ (zwei, bzw. drei junge Männer, die ihren Zivildienst beim Institut ableisten) haben wir viele, viele Städte besucht. Auch im Ausland, aber vor allem in NRW: Oberhausen, Köln, Düsseldorf, Bonn, Münster, Dortmund, Essen und so weiter. Zwei Städte waren für mich besonders interessant: Weimar und Berlin. In diesem Jahr ist Weimar in aller Munde, weil sie die aktuelle Kulturhauptstadt Europas ist. Wegen des 250. Geburtstags von Goethe. Die Stadt war sehr schön, in ihrem „Galakleid“ zu Goethes Ehren. Und in jeder Ecke etwas von dem Dichter. In der Nähe von Weimar gibt es auch eine weitere Erinnerung an den Dichter: Der Baumstumpf von einer alten Eiche – die „Goethe-Eiche“. Die Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald haben den Baum so benannt. Das war während des 2. Weltkrieges. „Obwohl das Lager kein Ort des planmäßigen Völkermordes war, fanden Massentötungen von Kriegsgefangenen statt und es kamen viele Häftlinge bei medizinischen Versuchen um“, stand auf einem Infoplakat. Am 11. April 1945 erreichten Einheiten der US-Armee das Lager. Zu dieser Zeit waren dort etwa 21.000 Häftlinge, darunter über 900 Kinder und Jugendliche. Insgesamt waren von 1937 bis 1945 über 250.000 Menschen dort inhaftiert, von denen mehr als 50.000 starben. Von 1945 bis 1950 nutzte die sowjetische Besatzungsmacht das Gelände des ehemaligen KZ als Internierungslager. Von etwa 28.000 Inhaftierten starben über 7.000. So viele Tote. Ich habe alles gelesen während ich durch das Lager ging. Über den 2. Weltkrieg und die KZ habe ich früher nur Filme gesehen. Und obwohl es hier nicht mehr viel vom ursprünglichen Lager zu sehen gibt, weiß ich, dort schlafen noch viele Opfer des Krieges. Irgendwann begann ein anderer Konflikt. Die Mauer war da und Deutschland wurde geteilt. Das große Symbol dieser Zeit ist Berlin. Der Name klingt groß. Berlin, die Hauptstadt. Berlin, wo die Geschichte Deutschlands lebt. Jetzt ist Berlin eine gigantische Baustelle, aber ich glaube, sie bauen an der Zukunft. Und wenn alles fertig ist, wird Berlin eine so schöne und prächtige Hauptstadt sein. Vielleicht ist das auch nur meine Vision. Und vielleicht ist das nicht die richtige, weil ich alles mit meinen Augen sehe, den Augen einer Fremden. Und das ist natürlich anders. „Man mache sich auf den Weg zu irgend einem Ziele, es stehe uns nun vor den Augen oder bloß vor den Gedanken, so ist zwischen dem Ziel und dem Vorsatz etwa, das beide enthält, nämlich die Tat, das Fortschreiten“. Johann Wofgang Goethe M. J. Mendez 27.10.99 Deutschland Un cafecito? Wenn man in Costa Rica Leute trifft oder Besuch bekommt, gibt es eine typische Frage. Diese lautet: „Möchten Sie einen Kaffee trinken?“. Kaffee ist ein wichtiges Element unserer Kultur und Lebensart. In unserem Land wird Kaffee angebaut, gepflegt, geerntet. Ein Teil wird exportiert, der andere ist für unseren Tisch. Die ersten großen Kaffeeplantagen gab es im 15. und 16. Jahrhundert in Arabien. 1714 brachten die Franzosen einen Kaffeestrauch nach Martinique, eine Insel der Antillen. Diese einzige Pflanze ist der Urahn aller Kaffeepflanzen in Lateinamerika. Nach Costa Rica kam der Kaffee Ende des 18. Jahrhunderts. Die ersten Exporte gingen 1820 nach Kolumbien. Heute ist Kolumbien einer unserer stärksten Konkurrenten. 1845 begann eine Gruppe von Kaffeebauern, den Kaffee von Costa Rica nach Europa zu exportieren. Unter diesen Kaffeebauern waren viele nach Costa Rica ausgewanderte Deutsche, die im Anbau von Kaffee einen guten Lebensunterhalt gefunden hatten. Peters, Niehaus, Seevers, Lutz, Steinvorth, Kopper oder Kitzing sind Familien, deren Geschäft auch heute noch der Kaffee ist. Und die Heimat ihrer Vorfahren, Deutschland, ist einer unserer wichtigsten Kunden. Das ist für mich eine der besten Verbindungen zwischen Costa Rica und Deutschland. Aber schade ist, dass viele Deutsche, dies nicht wissen. Die Leute hier trinken gerne und viel Kaffee, aber sie haben keine Ahnung woher er kommt. So viel Werbung im Fernsehen und so viele Marken in den Supermärkten, aber kein Wort über die Herkunft des Kaffees. Und wir, wir in Costa Rica, sind so stolz auf unsere „Goldkaffeebohne“, wie wir sie nennen. Warum? Der Kaffee war unser einziger Export, in den ersten Jahren als Republik, und ist noch heute sehr wichtig für unsere Wirtschaft und für den Alltag vieler Familien, die auf den Plantagen arbeiten. Aber na ja, diese Erzählung ist schon lang genug. Besser wir trinken jetzt einen Kaffee, ja?. 10.11.99 So lebt die Politik Dieses Jahr ist das Jahr der runden Zahlen: 50 Jahre Deutschland, 10 Jahre Wiedervereinigung.... In diesem Jahr haben Geschichte und Politik eine hohe Bedeutung in Deutschland. Und ich bin sehr glücklich, dass ich hier sein kann, um alles zu sehen und zu verstehen. Am 9. November flossen viele Tränen in Berlin. Aber nur dort habe ich sie gesehen, nur dort war eine echte Party. Hier, in Düsseldorf, wo ich bei der Westdeutschen Zeitung hospitiere, war das nur eine Nachricht, etwas, das am nächsten Morgen kommen muss, keine lebendige Erfahrung. Und noch einmal konnte ich im Fernsehen sehen: Die Nacht M. J. Mendez Deutschland als die Mauer fiel. Diese Nacht, Thema für Filme und Bücher, hat einen so bedeutsamen Platz in der Geschichte. Doch das ist heute, und dann habe ich gedacht: Werden sich die Deutschen in 20 Jahren noch an diese Nacht erinnern? Ich glaube ja. Der zweite Weltkrieg liegt schon 50 Jahre zurück und sie erinnern sich noch daran. So etwas wundert mich: Die Deutschen vergessen nichts. 04.12.99 Heinz-Kühn-Stiftung Es ist alles vorbei. Die sechs Monate sind schon ein Teil der Vergangenheit, eine Erinnerung in meinem Leben. Ich habe viel gelernt, deutsch besonders. Ich glaube, man kann immer etwas von den anderen lernen, egal woher sie kommen oder welche Mentalität sie haben. Das Lernen hilft uns, die anderen Kulturen zu verstehen und zu respektieren. Am Anfang habe ich geglaubt, zwischen Costa Rica und Deutschland gibt es eine feste Verbindung. Ich glaube das noch. Trotzdem gibt es große, so große Unterschiede. Costa Rica mit seinen 4 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von 2.395 Dollar, und Deutschland, 82 Millionen Einwohner und einem Bruttoinlandsprodukt von 16.580 Dollar. Wie können zwei so verschiedene Länder sich verstehen? Man sagt, Gegensätze ziehen sich an. In Costa Rica gibt es kein Schloß, keine Autobahn, keine Kinder mit Handys oder auch kein Fußballspiel im Schnee (wie heute Bayern München gegen Borussia Dortmund, in einem ausverkauften Stadion). Wir haben viele Sachen nicht, die es in Deutschland gibt, und trotzdem ist Deutschland unser wichtigster Handelspartner in Europa. Wir sehen die gleichen Fernsehsendungen aus den USA. Ein Blick in unsere Parlamente zeigt das gleiche Bild: Weniger als die Hälfte unserer Parlamentarier sind anwesend. Und trotzdem kann ich sagen, dass auch mein Land schön ist. Ich hoffe, dass der Aufenthalt hier mir hilft, meine Arbeit als Journalistin zu verbessern. Ich möchte den Leuten in meinem Land zeigen, wie schön unser Land ist und wie gut es sein könnte, wenn wir von anderen Ländern etwas lernen könnten. Mein Land – so entfernt, so warm, so schön. Ich vermisse jetzt die Berge, die Strände, das Lachen und den lebendigen Regen. Erst jetzt kann ich all das fühlen, nur weil ich so weit gereist bin. Für all das bedanke ich mich bei der Heinz-Kühn-Stiftung. Mahamadou Koné aus Mali Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000 Deutschland Drei Erlebnisse in Deutschland Mahamadou Koné aus Mali Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung Mahamadou Koné Deutschland Mahamadou Koné Inhalt Zur Person Der Anfang in Deutschland Weihnachten in Deutschland Das neue Jahr Die Religion und das Verständnis Bei der Deutschen Welle Reportagen bei der Deutschen Welle – Ein billiges Auto……… – Ein Wort über alte Menschen Danke 283 Mahamadou Koné Deutschland Zur Person Mein Vorname ist Mahamadou, mein Familienname ist Koné. Ich wurde am 14. September 1964 in Bamako, der Hauptstadt von Mali, geboren. Ich bin Bambara, gehöre damit zur Hauptbevölkerungsgruppe in Mali. Mein Abstammungsort heißt Niamina und liegt 190 km östlich von Bamako. In den 40er Jahren ist mein Vater, Sidi Koné, nach Bamako gezogen. Sidi war Händler. In Bamako hatte er sich am Anfang auf den Handel mit Getreide spezialisiert. Später war er in der Autobranche tätig. Meine Mutter, Fatoumata Kouma, ist Soniké – eine andere Volksgruppe in Mali. Die Schule habe ich bis zum Abitur in Bamako besucht. Danach bekam ich ein Stipendium von der Regierung, um in der ehemaligen Sowjetunion zu studieren. Zuerst war das für mich unglaublich, weil ich immer dachte, dass Russisch eine der schwierigsten Sprachen sei. Ich konnte nur „Guten Tag“ auf russisch sagen. Am 28. September 1985 kam ich nach Moskau. Nach vier Tagen im Studentenwohnheim und vier Tagen im Zug, kam ich in Douschanbe, der Hauptstadt von Tadjikistan, an. Dort sollte ich russisch lernen. Ein Jahr später fing ich mit dem Studium an der Fakultät für Journalismus der Universität von Taschkent an. Wegen des Klimas konnte man gut in Usbekistan leben, besonders jemand wie ich, der aus Afrika kam. Im Winter war es natürlich kalt, mit Schnee, aber im Sommer war es heiß, heißer als in vielen afrikanischen Ländern. Usbekistan ist bekannt für seinen Obst- und Gemüseanbau. Fünf Jahre studierte ich in Taschkent, sowohl mit sowjetischen Kollegen, als auch mit anderen Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Mit dem Diplom in der Tasche flog ich am 3. Oktober 1991 nach Mali zurück. Eine Woche später fing ich zunächst als Praktikant, anschließend als Mitarbeiter beim ORTM (staatlicher malischer Fernseh- und Rundfunksender) an. Im Januar 1995 wurde ich festangestellt und im November 1997 zum Chefredakteur ernannt. Seit dem 7. Februar 1999 bin ich mit Fatoumata Kané verheiratet. Wie lernt ein malischer Journalist die Heinz-Kühn-Stiftung kennen? Am Anfang stand eine deutsche Journalistin, die die letzten drei Monate des Jahres 1998 in Mali verbrachte. Rosetta Reina war eine Stipendiatin der HeinzKühn-Stiftung. Als ich sie beim ORTM kennenlernte, fand ich sie freundlich und sehr nett. Ich konnte mit ihr ein paar Sätze auf Deutsch wechseln, weil ich Deutsch im Gymnasium gelernt hatte. Rosetta bemerkte mein Interesse an der deutschen Sprache und fragte mich einmal: „Würdest Du akzeptieren, nach Deutschland zu fliegen, wenn Du ein Stipendium bekämst?“ – „Ja, natürlich! Ich träume davon“. Als Rosetta nach Deutschland zurückgekehrt war, fragte man sie bei der HKS, ob sie einen malischen Journalisten mit Deutschkenntnissen empfehlen könne. Sie überlegte nicht lange und gab meinen Namen an. Sofort Deutschland Mahamadou Koné schickte sie mir eine E-mail. Das war eine freudige Überraschung für mich, die Chance zu erhalten, für sechs Monate nach Deutschland kommen zu können. Mit meinem Deutschlehrer im Gymnasium, N‘Golo Konaté, schrieb ich die Bewerbung und erledigte die anderen Formalitäten. Die Entscheidung der HKS fiel am 19. März 1999 und meine Bewrbung wurde akzeptiert. Ich wollte nicht sofort fliegen, sondern lieber ein bisschen später, deshalb entschied ich mich für den September. Der Anfang in Deutschland Es gab drei wesentliche Ereignisse während meines Aufenthaltes in Deutschland: Ich feierte meinen 36. Geburtstag, zwei Wochen, nachdem ich als Stipendiat der HKS nach Iserlohn gekommen war. Ich erlebte den Sprung ins 3. Millenium in Deutschland, und ich konnte ein Praktikum bei der Deutschen Welle in Köln machen. Düsseldorf, am Dienstag, den 31. August 1999. Seit drei Stunden wartete man auf mich im Flughafen. Mein Flugzeug aus Bamako hatte Verspätung. Gegen 12 Uhr kam ich endlich an. In der Flughafenhalle begrüßte mich eine deutsche Frau: „Hallo Mahamadou!“ Es war Frau Ermuthe Op de Hipt von der HKS. Sie war mit zwei anderen Stipendiaten da: Ilija Nikolovski aus Makedonien und Catherine Sikombe aus Sambia. Ich sollte mit diesen beiden ein Praktikum in verschiedenen Redaktionen der Deutschen Welle machen. Zuerst sollten wir jedoch einen Sprachkurs machen, deshalb fuhren wir nach Iserlohn, ins dortige Goethe-Institut. In Iserlohn waren schon drei andere Stipendiaten der HKS: Abdoulaye Mamadou Bâ aus Mauretanien, Marianela aus Costa Rica und Yeshitla Kokeb aus Äthiopien, die vor zwei Monaten angekommen waren. Wir nahmen an zwei Kursen teil. Das Ende unseres zweiten Kurses war auch das Ende des Goethe-Instituts Iserlohn, das geschlossen wurde. Weihnachten in Deutschland Für Deutsche ist Weihnachten ein Famillienfest. Viele Leute verbringen diese Zeit zusammen mit den Eltern. Zum erstenmal in meinem Leben feierte ich Weihnachten, und dies 1999 bei einer deutschen Familie. Rosetta hatte mich eingeladen. Am 19. Dezember fuhr ich von Köln, wohin ich drei Tage zuvor umgezogen war, nach Koblenz. Dort wartete Rosetta auf mich. Mit ihrem Auto fuhren wir nach Gapennach, um eine Freundin von Rosetta zu besuchen. Den ganzen Tag waren wir mit Yvonne unterwegs, zuerst zu Fuß, Mahamadou Koné Deutschland danach mit dem Auto. Es war sehr kalt, mit viel Schnee. Die nächste Etappe war Mainz, wo Rosetta mit ihrem Mann Stefan wohnt. In Mainz, wie in den anderen deutschen Städten, war die Atmosphäre festlich: Die Weihnachtsmärkte wurden Ende November überall eröffnet. Es gab eine Vielzahl von Kiosken aus Holz, auf einem Platz im Zentrum der Stadt, mit sehr schönen Dekorationen. Am Abend war es noch schöner, weil viele verschiedene Lichter brannten. Auf diesen Märkten konnte man nicht nur Weihnachtsgeschenke und Tannenbäume kaufen, sondern auch etwas zu Essen und zu Trinken. Es kamen auch viele Leute einfach nur zum Spazierengehen. Es war für mich eine Überraschung, dass all diese Märkte zwei Tage nach Weihnachten schon wieder weg waren. Ich hatte gedacht, sie blieben bis zum Neuen Jahr. Die vier Tage in Mainz waren sehr schön. Wir sind nach Laggenbeck, zu der Mutter von Stefan gefahren. Rosetta, ihre Mutter, die in Krefeld wohnt, und ich kamen dort zusammen. Stefan, ihr Mann, stieß etwas später hinzu. Am nächsten Tag, dem 24. Dezember, kauften die Leute die letzten Geschenke, weil alles für die folgende Nacht vorbereitet werden musste. Gegen 20 Uhr am Abend war Laggenbeck ganz ruhig. Alle Leute waren schon zu Hause. Tannenbaum, Kerzen, Geschenke, alles war schon im Wohnzimmer der Familie Niehaus vorbereitet. Rosetta und Stefan hatten diskret die Geschenke mit Namen versehen. Um 21 Uhr kam die Aufforderung: „Alle ins Wohnzimmer“. Und welch eine Überraschung: Es hatte Geschenke geregnet, der Weihnachtsmann hatte sich großzügig gezeigt. Rosetta fing an. Sie nahm ein Geschenk und las den Namen, der darauf stand. Die Person, die das Geschenk bekam, wählte das nächste aus und rief den Empfänger, und so weiter. Meine Frau in Mali bekam auch einen Teil, weil ihr Name auf vielen Geschenken stand. Das war eine Initiative von „Weihnachtsrosetta“. Um 23 Uhr gingen wir in die Kirche. Ich war nur Zuschauer, denn ich bin Mohammedaner. Am nächsten Tag, dem 25. Dezember, war es überall in Deutschland ganz ruhig. Das neue Jahr Im Gegensatz zu Weihnachten war der Jahreswechsel ein sehr lautes Fest. In der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar blieb fast niemand zu Hause. Alle gingen in die Stadt. In Köln war ein Treffpunkt neben dem Dom, wo ein großes Konzert stattfand. Wie viele Menschen dort waren, konnte man nicht sagen. Sicherlich waren es einige Tausend. Es waren so viele, dass die Mehrheit der Menschen die Bühne nicht sehen konnte. Aber das war nicht wichtig. Am Rhein, in der Nähe vom Dom, trafen sich ebenfalls viele Leute. Die Kneipen waren voll. Viel Alkohol wurde getrunken. Kurz nach Mitternacht hörte man überall den Krach der Knaller und Raketen. Nicht nur junge Deutschland Mahamadou Koné Leute waren damit beschäftigt, sondern auch Erwachsene. Am nächsten Tag war das Zentrum ganz schmutzig, dafür die Stadt aber ganz ruhig. Ein Tag für Schlaf und Erholung. Die Religion und das Verständnis Ich bin Mohammedaner. In meiner Religion sind manche Dinge verboten. Man darf beispielsweise keinen Alkohol trinken und kein Schweinefleisch essen. In Deutschland war das für mich kein Problem. Ich konnte kochen und essen, was ich wollte. Wenn ich jemanden besuchte, war ich immer vorsichtig. Bei Rosetta war das nicht nötig. Sie kannte ja schon unsere Sitten aus ihrer Zeit in Mali. Als ich nach Krefeld kam, hatte ihre Mutter Spaghetti mit Rindfleisch gekocht. Sie war bereits von ihrer Tochter informiert worde. Als ich in Mainz war, hatte Rosetta alles geordnet. In der Küche gab es verschiedene Lebensmittel und sie zeigte mir: „Hier ist das Fleisch, das Du essen darfst, aber dort sind Schweinefleisch und Produkte aus Schweinefleisch. Pass auf!“ Sie zeigte mir auch die richtige Richtung für mein Gebet. Das ist wichtig im Islam, und wenn man in ein anderes Land oder eine andere Stadt kommt, ist es nicht einfach, die Richtung Osten zu finden. Einmal, zum Abendessen in Laggenbeck, gab es auf dem Tisch zwei Sorten von Wurst. Ich nahm eine davon, und sofort sagte Rosetta: „Nein, die darfst Du nicht!“ Natürlich, es war Schweinewurst. Als Getränke hat man mir immer Fruchtsäfte angeboten. Meine Aufenthalte in Mainz und Laggenbeck fielen in den Ramadan, den islamischen Fastenmonat. In dieser Zeit dürfen Mohammedaner zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nichts essen und trinken. Früh am Morgen (5 – 6 Uhr) war alles schon vorbereitet, damit ich vor Sonnenaufgang gut frühstücken konnte. Am Abend, nach Sonnenuntergang, war es ebenso, um den Fastentag zu beenden. Es war wunderbar. Bei der Deutschen Welle Als ich am 3. Januar bei der Deutschen Welle mein Praktikum antrat, musste ich eine Arbeitserlaubnis mitbringen. Diese besorgte ich mir beim Arbeitsamt in Köln. Die HKS hatte alles notwendige vorbereitet. Bei der Deutschen Welle sollte ich im französischen Programm arbeiten. Ich war angenehm überrascht. Der Chef, Gerard Foussier, sowie auch die anderen Kollegen, waren sehr nett. Mit ihnen arbeitete ich gut zusammen. Hier lernte ich auch eine neue Technologie im Rundfunk kennen: Das Digitalradio. Mahamadou Koné Deutschland So etwas gibt es noch nicht bei uns, im ORTM. Bei der Deutschen Welle hat jeder Journalist, jede Journalistin einen Computer und ein eigenes Telefon. Jeder kann die Agenturen über seinen Computer konsultieren. Auch im Studio kann man die Nachrichten der Agenturen lesen. Das erleichtert die Arbeit. Reportagen bei der Deutschen Welle Ein billiges Auto….. Ein neues Auto ist immer teuer. Deutschland produziert viele verschiedene Automarken, wie Mercedes BMW, VW, Audi, usw. Trotzdem sind neue Autos auch hier teuer. Aber es gibt die Möglichkeit, ein billiges zu finden, wenn man einen Gebrauchtwagen kauft. In allen Städten gibt es Automärkte, wo man Gebrauchtwagen kaufen und verkaufen kann. „Kor & Partner“ in Köln ist einer dieser Märkte. Gemäß Willi Kor, dem Chef dieser Gruppe, hängt der Preis von verschiedenen Faktoren ab. „Wir lesen Anzeigen in den Zeitungen, in denen Leute ihr Auto anbieten. Wir diskutieren den Preis mit den Besitzern. Wenn ein Auto alt ist, oder wenn es viele Kilometer gelaufen ist, ist es billiger. Wir kaufen die Autos und setzen sie instand, wenn nötig. Dann verkaufen wir sie. Bei uns fangen die Preise bei 3.000 DM an. Wir haben aber auch Autos für 40.000 DM und mehr“. Viele Ausländer, vor allem Afrikaner, kommen nach Deutschland, um Gebrauchtwagen zu kaufen. Sie besuchen sehr selten die Autohändler, sondern gehen direkt zu den Leuten, die ihre Fahrzeuge in den Zeitungen anbieten. Natürlich kann man dort noch billigere Autos finden. Die Mehrheit dieser Autos werden per Schiff nach Afrika verschickt. Beispielsweise werden ungefähr 1.500 Fahrzeuge pro Jahr alleine über die Gesellschaft „TRANSCAR“, mit Sitz in Frankfurt, nach Abidjan, Lomé, Lagos, Banjul, Conakry, Dakar, Douala usw. verschifft. Die Schiffe kommen zwei bis drei Wochen nach der Abfahrt im Zielhafen an. Ein Wort über alte Menschen Es gibt einen großen Unterschied zwischen deutschen und afrikanischen Familien. Hier in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, ist die Familie klein. Das Ehepaar wohnt nur mit einem, zwei oder drei Kindern zusammen, deren Großeltern leben in einem anderen Haus. Hier sind alle unabhängig. Die Kinder leben schon alleine, wenn sie zu arbeiten beginnen, manche schon als Studenten. Viele alte Leute fühlen sich wohl dabei, alleine zu leben, ohne Verwandte. Andere aber haben Schwierigkeiten damit, besonders, wenn sie sehr alt oder gar krank sind. Für solche Fälle gibt es Seniorenhäuser oder Altersheime. Die Deutschland Mahamadou Koné kosten Geld, deshalb muss man dafür sparen, solange man noch berufstätig ist. Es gibt viele Seniorenhäuser in Deutschland. Alleine in Köln gibt es ungefähr hundert Altenheime. Sie gehören entweder der Stadt, den Kirchen, sozialen Verbänden oder sie befinden sich in privater Hand. In jedem Fall sind sie nicht kostenlos. „Maternus“ ist ein Seniorenwohnheim in Köln. Dort wohnen 165 ältere Männer und Frauen, die zwischen 60 und 100 Jahre alt sind. Die Heimkosten sind unterschiedlich hoch: Von 2.500 bis 5.800 DM pro Monat für eine Person. Wenn zwei Personen sich eine Wohnung teilen, zahlt die zweite Person nur noch zusätzlich 690 DM pro Monat. In diesen Preisen sind neben der Miete Heizkosten, Wasser- und Abwassergebühren, Wohnungsreinigung, Mittagsmenü, Hilfe durch das Pflegepersonal, Dienste der Hausdame, Benutzung aller Gemeinschaftseinrichtungen, wie Schwimmbad, Kegelbahn, Clubräume, Gymnastikraum, Kellerraum, Haussprechanlage, Kosten für Haus- und Straßenreinigung, sowie weitere Gemeinschaftskosten eingeschlossen. Hanni Thur, eine 81-jährige Frau, wohnt hier seit 6 Jahren. Zuvor lebte sie, nach dem Tod ihres Mannes, 17 Jahre alleine in ihrem Haus. Sie hat keine Kinder, aber einen Neffen und eine Nichte, die in Hamburg wohnen. Die beiden besuchen sie einmal pro Jahr. Daneben hat sie aber auch noch andere Besuche. Sie fühlt sich wohl im Seniorenhaus, wo sie viele Freunde hat. Sie ist nicht einsam und denkt daran, ihr Leben hier zu beenden. Danke Abschließend möchte ich sagen, dass mein Aufenthalt in Deutschland eine große Bereicherung für mich darstellte. Ich habe nicht nur eine neue Sprache gelernt, sondern auch viel von Deutschland gesehen. Meine journalistischen Kenntnisse konnte ich bei der Deutschen Welle ausbauen. Und nicht zuletzt lernte ich viele Leute kennen, Deutsche, aber auch andere Ausländer in Deutschland. Dies alles lässt mich mit einer reichen, menschlich und beruflich wertvollen Erfahrung nach Mali zurückkehren. Dafür möchte ich allen danken. Markus Möhrchen aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Namibia vom 05. Juli bis 04. Oktober 1999 Namibia Markus Mörchen Selbst helfen oder helfen lassen? Namibia 10 Jahre nach der Unabhängigkeit Markus Mörchen Namibia vom 5.7. bis 4.10.1999, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Namibia Inhalt Zur Person Prolog Viele der alten Probleme sind ungelöst Lückenfüller im Bildungssystem Der Platz der drei Farben Hilfe zur Selbsthilfe Schule allein reicht nicht „Die Reichen sind reicher, die Armen ärmer geworden“ Eine Idee mit Zukunft Die Vergessenen wissen sich zu helfen An der zweifelhaften Quelle Markus Mörchen Markus Mörchen Namibia Zur Person Markus Mörchen, geboren 1968 in Siegen, lebt in Köln. Während des Studiums (Germanistik / Wirtschaftswissensschaften) in Siegen und Houston/Texas, freie Mitarbeit bei Fernsehen, Radio und Zeitung. Danach zwei Jahre beim Kinderprogramm des ZDF in Mainz. 1997/98 bimediales Volontariat bei der Deutschen Welle in Köln und Berlin. Seit Oktober 1999 Redakteur im „Funkjournal“ der Deutschen Welle. Prolog „Es ist ein großer Sieg für die Swapo und für Namibia. Wir haben unseren Präsidenten wiedergewählt, und wir lassen unseren Gefühlen freien Lauf“ Premierminister Hage Geingob steht inmitten tausender, jubelnder und singender SWAPO-Anhänger, als er das sagt. Angeführt von ihrem Präsidenten Sam Nujoma und der gesamten Führungsspitze, ziehen die Sympathisanten der „South West African People´s Organisation“ Fahnen schwenkend quer durch Namibias Hauptstadt Windhuk. Die SWAPO hat allen Grund zum feiern: Soeben hat sie die zweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit einer überzeugenden Mehrheit gewonnen: Die Partei von Sam Nujoma konnte 76 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. Ein noch besseres Ergebnis als 5 Jahre zuvor. Damit hatte vor den Wahlen niemand gerechnet.Viele politische Beobachter hatten sogar in Frage gestellt, ob die Regierungspartei ihre Zwei-Drittel- Mehrheit überhaupt wird halten können. Es ist der 4. Dezember 1999. Die Wahlen im demokratisch gewählten Namibia haben mich bereits zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit ins südliche Afrika geführt. Fast auf den Tag genau 5 Monate vorher hatte ich erstmals namibischen Boden betreten – damals mit freundlicher Unterstützung der Heinz-Kühn-Stiftung. „Wo gehst Du noch mal hin – nach Nigeria?“ „Oder war´s Nairobi?“ Viele konnten mit dem Ziel meiner Reise nichts anfangen, als ich zum erstenmal davon berichtete. Ich muss zugeben: Auch ich wusste nicht sehr viel. Dank einer längeren Reise nach Südafrika 7 Jahre zuvor konnte ich dessen nordwestlichen Nachbarn zumindest geographisch einordnen. Das ich inzwischen viel mehr über dieses faszinierende Land zu berichten weiß – dafür vielen Dank an die Heinz-Kühn-Stiftung und insbesondere Erdmuthe Op de Hipt. Namibia Markus Mörchen Viele der alten Probleme sind ungelöst Der 7. November 1989. Zwei Tage, bevor in Berlin die Mauer fiel und damit die größten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Europa nach dem zweiten Weltkrieg besiegelte, geschah auch im südlichen Afrika Historisches. Die Menschen im damaligen South West Africa durften – egal welche Hautfarbe sie hatten – zum erstenmal gemeinsam wählen. Die Abstimmung zu einer Verfassung gebenden Versammlung beendete eine mehr als 100 Jahre andauernde Zeit der Fremdherrschaft, der Apartheid und der Unterdrückung. Jahrzehntelang hatte die Befreiungsorganisation SWAPO gegen die südafrikanischen Besatzer gekämpft, nun übernahm sie als strahlender Wahlsieger die Macht in dem afrikanischen Land. Ihr Anführer Sam Nujoma wurde erster Präsident der Republik Namibia. Am 21. März 1990 feierte Namibia seine Unabhängikeit. Das Land wurde als Hoffnungsträger gefeiert, als demokratisches Vorzeigemodell für den afrikanischen Kontinent. Doch der Euphorie des Aufbruchs folgten Ernüchterung und Enttäuschung. Denn die schwierige Aufgabe der Nach-Unabhängigkeits-Regierung bestand darin, eine von Kolonialzeit und Apartheid geprägte und geteilte Gesellschaft in eine moderne und funktionierende Demokratie umzuwandeln. Die Versöhnungspolitik gilt bis heute als vorbildlich, und die politische Situation im ehemaligen Deutsch-Südwest ist bemerkenswert stabil: Die SWAPO, seit 1990 durchgehend an der Macht, tritt auf Grundlage der Verfassung auch heute noch für Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Pluralismus und eine marktwirtschaftlich orientierte Gesellschaftsordnung ein. Doch auch wenn die SWAPO einige Erfolge, vor allem auf dem sozialen Sektor, vorweisen kann, hat die Partei viel von ihrem Glanz verloren. Die ehemalige Befreiungsorganisation, bereits seit 1994 mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament ausgestattet, ist träge, selbstgefällig und arrogant geworden, so der Eindruck selbst vieler ihrer Anhänger. Die regierende Elite zeigt immer deutlichere Anzeichen zunehmender Machtkonzentration und ungeschminkter Bereicherung.Trotzdem wird die SWAPO fast vorbehaltlos unterstützt: Der Bevölkerungsmehrheit im nördlichen Landesteil Ovamboland, aus der sie historisch gewachsen ist, verdankt sie nahezu automatisch ihre Vormachtstellung. Die Partei zehrt noch immer von dem Mythos, das Land befreit zu haben. Doch die traditionell große Dominanz der Partei im Parlament, die auch bei den letzten Wahlen wieder bestätigt wurde, wirkt sich nachteilig auf die Entwicklung der demokratischen Struktur aus. „Ich denke“, sagt Theunis Keulder, Direktor des Namibischen Instituts für Demokratie, „dass unsere Demokratie hier sehr gut ist, und dass wir politische Probleme nicht haben. Doch ein Problem macht uns zu schaffen: Das unsere Opposition so schwach ist“. Markus Mörchen Namibia Nicht erst seit der vorletzten Wahl vor fünf Jahren sprechen Oppositionspolitiker und andere Beobachter von einer zunehmenden Entwicklung zum faktischen Ein-Parteien-Staat. Der Einfluss der SWAPO ist allgegenwärtig; wichtige Posten im Land sind ohne Parteizugehörigkeit kaum noch zu bekommen. Auch Grundrechte wie die Pressefreiheit wurden beschnitten. Und das Präsident Sam Nujoma nun für fünf weitere Jahre im Amt bleiben darf, verdankt er nur einer eigens zu diesem Zweck durchgeführten Verfassungsänderung. Oppositionspolitiker Katuutire Kaura, Vorsitzender der drittgrößten Partei DTA (Democratic Turnhalle Alliance) fürchtet um sein Land. „Was man in Afrika immer wieder beobachten kann: Wenn eine Partei eine zu große Mehrheit hat, geht das Land unter. Das Land wird wirtschaftlich zerstört. Und wir werden den selben Weg gehen, wie viele andere afrikanische Länder. Das ist die Gefahr“. Tatsächlich ist die von der Regierung versprochene Überwindung der ererbten, sozio-ökonomischen Gegensätze weitgehend ausgeblieben. „Viele Dinge sind nicht richtig in diesem Land“, erzählt mir eine alte Frau in Katutura, dem Schwarzenviertel am Rande der Hauptstadt Windhuk. „Die Apartheid hat nur gewechselt – in eine andere Richtung. Und dann die Wirtschaft: Wir können vom dem Geld, das wir bekommen, nicht leben. Und wir haben keine Arbeit“. Die Unzufriedenheit über die ausbleibende Transformation der Gesellschaft wächst. Materielle Verbesserungen hat es für die Bevölkerungsmehrheit in den 10 Jahren nach der Unabhängigkeit nicht gegeben. Im Gegenteil: Während die Lebenshaltungskosten stiegen, blieb das Einkommen weitgehend gleich. Und so nimmt die Armut zu. Nach einem UNICEF-Bericht muss fast die Hälfte der Bevölkerung als arm oder sehr arm eingestuft werden. Die Arbeitslosenrate liegt bei etwa 40 Prozent. Rechnet man die geringfügig Beschäftigten mit ein, sind fast zwei Drittel der Bevölkerung entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Die ökonomische Misere, mit der Namibia nach wie vor konfrontiert wird, ist unverkennbar. Doch sie geht nicht auf das Konto der neuen Regierung und deren Politik, sagt Henning Melber, Direktor des Wirtschaftsforschungsinsituts NEPRU (Namibia Economic Policy Resaerch Unit): „Sondern sie ist Folge weltmarktabhängiger Faktoren und vor allem der immer noch bestehenden kolonialen Strukturen“.Besonders deutlich wird das an der katastrophalen Bildungssituation im Land, einem der größten ungelösten Probleme Namibias. Vor der Unabhängigkeit wurden jahrzehntelang die kommunalen Gebiete und schwarzen Townships bei der Volksbildung vernachlässigt. Das verursachte einen eklatanten Lehrermangel, als die neue Regierung ein einheitliches Schulsystem mit Schulpflicht für alle Kinder vom 7. bis zum 16. Lebensjahr einführte. Die Folge: Fast die Hälfte der Lehrer hat heute selbst keinen Schulabschluss, geschweige denn eine pädagogische Ausbildung. Vor allem die im Norden des Landes eingesetzten Lehrkräfte vermitteln in der Mehrzahl ihr eigenes, bis zum zehnten Schuljahr erworbenes Wissen, ohne über pädagogische Grundlagen zu verfügen. 298 Namibia Markus Mörchen Nach der Unabhängigkeit leitete die Regierung eine Vereinheitlichung des Bildungswesens ein: Lehrpläne und –inhalte wurden reformiert, die Administration neu geordnet, die schulische Infrastruktur erweitert und mit einer Verbesserung und Ausweitung der Lehrerausbildung begonnen. Doch bis heute führt das rassisch zweigeteilte Bildungswesen der kolonialen Zeit zu erheblichen Unterschieden im Bildungsniveau der schwarzen und weißen Bevölkerung. Weniger als die Hälfte der schwarzen Kinder beendet die siebte Klasse der Grundschule. Nur ein Drittel geht in die achte Klasse der weiterführenden Schulen. Und während 90 Prozent der Weißen einen Schulabschluss nach der neunten Klasse vorweisen können, sind es unter den Schwarzen weniger als 20 Prozent. Obwohl die Privatschulen, die früher der weißen Bevölkerungsgruppe vorbehalten waren, nach der Unabhängigkeit auch anderen Ethnien geöffnet wurden, findet man dort bis heute nur wenige nicht-weiße Kinder. Deren Eltern können sich die teure Ausbildung oft nicht leisten. Und noch immer können, vor allem in den dünn besiedelten Farmgebieten von Zentral- und Südnamibia, trotz der 1990 eingeführten Schulpflicht nicht alle schwarzen Kinder schulisch betreut werden. Immerhin liegt der Einschulungsgrad mittlerweile zwischen 80 und 90 Prozent. Und auch die Analphabetenrate, so zumindest die offiziellen Angaben der Regierung, ist in den letzten Jahren drastisch zurückgegangen. Waren vor der Unabhängigkeit noch fast zwei Drittel der Namibier Analphabeten, so sollen es heute nur noch etwa 20 Prozent sein. Lückenfüller im Bildungssystem Es ist kurz nach halb sieben, als der Lastwagen um die Ecke biegt. Auf seiner Ladefläche sehe ich im Halbdunkel mehrere Gestalten. Es sind Kinder, schätzungsweise zwischen 7 und 12 Jahre alt. Der Lastwagen fährt quer über den großen Platz und hält vor einem der Gebäude. Seine Fahrgäste springen von der Ladefläche. Als sich der LKW kurz darauf wieder in Bewegung setzt, winken sie ihm nach. Ich stehe auf dem Gelände der Grundschule Aris. Soeben war ich Zeuge bei der Ankunft des einzigen „Schulbusses“ der Schule Die Aris-Schule liegt in den Khomas-Bergen, etwa 50 Kilometer entfernt von Namibias Hauptstadt Windhuk. Knapp 170 Kinder werden hier zur Zeit unterrichtet. Die meisten von ihnen müssen aber nicht mit dem „Schulbus“ gebracht werden, sondern sie leben hier – ähnlich wie in einem Internat. Die Schule besteht aus mehreren länglichen Gebäuden, die am Rand eines großen, staubigen Schulhofs aufgereiht sind. Mein Blick fällt ein großes buntes Gemälde an der Stirnseite eines der Schulhäuser. „Das haben die Kinder gemalt“, erklärt mir eine Markus Mörchen Namibia Lehrerin stolz. Direkt davor stehen mehrere Klettergerüste aus Holz. Auch darauf ist man stolz in Aris. Die Häuser des Schülerheims – Schlafräume, Toiletten, Wäscherei, Küche, Esssaal – gruppieren sich um einen kleineren Platz am Rande des Geländes. In dem Innenhof ist ein kleiner Steingarten angelegt; durch weiße Steine begrenzte Wege verbinden die Gebäude. Mehr als 100 Kinder sind hier untergebracht. Jungen und Mädchen schlafen in getrennten, engen Schlafsälen – 10 bis 20 Kinder in einem Raum. Jedes von ihnen hat einen kleinen Spind für die Kleidung und ein paar andere persönliche Dinge. Einer der Schüler in Aris ist David. Er ist 11 und geht in die fünfte Klasse. David kommt von einer Farm, die fast 100 Kilometer von der Schule entfernt ist. Seine Eltern arbeiten dort als Farmarbeiter. „Wenn ich bei meinen Eltern bin“, erzählt er mir, „muss ich Kühe melken, Ziegen hüten und ihnen auf dem Feld helfen. Aber meine Eltern haben mir gesagt, dass ich in der Schule gut aufpassen und lernen soll – damit ich eines Tages mal einen besseren Beruf habe“. Auch die meisten anderen Kinder, die in Aris leben und zur Schule gehen, kommen von Farmen in der Umgebung. Dass sie überhaupt hier zur Schule gehen können, verdanken sie einer privaten Initiative. Zwar sind die Lehrer und der Schulleiter Staatsbedienstete, doch die Schule steht auf privatem Grund und Boden, und der Farmer, dem dieses Land gehört, hat sie errichtet. Das war 1982. Damals kam der inzwischen verstorbene Farmer Dieter Voigts zusammen mit seiner Nachbarin Barbara Rattay auf die Idee, eine Schule zu bauen. „Hier in der Umgebung waren sehr viele Farmarbeiterkinder“ erinnert sich Barbara Rattay, „die nicht in die Schule gehen konnten. Weil es damals selbst in der Stadt kaum Schülerheime für schwarze Kinder gab. Und die Eltern waren so arm, dass sie die auch gar nicht hätten bezahlen können. Und deswegen sind wir auf die Idee gekommen, hier in Aris eine Farmschule zu gründen“. Ursprünglich kommt Barbara Rattay aus Mecklenburg-Vorpommern. Vor 40 Jahren ging sie nach Namibia. Sie landete in Aris. Einem Ort, der damals wie heute aus einem Gasthaus und einer Farm besteht. Mit ihrem Mann betrieb sie zunächst das Gasthaus, später bauten die beiden in der Nähe eine Lackfabrik auf. Nicht weit entfernt stellte der befreundete Farmer Voigts dann ein Stück Land zur Verfügung, auf dem die Farmschule entstand. Das meiste Geld für den Bau kam aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit stellte einen Großteil des erforderlichen Betrages zur Verfügung. Der Rest kam von gemeinnützigen Institutionen und Privatspendern. Von dem Geld entstand zunächst ein Klassenraum für die anfangs 15 Kinder. Sechs weitere Klassen kamen bis heute dazu, außerdem mehrere „Hostels“ mit über hundert Betten, ein Küchengebäude mit großem Speisesaal, eine Turnhalle, Wohnhäuser für die Lehrer, das Personal und den Schulleiter. Bis heute ist Barbara Rattay dafür verantwortlich, dass der Schulbetrieb und vor allem der des Schülerheims reibungslos funktioniert. Sie kümmert Namibia Markus Mörchen sich um die Buchhaltung, um Reparaturen, die Bezahlung der Angestellten und die Ernährung der Kinder. Einen Teil des Essens bekommt sie von der Welthungerhilfe. Den Rest muss sie möglichst billig beschaffen. Es fällt ihr schwer, die Frage nach der Motivation für ihre ehrenamtliche Tätigkeit zu beantworten. „Der Grundgedanke wird wohl sein“, sagt sie nach einigem Zögern, „dass man hier die Möglichkeit hat, den Kinder, die hier in die Schule gehen, für die Zukunft eine bessere Chance zu geben. Es sind zwar nur wenige – aber immerhin“. Mittlerweile sind an vielen Stellen in Namibia Farmschulen, wie die in Aris, entstanden. Schulen auf privatem Grund und unter privater Obhut, an denen unter staatlicher Aufsicht unterrichtet wird. Sie sind zu einer wichtigen Stütze im Bildungssystem des Landes geworden. Vor allem füllen sie eine Lücke für die unteren Einkommensschichten: Für die, die ihre Kinder nicht in weit entfernte Heime schicken können, weil sie dafür kein Geld haben. Die meisten Farmschulen sind stark subventionierte Institutionen: Der Staat übernimmt die Lehrergehälter, einen Betrag für die Instandhaltung der Gebäude (pro Jahr 3000 N$ pro Gebäude) und ein Pro-Kopf-Tagegeld für die Kinder, die in den angeschlossenen Heimen leben. Der liegt bei 4 Namibia-Dollar pro Tag – umgerechnet 1,50 Mark. Er liefert ferner die Lehrmittel und die Schulausstattung. Den Rest – Strom, Wasser, Gehälter für Heimpersonal etc. – muss die Schule selbst tragen. Während viele andere Farmschulen in Namibia auch für den laufenden Betrieb mit Spenden aus Deutschland versorgt werden, muss Barbara Rattay mit dem auskommen, was der Staat ihr als Zuschuss bezahlt. Damit müssen dann auch alle anderen Kosten beglichen werden: Verpflegung, Heimpersonal oder die Instandhaltung der Gebäude. „Wenn wir ganz hart rechnen, kommen wir so eben damit hin“. Eigentlich sollen auch die Eltern der Kinder einen monatlichen Betrag für das Heim und einen Schulfonds bezahlen – doch nur wenige können sich das wirklich leisten. „Noch nie“, erzählt mir Dieter Esslinger vom Ministerium für Grundschulerziehung und Kultur, „haben wie einen Antrag zur Gründung einer Farmschule abgelehnt“. Die Regierung unterstützt diese Institutionen, um im ländlichen Bereich überhaupt Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Denn Geld, um dort eigene Schulen zu bauen, hat sie nicht. Durch die Weitläufigkeit des Landes sind es bis zur nächsten Schule oft Hunderte von Kilometern. Und so würden viele Kinder einfach zu Hause bleiben, würde es die Schulen auf dem Farmland nicht geben. „Wir erreichen eine ganze Menge von Schülern, die wir sonst nicht erreichen würden“, sagt Dieter Esslinger. „Eltern würden ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Wir können die Schulpflicht nicht erzwingen. Die Kinder, die in der Nähe einer Farmschule aufwachsen, haben den großen Vorteil, dass sie wenigstens dahin gehen können, dass sie nicht in die Städte müssen. Insofern sind Farmschulen schon ein wichtiger Faktor in Namibia“. Markus Mörchen Namibia Die Frage, wie viele Farmschulen es mittlerweile in Namibia gibt, kann mir auch im Bildungsministerium niemand beantworten. Denn in den Statistiken wird kein Unterschied gemacht zwischen staatlichen und den halbprivaten Institutionen. Den Grund dafür erklärt mir ein Mitarbeiter des Bildungsministeriums: Bis auf die Tatsache, dass Farmschulen auf privatem Grund stehen, gibt es kaum Unterschiede zwischen ihnen und staatlichen Schulen in Kommunalgebieten. Denn auch Farmschulen arbeiten voll nach staatlichen Grundsätzen, die Lehrer sind in den meisten Fällen Beamte, und sie unterstehen der Weisungsbefugnis des Schulministeriums. Was Farmschulen von Schulen in den Städten unterscheidet, ist die Tatsache, dass fast alle Kinder hier schwarz sind. Das liegt nicht daran, dass weiße Kinder dort nicht willkommen wären – im Gegenteil. Vielmehr können es sich deren Eltern leisten, ihre Kinder auf die Privatschulen in den größeren Städten zu schicken. „Die Schüler auf den Farmen könnte man in vielen Fällen auch als marginalisiert betrachten“, erklärt Dieter Esslinger. „Denn in der Tat sind sie an den Rand gedrängt worden. Die Eltern sind Arbeiter auf einer Farm, besitzen natürlich sehr wenig, und sind davon abhängig, dass der Farmer ihnen Kost und Logis und eine einigermaßen angemessene Entlohnung bietet“. Die meisten der Eltern sind Analphabeten: „Ich weiß von vielen“, erzählt mir Barbara Rattay, „die nicht mal ihren Namen schreiben können“. Und so haben sie auch wenig Interesse an der Ausbildung ihrer Kinder: „Am Anfang, da war das sehr schwierig. Weil die Eltern selbst nicht in der Schule waren, haben sie nicht eingesehen, warum ihre Kinder dorthin müssen. Doch inzwischen hat sich das geändert“. Trotzdem sind die Kinder in Aris meist auf sich selbst angewiesen. Viele werden zu Trimesterbeginn von den Eltern zur Schule gebracht, und erst dann wieder abgeholt, wenn das Schuljahr vorbei ist. „Am Anfang habe ich gedacht“, erzählt Barbara Rattay, „die bringen eine Schubkarre voller Kinder hier hin, laden die ab und verschwinden ganz schnell. Manchmal war es wirklich so, dass wir lange suchen mussten, bis wir die Eltern überhaupt wiederfanden“. Einmal im Monat haben die Kinder die Möglichkeit übers Wochenende nach Hause zu fahren. Doch viele bleiben in der Schule. „Wahrscheinlich deshalb“, mutmaßt eine der Lehrerinnen in Aris, „weil die Kinder keine Familie haben oder sich die Familie nicht um die Kinder kümmert“. Barbara Rattay weiß, dass ihre Schule für viele der Kinder die einzige Chance ist. Doch sie kennt auch die Gefahren ihrer privaten Entwicklungshilfe. „Wir haben versucht, eine Umgebung zu schaffen, wo die Kinder eigentlich ganz zufrieden sein können. Aber man muss dabei immer überlegen: Das ist in einem weißen Kopf ausgebrütet. Das muss für die Schwarzen nicht immer das richtige sein“. Namibia Markus Mörchen Der Platz der drei Farben „Sehen Sie auf den Boden: Die Farbe des Sandes wechselt zwischen rot, schwarz und weiß.“ Reiner Stommel macht eine weite Handbewegung über den Platz, über den wir gerade fahren. Mit einem alten Pick-Up sind wir auf seinem riesigen Farmgelände unterwegs. Dessen Namen versucht mir Reiner Stommel zu erklären: „Otjikondo“ bedeutet in der Hererosprache so viel wie „Platz der drei verschiedenen Farben“. Otjikondo liegt im Nordwesten Namibias, an der Straße zwischen Outjo und Kamanjab unterhalb der Etosha-Pfanne. Ich bin erstaunt, als ich den Ort auf der Landkarte finde. Das liegt wohl daran, dass die kleine ländliche Niederlassung an einer strategisch wichtigen Straßenkreuzung liegt. Früher bestand Otjikondo gerade mal aus einer Polizeistation und einem Postamt. Reiner Stommel hatte schon als junger Mann die Absicht, das Farmgelände zu kaufen: „Ich hatte immer den Traum, hier eine Schule zu bauen – weil das ein so zentraler Punkt war. Und das haben wir dann ja auch durchgeführt“. Mit Landschulen hatte Reiner Stommel schon damals viel Erfahrung: Mit 25 kam er als Pater aus Deutschland nach Namibia, um in der römisch-katholischen Missionsstation St. Michael zu arbeiten. Die Mission liegt ganz in der Nähe seines heutigen Farmgeländes. Die zu St. Michael gehörende Schule – bereits 1948 gegründet – bietet heute Platz für vierhundert Schüler. 10 Jahre kümmerte sich Reiner Stommel um die Mission, bevor er vor mehr als 30 Jahren aus dem Orden austrat. 1989 kaufte er zusammen mit seiner Frau Gillian die Farm Otjikondo. Die alten Gebäude wurden renoviert, neue gebaut: Klassenräume, Jungen- und Mädchenheim, Wohnungen für das Personal, Speisesaal und Küche. 1992 begann der Schul- und Heimbetrieb mit 100 Kindern. Als 1993 das Erziehnungsministerium die Anzahl der Klassen in „Primary Schools“ von fünf auf sieben erhöhte, mussten weitere Klassenzimmer angebaut werden. 1997 ließ Reiner Stommel am Rande des Schuldorfs eine mächtige Kirche bauen. Aufgebaut ist Otjikondo nach dem Muster englischer Internatsschulen. 160 Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren besuchen heute die Grundschule. Sie kommen aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Ähnlich wie in Aris wohnen und arbeiten ihre Familien auf den umliegenden Farmen. „Farmschulen sind absolut wichtig für Namibia“, erklärt mir Reiner Stommel. „Denn es kann ja nicht alles verstädtern. Die Landflucht wird ja sonst immer größer und die Arbeitslosigkeit ist ja sowieso schon groß genug. Unser Ziel ist, die Kinder so zu erziehen, dass sie auch auf dem Land bleiben wollen. Deshalb auch die handwerkliche Ausbildung“. Mit handwerklicher Ausbildung meint der Farmer das umfangreiche Nachmittagsprogramm, das den Kindern in Otjikondo angeboten wird. Neben Sport-, Spiel- oder Theatergruppen werden die Kinder in der Farmarbeit, in Küchen- und Haushaltstätigkeiten unterrichtet. In einer Markus Mörchen Namibia Schreiner- und einer Eisenwerkstatt bekommen die älteren Kinder lebenspraktischen Unterricht. „Auf der Farm herrscht noch ein ganz normales Klima“, erklärt mir Reiner Stommel. „ Hier werden sie auf der Farm unterrichtet, und das Farmleben geht ja weiter“. Idealismus und der Glaube an eine Verbesserung der Lebenssituation der Kinder, sagt Reiner Stommel heute, habe ihn damals zum Bau der Schule getrieben. Tatsächlich ändert sich für die Kinder die Lebenssituation erheblich – zumindest für die Zeit, in der sie hier zur Schule gehen. Denn mit dem Tag ihrer Einschulung kommen sie in eine völlig neue Umwelt, die ab dem sechsten Lebensjahr entscheidend auf sie einwirkt: Für die meisten ist es ungewohnt, im Bett zu schlafen. Für uns alltägliche Dinge, wie Toilette, Besteck oder Stifte, sind für sie vollkommen neu. Dazu kommt, dass die Farmschule Otjikondo für namibische Verhältnisse, was Sauberkeit und Hygiene angeht, mehr mit einer deutschen Institution vergleichbar ist als mit ähnlichen Schulen in Namibia. Die Kinder lernen einen Standard kennen, der wenig mit ihrer bisherigen Lebensweise zu tun hat. Obwohl die alten Traditionen nach wie vor stark bei den Kindern verwurzelt sind und auch zum Teil vom Personal an der Schule gefördert werden, findet bei ihnen eine starke Bewusstseinsänderung statt, die eine Rückkehr in die gewohnte Lebenswelt oft schwierig macht. Generell tragen Farmschulen dazu bei, befürchtet Dieter Esslinger vom Ministerium für Grundschulerziehung und Kultur, dass die Erfahrungswelt der Kinder und ihrer Familien immer weiter auseinanderdriftet: „Wenn die Eltern selber nicht lesen und schreiben können, wenn sie keine Schulbildung hatten, bewirkt Schulerziehung eine Entfremdung der Kinder von den Eltern. Und noch ein anderes Problem bringen die Schulen auf dem Land mit sich“, fährt Dieter Esslinger fort. „Schüler, die eine Farmschule abolviert haben, finden es oft schwer, den Anschluss in städtischen Schulen zu finden, und das ist ein sehr komplexes Problem. Einmal haben diese Schüler eine kulturelle und soziale Barriere zu überwinden. Sie sind in einem eigentlich geschützten Milieu aufgewachsen und ziehen jetzt in die Stadt. Und dort haben sie es dann schon schwer. So entsteht sehr schnell ein Gefälle zwischen der städtischen Bevölkerung Namibias einerseits, und der ländlichen andererseits“. Der Unterhalt der Schulen ist das größte Problem, erklärt mir Reiner Stommel. Trotz des Geldes, das er vom „Ministry of Education“ bekommt, ist er auf andere Finanzierungsquellen angewiesen. Zwei Stiftungen beteiligen sich an den Kosten, die Eltern zahlen – sofern sie das können – ein geringes Schulgeld. Außerdem bekommt die Familie durch ihre gute Öffentlichkeitsarbeit sehr viele Privatspenden. „Ohne Spenden aus Deutschland und England wäre die Farmschule wohl nicht zu halten“. Was die finanzielle Lage in Otjikondo und in anderen Farmschulen noch erschwert, sind Sparmaßnahmen im Bildungswesen Namibias. So stieg die Anzahl der Schüler, die in eine Klasse gehen, kontinuierlich an. Lag das Leh304 Namibia Markus Mörchen rer-Schüler-Verhältnis früher bei 1:25, so wurde es mittlerweile auf 1:38 erhöht. Zwar stiegen die staatlichen Aufwendungen für Bildung auf mehr als eine Milliarde Namibia Dollar im Jahr. Doch die Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitsbereich nahmen in den letzten Jahren proportional weniger zu als der Gesamthaushalt. Für die Regierung wird es immer schwerer, bei der Verteilung der Geldmittel die Prioritäten bei den sozialen Bereichen zu belassen. Das liegt vor allem an der Überbürokratisierung der namibischen Gesellschaft, die sich immer mehr negativ auf den Staatshaushalt auswirkt. Mehr als 5% der Gesamtbevölkerung ist mittlerweile im öffentlichen Dienst beschäftigt. Aufgrund einer in der Verfassung verankerten „Kontinuitätsklausel“, die die SWAPO-Regierung zur Übernahme des gesamten bestehenden Beamtenapparates verpflichtete, wurden nach der Unabhängigkeit etwa 60.000 Angehörige des öffentlichen Dienstes weiterbeschäftigt. Durch zusätzliche Neueinstellungen stieg die Zahl der Staatsbediensteten später auf über 70.000. Fast die Hälfte des Staatshaushaltes entfällt inzwischen auf Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst. Doch auch wenn das Bildungssystem mit etwa einem Drittel der Gesamtausgaben noch immer gut bedient ist, wird vor allem von ausländischen Institutionen immer wieder Kritik an der Verteilung der Gelder geübt. Denn der größte Teil der Ausgaben des Bildungsministeriums geht in die Lehrergehälter und Schulmaterialien; alle weitergehenden Maßnahmen werden vernachlässigt: „Die hohen staatlichen Ausgaben für den Bildungsbereich bringen wenig“, konstatiert das Münchner ifo Institut für Wirtschaftsforschung in einer Studie, „wenn 41 Prozent der Lehrer keinen Schulabschluss haben, 28 Prozent von ihnen ohne jegliche Qualifikation sind und wenn Englisch als Unterrichts- und Prüfungssprache nur von einer Minderheit von Schülern wirklich verstanden und angewandt werden kann“. Und noch ein anderes Problem belastet das Bildungssystem seit der Unabhängigkeit. 1990 erhob die neue Verfassung Englisch zur alleinigen Amts- und zur vorrangigen Unterrichtssprache. Alle anderen Sprachen Namibias sind seither gleichrangige Nationalsprachen. Für die meisten Namibier bedeutete das eine große Umstellung: 1990 war für nur knapp 1% der namibischen Bevölkerung Englisch die Muttersprache. Auch die Zahl derer, die Englisch als zweite oder dritte Sprache beherrschten, war minimal. Bis heute hat sich die Zahl der Englischsprechenden zwar immer weiter erhöht – dennoch ist Afrikaans als ehemalige offizielle Landessprache unter der südafrikanischen Besatzung nach wie vor wesentlich weiter verbreitet als Englisch. Die wesentliche Bedeutung bei der Verbreitung der neuen Nationalsprache kommt den Schulen zu: Ab der vierten Klasse soll in Englisch unterrichtet werden – es sei denn eine andere Sprache ermöglicht eine effektivere Schulausbildung. In den ersten drei Unterrichtsjahren haben die Kinder ein Anrecht Markus Mörchen Namibia auf ihre Muttersprache als Unterrichtsmedium. Doch gerade in Farmschulen ist es wegen der vielen ethnischen Gruppen, die in eine Klasse gehen, oft schwierig, für alle Kinder muttersprachlichen Unterricht anzubieten. In Otjikondo werden die Kinder deshalb bereits ab der ersten Klasse in Englisch unterrichtet. Einer der Schüler erzählt mir, dass es gerade deshalb anfangs sehr schwer für ihn war. „Denn zu Hause“, sagt er, „habe ich doch eine ganz andere Sprache gesprochen“. Hilfe zur Selbsthilfe „Man muss etwas, und sei es noch so wenig, für diejenigen tun, die unsere Hilfe brauchen, aber nicht um Lohn dafür zu empfangen, sondern aus Freude, es tun zu dürfen“. Das kluge Zitat Albert Schweitzers fällt mir sofort ins Auge, als mir Barbara Mais-Rische die Broschüre ihrer Stiftung überreicht. Darin beschreibt sie die Arbeit, die seit fast 10 Jahren ihren Lebensmittelpunkt ausmacht: 1989 gründete sie, mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann und anderen Farmern, die Stiftung „Ombili“ (übersetzt: Frieden). Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, einer der bedrohten Bevölkerungsgruppen Afrikas Beistand zu leisten: Den Buschleuten. Die San, die Ureinwohner Namibias, zählen zu den ältesten noch existierenden Ethnien. Der Untergang der Nomaden begann 1950, als große Teile ihrer Jagdgebiete zu Naturschutzparks erklärt wurden. 1970 wurde den San durch die Regierung ein Reservat in der Kalahari, im Nordosten des Landes, zugewiesen. Trockenheit und damit verbundener Rückgang der Wildbestände verschlimmerten die Lage noch weiter. „Es ist leider so“, sagt Barbara MaisRische, „dass trotz der Größe und Weite Namibias, der Lebensraum der Buschleute nicht mehr vorhanden ist“. Heute leben noch etwa 30.000 San in Namibia, doch nur etwa 2000 gemäß ihrer ursprünglichen Lebensweise als Jäger und Sammler. „Eines der größten Probleme der Buschleute ist auch heute noch, dass sie von den anderen Bevölkerungsgruppen Namibias nicht als vollwertige Menschen angesehen, sondern nach wie vor in die Ecke gedrängt werden“. Glaubt man einer UNO-Studie aus dem Jahr 1996, stehen die San an letzter Stelle der Entwicklungsstufe in Namiba. Für Barbara Mais-Rische und die anderen Beteiligten ist klar: Die San müssen sesshaft werden, sich an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen, müssen lernen, wie man Landwirtschaft betreibt. „Die brachliegenden Talente dieser Menschen muss man wecken und fördern, damit sie unabhängig von der Natur ihr Brot verdienen können“. An der „Pad 3004“, 80 Kilometer westlich von Tsumeb, liegt das Gelände der Ombili-Stiftung. Das 30 Hektar große Anwesen wurde 1995 von Farm- Namibia Markus Mörchen besitzer Klaus-Jürgen Mais-Rische an die Stiftung übertragen. 300 San leben heute hier in mehreren Dorfgemeinschaften. Selbstgebaute Grashütten wurden zu ihrem neuen Zuhause. Momentan baut die Ombili-Stiftung mit deutschen Spenden mehrere große Steinhäuser mit Grasdächern, da die alten Behausungen für die größeren Familien zu klein geworden sind. Ansonsten versuchen die San, ihre alten Traditionen so gut es geht zu erhalten. Nach wie vor haben sie ihre Feuerstellen vor dem Eingang ihrer Hütten. In der freien Natur sammeln sie Produkte für Handarbeiten und – so weit vorhanden – Nahrung, wie Beeren, Termitenpilze, wilden Spinat, Knollen und Wurzeln. Jagen dürfen sie nicht mehr, da das Gelände der Ombili-Stiftung umgeben ist von privatem Farmland. Auch sonst hat das Leben der San nur noch wenig mit ihrer traditionellen Lebensweise gemein. Barbara Mais-Rische und die anderen am Projekt beteiligten Helfer versuchen, feste Arbeitszeiten einzuführen, um die Buschleute an einen anderen Lebensrhythmus zu gewöhnen. „Sie wollen ja wie die Weißen sein“, erzählt mir eine Mitarbeiterin. „Sie wollen leben wie die Weißen, und das haben, was die Weißen haben. Doch das bedeutet eben Arbeit – viel Arbeit“. Zu den morgentlichen Pflichten der San zählen Arbeiten auf dem Feld oder in dem auf dem Gelände angelegten Garten. Als Gegenleistung bekommen die Buschleute einmal wöchentlich Nahrung, die zum Teil selbst angebaut wird – beispielsweise Hirse, Trockenbohnen, Gemüse oder Milch. Der Rest wird mit Spendengeldern angekauft. Am Nachmittag sollen die San traditionelle und neu erlernte Handarbeiten anfertigen, die in Namibia und den Dritte-Welt-Läden in Europa verkauft werden. Das eingenommene Geld steht den San zur freien Verfügung. „Wir wissen“, sagt Beate Mais-Rische, „dass es unmöglich ist, diese Leute, die seit ihrem Bestehen im Gruppendenken und gemeinsamen Tun verwurzelt waren, über Nacht in eine moderne Gesellschaft aufzunehmen“. Deswegen liegt das Hauptaugenmerk der Stiftung auf der schulischen Ausbildung der Kinder. 1993 wurde in Ombili eine Schule mit angrenzenden Wohnungen für die Lehrer und die anderen Mitarbeiter gebaut. „Man kann eigentlich nur bei den Kindern anfangen“, erklärt mir Beate Mais-Rische. „Es geht nur über den Bildungsweg, dass der Buschmann eines Tages mal eine bessere Stellung in Namibia einnehmen kann“. Der Buschmann-Experte Reinhard Friedrich, der die San-Projekte in der Region koordiniert, fügt hinzu: „Durch die Schulbildung wollen wir erreichen, dass sich diese Menschen eines Tages einmal selbst vertreten können, in der Welt, in der wir heute leben“. Fast alle Buschmann-Kinder in der Ombili-Stiftung, die im schulpflichtigen Alter sind, werden hier unterrichtet. Allein das ist schon ein Erfolg. Denn landesweit liegt der Anteil der Buschmann-Kinder, die zur Schule gehen, deutlich niedriger als der von Kindern anderer ethnischer Gruppen. Doch auch Markus Mörchen Namibia wenn die Kinder den Unterricht mögen, stößt seine Durchführung auf viele Schwierigkeiten – ähnlich wie in anderen Farmschulen. „Im Prinzip ist es den Eltern egal, ob die Kinder zur Schule gehen. Sie sind ja auch nicht zur Schule gegangen“, sagt Nora Brandt, eine der Lehrerinnen in Ombili. Um auch die Eltern mit der neuen Erfahrungswelt der Kinder zu konfrontieren, werden ihnen Sprachkurse angeboten. Bisher allerdings mit wenig Erfolg; das Angebot wird kaum genutzt. Auch die Lehrmittel, die das Bildungsministerium der Schule zur Verfügung stellt, schaffen Probleme. Denn das, was in den Schulbüchern beschrieben wird, hat nur wenig mit der Erfahrungswelt der San-Kinder zu tun. „Die Kinder in den Städten kennen Ampeln, Uhren und so was. Hier ist das anders. Hier haben die Kinder so etwas noch nie gesehen“. Das größte Problem, das die Ombili-Schule hat, ist die Kommunikation: Erst vor kurzem wurden die verschiedenen Sprachen der San schriftlich erfasst, so dass man immer noch dabei ist, diese umzusetzen und Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. „Der muttersprachliche Unterricht ist in Ombili nicht möglich“, erklärt mir Nora Brandt. Schließlich kannten die Buschleute bisher überhaupt keine Schulausbildung; nur die wenigsten können lesen und schreiben. „Und so haben wir hier keine Buschmann-Lehrer, keine San-Lehrer. Wir haben auch keine Weißen, die diese Sprache beherrschen, um den Kindern in ihrer Muttersprache Unterricht zu erteilen. Die fangen also in der Vorschule schon mit einer fremden Sprache an“. Ab der ersten Klasse also müssen die Buschmannkinder in zwei Fremdsprachen – Englisch und Afrikaans – lesen, rechnen und schreiben lernen. „Da erwarten wir von diesen Kindern einfach Umögliches“, sagt Beate Mais-Rische. Um den Einstieg etwas zu erleichtern, wird in Ombili teilweise mit Übersetzern gearbeitet, die den Kindern erklären, was die Lehrer überhaupt von ihnen wollen. Beate Mais-Rische hofft, dass die Kinder durch die Ausbildung eines Tages sesshaft werden – und nicht wie ihre Eltern regelmäßig in den Busch zurückgehen. „Nur so werden sie eine bessere Zukunft haben“. Doch noch ist es schwierig, die Buschleute an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Noch zu fest sitzen alte Wurzeln und Traditionen, erklärt mir Nora Brandt. „Wenn es geregnet hat, ist die Schule auf einmal leer. Dann gehen die Eltern in den Busch und nehmen die Kinder mit. Nach einer Weile kommen sie wieder und wollen zurück in die Schule. Dann haben sie aber ein Vierteljahr verpasst, und wir müssen sie ein ganzes Schuljahr zurücksetzen. Und so kommen sie nicht weiter“. Namibia Markus Mörchen Schule alleine reicht nicht Die Kirche steht auf einer kleinen Anhöhe. Schon von weitem erkennt man sie, ebenso wie die roten Dächer der anderen Gebäude. Das, was auf den ersten Blick aussieht wie ein ganzes Dorf, ist in Wirklichkeit eine der größten Farmschulen Namibias: Baumgartsbrunn, eine der ersten Schulen dieser Art im ehemaligen Südwestafrika. Knapp 40 Kilometer außerhalb von Windhuk liegt sie, am Rande des Khomas-Hochlandes. Auf dem Schulgelände stehen über 80 Häuser: Klassenzimmer, Schülerheime, Lehrwerkstätten und ein kleines Krankenhaus. Initiator und Betreiber von Baumgartsbrunn ist ein Deutscher, Helmut Bleks. Ich treffe ihn in seinem großen Büro auf dem Schulgelände. Seine fast 80 Jahre sieht man ihm nicht an. Im Gegenteil: Noch immer, so scheint es, steckt er voller Tatendrang und Energie. Helmut Bleks erinnert sich gerne an das, was er in den letzten 30 Jahren auf die Beine gestellt hat. Einige der Geschichten, die er erzählt, kenne ich schon aus Zeitungsberichten. Interessant sind sie allemal. Früher war Helmut Bleks erfolgreicher Manager eines großen Industrieunternehmens in Bochum. Nach einem Herzinfarkt stieg er aus seinem Berufsleben aus und ging mit seiner Frau nach Namibia. Hier kauften die beiden ein Farmgelände. Bald bemerkte Bleks, dass die Arbeiter seiner Farm weder lesen noch schreiben konnten. Da es in der Nähe keine Schule gab, so seine Befürchtung, würden wohl auch die Kinder der Farmarbeiter Analphabeten und somit ohne große berufliche Perspektive bleiben. Der Gedanke, eine Schule direkt auf seinem Farmgrundstück zu bauen, entstand. „Das war keine Idee, das war eine Notwendigkeit“, sagt Bleks heute. “Wir haben ja hier auf dem Land keine Schulen gehabt. Es fehlte ja an allem. Zunächst war da die Notwendigkeit, dass sie lesen und schreiben lernten. Und es war ja nicht einzusehen, dass die Kinder hier, 35 Kilometer von der Hauptstadt Windhoek entfernt, in der Wildnis leben“. 1973 kam der erste Lehrer. Er unterrichtete die ersten 20 Kinder im Schatten eines Baumes. Eine Tafel gab es nicht, die Kinder schrieben mit Stöcken in den Sand. Im nächsten Jahr wurden zwei richtige Klassen gebaut und zwei weitere Lehrer angestellt. Heute gibt es 30 Lehrer in Baumgartsbrunn und mehr als 500 Schüler. Doch nicht die Größe macht Baumgartsbrunn zu einer ganz besonderen Bildungseinrichtung, sondern die Tatsache, dass die Lernmöglichkeiten hier über die sonst an Farmschulen übliche Grundschulausbildung hinausgehen. Gegenüber der Grundschule baute Bleks eine zweite Bildungsinstitution auf: Das „Institute for Home Science and Agriculture“. 1991 gegründet, bietet die Schule heute 40 bis 50 jungen Frauen die Möglichkeit, einen Beruf im Hotelfach, in der Landwirtschaft oder in der Sozialpflege zu erlernen. Zu den angebotenen Unterrichtsfächern zählen Hand- und Gartenarbeiten, Maschinenschreiben, Buchführung, Servieren, Backen oder Weben. In diesem Jahr will Bleks zusätzlich Markus Mörchen Namibia einen Buchbinderkurs anbieten. Die Ausbildung dauert zwei Jahre. Im ersten Jahr belegen die Schülerinnen alle Unterrichtsfächer. Im zweiten erfolgt eine Spezialisierung auf ausgewählte Fächer. Den Abschluss bildet ein sechswöchiges Praktikum. Auf die Haushaltsschule ist Helmut Bleks besonders stolz. Nicht ohne Grund. Denn seine Initiative füllt eine Lücke im Ausbildungssystem Namibias. “Ich bin der Meinung, dass wir nicht nur akademische Schulen haben dürfen – gerade in diesem Land. Sondern wir brauchen viel mehr Berufsschulen. Die Folgen sehen wir doch jetzt: Wenn sie einen guten Fachmann brauchen, wird er nicht da sein, wenn die Fabriken gute Fachleute brauchen, sind nicht genügend da“. Qualifizierte, berufsbezogene Ausbildung gibt es in Namibia bisher kaum. Die Regierung hat sich zwar ein duales System der Berufsschulbildung nach deutschem Vorbild zum Ziel gesetzt – doch dafür fehlen die finanziellen Mittel. Und so sind technische Schulen, Berufsschulen und selbst Lehrstellen immer noch Mangelware. Stattdessen werden an den herkömmlichen Schulen nach dem 9. Schuljahr praktische Fächer gelehrt. Außerdem beschränkt sich die Fachausbildung in Namibia bisher meist nur auf männliche Jugendliche. Auch hier setzt Bleks neue Maßstäbe. „Wenn ich Ihnen sage, dass die Ausgebildeten alle wegkommen, dann ist das nicht zu glauben, wenn man bedenkt, wie hoch die Arbeitslosenquote hier ist. Daraus kann man doch schließen, dass wir viel weniger Arbeitslose hier hätten, wenn mehr Menschen ausgebildet würden”. Obwohl pro Jahr viermal so viele Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt drängen wie neue Arbeitsplätze vorhanden sind, haben bisher alle Absolventinnen der Haushaltsschule problemlos eine Stelle gefunden. Und so ist es auch kein Wunder, dass sich in jedem Jahr etwa 700 bis 800 junge Namibierinnen für die Schule bewerben, obwohl sie nur insgesamt 50 Plätze anbieten kann. Für die Finanzierung seiner Projekte gründete Helmut Bleks eine Stiftung, die vor allem aus Deutschland unterstützt wird. Das Bonner Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit beispielsweise, gibt große Zuschüsse zu Bleks Bauprojekten. Andere Hilfe aus Deutschland kommt von gemeinnützigen Institutionen, Kirchen, Firmen oder Privatpersonen. Inzwischen ist das Land Nordrhein-Westfalen zu seinem wichtigsten Förderer geworden: Die Staatskanzlei in Düsseldorf unterstützt die Haushaltsschule Baumgartsbrunn mit jährlich etwa 70.000 Mark für die Ausbildung von 20 Personen im Hotelund Tourismusbereich. Damit deckt das Land Nordrhein-Westfalen mehr als die Hälfte der jährlichen Betriebskosten von 120.000 DM. Der andere Teil wird vom SOS-Kinderdorf-International getragen. Das Land Nordrhein-Westfalen half Bleks damit aus einer Bredouille: Denn nachdem andere Förderer, vor allem die Konrad-Adenauer-Stiftung, 1994 die Zusammenarbeit aufkündigten, musste die Haushaltsschule für Namibia Markus Mörchen kurze Zeit geschlossen werden – bis Bleks in der Staatskanzlei einen neuen Geldgeber fand. Der Grund dafür, dass ihm gleich mehrfach potentielle Geldgeber den Rücken zukehrten, soll nicht allein in der sich verschlechternden Finanzlage der Stiftungen gelegen haben, erfahre ich von ehemaligen Mitarbeitern und Förderern. Bleks Finanzgebahren sei äußerst undurchsichtig gewesen, höre ich. So soll ein als Krankenhaus ausgewiesenes Gebäude, vorrangig durch Privatspenden aus Deutschland finanziert, heute als Wohnhaus für die Lehrkräfte dienen – und auch schon vor dem Bau als solches geplant gewesen sein. Bei meinem Besuch finde ich tatsächlich weitgehend leere Räume vor. Von einem Arzt ist nichts zu sehen. Er wäre wohl für die Farmschule auch zu kostspielig. Den Unterhalt und den Ausbau der Haushaltsschule nennt Bleks heute seine wichtigste Aufgabe. Für dieses Jahr hat er sich deshalb noch einmal viel vorgenommen: Auf einer anderen Farm, im Norden des Landes am HuabRevier, soll eine zweite Haushaltsschule nach dem Vorbild Baumgartsbrunn entstehen. Das Farmgelände gehört einem anderen Deutschen, Kurt Bellwinkel. Der Hamburger ist seit Anfang 1999 permanent in Namibia. Schon 1992 kaufte er sich die Farm ganz in der Nähe der berühmten Huab-Lodge, an der er sich zwei Jahre später beteiligte. Zusammen mit den anderen Besitzern gründete er ein privates Naturschutzgebiet. Dort soll nun die neue Schule entstehen. Auf die Idee kam Kurt Bellwinkel nach einem Besuch in Baumgartsbrunn: „Als ich gesehen habe, wie viele gerade junge Leute keine Ausbildung haben und auf Hilfsjobs angewiesen sind, aber relativ einfach eine gute Ausbildung haben können – durch solche Schulen und mit Hilfe privater Initiative – hat mich das motiviert, etwas zu tun. Und der Staat alleine kann solche Aufgaben nicht bewältigen“. Das Geld für die Schule sammelt Bellwinkel vor allem in Deutschland. „Es ist relativ einfach, die nötigen Gelder in Deutschland aufzubringen. Zumindest für kleinere Projekte, bei denen das Geld direkt ankommt“. Noch in diesem Jahr soll der Schulbetrieb aufgenommen werden. Er hofft, dann zumindest ein paar jungen Menschen helfen zu können: „In jedem Beruf arbeiten doch bisher nur Angelernte, selbst eine halbwegs qualifizierte Ausbildung gibt es nicht. Mit einer Ausbildung kann der Betreffende mehr Geld verdienen, besser für seine Familie sorgen – aber auch bessere Qualität liefern“. Doch so gut wie die Absichten der Farmer auch sein mögen: Eine Farmschule wie Baumgartsbrunn zeigt auch die Probleme, die mit der halbprivaten Schulausbildung in Namibia verbunden sind. Die Schulen leben von der Eigeninitiative der Farmer, auf deren Grund sie stehen. „Es ist schon so, dass es vom Farmer abhängt, wie er eine solche Farmschule führt, wie viel Interese er daran hat, dass die Kinder, die dort aufwachsen, eine gute Schulausbildung genießen können, so dass sie später mal aus diesem Milieu entfliehen und weiterkommen kön- Markus Mörchen Namibia nen“, erklärt Dieter Esslinger vom „Ministry of Basic Education“. „Meistens“, so höre ich von einem Mitarbeiter der Hanns-Seidel Stiftung in Namibia, „betreiben Leute die Farmschulen, die eigentlich keine Ahnung davon haben. Doch das Bildungswesen hat eigene Gesetze, die eingehalten werden müssen. Die besten Farmschulen sind die, wo die Farmer intensiv mit der Farmschule mitgehen, wo die Farmer die Schule unterstützen“, meint Dieter Esslinger. Doch auch er weiß: Zu viel Einsatz für die Schule kann der Entwicklung der gesamten Einrichtung im Wege stehen. Denn obwohl die Gründer der Farmschulen meist keine pädagogische Ausbildung haben, bringen sie sich oft sehr stark ein, wenn es um die Inhalte der Schulausbildung geht. So ist das Fach Deutsch obligatorisch in Baumgartsbrunn. „Das ist eines der Fächer, die in den Schulen, die ich zu verantworten habe, täglich gelehrt werden muss“, so die Ansicht von Helmut Bleks. Auch von anderen Farmschulen hört man, dass die kulturellen und religiösen Ursprünge der Kinder kaum gepflegt werden. Stattdessen werden mit Nachdruck eigene Werte vermittelt. So werden beispielsweise die Kinder in Otjikondo im Unterricht nur mit der christlichen Religion vertraut gemacht. Ihre religiösen Wurzeln werden kaum berücksichtigt, bemängelt eine ehemalige Mitarbeiterin. Durch die starke Präsenz des Farmers kommt es häufig zu Konfliktpunkten, weiß Dieter Esslinger: „Wir müssen immer wieder intervenieren, weil es zwischen dem Farmer und dem Schulleiter zu Spannungen kommt“. Farmer Helmut Bleks hat schon mehrfach Lehrer, wie er es nennt „entlassen“ – obwohl die Oberaufsicht an den Farmschulen eigentlich Sache des Staates ist. Anderes Lehrpersonal soll, so hört man von ehemaligen Mitarbeitern und Förderern von Baumgartsbrunn, entnervt die Schule verlassen haben. Zu stark sei der Druck gewesen, eigene Ideen seien nicht gefördert, sondern untergraben worden. Einmal brachten sogar die Schüler ihren Unmut über die angeblich schlechten Bedingungen in der Farmschule, in einem Protestmarsch in das 40 Kilometer entfernte Windhuk zum Ausdruck. Einsatz und Hingabe der Farmer für die Schule kann das Gegenteil von dem bewirken, was sie beabsichtigen, meint ein Mitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung. „Denn viele Farmschulen haben keine Zukunft, weil sie zu stark auf die Person des Farmers konzentriert sind“. Auch auf Baumgartsbrunn trifft diese Einschätzung zu. Denn trotz seiner fast 80 Jahre lässt sich Farmer Bleks nach wie vor keine Entscheidung, die die Schule betrifft, aus der Hand nehmen. Und ein Nachfolger ist nicht in Sicht. „Die Reichen sind reicher, die Armen ärmer geworden“ Dies sagt Ben Ulenga, Vorsitzender der neuen Oppositionspartei „Congress of Democrats“. Tatsächlich trägt Namibias Gesellschaftsstruktur noch immer Namibia Markus Mörchen Züge der kolonialen Hinterlassenschaften, die mit der formalen Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre keineswegs von heute auf morgen verschwunden sind. Gerade mal 1,8 Millionen Menschen leben in Namibia. Das Land, das doppelt so groß ist wie die Bundesrepublik, ist damit eines der am dünnsten besiedelten Gebiete Afrikas. Trotzdem gibt es Ballungsräume, vor allem in den nördlichen Landesteilen. Hier leben 60 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen fernab von Straßen, Strom- und Wasseranschluss. Strohgedeckte Rundhütten, umgeben von Holzumzäunungen aus Stecken und Hölzern, bestimmen das Bild. Dazwischen spärliche Viehzucht auf kargen, sandigen Böden, überweidet und zusätzlich belastet von der anhaltenden Trockenheit. Dagegen konzentriert sich die weiße Bevölkerung auf die Zentralregion um Windhuk, die Küstenstädte und die südlichen Landesteile. Auch wirtschaftlich prallen zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite der exportierende Bergbau und die kommerzielle, auf die Ausfuhr von Rindfleisch und Karakulfellen spezialisierte Agrarwirtschaft. Im Schnitt erwirtschaften sie zusammen etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 80 Prozent der Exporterlöse – wobei der weitaus größere Teil vom Bergbau beigesteuert wird. Dem gegenüber steht auf der anderen Seite die Subsistenzwirtschaft der schwarzen Bevölkerungsmehrheit im Norden. Sie hat zwar nur einen Anteil von 1,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt, ernährt jedoch rund 50 Prozent der Einwohner Namibias. Dementsprechend eklatant sind die Einkommensunterschiede: Das Land, das, aus Sicht der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, als eines der reichsten Länder Afrikas südlich der Sahara gilt, hat eine der unregelmäßigsten Einkommensverteilungen weltweit. Rund 10% der Bevölkerung erhalten 65 % des Volkseinkommens. Ein deutschsprachiger Haushalt konsumiert beispielsweise zwanzigmal mehr als ein khoisansprachiger Haushalt. Solche Konstellationen bergen natürlich jede Menge sozialen Zündstoff. Denn die Privilegierung der weißen Bevölkerungsminderheit ist auch weiterhin deutlich sichtbar. Da das Einkommen dieser Bevölkerungsgruppe aufgrund der Versöhnungspolitik auch in Zukunft weitgehend unangetastet bleiben soll, könnte nur ein Zuwachs der Staatseinnahmen dazu beitragen, dass durch Umverteilung von oben mehr soziale Gerechtigkeit entsteht. „Doch was kann man verteilen“, fragt der Wirtschaftsexperte Henning Melber, „wenn es nicht mehr gibt?“ Die anfällige Wirtschafts- und Einkommensstruktur hat die neue Regierung von den ehemaligen Kolonialherren geerbt. Durch die Dominanz des agraischen, bzw. extraktiven Sektors, hatte die Wirtschaft in erster Linie Bedarf an billigen, unqualifizierten Arbeitskräften. Schulische Bildung und berufstechnische Qualifikation waren nicht gefragt. Und so leidet der Aufbau einer Markus Mörchen Namibia weiterführenden Industrie vor allem unter dem Mangel an einheimischen Fachkräften, aber auch unter der starken Konkurrenz durch südafrikanische Unternehmen und der ungünstigen geographischen Lage des Randlandes. Eine Idee mit Zukunft Schon lange, bevor wir ihn erreichen, zeichnet sich seine Silhouette am Horizont ab. Meine Reisebegleiter hatten Recht: Der Berg hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Matterhorn. Wir sind auf dem Weg zur Spitzkoppe, dem zweithöchsten Berg Namibias. Fast majestätisch erhebt er sich aus der Flachebene der Erongoregion am Rande der Namib. Die große Spitzkoppe erreicht zwar eine Höhe von 1728 Metern, doch das Umland überragt sie gerade mal um 700 Meter. Entstanden ist der Inselberg durch Intrusion: Aus dem Erdinneren stieg Magma auf, drang aber nicht an die Erdoberfläche. Im Laufe von Millionen von Jahren wurde das Deckmaterial abgetragen, übrig blieb nur der harte Granitkern. Malerische Gesteinsformationen und die relativ üppige Vegetation, dazu gut erhaltene Felszeichnungen an den angrenzenden Pondok Mountains machen das Gebiet um die Spitzkoppe zu einem beliebten Ausflugsziel. Noch interessanter als die schöne Natur sind für mich aber die Menschen, die hier zu Hause sind. Die Damaras, die in der kargen Wildnis recht kümmerlich von Ziegenhaltung und dem sporadischen Verkauf von Halbedelsteinen leben, haben hier eine der ersten Tourismusinitiativen der schwarzen Landbevölkerung Namibias gestartet – und eröffneten damit der ganzen Landbevölkerung Namibias einen kleinen Hoffnungsschimmer. Die Damaras entdeckten das Potential, das die natürliche Schönheit der Spitzkoppe birgt. Motiviert durch die steigende Zahl von Touristen kamen sie auf die Idee, mit dem Tourismus etwas Geld zu verdienen. 1993 begannen sie, am Fuß der Berge Campingplätze und Grillvorrichtungen zu bauen. Sie sammelten Feuerholz und verkauften es an die Touristen. Das Gelände wurde eingezäunt, eine Rezeption mit sanitären Anlagen und einem kleinen SouvenirLaden mit Halbedelsteinen und handgeschnitztem Holzschmuck entstand. Daneben eine Bar, wo man das nötigste zum campen bekommen kann: Trinken, Essen, Feuerholz. Das „Spitzkoppe Community Tourism Camp“ war geboren. „Wir sind stolz auf das, was wir hier aufgebaut haben. Und darauf, dass die Touristen hierherkommen, um uns zu besuchen“, erzählt mir die 21jährige Annagret, eine der Mitarbeiterinnen des Camps. „Doch der Anfang war alles andere als leicht“, fügt sie an. „Wir haben mit doppelt so vielen Leuten angefangen, doch viele von ihnen waren nicht zu motivieren, sie wollten nicht arbeiten. Schließlich haben sie aufgegeben und sind fortgerannt. Wir Namibia Markus Mörchen sind dageblieben“. „Gab es Hilfe von außen?“, will ich wissen. „Wir mussten erst etwas aufbauen, bevor uns jemand geholfen hat. Wir haben ganz ohne Hilfe angefangen, dann kamen die Hilfsorganisationen, um uns beizustehen. Aber das meiste haben wir selbst gemacht“. Mitte der 90er Jahre wurde die Nicht-Regierungs-Organisation „AgriFutura“, eine Partnerorganisation der Konrad-Adenauer-Stiftung, auf die Initiative aufmerksam. Man beschloss, den Damara zu helfen. Aber nicht mit Geld, sondern mit Rat und Ausbildung. Zum Beispiel kümmert sich die Organisation um die Vermarktung der Tourismusinitiative. Mit Faltblättern versucht man, möglichst viele Touristen an die Spitzkoppe zu locken. Die Mitarbeiter des Projekts wurden in Buchführung, Öffentlichkeitsarbeit oder Reiseführung geschult. Sie arbeiten heute als Camp-Personal, Touristen-Führer und Kutscher für Fahrten mit dem Eselskarren. Camp-Arbeiter bauen neue Feuerstellen oder Toiletten und sammeln den Müll ein. So gelingt es, die Landschaft weitgehend sauber zu halten. Das die meisten Touristen nach wie vor weitgehend wild zelten müssen, findet Annagret nicht schlimm: „Die meisten Touristenattraktionen, die den Weißen gehören, bieten den ganzen Luxus und was dazugehört. Hier haben wir nur einfache Dinge, und wir werden das auch nicht ändern. Denn für uns ist das auch so eine ganz besondere Gegend. Auch die Touristen, die hierherkommen, sagen: Hier brauchen wir keinen Luxus, weil es hier so schön ist“. Am Eingangstor muss jeder Besucher umgerechnet drei Mark Eintritt bezahlen, pro Auto kommen noch einmal drei Mark dazu. Die 16 bis 18 Projektmitarbeiter verdienen monatlich 350 N$, umgerechnet etwas mehr als hundert Mark. Für die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Namibias ist das ein kleines Vermögen. Der Rest der Einkünfte, monatlich bis zu 11.000 N$, wird in neue Projekte investiert. Zum Beispiel werden zur Zeit mehrere kleine Bungalows gebaut, in denen eines Tages mal die etwas empfindlicheren Touristen schlafen sollen. Ein kleiner Lastwagen wurde angeschafft, damit die Projektmitarbeiter nicht alle Wege auf dem riesigen Gelände mit dem Eselskarren, dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen müssen. Bleibt dann noch Geld übrig, fließt das an die „Community“, die Dorfgemeinschaft. Damit langfristig alle Mitglieder der Gemeinde gleichermaßen am Tourismusgeschäft verdienen können, soll eines Tages mindestens einer aus jeder Familie im Projekt mitarbeiten. Schon heute geht es der Damara-Gemeinde besser als vielen anderen, meint Annagret. „Wenn wir das Projekt nicht hätten, sähe es nicht gut aus. Viele hier sind arbeitslos. Aber so haben die meisten Familien Geld für Essen, was zum Anziehen und sind glücklich. Also es ist wirklich ein großer Vorteil für unsere „Community“. „Community Based Tourism“ ist heute der feststehende Begriff für Tourismusinitiativen, wie die an der Spitzkoppe. Eine neue Form des Tourismus. Markus Mörchen Namibia „Community Tourism“ ermöglicht erstmals das grundlegende Recht der Gemeinden vor Ort, aktiv am Tourismus teilzuhaben. Es sieht vor, dass die Entwicklung der Projekte nach den Vorstellungen der dort lebenden Bevölkerung, also möglichst „innengesteuert“ erfolgt. So sollen einerseits Einheimische am Geschäft beteiligt, andererseits Impulse in der Entwicklung des ländlichen Raums gegeben werden. „Namibia ist ein Tourismusland und der Tourismus ist in der hiesigen Volkswirtschaft der einzige Wachstumssektor“, erklärt mir Burkhard Dobiey, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Namibia. „Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, auch die ländliche Bevölkerung an dem wachsenden Tourismus teilhaben zu lassen, damit auch sie ihren Nutzen daraus ziehen kann. Das ist die Idee des „Community Based Tourism“. Tatsächlich hat der Tourismussektor seit der Unabhängigkeit kontinuierlich an ökonomischer Bedeutung gewonnen. Er verzeichnet jährliche Wachstumsraten zwischen 8 und 10 Prozent. Der Tourismus trägt damit entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes bei. Bereits jetzt nimmt er auf der Skala der wichtigsten Wirtschaftszweige, nach Bergbau und Landwirtschaft, den dritten Platz ein. Unter den wichtigsten Devisenquellen rangiert er nach dem Bergbau sogar schon auf Platz 2. So ist es wenig verwunderlich, dass die Förderung des Fremdenverkehrs als hochrangiges wirtschaftspolitisches Ziel der Regierung gilt. Da Tourismus als eine eher arbeitsintensive Industrie gilt, erhofft man sich die Schaffung von weiteren Arbeitsplätzen und größerem Einkommen, um so eine größtmögliche direkte Beteiligung der namibischen Gesellschaft am Wirtschaftsfaktor Tourismus zu erreichen und regionale Einkommensunterschiede auszugleichen. Doch genau da liegt das Problem. Denn bisher wird die einheimische Bevölkerung in ländlichen Regionen nur unzureichend am Tourismus beteiligt. Bis auf wenige Ausnahmen befinden sich die touristischen Projekte und Tourismuskonzessionen in der Hand externer, meist weißer Unternehmer. Auch das eine Folge der kolonialen Strukturen. Für die Einheimischen beschränkt sich die Teilnahme am Tourismus auf wenige, schlecht bezahlte Arbeitsplätze als Kellner, Koch oder Zimmermädchen in den meist luxuriösen Tourismusbetrieben. Der Großteil der Landbevölkerung wird häufig unvorbereitet vom Tourismus überrannt, hat keine Möglichkeit, sich anzupassen und eigene Interessen zu vertreten. Deshalb wird nun der Versuch unternommen, eine breite Bevölkerungsschicht in die touristischen und wirtschaftlichen Aktivitäten des Landes einzubeziehen. Der frühere Tourismusminister Gert Hanekom: „Unglücklicherweise profitiert die ländliche Bevölkerung in vielen Fällen kaum vom Tourismus, und Touristen haben wenig Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Das könnte sich durch „Community Based Tourism“ ändern“. Namibia Markus Mörchen Die Vergessenen wissen sich zu helfen „In Namibia haben die Dorfgemeinden keinen Zugang zu Land. Wenn sie ein kleines Geschäft aufbauen, dann haben sie das Gefühl, Kontrolle über etwas zu haben, was besser ist, als nichts zu haben. Schon allein unter diesem Aspekt ist „Community Based Tourism“ wichtig“. Maxi Louis sitzt in ihrem kleinen Büro in der Liliencroner Street in Windhuk. Um sie herum ein Wust von Papieren, überall an den Wänden Bilder von verschiedenen kleinen Tourismusunternehmen, verstreut im ganzen Land. Sie zu koordinieren und zu vertreten ist die Aufgabe von Maxi Louis und ihren Leuten. Maxi ist die Geschäftsführerin der Organisation „Namibia Community Based Tourism Association“, kurz NACOBTA. 1995 kamen mehrere Gemeinden, die sich bereits im Tourismus engagierten, auf die Idee, sich selbst zu organisieren. Denn obwohl Tourismusprojekte der lokalen Bevölkerung rapide zunahmen, gab es bis dahin keinen Austausch unter ihnen, geschweige denn eine gemeinsame Interessenvertretung. NACOBTA wurde gegründet, Maxi Louis mit dem Aufbau der Organisation beauftragt. Heute arbeiten fast 10 Leute in der kleinen Zentrale in Windhuk. Sie kümmern sich um über 40 „Community-Projects“: Campingplätze, Rest Camps, Informationsstellen, traditionelle Dörfer, Open-air-Museen und Handwerksbetriebe. Auch einheimische Reiseführer werden von der Organisation vertreten. Das Geld für ihre Arbeit bekommen die NACOBTA-Mitarbeiter vor allem von der Europäischen Union, vom World Wildlife Found (WWF) und der Schwedischen Internationalen Entwicklungsgesellschaft (Sida). Heute bekommt Maxi Louis viele Anfragen von Gemeinden, die auf dem Gemeindeland ein touristisches Projekt aufbauen wollen. Die Organisation gibt ihnen dann Hilfestellung, macht einen sogenannten „business plan“. Machbarkeitsstudien werden angefertigt, Entwicklungsstudien zum jeweiligen Gebiet und dem touristischen Umfeld erstellt. Doch die Arbeit vor Ort ist nicht immer ganz einfach, erklärt mir Maxi: „Oft stehen lokale Politiker der Entwicklung der Projekte im Weg. Außerdem fehlt es an Unterstützung des privaten Tourismussektors. Manchmal gibt es ethnische Probleme: Dann wollen Einzelne in Gemeinden, die sich aus verschiedenen Bevökerungsgruppen zusammensetzen, nur mit ihren eigenen Leuten arbeiten. Und dann die Politik: Wenn sie unterschiedlichen Parteien angehören, dann wollen sie nicht mit anderen zusammenarbeiten. Das sind Probleme, die zuletzt häufiger aufgetreten sind. Und das macht es sehr schwierig für uns“. Da die Einheimischen meist keine Ahnung davon haben, wie sie ihren Tourismusbetrieb nach außen vertreten könne, übernimmt NACOBTA die Vermarktung der Projekte. Broschüren werden gedruckt, Anzeigen geschaltet, Hinweisschilder an den Straßen aufgestellt. Vertreter von NACOBTA prä- Markus Mörchen Namibia sentieren ihre Produkte auf internationalen Tourismusmessen. Zudem plant die Organisation ein nationales Buchungssystem für die verschiedenen touristischen Aktivitäten der „Community Tourism Projects“. Außerdem versucht NACOBTA, wichtige Kooperationen zwischen den Gemeinden und der Regierung, dem privaten Sektor oder Entwicklungsgesellschaften herzustellen: „Meistens sind diese Leute nicht in der Lage, mit anderen zu verhandeln. Dann übernehmen wir das für sie, als Vermittler zwischen ihnen und professionellen Partnern“. Doch das wichtigste Ziel der „Community Tourism Organisation“, erklärt mir Maxi, ist die Verbesserung der touristischen Ausbildung. „Bisher ist die Ausbildung der Mitarbeiter in fast allen Betrieben unzureichend. Die Gemeinden haben keine Erfahrung damit, wie man einen Tourismusbetrieb führt. Außerdem müssen sie verstehen: Was ist überhaupt Tourismus, und warum kommen die Touristen eigentlich hier vorbei?“ Ingrid Klein, als Direktorin der Namibian Academy for Tourism & Hospitality (NATH) die meiste Zeit mit Fremdenverkehrsausbildung beschäftigt, bestätigt das größte Manko im kommunalen Tourismus: „Die Tourismusausbildung ist äußerst wichtig. Denn wir sind abhängig vom Tourismus. Wir brauchen dringend gut ausgebildete Leute im ganzen Tourismusbereich. Und die meisten wissen eigentlich sehr wenig darüber, was Tourismus beinhaltet. Wir fangen bei null an. Viele kennen noch nicht einmal die lange Kette, die am Tourismus hängt, vom Reisebüro über die Fluggesellschaften bis zu den Hotels. Denen geht dann während der Kurse ein Licht auf, weil sie vorher die Touristen ganz anders eingeschätzt haben“. So steht, neben der Schulung touristischer Grundlagen, die Entwicklung eines touristischen Bewusstseins an erster Stelle der Ausbildung. Die Verhaltensstrukturen und Erwartungshaltungen von Touristen werden deutlich gemacht, Strategien im Umgang mit Touristen vermittelt und die Vorund Nachteile des Tourismus aufgezeigt. Da die Einheimischen meist davon ausgehen, Tourismus bedeute schnellen Verdienst ohne entsprechende Gegenleistung, müssen unrealistische Erwartungen von den Trainern relativiert werden. Langfristiges Ziel von NACOBTA sei nicht, erklärt mir Maxi Louis, den Tourismus in Namibia zu ändern. „Aber ich will erreichen, dass die Gemeinden am Tourismus in diesem Land beteiligt werden. Bisher wurden sie dabei vergessen. Und ich will erreichen, dass sie in Zukunft daran partizipieren. Ich habe die Hoffnung, dass die Armut in diesem Land verschwindet. Und mein größter Wunsch ist, dass jeder am Tourismus verdienen kann und es keine Armut mehr gibt. Dann bin ich glücklich“. Namibia Markus Mörchen An der zweifelhaften Quelle „Hello, you´re welcome to fill in this form for me and pay the entrance. The entrance is 5 per person, 5 per car and 20 for the guide. You have two different options to go: The short way or the long way…” Die junge Frau hält mir freundlich lächelnd einen Stift entgegen, nachdem sie mir die Regeln erklärt hat. Sie sitzt unter einem von Holzbalken getragenen Rieddach. Neben ihr zwei andere, junge Frauen. Eine von ihnen verkauft Halbedelsteine und Holzschmuck. Im Schatten einer kleinen Hütte gegenüber sitzen mehrere Männer und Frauen zusammen und unterhalten sich lebhaft. Eine von ihnen heißt – wie ich später erfahre – Cynthia. Sie wird mich gleich zu einer der bedeutendsten Fundstellen von Felsbildern im südlichen Afrika führen. Ich bin in Twyfwelfontein, übersetzt „zweifelhafte Quelle“. Die ältesten Felsgravuren, die man hier fand, sind vermutlich bis zu 6.000 Jahre alt. Andere sind wohl wesentlich jünger. Doch so genau weiß man das nicht, denn bisher gibt es noch keine sichere Datierungsmöglichkeit für diese in den Stein geritzten oder aufgemalten Kunstwerke. Mehr als 2.500 von ihnen findet man hier auf engstem Raum. Die häufigsten Motive sind Giraffen, Elefanten, Strauße, Zebras und Nashörner. Daneben abstrakte Menschenkörper und schwer zu entschlüsselnde Symbole. Der Name Twyfelfontein stammt von einem Farmer, der das Land an der Quelle im Süden der Kunene-Region 1947 erwarb. Weil die Quelle aber so unzuverlässig war, verkaufte er die Farm bald wieder an den Staat, der sie den Damara als Siedlungsgebiet überließ. 1976 erwarb der Damara Elias Aro Xoagub die Farm- und Weiderechte für das seit den 60er Jahren weitgehend unbewirtschaftete Land. Da Xaogub in dieser Zeit am Bau mehrerer Lodges in der Gegend beteiligt war, hatte er Anfang der 80er Jahre die Idee, in der Nähe der Felsgravuren ein Touristencamp zu errichten. 1989 bekam er – nach mehreren vergeblichen Anläufen – als erster Schwarzer im Damaraland die Erlaubnis für den Bau. An den Felsgravuren entstand ein Empfangs- und Parkbereich mit Picknickplätzen, Mülltonnen, sanitären Anlagen, Souvenir-Shop und eine Informationstafel mit der Geschichte und den wichtigsten Fundplätzen der Gravuren. Die ankommenden Touristen müssen sich in ein Besucherregister eintragen und bezahlen eine geringe Eintrittsgebühr. Die Gravuren dürfen sie anschließend nur mit einem einheimischen Führer besuchen. Als Ausgangspunkt für die Erkundungen in Twyfelfontein errichtete Xaogub am linken Ufer des Aba-Huab-Trockenflusses einen Campingplatz. Im Schatten zahlreicher Akazienbäume finden sich schöne Zeltplätze, ausgestattet mit seperaten Wasseranschlüssen, Steintischen, Sitzgelegenheiten und Feuerstellen. Alternativ zum Zelt kann in offenen Riedhütten, den sogenannten „bashirs“, Markus Mörchen Namibia übernachtet werden. Im zentralen Bereich finden sich Waschgelegenheiten, Duschen, WC´s, ein Grillplatz mit Kochstelle und Picknickplätze und eine Bar. Bald soll es hier sogar ein kleines Restaurant geben. Wasser wird regelmäßig aus einem Bohrloch in Tanks gepumpt und von dort über ein unterirdisches Leitungssystem zu den Zeltplätzen und den sanitären Einrichtungen geleitet. Für den Bau erhielt Xoagub in den ersten Monaten materielle Unterstützung durch den World Wildlife Fund (WWF) und den Save-the-Rhino-Trust (SRT). Die Entwicklungsgesellschaften engagieren sich stark im Damaraland, da sie hier, zusammen mit dem nördlich gelegenen Kaokoland, das größte Potential einer touristischen Entwicklung sehen. Nach einer EU-Studie wird einer weiteren Förderung des Tourismus in dieser Region, in der übrigens auch die Spitzkoppe liegt, höchste Priorität zugewiesen. Da seit der Eröffnung des Camps 1991 die Besucherzahl ständig anwuchs, war Xaogub bereits nach 5 Monaten in der Lage, laufende Kosten und Gehälter selbst zu tragen. Aba Huab ist inzwischen eins der profitabelsten Projekte dieser Art in Namibia. Dagegen reichen für viele andere Tourism Community Camps die Einkünfte kaum aus, um die laufenden Kosten überhaupt zu decken. 18 Leute arbeiten heute im Camp und 17 als Touristenführer an den Felsgravuren. Die meisten von ihnen stammen von Nachbarfarmen oder der 100 km entfernten Stadt Khorixas. Die jungen Leute waren vorher meist arbeitslos oder haben auf den Farmen ihrer Eltern mitgearbeitet. Die Monatsgehälter der CampMitarbeiter liegen bei etwa 200 N$, zusätzlich bekommen sie freie Mahlzeiten. Ihr Grundeinkommen liegt damit nur geringfügig unter den Gehältern, die in privaten Lodges gezahlt werden. Die meisten Touristenführer bei den Felsgravuren erhalten kein festes Gehalt, sondern bekommen eine Gebühr für jeden Rundgang. Und natürlich das Trinkgeld. „Es ist schwer, in unserer Region eine Arbeit zu finden“, sagt Cynthia, die Reiseführerin. „In meinem Ort gibt es keine andere Arbeit. Das hier ist sehr wichtig für mich, auch wenn es nur für drei Monate ist“. Die 19-jährige stammt aus Khorixas, einer trostlosen 7.000-Einwohner Stadt in der Kunene-Region. Sie hat gerade ihre Schule beendet und sucht nun nach Arbeit. Elias Aro Xoagub gab ihr die Chance, ein paar Monate in Twyfelfontein zu arbeiten. Eine alte Führerin hat ihr dann die Gravuren und Felszeichnungen erklärt, die sie jetzt wiederum den Touristen erklären soll. Nach drei Monaten muss sie wieder gehen. Dann soll der nächste die Möglichkeit bekommen, Geld zu verdienen. „Wenn ich zurückgehe“, sagt sie, „werde ich wohl wieder zu Hause bleiben müssen. Ich werde es zwar versuchen, aber ich finde keine Arbeit. Dies ist der einzige Job, den ich finden konnte“. Doch trotz der positiven Effekte gibt es auch kritische Stimmen zu dem Projekt. Schließlich geht der Ertrag hier zunächst nur an eine einzelne Person, und nicht – wie an der Spitzkoppe – an eine ganze „Community“. Meist knüpfen lokale und internationale Hilfsorganisationen ihre Unterstützung an die Bedin- Namibia Markus Mörchen gung, dass der Nutzen eines geplanten Projektes der gesamten Dorfgemeinschaft zugute kommt. Doch die Tatsache, dass einzelne Personen stärker von „Community-Projects“ profitieren, steht dem Ziel einer „community participation“ nicht zwingend entgegen. Denn auch von Initiativen wie in Twyfelfontein können ganze Familien leben. Außerdem interessieren sich die Gemeinden oft erst dann für den Tourismus, wenn ein Einzelner ihnen vorgemacht hat, das man damit Geld verdienen kann. Zudem ist es schwierig, so haben die Erfahrungen bei vielen ähnlichen Projekten gezeigt, die individuellen Interessen der Bewohner dorfähnlicher Gemeinden oder weit verstreuter Farmen in den Planungsprozess zu integrieren. Bisher allerdings gehen die positiven Effekte des „Community Based Tourism“ kaum über das unmittelbare Umfeld der Projekte hinaus. Das Ziel der Regierung, eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den ländlichen Regionen zu erreichen, ist noch weit entfernt. Doch der Tourismus in diesen Regionen ist ausbaufähig, sagt Burkhard Dobiey von der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Es gibt ein gewisses Segment von Touristen, die nicht unbedingt in Afrika nur in Herbergen der ersten Welt leben wollen. Da liegen Potentiale“. Vor allem deshalb, da „Community Tourism Projects“ Arbeitsplätze ausgerechnet dort entstehen lassen, wo sie aufgrund fehlender Infrastruktur, mangelnder Marktnähe und daraus resultierenden hohen Transportkosten, auf andere Weise nur schwerlich geschaffen werden könnten. So bietet der kommunale Tourismus in vielen Fällen – zumindest für die direkt involvierten Einheimischen – eine wirtschaftliche Alternative zur Weidewirtschaft, oder zumindest eine Ergänzung der lokalen Wirtschaftsstruktur. Ein anderes Ziel hat die Regierung schon jetzt erreicht: Sie fördert den kommunalen Tourismus, um das ökologische Bewusstsein der lokalen Bevölkerung zu schärfen und eine entsprechende Verhaltensänderung herbeizuführen. Die Einsicht: Ohne die Partizipation der Einheimischen bleiben die Naturschutzmaßnahmen langfristig ohne Erfolg. „Tatsächlich“, sagt Maxi Louis von NACOBTA, „hat der Tourismus einen positiven Einfluss auf die Bewahrung natürlicher Ressourcen wie Natur und Tier: Da hat sich schon einiges getan: Wenn sie in den Nordwesten fahren, dann sehen sie, dass sich der Tierbestand in den letzten Jahren deutlich erhöht hat. Und zwar deshalb, weil die lokale Bevölkerung nun selbst auf diese natürlichen Ressourcen achtet“. Julia Morgenthaler aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Ghana vom 30. Juni bis 28. September 1999 Ghana „Give me your money“ Ghanas sozioökonomische Probleme 16 Jahre nach der Strukturanpassung Von Julia Morgenthaler Ghana vom 30. Juni bis 28. September 1999, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Julia Morgenthaler Ghana Julia Morgenthaler Inhalt Zur Person Der alltägliche Kampf um Geld Das „wirtschaftliche Gesundungsprogramm“ Aufschwung? Privatisierung Perspektive eines Taxifahrers Soziale Sicherheit? Bildung und das System der erweiterten Familie Landwirtschaft Bergbau Holz Strom und Wasser Von Zukunftsträumen und der Realität 327 Julia Morgenthaler Ghana Zur Person Julia Morgenthaler, geboren am 04. September 1973 in Hagen, studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und an der Kansas State University. Seit 1993 freie Mitarbeit bei der Westfalenpost. Diverse Praktika beim ZDF und bei verschiedenen TV-Produktionsfirmen. Stipendien für Programme in den USA und in Finnland. Nach dem Studium mit der Heinz-Kühn-Stiftung in Ghana. Der alltägliche Kampf um Geld Der Platz umfasst ungefähr zehn Hektar – das entspricht ziemlich genau der Größe von vierzehn Fußballfeldern. Er eröffnet mir das wohl farbenprächtigste Durcheinander, das ich je gesehen habe: Hühnerfüße, überdimensionale Schnecken, Schrauben, Unterwäsche, Seife, Uhren – und in dem Tumult befindet sich doch jedes einzelne Teil an seinem gewohnten Standort. Lebensmittel hier, Werkzeuge dort, Elektrogeräte an der nächsten Ecke. Zwischendrin wimmelt es von Menschen, die hektisch ihren Verkaufsgeschäften nachgehen. Der „Central Market“ in Kumasi sprengt jegliche Vorstellung von dem, was ein Markt bedeuten kann – an Fläche, an Angebot, an Leben. Ein Fortkommen scheint beinahe aussichtslos – Stehenbleiben, um sich Orientierung zu verschaffen, erst recht. Unendlich langsam schiebe ich mich mit dem Strom der Menschenmasse durch die schmalen Gänge. Ein süßer, schwerer Geruch liegt in der Luft; es ist sehr schwül. Als ich versuche, mich in dem Getümmel zurechtzufinden, mache ich Bekanntschaft mit der offenen und herzlichen Mentalität der Ghanaer. Die Leute zeichnen sich durch eine Hilfsbereitschaft aus, die mir in diesem Ausmaß zuvor noch nicht begegnet ist. Viele lächeln, winken und grüßen. Bei genauerem Hinsehen fallen jedoch auch tiefe Sorgenfalten auf den ansonsten so fröhlichen Gesichtern auf. Trotz ihrer freundlichen Art können die eifrigen Händler ihre bedrückte Stimmung nicht verbergen. Verzweifelt versuchen sie ihre Waren loszuwerden. Dabei feilschen sie um jeden Pfennig, um das lebenswichtige Kleingeld für die nächsten Tage mit nach Hause zu bringen. „I make a special price for you. Buy something from me. Give me your money“, sind wohl die Standardsätze, mit denen sie versuchen, dem Käufer so viel Bares wie möglich aus der Tasche zu ziehen. Ada-Foah verkörpert das genaue Gegenteil von dem unruhigen Bild, das der Zentralmarkt in Kumasi bietet. Das kleine Dorf am Fuße der Voltamündung zieht seine Besucher in erster Linie während der Wochenenden an. Werktags ist es eher ruhig. An jenem Montag morgen, als ich mich im Dorf umschaue, ist weit und Ghana Julia Morgenthaler breit kaum ein Mensch zu sehen. Nur hin und wieder begegnen mir ein paar Frauen, die kilometerweit schwere Töpfe oder Säcke auf ihren Köpfen schleppen. Plötzlich taucht eine Schar Kinder auf, die mir mit ausgestreckten Armen hinterherlaufen. Dabei rufen sie mir mit einer bewundernswerten Ausdauer immer wieder denselben Spruch zu: „Hello, hello, give me money. Give me your money“. Offensichtlich die einzigen Worte, die sie auf Englisch beherrschen. Morgens gegen 7:30 Uhr stehen die Autos auf Accras Straßen Stoßstange an Stoßstange. Durch die heruntergekurbelten Scheiben dringen die Abgase ohne Umwege zu mir ins Taxi herein. Für zahllose Körperbehinderte und fliegende Händler, unter ihnen etliche Kinder, bedeutet der dichte, sich nur millimeterweise vorwärtsbewegende Verkehr die Haupteinnahmequelle des Tages. Unter der grauen Emissionswolke zwängen sie sich zwischen den Autos hindurch, laufen von Fenster zu Fenster und bieten von der Orange über Turnschuhe bis hin zum Toilettenpapier ihre Ware feil oder betteln einfach um ein paar Cedis. Ohne das Wort auszusprechen, machen sie mir unmissverständlich klar, was sie wollen: „Money“. Das „wirtschaftliche Gesundungsprogramm“ Die „kleinen Leute“ auf Ghanas Straßen scheuen keine Mühen, um die nötigen Pfennige zusammenzukratzen, die sie brauchen, um sich über Wasser zu halten. Die Politiker sind in dieser Hinsicht nicht viel anders: Die Regierung, allen voran Präsident Rawlings, verbiegt sich so weit es eben geht, um von den internationalen Geldgebern im Norden/Westen finanzielle Streicheleinheiten zu erhalten. Seit mittlerweile 16 Jahren hängt das Land am Tropf der Bretton Woods-Geschwister in Washington: Im Jahr 1983 führten der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank ein „wirtschaftliches Gesundungsprogramm“ (Economic Recovery Programme) ein. Als Ghana 1957 als erste der britischen Kronkolonien unabhängig wurde, verfügte es als der „Black Star“ Afrikas über eine vergleichsweise gute Sozialstruktur. Politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen führten jedoch in den 60er Jahren zu einem wirtschaftlichen Niedergang, der sich unaufhaltsam fortsetzte und zu Beginn der 80er Jahre seinen Tiefpunkt erreichte. Das Land hatte mit schweren Ölkrisen, einer Jahrhundertdürre, stark fallenden Kakaopreisen (zwischen 1977 und 1982 um 62 Prozent) und einem Rückgang der Exporterlöse zu kämpfen. Hinzu kamen die anhaltende Hochzinspolitik der USA, hohe Inflationsraten, sowie zunehmende Korruption im Land, die für ein explosionsartiges Hochschnellen der Schulden mitverantwortlich waren. Als Nigeria Anfang der 80er Jahre auch noch 1,5 Millionen Ghanaer auswies, fehlten Ghana selbst die elementarsten Grundbedürfnisse 329 Julia Morgenthaler Ghana wie Elektrizität, sauberes Wasser und freier Bildungszugang. In dieser Krisensituation verhießen die großzügigen Kredite des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank die letzte Rettung. Allerdings gingen die Finanzexperten aus Washington nur unter einer Bedingung auf das Ansuchen der ghanaischen Regierung um Hilfe ein: Grundvoraussetzung war das „Economic Recovery Programme“, das sie 1983 zusammen mit der ghanaischen Regierung initiierten. Die Ziele des sogenannten Strukturanpassungsprogramms waren klar definiert: Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit, Sanierung der Staatsfinanzen und ein anhaltendes Wirtschaftswachstum. Die Rechnung war einfach. Die Strukturreform beinhaltet folgende Maßnahmen: Senkung staatlicher Ausgaben und Subventionen (die Kürzungen betrafen in erster Linie den Sozialbereich), Abwertung und Freigabe des Wechselkurses, Steigerung der Exportwirtschaft, Liberalisierung des Handels, Privatisierung der Staatsbetriebe und Zahlungsaufschub für die Schulden. Die Prognosen der Kreditgeber waren eindeutig: Setzt das Strukturanpassungsprogramm um und es wird dem Land bald besser gehen. Seit mittlerweile 16 Jahren führt die Regierung jeden ökonomischen Schritt, jeden fiskalischen Zug auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank aus. Wegen der strikten Umsetzung der Vorgaben aus Washington wurde Ghana sogar als „Musterschüler“ bezeichnet. Die Weltbankexperten sind sich einig, dass durch die von ihnen installierten Programme gesundheitliche Probleme eingeschränkt wurden und Nahrungsmittel, Wasserversorgung und sanitäre Dienste auch den ärmsten der Bevölkerung zugute kamen. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 1985 bis 1994 jährlich real um 1,4 Prozent und lag 1998 bei rund 450 US Dollar. 1999 betrug das Mindesteinkommen 2,10 DM pro Tag. Außerdem hat Ghana, auf Geheiß des IWF, Ende 1998 im zweiten Versuch endlich die Mehrwertsteuer (Value Added Tax, VAT) eingeführt. Damit werden langfristig – im Vergleich zu den früheren „Sales Tax“ und „Services Tax“ – deutlich steigende Steuereinnahmen erwartet. Kurzfristig wurden diese Hoffnungen jedoch enttäuscht: In den ersten drei Monaten des Jahres 1999 beliefen sich die VAT-Einnahmen lediglich auf 16 Prozent, der für das gesamte Jahr veranschlagten 2,158 Milliarden US Dollar. Obwohl der bis 1991 anhaltende kurzfristige Aufschwung der Wirtschaft in den vergangenen Jahren insgesamt stagnierte, dürften die internationalen Geldgeber für das Jahr 1999 mit der makro-ökonomischen Entwicklung ihres westafrikanischen Zöglings noch weitgehend einverstanden sein: Die verfügbaren Statistiken der jüngsten Vergangenheit zeigen das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 4,6 Prozent, die minimale Abwertung des Cedi und die Inflationsrate von 9,4 Prozent Ende Mai 1999, die innerhalb von zwölf Monaten um 13 Prozent gesunken war. Ghana Julia Morgenthaler Aufschwung? Ghana gilt also als das Musterland der Politik des Internationalen Währungsfonds. Es mag dahingestellt bleiben, wie es Togos westlichem Nachbarn ohne die tatkräftige Unterstützung der internationalen Kreditgeber ergangen wäre. Dennoch werden die Erfolge der Strukturanpassung offensichtlich nicht an der Qualität des Gesundheitssystems, des Ausbildungswesens und der Lebenssituation der Menschen gemessen, sondern daran, inwieweit der Staat seine Schulden zurückbezahlt. Was hinter den makroökonomischen Konzepten meist verborgen bleibt, sind die realen Lebensbedingungen der Menschen. Hinter jedem Strukturanpassungsprogramm steht die Erwartung, dass bei anhaltendem Wirtschaftswachstum irgendwann einmal die gesamte Bevölkerung profitieren wird. Doch selbst bei einem zur Zeit nicht erreichten Wirtschaftswachstum von fünf Prozent jährlich hätte – laut Weltbankprognose – die ghanaische Bevölkerung frühestens in 50 Jahren eine Chance, die absolute Armutsgrenze zu überwinden. 1995 lebten 43 Prozent der ländlichen und 27 Prozent der städtischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 15 Prozent sahen sich nicht einmal in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Besonders in den ländlichen Savannengebieten (Upper East, Upper West, Northern Region) ist die Armut überproportional stark ausgeprägt. Das Wirtschaftswachstum ist also bei weitem nicht robust genug, um sich der hohen Armut im Land entgegenzustellen und den Lebensstandard des Großteils der Ghanaer zu verbessern. Sogar die moderate Erholung der vergangenen Jahre ist durch exogene Faktoren wie Dürren und Überflutungen bedroht, die durch El Nino verursacht werden. Auch die fallenden Warenpreise – als ein Resultat der schwachen globalen Nachfrage, die mit der Asienkrise in Verbindung gebracht wird – stellen einen Unsicherheitsfaktor dar. Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt gewachsen, 16 Jahre Strukturanpassung haben sich jedoch noch nicht auf den Geldbeutel des Durchschnittghanaers ausgewirkt. Im Gegenteil: In fast allen Bereichen ist es zu einer Verschlechterung der sozialen Leistungen gekommen. Das Strukturanpassungsprogramm führte zunächst zu einer astronomischen Teuerungsrate von rund 20 Prozent jährlich. Außerdem stieg die Arbeitslosenquote drastisch an; derzeit liegt sie bei über 20 Prozent. 80 bis 90 Prozent der jungen Ghanaer finden keine feste Anstellung. Und Arbeitslosengeld gibt es in Ghana natürlich nicht. Viele Jugendliche enden deshalb in der Kriminalität oder Drogenabhängigkeit. Auch Mangel- und Fehlernährung nahmen mit der Strukturanpassung zu. In Zahlen: 1988 waren 8 Prozent der Kinder akut unterernährt, bis 1992 wuchs diese Zahl um die Häfte auf 12 Prozent an. Julia Morgenthaler Ghana Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung kam 1996 zu dem Schluss, dass immer noch zahlreiche sozio-ökonomische Probleme in der Entwicklung des Landes bestehen: Die ghanaische Volkswirtschaft wird auch weiterhin durch unzureichende infrastrukturelle Ausstattung im Bereich des Transportsystems, der Telekommunikation, der Energieversorgung, der Wasserversorgung; durch geringe Produktivität der Landwirtschaft; durch unzureichende Qualifikation bei vielen Beschäftigten, sowie durch die zu geringe Ausstattung sozialer Dienstleistungen (städtische und ländliche Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Abfallentsorgung der wachsenden Städte) bestimmt. Privatisierung Eines der Hauptanliegen der Strukturreform ist die Sanierung des öffentlichen Sektors, genauer gesagt die Privatisierung sogenannter unproduktiver Staatsbetriebe. Aus volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten klingt das durchaus plausibel. Zahlreiche Tätigkeiten im öffentlichen Bereich sollen abgeschafft und die Arbeitnehmer im privaten Sektor wiederbeschäftigt werden. Da in den Augen von IWF und Weltbank so ziemlich jeder Staatsbetrieb unproduktiv ist, bedeutet dies fast ausnahmslose Privatisierung. Tatsächlich hat die Regierung bereits etliche staatseigene Unternehmen dichtgemacht, ohne Rücksicht auf die Arbeitnehmer. Zwar sind auch „freie Wirtschaftszonen“ geschaffen worden, um Privatinvestitionen zu fördern. Dennoch hat die Sache einen Haken: Die ausländischen Investoren bleiben dem Land fern und die Privatisierung verläuft nur äußerst schleppend. Bis 1990 wurden erst 34 von 235 Unternehmen privatisiert. Traurige Statistiken beweisen, dass zwischen 1985 und 1990 über 89 Prozent der 235.000 Jobs verlorengingen. Da es kein soziales Netz gibt, das über eine Sozialversicherung funktioniert, haben die Entlassenen keine Einnahmen mehr. Als Konsequenz der Restrukturierungsaktion können die Bretton Woods-Strategen also wachsende Arbeitslosigkeit mit einem jährlich größer werdenden Verlust an sozialer und ökonomischer Sicherheit verbuchen. Auch Nyako ist von den Privatisierungsmaßnahmen nicht verschont geblieben. Er dürfte ungefähr 60 Jahre alt sein. Seit 1996 verdient er sein Geld als Taxifahrer am Industriestandort Tema. Früher hat er 20 Jahre in Ghanas größtem Hafen in Tema gearbeitet. Schon in den 60er Jahren hat er angefangen in der staatlichen Werft Boote zu bauen, hat sich mühsam bis zum Manager hinaufgearbeitet. Zwischendurch war er in Finnland, Dublin und Nigeria stationiert. „Ich habe weit über 100 Schiffe angefertigt. Für ein Boot brauchte ich 15 bis 18 Monate“, berichtet Nyako mit leuchtenden Augen. Im Jahre 1989 hat die Regierung jedoch beschlossen, diesen Industriezweig stillzulegen und zu privatisieren. Als Ghana Julia Morgenthaler Folge wurden 250 Mitarbeiter entlassen. Darunter auch Nyako. Nyako ist verzweifelt und enttäuscht. Er versteht die Welt nicht mehr, die Politiker erst recht nicht: „Nicht nur die Werft, sondern auch etliche andere staatliche Industriezweige sind von der Regierung nach und nach geschlossen worden. Das ist einfach von ein paar Politikern bestimmt worden und nun müssen zahlreiche Arbeitnehmer darunter leiden“. In Temas Hafen, dem größten an der westafrikanischen Küste, schaukeln unzählige internationale und heimische Ozeanriesen im Takt der Wellen. Heute wird dort kein einziges Boot mehr von ghanaischen Unternehmern angefertigt. In der Werft werden lediglich noch einige reparaturfällige Kähne von ghanaischer Hand geflickt. Den Schiffsbau haben jetzt ausländische Firmen übernommen. Und die können Nyako nicht gebrauchen. Perspektive eines Taxifahrers Von den Versprechen der Washingtoner Wirtschaftsexperten hat Francis „schon mal was gehört“ – gemerkt hat er vom Aufschwung allerdings noch nicht besonders viel. Francis ist Taxifahrer in Accra. Für umgerechnet 3,50 DM fährt er mich eine gute Stunde durch die ghanaische Hauptstadt, bis zum Büro des Daily Graphic, der größten Tageszeitung im Land. Gut 20 DM muss er pro Tag an den Taxiunternehmer abliefern. Hinzu kommen kleinere Reparaturen und Benzin aus eigener Tasche. Die Einnahmen, die 20 DM täglich überschreiten, darf er behalten. Außerdem erhält er etwa 62 DM monatliches Einkommen. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass seine Unterkunft – ohne Strom und Wasser – allein etwa 15 DM im Monat kostet. Hinzu kommt, dass die Miete in Ghana in der Regel zwei bis drei Jahre – teilweise sogar fünf Jahre – im voraus gezahlt werden muss. Francis weiß nicht, wie er das schaffen soll. Er ist 40 Jahre alt, hat eine 30jährige Frau und zwei Kinder im Alter von sieben und zehn Jahren. Seine Frau erwartet in drei Monaten das dritte Baby. An Schulgeld muss Francis 100 Mark pro Term, also alle drei Monate, zahlen. „Der Arbeitsmarkt in Ghana ist wirklich schlecht. Die Lebenssituation ist verheerend“, macht Francis seinen Sorgen Luft. Die Strecke, die er fährt um den schlimmsten Verkehr zu umgehen und so schnell wie möglich wieder für den nächsten Fahrgast frei zu sein, offenbart die Armut des Landes auf einen Blick. Der unasphaltierte, schlammige Weg steht zur Hälfte unter Wasser. Geschickt versucht Francis die Schlaglöcher zu umschiffen. Überall liegt Müll herum, darunter auch Plastiktüten mit Kot der Bewohner aus den umliegenden Häusern. Bei einer besonders großen Unebenheit schlägt die Karosserie des Wagens hart auf den Boden. An Francis beklommenem Gesichtsausdruck kann ich seine Gedanken ablesen: „Hoffentlich ist nichts kaputt gegangen, sonst muss der Wagen teuer repariert werden“. Die Fahrt Julia Morgenthaler Ghana ist mühsam, das klapprige Taxi mit der zersplitterten Windschutzscheibe quält sich nur langsam voran. Die Gelegenheit nutzen ein paar Straßenarbeiter, um durch das Autofenster um Geld zu betteln. Francis setzt den Wagen zurück, um einen zweiten Anschwung für ein besonders tiefes Schlammloch zu nehmen. Geschafft. Gerade als wir endlich wieder eine asphaltierte Straße unter den Rädern haben, werde ich Zeuge eines Frontalunfalls: Einer der zahlreichen Kleinbusse, die Ghanas Verkehrswege unter dem Namen „Trotro“ unsicher machen, fährt mit voller Geschwindigkeit gegen einen Strommasten. Der schwere Pfosten stürzt um, schlägt der Länge nach auf den vollbesetzten Wagen. Die Insassen zwängen sich panikartig aus Türen und Fenstern – verletzt ist glücklicherweise niemand. Die Passagiere sind mit dem Schrecken davon gekommen, hatten Glück im Unglück. Nicht selten füllen derartige Unfälle die Titelseiten der großen Tageszeitungen. Regelmäßig wird dabei von Verletzten oder Toten gesprochen. Die ausrangierten Klapperkisten, die meist mit japanischem Markenzeichen durch die Gegend fahren und fachmännisch bepackt Platz für 18 Personen bieten, sind mindestens in demselben miserablen Zustand wie die meisten ghanaischen Straßen. Francis fährt kopfschüttelnd weiter. „Ich würde so gerne einmal sehen, wie die Straßen in Deutschland aussehen“, wünscht sich der freundliche Taxifahrer. „Aber das werde ich in meinem Leben wohl nie schaffen. Deshalb bete ich dafür, dass es einem meiner Kinder eines Tages gelingen wird nach Deutschland zu fahren. Ich habe gehört, dort bekommen sogar die Arbeitslosen Geld...?“ Soziale Sicherheit? Nana ist Häuptling in Aseseeso. In dieser Rolle ist er unter anderem dafür verantwortlich, Konflikte zwischen Dorfbewohnern zu schlichten und ihnen bei anderen Schwierigkeiten aus der Patsche zu helfen. Das ist jedoch „nur“ sein Wochenendjob. Unter der Woche leitet Nana ein Straßenbauunternehmen. Nicht ohne Stolz berichtet er, dass die neue Straße im Norden zwischen Bolgatanga und Tamale unter anderem seiner Initiative zu verdanken ist. Früher hat der Stammesführer viele Jahre in London studiert. Aseseeso, das kleine Dorf in dem er regiert, liegt in den Bergen der Region Greater Accra, etwa anderthalb Autostunden von Accra entfernt. Rund 400 Einwohner haben hier ihr Zuhause. Als ich Nana in seiner Hütte aufsuche, um mich ordnungsgemäß als neuer Gast vorzustellen, machen mich ein paar Kinder darauf aufmerksam, dass ich an der Eingangstür die Schuhe abstreifen soll. Das ist ungeschriebenes Gesetz. Genauso wie das lange Beinkleid – und bloß nicht die Beine überkreuzen wenn der Häuptling zugegen ist. Ich versuche, all diese Regeln zu beherzigen, bevor ich Nana traditionsgemäß die Flasche Schnaps über- Ghana Julia Morgenthaler reiche, die ich im Gepäck habe und die schnell ihren Weg unter den Tisch findet – zu den drei übrigen Flaschen mit demselben Etikett. Im Raum sitzen noch weitere Dorfbewohner, teilweise Mitglieder der Königsfamilie. Als ich den Häuptling zu den Statistiken von Internationalem Währungsfond und Weltbank befrage, wird der ansonsten sehr geduldig und verständnisvoll wirkende Mann beinahe ärgerlich. Von diesen Zahlen hält er nicht viel. Ich solle mich bloß nicht davon blenden lassen. Diese Statistiken seien sowieso verdreht und würden die reale Situation des Landes in keiner Weise widerspiegeln. „Viele Menschen im Dorf wissen nicht, wovon sie leben sollen, merken nichts vom Aufschwung“, erzählt Nana. In diesem Moment unterbricht ein Klopfen an der Tür das Gespräch. Wie zur Bestätigung seiner Worte betritt eine alte Frau den Raum und bittet den Häuptling um Geld für etwas Brot. Die 83-jährige ist hungrig, sie hat den ganzen Tag noch nichts gegessen. Nana zückt sein Portemonnaie und gibt ihr 3,50 Mark – das reicht für die nächsten Tage, um satt zu werden. Der Gang zum Häuptling ist für die abgemagerte Frau die einzige Möglichkeit an ein paar Mark für Lebensmittel zu kommen. Ein soziales Netz kann sich Ghana nicht leisten – trotz Strukturanpassung. Oder gerade deswegen? Auch wer krank wird und behandelt werden muss hat meist schlechte Karten. Auffallend oft begegnen mir in Ghana Menschen mit nur einem Auge, fehlenden Fingern oder missgebildeten Beinen. Bei vielen dieser Krankheiten hätten bei rechtzeitiger Behandlung gute Heilungschancen bestanden. Aber Medikamente, Krankenhausaufenthalte oder gar eine Operation sind für viel zu viele Menschen schlichtweg unbezahlbar. Oft stellt schon die Entfernung zur medizinischen Versorgung ein schwieriges Problem dar. Sowohl Ärzte als auch die gesundheitliche Infrastruktur sind städteorientiert. Nur 50 Prozent der auf dem Land lebenden Einwohner haben Zugang zu medizinischer Versorgung und nur drei Prozent der ländlichen Haushalte leben in Kommunen, in denen ein Arzt zugegen ist. Deshalb hat Nana auch in Krankheitsfällen schon mehr als einmal mit den sauer verdienten Scheinchen aus seiner eigenen Tasche ausgeholfen. In Aseseeso verdienen sich die meisten Familien ihren Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft, aber die Ernte reicht gerade mal für vier Monate des Jahres. Sie bringt nicht das nötige Geld für Schule, Kleidung, Fahrgeld und andere Dinge des täglichen Lebens. Selbst Hacken, Buschmesser und Saatgut werden immer teurer. Einige Menschen gehen barfuß aufs Feld, weil sie sich nicht einmal für 1,50 DM ein Paar Schlappen leisten können. Immerhin sind die Häuser in Aseseeso aus Stein, das ist verglichen mit den Lehmhütten, die es besonders im Norden des Landes noch häufig gibt, schon recht komfortabel. Wie sieht so ein schlichtes Steinhaus wohl von innen aus? Die meisten Gemäuer sind leer, es gibt so gut wie keine Einrichtungs- Julia Morgenthaler Ghana gegenstände darin. Oft liegen nur eine dünne Schlafmatte und ein paar Kleidungsstücke auf dem Boden. Unvorstellbar, dass diese winzige Schaumstoffmatte häufig sechs oder sieben Kindern einen Schlafplatz bietet. Bildung und das System der erweiterten Familie Im Zuge der Strukturanpassung muss die Rawlings-Regierung einen harten Sparkurs fahren. Sparkurs bedeutete in erster Linie, die Ausgaben für den Bildungs- und Sozialbereich zurückzufahren. Für die Menschen in Ghana ist deshalb die „extended family“ die einzige soziale Sicherheit. Bei diesem System werden die besserverdienenden Familienmitglieder zur Kasse gebeten, wenn ihre Angehörigen sich nicht selber versorgen können. Die Familie dient als Institution, die den einzelnen Familienmitgliedern zu jeder Zeit sozialen Schutz gewährleistet. Traditionsgemäß nehmen insbesondere alte und kranke, oder von sozialer Isolierung betroffene Verwandte diese Hilfe in Anspruch. Von dem System der erweiterten Familie kann auch Comfort ein Liedchen singen, die natürlich zu allererst für ihre eigenen Kinder sorgen muss. Für ihre drei schulpflichtigen Nachkommen muss die Grundschullehrerin aus Bolgatanga pro Quartal 850 DM Schulgeld berappen. Bildung wird immer teurer, Schulbücher und -hefte sind schierer Luxus. Das zeigen die rückläufigen Einschulungsraten und die Alphabetisierungsrate von 47,9 Prozent im Jahre 1997 nur allzu deutlich. Mittlerweile gibt es mehr Analphabeten als vor 20 bis 40 Jahren. Gründe dafür sind das hohe Schulgeld und der Bedarf an Kinderarbeit zur Sicherung des Einkommens. Viele Familien, insbesondere auf den Dörfern, schicken ihre Kinder nicht in die Schule, weil das einfach zu teuer ist. 30 Prozent der Kinder in Ghana besuchen nicht einmal eine Grundschule, ein Großteil davon sind Mädchen. Mit steigender Schulbildung nimmt die Anzahl der Jugendlichen, die eine Schule besuchen, ab. Der Nachwuchs soll lieber im Haus helfen. Insbesondere die Mädchen sind wertvoll. Sie sollen möglichst früh verheiratet werden, denn bei der Hochzeit muss die Familie des Bräutigams der Familie der Braut Rinder, Ziegen, Hühner oder andere Naturalien schenken – das verlangt die Tradition. Die Anzahl und Art der Präsente variieren je nach Ansehen und Rang der Familie. „Meine Nichte ist mit ihren gerade 15 Jahren schon seit über zwölf Monaten verheiratet und hat eine Tochter. Sie stellt sicher keine Ausnahme dar“, berichtet meine Freundin Gifty. Comfort muss, neben ihren eigenen Kindern, auch die Familie ihres Schwagers durchfüttern. Schuld an dieser nicht gerade unerheblichen Belastung ist das System der erweiterten Familie. Für sie bedeutet das, fünf weitere Mäuler zu stopfen und drei weiteren Kindern das beinahe unerschwingliche Schulgeld zu bezahlen – die Familie ihres Schwagers ist nicht gerade klein. Comfort ist über Ghana Julia Morgenthaler diese Situation nicht besonders glücklich, dennoch bleibt ihr keine andere Wahl: „Wenn ich es nicht tun würde, würden mich die Leute ächten und denken, ich wäre eine böse Frau“, erklärt sie und beugt sich ihrem Schicksal. Landwirtschaft Wenden wir uns ab, von den negativen Einzelschicksalen, und den positiven Dingen zu, die zur Verbesserung in der Wirtschaft beitragen: Dem natürlichen Potential des Landes, das in erster Linie in der Landwirtschaft, dem Bergbau, der Forstwirtschaft, sowie dem Wasserkraftpotential des Voltastausees liegt. Vom Export der wichtigsten traditionellen Güter Kakao, Gold und Holz bleibt das Land bis heute abhängig. Leider ist auch bei den Devisenbringern nicht alles Gold was glänzt. Zwar gelang es Ghana durch die Strukturanpassungsmaßnahmen das internationale Ansehen zu verbessern, doch es zeigten sich auch bald negative Folgen: Der Staat fuhr ziemlich einspurig auf der Schiene der Exportförderung und schränkte seine Ausgaben für die Landwirtschaft ein. Die Folge war abzusehen: Die landwirtschaftliche Produktion fiel zurück. Ausnahmen bilden lediglich so exportorientierte Produkte wie Kakao und Kaffee. Das Entwicklungsland Ghana ist nach wie vor agrarisch geprägt. Die Landwirtschaft beschäftigt noch heute mehr als zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung und ist damit der wichtigste Wirtschaftszweig. 1998 steuerte sie mehr als 40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt und rund 50 Prozent zu den Exporterlösen bei. Bei einer Bustour von der Küstenstadt Accra zur burkinischen Grenze fällt mir auf, dass die Fahrt quer durch das Land nur an sehr wenigen großen Feldern vorbeiführt. Die Erklärung dafür ist einfach: Die ghanaische Landwirtschaft ist überwiegend kleinbäuerlich geprägt. Die meisten Bauern sind Subsistenzbauern, versorgen sich in der Hauptsache selbst und bewirtschaften durchschnittlich nur knapp 7 Hektar Land. Die Farmer produzieren hauptsächlich Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis, Hirse, Cassava, Yams, Maniok, Kochbananen, Obst und Gemüse für sich und verkaufen lediglich, was übrig bleibt. Die wichtigste Pflanze ist und bleibt aber der Kakao. Das braune Genussmittel wird auf der Hälfte der agrarisch genutzten Fläche angebaut und bietet rund einem Viertel der Erwerbsbevölkerung Beschäftigung. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Ghana zum größten Kakaoproduzenten der Welt. 1936 steuerte das Land 40 Prozent zum Gesamtertrag bei. Mehr als 40 Jahre blieb Ghana Marktführer. Mittlerweile belegt es hinter der Elfenbeinküste den zweiten Rang. Die bittere Kakaobohne in süße Cedis zu verwandeln, bedeutet harte Arbeit für die ganze Familie. Nachdem die reifen Früchte vom Julia Morgenthaler Ghana Baum geerntet sind, werden sie im Dorf getrocknet, zur Stadt gefahren und dort in 33-Kilo-Säcke für den Transport abgefüllt. Schon zu Zeiten der Kolonialisierung versorgte das Land, damals noch unter dem Namen Goldküste, Europa mit Rohstoffen, wie beispielsweise, Kakao für seine Luxusindustrie. Eigens für den Export legten die Bewohner damals etliche Kakao-, Zuckerrohr-, Kaffee-, Tee- und Kautschukplantagen an. Auch heute noch werden die unverarbeiteten Erzeugnisse ins Ausland verkauft, zurück kommen dann die gleichen Produkte – allerdings in Form von Schokolade, Würfelzucker, Instant-Kaffee oder Autoreifen. Natürlich sind die fertig abgepackten Endprodukte viel teuer als die unverarbeiteten Rohstoffe. Dieses Paradoxum ist immer noch die stärkste Bremse für den ghanaischen Fortschritt. Statt die kostspieligen Endprodukte selbst herzustellen, werden die profitablen Bereiche der Wertschöpfungskette dem Ausland überlassen, weil sich keine Investoren finden. Damit bleibt die Wirtschaft von den volatilen Weltmarktpreisen für Agrarprodukte abhängig. 1998 führte Ghana 375.707 Tonnen Kakao zu einem Preis von 628,6 Millionen US Dollar aus – und erzielte damit das beste Ergebnis seit 22 Jahren. Mit 27 Prozent steht der Rohstoff Kakao im Export hinter Gold an zweiter Stelle. Obwohl die Ernte gegenüber den Vorjahren kräftig gewachsen ist, erhöhte sich der Exporterlös nicht. Schuld daran sind die negativen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt, die nicht zuletzt auf den scharfen Preisverfall im Zusammenhang mit der Ostasienkrise 1997/98 zurückzuführen sind. Die Kakaopreise fielen in den letzten Jahren tief in den Keller. Von Januar bis Juni 1999 schrumpften sie um 22 Prozent. Als Folge verlor Ghana innerhalb eines Jahres rund 5 Milliarden Cedis Exporteinkünfte – die Einnahmen sanken von 49,9 Milliarden Cedis Anfang 1998 auf 44 Milliarden Cedis Anfang 1999. Die Abhängigkeit von den Bedingungen des sogenannt freien Marktes erlaubt den kleinen Subsistenzbauern keinerlei Bewegungsspielraum. Im Gegenteil: Sie müssen sich brav fügen und hängen wie Marionetten an den Fänden der ganz Großen. Bergbau Nach der Landwirtschaft ist der Bergbau der zweitwichtigste Motor für die ghanaische Wirtschaft. In den letzten Jahren schnellten die Wachstumsraten in die Höhe: Ungefähr 30 Prozent der Gesamteinnahmen stammen aus diesem Bereich. Dabei ging 1998 der Löwenanteil von 95,9 Prozent, mit einer Summe von 687,8 Millionen US Dollar, auf das Konto des Devisenbringers Nummer eins: Gold. Die übrigen 4,1 Prozent der Mineralienexporteinkünfte brachten Diamanten, Bauxit und Mangan. Nicht zufällig wurde Ghana bis 1957 Goldküste genannt. Ghana Julia Morgenthaler Der Goldbergbau befindet sich ganz überwiegend in den Händen ausländischer Konzerne. Auch die „Ashanti Goldfields Company Limited“ (AGC), eine der reichsten und größten Goldminen der Welt, ging Mitte der 90er Jahre zu 70 Prozent in ausländisches Privateigentum über. Bis 1994 war der ghanaische Staat mit 55 Prozent noch Mehrheitseigner an AGC, von der über 80 Prozent der ghanaischen Gesamteinnahmen stammten. 1995 löste der britische Minenkonzern Lonroh den Staat als Mehrheitseigner ab und übernahm 55 Prozent der Anteile. Die dem Staat verbleibenden 20 Prozent lassen entsprechend weniger Gewinne in die Staatskassen fließen. Die „Ashanti Goldfields Company Limited“ ist in Obuasi angesiedelt. Seit über hundert Jahren operiert die profitable Einzelgoldmine in diesem Gebiet. Obuasi, 85 Kilometer südwestlich von der Ashanti-Hauptstadt Kumasi gelegen, erhebt den Anspruch, die reichste ghanaische Stadt zu sein. Das sieht man ihr allerdings nicht an. Selbst bei genauem Hinsehen lässt sich weder Luxus noch Reichtum erkennen – abgesehen von den Villen, die meist von Weißen bewohnt werden und sich außerhalb des Stadtzentrums befinden. Der Anblick, der sich dem Besucher im Stadtkern bietet, weist vielmehr auf Notstand und Armut hin. Bei strömendem Regen fallen mir die katastrophalen Verkehrswege besonders auf – die schlechtesten Straßen Ghanas haben ihren Zustand nicht zuletzt den gigantischen Maschinen zu verdanken, die tagtäglich in Richtung Goldmine über sie hinwegrollen. Die überquellenden Abflussrinnen und die heruntergekommenen Häuser im Stadtzentrum tragen das Übrige zu dem desolaten Stadtbild bei. Schon vor langer Zeit hat die ghanaische Regierung ein Gesetz erlassen, das AGC erlaubt, den Boden nach dem begehrten Edelmetall zu durchforsten. Werden die Goldsucher fündig, bedeutet das Pech für die Familien, die mit ihren Hütten den wertvollen Grund blockieren. Das Unternehmen ist nämlich befugt, die „Störenfriede“ kurzerhand umzuquartieren und für den Verlust ihrer Heimat zu entschädigen. Die Unternehmer der AGC lassen sich deshalb keine Chance entgehen und schreiten tatkräftig voran: In den umliegenden Gebieten von Obuasi hat die „Ashanti Goldfields Company Limited“ bereits weite Teile landwirtschaftlicher Anbaufläche und Wald gekauft. Im Tagebau werden riesige Areale für die Goldgewinnung umgepflügt, ohne Rücksicht auf Einzelschicksale. „Teilweise mussten ganze Dörfer umgesiedelt werden. Aber den Menschen werden attraktive, neue Heime bereitgestellt, von denen die meisten sogar viel besser in Schuss sind als die alten Häuser. Von den Pflanzen, die bei den Ausgrabungen zerstört werden, bewahren wir einige Exemplare auf und pflanzen sie dann später wieder neu“, verspricht Osei, PRMitarbeiter bei AGC. Ob die Umsiedler, deren Familienstrukturen durch den Umzug zerrissen werden, wohl ähnlich denken? Julia Morgenthaler Ghana Sobald Geld im Spiel ist, werden auch die guten Vorsätze in Sachen Umweltschutz schnell über den Haufen geworfen. Die riesigen Planierraupen versetzen buchstäblich Berge, vernichten landwirtschaftliche Anbauflächen und Waldboden. Große Mengen an Quecksilber, das zur Trennung des Metalls eingesetzt wird, sickern ungehindert ins Grundwasser und gefährden die Lebensgrundlage der umliegenden Dörfer. Die versprochenen Kontrollen fallen aus. Ähnlich verhält sich die Lage im Norden des Landes. Nicht zuletzt der Goldrausch kleiner privater Goldgräber und -wäscher in den Tongo-Bergen, nahe Bolgatanga, hinterlässt tiefgreifende ökologische Schäden: Tausende Ghanaer graben dort tiefe Stollen in den trockenen Lehmboden. Für die Fruchtbarkeit der Landschaft bedeutet dies das „Aus“. Dabei bringt das Goldschürfen nicht selten anstelle der ersehnten Nuggets nur Krankheiten, Invalidität und manchmal sogar den frühen Tod. Hinzu kommt noch ein weiteres Debakel: Genau wie der Kakaopreis kippte auch der Goldpreis in der Zeit von Januar bis Juni 1999 um 12 Prozent auf ein Rekordtief von rund 250 US Dollar pro Feinunze, da das Gold seine Bedeutung als Instrument zur Währungssicherung eingebüßt hat. Die zum Teil bereits durchgeführten oder geplanten Goldverkäufe der Bank of England, der Schweizer Nationalbank und des Internationalen Währungsfonds, gepaart mit dem anhaltenden russischen Goldausverkauf, haben insbesondere Ghana hart getroffen. Mit einem Goldpreis von 250 US Dollar pro Feinunze rentiert sich der Goldabbau bald nicht mehr. Verheerende Folge: Bei einer Produktionssteigerung um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr, verschlechterte sich die Ertragslage des Goldriesen „Ashanti Goldfields Company Limited“ so drastisch, dass der Konzern im Sommer 1999 über 2.000 Mitarbeiter entlassen musste. Kleinere Minen stehen vor der vollständigen Schließung. Holz Ghana ist nach wie vor arm. Da Holz die dringend benötigten Devisen bringt, wird es verkauft. Daran wird sich wohl auch in Zukunft nicht viel ändern. Der externe Druck, die Schulden schnell abzahlen zu müssen, setzt das Land unter Zugzwang alle natürlichen Ressourcen anzuzapfen. Auch die Holzindustrie bildet dabei keine Ausnahme. Und das, obwohl traurige Statistiken von Ghanas Forstwirtschaftsdepartement belegen, dass nur noch etwa zwei Millionen Hektar des tropischen Regenwaldes übriggeblieben sind. Das sind etwa 25 Prozent des ursprünglichen Bestandes. Über 70 Prozent der einst 8,22 Millionen Hektar sind mittlerweile abgeholzt und in die Ferne transportiert worden. 1998 brachten die Exporteinnahmen aus der Holzkasse 171 Millionen US Dollar, das sind etwa 11 Prozent vom gesamten Exportumsatz. Ghana Julia Morgenthaler Insbesondere in den Regionen Brong-Ahafo, Westghana und Ashanti sind die großen Holzfirmen ansässig. Dort begegnen mir immer wieder die schweren Sattelschlepper, die drei gewaltige Baumstämme bis zu den Sägewerken hinter sich herziehen, um sie dort für den Export zu präparieren. Hauptabnehmer der teueren Edelhölzer ist die Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht um das schlechte Gewissen dafür zu beruhigen, dass die deutsche Industrienation an dem immer magerer werdenden Bestand der beeindruckenden Urwaldriesen eine nicht unerhebliche Teilschuld trägt, werden eifrig Entwicklungshelfer nach Ghana geschickt, die den tropischen Regenwald wieder aufforsten sollen. Einer, der von den reichen Holzressourcen des Landes und der Liberalisierung des Handels als Folge des Strukturanpassungsprogramms offensichtlich profitiert, ist Gobby. Der Liberianer ist Direktor der Holzfirma „Prima Woods Limited“. Jährlich verarbeitet seine Firma etwa 2000 Bäume von 40 verschiedenen Holzarten aus dem ganzen Land. Und das seit mittlerweile rund 40 Jahren. In dieser Zeit ist die Firma auf 500 Mitarbeiter angewachsen. „In der Holzindustrie in Ghana sind rund 60 000 Menschen beschäftigt, aber ca. 2-3 Millionen weitere Arbeitsplätze sind indirekt damit verbunden“, berichtet der Holzunternehmer. „Außerdem werden mit dem Abtransport der Bäume aus den Wäldern auch Lebensmittel in die kleinen Dörfer außerhalb transportiert. So haben auch die Menschen in den abgelegenen Waldsiedlungen etwas davon.“ Aufgrund des Umweltschutzes darf der Liberianer heute allerdings verschiedene Holzarten nicht mehr exportieren. Genauso ist es verboten, unverarbeitetes Rohholz zu verschiffen. Darüber hinaus wurden bestimmte Forstgebiete zu Schutzgebieten erklärt. Diese Vorschriften werden jedoch augenscheinlich nicht allzu ernst genommen. Trotz dieser Maßnahmen hat der Raubbau am Regenwald dazu geführt, dass bei Fortführung der Rekordeinschlagquoten von 1993/94, laut einer Prognose des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft, die Mehrheit der Tropenhölzer in zehn Jahren unwiederbringlich verschwunden sein wird. Unter der „wirtschaftlichen Gesundung“ müssen also sowohl das Ökosystem, als auch die Bevölkerung leiden. Die Regierung zahlt einen hohen Preis für die finanziellen Zuschüsse des IWF: Die Entwicklung der Infrastruktur muss hinter den Bedürfnissen des Weltmarktes – z.B. Straßenbau für die Vermarktung von Tropenholz – zurückstehen. Die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Menschen ist allenfalls ein Nebeneffekt. Strom und Wasser Adwoa arbeitet in einem Kommunikationszentrum in Accra. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Keta, an der Küste der Volta-Region. Julia Morgenthaler Ghana Jeden Monat schickt sie ihrer Mutter 20 Mark. Mit dem Geld kommt die alte Frau über die Runden, bis sie von ihrer Tochter die nächste Rate erhält. „Die Leute in meinem Dorf brauchen nicht viel zu kaufen, sie pflanzen die meisten Dinge, die sie zum Leben brauchen, selbst an“, erklärt Adwoa nüchtern. Wasser holen die Menschen nicht selten aus dem Fluss. Zwar existiert eine Wasserstelle, das bedeutet aber noch lange nicht, dass es auch immer Wasser gibt. Deshalb müssen die Dorfbewohner oft etliche Kilometer bis zum nächsten Fluss zurücklegen. Meist sind es Frauen, die sich lange vor Einbruch der Dämmerung auf den Weg machen, um das lebensnotwendige Nass zu holen und es eimerweise auf dem Kopf zu ihren Hütten zurückzutragen. Jeden Tag dasselbe Spiel. Der Frage, ob das Wasser sauber genug sei, weicht Adwoa aus. „Die Menschen sind es gewohnt es zu trinken“. Bisher ist der Zugang zu „sicherem“ Wasser nur 35 Prozent der ländlichen Bevölkerung vorbehalten. Nicht nur sauberes Trinkwasser ist Mangelware, auch Elektrizität ist für viele Ghanaer schierer Luxus. Häufig dienen Kerosinlampen als Lichtquellen. Obwohl, dank der Kredite von IWF und Weltbank, mittlerweile auch viele kleinere Dörfer mit sogenannten „Basis lines“ verbunden sind – die dafür notwendige Technologie stellten übrigens europäische Firmen, das Geld floss also gleich wieder in die Geberländer zurück – nutzen viele Menschen das Angebot aus finanziellen Gründen nicht. Und viele, die es sich leisten können, müssen dennoch in die Röhre gucken, weil ihnen Stromausfälle regelmäßig einen Strich durch die Rechnung machen. Dabei sollte der Volta-Damm gerade bei diesem Problem Abhilfe schaffen. Der Staudamm in Akosombo ist das bei weitem teuerste Industrieprojekt, das Ghana jemals auf die Beine gestellt hat. Kostenpunkt: 1,8 Milliarden Mark. Außerdem mussten etwa 100 000 Menschen aus 670 Dörfern ein neues zu Hause finden. Der damalige Präsident Kwame Nkrumah, der die „Gold Coast“ 1957 in die Unabhängigkeit führte, rechtfertigte das gewaltige Vorhaben mit zahlreichen Argumenten: Gesicherte Trinkwasserversorgung, verschiedene, vom Staudamm profitierende Wirtschaftszweige, Bewässerung, Fischerei, Transport und vor allem Stromerzeugung. 1961 wurde der erste Spatenstich vollzogen. Vier Jahre später waren alle drei Teilprojekte abgeschlossen: Der 135 Meter hohe, 670 Meter lange Staudamm nebst Kraftwerk in Akosombo, die große Aluminiumfabrik in Tema und der moderne Hochseehafen, ebenfalls in Tema. Außerdem kann sich Ghana nunmehr als stolzer Besitzer des größten künstlichen Stausees der Welt bezeichnen, der eine Fläche von 8500 Quadratkilometern aufweist und sich von Akosombo 400 Kilometer gen Norden erstreckt. Seit den 60er Jahren ist der Voltastausee die einzige Energiequelle für das ganze Land. Der größte Teil, der mit Wasserkraft erzeugten Elektrizität, geht an die Aluminiumschmelze der „Volta Aluminium Company“ (VALCO), die von „Kaiser Aluminium“ aus den USA kontrolliert wird. Ghana Julia Morgenthaler Ghana produziert sogar so viel Strom, dass jährlich noch 1060 Megawatt in die Nachbarländer Togo und Benin exportiert werden. Für Bares versteht sich. Dabei wird in Kauf genommen, dass der Bedarf im eigenen Land zu kurz kommt. So begann das Jahr 1998 mit einem Schock: Zwar hatten Experten seit Jahren vor den Folgen der übermäßigen Wasserentnahme aus dem AkosomboStausee gewarnt. Trotzdem trafen plötzliche Stromabschaltungen Regierung, Wirtschaft und Bevölkerung gleichermaßen überraschend. Die Stromproduktion musste drastisch reduziert werden, weil der Wasserstand des Sees einen bedrohlichen Tiefstand erreicht hatte. Die Versorgung deckte gerade noch 50 Prozent des Bedarfs. Die Energiekrise dauerte bis zur zweiten Jahreshälfte an. Zwar ist die schlimmste Krise überwunden, trotzdem gehören Stromausfälle immer noch zur Tagesordnung. Die Industrie klagt, die Bevölkerung schimpft. Das einst als überdimensioniert beschimpfte Staudammprojekt erweist sich mittlerweile als unzureichend für das Land. Seit den 60er Jahren nahm Ghanas Energieverbrauch erheblich zu, der Bedarf wächst jährlich um etwa 13 Prozent. Das hängt einerseits mit der wachsenden Bevölkerung zusammen: Als der Staudamm im Januar 1966 eingeweiht wurde, zählte das Land nur sechs Millionen Einwohner, heute sind es mehr als dreimal so viele. Andererseits schlägt sich auch das Wetter auf die Energieversorgung nieder: El Nino ist dafür verantwortlich, dass der Voltastausee langsam austrocknet und nicht mehr genügend Wasser für die Stromerzeugung enthält. Von Zukunftsträumen und der Realität Zu Beginn des nächsten Jahrtausends will Ghanas Regierung einen langjährigen Traum verwirklichen: Die „Vision 2020“. Unter diesem Motto soll das Land in den kommenden zwanzig Jahren die Schwelle zur sogenannten „MiddleIncome-Society“ überwinden. Doch bis dieses Ziel erreicht ist, muss noch ein weiter Weg zurückgelegt werden. Realistisch betrachtet, müsste das Wirtschaftswachstum die 8-Prozent-Marke jährlich übersteigen und die Exportwirtschaft müsste um 10-12 Prozent im Jahr anwachsen, mit einer Verdoppelungsrate alle 6-7 Jahre. Grundvoraussetzungen dafür sind, nach Auffassung verschiedener Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, eine Diversifizierung der Waren und Leistungen, die die ghanaische Wirtschaft wettbewerbsfähiger machen soll, sowie der Zugang zu Technik und Bildung als zentrale Bedingungen, um Effektivität und Produktivität im Land anzukurbeln. Bislang zeichnen sich jedoch andere entwicklungspolitische Prioritäten ab, die sich in der Ausgabenpolitik des Staates widerspiegeln: In Accra werden beispielsweise Schnellstraßen gebaut, während gleichzeitig tausende von Kleingewerbetreibenden durch die Zerstörung ihrer Kioske buchstäblich auf der Straße Julia Morgenthaler Ghana stehen. Dazu passt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Eine dünne Elite bereichert sich schamlos und die Masse der Bevölkerung wird immer ärmer. Während die spärlichen Einkommen breiter Bevölkerungsschichten weiter sinken, wird der Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen für die meisten Ghanaer immer unerschwinglicher. Allein die Tatsache, dass Ghanas Bevölkerungswachstum noch immer über drei Prozent beträgt, und die Einwohnerzahl im Jahre 2020 voraussichtlich auf 36 Millionen anwachsen wird, lässt die „Vision 2020“ unwirklich erscheinen. Der Gedanke daran, wie die Nation in nicht allzu ferner Zukunft den Sprung aus der Kategorie der Entwicklungsländer bewerkstelligen soll, lässt mich insbesondere auf der Fahrt von der Küstenstadt Takoradi nach Accra nicht los. Eingepfercht in den übervollen Bus, der vom Standard der deutschen Pendants weit entfernt ist, starre ich aus dem offenen Fenster. Der Ausblick, der sich bietet, offenbart nicht gerade Vielversprechendes: Ohne Haltepunkte rauscht der Omnibus an den unscheinbaren Dörfern vorbei, die sich teils aus Lehmhütten, teils aus heruntergekommenen Bretterbuden zusammensetzen. Auch für die Menschen, die dort leben, gibt es keine Haltepunkte. Sie hausen in ärmsten Verhältnissen. Meist sind es Frauen, die an der Straße sitzen und geduldig darauf warten, dass sie durch den Verkauf von ein paar Eiern oder Broten etwas Geld mit nach Hause bringen. Hinter ihnen liegen auf dem aufgeweichten Boden am Wegrand immer wieder Wäschestücke zum Trocknen in der heißen Mittagssonne. Zwischendurch rennen ein paar abgemagerte Ziegen umher. Mir wird klarer denn je zuvor, dass die Maßstäbe der westeuropäischen, „heilen Welt“ hier keine Gültigkeit besitzen. Wie soll es dieser arme westafrikanische Staat – dem es, wohl bemerkt, noch um einiges besser geht als seinen Nachbarn – schaffen, sein Gesicht zu verändern? Um die Hürde „Entwicklungsland“ zu passieren, müssen nicht nur der Lebensstandard und die Wohnsituation bei dem Gros der Bevölkerung verbessert werden, sondern geht es in erster Linie darum, das Bewusstsein der Menschen zu entwickeln – durch Bildung und Erziehung auf jeder Bevölkerungsebene. Allein mit einer Strukturreformen ist dies offensichtlich nicht getan. Was haben 16 Jahre Strukturanpassung bewirkt? Die Darlehen riefen einen Kreislauf von noch höherer Zins- und Umweltbelastung, sowie größerer Armut hervor. Ghanas wichtigste, natürliche Ressourcen werden derart rücksichtslos ausgebeutet, dass sich ein baldiges Ende des tropischen Regenwaldes längst angekündigt hat. Die Reform gleicht also eher der Quadratur des Kreises: Die umfangreichen Kredite, mit denen die Zahlungsunfähigkeit abgewendet wurde, haben die Schulden auf das Dreifache anwachsen lassen. Die Konsequenz: Wo die hohen Schuldenberge abgetragen werden müssen, produzieren der Staat und die Menschen vorwiegend für den Export statt ihre eigenen Lebensbedürfnisse abzusi- Ghana Julia Morgenthaler chern. Falls der, von vielen Menschenrechtlern befürwortete, Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt wirklich kommen sollte, führen die neu gebauten Straßen vielleicht irgendwann nicht mehr zu den Goldminen, sondern erreichen die Menschen in ihren abgelegenen Dörfern. Natürlich lassen sich nach 16 Jahren Strukturanpassung auch Erfolgsgeschichten festhalten, von Menschen, die vom Aufschwung profitiert haben: Tropenholzhändler, Kakaoplantagenbesitzer, Beschäftigte im Goldbergbau. Doch die Fragen lauten: Wie viele sind es? Und wie viele leiden immer noch? Werden sich die Maßnahmen der Strukturanpassung eines Tages für alle Ghanaer rentieren? Was hat sich für die Masse der Bevölkerung verändert? Die Bilanz: In den Krisenjahren vor 1983 herrschte eine große Knappheit. Damals, als das Land kurz vor dem Bankrott stand, waren Benzin, Seife, Stoff, buchstäblich alles zur Mangelware geworden. Die Reformen haben dazu geführt, dass die Geschäfte heute mit Waren gefüllt sind, die sich die meisten Menschen nicht leisten können. Die Grundschullehrerin Comfort bringt die Sache auf den Punkt: „Im Großen und Ganzen hat sich die Situation verbessert. Früher mussten die Menschen für etwas zu essen sehr lange anstehen – das war wie im Krieg. Viele bekamen gar nichts mehr ab, weil in den Läden einfach nicht genug vorrätig war. Heute gibt es wenigstens genug zu kaufen – wenn die Leute nur das nötige Kleingeld haben. Das große Problem ist jetzt die Armut“. Medase Meinen herzlichen Dank möchte ich an die Heinz-Kühn-Stiftung richten, die mir diesen ebenso wichtigen, wie interessanten Aufenthalt in Ghana ermöglicht hat. Insbesondere Frau Op de Hipt war als ständige und hilfreiche Ansprechpartnerin unentbehrlich. Ein ganz besonderes Dankeschön gilt auch den Mitarbeitern der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ghana, in erster Linie Herrn und Frau Schellschmidt, die mich vor Ort bestens betreut haben und mir in jeder Situation tatkräftig zur Seite standen. Medase! Natalja Mukasejewa aus Usbekistan Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 09. Juli bis 04. November 1999 Deutschland Natalja Mukasejewa „Deutschland und Usbekistan, heute und morgen“ Natalja Mukasejewa aus Usbekistan Deutschland, vom 09.07. bis 04.11.1999, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung Deutschland Natalja Mukasejewa Inhalt Zur Person Die Ankunft Die Hospitanz Danke 351 Natalja Mukasejewa Deutschland Zur Person Natalja Mukasejewa, geboren am 29. Dezember 1970 in Taschkent, Usbekistan, studierte Germanistik, Russisch, russische und ausländische Literatur. Nach dem Studium arbeitete sie 3 Jahre als Deutschlehrerin an einer städtischen Mittelschule. Seit 1997 ist sie als Redakteurin, Übersetzerin und Moderatorin in der deutschen Abteilung von Radio Taschkent International tätig. Die Ankunft Vor fast vier Monaten bin ich in Deutschland angekommen. Ich erinnere mich bis in die kleinsten Einzelheiten an mein erstes Treffen mit Frau Op de Hipt, sowie an die Fahrt mit dem Auto nach Düsseldorf. Ich verliebte mich auf den ersten Blick in diese wunderbare Stadt mit ihren kleinen Gehsteigen und Gassen, gepflegten Vorgärten und sehr netten Menschen. Aber einige Tage später musste ich nach Köln, wo mir Praktika beim WDR und bei der Deutschen Welle bevorstanden. Mit der Ankunft in dieser Stadt wechselte mein Alltag zunächst einmal seine Farbe von rosa in grau. Die ersten Tage schienen mir finster und langweilig. Alles war für mich neu und ungewohnt. Und mit der Zeit habe ich verstanden: Wenn man von Düsseldorf sofort beeindruckt ist, muss man sich an Köln erst einmal gewöhnen! Doch mit der Zeit gefiel es mir sehr, abends in der Umgebung vom Kölner Dom zu bummeln und die Künstler, die wunderschöne Bilder auf den Boden malen, zu beobachten. Nie vergesse ich meine Eindrücke von meinem ersten Besuch des Kölner Doms: Herrliche Buntglasfenster, geheimnisvolles Blinken der Kerzen im Halbdunkel, die versöhnlichen Gesichter der Menschen….. Der Dom ist wahrlich das Heiligtum, der Stolz dieser Stadt. Und wenn ich heute auf die Zeit zurückblicke, werde ich ein wenig traurig. Ich habe die Deutschen und Deutschland besser kennengelernt. Ja, die Deutschen sind ein wenig zugeknöpft, aber trotzdem sehr herzlich. Und noch etwas fiel mir auf, auch wenn ich damit vielleicht ein Stereotyp zerstöre: Auch die Deutschen können sich verspäten! Die Hospitanz Die Zeit meiner Hospitanz war sehr interessant und vielschichtig: Zuerst im Studio Köln (WDR 2), dann im Funkhaus Europa (WDR 5) und zum Schluss in der russischen Redaktion der Deutschen Welle. Auf diese Weise hatte ich wunderbare Möglichkeiten, Menschen aus unterschiedlichen Nationen ken- Deutschland Natalja Mukasejewa nenzulernen und Freundschaften zu schließen. Heute kann ich sagen, dass die ersten drei Wochen, die ich im Studio Köln verbrachte, besonders wichtig und nützlich für die Weiterentwicklung meiner Sprachkenntnisse waren. Während der Redaktionskonferenzen, im Studio, oder der WDR-Kantine fing ich jedes Wort auf, vielleicht, weil ich in erster Linie Philologin bin. Selbstverständlich waren die Nachrichten und Verkehrsmeldungen vom Studio Köln sehr spannend und interessant für mich. Anfang August, eine neue Umgebung, eine neue Lernstätte: Funkhaus Europa – kosmopolitisches Radio für Nordrhein Westfalen. Hier arbeiten Menschen aus unterschiedlichen Nationen: Deutsche, Franzosen, Italiener, Serben, Kurden…… Sie alle sind so verschieden: Jedes Volk hat seine besondere Mimik, Gestik, seine eigene Art sich zu kleiden. Mit diesen Tagen verbinde ich heute auch etwas sehr buntes, vielschichtiges und angenehmes. Das Praktikum beim Funkhaus Europa war vor allem sehr interessant für mich, weil die Themen aus ganz verschiedenen Bereichen geschöpft wurden: Ferienjobs und Pflegeversicherung, Schulsystem und Mode, Bücher und Boxen, Arbeitsrecht und Autokauf….. Die Liste ist beliebig erweiterbar. Wichtige Fragen der deutschen Innenpolitik werden aus europäischen Blickwinkeln betrachtet: Wie bewertet man die Doppelpass-Diskussion in der Türkei? Welche Erfahrungen haben andere Länder mit dem Umbau des Gesundheitssystems? Ich bemerkte, dass in den Programmen der Musik große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Modern, multikulturell, aus allen Kontinenten kommend: Leichte, übermütige afrikanische und französische Lieder, leidenschaftliche spanische und hinreissende türkische Melodien, und am ersten Tag der Hospitanz habe ich sogar ein Lied von der populären, usbekischen Sängerin Juldus Usmanowa gehört, die bei den Hörern unseres Senders sehr beliebt ist. Es war wirklich sehr angenehm. Und dann erlebte ich noch eine Überraschung: Zu meiner größten Verwunderung habe ich erfahren, dass es in Köln-Ehrenfeld eine ganz besondere Wohngemeinschaft, eine WG-Europa gibt. Hier leben schon seit einem Jahr sechs junge Leute aus Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Polen und Irland zusammen. Voraussetzung dafür ist, dass die jungen Leute den Journalisten des Senders jederzeit Zutritt zu ihrer Wohngemeinschaft gewähren. Es werden zahlreiche Reportagen und Berichte zu ganz verschiedenen Themen aus der WG produziert: Sport, Politik, Sex, und, und, und…… Übrigens habe ich einige von diesen jungen Leuten kennengelernt: Sie sind gesellig und sehr selbstständig. Gerade das unterscheidet sie wahrscheinlich von ihren usbekischen Altersgenossen. Unsere Jungen und Mädchen sind nicht so selbstständig. Ziemlich spät erst verlassen sie ihr Elternhaus. Und einige, besonders Jungen moslemischer Herkunft, bleiben im Elternhaus, selbst wenn sie ihre eigenen Familien gegründet haben. Ver- Natalja Mukasejewa Deutschland wandtschaftliche Bande spielen eine große Rolle in unserer Gesellschaft. Orient bleibt eben Orient! Die letzte Station meiner Hospitanz war die russische Redaktion der Deutschen Welle. Ich brachte aus Usbekistan eine klare Vorstellung von dieser Radiostation mit, weil ihre deutsch- und russischsprachigen Sendungen sehr populär bei uns sind. Unter meinen Freunden und Bekannten gibt es auch viele Stammhörer dieses Senders. Das Credo der Deutschen Welle ist folgendes: Die Informationen und die Kommentare nicht vermischen, nicht belehren und Meinungen nicht aufzwingen. Die Konsequenzen ziehen die Hörer selbst. Nach diesem Prinzip werden hier nicht nur die Nachrichten, sondern auch alle Radiomagazine produziert. Die Deutsche Welle ist ein Auslandsdienst. Ihr Ziel ist, die Menschen aus der ganzen Welt mit dem Leben in Deutschland bekannt zu machen. Grundsätzlich unterscheidet sich der Arbeits- und Produktionsprozess nicht so sehr von dem unsrigen. Radio Taschkent International arbeitet auch in dieser Richtung. Danke Ich muss bekennen, dass die Zeit in Deutschland sicher eine der anstrengendsten, aber auch spannendsten Lebensperioden für mich war. Das kann man wahrscheinlich nur mit der letzten Prüfungsperiode an der Hochschule vergleichen. Aber ich habe viel gelernt und viel erfahren. Besten Dank meinen Redaktionskollegen, die immer so wohlwollend, hilfsbereit und freundlich waren! Danke sagen möchte ich auch allen Kollegen vom WDR 2 und WDR 5, sowie Anne Lührs, die mich alle so herzlich und freundlich aufgenommen haben. Und vor allem vielen Dank an Frau Erdmuthe Op de Hipt und an die Heinz-Kühn-Stiftung. Ilija Nikolovski aus Makedonien Stipendien-Aufenthalt in Deutschland vom 31. August 1999 bis 17. Februar 2000 Deutschland Deutschland? Ja, danke! Ilija Nikolovski aus Makedonien Deutschland, vom 31.08.1999 bis 17.02.2000, betreut von der Heinz-Kühn-Stiftung Ilija Nikolowski Deutschland Ilija Nikolowski Inhalt Zur Person Ein neues Motto, und wie es dazu kam Danke 361 Ilija Nikolowski Deutschland Zur Person Ilija Nikolovski, geboren am 10. Januar 1974, arbeitet seit 1993 als freier Journalist für eine Studentenzeitschrift in seiner Heimatstadt Skopje, seit 1994 auch für verschiedene andere Zeitungen und Magazine; seit August 1996 ebenfalls beim makedonischen Radio und Fernsehen. Im Rahmen seines Stipendiumaufenthalts der Heinz-Kühn-Stiftung absolvierte er ein zweimonatiges Praktikum in der makedonischen Redaktion der Deutschen Welle in Köln. Ein neues Motto, und wie es dazu kam Es gibt keinen Menschen, der nicht träumen will und der nicht einen Zweck in seinem Leben sucht. Jeder von uns hofft, dass er alles in seinem Leben erreichen kann. Manche möchten viel Geld und manche möchten Erfolg in ihrer Karriere. Wenn mich jemand fragte, was ich will, ohne Zweifel würde ich laut sagen: „Erfolg in meiner Karriere“. Als ich Kind war, wollte ich keinesfalls Journalist werden. Ich wollte als Schauspieler, Sänger oder Rechtsanwalt arbeiten. Als ich mehr durch das Abenteuer, genannt „Leben“, über mich erfahren hatte, habe ich gelernt, dass Journalismus der Bereich ist, in dem ich das Beste von mir geben kann. Ich habe keine Probleme beim Schreiben, und dabei gesehen, dass hier mein Talent liegt. Vor 7 Jahren begann meine Journalistenkarriere. Mein erstes Engagement hatte ich bei der studentischen Zeitschrift „Da Vinci“. Danach konnte ich meine Karriere weiterentwickeln, durch die Mitarbeit in verschiedenen Zeitungen und Revuen. Anschließend bekam ich mein Engagement bei A1 TV, sowie im Rundfunk. Während dieser Zeit erfuhr ich viel Bestätigung von meinen Kollegen und anderen, verantwortlichen Personen. Meine Erfahrungen waren durchweg positiv. Aber ich war damit nicht zufrieden. Ich wollte vorwärts kommen. So habe ich begonnen Deutsch zu lernen. Das war sehr wichtig für mich, weil diese Sprache meine große Liebe wurde. All diese Dinge wusste Frau Trajkovska. Sie hat mir eines Tages Informationen über die Heinz-Kühn-Stiftung und deren Stipendiumsangebot gegeben. Es war ein große Chance für mich, Deutschland besser kennenzulernen, und so habe ich mich für dieses Stipendium beworben. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich am 30. August auf dem Düsseldorfer Flughafen ankam. In meinem Kopf herrschte ein ziemliches Durcheinander. Normalerweise sollte ich Frau Op de Hipt begegnen und dabei meine Deutschkenntnisse aktivieren. Sie war da, vom ersten Moment an unglaublich nett und hat mir gleich das erste Kompliment zu meinem Deutsch gemacht. Deutschland Ilija Nikolowski Der nächste Tag war leichter. In Iserlohn habe ich knapp 50 Studenten aus der ganzen Welt kennengelernt. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Möglichkeit, Menschen aus Afrika und Asien zu treffen. Diese Kontakte waren für mich sehr wichtig und mit diesen Leuten halte ich auch weiterhin Kontakt. Kurz gesagt, das Leben in Iserlohn, im Studentenwohnheim, war prima und ich werde unsere Treffen in unserem Zentrum (unserer Küche!!) nie vergessen. An einem einzigen Ort konnte ich die verschiedensten Essensvorbereitungen aus der ganzen Welt sehen. Alle diese Kontakte fanden auf Deutsch statt und das war eine sehr gute, praktische Übung für uns. Der Unterricht in der Gruppe G3 beim Goethe-Institut war für mich sehr hilfreich. Die Methoden unserer Lehrerin und die 5 Stunden Unterricht täglich erlaubten ein dynamisches Tempo. Die ersten positiven Ergebnisse habe ich bereits nach 2 Wochen bemerkt. Ich hatte keine Angst mehr, deutsch zu sprechen. Ich war nicht perfekt, aber nach jedem Gespräch verspürte ich mehr Sicherheit. Zum Üben war vor allem die Mediothek eine große Hilfe. Besonders nett waren Michael und Jan, unsere beiden Zivildienstleistenden. Sie haben das Freizeitprogramm organisiert. Durch all diese Kontakte konnte ich ein Gefühl für deutsche Kultur und Mentalität entwickeln. Mein Lieblingsteil waren die Reisen im September und Oktober. Ich erinnere mich gerne an Hamburg und den nördlichen Teil Deutschlands. Unvergesslich waren auch die Reisen zur europäischen Kulturhauptstadt Weimar und Eisenach, sowie zu meiner Lieblingsstadt Erfurt, die ich gerne noch einmal besuchen möchte. Ebenfalls sehr sympathisch fand ich Amsterdam und natürlich die Städte in Nordrhein-Westfalen, wie Düsseldorf, Duisburg, Bochum, Essen, Hagen, Oberhausen, Dortmund, Aachen und Mönchengladbach. Auch München und das Schloss Neuschwanstein haben wir besucht. Am 27. Oktober hat der zweite Teil des Deutschkurses begonnen. Es war für uns alle ein bisschen hart, weil wir wussten, dass nach unserem Kurs das Goethe-Institut in Iserlohn geschlossen würde. Aber das war kein Grund weniger zu lernen, sondern spornte uns eher an, mehr zu tun. Außer Lernen war diese Periode bis zum 17. Dezember gefüllt mit den verschiedensten Aktivitäten wie: Sport, Kino, Stammtisch, Kneipenbesuchen und wieder Reisen. Für mich war Berlin das größte Erlebnis, in erster Linie, weil ich zwei Tage in dieser geschichtsträchtigen Stadt verbringen und dabei viele wichtige Sachen sehen konnte. Nie vergessen werde ich das Brandenburger Tor, das rote Rathaus, den Reichstag, den Alexanderplatz und den Potsdamer Platz. Ebenfalls nicht vergessen werde ich den 17. Dezember. An diesem Tag habe ich die Prüfung am Goethe-Institut mit der Note 2 bestanden. Natürlich war ich sehr froh darüber, weil das für mich eine Belohnung für mein Engagement war. Sankt Nikolaus und die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeiertage waren ebenfalls eine sehr interessante Periode. Ich hatte die Möglichkeit, deutsche Tra- Ilija Nikolowski Deutschland ditionen zu erleben. Auf dem Weihnachtsmarkt, mit Glühwein, Kartoffeln und Wurst konnte man die gute Atmosphäre fühlen. Alle Städte, besonders Essen und Dortmund, waren sehr reich geschmückt. Aus Iserlohn kamen ein paar Leute zu Besuch ins Goethe-Institut. Diese Menschen hatten viele Geschenke für uns mitgebracht. Wir haben uns mit unseren Besuchern unterhalten und unsere eigenen Feiertraditionen mit den deutschen verglichen. Die einzige Sache, die mir gar nicht gefallen hat, war, dass dieser Markt sofort nach dem 25. Dezember geschlossen wurde. Ich war überhaupt nicht froh, dass Sylvester so bald kommen sollte. Das Schließen des Institutes in Iserlohn war schwierig, nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für die Stadt. Meine nächste Aufgabe wartete in Köln auf mich: Meine Arbeit bei der Deutschen Welle. Zuvor war ich noch in Münster und Luxemburg, während ich Sylvester in Paris verbrachte. Es war sehr spannend und interessant, überall so viele neue Menschen kennenzulernen. Köln gefiel mir sehr, nicht nur die Menschen, sondern auch das Stadtzentrum, die Museen und natürlich der Kölner Dom. Die Arbeit in der Mazedonischen Redaktion war sehr interessant. Das Verhältnis zu den Kollegen war sehr gut und ich habe viele, neue Dinge gelernt. Es war ein sehr gutes Gefühl, in so einem großen und berühmten Haus zu arbeiten. Neben all den anderen Sachen die ich gesehen und gelernt habe, waren vor allem die Ratschläge von Frau Steinmann sehr nützlich. Die Wochenenden, während meiner Zeit in Köln, habe ich meistens mit Reisen verbracht. Ich war in Karlsruhe, Mannheim, Ludwigshafen, Frankfurt, Koblenz und Kaiserslautern. Alle diese Städte waren sehr schön, aber am schönsten war Heidelberg. Auch Saarbrücken hat mir sehr gefallen, sowie in Stuttgart der große, tolle Schlossplatz. Danke Ich möchte nochmal betonen, wie glücklich ich darüber bin, als Vertreter Makedoniens ein Heinz-Kühn-Stipendium erhalten zu haben. Ebenfalls sehr glücklich bin ich über die Möglichkeit, 5 andere Stipendiaten und sehr nette Personen aus Costa Rica, Sambia, Äthiopen, Mali und Mauretanien kennengelernt zu haben. Unser Kontakt untereinander war unglaublich gut, ebenso wie zu Frau Op de Hipt und den anderen Mitarbeitern der Heinz-Kühn-Stiftung. Ihre Gastfreundschaft werde ich nie vergessen. Gerne möchte ich alle diese Leute noch einmal treffen, vor allem aber möchte ich mich bei ihnen bedanken und ihnen Gesundheit, viel Glück und alles Gute für ihre Zukunft wünschen. P.S.: „Deutschland? Ja, danke!“ ist mein neues Motto. Martin Roos aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Madagaskar vom 18. Oktober 1999 bis 15. Januar 2000 Madagaskar Martin Roos Manao ahoana i Madagasikara? Wie geht es, Madagaskar? Geschichten vom sechsten Kontinent Von Martin Roos Mit der Heinz-Kühn-Stiftung vom 18.10. 1999 bis zum 15.1. 2000 in Madagaskar Madagaskar Inhalt Der Haifischzahn Jesus ist auch Madagasse Da, wo der Stein steht Voilà le Père Mikado im Wald Zeige nie mit dem Finger auf ein Chamäleon König David Der Dichter mit dem Löckchen Tot und lebendig Alles Märchen Wer hat Angst vorm weißen Mann? Zugfahren Monsieur, Pousse-pousse? Krank vor Madagaskar liegen Ein Christkind namens Fara Die Hoffnung heißt „morgen“ Salut Vazaha La bonne Misaotra – Danke Martin Roos Martin Roos Madagaskar Der Haifischzahn Im Norden Madagaskars schenkte mir ein Mädchen einen Haifischzahn, einen Talisman, den ich fortan um den Hals trug. Er half mir, einen Helden zu treffen und das Christkind zu entdecken. Er half mir, König David zu sprechen, Chamäleonjäger zu begleiten, Saphire zu suchen, Piratengräber aufzustöbern und Robinson tanzen zu sehen. Er half mir, Gebirge zu besteigen, Wüste und Busch zu durchschreiten und den Wind im Rauschen der Wellen zu fangen. Er half mir auch, als ich krank war, und er half mir, als ich auf regenüberflutetem Lateritboden mit dem Minibus fast weggespült wurde. Nur einmal versagte er. Er konnte den Tag nicht aufhalten, an dem ich Madagaskar verlassen musste. Jesus ist auch Madagasse Die Pension, in der ich wohne, wird nicht ausgeraubt. Als ich Père Raymond einmal fragte, warum die Kirchgänger in Madagaskar‘s Hauptstadt Antananarivo, kurz Tana, abends nach der Sechs-Uhr-Messe so schnell nach Hause gingen, sagte er, sie hätten Angst, Diebe könnten in ihr Haus einbrechen. Ich habe dergleichen nicht befürchtet. Ob dies nun mit meiner Gutgläubigkeit oder mit meinem guten Glauben zusammenhinge, wollte ich Pére Raymond nicht fragen. Ich bin nicht katholisch, nicht religiös, geschweige denn fromm. Père Raymond Rambatoson ist Pfarrer der Gemeinde, in der ich wohne. Für einen Madagassen ist er mit fast 1,80 Meter groß. Seine dunklen, kurzen Haare haben sich bereits zu einem Kranz um das freundliche Gesicht gelegt. Deutschland kennt er, hat dort Theologie studiert. In Tana hielt er einen Gottesdienst sogar schon mal auf Deutsch. Die deutschsprechende Gemeinde in Tana ist so klein nicht. Es gibt mehr als ein Dutzend deutsche Entwicklungshelfer, Germanisten an der Universität und viele madagassische Studenten, die zum Teil ausgezeichnet deutsch sprechen. Das „Cercle GermanoMalagasy“ (CGM), das Deutsch-Madagassische Kulturcenter in Tana, besuchen viele einheimische Schüler, die einen ansprechen, ob man sich mit ihnen verabreden könne. Zum deutsch sprechen. Sagt man ja, sind manche so begeistert, dass sie zu einem Treffen nicht nur kommen, sondern sogar pünktlich sind. Pére Raymond predigt in der Eglise St. Jean-Baptiste, der roten Backsteinkirche, die, hoch gelegen auf dem Hügel nahe dem ehemaligen zentralen Markt Zoma, immer wieder als Motiv auf den Postkarten Tanas auftaucht. Die vier Gottesdienste, zwei madagassische, zwei französische, sonntags morgens, sind immer voll. Die Leute kommen mit Kind und Kegel, sind gut angezogen, höflich und singen sich voller Freude die Kehle aus Madagaskar Martin Roos dem Hals. Vor allem am Heiligen Abend bewiesen sie es eindrucksvoll. Vier Stunden lang lauschten, niesten, flüsterten, quatschten und klatschten sie und ich auf engen Holzbänken. Mindestens acht verschiedene Chöre und Gruppen sangen Gospel und Kirchenlieder. Während die Kinder in den ersten Reihen ihre nackten Füße zur Musik wippen ließen, blinkte eine bunte Lichterkette auf einem kleinen Plastikweihnachtsbaum unter der Kanzel im Takt. Junge Leute der Kirchengemeinde spielten die Weihnachtsgeschichte. Das Publikum war begeistert, verteilte Szenenapplaus für den diktatorisch auftretenden Herodes, für Maria, für Josef und vor allem für den Star der Truppe: Den Jesusdarsteller – ein echtes Baby, ein madagassisches. Als ich diesen madagassischen Heiland sah, fiel mir auf, dass ich neben dem Herrn am Kreuz der einzige „Vazaha“, der einzige Weiße, an diesem Abend war. Um Mitternacht liefen wir in einem singenden Pulk die Gassen hinauf zur Kathedrale, in der der Erzbischof von Tana, Kardinal Armand Gaëtan Razafindratandra, vor laufenden Fernsehkameras fast zwei Stunden nun für die ganze Republik die Messe las. Gloria in excelsis deo. So heilig fühlte ich mich an Weihnachten noch nie. Da, wo der Stein steht. Meine Pension liegt in dem Stadtteil Ambatomitsangana. Außer dem regelmäßigen Stromausfall gab es in meinem Haus noch nie etwas Düsteres. Nichts. Gar nichts. Kommt man vom Zentrum, führt von der Hauptstraße ein kleiner Weg nach rechts. Ein Weg aus rotem Laterit. Ein schmaler Weg, der bei Regen sehr rutschig und fast unpassierbar wird. Er ist so unauffällig und für den Hauptverkehr so unbedeutend, dass ihn vor allem die Männer zu jeder Tageszeit als Toilette fürs kleine Geschäft nutzen. Hat man ihn durchschritten, erreicht man nach fünfzig Metern meine Pension, ein Haus aus Stein mit roten Holzverschlägen, einer Küche, einem Wohn- und Esszimmer, drei Gästezimmern mit schlichter Möblierung und Fußböden aus Palisander, zwei Hausmädchen, einem Nachtwächter und zwei Katzen. Ambatomitsangana heißt wörtlich übersetzt „Da, wo der Stein steht“. Wo dieser stehende Stein geblieben ist, weiß keiner mehr. Ambatomitsangana ist heute ein großer Wohnhügel, einer von vielen in Tana. Wie in der ganzen Stadt, feiern auch hier Hunde, Katzen, Hähne und Hühner nachts wilde Partys. Haben die Hunde aufgehört zu kläffen, schlägt die Stunde der Katzen, und wenn die sich müde gejault haben, hat der Hahn schon längst von Ferne den Ruf irgendeines Artgenossen vernommen und antwortet in schiefen Akkorden. Dem madagassischen Durchschnittsschläfer scheint das nicht viel auszumachen. Gegen sechs, sieben Uhr abends wird es während der Regenzeit dunkel, Martin Roos Madagaskar spätestens gegen 22 Uhr geht dann auch im Schlafzimmer das Licht aus, und wenn die Sonne sich gegen fünf Uhr morgens zurückmeldet, ist auch der Madagasse ein, zwei Stunden später wieder wach. Gefrühstückt wird französisch, Tee oder Café, Baguette, Butter, Marmelade, meistens Pflaumenmus. „C’est tout“. Jeden Morgen. Seitdem ist mir klar: Wenn Gott wirklich in Frankreich lebt, lässt er das Frühstück sausen und freut sich auf das Mittagessen. Mittags und abends gibt es fast immer Reis, oft mit Gemüse oder Suppe, manchmal in Kombination mit Zebu, Schwein, Pute, Ente, Huhn, Fisch, Krabben, Krebsen oder Langusten, gegrillt, gebacken, gekocht. Oder auch mit Früchten. Die reicheren Leute kaufen im Supermärkten wie „Champion“ ein, die Ärmeren auf dem Markt oder bei fliegenden Händlern. Fast jeden Morgen um sieben nähert sich der Pension eine helle, quakende, laute Stimme. Nicht weiblich, nicht männlich. Ein merkwürdiges Geräusch, als ob jemand zum ersten Mal in irgendein Blechinstrument bläst. Es ist ein Händler, der durch das Viertel zieht, um Blumen, Mangos, Bananen, Litschis, Erdbeeren zu verkaufen. Vor allem vor Erdbeeren hatte ich Respekt. In der Zeitung war zu lesen, dass sie mit Schweinemist gedüngt und daher mit Würmern verseucht seien. Als ich dann einmal abends bei meiner Vermieterin Aina Erdbeeren vorgesetzt bekam, war mir schon mulmig, bevor ich auch nur eine gegessen hatte. Doch was einem schmeckt, bekommt einem meistens auch, und auch deswegen konnte ich Wochen später wohl problemlos von den Gerichten der kleinen Garküchen auf der Straße in Diego-Suarez essen. Von meiner Pension bis zum Zentrum, der Avenue de l’Indépendence und dem gleichnamigen Platz, lässt es sich leicht hinunterlaufen. Etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß. Nachts vermied ich Fußmärsche. Wie in den übrigen Stadtteilen Tanas, wirken die Straßen in Ambatomitsangana nach Einbruch der Dunkelheit nicht unbedingt einladend. Fast niemand ist zu sehen. Nur ab und zu flackert am Straßenrand aus einer Tonne ein Feuer. Schaut man genauer hin, sieht man ein paar Schatten um die Flammen herumspringen. Irgendwelche armen Kerle, die kein Heim haben und sich nachts draußen in Hauseingänge und Ecken kauern. In Ambatomitsangana wohnen nicht nur arme Leute, Hunde, Katzen, Hühner und Stipendiaten. Auch der Sohn des alten „de Heaulme“ macht es sich hier gemütlich. Er wohnt gegenüber meiner Pension in einem eher unauffälligen, weißen, viereckigen Haus. Die „de Heaulmes“ sind Franzosen, die bereits zur Kolonialzeit auf der Insel lebten. Dem Alten gehört nicht nur der Berenty-Nationalpark in Fort Dauphin, im Süden des Landes, sondern auch noch diverse Immobilien, darunter ein Hotel und ein Restaurant. Ganz zu schweigen von den Besitzungen seiner Kinder. Seine Tochter, beispielsweise, führt das schicke und angenehme Hotel Lakana Vezo in Ifaty bei Tuléar. Madagaskar Martin Roos Der Sportwagen des Juniors steht in Tana seit Monaten unbewegt vor seiner Haustür. Angeblich ist der Schlitten zu tief gebaut und kann den löchrigen Weg hinauf zur Hauptstraße nicht mehr passieren. Aina schimpft über ihn. Der junge „de Heaulme“ hätte kein Benehmen, sagt sie, benimmt sich den Madagassen gegenüber, als ob Frankreich noch der Kolonialherr sei. Fahre man beispielsweise auf dem schmalen Lateritweg vom Haus auf die Hauptstraße, erzählt sie, gelte die Regel, dass ausfahrende Autos vor einfahrenden Vorrang haben. „De Heaulme“ halte sich nie daran und wolle immer Vorfahrt. Einmal, als sie sich wieder mal mit den Autos auf dem Weg begegnet seien und keiner vor oder zurück wollte, habe er ihr mit seinen Bekannten in der Regierung gedroht. Aina ist immer noch erbost. Doch weiß auch sie, dass das Streitereien sind, wie es sie auch in Frankreich oder im Rest Europas gibt. In Paris hat sie als Madagassin ihre Ausbildung als Krankenschwester absolviert und gearbeitet. Nach zehn Jahren kam sie in ihre Heimat zurück, wollte aber unter den schlechten hygienischen Bedingungen der madagassischen Krankenhäuser keine Krankenschwester mehr sein, erbte das Haus von ihren Großeltern und führt seitdem die Pension „Chez Aina“. In Tana gehe ich zu Fuß, nehme ein Taxi-Bé, einen kleinen Bus, oder fahre Taxi. 5000 Franc Malgache kostet eine Taxifahrt durch die Stadt, keine zwei Mark. Ohne Handeln geht nichts. Es gibt keinen Taxameter. Wenn man Pech hat, zu touristisch aussieht oder sich einfach nicht aufs Handeln versteht, zahlt man mehr, manchmal das Doppelte. Die Fahrt in solchen verrumpelten und verrosteten Autos ist ein Erlebnis. Es riecht oft übel, manchmal hat man das Gefühl, dass das Auspuffrohr direkt mit der Lüftung verbunden ist. Die Nase aus dem Fenster zu hängen, hat kaum Sinn. Draußen stinkt es nach einer Mischung aus Abgasen, Urin, Kot und allerlei Küchengerüchen. Die Taxis, fast alles ausrangierte, französische Modelle, haben keine Gurte, keine Federung, die Polster sind verschlissen, das Armaturenbrett abgerissen, die Türen klemmen fast immer. Manche Scheiben sind gesprungen, zerschlagen oder fehlen ganz, und bei nicht wenigen Taxis kann man durch die rostige Karosserie auf den Boden gucken. Oft gibt es nicht einmal mehr ein Zündschloss. Dann wird per Kabel gezündet. Manchmal fehlt Benzin. Ist auch der Reservekanister leer, wird der Fahrgast mit Bedauern aufgefordert, ganz auszusteigen und ein neues Taxi zu nehmen; oder er wird gebeten, bis zur nächsten Tankstation mitzuschieben. Dann wird getankt, zwei, drei Liter, innerhalb von Sekunden, und die Fahrt geht weiter. Warum er nicht mal mehr tanke, fragte ich einmal den Fahrer. „Damit abends nicht zu viel oder am besten gar nichts mehr im Tank ist“, war seine Antwort. Mundfaul sind die Fahrer nicht. Manche fragen einen aus, als ob sie noch nie einen Weißen gesehen hätten. Alles wird gefragt. Zuallererst ob man Tourist sei. Sagt man nein, ist man in ihrer Achtung bereits gestiegen. Wenn man dann zu erkennen gibt, dass man kein Franzose sei, schauen sie einen an, als ob man eine Martin Roos Madagaskar Prüfung bestanden hätte. Wenn ich dann sage, ich sei Deutscher, heißt es jedoch nur „Aha“. Für sie liegt Deutschland irgendwo in Europa. Mehr wissen sie oft nicht. Höchstens Hitler kennen sie. Geschickt ist es, den Taxifahrer mit einem wohlklingenden „Manahoana“ – „Wie geht’s“ zu begrüßen. Wenn man es noch schafft, anschließend „Ambatomitsangana“ auszusprechen, dürfte es keine Verhandlungen mehr über den Fahrpreis geben. „Manahoana“ und „Ambatomitsangana“ möglichst akzentfrei und schnell nacheinander auszusprechen, hat mich viele Stunden gekostet. Für manche Fahrer war meine Kenntnis dieser beiden Wörter ein unfehlbarer Beweis, dass ich schon seit langer Zeit in dem Land leben musste. Andere glaubten sogar, dass ich fließend Madagassisch sprach. Ich musste dann nie mehr als 5000 Franc Malgache zahlen. Selbst wenn ich zugab, dass ich höchstens noch ein Wort konnte, „veloma“ – „Tschüss“, wurde mir anerkennend zugenickt. Später lernte ich auch mal einen ganzen, zusammenhängenden Satz auswendig, der großen Erfolg bei den Taxifahrern hatte: „Fitiavanao ve nomenao aho, asambarana no mitodika amiko“ – „Wenn du mir Deine Liebe schenken würdest, wäre ich sehr glücklich“. Nachts ist es in Tana nicht ungefährlich, insbesondere Taxifahrer sollen Opfer von Überfällen sein. Sie nehmen deswegen zum Schutz eine Begleitperson mit. Wer keinen Freund hat, fragt seine Frau oder Freundin, auch wenn das wohl manchmal weniger sicher als vielmehr unterhaltsam ist. Nachts steigt man also oft in ein Taxi, in dem vorne zwei Personen sitzen. Eine unangenehme Situation. Zwei gegen einen. Sind die harmlos? Werden die mich übers Ohr hauen? Werden die mich überfallen? Oder werden die mich wirklich einfach nur nach Hause bringen? Oft kam es mir aber so vor, als ob die zwei im Taxi erleichterter waren, mich zu sehen als ich sie. Ein Vazaha, eine Weißer, bedeutet kaum Gefahr. Mir allerdings nahm das nicht meine Bedenken. „Wie viele Tankstellen gibt es auf dem Weg bis zu ihrer Pension?“, fragte mich einmal nachts ein Fahrer. Was sollte diese Frage? Entscheidend ist doch wohl immer nur, wo die nächste ist, dachte ich. Er wollte prüfen, ob ich mich auskenne. Vier, sagte ich, und ergänzte, dass, falls er noch eine fünfte suchte, diese hundert Meter nach meinem Haus gegenüber der großen Apotheke zu finden wäre. Er nickte und fragte noch einmal, wo ich genau hinwollte. „200 Meter nach der Brücke, neben dem Restaurant „Le Restaurant“, da lassen Sie mich raus“, sagte ich. Dann war Ruhe. Auf der kleinen Brücke vor meiner Pension haben sich die Ärmsten des Stadtteils hundehüttengroße Buden und Baracken aus Pappkarton, Blech, Brettern, Plastik und alten Leinen zusammengeflickt. Ich habe mich an den Anblick gewöhnt. Tagsüber, wenn die Sonne auf die Lumpen scheint, sieht es noch trostloser aus. Ich kenne die Bewohner. Die Männer sind meistens betrunken. Es sind sieben bis acht Familien, die in diesen Baracken leben. Manche von ihnen sind Madagaskar Martin Roos Stadtnomaden, Wanderer, die durch den Staub und den Dreck der Straßen ziehen. Wie lange sie an einem Ort bleiben, wissen sie selbst nicht. Sie wohnen so lange auf der Brücke bis sie wieder spurlos verschwinden. Alles in ihrem Leben ist provisorisch, brüchig. Die meisten haben die dörfliche Armut hinter sich gelassen und sind in der Hoffnung in die Stadt gekommen, dass es ihnen hier besser gehen wird. Nun hat sie die Stadt verschlungen. Sie ist ihre neue arme Welt. Ich könnte in die sicheren Viertel, zum Beispiel nach Ivandry, ziehen, wo viele Ausländer und Entwicklungshelfer ihre Büros haben. Oder nach Ambatobe, Ambohibao oder in die Cité Planton, wo hinter großen Zäunen und Hecken, die Konsule, Diplomaten, Vazahas, aber auch reiche Madagassen wohnen, die zum Urlaub und Einkaufen gerne mal nach Paris jetten. Ein madagassisches Ehepaar, das ich in Ambatobe kennenlernte, besaß acht Töchter, alle unter 18 Jahren, für die sie bereits jetzt acht Häuser gebaut haben. Ein neuntes ist im Bau. Seit drei Jahren. Nur das Feinste wird in dieser neunten Villa installiert, jedes Detail mit europäischen Spezialisten besprochen. Selbst der Rasen wird nicht gesät, sondern irgendjemand hockt wochenlang im Garten, um mit der Hand Stecklinge für eine schöne Grasfläche in den Boden zu drücken. Ich wollte in Ambatomitsangana wohnen. In einer normalen, madagassischen Straße. In einem madagassisch traditionellen Haus. Anders konnte ich das Gefühl, in Antananarivo zu leben, der „Stadt der Tausend“, die heute schätzungsweise zwei Millionen Einwohner hat, nicht näher kennen lernen. Voilà le Père! Im Colbert ist die europäische Welt in Ordnung. Das edle Hotel liegt in einer kleinen Seitenstraße in der Oberstadt Tanas gegenüber vom Hauptpostamt. Hier trifft man Minister, Entwicklungshelfer, Journalisten, madagassische und ausländische Geschäftsleute. In der Patisserie nebenan essen Touristen beste französische Croissants und auf der Terrasse des Colberts warten madagassische Damen auf Kundschaft. Aufpasser halten die Straßenkinder davon ab, sich vor dem Hotel Bonbons zu erbetteln. 50 Meter weiter verkaufen junge Kerle auf der Place de l’Indépendence die neuesten englischen, französischen, italienischen und deutschen Zeitungen, die sie sich aus Flugzeugen vom Airport in Tana haben besorgen lassen. Überall auf dem Platz sind Straßenkinder und Mütter mit Babys, manche mit ihren eigenen, manche mit geliehenen. Sie alle betteln. Auch die Kleinsten, zwei-, dreijährige. Beim Gehen müssen diese sich manchmal gegenseitig stützen, weil sie noch nicht richtig laufen können. Andere, vierfünfjährige, tragen ihre kleineren Geschwister auf dem Rücken. Ein Mann mit gelähmten Beinen schleift sich mit seinen Händen über den Bürgersteig. Ein anderer hat keine Beine mehr und schiebt direkt seinen Rumpf auf dem Stra- Martin Roos Madagaskar ßenasphalt vor sich her. Wieder ein anderer lässt sich zum Betteln durch die Reihen der im Stau stehenden Autos von einem Freund auf dem Rücken tragen. Blinde und zahnlose Sänger, Souvenirverkäufer, Schuster, Gemüsehändler und Musiker hocken auf der „Escalier Ranavalona I“, der Treppe, die den ehemaligen zentralen Markt, den Zoma, mit der Oberstadt verbindet. Einer bläst Mundharmonika, auf dem Boden hockend. Seine spindeldürren Beine tragen ihn nicht mehr. Die Mundharmonika ist auf der Gitarre befestigt, die in seinem Schoß liegt. Obwohl er keine Hände hat, spielt er Mundharmonika und Gitarre zugleich. Dort, wo andere Hände haben, laufen seine Arme in einem fingerdicken Fortsatz zusammen. In den einen hat er sich eine Spange geklemmt und rattert damit über die Gitarrensaiten. Mit dem anderen Arm stützt er sich auf den Gitarrenhals und bedient die Tonart. Vor ihm liegt ein Hut. Auch die armen Passanten geben ihm Geld. Nur die wenigsten der Mütter, Kinder und Krüppel sind aufdringlich, keiner von ihnen aggressiv. Sie wirken fast freundlich, und wenn man mit ihnen spricht, lächeln viele und freuen sich. Die Straßenbewohner stellen sich gerne für ein Foto auf, erwarten aber, dass sie dafür bezahlt werden. Die Kinder erkennen sofort, wenn ein Vazaha neu in der Stadt ist. Dann holen sie ihre Geschwister oder Freunde, stellen sich eng umschlungen in ihren Lumpen zusammen, strahlen und rufen: „Photo, Photo“. Nur die wenigsten drücken dann nicht ab, erkennen nicht oder zu spät die Perversität dieser Inszenierung eines idyllischen Elends. Die Armen wohnen alle irgendwo auf der Place de l’Indépendence, in Ecken und Nischen. Manche Kinder sind vor ein paar Jahren womöglich noch zu Zaza Faly („glückliches Kind“) gegangen. Zaza Faly war ein deutsches Kinderstraßenprojekt, ein Haus, etwa einen Kilometer von der Place de l’Indépendence entfernt, in dem die Kinder tagsüber zu essen bekamen, sich waschen, Unterricht nehmen und spielen konnten. Ein Skandal, der bis heute nicht geklärt ist, hat das Projekt zu Fall gebracht. Deutsche Mitarbeiter sollen Kinder sexuell misshandelt haben. Das Nachfolgeprojekt, ONG Manda, das jetzt unter madagassischer Leitung steht, finanziell aber immer noch von der Berliner Organisation des ehemaligen „Zaza Faly“ unterstützt wird, ist kleiner. Etwa 40 Kinder werden tagsüber in dem Gebäude, in der Nähe der Route de l’Université, betreut. Für die Straßenkinder der Oberstadt ist dieses Gebäude zu weit weg. Und nur wenige kennen es. Dafür kennen sie alle Père Pedro. Wie jemand, der nach einer Axt greift, drückt Pedro Opeka einem die Hand. Bei allem, was er sagt, funkeln lebhaft seine blauen Augen. Den kantigen Schnitt des Gesichts hat er von seinen slowenisch-argentinischen Eltern geerbt. Seine Stimme ist dunkel und kräftig. Wenn er lacht, glänzt die obere Zahnreihe in der Sonne. Allein sein grauer gepflegter Bart scheint nicht ganz zu seinen kurzen, noch immer braunen Haaren zu passen. Er bewegt sich Madagaskar Martin Roos schnell, ist voller Energie, gestikuliert dynamisch. Er ist schlank und wirkt sportlich. Über dem blauen Hemd und dem roten Pullunder hängt an einer silbernen dünnen Kette eine kleines Kreuz. Seit mehr als 30 Jahren ist Père Pedro in Madagaskar. Jetzt lebt er am östlichen Rand Tanas. Vor zehn Jahren wohnten in dieser Gegend die Elendesten der Armen, sie vegetierten vor sich hin, auf Müllhalden, zwischen Tierkadavern und Seuchen. Sie kamen einst vom Land, aus Dörfern weit abgelegen der Hauptstadt. Sie kamen mit dem Traum, in der großen Stadt ihr Glück zu finden. Doch sie landeten auf den Müllhalden und begannen, sich irgendein Dach über den Kopf zu bauen, irgendeine Hütte, eine Baracke, irgendeinen Winkel. Sie bastelten sich ihre Bleibe mit dem, was sie auf den Müllbergen fanden. Ein Loch entstand neben dem anderen, eine Hütte neben der anderen, ein Weg, eine Straße und noch eine. Dann vielleicht eine Kreuzung, an denen die Wege und Straßen in verschiedene Himmelsrichtungen liefen und sich woanders neu verästelten. Ganze Dörfer wuchsen aus dem Dreck, ohne einen einzigen Nagel, ohne einen einzigen Ziegel, ohne ein einziges Fenster mit Scheiben aus Glas. Entsetzt über so viel Elend rief Père Pedro damals die „action humanitaire“ ins Leben, ein Projekt, das einen nie für möglich gehaltenen Erfolg haben sollte. Zwei kleine Dörfer mit soliden und sauberen Häusern aus Stein, gepflasterten Straßen und Toiletten sind heute entstanden, Grundschulen und Mittagsküche für Tausende von Kindern, eine Bibliothek, eine Krankenstation für ambulante Behandlungen und sogar ein kleines Fußballstadion mit grünem (!) Rasen und einem Fußballteam, in dem Père Pedro den Linksaußen spielt. Mehr als 18.000 Menschen leben in den beiden Dörfern. Ein drittes ist in Bau. Nur eine Kirche mit Kirchturm gibt es noch nicht. „Das ist das letzte, was wir hier aufbauen werden“, sagt Père Pedro. Seine Gottesdienste finden regelmäßig in einer großen Lagerhalle statt. Tausende von Arbeitsplätzen sind in den riesigen Steinbrüchen und auf den Anlagen für die Kompostierung des Mülls entstanden. Über 200 Mitarbeiter braucht Père Pedros „Association Humanitaire“ für die Bereiche Verwaltung, Gesundheit, Bildung und Schulwesen. Der Pater betont, dass dieser Erfolg nicht nur Sponsoren aus dem Ausland, wie der Europäischen Union, zu verdanken ist, sondern auch dem Aufbauwillen der Armen. Für sie ist Père Pedro der wahre Held. Er hat sie aus dem Dreck geholt. Seine Initiative war es. Selbst die madagassische Presse hat ihn im vergangenen Jahr zum „Mann des Jahres“ gewählt. Wenn Père Pedro so etwas hört, lacht er immer nur, beschämt und stolz. Die Dörfer Akamasoa und Manantenasoa liegen mehrere Kilometer auseinander. Père Pedro besucht die Bewohner regelmäßig, oft im Wagen, mit einem Nissan-Jeep, den Prinz Albert von Monaco gespendet hat. Überall, wo Kinder stehen und den Pater sehen, winken sie ihm zu und rufen laut „Voilà le Père!“, klatschen, hüpfen, schwenken die Arme und wiederholen „Voilà le Père! Voilà Martin Roos Madagaskar le Père!“. Père Pedro lächelt, winkt zurück. Eine Frau kommt zu ihm ans Fenster des Wagens, redet madagassisch auf ihn ein. Père Pedro hört zu, spielt dabei an dem im Zündschloss steckenden Schlüssel herum. Die Frau redet aufgeregt, beginnt fast zu weinen. Andere kommen dazu, schauen in den Wagen. Schließlich antwortet Père Pedro laut, energisch. Auf madagassisch. Die Frau hört zu. Dann Schweigen. Dann beginnt sie wieder ihre Klage. Schließlich sucht Pére Pedro irgendwas in dem Ablagefach neben dem Lenkrad. Er findet 5000 Franc Malgache, keine zwei Mark, und gibt sie ihr. Die Frau nickt, verabschiedet sich und geht. „Ihre Mutter ist sehr krank. Sie befürchtet, dass sie stirbt“, sagt Père Pedro, „sie braucht einen Arzt und kann nicht bezahlen“. Er ärgert sich ein wenig. Er kann nicht immer Geld geben. Es gibt einfach zu viele, die ihn fragen. Manchmal auch ohne Grund. Trotz aller guten Taten und Hilfe bleiben die Schwindeleien, Betrügereien und Diebstähle in den Dörfern nicht aus. „So ist das halt, in der Hauptstadt und hier“, sagt er. Die Frau, die ihn um Geld gefragt hat, besucht er zwei Stunden später. Die Mutter ist wirklich krank. „Armut ist keine Sache des Zufalls. Armut ist eine traurige Realität“, sagt Père Pedro und gibt Gas. „Vor allem die Kinder haben ein Recht auf Zukunft. Sie müssen verstehen, dass Armut nicht das Ende bedeutet. Wenn man Hilfe bekommt und sich aufrafft, kann man etwas verändern. Das haben viele bei uns bereits verstanden“. In seinem Büro in Akamasoa, in der ein Schild mit der Aufschrift „aimer, c’est partager“ – „lieben heißt teilen“, die einzige Wanddekoration darstellt, wartet ein Kamerateam auf ihn. Das slowenische Fernsehen. Jeden Tag hat Pére Pedro einen Presse- oder Besprechungstermin. Er ist populär, und je größer seine Popularität wird, desto größer werden die Wachstumschancen für seine Dörfer. Dass ihr Fortbestehen allein von ihm abhängt, will er nicht hören. „Die Leute werden auch ohne mich überleben. Es wird weitergehen“. Bevor er geht, drückt er einem noch einmal die Hand, dass es kracht. Mikado im Wald Es gibt viele Gründe, nach Madagaskar zu reisen. Den zynischsten habe ich in einem englischen Reiseführer gefunden. „Schauen Sie sich Madagaskar an, bevor die Madagassen es zerstört haben.“ Tatsächlich ist das Land fast abgebrannt. Und das, was noch steht, brennt bereits oder wird bald brennen. Vom Flugzeug aus kann man nachts auf der Insel überall Lichtflecken sehen. Es sind keine Städte, die da leuchten. Es sind Feuer, riesige Feuer. Vor 1000 Jahren war Madagaskar noch von dichtem Primärwald bedeckt. Heute sind 90 Prozent der ursprünglichen Landfläche Steppe und Wüste. Jährlich werden 200.000 Hektar Naturwald weiter abgehackt und abgefackelt. Die Einheimi- Madagaskar Martin Roos schen zerstören, um Bauholz zu gewinnen, Holzkohle herzustellen, oder durch Brandrodung die fruchtbaren Anbauflächen zu erhalten. Außerdem halten die Dorfbewohner in vielen Regionen Wälder, Büsche und Bäume für die bevorzugten Wohnstätten böser Geister, die nur durch das Feuer vertrieben werden können und müssen. Größer als dieser Aberglaube ist aber die Bequemlichkeit. Denn den Wald zu plündern, ist für die Bauern die leichteste Art zu überleben und sich zu ernähren. Holz ist günstiger als Strom von Elektrizitätswerken. Die wenigsten haben ein geregeltes Einkommen, um den Strom und die dazugehörende Ausstattung wie Lampe, Herd oder Kühlschrank zu bezahlen. Was vom Wald schließlich übrig bleibt, sind artenarme Gebiete mit Sekundärvegetationen oder riesige erodierte Landflächen. Mit Pascal Lopez besuche ich ein Waldstück in der Nähe des Nationalparks „Montagne d’Ambre“, südlich von Diego-Suarez im Norden der Insel. Im Rahmen seiner Promotion am Göttinger Institut für tropischen Waldbau, untersucht der 30jährige Deutsche mit Förderung der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) seit über einem Jahr das Potential madagassischer Sekundärwälder. Wälder, die nach großflächiger Zerstörung des ursprünglichen Waldes entstanden sind. Pascal steckt selbstgewählte Flächen im Wald ab, vermisst die Bäume, ihre Höhe und beurteilt sie. Er will herausfinden, was man mit Sekundärwäldern noch machen und wie man sie überhaupt bewirtschaften kann. Ich begleite ihn auf einer Tour. Mit dem Jeep fahren wir durch sanfte Hügelketten, auf denen sich zwischen vereinzelt stehenden, kleinen Bäumen das Steppengras im Wind wiegt und weidende Zebus ihre Hörner sanft aneinanderschlagen. Irgendwo sehe ich Tania Blixen als Fata Morgana aufsteigen und „Sehnsucht, Sehnsucht“ rufen. Madagaskar – wie ähnlich und doch so jenseits von Afrika. Als wir wenig später durch den Wald laufen, erreichen wir eine Anhöhe. Vor uns ein Schlachtfeld. Überall liegen abgeknickte, abgehackte Bäume, wahllos verstreut wie Mikadostäbchen auf einem Spieltisch. Ein Tornado hätte wohl kaum ein schlimmeres Chaos hinterlassen. „Es wird immer weiter gerodet“, sagt Pascal, „illegal“. Selbst Strafen halten die Einheimischen nicht von ihren Taten ab. Wir kommen an einem Stapel frisch geschlagener Bäume vorbei. Irgendwo ist ein Knacken zu hören, Bauern, die sich vor uns verstecken. Sobald wir gegangen sind, kommen sie zurück. „Man muss den Leuten, die hier wohnen, die Verantwortung für Flächen geben und sie über eine effektive und sinnvolle Nutzung der Wälder aufklären“, meint Pascal. Das sei die beste Lösung, um zu retten, was noch zu retten ist. Viele Projekte, bei denen die GTZ mit dem „Ministère des Eaux et Forets“, der madagassischen Forstverwaltung, zusammenarbeitet oder sie berät, finden bereits statt. Dazu zählen Seminare für Motivationsförderung, Entwicklung von Bewirt- Martin Roos Madagaskar schaftungsplänen von Naturwäldern, Gründung von regionalen Fonds oder auch eine Restrukturierung der Forstverwaltung. Dennoch. Gegen die Voraussage von Spezialisten, dass in 30 Jahren auch der restliche Wald Madagaskars verschwunden sein wird, hat Pascal nichts einzuwenden. Auch gegen den Vorwurf, dass die internationalen Bemühungen um den tropischen Regenwald nicht mehr als eine Bankrottverwaltung darstellen, wehrt er sich nicht. Wir laufen weiter und kommen in ein dichteres Waldstück. Busch. Äste schlagen uns ins Gesicht, wir springen über Bäche und steigen über rutschige Steine Böschungen hoch. Plötzlich türmt sich vor uns ein Baum auf, ein riesengroßer Baum mit einer riesengroßen Wurzel. Ein Baum, der so hoch ist, dass man seine Krone nicht sieht. Wir sind begeistert. Endlich ein richtiger Baum. Wir holen die Kamera heraus und knipsen uns vor dem Regenwaldkoloss tot. Zeige nie mit dem Finger auf ein Chamäleon Wochen später fuhr ich in den Süden des Landes, in die Nähe von Fianarantsoa nach Ranomafana, einem von mehr als 50 staatlichen und privaten Nationalparks. In den Parks trifft man Forscher aus allen Erdteilen. Trotz aller Naturzerstörung ist Madagaskar immer noch die Insel der biologischen Superlative, ein evolutionäres Laboratorium, ein sechster Minikontinent, ein Land, das die höchste Rate an endemischer Flora und Fauna besitzt. 64 Prozent aller Vogelarten, 81 Prozent seiner Blütenpflanzen, 98 Prozent seiner Palmen, 95 Prozent seiner Reptilien und fast 100 Prozent seiner Froscharten gibt es nur auf Madagaskar. Auf der Insel zählt man 30 Lemuren-, über 50 Chamäleon-, 62 Schlangen-, 150 Frosch-, mehr als 3.000 Schmetterlings- und bis zu 12.000 Pflanzenarten. Es war kurz vor Mitternacht als noch ein Jeep vor der kleinen Unterkunft, in der ich in Ranomafana wohnte, vorfuhr. Zwei Engländer und ein Madagasse stiegen aus. Nach ihrem Gepäck zu urteilen, wollten sie wohl Monate bleiben. Die bleichen Gesichter der beiden Weißen schienen nicht zu ihrem Safarilook passen zu wollen. Sie wirkten brav, wenig vertraut mit der Umgebung, gehetzt und zuckend wie ans Ufer gespülte Fische. Ein Irrtum. Angus und Joe, zwei Zoologen der Universität London, sollten sich als harte Burschen im Busch, als Kämpfer für Ruhm und Wissenschaft, als abenteuerliche Forscher auf der Jagd nach dem glorreichen und seltenen „furcifer verrucosus“ entpuppen. Das „furcifer verrucosus“. Keine Ahnung, was das sein sollte. Irgendein Tier wohl, aber Angus wollte mir kein Bild zeigen. Er zögerte, als ob er mir ein Geheimnis zu verraten hätte. Dann holte ich meinen Reiseführer heraus und fand ein Foto des Tiers. Ein Chamäleon. Für mich Vollblutlaien ein stinknormales Chamäleon mit dicht aneinanderliegenden Zacken auf dem Rücken und einem Fortsatz über der Stirn, der mich an einen Ritterhelm erinnerte. Madagaskar Martin Roos Die beiden Engländer boten mir an, sie noch in der gleichen Nacht auf Chamäleonsuche zu begleiten. Wir zogen los. Auf die Hauptstraße, den Berg hinab zum Ort Ranomafana. Es war nach Mitternacht. Die Sichel des Mondes lag auf ihrem Rücken. Angus, Joe und ihr madagassischer Begleiter Guy trugen jeweils eine Stirnbandlampe auf dem Kopf, die weit von der Hauptstraße in den Busch strahlen konnte. Joe erklärte mir, dass ich stets auf etwas Weißes achten sollte. Weiß sei nämlich das Chamäleon, wenn es schlafe oder sich ausruhe. Ich konnte in der Dunkelheit fast überhaupt nichts sehen. Die zwei Engländer wurden jedoch immer lebendiger, sprachen laut miteinander, diskutierten, wo sie wohl am besten hinleuchten müssten, schmissen sich lateinische Chamäleonnamen an den Kopf und ließen die Strahler ihrer Stirnbandlampen mit einer geschickten Kopfbewegung immer wieder durch den Busch flitzen. „Look here“, rief Joe. Alle starrten. Nichts. Nur ein im Strahler schimmerndes Blatt. „But here!“, jetzt leuchtete Joe auf der anderen Seite irgendwo in die Dunkelheit. „Furcifer pardalis! Furcifer pardalis!“ Ich sah nichts. Die anderen sprangen hinzu und leuchteten die Stelle oben auf einem Baum ab. Joe rauschte bereits ins Gebüsch und begann unter Knacken des Geästs den Baum hinaufzuklettern. Dann raschelte es, minutenlang. Ein Fluchen. Irgendwas fiel herunter. Stille. Nichts geschah. „Ich habe ihn“, rief er. Angus ließ von unten seinen Lichtstrahler durch den Baum wandern. „Ja, es ist ein furcifer pardalis“, rief Joe begeistert. Ich versuchte das Tier in der Dunkelheit ausfindig zu machen und streckte meinen Finger suchend nach vorne. „Nicht mit dem Finger auf ein Chamäleon zeigen“, meinte Guy plötzlich überaus ernst zu mir, „das ist fady!“ „Fady“ (madagassisch) kann „unheilvoll“, dann auch „tabu“ oder „verboten“ heißen. Für Madagassen ist vieles fady. Zebuköpfe und Hörner bedeuten fady. Manche Lemurenarten gelten als fady, damit sie geschützt bleiben. Friedhöfe können fady sein, und es kann sogar fady sein über fady zu sprechen. Etwas gilt als fady, das die Lebenskraft eines Menschen schwächt. So wie das Chamäleon, vor dem in Madagaskar viele Angst haben. Aussehen und Gehabe dieser seltsamen Schuppenkriechtiere beeindrucken, und manche weigern sich deshalb, das Tier anzufassen oder einzufangen. Kinder rennen sogar weinend weg, wenn sie ein Chamäleon sehen. „Auf das Chamäleon zeigen, heißt es provozieren“, erklärte mir Guy, „wenn du schon auf das Tier zeigen willst, dann nimm die Faust“. Joe war inzwischen von seinem Baum heruntergeklettert, sein Haar zerzaust, sein Hemd eingerissen. „Furcifer pardalis“, rief er wieder. Er frohlockte. Kurz darauf entdeckte Angus ein Chamäleon, wieder irgendwo im Gebüsch. Stunde um Stunde verging. Sie entdeckten und fanden und saßen bis zum frühen Morgen in Busch und Bäumen. Ich lief die ganze Zeit neben Guy her. Ich fragte ihn, wie es denn um seinen Respekt vor dem Chamäleon stünde. Respekt ja, sagte er, aber Angst habe er vor den Tieren nicht. Dass ein Biss des Chamäleons bei seinen Landsleuten als töd- Martin Roos Madagaskar lich gelte, stimme einfach nicht. Er freue sich, ein Chamäleon zu fangen. Denn mit ihm könne er schließlich die bösen Geister im Wald vertreiben. König David „Wie heißt du eigentlich?“ Ich nannte ihm meinen Namen. „Und du? Wie heißt du?“ fragte ich. „Ah“, sagte er. Er schien sich über meine Frage zu freuen. „Kennst du die Bibel? Das Alte Testament?“ Ich nickte. „Siehst du, ich heiße wie eine der großen Figuren im Alten Testament“. Erwartungsvoll schaute er mich an. Strahlend. Der schmächtige Mann wollte doch tatsächlich meine bescheidenen Bibelkenntnisse prüfen. Viel fiel mir nicht ein. Doch dass ein Madagasse Moses heißen sollte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. „Du heißt David“, sagte ich. David schaute stolz, als er seinen Namen hörte, lächelte und fegte den Boden vor seiner Hütte weiter. Drei große Zimmer mit jeweils acht Betten für Gäste hatte das Holzhaus. An der Hauptstraße, die durch das dicht, tropisch bewachsene Tal führt, hundert Meter vom Eingang des Nationalparks von Ranomafana gelegen, war es vorwiegend billige Herberge für Parkbesucher. Die Übernachtung kostete zehn Mark pro Mann, inklusive Frühstück. In der Nacht zuvor schliefen sieben Gäste in seiner Hütte. Das erste Achterzimmer hatte David allein für Johnny reserviert, meinen madagassischen Fahrer und Reiseführer, das zweite nur für mich, und alle anderen hatte er ins dritte Zimmer gestopft. Über diese Regelung schien sich David mehr als wir, die wir ihm diese Aufteilung vorgeschlagen hatten, zu amüsieren. „Nein, ich muss nicht reich werden. Ich will gar nicht reich werden“, sagte er. Auf der Straße ratterte mit quietschendem Hänger ein Lastwagen vorbei und trug mit seinem Fahrtwind den Dreck, den David gerade weggefegt hatte, wieder zur Hütte zurück. „Ich habe doch meinen Glauben. Ich bin Christ.“ Er schaute mich eindringlich an. „Ja“, sagte er, „auf die christliche Heilserwartung baue ich mein Leben“. Dann hielt er mit dem Fegen inne. „Glaubt man in Europa nicht mehr?“ Ich zögerte. „Ihr Europäer wollt andauernd irgendetwas anderes. Andere Uhren, andere Kleidung, anderen Schmuck. Und wenn es mit Gott nicht mehr klappt, dann eben wohl auch einen anderen Gott.“ Ich schien ihm fast leid zu tun. Dann fegte er fröhlich weiter und sagte: „Madagassen lieben es, etwas zu behalten, am besten etwas fürs Leben zu behalten.“ In den Hügeln, weit hinter ihm, sah ich eine Rauchwolke aufsteigen. Irgendwo brannte wieder ein Stück Wald ab. „Ich spreche von Gegenständen“, sagte David und zeigte mir seine Uhr. Die habe er schon lange. „Aber ich spreche auch von Traditionen. Wechsel ist einfach nicht gut“. Jetzt fegte er voller Elan den Dreck auf die Straße. „Gibt es nichts, über was du dir Sorgen machen musst?“, fragte ich ihn. „Ich warte auf den Erlöser“. Er Madagaskar Martin Roos meinte es ernst. „Hör zu“, sagte er, „hier in Ranomafana ist es schön. Ich bleibe hier. Und wenn der Erlöser es bis hierher nicht schafft und nicht kommt, dann will ich wenigstens für andere ein Erlöser sein.“ Das schien ihm als Schlusswort zu gefallen. Schweigend schwang er den Besen über die Schulter und drehte sich dem Haus zu. Dann nahm er den Besenstil wieder herunter, drehte sich um und sagte: „Weißt du was?! Wenn heute neue Gäste kommen, werde ich sie alle wieder in ein Zimmer sperren. Dann habe ich nämlich schon wieder einen erlöst. Dich von ihnen.“ Der Dichter mit dem Löckchen Elie Rajaonarison trägt keinen Zopf, noch nicht einmal ein Zöpfchen, höchstens ein Löckchen. Und davon nur ein einziges, hinten am Hals, am Nacken, in der Senke. Aber dieses Löckchen ist eines seiner Markenzeichen. Zumindest wurde es mir so im CGM in Tana erklärt: „Suchen Sie den Dichter Elie? Sie werden ihn erkennen, der trägt so ein kleines Zöpfchen“. Nachdem ich ihn dann zwei mal weder erkannt noch gefunden hatte, lud mich Monsieur Rajaonarison telefonisch zu sich nach Hause ein. Vielleicht lag es daran, dass ich in Fianarantsoa seinen Freund, den Fotografen Pierrot Men, getroffen hatte, einen stillen, bescheidenen Mann mit chinesischem Vater und französisch-madagassischer Mutter. Fast auf der ganzen Insel hängen seine Schwarz-Weiß-Fotografien: Männer in einer Werkstatt von Manakara, Frauen aus Sahambava mit schlafenden Kindern auf dem Rücken; Bilder von weißen Hemden, die zum Trocken am Strand von Mananjary liegen, ein Pousse-Pousse-Fahrer einsam am Meer von Toamasina, ein altes, in weiße Tücher gehülltes Pärchen vor den Häusern von Soatanana, Kinder in Befeta, die mit großen Augen gen Himmel blicken, Frauen, die in Manakara auf dem Kopf einen Fisch balancieren. Elie hätte mich aber vermutlich auch ohne Referenzen eingeladen. Ich kaufte mir seinen Gedichtband „Ranitra“. Zur Vorbereitung. Ich erwartete einiges von dem Besuch, denn immerhin ist der Mann einer der bekanntesten zeitgenössischen Poeten Madagaskars. Elie wohnt in Tanas Stadtteil Faravohitra, in einem schmalen, dreistöckigen Haus mit grünen Fensterrahmen, das auf dem Weg hinauf zum abgebrannten Palast der Königin liegt. Ein etwa zehnjähriges Mädchen öffnet mir die schmale Eingangstür. In dem Zimmer, in das Elie‘s Tochter mich bringt, diskutiert ihr Vater bereits mit drei jungen Männern – zwei Musikern und einem Dichter, wie sich später herausstellt. Ein Sofa, ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal, noch ein Tisch und eine Ablage füllen den Raum so, dass man kaum hindurchlaufen kann. Zwei Fenster bieten einen Blick hinunter auf Tana und den ehemaligen Zoma. Mit einem Handzeichen gibt Elie mir zu verstehen, dass ich mich setzen und warten soll. Dann redet er weiter, redet und redet, monologisiert. Andächtig sitzen die Martin Roos Madagaskar drei Künstler auf dem zu kleinen Sofa, lauschen ihrem Meister. Für einen Madagassen spricht Elie ungewöhnlich laut, etwa wie ein Fußballfan, der von seiner Lieblingsmannschaft berichtet. Elie ist nicht älter als 40 Jahre. Er trägt ein T-Shirt mit irgendeinem Aufdruck, eine weiße, kurze Hose und ist barfuß. Ab und zu schlürft er ein dampfendes Getränk, heißes Wasser mit Milch und Zucker. „In meinem Haus gibt es keine Drogen“, sagt er, „gar keine, nicht einmal Zigaretten oder Bier.“ Dann tunkt er ein Stück Baguette in die Tasse und isst. Über der verschlissenen Blümchentapete hängt Plastikefeu, quer über die Wand. In der Ecke steht ein bis zur Hüfte reichender Christbaum, darunter eine Pralinenschachtel. Daneben ein kleines Regal, darauf lauter verstaubte Herumsteherchen, ein paar Paperbacks und ein einziges gebundenes Buch, ein Band Tolstoi. Nach 20 Minuten verabschieden sich die drei jungen Gäste und gehen. „Salut, salut, salut“ – „Veloma, veloma, veloma”. Elie‘s Tochter bringt nun auch mir von dem Heißwassermilchtee. Ihr Vater will, dass sie mit mir deutsch redet. Sie lernt es seit zwei Jahren auf der Schule. Wie viele junge Madagassen spricht sie neben Madagassisch auch Französisch und lernt eine dritte Fremdsprache. „Wir müssen Sprachen lernen, um Madagaskar in der Welt bekannter zu machen“, sagt Elie. „Wir müssen die jungen Leute dazu motivieren. Wir sind in einer Situation, in der viele zweifeln. Das ist gefährlich. Die jungen Leute sind unsere Hoffnung. Ein Volk, das zweifelt, ist ein Volk, das verliert“. Die Tochter schaut verlegen, sagt auf Deutsch „Auf Wiedersehen“ und geht, sichtlich erleichtert. Dann schlürfen Elie und ich zusammen unsere Milch. „In den vergangenen acht Jahren hat sich in Madagaskar viel verändert“, sagt er, „ich mich aber nicht“. Er blickt stolz. Sehr stolz. In Gedanken sehe ihn plötzlich in einer schaukelnden Piroge, auf stürmischer See, über zyklonverhangenem Himmel Fäuste reckend brüllen: „Madagascar... belle des plus belles“, „Madagaskar, Schönste der Schönen ...“, eine Verszeile aus einem seiner Gedichte. Ich erwache. Elie hat ruckartig die Tasse abgesetzt, Tee kippt auf den Tisch. „Viel hat sich verändert. Nicht nur zum Schlechten. Wir haben mehr Freiheit gewonnen. Man kann heute Dinge finden, die es früher nicht gab. Und dazu zählen nicht nur materielle Dinge wie Handy, Mountainbike und so was alles. Wer die Möglichkeit hat, kann sich heute selbständig machen“. Mir fällt der Zoom ein, das neue Einkaufszentrum am Rande der Stadt. Ein schickes Einkaufszentrum europäischen Standards, aber auch mit europäischen Preisen, die nur wenige Madagassen bezahlen können. Und ich erinnere mich an den Slogan, mit dem der Zoom um Kunden wirbt: „Zoom, einfach anders“. Auch fallen mir die Taxifahrer in Tana ein. Ich höre, wie sie über Präsident Ratsiraka fluchen. Er sei und bleibe ein Diktator. Tue nichts für sein Volk. Als die Cholera vor Monaten in Madagaskar ausbrach, habe er sich damit gerühmt, aus dem Ausland in seinem Privatgepäck Medikamente für 50.000 Bürger mitgebracht zu haben. „Weiß der Herr Präsident denn nicht mehr, wie viele Menschen in seinem Madagaskar Martin Roos Land wohnen?“, höre ich noch einen Taxifahrer sagen. Ein anderer beschwerte sich, dass der fast blinde Ratsiraka wegen seiner Augenkrankheit sowieso fast nur im Ausland sei, um Ärzte zu besuchen. „Der Präsident sieht halt nicht mehr, wie schlecht es seinem Volk geht“, erklärte mir ein Madagasse. Manche sind so erbost, dass sie sich sogar die Franzosen zurückwünschen. Sie wissen, dass ihr System rückständig ist, zu vieles ist verfallen, sie würden gerne den europäischen Standard leben. Vielleicht sind sie deswegen gegenüber Europäern so freundlich, manchmal sogar naiv. Viele Madagassen haben eine Ausbildung als Ingenieur, Arzt oder auch Rechtsanwalt, finden aber keine adäquate Arbeit. So fahren sie lieber Taxi, weil das Taxi sie besser ernährt. „Aber“, sagt Elie, „wir haben auch etwas verloren.“ Er schaut mich an: „Wir haben unsere fanahy verloren“. Ich schaue ihn an. „Vielleicht haben wir sie auch noch nicht richtig verloren. Aber wenn wir so weiter machen, sind wir auf dem besten Wege, sie zu verlieren.“ Solche Sätze liebt Elie. Nicht den Inhalt, sondern, dass er sie sagen darf. Und Elie darf viel. Er ist nicht reich, doch bekannt. Er ist Denker, Mentor, Ansprechpartner und Dichter, obwohl er die meisten Monate im Jahr nichts schreibt. Manchmal Jahre lang nichts. Geld verdient er mit Seminaren an der Uni, an Instituten und Reisevorträgen. Ende 1993 stieg er kurzzeitig sogar in die Politik ein. Während der Regierung Zafy wurde er zum Generalsekretär im Kultusministerium ernannt. Damit war er Nachfolger eines gewissen Monsieur Razafindramiandra, einem „Chevalier de l’Ordre National“, den alle nur unter dem Namen Moks kennen. Moks wiederum gehörte, vor seinem Amtsantritt 1992, dreißig Jahre lang zum Bonner Journalistenklüngel. Inzwischen hat er ein madagassisches Märchenbuch herausgegeben, eine Trilogie über die Kriminalität in Tana geschrieben, ist als Bürgermeister seines Dorfes Ambohidrabiby wegen mangelnder Arbeitsmoral seiner Mitarbeiter zurückgetreten, besitzt drei Autos, davon zwei kaputte und ein heiles, was er als Taxi vermietet und weswegen er sich nun offiziell auch „Transporteur“ nennt. „Pardon“, frage ich Elie, „bitte was ist das, fanahy?“ „Nun“, sagt er, „das ist unsere Kultur, unser Geist, ja, man muss sagen, es ist unsere Seele.“ Elie blickt ebenso begeistert wie bedeutungsvoll drein. Ich nenne ihm meine Einwände. Die Madagassen seien für europäische Verhältnisse doch immer noch sehr beseelt, freundlich, ja geradezu sanft. Auch der Naturglaube der meisten Madagassen, die Umbettung der Verstorbenen, bei der die Knochen der Toten regelmäßig ausgebuddelt, geputzt, gefeiert, eingepackt und für ein paar Jahre wieder begraben werden, zeuge doch durchaus noch von der Erhaltung der Tradition und vor allem von Glauben. „Ja“, sagt Elie, „für die Vazaha sind die Madagassen sanft. So lange sich Gäste bei uns gut verhalten, sind sie immer willkommen. Aber ich rede von uns Madagassen. Wir bringen uns gegenseitig mehr und mehr um, moralisch, intellektuell. Mit Rufschädigung. Wir Martin Roos Madagaskar bringen uns mit Worten um. Der Neid wird größer. Früher, zum Beispiel, hat man geteilt, auch wenn man arm war. Heute ist das nicht mehr so. Jeder, der ein wenig zu Geld kommt, wirtschaftet in seine Tasche. Die Großzügigkeit der Seele fehlt. Fanahy war immer der Reichtum der Madagassen. Wir können uns äußerlich verändern. Nichts dagegen. Aber im Inneren müssen wir doch Madagassen bleiben?!“ Ich werde kleiner und kleiner, sehe Elie größer und größer werden, auf eine imaginäre Kanzel hinaufschweben und seine Worte auf mich herunterprasseln. Im Inneren Madagasse bleiben, madagassisch sein. Was könnte das heißen? Ich kenne die Madagassen zu wenig. Viel fällt mir nicht ein. Höchstens der madagassische Rum und das Ritual des Rumtrinkens. Vor dem Prost immer einen Schluck auf den Boden kippen. Das weiht den Boden und ehrt die Menschen, die auf ihm stehen. Sehr madagassisch. Doch in Elies Haus gibt es ja keinen Rum. Vielleicht meint er das madagassische Entflammen von Zigaretten. Zigaretten werden in Madagaskar noch einzeln verkauft. Streichhölzer und Feuerzeuge gibt es kaum. Auf der Straße geht man von Raucher zu Raucher, spricht sich an, lässt den glimmenden Stengel zur Zigarette und Zigarette zum glimmenden Stengel wandern, zieht und geht seines Weges. Sehr madagassisch. Doch Elie, beispielsweise, raucht ja nicht. Vielleicht bedeutet madagassisch sein, madagassisch schreiben. Dafür wäre allerdings die Analphabetenrate viel zu hoch. 2,5 Millionen Kinder werden in diesem Jahr Analphabeten sein. Im Jahr 2020 sollen es fast zehn Millionen sein. Vielleicht meint Elie die madagassische Geduld, die die vielen Wartenden vor den öffentlichen Telefonzellen zeigen. Tagsüber steht man vor den Zellen mindestens 20 Minuten, bevor man dran ist. Ist man dran und ist besetzt, legt man auf und stellt sich wieder hinten an. Und dann steht man wieder 20 Minuten. Sehr madagassisch. Aber Elie, zum Beispiel, hat ja privates Telefon. Vielleicht ist es aber auch ein bestimmtes Verhalten, mit dem sich der Madagasse madagassisch zeigt. Untereinander sind sie unterschwellig rassistisch und kompromisslos, was soziale Klasse und ethnische Abstammung angeht. 18 Ethnien gibt es, eine Homogenität unter diesen Gruppen aber nicht. Angenehm ist nur das Verhalten der Madagassen gegenüber den Vazahas. Wo immer man Madagassen trifft, und sich mit ihnen unterhält, entwickeln sie große Neugierde, und es kommt nicht selten vor, dass sie sich aus den verschiedensten Gründen gleich noch einmal mit einem treffen wollen. „Hier hast du meine Adresse“, sagt Elie. Wir haben bereits das Haus verlassen und sind draußen auf der Straße, „besuche mich bald wieder“. Zum Abschied drückt er mir mit beiden Händen die Hand, eine Geste der Freude. Sehr madagassisch. Madagaskar Martin Roos Tot und lebendig Mamy Ka ist tot, und alle sahen, dass er tot war. Der Musiker, Maler und Lebenskünstler, der weit über die Grenzen von Diego-Suarez bekannt war, starb an Herzversagen. Man begrub ihn, und die Trauer war groß. Sechs Monate nach seiner Beerdigung kamen alle, die ihn persönlich kannten, wieder zusammen. Sie wollten, dass er wieder unter ihnen weilt. Sie wollten wieder mit ihm trinken, mit ihm Gitarre spielen und singen. Sie wollten wieder glücklich sein und beschlossen, ihn lebendig werden zu lassen. Im Restaurant Libertalia, das an der Place Foch mitten in Diego-Suarez liegt und Vazahas, Chinesen, Künstler und leichte Mädchen ebenso anzieht wie Halunken und Polizisten, treffen sie sich. Spät am Abend. Familie und Freunde. Sie kommen gerade von einer Soirée in der Alliance Francaise, in der zum ersten Mal Bilder von Mamy Ka ausgestellt wurden. Die ganze Stadt war dort zu Bier, Limonade, Snacks, Musik und Chansons eingeladen. Im Libertalia, das Toto, dem Bruder Mamy Kas gehört, sitzen sie nun um die Tische und trinken und singen und spielen Gitarre. Vazahas und Madagassen. Sie spielen und spielen und trinken und rauchen und klatschen zum Rhythmus der Musik, voller Nostalgie, Freude, Tränen, Rausch und Alkohol. Sie lassen sich nicht abhalten und nicht beirren. Selbst als einer aufsteht und Tisch auf Tisch baut und hinaufklettert und steigt und steigt und fällt, kümmern sie sich nicht. Sein drogenbetäubter Körper fällt weich. Unverletzt. Sie wissen es. Es ist eine Stimmung, wie sie wohl immer aufkommt, wenn sie feiern, eine Stimmung ebenso bedrohlich und fahrlässig wie entspannt und friedvoll, eine Stimmung, die zum Namen „Libertalia“ passt. Libertalia hieß einst die sagenhafte kleine Republik Ende des 17. Jahrhunderts im Norden Madagaskars. In der geschützten Buch von Diego-Suarez hatten der Dominikanerpater Caraccioli, der Franzose Mission und der Freibeuter Tom Tew einem Haufen von internationalen Seefahrern, Expiraten und Sklaven ein Leben in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verschafft. Es waren Leute, die sich in einem bunten Kauderwelsch verständigten und unbeschwert mit Liebe, Leid und Laster in den Tag lebten. Irgendwann nahm ihr Treiben überhand und sie wurden von den Einheimischen vertrieben. Auch Swani sitzt im Restaurant Libertalia, die Frau Mamy Kas. Eine Norddeutsche. Ich wohne bei ihr in Badamera, in ihrem kleinen Hotel, hundert Meter oberhalb des Strandes von Ramena, eine Autostunde über die holprige Straße von Diego-Suarez entfernt. Ihre beiden Kinder, Tochter und Sohn, haben die vietnamesischen Gesichtszüge ihres Vaters Mamy Ka geerbt. Swani führt nun alleine das Hotel mit dem schönen Garten, der Terrasse, dem offenen Restaurant, den Zimmern und den einfachen Holzbungalows mit Moskitonetzen. Vor mehr als 15 Jahren ist sie als junges Mädchen nach Martin Roos Madagaskar Madagaskar gekommen. Als Reisende. Für Mamy Ka ist sie geblieben. Erst jetzt, nach seinem Tod, will sie ihre fünf- und siebenjährigen Kinder einmal nach Bremen mitnehmen. Die Kinder sprechen kaum deutsch, aber madagassisch und französisch. Trauer über den Tod Mamy Kas ist Swani nicht anzumerken. Nicht, weil sie ihn nicht geliebt hat, sondern weil sie den Umgang der Madagassen mit dem Tod und den Toten schätzt. Es ist ein respektvoller, fröhlicher und lebendiger Umgang. Die Famadihana, die Leichenwendefeier, die madagassische Tradition der Ahnenverehrung, ist kein trauriges Fest. Es ist ausgelassen und heiter, aber auch teuer. Da zu diesen Festen die ganze Großfamilie und das Dorf eingeladen werden, sind es oft Hunderte von Gästen, die zu den Feierlichkeiten kommen. Deswegen findet die Famadihana je nach Region und Familie auch nur alle fünf bis sieben Jahre statt und nur im südlichen Winter, zwischen Juli und September. Swani braucht keine Famadihana. Feste wie das im Libertalia sind gut. Als wir am frühen Morgen in ihrem blauen R4 den Weg nach Badamera zurückfahren, ist sie zufrieden. Die Party macht Mamy Ka nicht lebendig, sagt sie. Aber es macht die anderen lebendig. Und dass viel Rum getrunken wird, ist normal. Denn in Madagaskar heißt es, auch die Toten mögen gerne Rum. Und der Madagasse fürchtet nichts mehr, als die Toten zu enttäuschen. Alles Märchen Paul Congo saß hinter seinem Schreibtisch, als ich sein Büro mit der Aufschrift „Direction de la Culture“ im städtischen Verwaltungsgebäude von Diego-Suarez betrat. Der Mann gilt als einer der größten Geschichten- und Märchenkenner im Norden Madagaskars. Keine Legende, die er nicht kennt, kein Ritual, das ihm noch nicht zu Ohren gekommen ist, kein Märchen, das er nicht schon einmal erzählt hat. Ja, er soll selbst die Märchen kennen, die noch nicht geschrieben sind. Schulklassen besuchen ihn, britische Ethnologen, französische Anthropologen, amerikanische Studenten. Paul Congo, der Mann, bei dem alles nur ein Märchen ist. Als ich vor seinem Schreibtisch Platz nahm, blätterte er in einem Papierberg. Er schien eine Geschichte zu suchen. „Glauben Sie meinen Märchen nicht“, sagte er und blätterte weiter, „denn sie sind alle wahr.“ Er schaute mich ernst an, und doch schien es, als ob ein Lächeln um seine Augen huschte. Ich fragte, ob seine Bemerkung ein Witz oder der Anfang eines neuen Märchens sein sollte. „Mit Märchen kenne ich mich aus. Wissen Sie, ich kenne sogar ihre Märchen“, sagte er. „Wie? Was?“, fragte ich, „meine Märchen?“ Dann gab er mir ein beschriebenes Blatt Papier. Ich sah ihn an, dann die Bilder hinter ihm, Tierbilder, ein Chamäleon, ein Huhn, ein Krokodil, ein Schwein, eine Ratte, Madagaskar Martin Roos eine Katze, ein Hund – Gestalten madagassischer Märchen. Dann sagte er, ich solle das Blatt mitnehmen, das Märchen lesen und morgen wiederkommen. Dann verstünde ich besser, was er meinte. Ich dankte, ging und glaubte kein Wort. Noch während ich zur Tür schritt, überflog ich die ersten Zeilen und las folgendes: „Paul Congo saß hinter seinem Schreibtisch, als ich sein Büro in Diego-Suarez betrat. Der Mann gilt als einer der größten Geschichten- und Märchenkenner im Norden Madagaskars. Keine Legende, die er nicht kennt, kein Ritual, das ihm noch nicht zu Ohren gekommen ist, kein Märchen, das er nicht schon einmal erzählt hat. Ja, er soll selbst die Märchen kennen, die noch nicht geschrieben sind...“ Verblüfft schaute ich vom Blatt auf, sah zu Paul Congo. Das hatte ich doch gerade erst erlebt! Wie konnte ich es jetzt lesen?! Er kam zu mir und schob mich lächelnd weiter zur Tür. „Lesen Sie nur, lesen Sie nur“, sagte er. Ich las weiter: „Als ich vor seinem Schreibtisch Platz nahm, blätterte er in dem Papierberg. Er schien eine Geschichte zu suchen. „Glauben Sie meinen Märchen nicht“, sagte er und blätterte weiter, „denn sie sind alle wahr.“ Er schaute mich ernst an, und doch schien es, als ob ein Lächeln um seine Augen huschte. Ich fragte, ob seine Bemerkung ein Witz oder nur der Anfang eines Märchen sein sollte. „Mit Märchen kenne ich mich aus. Wissen Sie, ich kenne sogar ihre Märchen“, sagte er. „Wie? Was?“, fragte ich, „meine Märchen?“... „Alles Märchen!“, unterbrach ich den Text und schaute Paul Congo fassungslos an, „mit wievielen Leuten haben sie schon dieses Spielchen gespielt?“ „Kein Spiel, Monsieur, nur ein Märchen, ihr Märchen“, sagte er, lachte, verabschiedete sich und schloss die Tür. Ich stutzte, las: „Dann gab er mir ein beschriebenes Blatt Papier. Ich sah ihn an, dann die Bilder hinter ihm, Tierbilder, ein Chamäleon, ein Huhn, ein Krokodil, ein Schwein, eine Ratte, eine Katze, ein Hund – alles Gestalten madagassischer Märchen. Dann sagte er, ich solle das Blatt mitnehmen, das Märchen lesen und morgen wiederkommen. Dann verstünde ich besser, was er meinte. Ich dankte, ging und glaubte kein Wort.“ Wer hat Angst vorm weißen Mann? Die Route zwischen Sambava und Andapa im Osten Madagaskars, ist eine der schönsten der Insel. Am östlichen Rand der Hochebene von Ankaibe schlängelt sie sich von der Küste knapp 100 Kilometer über die Berge und durch ein fruchtbares Tal, eine riesige Reiskammer. Im Norden ragen die Spitzen des bis zu 2133 Metern hohen Marojezy-Massivs empor. Noch haben Feuer und Brand- Martin Roos Madagaskar rodung sich nicht an der tropischen Natur vergriffen, nicht am dichten Regenwald, nicht am Bergnebelwald. Es ist eine grüne Gebirgslandschaft, von deren Wegen und mittleren Höhen die „Bäume der Reisenden“, die Ravenala, mit ihren großen Palmenfächern den Reisenden einladend zuwinken. Mühsam tuckerten wir mit einem alten Renault in Richtung Südwesten die Straße mit ihren zahlreichen Pässen hinauf. Oft kamen selbstgebastelte Vehikel und Holzroller uns entgegen, auf denen die Kinder der am Wegesrand liegenden Dörfer aus Spaß die Straße hinunterrasten oder Bauern ihre Früchte, Gewürze, Schweine und Hühner nach Sambava brachten. Die wenigen Lastwagen, die zwischen den beiden Orten ihre Waren transportierten, überholten uns rücksichtslos. Erst als ich mich ans Steuer unseres alten Wagens setzen durfte, verstand ich, warum mein Fahrer Tantely die ganze Zeit so langsam gefahren war. Die Bremsen funktionierten nicht. Vielleicht hatten wir es Tantelys Maskottchen zu verdanken, dass die alte Karre dennoch unbeschadet den Weg hin und zurück überstand. Hinter seiner Sonnenblende klebte ein vergilbtes Abziehbild eines Fußballers, der in unnachahmbarer Eleganz den Ball führte: Franz Beckenbauer. Die Dörfer, durch die wir fuhren, wirkten verschlafen. Ein paar Hühner suchten pickend Essbares, zwei oder drei Zeburinder glotzten stumpf in die Gegend, Hunde lagen faul am Straßenrand. Menschen waren kaum zu sehen. Nur wenn wir anhielten, liefen ein paar Kinder zusammen, Erwachsene schauten aus den Türrahmen ihrer Hütten. Sie hielten alle ein wenig Abstand, ganz anders, als wir es von den Küstenbewohnern gewöhnt waren. Ein etwa dreijähriges Kind saß neben einem riesigen Bambusbaum und schaute mich mit großen Augen an. Als ich mich ihm näherte und die Kamera herausholte, fing es laut an zu weinen. Es wollte nicht mehr aufhören. Auch als die Mutter angelaufen kam, beruhigte es sich nicht. Viele Kinder in den Bergen und auf dem Land haben Angst vor den Weißen, den Vazahas. Ihre Eltern erzählen ihnen, dass der weiße Mann sie frisst. Jeder, der von Andapa hinunter zurück zur Küste will, muss vor Sambava den Schlagbaum passieren. Die Schranke stellt sicher, dass keiner illegal Vanille transportiert. Uns ließ der Beamte unkontrolliert durch. Tantely kannte ihn. Das 20.000 Einwohner große Sambava liegt an einer Flussmündung und besteht aus zwei parallel zum Meer verlaufenden Straßen mit einem Markt, einer Bank, einer Post, Tankstellen, drei Tante Emma Läden, ein paar Reisebüros, ein paar billigen Hotels, zwei Discos und mehreren Gewürzhändlern, wie beispielsweise dem Vanilleproduzenten Fayol A.A. Makbouhhoussen, dessen Teilhaber eine deutsche Firma namens Aust & Hachmann in Hamburg ist. Sambava ist neben Antalaha nicht nur Madagaskars Vanillehochburg, sondern die Stadt gehört auch zu den größten Vanilleanbaugebieten der Welt. Vanille ist neben Safran eines der teuersten Gewürze überhaupt Madagaskar Martin Roos und bringt Madagaskar 30 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Ein Kilo Vanille erzielte zuletzt einen Großhandelspreis von etwas mehr als 30 Mark, Extrakt aus Naturvanille kostet heute etwa 150 Mark pro Kilo. Der größte Teil der madagassischen Vanille landet in Cola-Getränken und amerikanischem Speiseeis. Damit die Produzenten im Ausland, die mit synthetischem Vanillin jahrelang die Produktion des natürlichen gefährdet hatten, ihnen keine Angst mehr machen konnten, haben die Madagassen das Projekt „Stabex“ ins Leben gerufen. Es soll die Qualität des Originalprodukts weiter verbessern. In der Stabex-Versuchsanlage, nur ein paar hundert Meter von dem winzigen Flughafen Sambavas entfernt, wird getestet, auf welchen Wirtspflanzen und welchen Böden die Vanillefruchtkapseln am besten gedeihen, ohne dass die Wirte absterben. Es war eine Wirtin, die mein kleines Hotel „Chez Ambassadeur“ in Sambava führte. Angeblich gehörte es tatsächlich, wie der Name schon sagt, einem Botschafter, einem ehemaligen französischen. Gesehen habe keinen. Überhaupt arbeiteten in dem Hotel nur Frauen. Eine von ihnen hieß Arlette, und servierte den vier oder fünf Vazahas, die durchschnittlich in dem Haus logierten, das Abendessen stets in einem blauen Kleid mit einer blauen Brosche und einem blauen Ring. Sprach man sie darauf an, errötete sie in ihrem Blau und sagte: „Blau ist die Farbe Gottes.“ Arlette gab mir den Tipp, einen ihrer Bekannten zu besuchen, René Bodimana. Als ich René besuchte, nahm er zwei Kokosnüsse in die Hand, blickte sehr ernst und bat mich, ihn zu fotografieren. René ist der verantwortliche Leiter von Soavoanio, einer der größten Kokosplantagen der Welt mit 5000 Hektar Fläche. Zur Begrüßung hatte er einen seiner Mitarbeiter vier Meter hinauf auf eine Palme steigen lassen, um eine Kokosnuss herunterzuholen, die wir anschließend in seinem Büro auf der Plantage leer tranken. Dann zeigte er mir die Arbeit der Kokosnusspflücker, Teile der Plantage mit ihren afrikanischen und Goa-Zuchtpalmen, mit Hybriden, Mischlingen und kastrierten Kokospalmen, dann die Zuchtanlagen und die Produktionsstätten für Öl und Fett. Um die gesamte Anlage zu besichtigen, hätten wir zwei Tage gebraucht. Soavoanio erstreckt sich von Sambava Richtung Antalaha über ein Küstengebiet von 60 Kilometern Länge. 78 Prozent der Plantage sind staatlich, 22 Prozent privat. Jährlich werden 30 Millionen Kokosnüsse zu 3500 Tonnen Kopra Industrieöl, Seife, Bratfett, Tierfutter und Kosmetikprodukten verarbeitet. Mehr als 1200 Menschen arbeiten auf der Plantage. Dazu kommen in den Monaten Juni bis November 200 Saisonarbeiter. „50 Mark verdient ein Arbeiter durchschnittlich pro Monat auf unserer Farm“, sagte René, als wir gegen Mittag vor der kleinen Ölfabrik standen. Wir schauten zwei Arbeitern zu, die frisch vom Baum gepflückte, fußballgroße Nüsse mit der vollen Wucht ihres Martin Roos Madagaskar Körpers auf einen kniehohen Eisenpfahl rammten, um die Außenschale aufzuschlagen. Sie standen da mit nacktem Oberkörper. Die Strahlen der Mittagssonne brannten. Schweiß rann ihnen über Schultern und Rücken. Der Drei-Meter-Hügel aus zu schälenden Kokosnüssen neben dem Rammpfahl schien kaum kleiner zu werden. War die Schale aufgeritzt, rissen die beiden sie mit den Händen ab, bis die kleine braune Kokosnuss zum Vorschein kam. Die zwei schufteten ohne Pause, ließen sich kaum ablenken. Das hätten sie sich auch nicht leisten können. Denn sie mussten ihr Soll schaffen. 2500 Nüsse täglich. „Die Arbeit ist nicht schlechter, als die Arbeit derjenigen, die die Nüsse vom Baum pflücken“, meinte René, als wir die Plantage verließen, „sie ist vor allem ungefährlicher.“ Schon so manche Nuss, die vom Baum fiel, hat die Pflücker schwer verletzt, manchen sogar den Schädel zertrümmert. Eine Helmpflicht gibt es nicht, nur einen einheimischen Arzt in Sambava, der sich auf Unfälle dieser Art spezialisiert hat. Er soll gut verdienen. Zugfahren Die Nummer 431 des Passagierzuges ist nur Nostalgie. Es ist der einzige, der am heutigen Tag zwischen Manakara und Fianarantsoa fährt, der überhaupt zwischen Küste und Hochland pendelt, auf der einzigen Bahnstrecke, die in Madagaskar überhaupt noch betrieben wird. Es ist sechs Uhr morgens in Manakara, blauer Himmel, es ist warm. Die Schalter des Küstenbahnhofs, an der Ostseite Madagaskars, haben seit einer Stunde geöffnet. Um 7.15 Uhr soll der Zug abfahren. Fianarantsoa liegt fast 170 Kilometer und viele Tunnel und Pässe entfernt, auf 1200 Meter Höhe im südlichen Hochland. Die Strecke führt quer durch die halbe Insel an 36 Dörfern vorbei, die selbst mit dem Taxi-Brousse manchmal nicht zu erreichen sind. Die Fahrt dauert mindestens zehn Stunden. 1927 begannen die Franzosen und die Chinesen die Bahnlinie zwischen den beiden Städten zu bauen. Neun Jahre später fuhr der erste Zug. Die heutige, französische Diesellok, eine BB 242, stammt aus den 70er Jahren. Die drei Waggons sind noch älter. Für moderne Waggons gibt es kein Geld. Weil die finanziellen Mittel fehlen, ist auch ungewiss, wie lange dieser Zug überhaupt noch fahren kann. Sicher ist nur, dass das Ende jeden Tag erwartet wird. Mehr als 200 Fahrgäste stehen Schlange vor den Gittertüren, die den Zugang zu dem einzigen Gleis versperren. Als sich die Tore öffnen, drängelt niemand. Jeder weiß, dass der Zug nicht pünktlich abfahren wird. Auf dem Bahnsteig liegen Säcke mit Reis, fast 300 Tonnen Früchte, vor allem Bananen, Benzinkanister, Hühner und Enten in Körben. Sie alle müssen noch eingeladen werden. Madagaskar Martin Roos Wir haben Glück. Mit nur einer Dreiviertelstunde Verspätung fahren wir ab. Ein Pfiff ist nicht zu hören. Mit einem Rucken setzt sich der Zug in Bewegung. Ich bleibe noch ein wenig an der offenen Tür des Abteils stehen, sehe die zurückbleibenden Menschen. Sie winken wild, als ob es das letzte Mal sei, dass sie diesen Zug fahren sehen. Dann gehe ich auf meinen Platz, eine Bank mit rissigem, rotbraunem Plastikbezug. Im Waggon sind fast nur Vazahas, nicht viele. Es ist die erste Klasse. 35.000 Franc Malgache kostet das Ticket, etwa zwölf Mark. Das Interieur ist jedoch nicht viel anders, als in den beiden anderen Waggons hinter uns, den Wagen der zweiten Klasse. In der ersten Klasse zahlt man mehr Geld, weil weniger Leute, keine Hühner, keine Enten und keine Schweine mitfahren. Nicht zu verstehen ist allerdings, dass der Preis für die ständig überfüllte zweite Klasse gar nicht so viel billiger und für Madagassen enorm hoch ist. Acht Mark. Am Fensterbrett neben mir klebt noch Wachs einer Kerze. Gestern kam der Zug aus Fianarantsoa erst gegen Mitternacht in Manakara an. Elektrizität gibt es im Abteil nicht mehr. Die Lampen in der Decke fehlen. Die Leute müssen sich im Dunkeln selbst helfen. Manche Fensterrahmen sind nur notdürftig mit einer Kordel befestigt. Sie klappern. Die Seitenwände sind ramponiert. Hier und da hängen noch ein paar Gardinenstangen, ohne Gardinen. Das Gepäcknetz ist für die vielen Koffer der Vazahas zu klein. Die Taschen hängen oben bereits halb über das Gepäcknetz hinaus. Früher oder später werden sie herunterfallen. Neben den Fensterscheiben sind kleine Schilder mit roten Lettern befestigt: „Mampididoza“ – „Achtung Gefahr“. Diesen Hinweis zu verstehen, könnte durchaus nützlich sein. Denn wer den Kopf während der Fahrt heraushält und ihn vor dem Tunnel nicht rechtzeitig wieder hereinholt, dürfte mit Sicherheit zum letzten Mal aus dem Fenster geguckt haben. In den oft langen Tunnels ist zwischen Waggon und Tunnelwand nur eine Handbreit Platz. An engen Wegstrecken schlagen links und rechts Zweige durch die offenen Abteiltüren und Fenster. Schnell fährt der Zug nicht. An manchen Passagen ist man vermutlich zu Fuß schneller. Dennoch rattert er so laut und heftig über die alten Schienen, als ob er jeden Moment entgleisen wollte. In Kurven quietscht und krächzt er wie eine Kreissäge. Bei 30 Grad Steigung müssen die Räder noch mehr kämpfen. Kein Foto lässt sich unverwackelt schießen, kein Wort deutlich schreiben, keine Schriftzeile mit den Augen festhalten. Ich sitze am Fenster und lasse meinen Finger auf der Scheibe mitfahren, sehe draußen die NadelbaumFiaos, die Büsche und Felder, die Jakaranda-Bäume, die Ravenala und die Flamboyants vorbeiziehen. Auf Bergkuppen liegen irgendwelche einsamen Hütten. Auch Pfahldörfer. Manchmal kommen Kinder herausgeeilt und winken. Bauern stehen in der Gegend herum, manche von ihnen vielleicht Nomaden, einen Umhang über den Körper geworfen, einen Stab in der Hand. Hinter ihnen ein paar Rinder. Alle schauen etwas ungläubig. Martin Roos Madagaskar Immer wieder halten wir an kleinen Bahnhöfen. Bei der Einfahrt wirbelt der Zug Staub auf. Die Einwohner winken uns begeistert zu. Die Bahnsteiglänge reicht gerade für den Waggon der ersten Klasse. Von überall strömen Kinder, Frauen und Männer zum Zug, tragen auf ihren Köpfen Früchte, in Körben Brot, Langusten, Krebse bieten sie den Reisenden durch die Fenster zum Kauf an. Der Zug ist für jedes Dorf, in dem er hält, die Attraktion des Tages. Er ernährt das Dorf und seine Bewohner. Kinder stürmen die Abteile, setzen sich, quetschen sich neben einem auf die Bank, wollen ein paar von meinen Litschis haben, sehen mich mit der linken Hand schreiben, sagen „Oh Vazaha“, staunen, halten mich für etwas seltsam, imitieren mich, lachen, springen wieder auf, rennen raus, laufen draußen den Zug entlang, rauf und runter. Die Waggons sind für sie wie Figuren und Elemente eines Karussells: Der kleine Elefant, der Delphin oder das weiße Pferd, auf die sie immer wieder auf-, und von denen sie immer wieder abspringen. Vorne und hinten werden Bananen eingeladen. Erst wenn alles verstaut ist, fährt der Zug weiter. Es ist egal, wie lange es dauert. Fahrgäste steigen zu, auch in die erste Klasse. Sie füllt sich immer mehr mit Madagassen. Sie wissen, dass der Schaffner bereits kontrolliert hat und ein zweites Mal nicht mehr kommen wird. Wir passieren Ambila, Fenomby und nach etwa 70 Kilometern Mahaboka. Es ist bereits Mittag. Viele im Zug sind eingeschlafen, andere essen die gekauften Früchte, Hühnerbeine oder den Fisch. Campingstimmung hat sich breit gemacht. Die Koffer sind schon lange aus dem Gepäcknetz gefallen. Sie dienen nun zwischen den Sitzbänken als Fußstütze. Nach Manapatrana erreichen wir Tolongiona, ein Städtchen, das für seine Kaffeeproduktion bekannt ist. Wieder ist der Bahnsteig voll. Wieder bieten die Einheimischen ihre Waren an. Verhungern würden wir in diesem Zug wohl nie. Die Vazahas wirken jedoch jetzt weniger kauflustig als zuvor. Sie sind müde und durchgeschüttelt. Mir gegenüber sitzen zwei Madagassinen. Schon seit einer halben Stunde kauen sie an Langusten herum. Neben mir, auf der schmalen Bank, ihre beiden Kinder. Sie sind eingeschlafen, haben ihre Köpfe gegeneinander gelehnt. Ein Vazaha erzählt mir, dass wir mit dieser Fahrt Glück hätten. Das letzte Mal habe er 54 Stunden in dem Zug verbracht. Lokschaden. Dabei habe man schon bei der Abfahrt in Fianarantsoa gewusst, dass etwas schief gehen würde. Sie seien trotzdem losgefahren und auf halber Strecke sei es dann passiert. Irgendeiner habe dann zurücklaufen müssen, um das Ersatzteil zu holen. Die meisten Passagiere hätten einfach im Zug übernachtet. Nur die Vazahas seien davongelaufen. Einheimische hätten sie mit Ochsenkarren zum nächsten Ort mit Taxi-Brousse-Station gebracht. Natürlich gegen Bezahlung. Auch eine Panne des Zuges bringe den Madagassen eben Geld. Wir schleichen über eine Brücke, unter uns die Weite des Tales, über uns der Wasserfall von Mandriampotsy. Selbst für diejenigen, die wöchentlich die 396 Madagaskar Martin Roos Strecke fahren, ist er immer wieder ein Ereignis. Als wir an den Reisterassen und Teeplantagen von Sahambavy vorbeikommen, sind es nur noch wenige Kilometer. Um 19 Uhr erreichen wir Fianarantsoa. Ohne Zwischenfall. Die Madagassen verschwinden zu Fuß im Dunkel, die Vazahas in den Taxis. Morgen fährt der Zug zurück nach Manakara. Höchstwahrscheinlich. Monsieur, Pousse-pousse? In Antsirabe wird heute nur noch gezogen. Deswegen müsste die zweirädrige, überdachte Polstersitzbank nicht Pousse-pousse (Schieb-schieb), sondern Tire-tire (Zieh-zieh) heißen. Früher wurde die madagassische Rikscha von einem Mann geschoben und einem anderen, der zwischen den beiden Holzstangen vorweg lief, gelenkt. Der Name Pousse-pousse hat sich erhalten. In Antsirabe sind sie eine Selbstverständlichkeit und so populär, dass Taxifahrer kaum eine Chance haben. Nur ein paar Minibusse machen den Poussepousse-Fahrern ein wenig Konkurrenz. Genauso unterschiedlich wie die roten, blauen, gelben oder grünen Poussepousses, sind die Fahrer. Manche rennen in Lumpen, manche bekleidet mit langer Hose und Hemd, andere mit nacktem Oberkörper, wieder andere mit und manche ohne Schuhe. Äußerlichkeiten entscheiden nicht über die Fahrqualität. Auch das Alter darf keine Rolle spielen. Der alte Mann, der einen keuchend über die nassen Straßen zieht, will kein Mitleid. Der junge Fahrer, der alle Wege wie ein Marathonläufer abrennt, erwartet kein zusätzliches Trinkgeld. Ein Pousse-pousse-Fahrer verrichtet seine Arbeit pflichtgemäß. Für ihn ist es keine Erniedrigung, Leute durch die Stadt zu ziehen. Das Poussepousse ist für ihn kein Anachronismus, kein Vehikel der Sklaverei. Die Lastenträger von einst, die Könige und Adlige auf Sänften durch die Straßen hieven mussten, haben nichts mit ihnen gemein. Für den Fahrer von heute ist das Pousse-pousse ein Arbeitsgerät, um Geld zu verdienen. Mit den kleinsten Pousse-pousses der Welt verdient Mamy Geld. Der diplomierte Biologe hat sich am Rande der Stadt mit seiner Miniaturwerkstatt einen Namen gemacht. Seit 1984 ist der 32jährige selbstständig und bastelt gemeinsam mit sieben Familienmitgliedern Fahrräder, Motorräder und Pousse-pousses zusammen, die nicht größer als eine halbe Hand sind. Bei Reiseunternehmen ist er bereits bekannt. Fast jeden Tag kommen Taxi-Bés und spucken Vazahas aus, denen Mamy mit sanfter Stimme jedes Detail seiner kleinen Fabrikate erklärt. Er verwendet nur Recyclingprodukte. Aus alten Schuhsohlen werden die Reifen gemacht, aus Blechdosen die Felgen, aus Angelleinen die Speichen, aus Telefondraht die Bremsen, aus Gummireifen die Pedale. Die Arbeit ist mühsam. 40 Stunden braucht ein Arbeiter um 25 kleine Fahrräder herzustellen. Doch es lohnt sich, und Mamys Ruhm wächst. Erst im vergan- Martin Roos Madagaskar genen Jahr sollte er für ein belgisches Team, das an der Tour der France teilgenommen hatte, 1000 kleine Fahrräder herstellen. Stückpreis 25.000 Franc Malgache, etwa neun Mark, viel Geld für Mamy und seine Familie. Auch für ein kleines Pousse-pousse muss man soviel bezahlen – eine Winzigkeit gegenüber dem Preis des Originals. Das große Pousse-pousse kostet 1,5 Millionen Franc Malgache, ungefähr 450 Mark. Fast alle Pousse-pousse-Fahrer mieten sich ihr Arbeitsgerät. Fahren darf es dann aber noch lange nicht jeder. Angeblich muss jeder Lenker einen Poussepousse-Führerschein machen. Doch auch als ich fragte, konnte mir niemand einen zeigen. Allerdings versicherte mir jeder Fahrer, einen zu haben. Schließlich gebe es eine Spezialpolizei für Pousse-pousses, die so etwas kontrolliere und auch Strafzettel verteile. Nur die geschicktesten Fahrer überleben auf dem Pousse-pousse-Markt. Die Konkurrenz ist groß und schläft fast nie. So rufen sie alle nach ihren Kunden, schreien eine Nummer, „die Sieben“ zum Beispiel, „die Acht“, „die Fünf“, ihre Nummern, die Nummer, an denen man sie erkennen soll, die man sich merken soll, für jede Fahrt, für jede Route, für alle Zeit. Zusätzlich haben sie Motive oder Slogans auf ihr Pousse-pousse gemalt wie „Obelix“ oder „Thanksgiving“ oder auf hinten montierten Kennzeichen einen Namen geschrieben. Meistens sind es Städtenamen wie „Ambanja“ und „Ambatolampy“ oder auch „Toulouse“ und „Lyon“. Einer heißt sogar „Berliner“. Antsirabes Pousse-pousse-Fahrer folgen einem überall hin, ziehen ständig ihren Karren hinter sich her. Folgen und verfolgen. Von Haus zu Haus. Von Straße zu Straße. Von Gehsteig zu Gehsteig. Von Stein zu Stein. Als Vazaha hat man in Antsirabe kaum eine Chance, ihnen zu entgehen. „Hallo, hallo, Monsieur, wollen Sie Pousse-pousse?“ „Nein, vielen Dank.“.„Monsieur, Pousse-pousse!“ „Nein.“ „Nein? Kein Pousse-pousse?“ „Nein, kein Pousse-pousse“. „Aber Monsieur, Pousse-pousse ist nicht teuer“. „Ja, prima, aber ich gehe lieber zu Fuß“. „Oh, oh, Monsieur Pousse-pousse! Nicht teuer, nicht teuer“. „Ja, nicht teuer, habe verstanden, will aber nicht“. „Sie wollen nicht? Monsieur, eine Stadtrundfahrt vielleicht, nicht teuer“. „Nein, das habe ich schon gemacht. Keine Stadtrundfahrt“. „D’accord, dann eben was anderes. Vielleicht um den Häuserblock, nicht teuer“. Der Fahrer strahlt. Ich sage nichts und gehe weiter. Mich treibt der Hunger. „Ah, oh-lálá, Pousse-pousse, Pousse-pousse“, singt er jetzt schon halb und rennt hinter mir her. Ich sage: „Ja, ja, Pousse-pousse. Schauen Sie mal, hier meine Füße und Beine, die haben mir meine Eltern geschenkt. Damit ich laufen kann und deswegen gehe ich zu Fuß“. Das habe ich schon mehreren gesagt, um sie abzuwimmeln. Er jedoch findet das komisch und scheint jetzt erst recht nicht mehr von meiner Seite weichen zu wollen. Hüpfend zieht er nun seine Karre. „Monsieur, wohin gehen Sie?“ „Da lang“, sage ich und zeige irgendwo hin. „Gut, Monsieur, ich hole sie ab. Wann soll ich sie abholen?“ Ich schaue ihn fassungs- Madagaskar Martin Roos los an. „Nein, ich brauche Sie nicht“ sage ich, „ich brauche sie nicht heute, ich brauche sie nicht morgen. Ich brauche sie überhaupt nicht. Niemals und nirgendwo“. Dann gehen wir schweigend nebeneinander her. Dann wieder er: „Monsieur, wo soll ich sie abholen?“ „Sie sollen mich nicht abholen“, sage ich. „Soll ich Sie im Restaurant abholen?“ „Neeiin!“ „Gut, Monsieur, ich warte vor dem Restaurant auf Sie“. Ich gebe auf, sage nichts mehr, gehe zum Restaurant Diamant und höre beim Hineingehen nur noch wie er ruft: „Wenn Sie rauskommen, Monsieur, nennen sie nur meine Nummer. Dann bin ich da. Für Sie. Bis gleich. Salut. Veloma“. Anderthalb Stunden später komme ich raus. Der Fahrer steht bereits vor mir. Hinter und neben ihm noch ein paar andere, die hoffen, mich herumkutschieren zu können. „Monsieur, Pousse-pousse?“ fragt er strahlend. Ich sage: „Wie viel wollen Sie?“ „Oh, soviel wie Sie wollen“. „Deux mille, 2000“, sage ich. Das sind keine 70 Pfennig. „Oh, Monsieur, oh, oh, oh, nein, das ist zu wenig. 5000!“ „Kommt nicht in Frage. Wenn Sie nicht wollen, dann nehme ich halt einen anderen Fahrer“. „Ohhh, Monsieur, Monsieur“. „Ja“, frage ich, „was is’?“ „Gut“, sagt er, „2000“, und schon sitze ich in seinem Pousse-pousse. In der Dunkelheit zieht er mich in seinem wackelnden Gefährt über Schlaglöcher, durch Pfützen und über Sand. Die kleine Petroleumlampe unter dem Pousse-pousse schwankt schwach leuchtend hin und her. Eine Viertelstunde lang. Noch immer ist es schwül, und der Fahrer schwitzt. Mal rennt er, mal geht er, an der Kreuzung hält er kurz an, obwohl niemand und nichts kreuzt. Kurze Pause. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Eigentlich müsste ich ihm viel mehr für diese Fahrt geben. Doch wenn ich heute mehr gebe, wird er morgen sicher noch mehr verlangen. Vor dem Hotel gebe ich ihm die 2000 Franc Malgache. Er schaut mich ungläubig an. „Wieso deux mille Monsieur? Wir haben doch dix mille vereinbart, 10.000“. Ich staune, erkläre, dass ich deux mille gesagt hätte. Er meint hingegen, dix mille verstanden zu haben. Deux mille, dix mille. Hin und her. Schließlich gebe ich ihm 5000. Er freut sich. Dann schlage ich ihm vor, er soll mich morgen früh um fünf Uhr abholen und mich zur TaxiBrousse-Station bringen. „Gerne, Monsieur, fünf Uhr, morgen früh. Oui. Oui. Salut Monsieur. Veloma“. Am nächsten Morgen warte ich auf ihn. Er kommt nicht. Ich nehme schließlich einen anderen Pousse-pousse-Fahrer, irgendeinen anderen der siebentausendachthundert Pousse-pousse-Fahrer von Antsirabe. Krank vor Madagaskar liegen Als ich mit Verdacht auf Malaria und Typhus krank wurde, war Madagaskar kein Paradies. Madagaskar war für mich aber auch zu keinem anderen Zeitpunkt ein Paradies. Das Land hat zwar paradiesische Ecken, aber ein Paradies? Es war für mich auch nie geheimnisvoll oder besonders exotisch. Martin Roos Madagaskar Es war nur anders, nicht zu vergleichen mit der Welt, aus der ich kam. Jeder Vergleich wäre auch falsch, und jede Vorstellung von einem Madagaskar, das irgendwo weit entfernt irgendwas von einem Mary-Poppins-Zauberland hat, ist auch falsch. Madagaskar ist einfach nur anders, man muss sich darauf einlassen, und wenn man es tut, geschieht Neues, es bleiben Gewohnheiten aus, es verschwinden Meinungen, man ist überrascht von sich, von anderen, vom Tag, von jedem Tag, von jedem neuen Tag, immer wieder. Das ist das Schöne. Ich dachte, als ich krank war, an die Matrosen, denen es im japanisch-russischen Krieg 1904 vor der Nordwestküste Madagaskars gar nicht gut ging. Viele starben nicht im Schlachtgemetzel, sondern an einer merkwürdigen Seuche. Diese Seuche gab der Insel nicht nur den Ruf, „Grab des weißen Mannes“ zu sein, sondern war auch der Anlass für jenes Lied, das für die meisten Deutschen heute das einzige ist, was sie überhaupt von Madagaskar kennen. „Wir lagen vor Madagaskar...“ Aber selbst dieses Lied informiert leider falsch. Denn für die Seeleute, die einst vor Madagaskar lagen, stellte sich später heraus, dass sie nicht die Pest an Bord hatten, sondern Typhus. Ein Christkind namens Fara Der Kauf der Schuhe. Es riecht nicht nach Lebkuchen, nicht nach Spekulatius, nicht nach Glühwein. Nur ein paar grüne Plastikbäume, die mit ihren stacheligen, borstigen, langen Nadeln wie riesige Klobürsten aussehen, und ein paar Weihnachtsmänner, die sich in roten Mäntelchen, Stiefeln und mit weißer Gesichtsmaske auf der Avenue de l’Indépendence aufgestellt haben, erinnern daran, dass es weihnachtet. Die madagassischen Weihnachtsmänner tragen bunte große Schirme, die sie je nach Wetterlage, als Regen- oder Sonnenschirm benutzen. Da stehen sie dann etwas gelangweilt und warten darauf, dass die Einwohner sich mit ihnen für ein paar Franc Malgache fotografieren lassen. Das muss so sein, denn auch der Weihnachtsmann in Tana ist nicht sehr reich, und wenn er schenkt, schenkt er meist nur den Kindern etwas. Um ihm ein wenig zu helfen, habe auch ich Père Noel gespielt. Für ein Straßenkind, das ich seit Beginn meiner Zeit in der Hauptstadt kenne, und das mich immer mit „Bonjour Monsieur“ begrüßt, wenn es mich auf der Place de l’Indépendence sieht. Es ist ein zwölfjähriges Mädchen und heißt Fara. Fara bedeutet „Jüngste“ und vielleicht mag ich sie deswegen. Sie ist zwar rotzfrech, doch nicht uncharmant. Natürlich zerlumpt, schmutzig und ohne Schuhe. Zehen und Nagelbetten sind völlig verwachsen. Obwohl ich Straßenkindern grundsätzlich kein Geld gebe, ist sie die einzige, die etwas von mir bekommt. Wo soll man mit Geldgeben anfangen, wo aufhören? Gibt man einem, muss man dann allen geben? Was ist gerecht, was ungerecht? Ist da überhaupt was gerecht? Lernen diese Kin- Madagaskar Martin Roos der, indem man ihnen Geld gibt, nicht noch besser zu betteln? Bei Fara mache ich eine Ausnahme. Um die 1000 Franc Malgache bekommt sie immer von mir, nicht mehr als 30 Pfennig. Aber viel für sie. Eine Familie verdient knapp 80 Mark im Monat, schon ein Stück Fleisch, 250 Gramm Zebu, kostet eine Mark, zuviel für eine arme Familie, die acht- bis zehnköpfig ist. Die allermeisten sind arm und kinderreich. Fleisch ist Luxus, den es höchstens einmal im Monat gibt. Vor einer Woche hat mich Fara gefragt, ob ich ihr Schuhe kaufen könnte. Ich sagte ja. Aber nur an Weihnachten, also heute. Heute am Heiligen Abend. Um 11 Uhr ging ich mit ihr los, sie wollte Turnschuhe haben, die ich ihr dann in irgendeinem verwinkelten Markt in der Nähe des ehemaligen Zoma kaufte. Für 40.000 Franc Malgache, keine 15 Mark. Als sie die Schuhe über ihre Füße zog, konnte sie es nicht fassen. Erst hat sie sich kaputtgelacht, dann ernst geschaut, dann verlegen gelächelt. Wie auf Eiern wackelte sie in den Latschen. Als ob man einem Bergsteiger Ballettschuhe angezogen hätte. Behutsam trat sie links und rechts mit ihren Füßen auf. Immer wieder, und hielt die Hand vors Gesicht, um ihre Röte zu verdecken. Die Schuhe, die sie so gerne haben wollte, waren ihr plötzlich fremd. Aber halb lachend, halb strauchelnd, stammelte sie schließlich ein „Merci“ und konnte es einfach nicht fassen. Sie konnte es einfach nicht fassen. Ich hoffe, ihre Schuhe werden nicht geklaut. Vielleicht verkauft sie sie auch. Ich sagte ihr, dass ich wiederkommen werde, um zu kontrollieren. Dann ging ich, und sie hinter mir her, ein paar Schritte Abstand, anders als beim Hinweg, bei dem sie mir eilig vorausgelaufen war. Beim Gehen schaute sie nun auf den Boden, vielleicht auf ihre Schuhe. Ich blickte zurück, dann sah auch sie hinauf zu mir, lächelnd und unendlich verlegen – mein kleines Christkind namens Fara. Schuhe im Sack. Wie Fara in das neue Jahrtausend gekommen ist, weiß ich nicht. Heute sah ich sie wieder. Es ist der 6. Januar 2000. Heilige Drei Könige. Von weiten rief sie mich schon. Sie hatte keine Schuhe an. Als ich fragte, wo sie seien, zeigte sie auf die gegenüberliegende Straßenseite, auf einen schmutzigen, kohleverrußten Sack. Ihr Kleiderschrank. „Dort sind die Schuhe“, sagte sie. Aufbewahrt in dem alten Sack. Bewacht von den anderen Bewohnern der Straße. Heute würde sie sie nicht tragen wollen. „Warum?“, fragte ich. „Dann schauen Sie sich doch mal meine Füße an. Viel zu schmutzig.“ Ich allerdings vermutete, dass sie die Schuhe schon gar nicht mehr hatte. Ich fragte, wann sie die Schuhe denn wieder einmal anziehen würde. „Morgen“, sagte sie „oder Freitag“. „Wieso morgen oder Freitag?“, fragte ich. „Ach nur so“, sagte sie. Ich verabschiedete mich und ging. Mit Schuhen zur Schule. Morgen reise ich zurück nach Deutschland. Gestern traf ich Fara zum letzten Mal. Ich sah sie in einem Hauseingang, mit ihren Freunden Blätter eines alten Taschenkalenders sortieren. Fara hatte Schuhe an, ihre Turnschuhe. Als sie mich sah, sprang sie auf und gab mir die Hand. Heute Martin Roos Madagaskar ginge sie zu Schule. „Zur Schule!?“ Das überraschte mich. „Ja“, sagte sie, „von acht bis zwölf und nachmittags noch einmal zwei Stunden“. Ich sagte, dass ich das sehr gut fände und wollte wissen, wo die Schule sei. „Nicht weit“, meinte sie, „da kann ich zu Fuß hingehen, nur fünf Kilometer“. „Fünf Kilometer! Das nennst du nicht weit“, rief ich. „Gut, dass du nun Schuhe hast“. „Ja“, sagte sie, „gut dass ich nun diese Schuhe habe“. Seit dem Kauf der Schuhe hatte mich Fara nie wieder nach Geld gefragt. Die Hoffnung heißt „morgen“ In einer Senke taucht die Silhouette von Ilakaka auf. Einst gab es in dieser Trockensavanne nur ein paar Lehmhütten, in denen wenige Eltern mit ihren Kindern wohnten, die hinter Dornenbüschen und Termitenhügeln Verstecken spielten. Vor nicht mehr als einem Jahr fand jemand Steine. Wertvolle Steine. Saphire. Schnell brach das Fieber aus, und aus dem ganzen Land kamen sie, um sich anzustecken. Sie gaben ihr altes Leben auf, brachten Eimer, Schaufel und Spaten mit, bauten sich Häuser aus Pinienholz und buddelten um ihr Leben. Täglich wächst nun die Hüttenstadt. Es gibt bereits eine kleine katholische Grundschule, eine Kirche, eine aus Brettern zusammengebaute Arena für den Hahnenkampf, eine Apotheke, eine Videothek, in der den ganzen Tag Actionfilme laufen, ein paar Wundärzte, einen Zahnarzt, der seinen Patienten auf einem ausrangierten Peugeot-Fahrersitz die faulen Zähne zieht. Und es gibt Nachtclubs, vor deren Türen die Huren über den sandigen Boden stöckeln. Immer mehr Glückssuchende kommen. Über 100.000 Dealer und Digger hat das Saphir-Fieber in den vergangenen Monaten bereits nach Ilakaka gelockt, und mit ihnen kamen Banditen, Diebe, Killer und die Gendamerie. Es ist der wilde Südwesten Madagaskars. Barfüßig, den Spaten über die Schulter geworfen, schlurfen die Schürfer zu ihren Schächten. Tausende von Löchern haben den Boden bereits durchsiebt. Anderthalb Meter sind sie breit, manche sechs Meter tief, andere bis zu 20 Meter. Es sind Tunnel, ein unterirdisches Netz aus Gängen, durch die sich die Arbeiter den Weg mit Kerzenlicht leuchten. Vier Menschen sollen in den vergangen Wochen schon verschüttet worden sein. Absperrungen rund um die Löcher und Schächte gibt es nicht. Die Kinder laufen um sie herum, spielen Räuber und Gendarm. Wie viele von ihnen schon hineingefallen sind, weiß man nicht. Wieviele Arbeiter verschüttet worden sind, auch nicht. Offiziell gab es bisher nicht mehr als 30 Unfälle mit Todesfolge. Inoffiziell sind mindestens schon 100 gestürzt oder lebendig begraben worden. Vor allem in den großen Minen, die bis zu 400 Meter lang und 60 Meter tief sind. In diese riesigen Gruben haben die Männer vom Minengrund bis zum oberen Rand stufenweise Plateaus in einem Abstand Madagaskar Martin Roos von etwa zwei Metern in den Sand gehauen. Von Plateau zu Plateau schleudern sie die mit Sand gefüllten Säcke nach oben. Träger schleppen die Sandlast zum gelben Fluss Ilakakas. Dort geht es an die Steinwäschersiebe. Manche Suchende sind im Saphirdorf reich geworden. Zum Beispiel der Bürgermeister, Monsieur Fernand René, der mit dem Fund von Saphiren aus seiner Lehmhütte drei Steinhäuser und zwei Autos gemacht hat. Die meisten Männer, die in den Schächten schaufeln, bleiben aber arm und müssen für einen Patron, einen Händler, arbeiten, der ihnen Tagesverträge anbietet. Das Grundgehalt ist fünf Mark pro Tag. Was sie finden, verkauft ihr Patron. Vom Verkaufspreis kriegen die Schürfer nicht mehr als sechs Prozent. „Neulich hat einer abends in der Bar geprahlt, dass er unten im Tunnel einen Stein gefunden und behalten hätte. Den haben die Patrons dann so bedient, dass er zwei Wochen lang keinen Spaten mehr in die Hand nehmen konnte“, erzählt John. Der 25jährige John Heritina Rakotomamonjy hat sich, wie viele andere, im ockerfarbenen Sandboden arm geschaufelt. Sein gesamtes Geld, fast 500 Mark, investierte er in die Suche. Gefunden hat er nichts. Sechs Monate lang. Jetzt jobbt er als Kellner und als Fahrer für Touristen, die den Nationalpark von Isalo besuchen wollen, im wenige Kilometer entfernten Ranohira. „Die Saphire sind die Hoffnung der Suchenden“, sagt John. „Inzwischen sind aber viel zu viele Leute gekommen. So viele Saphire können gar nicht mehr im Boden sein, dass alle etwas finden.“ Viele Arbeiter scheinen anderer Meinung zu sein. Fragt man sie, ob sie heute schon etwas gefunden haben, sagen sie: „Nein, aber morgen“. Fragt man sie ob sie gestern etwas gefunden haben, sagen sie: „Nein, aber morgen.“ Fragt man sie, ob sie überhaupt schon einmal etwas gefunden haben, sagen sie. „Ja sicher, und morgen finden wir wieder etwas.“ Ihre Hoffnung heißt „Morgen“. „Bei uns in Ilakaka gibt es nichts offiziell, aber unter der Hand gibt es alles“, freut sich Gaolaza. Trotz seiner von Drogen rot unterlaufenen Augen und seiner nervösen Gestik, versucht er wichtig zu wirken. Er ist Mitglied der Organisation im „Comptoir de Saphir“, dem Markt, auf dem die Händler, vor allem aus Sri Lanka, in ihren winzigen Verkaufständen mit Aufschriften wie „Big Boss Saphir“ auf die lokalen Saphirverkäufer warten. Dort drehen die Händler die Steine zwischen Daumen und Zeigefinger, leuchten sie mit einer Spezialtaschenlampe ab, registrieren Einschlüsse, Fenster, Blasen und Brüche. Je nach Reinheit, Helligkeit und Härtegrad liegen die Preise zwischen zehn und 140.000 Mark pro Saphir. Vor Gaolazas Büro, am Comptoir-Eingang, stehen zwei Soldaten mit Maschinengewehren bewaffnet. Es ist nötig. Zu viele rennen vor den Verkaufsständen der Händler rum und tragen unter dem T-Shirt eine Pistole. „Noch in 100 Jahren werden wir hier Saphire finden“, ruft Gaolaza und schlägt mit der Hand so heftig auf seinen Bürotisch, dass der Stapel von Brie- Martin Roos Madagaskar fen neben der Schreibmaschine umfällt. Ohne die Saphire würde Gaolaza immer noch Zebus über die Savanne treiben. Er hat sich das verschafft, was viele in Ilakaka wollen: Stellung und Respekt. Das große Geld in Ilakaka machen jedoch die Grand-Patrons, die Großhändler, meist Europäer, die an einem Tag bis zu 200.000 Mark für Steine ausgeben. Plötzlich wird es vor dem Comptoir laut. Menschen strömen zusammen, rennen durch das Tor auf den Saphir-Markt. Zwei Jeeps fahren durch die Schranke. Auf der Ladefläche des Pickups stehen schwer bewaffnete Jungs. Fünf Bodyguards mit Spiegelbrille. Den Kerl vorne im Wagen nennen alle Monsieur Werner alias Werner Spaltenstein, Bauernsohn aus Zürich. Mit seiner Cessna ist er vor einer Viertelstunde auf der holprigen Graspiste, neben dem wenige Kilometer entfernten Nobelhotel „Relais de la Reine“, gelandet. Von dort, über die Route Nationale 7, sind es nur ein paar Minuten bis zum Comptoir. Jetzt stehen die lokalen Verkäufer vor Werners Kiosk Schlange. Manche jubeln schon, freuen sich, ihre Steine zu einem guten Preis zu verkaufen. Andere sind etwas nervös und beginnen zu drängeln. Ein Gendarm mit gezückter Kanone sorgt für Ordnung. Dass die Grand-Patrons alle nicht ganz koscher sind, wissen die kleinen Schürfer und Händler, die hier kaufen und verkaufen. Sie fürchten sie. Wenn beispielsweise der Name Zwetkow fällt, verstummen viele für einen Augenblick. Der 62jährige Eugen Zwetkow, gebürtiger Bulgare mit deutschem Pass und Hemmingway-Bart, hatte schon Anfang der 70er Jahre in Sambia Edelsteine gesucht, später im sozialistischen Madagaskar Gold und Smaragdvorkommen aufgespürt. Dass er nun als Grand-Patron unbehelligt in Ilakaka wirken kann, ist kein Wunder. Seine guten Kontakte zu Präsident Didier Ratsiraka, dessen Sohn Ilakaka praktisch gehört, machen es möglich. 100 Jahre lang wird Ilakaka wohl nicht ein Mekka für Saphirsucher bleiben. Das zumindest meint die Presse in Tana. Für sie steht sogar fest, dass der größte Teil des im Boden versteckten Schatzes bereits gefunden wurde. Manche Glückssucher sind schon weiter gezogen. In einem kleinen Dorf im Süden, bei Fort Dauphin, sollen die nächsten Saphire entdeckt worden sein. Ilakaka jedenfalls wird so lange in aller Munde bleiben, bis der letzte Stein gefunden ist. Bis dahin wird weitergesucht. Vielleicht lohnt es sich ja und man stößt eines Tages – wie der Karikaturist der Tageszeitung „L’Express“, Elisé Ranarivelo, glaubt – auf andere wertvolle Dinge: Knochen eines Dinosauriers. Salut Vazaha! Salut Vazaha, rufen, meistens fröhlich winkend, die madagassischen Kinder, wenn sie einen Weißen, einen Vazaha, am Strand oder durch ihr Dorf lau- Madagaskar Martin Roos fen sehen. Salut Vazaha, rufen heiter die Strandverkäufer, wenn sie ihre Muscheln und Holzschnitzereien den Weißen anbieten. Salut Vazaha, rufen freundlich die Händler, wenn man ihren Laden betritt. Salut Vazaha, rufen lockend die Prostituierten, wenn sie weiße Kundschaft sehen. Salut Vazaha, rufen gehässig Madagassen, wenn sie Weiße nicht mögen. Im Stadion Im Sportstadion von Tana wird Rugby gespielt. Ich muss vor der Haupttribüne entlanggehen, um zu einem freien Sitzplatz zu kommen. Oben auf den Rängen sehe ich nur Madagassen, fast nur junge. Als sie mich erblicken, fangen sie an zu johlen, auf mich zu zeigen, zu rufen: „Salut Vazaha“. Mir wird etwas unheimlich. Ich beschleunige meinen Schritt, eile die Ränge hinauf. Sie glotzen mir nach, rufen immer noch. Als ich mich setze, stürmen drei, vier Jungs auf mich zu, setzen sich vor, hinter und neben mich. Ich schaue erstarrt. Sie lachen, sie lachen mich an, halten mir Erdnüsse hin. Sie freuen sich. Sie freuen sich, mich zu sehen, finden es schön, einen Weißen unter sich zu haben. Salut Vazaha. Fußballplatz Auf einem Platz in Tana, von dem die Rue Ravelojaona bis zum Rova, dem abgebrannten Palast der Königin in Tana, hinaufführt, wird sonntags Fußball gespielt. Der Platz ist löchrig, das wenige Grün, das auf ihm wächst, ist Unkraut. Manche der Spieler tragen Fußballschuhe, manche nicht. Doch ob mit oder ohne, der Ball rollt gut. Ein etwa vierzigjähriger Madagasse spricht mich an. Salut Vazaha. Er fragt mich, was ich von dem Spiel halte. Er kennt Europa, hat in Straßburg studiert. Zahnarzt. In Madagaskar hat er keinen Job bekommen, kümmert sich jetzt um die Jungs auf dem Platz. Hosen und Trikots habe er für sie bereits besorgen können. Nun suche er noch einen Sponsor. Er schaut mich an. Festen Blickes. Dann würden alle Fußballschuhe tragen können, sagt er. Salut Vazaha. Deutschstunde Madagassische Germanistikstudenten der Universität Tana erwarten mich zu einer Seminarstunde. Als ich den Raum betrete, stehen 30 Mädchen und Jungen auf und raunen mir unisono ein „Guten Tag“ zu. Auf ein Handzeichen der Lehrerin setzen sie sich. Ich soll von mir erzählen, von meinen Eindrücken in Madagaskar. Auf deutsch. Dann sind sie dran, auf deutsch, fragen mich. Ob ich als Journalist meinen Traumberuf gefunden hätte. Wie demokratisch denn nun mein Land nach der Nazizeit sei. Wie das in Deutschland mit der Rente funktioniere. Was der neue Kanzler für einen Eindruck mache. Ob ich wüsste, wie schwierig es in Madagaskar sei, einen seiner Ausbildung entsprechenden Job zu finden, wenn man nicht der richtigen Familie oder dem richtigen Stamm angehöre. Irgendwann ist die Stunde zu Ende. Sie danken, Martin Roos Madagaskar klatschen, ich gehe. Nur der beste von ihnen wird einmal mit einem Stipendium Deutschland besuchen dürfen. Salut Vazaha. Kindermuscheln Am Strand von Ramena, bei Diego-Suarez, stürmen drei kleine Kinder auf mich zu und knien sich neben mich. Salut Vazaha. Die beiden Mädchen packen Muscheln aus ihren Tüten, bieten sie mir an. Der zweijährige Junge kann sich vor Lachen kaum halten und versteckt sich immer wieder hinter seinen Schwestern. Sie malen sich Punkte mit meiner Sonnencreme ins Gesicht. Sie wollen, dass ich ein Foto von ihnen mache. Ich mache eins. Sie jubeln. Dann gehen sie, lassen mir die Muscheln als Geschenk. Salut Vazaha. Bevorzugte Behandlung Der Platz neben dem Fahrer im Taxi-Bé ist bequemer, breiter und teurer als die restlichen Plätze hinten. Meistens wird er von einem Vazaha reserviert. Auf der fast fünfstündigen Fahrt von Tamatave nach Soanierana-Ivongo sitze ich vorne. Für den Platz habe ich vier Mal mehr als die anderen, die sich hinten quetschen, bezahlt. Sie gönnen ihn mir, ich bin Vazaha, ich habe bezahlt. Hupend rast der Bus über Brücken, Straßen und Dörfer. Fast immer Vollgas, um die Zeit einzuholen, die bei den ständigen Kontrollen der Polizei und bei den zahllosen Busstopps verloren geht. Musik dröhnt aus dem Radio. Hinter mir wird es immer voller. Die Leute liegen schon quer über- und untereinander. Mich lässt man in Ruhe. Salut Vazaha. Nur einmal bittet man mich, für einen Fahrgast ein wenig zur Seite zu rücken. Dem Mann ist es sichtbar unangenehm. Er entschuldigt sich und wechselt sofort den Platz, als hinten etwas frei wird. Salut Vazaha. Ihr habt es Auf der Westseite der Insel Ste. Marie fragt mich ein achtjähriger Junge nach Geld. Zwar freundlich, doch ohne Bitte und sehr hartnäckig. Als ich ihn frage, wie er darauf käme, dass man als Weißer immer Geld geben müsse, sagt er: „Ihr seid doch alle reich“. Warum er denn meine, dass alle Vazahas Geld hätten. „Ihr habt es“. Ob er nicht glaube, dass man auch in Europa dafür arbeiten müsse. Er antwortet: „Ihr seid weiß, ihr seid reich, ihr habt Geld. Jetzt könnt ihr uns doch davon auch etwas abgeben“. Salut Vazaha. Piratenfriedhof Nur über einen vierzig Zentimeter breiten Steg ist der Piratenfriedhof auf Ste. Marie zu erreichen. Mehr als tausend Seeräuber sollen sich um 1800 in den Buchten der Insel versteckt haben. „Salut Vazaha“, sagt der Junge, der auf Besucher wartet und eine Führung anbietet. Ich gebe ihm etwas, damit er mich Madagaskar Martin Roos nicht begleitet. Ich will den Ort, der offiziell fady ist, alleine finden. Ich balanciere über den Steg und verschwinde im Dickicht der kleinen Halbinsel. Erst nach zehn Minuten finde ich an einem Pfad ein morsches Holzschild. Die Buchstaben sind kaum zu erkennen. „Cimetière aux Forbans“ soll es wohl heißen, Piratenfriedhof, der Eingang. Zehn Meter dahinter die ersten Grabsteine. Einige sind zerbrochen, andere überwachsen, die wenigsten zu entziffern. Ich suche nach eingravierten Totenköpfen, versuche die Steine von Ästen, Blättern und Moos zu befreien. Nichts zu finden. Die Sonne brennt, ein Vogel zwitschert frech im Gebüsch. Ich bin enttäuscht und gehe. Fast falle ich über eine im fußhohen Gras liegende Grabplatte. Ein Gesicht lacht mich an. Es ist ein Totenkopf, ein Totenkopf mit einem höhnischen Grinsen. Salut Vazaha. Erdkunde Von dem größten Dorf auf Ste. Marie, Ambodifotatra, laufe ich auf die Ostseite der Insel. Zwei Stunden zu Fuß. Ein achtjähriges Mädchen und ihr kleiner Bruder kommen hinter mir hergerannt. Salut Vazaha. Sie haben blaue Kittel an, Schuluniformen. Jeden Tag gehen sie diesen Weg. Eine Stunde zur Schule hin, eine Stunde zurück. Andere Wege, andere Orte kennen sie nicht. Während wir nebeneinander herlaufen, zeigt mir das Mädchen ihr Schulheft. Sie ist stolz. In der Erdkundestunde hat sie heute Afrika kennengelernt und gezeichnet. Mit bunten Stiften. Alle Länder mit allen Namen und alles auf Französisch. Dann fragt sie mich, wo ich herkomme. Ich erzähle von Europa und dem Land, das Deutschland heißt, von seinen Städten, von seinen Straßen, von seinen Kindern. Sie hört und fragt, und fragt und hört, bis wir das Haus ihrer Eltern erreichen, eine Hütte am Weg. Salut Vazaha, sagt sie und geht. Ihre Eltern schauen mich misstrauisch an. Ich gehe weiter, blicke zurück und sehe, wie das Mädchen nicht aufhört zu erzählen. Im Restaurant Ein Restaurant in Ambodifotatra auf Ste. Marie ist dafür bekannt, dass man lange auf das Essen warten muss. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe mich aufs Warten. Ich gehe hin, bestelle ein Menü. Das einzige, was es noch gibt. Zebu, Kartoffeln, Gemüse. Ein erstes Getränk wird mir nach 20 Minuten gebracht. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe mich aufs Warten. Es vergeht eine weitere halbe Stunde, ohne dass etwas passiert. Eine Dreiviertelstunde, eine Stunde. Es macht nichts. Ich habe Geduld und verstehe mich aufs Warten. Ich schaue nicht mehr auf die Uhr. Irgendwann kommt das Essen. Ich habe in der Zwischenzeit so einen Hunger bekommen, dass ich noch einen Nachtisch bestellen möchte. „Nachtisch?“, ruft die Kellnerin erstaunt. „Hören Sie“, sagt sie, „das geht nicht, das schaffen wir jetzt leider nicht mehr“. Martin Roos Madagaskar Es macht nichts. Ich habe Hunger und verschlinge mein Essen. Dann will ich zahlen. Bis die Rechnung kommt, vergehen weitere 20 Minuten. Es macht was. Ich habe keine Geduld mehr und verstehe mich nicht mehr aufs Warten. Das ich erst am nächsten Morgen zurückkomme und zahle, macht nichts. Die Leute haben Geduld und verstehen sich aufs Warten. Salut Vazaha. In einem anderen Restaurant In einem Restaurant in Fort Dauphin bestellen wir Cola. „Cola ist nicht mehr da“, sagt der Kellner, „aber Fanta“. Wir nehmen Fanta. Bei einem zweiten Kellner bestellen wir das Essen, gegrillte Krabben und Krebse. „Gegrillte Krabben sind nicht mehr da“, sagt der Kellner, „aber Krebse und Langusten“. Wir nehmen Krebse und Langusten und noch eine Fanta. „Fanta ist nicht mehr da“, sagt der zweite Kellner, „aber Cola“. Wir staunen und nehmen nun Cola. Als die Langusten vom ersten Kellner gebracht werden, sagt er: „Krebse sind nicht mehr da, aber gegrillte Krabben“. Wir essen Langusten und gegrillte Krabben. Als Nachtisch bestellen wir flambierte Bananen und Mousse au chocolat. „Flambierte Bananen sind nicht mehr da“, sagt der erste Kellner, „aber Mousse au chocolat“. Der zweite Kellner kommt zurück: „Mousse au chocolat ist nicht mehr da, aber ein paar Bananen“. Wir nehmen Bananen. Dann wir zahlen wir. Eine Rechnung, eine einzige. Bei getrennten Rechnungen wären sicher ein paar nicht da gewesen. Salut Vazaha. Robinson tanzt Als ich mich in Hell-Ville, auf Nosy Be, von Pierre Robinson verabschiede, lädt er mich ein, ihn am nächsten Tag in seinem Haus auf der Insel Nosy Komba zu besuchen. Ich kenne ihn gerade zehn Minuten. Pierre ist etwa sechzig, Franzose, und lebt seit dreißig Jahren auf den Inseln Nosy Be und Nosy Komba im Norden Madagaskars. Ein Fremdenlegionär ist er nicht, sagt er. Der schlanke Mann mit dem ausgemergelten Gesicht und dem schütteren Haar wirkt in seiner langen Leinenhose, dem gebügelten Hemd, den geputzten Schuhen und den dazu farblich abgestimmten Strümpfen durchaus elegant. Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Touristenboot nach Nosy Komba. Ich verzichte darauf, mir die naschsüchtigen Lemuren der Insel anzusehen, und suche Pierre. Einen Kilometer von dem Ankerplatz entfernt treffe ich am Strand zwei Einheimische. Pierre lebe dort hinten in der kleinen Hütte, sagen sie. Als ich vor dem Fenster stehe, sehe ich drinnen, in einem schlichten Raum, einen Vazaha mit einer Einheimischen tanzen. Heiter, rhythmisch, leichten Fußes. Es ist Pierre, nur mit weißen Shorts bekleidet. Salut Vazaha, sagt er, Salut Vazaha, sagt sie, und bieten mir ein Bier an. Eine halbe Stunde darf ich bei Robinson und Frau Freitag bleiben. Dann ruft mich die Bootssirene zurück an Bord. Madagaskar Martin Roos Am Hafen Im Hafen von Hell-Ville ist der Teufel los. Mit einem Boot muss ich nach Ankify, aufs Festland, übersetzen. Auf der Plattform vor der Anlegestelle laufen und stehen Kofferträger, Boten, Vermittler, Taxifahrer, Bootsbesitzer, Ticketkontrolleure, Händler, Diebe und Betrunkene herum. Jeder will sich hier irgendwie, irgendwas verdienen. Der eine delegiert oder hantiert, der andere schleppt und rennt, der nächste trägt und bringt und andere tun gar nichts. Die Passagiere warten. Salut Vazaha. Als ich mein Ticket bezahlt habe, soll ich meine Tasche abstellen. Sekunden später ist sie weg. Ich schaue mich nach dem Dieb um. Überall wird gerannt und geschoben, gefahren und gezogen, geschubst und gedrückt. Die Tasche ist weg. Salut Vazaha. Dann werden die Passagiere auf die kleinen Boote verteilt. Scheinbar wahllos. Auch ich sitze schließlich irgendwo in einer dieser offenen Zehn-Mann-Schüsseln. Dann sehe ich meine Tasche. Sie schaut aus dem Luk des kleinen Vorderdecks meines Bootes heraus. Ordnungsgemäß. Salut Vazaha. Das Zwanzigfache Der Eintrittspreis für Einheimische, die die Nationalparks besichtigen wollen, beträgt nicht mehr als eine Mark. Abgesehen davon, dass manche Madagassen erst gar nicht in die Nähe von Nationalparks gelangen, ist für sie der Preis immer noch hoch. Die Nationalparks können sich nur mit Hilfe der Eintrittsgelder für Ausländer finanzieren. Von den fast 11.000 Besuchern 1998 in Ranomafana, waren mehr als zwei Drittel Vazahas. Pro Nase zahlen sie fast 20 Mark. Ein Preis, der als Spende zu betrachten ist. Salut Vazaha. Am Schiffswrack Die Fischerfamilie hat sich an das riesige Wrack des Schiffes gewöhnt, das ein Zyklon, vor fünf Jahren, genau vor ihre vier Hütten an den Strand von Manakara geworfen hat. Ein paar Wrackteile haben sie in ihre einfachen Behausungen eingebaut. Als Dach, als Tonne, als Stuhl. Als ich zu ihnen gehe, reparieren zwei junge Männer ihre Netze, drei Frauen sitzen daneben, auf ihren Armen kleine Kinder mit aufgeblähten Bäuchen und schlechten Zähnen. Ich setze mich. Salut Vazaha. Sie lächeln und arbeiten weiter. Der Großvater kommt, der Wortführer. Er gibt mir die Hand. Salut Vazaha. Er erklärt, dass in den beiden Pirogen, dort hinten im Meer, seine Söhne sitzen. Sie sind heute bereits zum zweiten Mal draußen. Bisher haben sie nur Krebse gefangen. Der Großvater nickt mir freundlich zu. Auch als ich gehe, fragt keiner von ihnen nach Geld. Salut Vazaha. Kaffeebauern Bei Manakara besuche ich eine Familie, die von der Arbeit auf einer Kaffeeplantage lebt. Salut Vazaha. Nur die Großmutter, die Töchter und Enkel- Martin Roos Madagaskar kinder sind im Haus. Weil die Ernte in diesem Jahr schlecht war, sind die Männer unterwegs, um irgendwo anders Geld zu verdienen. Zehn Säcke à 30 Kilo erntet die Familie normalerweise pro Saison. Dieses Jahr waren es nur fünf. Ein Zyklon hat große Teile der Ernte zerstört. Nur 60 Mark haben sie jetzt verdient. Die Kinder mussten bereits die Schule abbrechen, weil sich die Familie die Hefte und Stifte nicht mehr leisten konnte. Jetzt arbeiten auch die Mädchen. Sie flechten kleine Teppiche aus Pflanzen. Zwei Tage brauchen sie für einen. Für eine Mark soll er dann verkauft werden. Gegessen wird nur das, was um die eine Hütte, in der die Familie wohnt, gratis wächst. Reis, Bananen, Litschis und Jackfruit. Der Großmutter gebe ich für ihre Mühe, mir alles zu zeigen und zu erklären, ein wenig Geld. Dankbar verbeugt sie sich vor mir mehrere Male. Salut Vazaha. Als auch die Tochter mich um Geld bittet, schimpft die Großmutter sie furchtbar aus. Grabwächter Auf der Autoroute zwischen Isalo und Tuléar liegen, etwa 40 Kilometer vor Andranovory, die Gräber der Mahafaly. Die schulterhohen Mauern der Grabstätten sind bunt, bemalt mit Soldaten, Gewehren, Panzern, Fischen, Walen und Heldenmalereien. Die Grabstätten sollen den Reichtum und das Prestige der Verstorbenen symbolisieren. Besuchen darf man diese gemauerten Mausoleen aber nicht. Sie sind fady, heißt es. Fady ist hier als „Schutz“ zu verstehen, denn in den vergangenen Jahren haben vor allem Touristen und Souvenirjäger die heilige Stätte beschädigt. Ein Mann steht mit seinem Freund vor den Gräbern und hält Wache. Angeblich. Salut Vazaha. Nein, reinlassen will er mich nicht. Es sei denn, ich gebe ihm eine Spende für die Renovierung. Und seinem Freund auch. Neben ihm steht ein Eimer mit Farbe. Ich willige ein. Die beiden bieten mir nun sogar eine Führung an. Sie werden richtig gesprächig und bevor ich wieder verschwinde, trinken wir noch einen Schluck Rum. Salut Vazaha. Früchte der Baobabs Wenige Kilometer vor Tuléar ist, am Rand der Nationalstraße, ein Schild mit der Aufschrift „Andranomaitso“ befestigt. Es ist der Name von zwei Hütten, die neben einem riesigen Baobab stehen. Dieser Affenbrotbaum ist ihr Kapital. Die Weißen, die halten, um den Giganten zu fotografieren, werden stets stürmisch begrüßt. Salut Vazaha. Selbst von den Feldern kommen die Kinder angerannt, atemlos, um in den wenigen Minuten, die der Vazaha vor den riesigen Bäumen verbringt, etwas von ihm zu erheischen: T-Shirts, Buntstifte, Bonbons, Geld – die Früchte des Baobabs, die nicht auf ihm wachsen. Salut Vazaha. Madagaskar Martin Roos En panne Das Taxi-Brousse zwischen Tuléar und Ifaty ist überfüllt. Mit Menschen, Körben mit Bananen, Litschis und Brot, zahllosen Taschen und Koffern, Benzinkanistern, Bier-, Cola- und Limonadenkisten. Ich bin der einzige Ausländer. Salut Vazaha. Immer wieder bleibt der Bus in der Sandpiste stecken. Alle Männer raus, Bretter unter die Räder und schieben. Dann alle Männer wieder rein und weiter. Wenig später bleiben wir endgültig liegen, „en panne“, kaputt, Motorschaden. Brennende Mittagshitze. Eine Stunde Autofahrt liegt noch vor uns. Wir nehmen unser Gepäck vom Dach und gehen zu Fuß weiter. Als wir den Lastwagen erreichen, den wir schon vom Bus aus gesehen hatten, hören wir, dass auch er „en panne“ ist. In der Ferne wirbelt eine Staubwolke auf. Ein Jeep nähert sich. Ich nehme mein Gepäck, laufe auf ihn zu. Nach kurzem Gespräch nimmt mich der Fahrer mit. Sonst keinen. Salut Vazaha. Rollentausch Auf dem Rückweg von Ifaty nach Tuléar, ein paar Tage, später ist unser Jeep „en panne“. Wieder Motorschaden, wieder Sandpiste, wieder Gluthitze. Kinder kommen angerannt: „Salut Vazaha. Donne-moi l’argent! Donne-moi TShirt!“ – „Gib mir Geld, gib mir T-Shirt“, rufen sie. Immer wieder. Schließlich sage ich zu ihnen: „Donne-moi l’argent! Donne-moi T-Shirt!“ Immer wieder. Sie verstehen nicht. Verstummen. In der Ferne wirbelt eine Staubwolke auf. Ein Jeep nähert sich. Wir steigen ein. Die Kinder bleiben zurück. Stumm. Salut Vazaha. Weniger Lohn Madame und Monsieur Ramangasalama wohnen in einem Haus auf dem Campus der Universität von Tuléar, umsonst. Miete zu zahlen, können sie sich nicht leisten. Nur Madame verdient zur Zeit Geld, als Lehrerin am Collège Francais in Tuléar. Monsieur hat seinen Job als Dozent an der französischen Schule verloren, nachdem er sich beklagt hatte, dass weiße Kollegen, die teilweise schlechter ausgebildet seien als er, grundsätzlich mehr Lohn kriegen würden als madagassische Dozenten. Als er daraufhin sein Recht einklagte, musste er gehen. Französisch sprechen sie zur Zeit nicht mehr so gerne. Salut Vazaha. Mit mir reden sie lieber deutsch, fließend, akzentfrei. Sie haben es beide während ihres Studiums in Deutschland gelernt. Wellenritt Hinter dem Horizont, der vom Café Pecheur, oben auf der Düne neben dem Libanona Beach in Fort Dauphin, aus zu sehen ist, fällt jeden Abend galant die Sonne ins Meer. Die Holzveranda des kleinen Cafés könnte der Panoramaplatz der Götter sein. Über mehrere hundert Meter rollen die Wellen unauf- Martin Roos Madagaskar hörlich an den Strand. Die wenigen Besucher, die jetzt im Café sitzen, trinken und genießen. In den Wellen unten tauchen zwei Delphine auf und beginnen ihren Ritt über die Wogen. In aller Eleganz. In aller Ruhe. In aller Stille. „Mann, det find ick irre“, brüllt ein Berliner neben mir. Salut Vazaha. Radioshow Sonntags abends läuft in Fort Dauphin die Brother-Radioshow. Ziel der Sendung ist: Musik. Hier darf jeder, der ins Studio kommt, einen Hit seiner Wahl auflegen lassen. Die meisten, die kommen, sind Vazahas: Belgier, Franzosen, Amerikaner, Engländer, Italiener oder Deutsche. Sie betreuen ein Forschungs- oder Entwicklungsprojekt in der Stadt. Oft ist nur der DJ Madagasse. Salut Vazaha. Die Gute-Laune-Show hat bei den Hörern Erfolg. Noch beliebter ist sie jedoch bei den Moderatoren, denn der redaktionelle Ablauf ist Party pur: Den ausgewählten Song in der jeweiligen Landessprache anmoderieren, im Studio tanzen und Rum trinken. Wenn keiner mehr kann, ist die Sendung zu Ende. Oft erst spät in der Nacht, wenn die meisten Madagassen schon längst schlafen. Salut Vazaha. Im Supermarkt Der Supermarkt neben dem Anwesen des französischen Großgrundbesitzers de Heaulme ist der modernste in Fort Dauphin. Die Luft, die sich drinnen ansammelt, ist heißer, als die Mittagshitze draußen. Es gibt weder Ventilator noch Klimaanlage. Ein Mann im Eingang quasselt unaufhörlich auf Französisch in ein Mikrophon, macht Werbung für die Produkte. Quasseln für Vazahas. Die Frau an der Kasse gibt statt Münzen Bonbons als Wechselgeld heraus. Auf sie freuen sich draußen schon die wartenden Kinder des Dorfes. Salut Vazaha. Regenflut Als wir um 15 Uhr endlich im Minibus saßen, um nach Tana zurückzufahren, war es zu spät. Der Regen hatte begonnen. Mit 30 Mitgliedern des „jeune chambre économique“, den madagassischen Wirtschaftsjunioren, hatte ich einen Ausflug, etwa 20 Kilometer südlich der Hauptstadt, unternommen. Salut Vazaha. Wir mussten jetzt zurück. Sonst wäre die Dunkelheit noch erschwerend hinzugekommen. Der Regen prasselte und schlug mit tausend kleinen Hämmerchen gegen den Wagen. Im Bus erzählten sich die Madagassen Witze. Witze über das Wetter. Nach zehn Minuten war der rote Laterit der Straße aufgeweicht. Regenwasser füllte die Furchen. Der Bus rutschte mehr als er fuhr, schlitterte den Weg hinab. Den Weg hinauf drehten die Räder immer mehr durch. Dann die 30 Meter lange Anhöhe. Der Fahrer gab Gas, die Räder liefen heiß, Matsch spritzte in alle Richtungen, auf halbem Weg blieben wir stehen, es ruckte, der Wagen begann zu kippen und rückwärts zu rutschen. Der Fahrer lenkte gegen, dann verloren wir das Gleichgewicht, kippten, ein Schrei, jeder krallte sich in Erwartung 412 Madagaskar Martin Roos von splitternden Scheiben und Schlägen gegen den Körper irgendwo fest, verkrampft. Doch es krachte nicht. Wir kippten nicht. Der Bus war stehen geblieben. Irgendwo in der Schräge. Warum, wusste keiner. Alle raus. Wie aus vollen Schläuchen schüttet der Regen nun auf uns nieder. Der Weg war inzwischen ein Sturzbach. Schieben hatte keinen Sinn. Wir mussten warten. Die meisten rannten zu der Hütte eines Bauern, die für alle jedoch zu klein war. Als der Regen nachließ, schoben wir den Bus den Hang hinauf. Alle Mann rein. Pitschnass. Bereits kurz nach der Abfahrt begannen die Madagassen, sich wieder Witze zu erzählen. Witze über das Wetter. Salut Vazaha. Damenwahl Auf der Insel Ste. Marie treffe ich in Ambodifotatra einen Luxemburger. Neben ihm seine Freundin, eine Madagassin. Er hat sie gestern kennengelernt. Am nächsten Morgen sieht sie mich am Hafen und hakt sich ohne zu fragen bei mir ein. Salut Vazaha. Wo der Luxemburger ist, interessiert sie nicht mehr. In Ambatoloaka, auf Nosy Be, setzt sich ein madagassisches Mädchen neben mich an den Tisch im Restaurant. Salut Vazaha. Sie bleibt mir den ganzen Abend auf den Fersen. Drei Wochen später steige ich in Sambava, eine Flugstunde von Nosy Bé entfernt, auf der Straße in ein Taxi. Drinnen sitzt bereits eine junge Dame. Salut Vazaha. Es ist das Mädchen aus Nosy Bé. In Tana treffen wir in einer Disco drei junge Madagassinnen. Sie kennen uns. Salut Vazaha. Sie haben uns in Fort Dauphin gesehen. Eine gute Flugstunde von Tana entfernt. Sie waren dort in Begleitung einiger Vazahas. Seit ein paar Tagen sind die Mädchen wieder zurück. Allein. Ihren Flug haben die Vazahas bezahlt. An der Küste in Diego-Suarez kommt in einer Bar eine junge Madagassin auf mich zu. Salut Vazaha. Sie ist hübsch. Sie fragt, wie lange ich bleibe. Ich sage, morgen fahre ich. Sie schweigt, lächelt, verabschiedet sich höflich und geht. Ich sehe sie nicht wieder. In Tana treffe ich in einem Hotel eine Merina, eine Madagassin vom Hochland. Salut Vazaha. Ich frage sie, ob sie sich mit mir zum Essen verabreden möchte. Sie sagt ja. Zu dem Treffen ein paar Tage später kommt sie nicht. Ich rufe sie an und frage, wo sie geblieben ist. Sie sagt, es schicke sich für eine Merina nicht, mit einem vollkommen Unbekannten auszugehen. La bonne In Fort Dauphin suche ich ein Zimmer. An der Rezeption des Hotels Libanona komme ich mit Aimée, einer Madagassin, ins Gespräch. Sie hat ein Haus aus Stein am Strand und bietet mir ein Zimmer an. Ich bin skeptisch, besich- Martin Roos Madagaskar tige es, willige ein. Nun wohne ich dort zur Miete. Das Zimmer ist schlicht möbliert, hat Vorhänge und einen Palisanderfußboden. Die Holztür mit den Glasfenstern führt zu einer kleinen Veranda hinaus, unter deren Dach der Wind des Indischen Ozeans pfeift und von der ich das Meer mit seinen tanzenden Gischtkronen sehe. Von der Veranda schaue ich hinunter auf die „Bonne“, das Hausmädchen, das an dem Brunnen die Wäsche wäscht. Die Sonne wärmt ihr die Stirn, die Augen, die nackten Füße. Seit Jahren arbeitet sie schon in diesem Haus. Fast jeden Tag kommt sie und macht die Wäsche. Für eine Stunde oder zwei. Und immer, wenn sie das letzte Hemd oder das letzte Tuch aufgehängt hat, setzt sie sich auf den Boden, in den Schatten, den die kleine Hütte neben dem Brunnen wirft, und streicht ihre bunte Schürze über den Beinen glatt. Sie sitzt und blickt hinaus aufs Meer. Immer nur für einen Augenblick. Ich kenne sie kaum. Wir sprechen so gut wie nie miteinander. Sie kann nur Madagassisch, und ich verstehe es nicht. Sie hat die Hände in ihren Schoß übereinander geschlagen und ihren Kopf an die Hütte gelehnt. Das fußhohe grüngelbe Gras weht im Wind. Die Luft ist bläulich milchig. Die Wellen streicheln die Wolken und der Himmel das Meer. Es ist nur ein Augenblick, doch ein Augenblick, so lang wie ein Tag. Irgendwo am Ende oder irgendwo am Anfang der Welt. Salut Vazaha. Misaotra – Danke Für Betreuung, Begleitung, Hilfe, Gespräche, Großzügigkeit und Freundschaft danke ich Erdmuthe Op de Hipt und der Heinz-Kühn-Stiftung, Friedrich Kramme-Stermose, Dominique Rakotomalala und der Friedrich-Ebert-Stiftung, Père Raymond Rambatoson s.j. und Père Pedro Opeka, Ellie Rajaonarison und Moks N. Razafindramiandra, Christian Chadefaux, Hubert Rauch, Gabi Kecker und Docteur Hantanirina Andrianasy, Bettina Fong Yam, Johnny Randrianaly und Franz Stadelmann, Aina und Vincent, Mina Falisoa, Pascal Lopez, Jessica Martin, Florian und Sophie Ageorges, James Redshaw und Florence Aimée Ravelomanana. Claudia Ruby aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Madagaskar vom 13 März bis 26 April 2000 Madagaskar Die Arche Noah brennt Von Claudia Ruby Madagaskar, vom 13. März bis 26. April 2000, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Claudia Ruby Madagaskar Claudia Ruby Inhalt Prolog Taxifahren bildet Rückblick auf enttäuschte Hoffnungen Die Arche Noah brennt Ökotourismus – die Rettung für den Wald? Es geht auch anders: Ambatolampy „Unsere Zukunft sind die Kinder“ Die Puppenspieler von Mahajanga Andasibe: Das erste Konzert im Wald Andasibe: Das zweite Konzert im Wald Sind Namen nur Schall und Rauch? Nosy Be – das Mallorca Madagaskars Wem gehört der Fisch? Unterwegs: Von Toliara nach Antananarivo Schluss und Dank 421 Claudia Ruby Madagaskar Prolog „Madagaskar ist ein reiches Land. Eine Arche Noah voller Naturschätze. Viele der Tiere und Pflanzen Madagaskars gibt es nirgendwo sonst auf der Welt...… – Madagaskar ist ein armes Land – eines der ärmsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung liegt bei 56 Jahren, die Kindersterblichkeit bei rund 16 Prozent...... – Wie passen der überschäumende Reichtum der Natur und die grenzenlose Armut der Menschen zusammen? Gibt es für die Madagassen keine Möglichkeit, Nutzen aus ihren Naturschätzen zu ziehen, ohne sie gleichzeitig zu zerstören?“ Mit diesen Fragen bin ich nach Madagaskar gereist. Und wohl ein bißchen auch mit der Überzeugung, zumindest einige Antworten schon zu kennen: Man muß doch nur die Wälder nachhaltig nutzen, den Ökotourismus besser organisieren.… – Aber das Ausmaß der Probleme hat mir viele Illusionen und einfache Antworten geraubt. Was ich gefunden habe, sind eher Fragen als Antworten. Taxifahren bildet Der erste Eindruck von der madagassischen Hauptstadt Antananarivo, kurz Tana, war ein kurzer Alptraum. Am nächsten Morgen um sechs Uhr ging schon der Flieger in den Süden Madagaskars, nach Mahajanga. Drei Tage habe ich das Figurentheater Salohy bei einer Tour durch verschiedene Dörfer begleitet: In kürzester Zeit ein unglaublich intensiver Einstieg in das madagassische Leben. Beim zweiten Mal ist Tana schon viel weniger erschreckend. Kann man sich wirklich so schnell an Armut und Elend gewöhnen? Oder ist einfach meine Einstellung zu Madagaskar eine andere geworden, seit ich mit Jim und seiner Truppe durch das Land gezogen bin? Einer der ersten Eindrücke von Tana sind die Verkehrsstaus. Jeder Bewohner der Hauptstadt kennt zumindest einen französischen Ausdruck: „Embouteillage“, das Wort für Stau. Die Zahl der Autos nimmt ständig zu. Eine Rush Hour gibt es nicht mehr, die Straßen sind beinahe den ganzen Tag verstopft. Zwischen den Autos laufen Kinder herum und versuchen Postkarten, Äpfel, Bananen, Vanille und andere Gewürze zu verkaufen. Die Luft ist schlecht, weiße T-Shirts sind nach ein paar Stunden braun. Jedes dritte oder vierte Auto ist ein Taxi, das auf der Suche nach Fahrgästen um die Häuserblocks kurvt. Für eine Fahrt innerhalb der Stadt zahlen „Vazaha – Weiße“ je nach Verhandlungsgeschick zwischen einer und vier Mark – ob man dann zehn Minuten oder eine Stunde unterwegs ist, spielt keine Rolle. Unzählige Stunden habe ich in zerbeulten und klappernden R4-Taxis verbracht und dabei viel über Stimmung, madagassische Politik und Mentalität Madagaskar Claudia Ruby gelernt. Wirklich ungewöhnlich war ein bestimmt 60-jähriger Chauffeur, der zwar fast keine Zähne mehr im Mund hatte, aber nahezu fehlerlos Schillers Glocke zitierte. Danach folgten weitere deutsche Gedichte über Rapunzel, Rhein und Loreley, die ich noch nie gehört hatte. Das alles hatte er vor mehr als vierzig Jahren in der Schule gelernt und – im Gegensatz zu den sonstigen deutschen Sprachkenntnissen – nie vergessen. Meist läuft das Taxigespräch nach einem festen Muster ab. Zunächst das „Woher und Wohin“ und dann die unvermeidliche Frage: „Wie gefällt Ihnen denn Madagaskar?“ Die Antwort ist schwierig, denn nahezu alle Madagassen schimpfen über die Lage im Land, über Korruption und Kriminalität, gleichzeitig lieben sie ihre rote Insel und strahlen, wenn ich von wunderschönen Nationalparks und netten Menschen schwärme. Nur sie selber dürfen kritisieren: Das die Politiker immer reicher und die Bevölkerung immer ärmer wird; dass die Preise für Brot und Benzin steigen, ihre Löhne aber nicht. Fast alle schimpfen, alle sind unzufrieden mit der Situation im Land. „Und, kann man dagegen nichts tun?“ Immer wieder habe ich diese Frage gestellt und meist nur ein einfaches „Nein, das ist eben so“ zur Antwort bekommen. Das eigene Schicksal muß man erdulden, verändern kann man es nicht. Schwer zu akzeptieren für eine deutsche Journalistin, aber mit einem Blick auf die jüngere madagassische Geschichte vielleicht doch zu verstehen. Rückblick auf enttäuschte Hoffnungen Als Wahl zwischen Pest und Cholera bezeichnen viele Madagassen die Abstimmung von 1996. Um das Amt des Staatspräsidenten bewerben sich der Amtsinhaber Albert Zafy und der ehemalige Diktator Didier Ratsiraka. Von 1975 bis 1993 hat Ratsiraka das Land gelenkt. In dieser Zeit wurden die meisten Betriebe verstaatlicht, Französisch als Amts- und Unterrichtssprache durch Malagasy abgelöst und etliche französische Unternehmer des Landes verwiesen. Die „sozialistisch-revolutionäre Charta“ des ehemaligen Marineadmirals Ratsiraka, basiert auf den Gedanken von Mao-Tsetungs und Kim Il-Sung. Seine Regierungszeit ist die Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Menschen hungern, die Analphabetenrate steigt und das Gesundheitssystem bricht zusammen. Die Unzufriedenheit im Land wächst – genauso wie die Demokratiebewegung. 1991 ziehen monatelang jeden Tag Hunderttausende von Demonstranten durch die Hauptstadt und fordern politische Reformen. Ein acht Monate dauernder Generalstreik legt fast das gesamte Land lahm. Alle Hoffnung richtet sich auf die Oppositionsbewegung und ihren Anführer, den Herzchirurgen Albert Zafy, der 1993 mit 67 Prozent der Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt wird. Ratsiraka geht ins französische Exil. Claudia Ruby Madagaskar Doch die großen Erwartungen der Bevölkerung werden schnell enttäuscht. Zafy ersetzt die Anhänger Ratsirakas in Verwaltung und Wirtschaft durch eigene Gefolgsleute. Die neue Elite ist völlig unerfahren. Sie nutzt die plötzliche Macht zur persönlichen Bereicherung: Amtsmißbrauch und Korruption nehmen zu. „Das Land versinkt in noch größerer Armut und Chaos“, schreibt Susanne Roessler in ihrem Reiseführer zur madagassischen Geschichte. Nach drei Jahren spricht das Parlament Zafy das Mißtrauen aus und setzt Neuwahlen an. Im Dezember 1996 kommt es zur Stichwahl zwischen Zafy und seinem Vorgänger Ratsiraka. Mit knapper Mehrheit holt die Bevölkerung den früheren Diktator aus dem französischen Exil zurück. Das sie ihn nur fünf Jahre zuvor unter größten Anstrengungen davon gejagt hat, spielt keine Rolle mehr. Ratsiraka hat inzwischen Abschied vom Staatssozialismus genommen und möchte Madagaskar nun zur ersten „humanistischen und ökologischen Republik“ der Welt machen. Die Bevölkerung ist indessen so politikmüde geworden, dass sie die Wandlung ihres Präsidenten kaum zur Kenntnis nimmt. Nur eine Lehre haben die Madagassen aus der Episode mit Albert Zafy gezogen: „In Zukunft wählen wir Politiker, die schon an der Macht sind“, erzählt mir unter anderem ein Taxifahrer. „Denn die haben ja schon für sich selbst gesorgt, und vielleicht tun sie dann irgendwann auch mal etwas für unser Land“. Die Arche Noah brennt Würde morgen eine Sintflut bevorstehen, müßte Noah seine Arche auf Madagaskar bauen. Nirgendwo sonst leben so viele einzigartige Tiere und Pflanzen: Alle Lemuren, 99 Prozent der Froscharten und 80 Prozent aller Blütenpflanzen Madagaskars, gibt es an keinem anderen Fleck der Erde. Noch immer werden neue Arten entdeckt, 1989 sogar ein neuer Halbaffe, der Goldene Bambuslemur. Doch viele Spezies werden aussterben, bevor sie je ein Mensch zu Gesicht bekommt, denn die einst grüne Insel geht in Flammen auf. Jedes Jahr im September und Oktober verdecken wochenlang schwarze Rauchwolken den Himmel. Es ist die Saison der „feu de brousse“, der Buschfeuer. Kurz vor der Regenzeit setzen die Bauern die trockene Savanne in Flammen. Die frische Asche düngt den Boden, und sobald die ersten Tropfen fallen, sprießt neues Grün: Weidegrund für die Zebu-Rinder. Den Madagassen sind ihre Buckelrinder heilig. Traditionell dürfen sie nur zu besonderen Anlässen getötet werden, zum Beispiel bei einer Totenfeier, als Opfer für die Ahnen. Die Zebus sind ein Zeichen von Reichtum. Das fast alle Rindviecher extrem mager und verhungert aussehen, spielt dabei keine Rolle. Je mehr Rin424 Madagaskar Claudia Ruby der ein Madagasse besitzt, umso angesehener ist er in der Dorfgemeinschaft. Und bei den Bara, einem Volksstamm im südlichen Hochland, müssen sich die jungen Männer vor der Hochzeit als Viehdieb bewähren. Erst danach werden sie als Männer anerkannt, erst danach dürfen sie heiraten. Die Zentralregierung in Tana versucht mit drakonischen Strafen gegen diesen Brauch vorzugehen, bislang jedoch erfolglos. Mittlerweile leben auf Madagaskar fast so viele Zebus wie Einwohner – etwa 10 Millionen. Die Rinder überweiden die dünne Grasnarbe, das Feuer gibt dem Boden den Rest. Die entblößte Erde wird mit dem nächsten Sturm davongetragen. Der Regen reißt Schlamm und Geröll mit ins Tal, so das dort die fruchtbaren Reisfelder versanden. Ist das Weideland nach einigen Jahren völlig ausgelaugt, ziehen die Bauern mit ihren Rinderherden weiter und brennen das nächste Stück Wald oder Savanne ab. Während meiner Zeit, im März und April, war noch alles grün. Doch auch so kurz nach der Regenzeit sind die Folgen der Brände nicht zu übersehen: Fingerförmig durchschneiden tiefe Erosionsrinnen die Hänge. „Lavaka“ nennen Madagassen die ziegelroten Wunden der Berge. Aus der „île verte“, der ehemals grünen Insel, wird so mit der Zeit eine verbrannte „île rouge“, eine rote Insel. Aber nicht nur der Wanderfeldbau und die Buschfeuer zerstören den Wald. Immer noch wird Tropenholz eingeschlagen – kleine Mengen legal, der Großteil illegal. Auch hochrangige Politiker verdienen an dem Geschäft mit den edlen Hölzern. Schon deshalb kommt es fast nie zu Verurteilungen. Trotz bestem Willen sind die Forstbehörden mit der Kontrolle komplett überfordert. In Morondava, im Westen Madagaskars, treffe ich Albert Zefania. Er hat in Göttingen Forstwissenschaft studiert und leitet heute für das Ministerium „Eaux et Fôret“ die regionale Forstbehörde. Im letzten Monat habe er vier Holzschmuggler festnehmen lassen, erzählt Monsieur Albert stolz. Doch er weiß, dass immer wieder Holzlaster ungesehen Edelhölzer, vor allem Palisander, aus dem Wald transportieren. Und auch Brandrodungen kann er nicht ganz verhindern. Zusammen mit vier Kollegen ist er für eine Fläche von 46.000 qm verantwortlich – etwa so viel wie das gesamte Bundesland Niedersachsen. Ein einziger Geländewagen steht den Forstkontrolleuren zur Verfügung. Und nur in der Provinzhauptstadt Morondava gibt es ein Telefon. Jedes Jahr gehen 2.000 Quadratkilometer Wald in Flammen auf. Das entspricht etwa der Fläche des Saarlandes. Wenn die Zerstörung so weitergeht, steht in 30 Jahren auf Madagaskar kein Baum mehr – so eine Rechnung der Weltbank. Appelle nutzen da wenig: Wer Hunger hat, denkt nicht an Naturschutz. Der Wald muß Profit bringen, nur dann hat er eine Chance. Claudia Ruby Madagaskar Ökotourismus – die Rettung für den Wald? Knapp zwei Prozent der madagassischen Wälder sind heute als Nationalpark geschützt. Früher hat die Bevölkerung dagegen protestiert, weil sie den Wald im Schutzgebiet nicht bewirtschaften darf. Regelmäßig brachen Feuer aus. Mittlerweile wächst die Akzeptanz, denn die Touristen lassen Geld in der Region. Allein der Parkeintritt kostet 50.000 Franc Malgache, etwa 17 Mark. Einheimische zahlen nur einen Bruchteil der Summe. Rund die Hälfte ihrer Einnahmen investiert die Nationalparkverwaltung ANGAP in kleine Projekte für die umliegende Bevölkerung. In Andasibe zum Beispiel, wird ein Krankenhaus gebaut und eine Landwirtschafts-Kooperative unterstützt. Ranohira baut mit den Einnahmen aus dem Tourismus eine Schule. Einige Dorfbewohner arbeiten als Führer im Nationalpark. Für eine Tagestour bekommen die Guides zwischen 15 und 30 Mark. Für Industriearbeiter wäre das ein halber Monatslohn. Doch die Einnahmen aus dem Tourismus fließen sehr unregelmäßig. Während der Regenzeit kommt manchmal wochenlang kein Mensch. Viele Straßen sind dann völlig unpassierbar. Der Touristenstrom konzentriert sich auf einige wenige der insgesamt 13 Nationalparks: Andasibe zählt die meisten Touristen, es folgen Isalo und Montagne d`Ambre. Nur wenige, hartgesottene Naturfans besuchen einsame Paradiese wie die Masoala-Halbinsel, den Ankarana-Regenwald oder das Andringitra-Gebirge. Touristische Infrastruktur gibt es dort kaum, die Parks sind abgelegen und nur schwer zu erreichen. Insgesamt reichen die Einnahmen aus dem Tourismus bei weitem nicht aus, um den Wald zu retten. Eigentlich sollte sich die Nationalparkverwaltung ANGAP bereits im letzten Jahr vollständig selbst finanzieren. Erreicht hat sie gerade einmal zehn Prozent Eigenfinanzierung. Um die Kosten für Unterhalt und Pflege der Parks zu decken, müßte sich die Besucherzahl verzehnfachen – von 80.000 auf 800.000 pro Jahr. Das ist unrealistisch und zumindest vorerst auch unmöglich, denn die touristische Infrastruktur würde einen solchen Ansturm nicht verkraften. Der Tourismus allein kann die Arche Noah also nicht retten. Zur Zeit finanziert das Ausland, vor allem die USA, den Unterhalt der Nationalparks. „Es geht ja schließlich um ein gemeinsames Erbe der Menschheit“, sagt Tom Erdmann vom WWF. Die Arche Noah kann Madagaskar nicht alleine erhalten. Doch ob die Mittel aus den USA und Europa wirklich kontinuierlich fließen, ist – zum Beispiel in wirtschaftlichen Krisenzeiten – mehr als fraglich. Nur knapp vier Prozent der madagassischen Wälder sind heute durch Tourismus und ausländische Gelder gesichert. Was aber wird aus den übrigen 96 Prozent außerhalb der Schutzgebiete? Madagaskar Claudia Ruby Es geht auch anders: Ambatolampy Nur zwei Stunden von Tana entfernt liegt das kleine Städtchen Ambatolampy im zentralen Hochland Madagaskars. Auf dem Weg dorthin fahren wir durch Reisterrassen und Gemüsefelder. Aber auch unzählige entwaldete Hänge liegen auf unserem Weg – eine Grassteppe mit einzelnen verkohlten Bäumen. Genutzt wird das Land nicht, obwohl der Boden im Hochland oft noch fruchtbar ist. Man könnte aufforsten, doch viele Projekte scheitern an den unklaren Besitzverhältnissen. Das Land gehört in Madagaskar entweder niemandem oder dem Staat. Privaten Grundbesitz gibt es kaum, ein Kathasteramt existiert nicht. Und genau das ist das Problem, denn niemand fühlt sich für das Land verantwortlich, niemand will investieren. „Die Bauern sind mißtrauisch“, erzählt Guido Besmer, Leiter des Forstprojekts von Ambatolampy. „Sie haben zu oft schlechte Erfahrungen gemacht“. Früher hat die Bevölkerung aufgeforstet, doch anschließend schickte der Staat fremde Konzessionäre in die Wälder. Die Bauern verlieren doppelt bei diesem Spiel: Sie werden nicht für ihre Arbeit bezahlt, und die Ernte fließt nicht in ihre, sondern in fremde Taschen. Kein Wunder, dass viele Landbewohner von Aufforstung heute nichts mehr wissen wollen. Ändern könnte das nur eine Landreform. Doch die ist in Madagaskar – wie in so vielen Entwicklungsländern – in weiter Ferne. Der Zentralismus läßt den Regionen keine Luft zum Atmen. Alles was die Forstbetriebe im Land erwirtschaften, fließt in einen nationalen Waldfond. Für den Forst und die Region sind die Gelder damit verloren. Zwar ist die Dezentralisierung mittlerweile offizielle Politik – verordnet durch die Geldgeber IWF und Weltbank. Doch vom Gesetz zur praktischen Umsetzung ist es ein weiter Weg. Das mußten die Madagassen kürzlich bei einer internationalen Tagung zur Gemeindewaldwirtschaft erfahren: „Sie haben zwar mit Abstand die fortschrittlichsten Gesetze“, sagt GTZ-Forstexperte Jürgen Gräbener, „hinken gleichzeitig aber am weitesten nach, mit der Umsetzung“. Seit 1997 soll ein neues Forstgesetz die nachhaltige Nutzung der Wälder fördern. Kernstück ist die sogenannte „Gestion Locale Securisée“, die GELOSE. Der Staat schließt Nutzungsverträge mit der Bevölkerung und tritt seine Rechte – zumindest teilweise – ab. Die Anwohner pflanzen, pflegen und ernten, zum Beispiel Holz, Medizinalpflanzen, Früchte und Honig. Dafür müssen sie dann im eigenen Gebiet nachpflanzen und sich an den Forstkontrollen beteiligen. Für Jürgen Gräbener ein vorbildliches Gesetz – allerdings mit einem entscheidenden Haken: „Es ist so kompliziert, dass es bisher keinen einzigen Vertrag gibt“. Der Abschied vom Zentralismus fällt beiden Seiten schwer: Dem Staat, der Geld und Einfluß verliert, aber auch den Regionen, die sich seit Generationen an den Obrigkeitsstaat gewöhnt haben. Claudia Ruby Madagaskar Trotzdem gibt es einige wenige Modellprojekte, die zeigen, wie die neue Forstpolitik in der Praxis aussehen könnte. Zum Beispiel die Forstunion Ambatolampy. Seit 1988 bewirtschaftet die Bevölkerung mit Hilfe der GTZ über 3.000 Hektar Staatswald in eigener Regie. Eine Hälfte ist intakter Naturwald, die andere Hälfte eine fast 30 Jahre alte Kiefernschonung. Ziel des Projektes ist es, den Wald zu erhalten und gleichzeitig die Versorgung der 18 umliegenden Dörfer zu sichern. In der Vergangenheit sind viele Entwicklungsprojekte fehlgeschlagen, weil sich die ausländischen Experten nicht um die eigentlichen Probleme der Bevölkerung gekümmert haben. Und die drehen sich eben nicht um Wald und Naturschutz, sondern um Landwirtschaft und Reisertrag. In Ambatolampy fließen deshalb mittlerweile 70 Prozent der Projektgelder in Landwirtschaft und Dorfentwicklung. „Das ist der beste Schutz für den Wald“, erklärt Projektleiter Guido Besmer. Bei einer Dorfversammlung entscheiden die Bewohner über ihre Prioritäten. Das Projekt stellt vor allem technische Berater zur Verfügung. Und dann werden Hecken gepflanzt, Fischteiche angelegt oder ein Sportplatz gebaut. „Und so sieht das Ergebnis aus“. Stolz steht Besmer am sogenannten Aussichtspunkt und blickt auf die geordnete Agrarlandschaft unter ihm: Reisfelder, Hecken als Erosionsschutz und Äcker, auf denen Süßkartoffeln, Mais, Maniok und Soja wachsen. Im Naturwald sammeln die Menschen Brennholz, Medizinalpflanzen und Früchte, die sie auf den lokalen Märkten verkaufen. Die lebenden Bäume sind tabu. Und das ist auch ökonomisch sinnvoll, denn der Zuwachs ist, wie in den meisten tropischen Wäldern, äußerst gering. Die Dorfbewohner können es sich leisten, den Urwald in Ruhe zu lassen, denn direkt nebenan steht eine Kiefernaufforstung aus den 70er Jahren. Die schnell wachsenden Exoten bringen heute Holz und Geld. Kontinuierlich wird nachgepflanzt, so das allmählich ein typisch europäischer Altersklassenwald entsteht. Im letzten Jahr hat die Forstunion 50 Millionen Franc Malgache Gewinn gemacht: Rund 17.000 Mark. Das klingt nicht viel, ist aber in Madagaskar ein kleines Vermögen. Die Aussichten für Ambatolampy sind gut. Doch ob das Projekt wirklich erfolgreich ist, zeigt sich erst, wenn sich die ausländischen Geldgeber zurückziehen. Die Nagelprobe für jedes Entwicklungsprojekt. Die Menschen müssen dann allein weitermachen, sagt Guido Besmer. Und das tun sie nur, wenn sie das Gefühl haben, dass es sich um ihren Wald und ihre Interessen handelt. Madagaskar Claudia Ruby „Unsere Zukunft sind die Kinder“ Jahrhundertealte Traditionen, wie Brandrodung oder Zebukult, ändern sich nur langsam. Besonders in einem Land, das so mit seiner Geschichte und seinen Ahnen verbunden ist wie Madagaskar. Doch die Zeit wird knapp für die Arche Noah im Indischen Ozean. Deshalb setzt der „World Wide Fund for Nature“, WWF, seit mittlerweile 14 Jahren auf die Kinder. „Sie entscheiden über unsere Zukunft“, sagt Bildungsreferentin Aimée Rabodomalala. An den Schulen hat der WWF quasi die Umwelterziehung übernommen. Im Auftrag der Regierung entwickelt er Unterrichtsmaterial und kümmert sich um die Fortbildung der Lehrer. Besonders stolz ist Aimée Rabodomalala auf das Schulbuch „Ny Voary“. Über drei Millionen Exemplare wurden gedruckt, fast alle Schulen arbeiten damit. Zum ersten Mal gibt es ein solches Buch auf malagasy, erklärt sie: „Wir haben gemerkt, dass es wichtig ist, die Botschaften in der Muttersprache zu übermitteln“. Noch vor wenigen Jahren mußten madagassische Kinder die Entwicklung von der Kaulquappe zum Frosch am Beispiel der europäischen Erdkröte lernen. Über einheimische Arten gab es einfach kein Lehrmaterial. Mittlerweile ist das anders: Dank „Ny Voary“ erfahren zum Beispiel auch die Kinder aus dem Hochland, welche wichtige Funktion die Mangrovensümpfe an der Küste haben. Es gibt ein Kapitel über die faszinierenden Dornenwälder im Süden Madagaskars und Abbildungen von einheimischen Tieren und Pflanzen. „Die Kinder sollen aber nicht nur lernen, sondern auch praktisch etwas für den Schutz der Umwelt tun“, erklärt Madame Aimée. Überall im Land entstehen Ableger des „Club Vintsy“. Es gibt bereits über 50 dieser Umweltgruppen. Mitglieder sind vor allem Schulklassen, aber auch Vereine und sogar ganze Militäreinheiten. Die kleinen Umweltschützer engagieren sich für das Grün in ihrer unmittelbaren Umgebung. Zum Beispiel in der Grundschule in Fianarantsoa: Wie überall, toben in der großen Pause die Kinder über den Schulhof. Einige jedoch schleppen kleine Gießkannen, andere harken die bunten Blumenbeete. „Früher war das hier ein öder und trockener Platz“, erzählt die Lehrerin Marie-Claire Ravaoarisoanandrasana. Doch dann haben die Kinder angefangen, Blumen zu pflanzen und Gemüse anzubauen. Die Ernte wird verkauft und der Erlös wieder in das Projekt investiert. „Wir pflanzen aber auch Bäume“, erzählt Madame Marie-Claire und zeigt stolz auf einen begrünten Hügel am Stadtrand. Im letzten Jahr haben die Kinder ein Theaterstück aufgeführt, in dem es um Müll und die Umweltprobleme einer Großstadt ging. Und die Pflanzaktion „un enfant, un arbre – ein Kind, ein Baum“ ist mittlerweile im ganzen Land bekannt. Alle drei Monate erscheint mit Unterstützung des WWF das Umweltmagazin „Vintsy“. Mit einer Auflage von 25.000 ist es mittlerweile im ganzen Land Claudia Ruby Madagaskar bekannt. Namenspate und Maskottchen der „Vintsys“ ist übrigens ein kleiner bunter Eisvogel, den es nur auf Madagaskar gibt. „Die Arbeit der Jugendlichen hat Erfolg“. Davon ist Madame Aimée fest überzeugt. Das Umweltbewußtsein bei den Jugendlichen habe stark zugenommen. „Und was die Jungen lernen, kommt irgendwann auch bei den Erwachsenen an“, sagt sie. „Bei uns lernen die Eltern von ihren Kindern“. Positive Trends – allerdings vor allem an den städtischen Schulen. Auf dem Land kommt vieles nicht an, was in der Stadt bereits selbstverständlich ist. Viele Eltern schicken ihre Kinder erst gar nicht zur Schule. Die Kleinen werden auf dem Feld und zum Holzsammeln gebraucht. Aber auch qualifizierte Lehrer sind auf dem Land Mangelware. „Wir brauchen dringend einen Englischlehrer“, sagt die Direktorin der staatlichen Schule in Maevatanana, einem kleinen Ort im Süden Madagaskars. Schon vor Monaten hat sie in der Hauptstadt einen Antrag gestellt. Doch bis jetzt ist nichts passiert. Ursachen gibt es viele: In Maevatanana ist es fast immer drückend heiß. Es gibt keinen Strom und kein Telefon. Kaum ein Lehrer will unter solchen Bedingungen arbeiten. Vor allem in ländlichen Regionen sinkt deshalb die Alphabetisierungsrate seit Jahren. Die Puppenspieler von Mahajanga „Schöne Matata“, säuselt Mino und umwirbt seine Frau. Doch sie weist ihn immer wieder ab. „Nicht noch ein Kind,“ sagt sie. „Ein Baby trage ich noch im Arm und das nächste schon im Bauch. Das kann ich nicht schaffen“. Für Mino sind viele Kinder jedoch der „Segen des Herrn“. Der Streit zwischen Matata und ihrem Mann ist ein alltäglicher Konflikt in vielen madagassischen Familien. Doch dieses Mal wird er öffentlich auf dem Marktplatz von Maevatanana ausgetragen. Das Figurentheater „Salohy“ ist zu Gast in der 10.000Seelengemeinde zwischen Mahajanga und der Hauptstadt Antananarivo. Fast der ganze Ort hat sich versammelt – Kinder, junge Mütter, ältere Männer und Frauen. Alle verfolgen gespannt das Geschehen auf der Bühne: Was werden Mino und Matata tun? Mit elegantem Hüftschwung betritt Mamatsenga die Bühne. Die hübsche junge Madagassin weiß Rat: „Geht ins Gesundheitszentrum und lasst euch über Familienplanung beraten“, empfiehlt sie. „Mamatsenga, Mamatsenga“, jubeln die Kinder und klatschen. Diese Puppe lieben sie ganz besonders. „Die Figuren sind unser Weg in die Herzen der Zuschauer“, sagt Jim Rakotoherinaina. Er ist der Kopf der Theater-Truppe, die 1996 als Teil des GTZGesundheitsprojektes im Norden Madagaskars entstand. Die Puppen tanzen und lachen, aber sie sprechen auch über Themen, die eigentlich Tabu sind, zum Beispiel über Sexualität. In der madagassischen Kultur haben Puppen etwas magi- Madagaskar Claudia Ruby sches, erklärt Jim. „Viele Menschen glauben, dass sie mit den Ahnen in Verbindung stehen und besonders weise sind“. Ratschläge würden deshalb eher angenommen, wenn sie von den „Poupées magiques“ kämen. Tatsächlich ist das Wissen über Familienplanung und Verhütung gerade im ländlichen Bereich extrem gering. Nur rund zehn Prozent der Familien benutzen moderne Kontrazeptiva. Umfragen haben jedoch ergeben, dass etwa dreimal so viele gerne verhüten würden. „Familie und Traditionen stehen im Weg“, so die Ethnologin und GTZ-Expertin Elisabeth Girrbach. Oft mangele es auch ganz einfach am Zugang zu Verhütungsmitteln und an Informationen. Und dagegen wollen die sechs Puppenspieler vom „Salohy-Theater“ etwas tun. Seit vier Jahren ziehen sie durch Mahajanga, die zweitgrößte Provinz Madagaskars. Sie spielen Theater und informieren beinahe nebenbei über Gesundheitsvorsorge, Hygiene, Impfungen, Familienplanung und die Arbeit der Gesundheitszentren. Mit Unterstützung der GTZ sind in der Region 65 neue Stationen für die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung entstanden. Auch Mino und Matata versöhnen sich schließlich und gehen gemeinsam zur Beratung. Im Gesundheitszentrum wartet schon die „Sage Femme“. Die Puppe im weißen Kittel zeigt dem Paar – und den gebannt zuhörenden Dorfbewohnern – eine ganze Palette von Verhütungsmitteln. Auf einem großen Strohtablett kleben Spirale, Pille, Dreimonats-Spritze, ein Hormon-Implantat und Kondome. Bei Madagassinnen ist die Dreimonats-Spritze besonders beliebt. 60 Prozent der Frauen, die verhüten, entscheiden sich für die Spritze. „Sie hat ein positives Image, ist bequem und vor allem müssen Ehemann und Familie davon nicht unbedingt etwas mitbekommen“, sagt die Ärztin Huguette Rabenitany. Gerade Männer stehen der Familienplanung noch immer skeptisch gegenüber. „Sie sind eifersüchtig und haben Angst, dass ihre Frauen durch die Pille zu unabhängig werden“, vermutet Doktor Rabenitany. Auf der Bühne geht das Spiel weiter: „So funktioniert das“, demonstriert die „Sage Femme“ und streift das Kondom über einen Holzpenis. Einige Jugendliche im Publikum kichern verschämt, aber alle sind voll bei der Sache. „Das schützt doppelt“, erklärt sie, „ihr werdet nicht schwanger und bekommt keine Geschlechtskrankheiten“. Vor allem Gonorrhoe und Syphilis sind in Madagaskar weit verbreitet. Aber auch AIDS ist auf dem Vormarsch. Zwar gibt es keine Pandemie, wie auf dem afrikanischen Kontinent, doch die Zahl der Fälle steigt von Jahr zu Jahr. Das nächste große Problem sind ungewollte Schwangerschaften. Sechs Kinder pro Familie sind normal, die Bevölkerung wächst jährlich noch immer um drei Prozent. Viele Madagassinnen bekommen schon mit 14 Jahren ihr erstes Kind, und wegen der mangelnden medizinischen Versorgung sterben noch immer viele Frauen infolge einer Geburt. Können die Puppenspieler dagegen tatsächlich etwas ausrichten? Kommt ihre Botschaft überhaupt beim Publikum an? Oder genießen die Menschen Claudia Ruby Madagaskar einfach nur die Abwechslung im dörflichen Alltag? Jim will es genau wissen. Zum Programm gehört deshalb das Gespräch mit den Zuschauern: „Habt ihr verstanden, was die „Sage Femme“ erklärt hat? Gibt es noch Fragen?“ Ein junges Mädchen möchte wissen, ob man von der Pille Krebs bekommt. Es kursieren viele Gerüchte, weiß Jim. Immer wieder wird er damit konfrontiert. Einige glauben zum Beispiel, dass die Weißen – die „Vazaha“, wie sie in Madagaskar heißen – mit Verhütungsmitteln die schwarze Bevölkerung ausrotten wollen. „Einige Dorfvorsteher wollen uns nicht auftreten lassen, weil sie glauben, dass unsere Botschaft gegen die Religion verstößt“, sagt Jim. In solchen Fällen leistet er geduldig Überzeugungsarbeit. Manchmal hilft auch eine Einladung zum Essen und Trinken. Doch so etwas kommt nur selten vor. Die meisten Bürgermeister sind stolz, dass „Salohy“ in ihren Ort kommt. „Trotzdem ist unsere Arbeit hart“, sagt Virginie Hantananahary. Sie spielt die Puppe Mamatsenga. Bei manchen Tourneen sehen die drei Frauen und drei Männer tagelang weder Bett noch Dusche. „Wir schlafen auf Matten am Boden und werden von Moskitos zerstochen“, erzählt Virginie. Aber gerade für die Menschen im Busch ist das „Salohy-Theater“ wichtig. Sie haben sonst kaum Zugang zu Informationen. Es gibt weder Zeitung, noch Radio oder Fernseher. „Alle sind wirklich begeistert, wenn sie die Puppen sehen“, sagt Jim, „und das entschädigt uns für vieles“. Die Kinderaugen strahlen, und auch Erwachsene denken beim Spiel wenigstens zwei Stunden nicht darüber nach, woher der Reis für den nächsten Tag kommen soll. Früher war Jim Schauspieler und Musiker. Das Figurentheater hat er von dem deutschen Puppenspieler Gregor Schwank gelernt. „Erst jetzt habe ich das Gefühl, etwas nützliches für mein Vaterland zu tun“, sagt Jim Ob er wirklich glaubt, dass die Puppen das Verhalten der Menschen ändern können? Jim weiß es nicht. Auf jeden Fall lernen die Menschen bei der Aufführung etwas über Sexualität und Familienplanung. Das hat eine Untersuchung der GTZ ergeben. Ein erster Schritt, findet Elisabeth Girrbach, doch auch sie weiß, dass zwischen Wissen und Handeln oft noch ein weiter Weg liegt. Für die sechs Darsteller ist das Figurentheater mittlerweile zum Hauptberuf geworden. Die GTZ ist längst nicht mehr ihr einziger Auftraggeber. Für eine städtische Behörde haben sie ein Stück über Abfallentsorgung geschrieben. Zu den Auftraggebern gehören UNICEF, die französische Entwicklungszusammenarbeit und andere internationale Organisationen. Wenn das Gesundheits-Projekt ausläuft, soll die Theatergruppe selbständig überleben können. Eine große Hilfe auf dem Weg dahin ist ihre Anerkennung als weltweites Expo-Projekt. Im August werden die „Poupées Magiques“ nach Hannover reisen. In der Afrika-Halle und auf der Bühne des „One World Café“ sind Auftritte geplant. Seit Wochen basteln die Spieler dafür besonders schöne Figuren in traditioneller madagassischer Kleidung. Die Reise empfinden Jim, Virginie und die anderen als Belohnung für all ihre Mühen und Madagaskar Claudia Ruby Strapazen im madagassischen Busch. Sie hoffen, dass der Expo-Auftritt ihre Gruppe auch in Madagaskar noch bekannter macht. Trotzdem haben sie auch Angst. „Wir haben gehört“, sagt Jim, „dass das deutsche Publikum ganz besonders kritisch ist“. Andasibe: Das erste Konzert im Wald Biologen sind nach Entwicklungshelfern wohl die häufigsten Besucher Madagaskars. Überall trifft man sie: Insektenforscher, Primatologen, Herpetologen, Botaniker. Ihr Mekka ist der Nationalpark Andasibe, auf halber Strecke zwischen der Hauptstadt Antananarivo und der Ostküste gelegen. Die Fahrt von Tana dauert etwa zwei Stunden. Im Hochland geht es durch ausgedehnte Reisfelder. Je näher wir der Küste kommen, umso wärmer wird es. Zunächst wächst vor allem Eukalyptus rechts und links der Straße, aber allmählich verändert sich der Wald: Er wird üppiger, wilder und immer undurchdringlicher. Der Nationalpark bei Andasibe ist zwar einer der kleinsten Madagaskars, aber er gilt als der artenreichste. Die spektakulärsten Bewohner sind die Indris, die größten Lemuren Madagaskars. Wer sie sehen und vor allem hören möchte, muss früh aufstehen. Um sechs Uhr morgens treffen wir Julien Ramakutusile auf einem kleinen Parkplatz am Waldrand. Im Nationalpark dürfen sich Besucher nur in Begleitung einheimischer Führer bewegen. Zielsicher klettert Julien die schmalen Pfade entlang und tatsächlich, nach einer halben Stunde knackt es über uns im Geäst. In drei Meter Höhe sitzt ein schwarz-weißes Fellbündel. Der Indri pflückt hier und da ein paar Blätter ab, steckt sie in den Mund und kaut genüßlich darauf herum. Ein zweiter Halbaffe springt mit großen Sätzen von Baum zu Baum. Auf dem Rücken klammert sich ein Junges fest. „Indris bekommen nur alle zwei Jahre Nachwuchs“, erklärt uns Julien. Bis die Jungen fünf Jahre alt sind, bleiben sie bei ihren Eltern, dann suchen sie sich ein eigenes Revier. Wir sind so begeistert von den Lemuren, dass wir gar nicht gemerkt haben, dass die Gruppe hinter uns immer größer geworden ist. Mit zwei weiteren Führer sind eine englische Familie und ein französischer Urlauber eingetroffen. Und so stehen morgens um sieben, acht europäische Besucher mit drei Madagassen im Wald von Andasibe und beobachten die Indris. Die Kameras klicken, und mit dem Mikrofon im Anschlag warte ich auf das eigentliche Spektakel: Den Gesang der Indris. Das Wetter ist trübe, wohl deshalb sind die Tiere heute ungewöhnlich spät. Aber schließlich ertönt in einiger Entfernung leises Geheul. Über unseren Köpfen hören die Indris auf zu fressen, und dann antworten sie. Markerschütternd, wie eine Sirene, klingen ihre Rufe. Jeden Morgen verständigen sich die verschiedenen Gruppen miteinander und grenzen so ihre Territorien ab. Nach etwa fünf Minuten ist die Claudia Ruby Madagaskar Vorführung beendet. Die Indris knabbern weiter ihre Blätter, und wir machen uns auf den Rückweg. Unterwegs erzählt uns Julien noch eine der unzähligen Sagen und Legenden der Insel: Noch immer jagen viele Madagassen Lemuren für den Kochtopf. Nur die Indris sind tabu oder „fady“, wie das auf malagasy heißt. Und das hat seinen Grund, denn bei den Madagassen heißen die größten Lemuren „Babakoto“. Baba bedeutet Vater und Koto war sein Sohn. Eines Tages ging der junge Koto mit seinem Vater in den Wald um Honig zu sammeln. Sie kamen nicht zurück, und bei der Suche fanden die Dorfbewohner nur zwei Indris – einen alten und einen jungen, die neugierig von einer Astgabel auf sie herabblickten. Die beiden Honigsammler mussten sich in Indris verwandelt haben. „Deshalb werden Indris nicht gegessen“, erklärt Julien, „wer dagegen verstößt, stirbt oder hat einen Unfall“. Andasibe: Das zweite Konzert im Wald Die zweite Exkursion, ganz in der Nähe des Nationalparks von Andasibe, beginnt kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Der abendliche Platzregen ist gerade vorüber. Von den Blättern tropft noch das Wasser. Im Dschungel dampft es wie in einer Waschküche. Ich bin mit dem deutschen Biologen Frank Glaw unterwegs. Er ist Systematiker und an der Zoologischen Staatssammlung in München zuständig für Amphibien, Reptilien und Fische. Sein Spezialgebiet sind die Frösche Madagaskars. Langsam waten wir einen tropischen Bachlauf entlang. Nachts ertönt im Regenwald ein faszinierendes Konzert: Grillen zirpen, Frösche quaken, ab und zu heulen Lemuren und Eulen. In einiger Entfernung rauscht ein Wasserfall. Glaws volle Aufmerksamkeit gilt den Fröschen. Hunderte von Tieren quaken gleichzeitig. Sie sitzen im Wasser, am Boden, unter der Erde und etliche quaken hoch oben in den Bäumen. Die meisten Stimmen kennt der Forscher, doch plötzlich: Ein krächzendes krok, krok, krok. Wie angewurzelt bleibt er stehen und knipst die Taschenlampe aus. Irgendwo im Blätterwald über uns sitzt ein unbekannter Frosch und quakt. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Geräusch. Ganz allmählich wird das Quaken lauter. Der Biologe packt sein Mikrofon aus und drückt die Aufnahmetaste. Die Stimme hat er auf Band, doch jetzt gilt es, genau diesen Frosch zu fangen. Mit der einen Hand knipst er die Taschenlampe an, mit der anderen greift er blitzschnell zu. Geblendet und starr vor Schreck landet der Frosch in einer Plastiktüte. Bei Fröschen ist die Stimme ein eindeutiges Erkennungszeichen. Die Männchen locken durch lautes Quaken nur die arteigenen Weibchen an. Verwechslungen darf es nicht geben. Bei ihrer Arbeit achten die Systematiker deshalb ver- Madagaskar Claudia Ruby stärkt auf die Stimme. Gerade bei nachtaktiven Gruppen explodiert seither die Artenzahl, zum Beispiel bei Fröschen, Eulen und sogar bei Lemuren. Allein auf Madagaskar hat Frank Glaw in den letzten Jahren über 60 neue Froscharten entdeckt. Der Nationalpark Andasibe gilt als sogenannter Hot-Spot der Artenvielfalt. Auf kleinstem Raum quaken hier über 100 verschiedene Froscharten. Manche sind knallgrün mit großen, goldenen Augen, andere gelb mit kleinen, roten Punkten, roten Fingerspitzen und einer durchsichtigen Bauchdecke, so das man Herz und Gefäße pulsieren sieht. Andere tragen lauter kleine Stacheln. Sie sehen aus wie grüne Igel. Nach etwa vier Stunden ist die nächtliche Froschsuche beendet. Zerkratzt und zerstochen kehren wir in die kleine Bungalowanlage „Feon ny yala“ zurück, was sinnigerweise „Stimme des Waldes“ bedeutet. Für den Biologen geht die Arbeit jetzt erst richtig los. Die Ausbeute sind nur fünf Tiere, doch entscheidend ist nicht die Menge, sondern die Qualität des Fangs. „Je mehr Informationen, desto besser“, sagt Frank Glaw und notiert akribisch alles, was er über den Lebensraum der Tiere weiß. Am nächsten Tag ist Fototermin. In möglichst natürlicher Umgebung knipst er die Frösche von allen Seiten. Zwar ist die Zeit der großen Sammelreisen mittlerweile vorbei, doch zwei Tiere von jeder neuen Spezies werden auch heute noch in Alkohol eingelegt: Belegexemplare für das Museum in Deutschland und für die Universität in Antananarivo. Ob es sich bei dem nächtlichen Fang tatsächlich um eine neue Art handelt, entscheidet erst die Computeranalyse in Deutschland. Aus den Tonaufnahmen wird Glaw sogenannte Sona- und Oszillogramme erstellen. Für den Laien sind die Klangbilder ein wildes Gekritzel, der Bioakustiker aber redet begeistert über Frequenzen, Ruflängen und Intervalle. Am Sonagramm kann er den neuen Froschruf exakt vermessen. Nur wenn sich auch hier deutliche Unterschiede zu bereits bekannten Vertretern ergeben, handelt es sich wirklich um eine neue Art. Sind Namen wirklich nur Schall und Rauch? Für Biologen und Naturfreunde in aller Welt ist Madagaskar ein Paradies, eine Insel der Superlative: Einzigartig sind die Lemuren. Aber auch die Hälfte aller Chamäleonarten der Welt leben nur auf Madagaskar. Von den beeindruckenden Baobabs, den Affenbrotbäumen, kommen sieben der insgesamt acht Arten auf dem Minikontinent vor der afrikanischen Küste vor. Und während in ganz Europa 14 verschiedene Froscharten quaken, sind es in Madagaskar über 200. Doch Artenvielfalt kann man nicht essen. Der grüne Schatz in den Wäldern ist für die Menschen vor Ort oft nur wertlose Wildnis. Daran möchte der Anfang des Jahres gegründete Verein Biopat etwas ändern. Hinter Biopat ste- Claudia Ruby Madagaskar hen die GTZ, sowie die großen zoologischen Museen in Deutschland – Alexander Koenig in Bonn, Senckenberg in Frankfurt und die Zoologische Staatssammlung in München. Gegen eine Spende von 5.000 Mark vermittelt der Verein Namenspatenschaften für neu entdeckte Arten. Weltweit tragen alle Spezies einen einheitlichen Vor- und Nachnamen. Der Vorname gibt die Gattung an und steht meist durch verwandtschaftliche Beziehungen fest. Den Nachnamen können Wissenschaftler, die eine neue Art beschreiben, frei wählen. Ein tennisbegeisterter Zoologe zum Beispiel, hat eine Meeresschnecke auf den Namen Bufonaria borisbeckeri getauft. „Fast alles ist möglich“, sagt Frank Glaw von Biopat. „Die Namenspaten können ein ewiges Zeichen in den wissenschaftlichen Annalen setzen“. Mit den Geldern will Biopat Forschung fördern und Naturschutz betreiben. Etwa die Hälfte der Spenden erhalten die Wissenschaftler, die eine neue Art beschreiben. Die andere Hälfte soll in die Ursprungsländer der neuen Arten fließen. Der Verein will Flächen aufkaufen, Nationalpark-Ranger bezahlen und die Forschung vor Ort fördern. In Madagaskar sucht Glaw nach geeigneten Projekten: „Wir werden nicht den ganzen Wald erhalten können“, erklärt er. „Es geht darum, die Sahnestückchen unter Schutz zu stellen“. Doch dazu müssen die Forscher wissen, welche Gebiete besonders wertvoll sind. Sie müssen die sogenannten Hot-Spots der Artenvielfalt kennen. Mit Hochdruck werden deshalb die madagassischen Wälder inventarisiert. Doch die Mittel an den Universitäten sind knapp. Manchmal fehlt den Wissenschaftlern selbst das Spritgeld, um 100 Kilometer weit in den nächsten Nationalpark zu fahren. „Uns helfen schon kleine Summen“, sagt der Amphibienkundler Angelo Razafimanantsoa. Biopat steht noch ganz am Anfang, doch allmählich fließen die Spendengelder. In den ersten drei Monaten konnten bereits zwölf Namenspatenschaften vermittelt werden. Auch Biopat wird die madagassischen Wälder nicht retten können. Doch viele solcher Projekte leisten einen kleinen Beitrag. Die Artenvielfalt bekommt auch einen ökonomischen Wert. Nosy Be – das Mallorca Madagaskars Nosy Be gilt als die Ferieninsel Madagaskars. Aber offenbar habe ich nicht die Touristensaison erwischt, denn die meisten Plätze in der kleinen Maschine von Tana nach Nosy Be sind leer. Auf dem Flughafen Fascène empfängt mich tropisch-schwüle Luft und ein süßlicher Geruch. Später, auf der Fahrt in die Hauptstadt Andoany, von den Franzosen Hell Ville genannt, wird der Duft immer stärker. Wir fahren durch ausgedehnte Ylang-Ylang-Plantagen. Aus den gelben Blüten der üppig wuchernden Bäume wird die Essenz für Madagaskar Claudia Ruby besonders edle Parfums gewonnen. Ylang-Ylang-Duft gilt als sinnlich und erotisch. Am Sonntag Nachmittag sind die Straßen von Hell Ville fast menschenleer – von mallorquinischen Verhältnissen keine Spur. Und auch die vielgepriesene „touristische Infrastruktur“ hat so ihre Lücken: Toilettenpapier und Benzin sind zur Zeit knapp auf Nosy Be. Vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen. Manche Taxen bleiben ohne Sprit auf der Straße liegen. Die Natur auf Nosy Be ist traumhaft: Üppiges Grün, traumhafte Strände und ein wunderbar blaues Meer. An die unangenehme Seite des Tourismus erinnern die wenigen Hotelgäste am Strand von Ambondrona: Ältere Herren mit schweizer Dialekt, begleitet von sehr jungen, knapp bekleideten Madagassinnen. Nosy Be entwickelt sich seit einiger Zeit zu einer neuen Hochburg für den internationalen Sextourismus. Anders als in Thailand oder Kenia ist AIDS noch relativ selten. Doch die Zahl der Fälle steigt. Ich bin nach Nosy Be gekommen, um mir das Fischereiprojekt der GTZ anzusehen. Die Westküste Madagaskars gilt als besonders fischreich, trotzdem leben viele Fischer am Rande des Existenzminimums. Mit ihren Pirogen müssen sie im unmittelbaren Küstenbereich fischen, und ihren Fang können sie nur schlecht verkaufen. Es gibt keine Kühlkette. Transport und Vermarktung sind schlecht organisiert. Immer mehr Fischer geben auf und wandern in die großen Städte ab. Endstation der Reise sind allzu oft die Slums von Tana, Diego oder Mahajanga. Die GTZ organisiert deshalb seit 12 Jahren im Hafen von Andoany ein Ausbildungszentrum für Fischer, das „Centre de Formation des Pêcheurs“, CFP. In zweiwöchigen Kursen lernen die Küstenfischer mit modernen großmaschigen Netzen zu arbeiten. Es geht um nachhaltige Fangtechniken und biologische Grundlagen, wie den Lebenszyklus verschiedener Fischarten. Außerdem stehen Navigation, Fischverarbeitung und Vermarktung auf dem Programm. Gerne hätte ich mir einen solchen Kurs angesehen, doch in diesem Jahr – es war mittlerweile Ende April – hat noch kein Kurs stattgefunden, und auch im vorigen Jahr gab es lediglich zwei Ausbildungsgänge. Der Grund: Es fehlt nahezu alles, was man für die Ausbildung braucht – Netze, Haken und Schwimmer zum Beispiel. Die Stimmung ist entsprechend schlecht. „Ich kann nichts tun“, klagt Alain Michel, der die Ausbildung organisiert, „das tut in der Seele weh“. Beinahe täglich wird er von Fischern gefragt, wann es denn weitergeht“. Allmählich verlieren wir das Vertrauen der Leute“, sagt er, und man sieht ihm an, wie schwer es ihm fällt, die Kollegen immer wieder zu enttäuschen. Da spielt es schon fast keine Rolle mehr, ob nun das Material zu spät bestellt wurde oder ob sich die Auslieferung durch den madagassischen Zoll dieses Mal besonders lange hinzieht. Weil zur Zeit keine Kurse stattfinden, steht am nächsten Tag ein Ausflug in das Fischerdorf Antafiambotry auf dem Programm. Zwei Stunden fahren wir Claudia Ruby Madagaskar mit dem Motorboot zu der Halbinsel Nosy Faly. Am Strand entladen einheimische Fischer gerade ihre Piroge. Die Netze sind prall gefüllt mit kleinen Fischen. Es ist die Saison der Rastrelinge, einer Makrelenart. Das 500-Seelendorf lebt beinahe vollständig vom Fischfang. 1993 haben 20 Fischer einen Kurs des CFP mitgemacht. Das Gelernte geben sie an ihre Kollegen weiter. Bei den meisten Fischern steigen die Erträge, seit sie mit neuen Netzen und modernen Methoden fischen. Einige konnten sich schon bald einen kleinen Außenbordmotor für ihre Pirogen leisten. Vor zwei Jahren hat der Fischer Said mit einem Projektkredit sogar ein eigenes Motorboot finanziert. In weiteren zwei Jahren wird er das Darlehen zurückgezahlt haben. Stolz zeigt uns Said sein Haus. Die Holzhütte steht auf einem Betonsockel. Er hat Geschirr gekauft und Kleider für sich und seine Frau. „Said ist unser Vorzeigefischer“, sagt Alain Michel, „ein Vorbild für das ganze Dorf“. Michel strahlt, denn jetzt weiß er wieder, wofür er eigentlich arbeitet. Said hat es geschafft, doch nun braucht er dringend ein neues Netz. Das alte hat er schon unzählige Male geflickt. Doch die GTZ-Mitarbeiter müssen ihn wieder vertrösten. Niemand weiß, wann das Material endlich aus dem Zoll kommt. Während ich mich mit Said unterhalte, bereitet seine Frau das Mittagessen vor. In der Nacht haben die Fischer ein Prachtexemplar aus der Familie der Carangidae gefangen. Der Fisch wird über dem offenen Feuer gegrillt, dazu kommen Reis und etwas Gemüse auf den Tisch. Besser kann es in keinem Luxusrestaurant schmecken! Beim Essen erzählt Said von den Sorgen der Fischer. Denn nicht nur der Zoll, auch die industrielle Konkurrenz machen ihm und seinen Kollegen zu schaffen. Wem gehört der Fisch? Said erzählt die Geschichte von seinem Kollegen Luc: Es hätte eine gute Nacht werden können. Als Luc die Küste Madagaskars hinter sich lässt, steht der Neumond schon als schmale Sichel am Himmel. Mit seiner Piroge segelt er aufs offene Meer hinaus. Bald wird es stockfinster sein, optimal zum Fischen. Wie unzählige Male zuvor, wird Luc die Nacht auf dem Wasser verbringen. Nur 100 Meter von der Küste entfernt bringt er sein Stellnetz aus. Der Fischer zündet eine Signallampe an und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen will er mit einem prall gefüllten Netz zu seiner Familie zurückkehren. Doch in dieser Nacht kommt alles anders. Kurz vor Mitternacht ertönt ein lauter Schiffsmotor. Wenige Minuten später, ein kräftiger Rums. Die Piroge wankt, bricht und versinkt im Meer. Alles was Luc besitzt, verliert er in dieser Nacht: Sein Boot und das wertvolle Netz. Ein Krabbenkutter des madagassisch-französischen Konsortiums „Pêcheries de Nosy Be“ hat das kleine Fischerboot gerammt. Madagaskar Claudia Ruby Luc ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es zu solchen Unfällen – nicht nur vor der Küste Madagaskars. Überall in den Tropen dringen Industrieschiffe – meist fahren sie unter ausländischer Flagge – in die Fanggründe der einheimischen Küstenfischer ein. Manchmal enden die Kollisionen sogar tödlich. Erst im letzten Jahr sei in der Nähe von Mahajanga ein Fischer bei einem solchen Unfall ertrunken, erzählt Alain Michel. „Es gilt das Recht des Stärkeren“. Wenn die Fischer den Kapitän des Krabbenkutters nennen können, zahlt die „Pêcherie“ mittlerweile eine Entschädigung. Doch oft ist das in der Dunkelheit nicht möglich. In den südlichen Meeren konkurrieren ungleiche Partner: Auf der einen Seite stehen die Küstenfischer. Für den eigenen Kochtopf nutzen sie alles, was ins Netz geht, vom Hai bis zur Sardine. Auf der anderen Seite operieren Krabbenkutter und riesige Fischtrawler aus Frankreich, Spanien oder Japan. Sie fangen Luxusprodukte für den Weltmarkt, vor allem Shrimps und Thunfisch. Das übrige Meeresgetier geht als ungewollter Beifang wieder über Bord. Allein in den afrikanischen Gewässern dürfen mehr als 600 EU-Schiffe ihre Netze auswerfen. Direkte Zusammenstöße mit den Pirogen dürfte es trotzdem nicht geben, denn die Gesetze sind klar: Motorisierte Schiffe müssen in Madagaskar außerhalb der zwei Seemeilenzone bleiben. Der unmittelbare Küstenbereich ist für die Boote der artisanalen Fischer reserviert. „Doch niemand hält sich daran“, schimpft Alain Michel. Vor allem die Krabbenkutter fahren direkt in die Mangrove, weil es dort die meisten Shrimps gibt. Die Folgen sind katastrophal, denn die Küstenwälder gelten als Kinderstube für unzählige Fischarten. Die Jungfische landen als Beifang in den Netzen der Garnelenfischer und werden tot wieder über Bord geworfen. Jedes Kilo Garnelen produziert fünf Kilo Beifang – mehr als jede andere Art der Fischerei. Weiter draußen vor der madagassischen Küste fischen europäische Trawler Thunfisch. Die EU unterhält Fischereiabkommen mit insgesamt 15 Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifik. „Cash gegen Fisch“ lautet das Geschäft. Damit sie die Küstengewässer der Hungerstaaten ausbeuten darf, zahlt die EU insgesamt 280 Millionen Euro pro Jahr. Viel Geld für die Entwicklungsländer, doch die Bevölkerung hat nichts davon. In Gegenteil: Die einheimischen Fischer kommen immer häufiger mit leeren Netzen nach Hause und der Geldregen versickert in den maroden Staatskassen. Von Nutzen ist das Geschäft jedoch für die EU: Müsste sie den Fisch auf dem Weltmarkt kaufen, wäre ein Vielfaches der Summe fällig. Auf dem Rückflug von Nosy Be treffe ich die Mannschaft eines französischen Trawlers. Nette junge Männer, die glücklich sind, dass es endlich wieder nach Hause geht. Die letzten drei Monate haben sie an Bord verbracht und Thunfisch gefangen – 1.000 Tonnen in 50 Tagen. Wie es denn mit der zehn Seemeilenzone steht, frage ich. „Eigentlich müssten wir die einhalten“, antwortet der Kapitän. Claudia Ruby Madagaskar „Doch auf dem Meer gibt es keine Grenzen. Wir fahren dorthin, wo die Fische sind“. In den Fischereiabkommen werden zwar Fanggebiete und Höchstfangmengen festgeschrieben, doch in den meisten Entwicklungsländern gibt es keine Fischereikontrolle. „Wir fangen soviel wie möglich“, sagt der Kapitän. Er mache nur seine Arbeit, aber dann ergänzt er: „Eigentlich sind wir wohl Diebe, Fischdiebe“. Der Fischereisektor könnte in Ländern wie Madagaskar eine bedeutende Rolle spielen. Es gibt mindestens 60.000 Fischer auf der Insel, insgesamt hängen mehr als 400.000 Menschen von der Fischerei ab. „Wer wirklich etwas für unser Land tun will, muss die traditionelle Fischerei entwickeln“, fordert Alain Michel. Doch der Regierung scheinen die Devisen aus dem Ausland und die industrielle Fischerei wichtiger zu sein. Deshalb hat Michel manchmal das Gefühl, gegen Windmühlen zu arbeiten: „Unfälle, wie der von Luc, machen die Arbeit von Jahren zunichte“, schimpft er. Von den Politikern fühlt er sich im Stich gelassen. „Sie tun nichts, um uns vor der industriellen Konkurrenz zu schützen“. Ein einziges Schiff kontrolliert im Norden Madagaskars über 2.500 Küstenkilometer. Zwar fordern die Fischereiabkommen immer wieder eine effektive Kontrolle, doch passiert ist bisher kaum etwas. Es mangelt an Geld und auch am Interesse: „Beim Fischraub ist sich die ganze Welt einig“, sagt GTZ-Experte Lohmeyer. In Brüssel kämpft die „Coalition for fair Fisheries Agreements“, CFFA, ein Zusammenschluss europäischer Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, für eine andere Fischereipolitik. „Wir brauchen einen Vorrang für die einheimischen Fischer“, fordert Koordinatorin Béatrice Gorez. „Die EU gibt mit der einen Hand, was sie dann mit der anderen wieder nimmt“, kritisiert Martina Schaub von Germanwatch. Auf der einen Seite beteiligt sie sich an Entwicklungsprojekten für die traditionelle Fischerei, zum Beispiel am CFP in Madagaskar, auf der anderen Seite fangen EU-Trawler denselben Fischern ihre Lebensgrundlage weg. „Das ist doch paradox“, so Schaub, „aber wenn es um wirtschaftliche Interessen geht, hat Entwicklungspolitik eben keine Chance“. Germanwatch fordert mehr Kohärenz in der EU-Politik. Die Fischereiflotte müsse drastisch reduziert werden. Bereits heute sind weltweit 70 Prozent der Fischbestände in einem kritischen Zustand, warnt die FAO. Das sich etwas ändern muss, hat inzwischen auch die EU erkannt. Nach einem Beschluss des Fischereirats sollen 30 Prozent der Flotte in den nächsten Jahren abgebaut werden. Für Luc kommt diese Entscheidung allerdings zu spät. Er hat die Fischerei inzwischen aufgegeben. Neue Netze und ein neues Boot konnte er sich nicht leisten. Deshalb ist er mit seiner Familie in die Hauptstadt Antananarivo gezogen. In dem Zwei-Millionen-Moloch will er jetzt sein Glück machen. Madagaskar Claudia Ruby Unterwegs: Von Toliara nach Antananarivo Wer nicht fliegen kann oder will, ist bei längeren Strecken auf ein TaxiBrousse, ein Buschtaxi, angewiesen. Eigentlich gibt es auch drei Bahnstrecken auf Madagaskar. Doch seit einiger Zeit sind alle außer Betrieb. Seit dem Zyklon im letzten Jahr ist auf der ganzen Insel kein Zug mehr gefahren. Wann wieder einer fährt? Das kann mir keiner sagen. „Mora, mora – immer mit der Ruhe“ – antworten die Madagassen auf solche, typisch europäischen Fragen. Und mora, mora, viel Ruhe und Geduld, braucht man auch für die Fahrt mit dem Buschtaxi. Um sieben Uhr morgens soll es losgehen. An der TaxiBrousse-Station herrscht reger Betrieb. Menschen laufen hin und her, Werber versuchen Fahrgäste anzulocken, Kinder verkaufen Äpfel, Bananen, Baguette und alles, was man sonst noch bei einer längeren Reise gebrauchen könnte: Batterien zum Beispiel, Wäscheklammern und Kugelschreiber. Der Fahrer begrüßt mich mit großem Hallo, mein Rucksack wird auf dem Dach des Transporters befestigt und dann sitze ich neben einer jungen Madagassin auf einem Stein und warte. „Wann geht es denn los?“, versuche ich zu erkunden. Doch mein Bemühen bleibt erfolglos. „Bald“, heißt es, „sobald das Auto voll ist“. Das dauert dann schließlich zwei Stunden, und so gegen neun Uhr fahren wir wirklich los. Eigentlich gibt es in dem Auto neun Sitzplätze. Tatsächlich fahren etwa zwanzig Erwachsene und fünf Kinder mit. Auf dem Dach türmt sich das Gepäck, darunter ein Korb mit Hühnern. Wir rattern die Landstraße entlang, die bald in eine rote Schotterpiste übergeht. Aus dem Cassettenrecorder dudelt madagassische Musik. Der Vorrat scheint unerschöpflich, und ich bewundere die Madagassinnen, die trotz allem scheinbar ungestört schlafen können. Viele fahren von Tuléar direkt bis Tana. Ich möchte unterwegs die Nationalparks Isalo und Ranomafana sehen und steige deshalb nach fünf Stunden in Ranohira aus. Das Gebirgsmassiv ist überwältigend. Zwei Tage übernachte ich in der wildromantischen Isalo-Ranch. Doch irgendwann muss ich weiter, und Ranohira hat eigentlich keine Taxi-Brousse-Station. Trotzdem müssen alle Fahrzeuge aus dem Süden durch das Dörfchen, und so stehen täglich etliche Fahrgäste an dem inoffiziellen Halteplatz. Zusammen mit mir warten noch drei Deutsche, die eine Trekking-Tour hinter sich haben und etliche Madagassen auf einen freien Platz Richtung Tana. Doch alle Autos, die vorbeikommen, sind bis auf den letzten Zentimeter vollgeladen mit Männern, Frauen, Kindern, Hühnern und Gepäck. Vielleicht hatte Pierre doch recht, als er mir riet: „Fahr durch, sonst bekommst du keinen Platz mehr“. Doch irgendwann hält ein Kleinbus, in den ich mich noch reinquetschen kann. Und die drei Deutschen sehe ich einige Tage später in Fianarantsoa wieder. Auch sie müssen also einen Platz ergattert haben. Claudia Ruby Madagaskar Auf dem Weg in die Provinzhauptstadt Fianarantsoa halten wir in einem kleinen Dorf, um zu tanken. Ich bleibe im Auto sitzen, als plötzlich ein Mann mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm aus einer Hütte gestürzt kommt, das Kind an die Scheibe hält und „Vazaha, Vazaha“ ruft. Dabei deutet er mit dem Finger auf mich. Der Vater ist völlig begeistert, dem Kleinen eine solche Attraktion bieten zu können. Wahrscheinlich hat das Kind noch nie einen Weißen gesehen. Der Kleine guckt mit großen Augen, ist aber sichtlich weniger erregt als sein Vater. Ich fühle mich ein bisschen wie der Affe im Zoo, bin das aber mittlerweile aus ländlichen Gegenden schon gewohnt. „Vazaha, VazahaRufe“ sind der ständige Begleiter für alle weißen Besucher. Vor allem die Kinder sind unbefangen, neugierig, umringen mich und wenn sie ganz mutig sind, tippen sie an meinen Arm. Oft habe ich es sehr bedauert, mich nicht mit ihnen unterhalten zu können, denn in diesem Alter sprechen sie noch kein französisch und mein malagasy beschränkt sich auf „Guten Tag“, „Danke“, „Entschuldigung“ und „Auf Wiedersehen“. Manchmal wird es aber auch einfach zu viel, und ich möchte flüchten – irgendwohin, wo ich mit meiner weißen Haut nicht auffalle. Auf dem Land ist das unmöglich, in den Städten gibt es solche „weißen“ Fluchtburgen. Fast alle Europäer brauchen sie von Zeit zu Zeit. Trotzdem kann ich in diesen Häusern, Restaurants und Hotels nie vergessen, wie künstlich die Situation eigentlich ist – eben eine Flucht vor der Realität da draußen. Von Fianarantsoa aus mache ich einen Abstecher in den Nationalpark Ranomafana – einen der letzten Bergnebelwälder der Welt. Die madagassische Natur ist immer wieder traumhaft: Nebel hängt in der Luft, überall rauschen Gebirgsbäche und Wasserfälle. Der Großteil des Parks ist völlig undurchdringlich. Nur in einem kleinen Teil hat die Nationalparkverwaltung ANGAP Wege angelegt. Ich bin mit dem Führer Loret Rasabo unterwegs. Stolz erzählt er, dass er vor einigen Jahren miterlebt hat, wie der deutsche Biologe Bernhard Meier in Ranomafana einen bis dahin völlig unbekannten Halbaffen entdeckt hat, den Goldenen Bambuslemur. Faszinierend ist nicht nur sein Aussehen, sondern auch seine Lebensweise. Der Goldene Bambuslemur frisst hochgiftige Bambusschößlinge. Das darin enthaltene Cyanid würde einen Menschen sofort umbringen. Der Lemur neutralisiert das Gift jedoch, indem er mehrmals am Tag eisenhaltige Erde frisst. Loret zeigt mir die Fraßspuren. Den Bambuslemur selbst sehen wir beide leider nicht, dafür aber vier andere Lemurenarten, mehrere Chamäleons, Echsen und Frösche. Wie Andasibe ist Ranomafana ein Hot-Spot der Artenvielfalt: Ein Drittel aller madagassischen Vogelarten leben hier, über 90 verschiedene Schmetterlinge und 12 Lemurenarten, darunter das nachtaktive Aye-Aye und der Mausmaki. Viele Tiere und Pflanzen sind wissenschaftlich noch nicht erfasst. Auf dem Rückweg nach Fianarantsoa nimmt mich ein junger Franzose mit. Er hat einen Wagen mit Madagaskar Claudia Ruby Führer und Fahrer gemietet. Und so genießen wir den Luxus, an besonders schönen Stellen anhalten zu können. Wir bewundern die traumhafte Landschaft, gehen spazieren und diskutieren über Gott und die Welt. Am nächsten Morgen sitze ich wieder im Taxi-Brousse. Mittlerweile bin ich schon eine echte Expertin und habe mir am Vortag den Beifahrersitz reservieren lassen. Wieder geht es zur verabredeten Zeit nicht los, und irgendwann bietet mir der Fahrer an, doch eine zweite Fahrkarte zu kaufen. Dann könne ich ganz allein auf meinem Platz sitzen und wir würden auch sofort losfahren. Was sich nüchtern betrachtet entweder nach Touristen-Ausbeutung oder nach europäischer Dekadenz anhört, sieht nach drei Stunden Wartezeit in glühender Hitze auf einem staubigen Parkplatz ganz anders aus. Sofort bezahle ich die 15.000 Franc malgache, etwa fünf Mark, und los geht´s. Die Strecke ist phantastisch. Wir fahren jetzt durch das zentrale Hochland. Hinter jeder Wegbiegung gibt es etwas zu sehen: Rauschende Flussläufe, kleine Wasserfälle, ausgedehnte Reisfelder und immer wieder Zebus. Die nächste und letzte Station vor der Hauptstadt ist Antsirabe. Das TaxiBrousse hält, und was dann passiert, habe ich noch nicht erlebt: Hundert – so kommt es mir zumindest vor – Pousse-Pousse-Fahrer stürzen auf mich zu und rufen: „Nimm mich, die 23. Nein, mich, die 7. Nicht vergessen, Madame, ich heiße Joseph, Stephan, Jacques......». Ein bisschen bin ich durch Erzählungen vorgewarnt, und so schnappe ich möglichst schnell meine Sachen und steige in ein Pousse-Pousse, die madagassische Variante einer Rikscha. Über zwei Rädern befindet sich eine gepolsterte und überdachte Sitzbank. Vorne sind zwei lange Holzstangen befestigt, mit denen der Fahrer sein Gefährt zieht. Alle PoussePousse sind bunt angemalt, sie tragen Namen und Nummern, zum Beispiel Mahaty 181, Franz 24 oder New York 77. In Antsirabe gibt es keine Taxen. Alle fahren mit den unzähligen Pousse-Pousse: Schulkinder, Hausfrauen, Geschäftsleute und natürlich die Touristen. Mein „Chauffeur“ rennt also los, und es ist ein merkwürdiges Gefühl, von einem Menschen durch die Mittagshitze gezogen zu werden. Andererseits schreibt Susanne Roessler in ihrem Reiseführer: „Wenn Sie zu Fuß gehen, verdient er nichts, und Pousse-Pousse-Fahrer haben dafür kein Verständnis“. Wie wahr das ist, merke ich, als ich später aus dem Hotel komme und wirklich laufen möchte, um die Stadt zu erkunden. Wieder stürzen mindestens zwanzig Pousse-Pousse-Fahrer auf mich zu, und es ist fast unmöglich, sie abzuschütteln. Der Konkurrenzkampf ist beinhart, denn meist sind die Gefährte nur gemietet. Die Fahrer müssen den Besitzern stolze Tagespreise bezahlen. Und die bekommen sie fast nur dann rein, wenn sie ab und zu einen Vazaha kutschieren können. Manchmal fordern die Besitzer ihr Gefährt schon nach einem halben Tag zurück, um eine zweite Miete zu kassieren. Die Pousse-Pousse-Fahrer, die der unteren sozialen Schicht angehören, haben dagegen keine Chance. Claudia Ruby Madagaskar Am nächsten Tag geht es weiter. Fast alle 30 Minuten fährt in Antsirabe ein Taxi-Brousse Richtung Tana ab. Nach nur zwei Stunden stehe ich wieder im ewigen Stau der Hauptstadt. Und ich verstehe, was mir alle erfahrenen Madagaskar-Reisenden erzählt haben: „Die Fahrt mit dem Taxi-Brousse ist schrecklich, aber man darf sie sich nicht entgehen lassen“. Schluss und Dank Sechs Wochen Madagaskar sind wie im Flug vergangen. Was ich in dieser Zeit begriffen habe, kann man aus keinem Buch lernen. Und man kann es auch nicht in 30 Seiten niederschreiben. Vieles fehlt, zum Beispiel ein Bericht über die Straßenkinder von Tana, die Geschichte von Pierre, dem Königssohn und von Rajery, dem Musiker. Für all diese Eindrücke danke ich der Heinz-Kühn-Stiftung, ganz besonders Erdmuthe Op de Hipt und Ute Maria Kilian für ihre herzliche Betreuung vor, während und nach meiner Reise Herzlichen Dank auch an Friedrich Kramme-Stermose von der FriedrichEbert-Stiftung und an seine Frau. Es war sehr schön, in Tana eine feste Anlaufstelle zu haben. Außerdem danke ich den Mitarbeitern der GTZ in Madagaskar, die mich bei meinen Recherchen oft mehr als üblich unterstützt haben. Und „last but not least“ danke ich allen Madagassen, mit denen ich während meiner Reise zu tun hatte, die mir geholfen haben und von denen ich lernen konnte. Allmuth Schellpeper aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Malawi vom 13 März bis 26 April 2000 Malawi Almuth Schellpeper ”Malawi – ein kleines Land übt sich in Demokratie” Von Almuth Schellpeper Malawi, vom 12.06. bis 11.09.1999 Malawi Inhalt Zur Person Diktatorische Vergangenheit und Demokratie Zum zweiten Mal an die Wahlurnen Hochschule in Zeiten der Diktatur Musik unter Banda Frauen engagieren sich Banda‘s Frauenorganisation Kämpferische Nationalheldin Selbständig mit Papier-Recycling Frauenministerin neu im Amt Journalistinnen mit einer guten Idee Das Schweigen brechen – Kampf gegen Aids Eine Million Malawier HIV-positiv Jugendliche in Anti-Aids-Clubs “Youth Ambassador” als Berater Aufklärung über‘s Radio Verstehen mit Hilfe von Theater Einblicke ins Bildungssystem Kostenlos lernen Studieren an der Universität Der Malawi-See – drittgrößtes Binnengewässer Afrikas Eigenverantwortlicher Fischfang Gemächliche Fahrt über den See Almuth Schellpeper Malawi Almuth Schellpeper Zur Person Almuth Schellpeper, Jahrgang 1964, studierte Sozialpädagogik und Medienwissenschaft in Münster und Tübingen. Anschließend Volontariat beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Seit 1997 freie Hörfunk- und Fernsehjournalistin in Köln für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Vorliebe für sozial- und entwicklungspolitische Themen. Diktatorische Vergangenheit und Demokratie Zum zweiten Mal an die Wahlurnen Am 15. Juni 1999 sollen zum zweiten Mal in der Geschichte Malawis demokratische Wahlen stattfinden. Zwei Tage vorher lande ich in Lilongwe, der Hauptstadt. Vor meiner Abreise schrieb mir die Leiterin des GTZ-Büros in Malawi, ich hätte mir einen ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um ins Land zu kommen – so kurz vor den Wahlen. Man wisse noch nicht, ob es Unruhen geben würde. An die GTZ-Mitarbeiter sei die Empfehlung gegangen, an den Tagen vor und nach den Wahlen keine großen Strecken im Land zurückzulegen. Auch ich solle vorsichtig sein. Ich bin unschlüssig. Natürlich kann ich die Situation noch nicht einschätzen, bin aber sehr neugierig. In Lilongwe angekommen, nehme ich Kontakt auf zum Büro des Demokratisierungsprojektes der GTZ. Wenn ich am Wahltag morgens um fünf Uhr an der Rezeption des Lilongwe Hotels sei, dann könne ich mit internationalen Wahlbeobachtern mitfahren. Ich bin zum vereinbarten Zeitpunkt da und besteige zusammen mit Mikael Boström aus Schweden und Lanca Ngube aus Malawi einen Jeep. Die Wahllokale öffnen um sechs, dann wollen wir in Nchisi sein, einer Gegend im Nordwesten des Landes. Wir sind spät dran, der Fahrer rast über die roten Sandwege, wir werden ordentlich durchgeschüttelt. Wir erreichen unsere erste Wahlstation, ein Schulgebäude auf dem Land. Und dann sehe ich hunderte von Leuten, die Schlange stehen, geduldig darauf warten, ihre Stimme abgeben zu können. Zum Teil sind sie schon seit vier Uhr morgens da, Frauen, Männer, Junge, Alte. Nur wer sich vorher registrieren ließ, darf wählen, Mindestalter:18 Jahre. In der Schlange stehen auch Jungen und Mädchen, die deutlich jünger aussehen. Das fällt auch einem der Wahlhelfer auf. Er fragt einen Jungen nach seinem Alter, der behauptet er sei 18. Der Onkel wird gerufen, auch er sagt, sein Neffe sei volljährig. Einen Pass hat der Junge nicht, also vertrauen die Wahlhelfer der Aussage des Onkels. Wir fahren weiter nach Kayoyo, zur nächsten Wahlstation. Hier bietet sich uns ein ähnliches Bild: Lange Reihen Wartender. Die Wähler haben zwei Stimmen: Eine für den Präsidenten, die andere für den Kandidaten einer Partei. Doch zunächst muss jeder den Almuth Schellpeper Malawi Zeigefinger der rechten Hand in Tinte tauchen. So soll sichergestellt werden, dass niemand zweimal seine Stimme abgibt. Wir fahren zu einer dritten Wahlstation. Mittlerweile ist es nachmittag, die meisten Leute haben bereits gewählt, jetzt muß niemand mehr anstehen. Um sechs Uhr schließen die Wahllokale, es ist dunkel geworden. Wir sind bei der Stimmenauszählung in Vikula dabei. Bis ein Uhr nachts wird hier sortiert und gerechnet. Später erfahre ich, dass das Auszählen in anderen Wahlbezirken zum Teil noch zwei Tage länger gedauert hat. In Vikula gibt es keinen Strom, im Kerzenschein arbeiten sich die Wahlhelfer durch die Stimmzettel. Von den über 500 Wahlzetteln sind angeblich nur fünf ungültig. Ich beobachte jedoch, wie Stimmzettel, die z.B. mit mehreren Kreuzen oder Fingerabdrücken versehen sind und damit ungültig wären, zu einer der beiden großen Parteien gerechnet werden. Die Wahlbeteiligung im Land ist insgesamt sehr hoch: 92 Prozent der registrierten Wähler geben ihre Stimme ab. Der Projektleiter des GTZ-Demokratisierungsprojektes schreibt später in der „Nation“, einer der großen Tageszeitungen in Malawi: Auch wenn es einige Unregelmäßigkeiten gegeben habe, sei die Wahl ruhig und fair verlaufen, relativ gesehen. Man müsse schließlich die Vergangenheit Malawis mitbedenken, Demokratie sei Übungssache. Auch die zwölf internationalen Wahlbeobachter bestätigen eine fair verlaufene Wahl. Die Malawier haben, wie schon bei der ersten demokratischen Wahl vor vier Jahren, entlang der Regionen gewählt, d. h. der Norden stimmte am ehesten für Aford (Allianz für Demokratie), die Mitte für MCP (Malawi Congress Party) und der Süden des Landes für UDF (United Democratic Front). Für viele ist nicht das Wahlprogramm entscheidend, sondern aus welcher Gegend die Kandidaten stammen. Das Wahlergebnis fällt denkbar knapp aus. Es findet ein Kopf-an Kopf-Rennen statt zwischen Bakili Muluzi von der UDF und seinem Rivalen Gwanda Chakuamba vom Bündnis MCP /Aford. Der frühere Präsident Muluzi gewinnt wieder die Wahl. Das bestreitet die Opposition; u. a. weil kurz nach der Wahl hunderte von Kisten mit Stimmzetteln gefunden werden, die nicht ausgezählt waren. Es gibt vereinzelt Unruhen, vor allem im Norden. Dort werden etliche UDF- Anhänger, die ursprünglich aus dem Süden stammen, vertrieben, ihre Häuser zum Teil zerstört. Auch die Fensterscheiben einiger Moscheen gehen zu Bruch. Der Grund: Präsident Muluzi ist Muslim, die Mehrheit der Malawier bekennt sich zum Christentum. Am Tag der Parlamentseröffnung erscheinen die Abgeordneten der Opposition nicht zur Sitzung. Damit wollen sie unmissverständlich deutlich machen, dass sie Bakili Muluzi als Staatspräsidenten nicht akzteptieren. Die Opposition wendet sich sogar an das höchste Gericht. Auf den Straßen in Lilongwe begegne ich einige Male erregten Demonstranten, die ihrem Ärger über das Wahlergenbis Luft machen. Malawi Almuth Schellpeper Laut Verfassung herrscht Meinungs- und Pressefreiheit im Land. Doch drei gestandenen Jounalisten des staatlichen Rundfunksenders MBC (Malawi Broadcasting Cooporation) wird gekündigt, angeblich weil sie die Meinung der Opposition verbreitet hätten. Genaues weiß man nicht. Als ich eine langjährige Journalistin bei MBC auf die Kündigungen anspreche, schaut sie mich an und sagt: “Ich weiß nicht, wer dahinter steckt”. Ich blicke sie an und glaube ihr nicht. Es soll Spitzel geben in den Medien, vielleicht hat sie Angst, mir zu sagen, was sie weiß. Dreißig Jahre Diktatur lassen sich nicht einfach wegwischen. Der Tag vor dem 22. Juni, dem offiziellen Unabhängigkeitstag, wird kurzfristig zum Feiertag erklärt: Die Leute sollen Zeit haben, nach Blantyre zu fahren, um dort den neuen Präsidenten zu feiern. Ich begleite zwei Reporter des Staatsrundfunks ins Stadion. Die Feiern zum Unabhängigkeitstag wecken in mir Bilder, die mich an frühere Zeiten Malawis denken lassen: Als Präsident Muluzi das Stadion betritt, wird er umringt von rund 50 Partei-Frauen, die für ihn singen und tanzen. Sie sind gekleidet in leuchtendes Gelb, der Farbe der Regierungspartei UDF. Später landen Hubschrauber im Stadion, das Militär führt Schießübungen vor, die Zuschauer springen vor Begeisterung von ihren Plätzen auf. Das anschließende Fußballspiel findet lange nicht so großen Anklang. So ähnlich, stelle ich mir vor, verliefen auch die Feierlichkeiten für den Diktator Kamuzu Banda. Hochschule in Zeiten der Diktatur Es gibt heute in Malawi offiziell zwei Universitäten. Die eine ist ganz im Norden des Landes, in Mzuzu, und befindet sich noch im Aufbau. Die andere wurde bereits 1965, ein Jahr nach der Unabhängigkeit Malawis, gegründet und besteht aus insgesamt fünf Colleges, verteilt auf mehrere Orte. Der größte Campus befindet sich in Zomba, am Chancellor College, bekannt für die geisteswissenschaftlichen Fächer. Hier wurde früher die Elite des Landes ausgebildet. Auch heute noch hat jemand, der am Chancellor College seinen Abschluss erwirbt, gute Chancen, später einen Job zu ergattern. Edine Kayambazithu kennt die Universität in Zomba noch aus ihren eigenen Studentenzeiten. Seit 19 Jahren lehrt sie selbst dort. Sie glaubt nicht, dass die Leute jemals aufgehört hätten, kritisch zu sein. Nur habe man während Bandas Zeit nicht gewusst, wem man vertrauen könne und wem nicht. Selbst als sie in den 80er Jahren für zwei Jahre zum Studium nach England ging, saß ihr die Angst im Nacken, Spitzeln zu begegnen, erzählt sie. Als Edine Kayambazithu Mitte der 80er Jahre zum ersten Mal über Sprache forschen wollte, wurde ihr das nicht erlaubt. Sich kritisch über Sprachpolitik zu äußern, war damals unmöglich. Almuth Schellpeper Malawi Kings Phiri gehört ebenfalls seit Jahrzehnten zur Universität: Zunächst als Student, dann als Dozent. Er ist Geschichtsprofessor in Zomba. Auch er beklagt, dass unter dem alten System keine akademische Freiheit möglich war. Viele der Studenten seien Spitzel gewesen, die für die Regierung gearbeitet hätten, erzählt er. Manche seiner Kollegen seien damals verhaftet worden. Man habe nie gewusst, ob man als nächster an der Reihe sei. Meistens seien die Polizeieinheiten nachts gekommen, um einen abzuholen. Einmal entging auch Kings Phiri nur knapp einer Verhaftung. Er hatte damals einer ausländischen Nicht-RegierungsOrganisation (NRO) geholfen, Familien ausfindig zu machen, die besonders an Hunger litten. Eine Woche später wurde er zu einer Polizeistation gebracht und verhört. Man ließ ihn zwar kurze Zeit später wieder frei, doch die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht: Sie hatten ihn eingeschüchtert. Ich möchte von Kings Phiri wissen, ob die Studenten früher anders gewesen seien. Ja, sagt er, diziplinierter, konzentriert darauf, einen Abschluss zu machen, besser gekleidet. Die Studenten heute dagegen seien aufmüpfig, das mache das Unterrichten manchmal anstrengend. Doch sie seien aufgeweckter, an ihrer Umwelt, an Alltagsproblemen, an Hintergrundinformationen interessiert, wollten die Welt verändern. Kings Phiri lacht, irgendwie hat er die Jahre der Diktatur überlebt. Manchmal, das gesteht er gerne ein, verspürte er damals den dringenden Wunsch, Malawi zu verlassen, doch er ist geblieben. Musik unter Banda Die Alleluya-Band, eine Musikgruppe aus Balaka, spielt eine Mischung aus Reggae und traditioneller Musik, und das bereits seit 20 Jahren. Alle Mitglieder gehören zur katholischen Gemeinde in Balaka, einem kleinen Ort im Süden des Landes. An der Demokratisierung Malawis sei die Band auf ihre Weise beteiligt gewesen, meint Steve Chimombo, Professor an der Universität in Zomba und Herausgeber der Kulturzeitschrift „Wasi“. Er bezeichnet die Alleluya-Band als Revolution von Balaka. Steve Chimombo ist sich sicher, dass die Gruppe dem unterdrückten Volk damals Trost und Hoffnung gegeben habe, mit Botschaften aus der Bibel. Sie äußerten Kritik, zwar gut verpackt in religiöse Inhalte, doch für alle verständlich. Erst 1994, kurz vor den ersten demokratischen Wahlen, änderten sich die Texte, die Alleluya-Band begann über Armut, Waisenkinder, über das politische Klima zu singen. Ich besuche Lucius Banda, einen der Gründer der Band, in Balaka. Heute ist er nicht mehr Mitglied, er hat seine eigene Gruppe und ist damit erfolgreich. Lucius Banda erinnert sich an die Zeiten des Regimes. Nur religiöse Texte seien damals möglich gewesen. Doch auch das habe manchmal zu Schwierigkeiten geführt: Der Diktator wurde oft mit Gott gleichgesetzt, d. h. wenn die Texte der Band zuviel Gotteslob enthielten, hätte das vom Regime als Beleidigung aufgefasst werden Malawi Almuth Schellpeper können. Manchmal wurde die Band ganz bewusst schikaniert. Normalerweise trat sie für zwei oder drei Stunden auf. Am Unabhängigkeitstag mussten die Musiker jedoch den ganzen Tag lang vor betrunkenen Funktionären der MCP-Partei spielen. Und sie wurden gezwungen, ein Lied über die Besitztümer Kamuzu Bandas zu singen: In Malawi gehöre alles ihm, unter anderem die Frauen und auch die Alleluya-Band. In der Übergangszeit, als sich der Wechsel von der Diktatur zur Demokratie vollzog, wurden die Bandmitglieder bedroht: Sie hatten Angst, dass ihre Häuser und das Studio zerstört würden. Oft verließen sie nachts mit ihren Familien ihre Unterkünfte, um anderswo Unterschlupf zu finden. Eines der Lieder, das das damalige Regime nach kurzer Zeit verbot, trägt den Titel „Msimu“. Es thematisiert den Autounfall auf der Straße nach Mwanza, bei dem 1983 vier Minister starben – ein Anschlag, für den die heimlichen Drahtzieher unter Banda verantwortlich waren. Heute ist die Alleluya-Band nicht mehr so produktiv wie in den 80er und 90er Jahren. Doch sie versammelt immer noch Hunderte zu ihren Konzerten. Und sie spielt auch weiterhin in Kirchengemeinden, Krankenhäusern, Schulen und Gefängnissen. Frauen engagieren sich Banda´s Frauenorganisation In einer Diktatur werden meist auch die Rechte der Frauen mit Füßen getreten. Kamuzu Banda bemühte sich, die Ansicht zu verbreiten, er achte Frauen in besonderer Weise. 1986 gründete er die als unpolitisch geltende Organisation „Chitukuko Cha Amai m`Malawi“ (CCAM), die offiziell wirtschaftliche Aktivitäten der Frauen fördern und karitative Aufgaben wahrnehmen sollte. Inoffiziell musste jede Frau der CCAM beitreten, sonst galt sie als illoyal dem Regime gegenüber. Alle Mitglieder wurden gezwungen, unentgeltlich für die Organisation zu arbeiten, die Erlöse aus Kunsthandwerk oder Feldarbeit flossen den Machthabern zu. Am Unabhängigkeitstag mussten sich alle Frauen in einen Stoff wickeln, auf dem Banda abgebildet war. Jedes Jahr wurde ein neues Muster gedruckt. Die Journalistin Gladys Khoza erzählt mir, dass der Diktator in Privathäusern kontrollieren ließ, ob die Frauen den aktuellen Stoff gekauft hatten. Einmal kamen die Jungen Pioniere, eine spezielle Polizeieinheit des Regimes, auch zu ihr nach Hause und fragten nach dem Stoff. Gladys Khoza wurde darüber so wütend, dass sie alle bis dahin gesammelten Stoffe mit Aufdruck von Banda aus ihrem Kleiderschrank riss und sie den Kontrolleuren vor die Füße warf. Zu offiziellen Anlässen sollten die CCAM-Frauen für Banda, seine Minister und Parlamentsmitglieder tanzen. An Entscheidungen durften die Frauen nicht Almuth Schellpeper Malawi mitwirken. Manche wurden dazu aufgefordert, als Spione zu arbeiten, sogar ihre eigenen Ehemänner haben sie zum Teil bespitzelt. Die Organisation CCAM existiert noch heute, allerdings nicht mehr ausschließlich für Frauen. Kämpferische Nationalheldin Eine, die sich ihr Leben lang für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt hat, ist Vera Chirwa. Sie ist in Malawi eine Nationalheldin. Unter Banda wurde sie zwölf Jahre lang gefangen gehalten, gedemütigt, gefoltert. Ihr Mann starb an den Misshandlungen, die man ihm zufügte. Vera Chirwa überlebte. Trotz ihrer 67 Jahre ist sie immer noch sehr aktiv und es ist nicht leicht, einen Termin mit ihr zu vereinbaren. Schließlich treffe ich mich mit ihr im Büro von „Malawi Carer“, einer Menschenrechtsorganisation, die sie vor vier Jahren gegründet hat. Vera Chirwa hat eine Wollmütze über den Kopf gezogen, sieht müde aus und hat anfangs keine Lust, interviewt zu werden. Sie entgegnet mir gleich, sie habe nicht viel Zeit. Nach einer Weile ist sie dann doch bereit, sich meinen Fragen zu stellen. Sie habe überlebt, sagt sie, weil der Glaube an Gott eine Tatsache für sie sei, auch wenn sie tagsüber gefoltert wurde. In den 60er Jahren musste ihr Mann aus Malawi fliehen. Vera Chirwa folgte ihm nach Tanzania, später lebten beide in Zambia. Im Exil arbeitete Vera Chirwa als Rechtsanwältin und Juraprofessorin. 1981 wurden sie und ihr Mann entführt und nach Malawi gebracht. „Ich weiß, warum ich ins Gefängnis kam. Banda war klar: Wenn er nur meinen Mann eingesperrt hätte, dann hätte ich für Schwierigkeiten gesorgt. Außerdem hatte Banda Angst vor mir, weil er glaubte, ich hätte großen Einfluss auf die Frauen. Deshalb entschied er, wir sollten entführt werden. Als wir nach Malawi kamen, beschuldigte man uns des Verrats, was niemand beweisen konnte. Wir kamen vor ein traditionelles Gericht ohne Rechtsbeistand und wurden so behandelt, als seien wir Straftäter. Aber sie hatten keine Beweise. Es war schrecklich“. Sie bricht ihre Erzählung ab, die Erinnerungen an die Inhaftierung lassen sie für kurze Zeit verstummen. Zwischen uns herrscht Schweigen. Dann fährt sie fort. Nach ihrer Freilassung 1993 gründete Vera Chirwa auch „Women´s Voice“, eine Vereinigung, die sich mit Frauenbelangen befasst. Vera Chirwa wollte sich nicht zufrieden geben mit der staatlichen Organisation CCAM und damit, wie Banda die Frauen zu seiner eigenen Machterhaltung benutzte. Mit ihrer Organisation „Women´s Voice“ hat Vera Chirwa vor der Parlamentswahl im Juni diesen Jahres Frauen ermutigt, die politsche Bühne zu betreten. Selbst fähige Frauen trauen sich oft nicht, zu kandidieren. Bei der ersten demokratischen Wahl 1994 schafften es zehn Frauen ins Parlament, jetzt gibt es immerhin 16 weibliche Parlamentsmitglieder, d. h. sie nehmen acht Prozent aller Sitze ein. Vera Chirwa ist weiterhin zuversichtlich: „Wenn wir in Malawi eine wirkliche Demokratie haben wollen, dann müssen wir die drei Feinde der Menschheit überwinden: Armut, Ignoranz, Krankheit. Die Jungen müssen als Malawi Almuth Schellpeper Team zusammenarbeiten, einmütig und mitfühlend. Dann wird Malawi eines Tages ein Stern in dieser Welt sein“. Selbstständig mit Papier-Recycling Lindizga Buliani, Mitte vierzig, ist Unternehmerin. Sie leitet die einzige Papier-Recycling-Firma in Malawi: “Paper Making Education Trust” (PAMET). Als ich mich mit ihr verabrede, ahne ich noch nicht, dass sie fließend deutsch spricht. In den siebziger Jahren flieht sie als junges Mädchen vor dem Diktator Banda nach Deutschland, studiert hier Betriebs- und Agrarwirtschaft und kehrt später wieder in ihre Heimat zurück. Mit Entschlossenheit setzt sie sich für die Verbesserung des Lebensstandards ihrer Landsleute ein, vor allem für die Frauen in Malawi. In dem kleinen Hinterhof von PAMET arbeiten bei lauter Radiomusik neun Angestellte: Sie schöpfen Papier, hängen die Bahnen zum Trocknen auf, fertigen Briefumschläge, Schreibpapier, Fotoalben, Geschenkpapier, Bilderrahmen. Ich laufe durch den Hof und werde von allen freundlich begrüßt, die Atmosphäre ist entspannt. Lindizga erzählt mir, welche Ideen sie mit PAMET verfolgt: Sie entwickelt und vermarktet die Produkte, gleichzeitig gibt sie das Wissen um die Herstellung von Papier an Frauen weiter. Außerdem gewährt PAMET günstige Kredite für die Grundausstattung, zum Beispiel Wannen und Siebe. Männer würden das Geld oft für Alkohol ausgeben, sagt Lindizga Buliani, Frauen könnten das Geld besser zuammenhalten und finanzierten damit die Ausbildung ihrer Kinder. „Wenn ich eine Frau unterstütze, dann kommt das der ganzen Familie zugute“. Ich fahre mit Lindizga in die Umgebung von Blantyre. Hier auf dem Land wohnt eine der Frauen, die bei PAMET gelernt hat, Papier zu recyceln. Wir verlassen die geteerte Straße, die Wege werden immer schmaler. Schließlich halten wir vor dem kleinen Haus von Ezmir Zuze. Sie erwartet uns schon und begrüßt uns freudestrahlend. Ezmir lebt hier zusammen mit ihren vier Kindern, von ihrem Mann hat sie sich getrennt. In der Umgebung ist sie die einzige, die Papier herstellt. Manche Nachbarn bewundern sie, wollen das Handwerk auch lernen. Doch dann stellen sie fest, dass es nicht so leicht ist. Ezmir ist dabei geblieben und sehr zufrieden mit ihrer neuen Selbstständigkeit: „Ich möchte Papier herstellen, solange ich lebe. Und ich bete zu Gott, dass meine Kinder das auch lernen können, denn es ist eine Arbeit, die einen befreit, da kann man alles selber herstellen und niemand kommandiert mich herum“. Wenn sie genügend Umschläge und Hefte produziert hat, dann steckt sie alles in eine Tasche, zieht ihr blaues Kleid an und macht sich mit ihrer ältesten Tochter auf den Weg in die Stadt, um ihre Produkte anzupreisen. Bisher mit Erfolg, denn Papier ist in Malawi immer noch Mangelware. PAMET unterstützt auch interessierte Frauengruppen, die genossenschaftlich arbeiten. Sie teilen sich die Ausstattung und den erwirtschafteten Gewinn. Gerade auf dem Land kann die Bevölkerung Almuth Schellpeper Malawi nicht mehr vom Ackerbau allein leben. Frauen arbeiten zwar oft auf dem Feld mit, das Land gehört jedoch meist den Männern, das erwirtschaftete Geld ebenfalls. Lindizga will erreichen, dass möglichst viele Frauen ihr eigenes Geld verdienen. „Wir wollen, dass jede Frau, die wir schulen, in der Lage ist, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, nicht auf jemanden warten zu müssen. Dieses Bewusstsein sollen die Frauen entwickeln und weitertragen“. Frauenministerin neu im Amt Ich bin erstaunt: Ganz unbürokratisch verläuft die Terminvereinbarung mit Mary Banda, der Frauenministerin Malawis. Noch nicht einmal ein Fax verlangt ihr Sekretär von mir. Drei Telefonate und der Interviewtermin steht fest. Am vereinbarten Tag komme ich pünktlich um neun Uhr in das Büro der Ministerin. Der Sekretär entschuldigte sich: Nein, die Ministerin sei leider heute Vormittag nicht anwesend, sie sei auf einer Beerdigung. Ich werde auf den Nachmittag vertröstet. Als ich nach ein paar Stunden wieder das Büro betrete, ist die Ministerin immer noch nicht da. Ich warte. Schließlich schlägt mir der Sekretät vor, am nächsten Morgen wieder zu kommen. Ich lasse es auf einen dritten Versuch ankommen. Und tatsächlich, dieses Mal habe ich Glück, Mary Banda empfängt mich. Sie ist aufgedreht und redet wie ein Wasserfall. Seit zwei Monaten ist sie jetzt Ministerin. Eigentlich ist Mary Banda Lehrerin, sie hat unter Bandas Regime eine private Schule für Mädchen und Jungen aufgebaut – allerdings unter Schwierigkeiten. Sie wurde bedroht, man warf ihr damals vor, in Wettbewerb treten zu wollen mit der privaten Akademie des Diktators. Sie selbst verbrachte viele Jahre in Sambia, absolvierte dort ihre Ausbildung und kehrte mit 27 Jahren, Anfang der 80er Jahre, zurück nach Malawi. Bildung ist für sie heute der Schlüssel zu allem. Wenn die Frauen auf dem Land alle Lesen und Schreiben könnten, dann wüssten sie auch um ihre Rechte, sagt sie. Im Moment überarbeite die Regierung die Gesetze in bezug auf Scheidung und Erbrecht. Geschieden zu sein bedeute heute nicht mehr sein Gesicht zu verlieren. Ich frage Mary Banda, was sich seit Einführung der Demokratie 1994 für die Frauen auf dem Land geändert habe (80 Prozent der Bevölkerung lebt auf dem Land). Die Ministerin zählt auf: 2.000 Alphabetisierungskurse für Erwachsene, 8.000 Brunnenlöcher, keine Kleidervorschriften mehr: Frauen könnten z. B. auch Hosen tragen. Ich will Mary Banda´s Euphorie bremsen und erzähle ihr von einem Erlebnis mitten in Blantyre, das mich schockiert hat: Es ist neun Uhr morgens, ich stehe in einem Buchladen und suche mit meinen Augen die Buchrücken ab. Plötzlich höre ich draußen Stimmengewirr, Rufe hallen durch die Straße, aufgeregt ziehen Menschen am Schaufenster vorbei. Erstaunt erkundige ich mich bei der Verkäuferin, was da vor sich gehe. Sie erklärt mir, eine junge Frau sei auf der Straße, die trage einen ziemlich kurzen Rock, das missfalle den Leuten. Sie Malawi Almuth Schellpeper scheuchen die Frau vor sich her. Fassungslos trete ich hinaus, entdecke die Frau, umringt von mindestens 50 johlenden Männern und einigen Frauen. Jederzeit könnte die Stimmung umschlagen und die Menge gewaltätig werden. Die Betroffene verzieht keine Miene, blickt herausfordernd um sich und geht schließlich in einen Laden, um sich ein Chitenje zu kaufen, ein traditionelles Tuch, das sich die Frauen um ihre Hüften schlingen. Als sie so bedeckt wieder auf die Straße tritt, folgt der Mob ihr immer noch. Auf dem Papier gibt es viele neue Freiheiten in Malawi, in der Praxis wohl noch lange nicht. Die Einstellung der Leute ändere sich eben nur allmählich, entgegnet Mary Banda. Außerdem seien die Erwartungen der Leute oft zu hoch: Mit dem Einzug der Demokratie könnten nicht plötzlich alle alles erreichen. Journalistinnen mit einer guten Idee In Malawi, so erfahre ich noch in Deutschland, soll es einen Frauen-Radiosender geben, Radio Dzimwe. Dort möchte ich hin. Zunächst treffe ich mich mit Aretha Kamwendo, einer jungen Journalistin beim staatlichen Rundfunksender MBC. Sie ist Mitglied bei MAMWA, “Malawi Media Women´s Association”. Bereits vor vier Jahren hatten die Journalistinnen von MAMWA die Idee, einen Radiosender für Frauen ins Leben zu rufen. Aber erst im April diesen Jahres konnte Radio Dzimwe auf Sendung gehen, gesponsert von der UNESCO. Die Radiostation befindet sich in Monkey Bay, am südlichen Ende des Malawi-Sees. Warum ausgerechnet in dieser Ecke des Landes einen Sender? Aretha erklärt mir: Hier gibt es eine besonders hohe Analphabetenrate von Frauen. Mädchen, die in dieser Gegend wohnen, werden oft sehr früh verheiratet, mit 10 oder 12 Jahren, und gehen dann nicht mehr zur Schule. Ein Radio besitzen zwar nicht alle Familien in Malawi, aber doch sehr viele. Und so wollte MAMWA über das Medium Radio die Frauen erreichen. Als ich mich nach den Themen erkundige, stelle ich fest: Es handelt sich nicht um einen reinen Frauensender, wie ursprünglich geplant war. Alle Themen, die eine Dorfgemeinschaft betreffen, kommen zur Sprache: Cholera, Bewirtschaftung der Felder, Hühnerhaltung, traditionelle Geburtshilfe, aber auch Kochrezepte, Aids und viel Musik. Aretha sagt, sie sei zur Verantwortlichen für Radio Dzimwe gemacht worden. Einen Monat lang ist sie in Monkey Bay gewesen und hat die sechs Ehrenamtlichen, die dort arbeiten, eingewiesen. Zuvor hatten die Mitarbeiter einen 14-tägigen Kurs in Interviewtraining und Studiotechnik absolviert. Radio Dzimwe kann man im Umkreis von rund 50 Kilometern empfangen. Fünf Stunden täglich wird gesendet, morgens von 7 bis 9 Uhr und nachmittags von 16 bis 19 Uhr. Im Laufe des Gesprächs mit Aretha wird deutlich: Dem Pilotprojekt mangelt es an Geld. Eigentlich hätte Aretha noch länger in Monkey Bay bleiben sollen, doch ihr Aufenthalt dort konnte nicht mehr bezahlt werden. Angeblich hatte UNESCO auch ein Auto für die Mit- Almuth Schellpeper Malawi arbeiter zugesagt, das ist in Monkey Bay nie gesehen worden. MAMWA versucht jetzt, neue Geldgeber zu finden. Auch wenn der kleine Sender nicht das verspricht, was ich erwartet hatte: Ich bin trotzdem neugierig geworden und mache mich auf nach Monkey Bay. Das letzte Stück Straße dorthin besteht eigentlich nur aus Schlaglöchern, mühsam komme ich vorwärts. In Monkey Bay dauert es eine Weile, ehe ich jemanden treffe, der weiß, wo sich das Studio befindet. Als ich ankomme, sind die Türen verschlossen. Keiner der Mitarbeiter hat Telefon zu Hause, ich setzte mich auf die Stufen und warte. Dann kommen sie: Justice, der Leiter und Techniker, Julia, Rikki und Gertrude. Sie sind zwischen 20 und 24 Jahre alt und wirken sehr routiniert: Keine Aufregung, alle wissen, was sie zu tun haben. Keiner von ihnen wollte vorher Journalist werden. Doch als sie einen Job suchten, entdeckten sie die Ausschreibung von Radio Dzimwe und bewarben sich. Bedingung: Abschluss der Sekundarschule, fließend Englisch und eine lokale Sprache. Alle vier mögen ihren Job und sind überzeugt davon, dass sie mit ihren Sendungen dazu beitragen, die Leute in der Gegend besser zu informieren. Und dann beklagen sie sich doch: Sie erhalten nur 1.000 Kwacha pro Monat, umgerechnet 50 Mark. Sie haben kein Transportmittel, müssen manchmal lange Fußmärsche in Kauf nehmen, um zu ihren Interviewpartnern zu gelangen. Sie verfügen nicht über genügend Leerkassetten und Aufnahmegeräte. Als ich mich auf den Rückweg mache, habe ich zwar keinen Frauensender kennengelernt, dafür aber vier junge, engagierte Radiojournalisten, die trotz wenig Equipment sechs Tagen in der Woche auf Sendung gehen. Das Schweigen brechen – Kampf gegen Aids Eine Millionen Malawier HIV-positiv Die Immunschwächekrankheit Aids stellt eine immer größer werdende Gefahr für die Entwicklung Malawis dar. Dem Land droht der Verlust der Arbeiterschaft. Mindestens ein Viertel aller arbeitsfähigen Stadtbewohner wird im Laufe der nächsten zehn Jahre an Aids sterben. Besonders hoch ist die Todesrate bei Lehrern und Beschäftigten im Gesundheitswesen. In Blantyre ist bereits jeder dritte Einwohner im Alter zwischen 15 und 49 Jahren HIVpositiv. Auch die Armee Malawis ist schwer betroffen: Jeden Monat sterben dort mindestens 20 Soldaten an Aids, Tendenz steigend. Es gibt in Malawi Zentren, in denen kostenfreie Aidstests mit Beratung angeboten werden. Kondome sind nicht teuer und in Apotheken, Geschäften und Bars erhältlich. Doch Aufklärungsmaßnahmen scheinen bisher wenig bewirkt zu haben. Darüber bin ich erstaunt und will mehr über die Hintergründe erfahren. Malawi Almuth Schellpeper Zunächst unterhalte ich mich mit Martha, einer jungen Journalistin bei TV Malawi. Sie ist die erste, die mit mir offen über Traditionen spricht, die den HIV-Virus verbreiten: So erfahre ich, dass in Malawi ein junges Mädchen in die Welt der Erwachsenen eingeführt wird, indem es z. B. von einem älteren Mann entjungfert wird. „Damit soll der Weg für den Ehemann bereitet werden. Das ist eigentlich nichts anderes als Vergewaltigung“, bemerkt Martha. Auch die Tradition der Witwenvererbung verbreitet Aids: Stirbt ein Mann, wird dessen Ehefrau sofort an seinen Bruder weitergereicht. Bei traditionellen Heilern ist es üblich, zwei oder drei Schnitte in die Haut zu ritzen und dann die Medizin in die Wunde zu reiben. Die Rasierklingen, die dazu benutzt werden, sind nicht steril und können ebenfalls die Krankheit weitertragen. Martha ist sich sicher, dass vor allem aber die Haltung der Leute das HIV-Virus verbreitet. In den Bussen hat Martha schon öfters Gespräche zwischen Jugendlichen miterlebt: „Sie sagen, man könne keine Süßigkeit eingewickelt in Papier genießen“. Die meisten würden keinen Aids-Test machen, weil sie davon ausgingen, nicht krank zu werden. Außerdem wollten sie es auch gar nicht wissen. Aids, erzählt Martha, ist immer noch ein Tabu in der malawischen Gesellschaft. Bei Begräbnissen würde der Pfarrer zum Beispiel niemals erwähnen, dass der Verstorbene Aids gehabt habe. Vor vier Jahren hat Martha zum ersten Mal einen Aids-Test gemacht. Damals wollte sie eine Lebensversicherung abschließen, der Test war Bedingung. Jugendliche in Anti-Aids-Clubs An vielen Sekundar- und Primarschulen existieren heute Anti-Aids-Clubs, rund 1000 im ganzen Land. Bereits 1992 hatte die UNICEF die Initiative dazu ergriffen und die Idee in Malawi eingeführt. So wie einige Schüler sich nachmittags zum Sport treffen, diskutieren andere in einem eigenen Club über Aids, verarbeiten das Thema in Theaterstücken und Gedichten oder malen Plakate. Mit Patricia Msugu treffe ich mich im Büro von “Youth Arm Organisation” in Blantyre, einer Jugendvereinigung, die u.a. von der UN finanziert wird. Patricia, 20 Jahre, ist für einige der Anti-Aids-Clubs in ihrer Stadt zuständig. Als sie noch selbst zur Schule ging, war sie die Vorsitzende eines solchen Clubs. Patricia ist überzeugt davon, dass wenigstens ein paar Mitglieder in den Clubs ihr Verhalten ändern. „Am Anfang haben sie mich gefragt, warum man Kondome benutzen soll. Jetzt fragen sie, wie man sie benutzt, d. h. sie wollen Kondome selbst benutzen“. Die “Youth Arm Organisation” will vor allem erreichen, dass Jugendliche sich verantwortlich verhalten, in bezug auf Sexualität, und sichere Sexualpraktiken anwenden. Zusammen mit Patricia besuche ich einen dieser Clubs. Wir haben uns für drei Uhr nachmittags angekündigt, nur allmählich finden sich die Schüler ein. Schließlich sitzen wir in der Bücherei um einen großen Tisch herum, zusam- Almuth Schellpeper Malawi men mit 12 Clubmitgliedern aus unterschiedlichen Klassen. Kings ist 17 Jahre alt. Er meint, der beste Schutz vor Aids sei, erst gar keinen Sex zu haben; Kondome seien ja auch nicht ganz sicher. Die 18-jährige Julie meldet sich zu Wort. Sie erzählt, sie habe bisher einmal mit ihrem Freund geschlafen. „Ich hab´s nur getan, um ihn glücklich zu machen. Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, wenn ich ablehne“. Ken, 17 Jahre, fügt hinzu, dass der Gruppendruck manchmal ziemlich stark sei. Wenn man noch keinen Sex gehabt habe, würde man von den anderen gehänselt. Alle in der Gruppe geben zu, Angst vor Aids zu haben. Die meisten von ihnen kennen jemanden, der daran erkrankt oder gestorben ist. Ken gibt sich trotzdem optimistisch: „Aids gab´s schon, als ich auf die Welt kam. Ich versuche, kein Aids zu kriegen. Aber selbst wenn ich es habe, ist das nicht das Ende der Welt. Ich kann weiterhin zur Schule gehen, vielleicht lebe ich länger als jemand, der nicht krank ist“. Längst nicht alle Teilnehmer verhalten sich so reflektiert. Der 15jährige Arbet zum Beispiel. Er ist der festen Ansicht: Nur diejenigen, die sich in einer Beziehung misstrauen, benutzen Kondome. Außerdem sei Verhütung das Problem der Mädchen, ihn träfe keine Verantwortung. Arbet ist seit einem Jahr im Club, an seiner Haltung scheint sich nichts geändert zu haben. “Youth Ambassadors” als Berater In Blantyre und in der Hauptstadt Lilongwe gibt es Büros von MACRO, “Malawi Aids Counseling and Resource Organisation”. Dabei handelt es sich um Zentren, in denen Beratung und Aidstests kostenlos sind. MACRO erhält finanzielle Unterstützung aus den USA und Großbritanien. Superior Williams, Leiter des Zentrums in Blantyre, ist seit der Eröffnung 1994 mit dabei. Rund 15 bis 20 Leute kommen pro Tag, meist wegen eines HIV-Tests. Manche nehmen auch eine lange Anreise in Kauf. Vor dem Test sprechen die Berater von MACRO mit ihnen: Was würden sie z. B. tun, wenn sie erfahren, dass sie HIV-positiv sind? Verheirateten Männern oder Frauen raten sie, mit dem Partner zu kommen. Der Leitgedanke bei MACRO: Menschen mit dem HIV-Virus dabei zu unterstützen, positiv zu leben. Zu MACRO gehören auch die “Youth Ambassadors”, eine Gruppe von 12 jungen Männern und Frauen, die alle HIV-positiv sind. Sie arbeiten ehrenamtlich als Berater und diskutieren vor allem mit Jugendlichen in Schulen und Kirchengemeinden. Mike Kalimera ist einer von ihnen. Mit sanfter Stimme und erstaunlicher Offenheit erzählt er mir von seiner Krankheit und den Ängsten, die er anfangs durchlebt hat. Mike ist 26 Jahre alt, seit drei Jahren weiß er, dass er Aids hat. Als er damals davon erfuhr, war es für ihn schwierig, darüber mit seinen Eltern und Freunden zu sprechen. „Ich glaubte, ich müsse sterben. Und ich dachte, ich müsse unbedingt herausfinden, wer mir das Aids-Virus weitergegeben hat. Erst hab ich die Krankheit verleugnet, aber nach zwei bis drei Wochen hab ich Malawi Almuth Schellpeper angefangen, mich damit auseinanderzusetzen“. Mike hat eine Freundin. Er erzählte ihr von seiner Krankheit. Daraufhin ging sie zum Test, sie ist HIVnegativ. „Wir benutzen immer ein Kondom. Für jemanden, der versteht, wofür ein Kondom gut ist, für den ist ein Kondom kein Problem“. Mike bemüht sich, einen gesunden Lebenstil zu führen: Ausgewogene Ernährung und genügend Bewegung. „Früher hab ich bei jeder Anstrengung geschwitzt, heute fühle ich mich besser. Und ich weiß, ich habe noch Zeit zu leben vor mir“. Mike wirkt auf mich ausgeglichen und ruhig. Ich kann ihn mir gut in der Jugendberatung vorstellen. Aufklärung über´s Radio Ein regelmäßiges Radioprogramm des staatlichen Senders MBC mit dem Titel „Straight Talk“ spricht offen über Aids und alle Fragen, die die Hörer zum Thema haben. Junge Leute zwischen 22 und 26 Jahren moderieren die Sendung. Sie sind nicht angestellt bei MBC, sondern erhalten ihr Honorar zum Teil von UNICEF. Manchmal wird ein Arzt als Experte ins Studio eingeladen, meist beantworten die Macher von “Straight Talk” aber selbst die Fragen der Zuhörer. Ihr Rat, wie man es vermeidet, aidskrank zu werden: Sich nicht auf sexuelle Abenteuer mit unterschiedlichen Partnern einlassen und Sex erst ab 18 Jahren, wenn man fähig ist, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Jeden Tag erhält “Straight Talk” Briefe von Jugendlichen. Noel Chingwene, seit drei Jahren dabei und Organisator der Sendung, liest einen der Briefe vor: „Sehr geehrter Herr Doktor, ich habe eine Freundin, die ich sehr liebe und der ich vertraue. Ich bat sie neulich, mit mir zusammen einen Aidstest zu machen. Sie wollte nicht. Also bin ich allein zur Klinik gegangen. Das Ergebnis: Ich bin HIV-negativ. Kann ich weiterhin eine Beziehung mit ihr haben? Ich mag sie sehr“. Weil sich die „Straight Talk“-Moderatoren nicht scheuten, die Dinge deutlich zu benennen, durften sie eine Woche lang nicht senden. Nach vielen Gesprächen mit MBC sind sie jetzt wieder regelmäßig zu hören, allerdings mussten sie versprechen, eine gemäßigtere Sprache zu verwenden. Verstehen mit Hilfe von Theater Die Mitarbeiter des „story workshops“ in Blantyre wollen Alltagsprobleme mittels Theater anschaulich machen. Also recherchieren sie, schreiben Stücke, lassen sie in Dörfern aufführen, nehmen alles auf Kassette auf. Später werden die Stücke im Radio gesendet. Vor einiger Zeit hat der „story workshop“ ein Stück über Aids verfasst. Die Hauptperson ist eine Frau, deren Ehemann viele Geliebte hat und mit mehreren Geschlechtskrankheiten Almuth Schellpeper Malawi zu ihr zurückkommt. Die Frau weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Wenn sie ihren Mann verlässt, dann fürchtet sie, hat sie niemanden mehr, der sie unterstützt. Ihre Freundinnen raten ihr, zu gehen und sich mit kleinen Geschäften über Wasser zu halten. Es ist schwer für sie, sich zu entscheiden, doch am Ende verlässt sie ihren Mann gegen alle Widerstände. Ich frage Marvin Hanke, den Leiter des „story workshops“, ob das Ende der Geschichte eine Aufforderung an die Frauen sei, sich scheiden zu lassen. „Nein“, entgegnet er, „aber die Frauen haben ein Recht, Verantwortung für ihren Körper und ihre Gesundheit zu übernehmen“. Seiner Meinung nach ist nicht die Einstellung zu Aids das größte Problem, sondern der kulturelle Hintergrund. Eine malawische Frau müsse zum Beispiel gehorsam sein. Wenn sie ihrem Ehemann nicht gehorche, dann verliere sie ihre Familie. Daher sei es sehr schwer für eine Frau zu ihrem Mann zu sagen: “Wenn du mit mir schläfst, dann nur mit Kondom”. Die Frau stehe also vor der schwierigen Entscheidung, bei ihrem Mann zu bleiben, auch auf die Gefahr hin, Aids zu bekommen, oder zu gehen und zu versuchen, irgendwie zu überleben. Das Team von „story workshop“ will seinen Zuhörern die Möglichkeit geben, sich mit den Hauptfiguren zu identifizieren. Damit die Stücke möglichst realistisch werden, fährt ein Team von vier Mitarbeitern über die Dörfer, diskutiert mit den Menschen, um auf diese Weise mehr über ihre Ansichten und Ängste zu erfahren. Dieses Material ist später Grundlage für die Theater- und Hörstücke. Einblicke ins Bildungssystem Kostenlos lernen Nach den Wahlen 1994 führte die neue demokratische Regierung damals den kostenlosen Besuch der Primarschule ein. Plötzlich gab es drei statt zwei Millionen Primarschüler in Malawi. Über 20.000 unausgebildete Lehrkräfte wurden eingestellt, viele mussten unter freiem Himmel unterrichten. Heute ist etwa ein Drittel der 50.000 Primarlehrer fachlich nicht ausgebildet. Immer noch fehlen genügend Lehrmaterialien und Klassenräume. Die Regierung hat vor drei Jahren, zusammen mit internationalen Geldgebern, ein Soforthilfeprogramm auf die Beine gestellt, das Lehrer schnell und effektiv weiterbilden soll. Die Kurse dauern zwei Jahre, finden in einem der sechs Lehrer-Ausbildungs-Institute statt und sind immer wieder unterbrochen durch praktische Lehreinheiten. Die Ausbildung ist übrigens kostenlos, bis auf Schulbücher und Hefte, die die Auszubildenden selbst kaufen müssen. Ich möchte mir das College in Nguludi anschauen. Als ich einige Tage vor dem vereinbarten Termin noch einmal anrufe, erfahre ich, dass ich doch keine Möglichkeit haben werde, mit angehenden Lehrern zu sprechen. Eigent- Malawi Almuth Schellpeper lich hätten die Auszubildenden nach ihrem zweiten Praktikum im August wieder für kurze Zeit selbst die Schulbank drücken und in den Wohnheimen leben sollen. Doch zur Zeit gibt es kein Wasser auf dem Gelände, die Wasserpumpe ist defekt und der Regierung fehlt das Geld, um den Schaden zu beheben. Für die Auszubildenden fällt der Unterricht deshalb in den nächsten vier Wochen aus. Sie sollen erst Mitte September wiederkommen. Bis dahin soll die Wasserversorgung wieder funktionieren. Dann allerdings werde ich schon nicht mehr im Land sein. Deshalb entscheide ich mich trotzdem loszufahren, um wenigstens mit dem Leiter und einigen Lehrkräften zu sprechen. Die Straße dorthin ist so schlecht, dass ich für 30 Kilometer eine Stunde brauche. Dann erreiche ich das College, es gehört zur Missionsstation Montfort. Das Hauptgebäude liegt erhöht, mit wunderschönem Blick auf das umliegende Land. Bruder Andrew Makocho erwartet mich schon. Er ist seit vier Jahren Leiter des Ausbildungszentrums, lange Zeit war er selbst Lehrer an verschiedenen Schulen, u.a. in Holland und Irland. Bruder Andrew erzählt, die neue Regierung habe vor ihrem Antritt verkündet, sie wolle Bildungseinrichtungen unterstützen. „Wir warten auf das Versprechen, aber wann das sein wird, wissen wir nicht“. Am Montfort College werden auch Blinde und Taube zu Lehrern ausgebildet. Und trotzdem hat der frühere Erziehungsminister das College nur ein einziges Mal für 10 Minuten besucht, bedauert Bruder Andrew. Manchmal schreibt er in Zeitungen über die Missstände am College, über fehlende Elektrizität, defekte Wassersysteme oder zu wenig Essen. „Aber wir werden nur beschuldigt, mehr Geld zu verlangen. Die Minister verstehen nicht wirklich, was hier vor sich geht“. Zuletzt streikten die Lehrer in Malawi 1994. Damals bezahlte die Regierung vielen ihr Gehalt nicht aus, gleichzeitig stiegen die Preise für die Lebenshaltungskosten. Unter Banda, erinnert sich Bruder Andrew, sei das Gehalt zwar normalerweise pünktlich eingetroffen, aber man habe sowieso nicht viel kaufen können. Fernseh-und Videogeräte zu besitzen, sei schon ein großes Problem gewesen. Das Ansehen der Lehrer in Malawi sei im Vergleich zu früher zurückgegangen. Früher habe die Dorfgemeinschaft dem Lehrer zum Beispiel ein Haus gestellt. Heute bekommen Lehrer sehr niedrige Gehälter. Ein Primarlehrer verdient im Durchschnitt 1.400 Kwacha pro Monat, umgerechnet etwa 70 Mark, ein Sekundarlehrer etwas 2.500 Kwacha, umgerechnet rund 130 Mark. In den letzten Jahren hat die Regierung die Gehälter nicht mehr erhöht. Später unterhalte ich mich mit der Lehrerin Mandrena Kahila, einer zierlichen, kleinen Person. Sie unterrichtet Gesellschaftskunde am College und hat schon vorher viele Jahre an verschiedenen Schulen gearbeitet. Die Lehrpläne seien heute anders: Zum Beispiel sei jetzt das Thema „Aids“ darin enthalten und darüber könne sie offen mit ihren Schülern reden. Das wäre zu Almuth Schellpeper Malawi Bandas Zeiten undenkbar gewesen. Soziale Missstände jeglicher Art habe man nicht laut zur Sprache bringen dürfen. „Wir sind damit aufgewachsen, bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Das haben wir einfach vermieden. Ich habe zum Beispiel fünf Kinder. Und das wenige Geld, was ich bekam, wollte ich für meine Kinder sparen. Hätte ich irgend etwas gegen das Regime gesagt, wäre ich ins Gefängnis gekommen und meine Kinder hätten darunter leiden müssen“. Schließlich führt mich Mandrena Kahila über das College-Gelände. Zunächst zeigt sie mir die Klassen- und Verwaltungsräume, dann gehen wir vorbei an den Wohnheimen, in denen während der Theoriekurse über 500 Schüler leben. Etwas entfernt davon stehen die kleinen Häuser, die die Lehrer mit ihren Familien bezogen haben. In der Ferne erkenne ich ein Dorf, im übrigen nur Felder und Wiesen und die holprige Straße, die mich hierher nach Nguludi führte. Sie ist allerdings in der Regenzeit nicht befahrbar. Studieren an der Universität Es ist Mittag, die Studenten des Chancellor Colleges in Zomba sind entweder in der Kantine oder tanken frische Luft. Zusammen mit den beiden Studentinnen Miriam und Angela, beide 19, sitze ich auf der Wiese vor ihrem Wohnheim. „Mein Vater ist mein Vorbild. Er ist sehr erfolgreich, er ist zur Schule gegangen, hat Pharmazie studiert. Ich bewundere meinen Vater sehr“. – „Mein Vorbild ist meine Mutter. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit in Ernährungswissenschaft, obwohl sie arbeitet und drei Kinder hat. Die meisten afrikanischen Frauen schaffen das nicht. Ich möchte gerne so wie meine Mutter werden“. Miriam studiert Betriebswirtschaft, Angela Chemie und Biologie. Ein Studium ist längst nicht selbstverständlich für junge Frauen in Malawi. Studentinnen waren an der Universität immer in der Minderheit, sie machen höchstens ein Viertel aller eingeschriebenen Hochschüler aus. Das liegt vor allem an der traditionellen Gesellschaft in Ostfarika: Von Mädchen und Frauen wird nicht erwartet, dass sie eine akademische Karriere einschlagen. Sie sollen Geld verdienen und eine Familie gründen. Angela weiß sehr wohl, dass es ein Privileg für sie ist, hier zu sein. Früher wurde an der Universität in Zomba die Elite des Landes ausgebildet. Besser gestellte Familien schicken ihre Kinder zum weiteren Studium ins Ausland: Nach Zambia, Südafrika, Großbritannien, in die USA. Denn in Malawi kann man bisher nur ein Vordiplom erwerben, kein Diplom und keinen Doktortitel. Das Studieren an sich ist nicht besonders teuer: 1.500 Kwacha verlangt die Universität von den Studenten pro Jahr, das sind umgerechnet rund 75 Mark. Dafür stellt die Universität kostenlos Zimmer im Wohnheim und das Essen in der Mensa zur Verfügung. Klingt eigentlich gut. Doch es gibt vieles, was die Studenten verärgert. Deshalb beschlossen sie zu demonstrieren. Das war vor einem Jahr. Angela ist immer Malawi Almuth Schellpeper noch empört: „Die Studiengebühren sollten erhöht werden. Und in unserer Fakultät gab es nicht genügend Chemikalien. Letztes Jahr hatten wir nur drei Mal die Möglichkeit, praktisch zu arbeiten. Es war immer derselbe Versuch mit denselben Chemikalien. Auch die Bücher in der Bücherei sind ein Problem. Manchmal jagt die ganze Klasse hinter einem Buch her“. Außerdem waren die Wohnheime in schlechter Verfassung, es gab zum Beispiel nur kaltes Wasser, das Essen in der Mensa war miserabel und eintönig. Der Entschluss zu streiken wurde gefasst. Eine Woche lang boykottierten die Studenten Vorlesungen und Seminare. Die Verwaltung antwortete prompt: Sie schloss die Universität für vier Monate. Mittlerweile ist das Essen abwechslungsreicher geworden, es gibt wieder warmes Wasser und einige Wohnheime sind restauriert worden. Doch noch immer fehlt es an Lehrmitteln und Dozenten. Angela traut sich nicht mehr so recht, zu protestieren: „Wir wollten für unsere Rechte kämpfen, aber jetzt kennen wir die Folgen. Deshalb warten wir lieber ab, was passiert. Das sie uns nach Hause schicken, davor haben wir am meisten Angst“. Der Malawi-See – Drittgrößtes Binnengewässer Afrikas Eigenverantwortlicher Fischfang Malawis Beitrag zur Expo 2000 in Hannover ist ein Fischerei-Projekt, das mit Unterstützung der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) umgesetzt und schon mehrere Jahre erprobt wird. Das Projekt soll als Modell zur nachhaltigen Bewirtschaftung der Gewässer dienen. Der Fischreichtum hat den Malawi-See berühmt gemacht. Doch viele Arten sind heute fast verschwunden, weil die Fischer mit immer engmaschigeren Netzen den See regelrecht geplündert haben. Seit den 70er Jahren wurden die Fischbestände immer kleiner. Das liegt vor allem daran, dass die Bevölkerungszahl in Malawi gestiegen ist. Es gibt heute mehr Fischerfamilien als noch vor 20 Jahren. Aber auch die Landwirtschaft hat zum Teil die Seeufer zerstört und damit die Orte, an denen die Fische ihren Laich ablegen. Seit zwei Jahren existiert ein neues Fischereigesetz: Die Ufergemeinden sollen die Regelungen für den Fischfang mitgestalten. Projektmanager für die Fischereibehörde im Süden des Landes ist Sloans Chimatiro. In der Vergangenheit sei ausschließlich die Regierung für die Regeln verantwortlich gewesen. „Aber dann haben wir gemerkt, dass es nicht so einfach ist, den Bewohnern der Stranddörfer klar zu machen, die Regeln zu befolgen. Deshalb haben wir die Dorfgemeinschaften miteinbezogen. Jetzt haben sie die Möglichkeit, auch eigene Vorschriften zu erlassen, die ihren Bedingungen entsprechen“. Für viele Fischer war es schwierig, einzusehen, dass sie ihre Fangmethoden ändern müssen. Heute werden von den Dorfgemeinschaften Komitees gewählt, die als Mittler zwischen der Regierung und den Almuth Schellpeper Malawi Stranddörfern fungieren. Ihre Mitglieder sind meist selbst Fischer. Aufgabe des Komitees ist es zum Beispiel, die Maschengröße festzulegen. Der Gebrauch von Moskitonetzen ist verboten. Denn nur wenn die Maschen groß genug sind, können sich Jungfische freischwimmen und eine neue Generation wächst nach. Die Komitees kassieren auch Gebühren für Fanglizenzen. Außerdem hat man sich geeinigt, während der mehrmonatigen Schonzeiten kaum noch zu fischen. In dieser Zeit ist es für viele Fischerfamilien schwierig, weiterhin ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch wer die Gesetze verletzt, wird mit hohen Geldstrafen bestraft, bis zu 10.000 Kwacha, das entspricht dem Jahreseinkommen eines Fischers. Es ist auch schon vorgekommen, dass Fischer vom Strand verjagt oder ihre Netze beschlagnahmt und verbrannt wurden. Zusammen mit Marita Hummel, Mitarbeiterin der GTZ, und Josef Kasusweni, Fischereiberater und gleichzeitig unser Dolmetscher, fahre ich zum Strand Mpima. Es ist sechs Uhr morgens, die Sonne ist gerade über dem Wasser aufgegangen, die Fischer kehren mit ihren Booten zurück an den Strand. Viele Händler sind gekommen, um den Fisch ganz frisch einzukaufen. Der begehrteste Fisch ist der Chambo, eine Buntbarschart. Doch meistens fangen die Fischer nur noch kleinere Arten. Zwei der Fischer erklären sich bereit, mit mir zu sprechen. Wir lehnen an einem umgedrehten hölzernen Boot, umringt von unzähligen Kindergesichtern. Whas Khoza ist schon viele Jahre Fischer. Mit dem Ertrag muss er seine vier Kinder und sechs weitere Verwandte versorgen, manchmal ein schwieriges Unterfangen bei einem überfischten See. Aber er meint, dieses Jahr habe sich sein Fang verbessert. „Auch wenn wir wenig fangen, fahren wir raus. Manchmal legen wir auch mehr Netze aus. Was sollen wir sonst machen?“ Molis Robert fährt ebenfalls täglich raus. Er besitzt ein eigenes Boot. Auf das Komitee ist er nicht besonders gut zu sprechen. Sie würden ihm nicht wirklich helfen, sondern nur sagen, welche Netze er benutzen soll und sie verlangten Geld von ihm, das sie an die Fischereibehörde weiterleiten würden. Ich frage Maiko Sambakosin, Komitee-Mitglied am Strand Mpima, warum sein Komitee keinen so guten Ruf habe. Er erklärt mir, was er unter Hilfe versteht. „Wenn wir von Unterstützung sprechen, denken die Fischer an finanzielle Hilfe, nicht an Hilfe in bezug auf Beratung. Wir versammeln die Fischer am Strand, raten ihnen zum Beispiel größere Maschen zu verwenden. Für sie ist das nicht viel, aber wir helfen ihnen damit natürlich trotzdem“. Wir verlassen den Strand und fahren ins Dorf Ntambo. Im Schatten eines Baumes haben sich zehn Komiteemitglieder versammelt. Wir werden freundlich in ihre Runde aufgenommen. Das Komitee trifft sich an diesem Vormittag, um die jährliche Zeremonie zu besprechen, die den Anfang der Schonzeit markiert. Nur eine einzige Frau ist mit dabei. Sie fährt nicht selbst auf den See raus, wie ich erfahre, besitzt aber ein Netz und stellt acht Leute ein, die für sie arbeiten. Fischerinnen sind in Malawi bisher sehr selten. Doch wenn Frauen Boote oder Malawi Almuth Schellpeper Netze besitzen, werden sie von ihren männlichen Kollegen respektiert. In der Fischverwertung dagegen arbeiten viele Frauen, sie räuchern Fisch und verkaufen ihn auf den Märkten. Und sie pflanzen Mais, Baumwolle und Tomaten an und unterstützen damit ihre Familien in den Monaten, in denen nicht gefischt werden darf. Josef Kasusweni führt uns am Nachmittag ins Dorf Chiwaula. Hier warten wir auf den Dorfvorsteher, die wichtigste Person innerhalb einer Gemeinschaft, ihm gebührt am meisten Respekt. An allen maßgeblichen Entscheidungen, die sein Dorf betreffen, ist er beteiligt. Die Komitees müssen den Dorfchef für ihre Sache gewinnen, sonst lassen sich die Regelungen für den Fischfang nicht durchsetzen. Im Dorf Chiwaula hat das Komitee den Dorfvorsteher davon überzeugt, Vorsitzender zu werden. Endlich tritt Dorfchef Chiwaula aus seinem Haus. Er ist ein fein gekleideter, älterer Herr im dunklen Anzug, der geduldig auf meine Fragen antwortet. „Anfangs glaubten wir, das Komitee sei zu nichts nütze. Aber jetzt wissen wir, dass es sehr hilfreich ist und wir können die richtige Sorte Fisch mit der richtigen Maschengröße fangen“, sagt er. Und er hoffe, dass es bald wieder mehr Chambo gebe, das sei schließlich der berühmteste und schmackhafteste Fisch in Malawi. Auch Projektmanager Sloans Chimatiro weiß, dass die Meinung der traditionellen Dorfvorsteher bei Fragen des Natur- und Umweltschutzes zählt. „Wir versuchen, an die Geschichte anzuknüpfen, an eine Zeit, als die Dorfvorsteher diejenigen waren, die die alleinige Verantwortung für die Nutzung der Fischvorkommen getragen haben. Die Dorfchefs sind auch heute noch sehr wichtig. Sie sind die Wächter der Ressourcen, die zentrale Kontaktstelle zwischen Dorfbewohnern und Regierung“. Die strengen Bestimmungen und die Mithilfe der Komitees haben letztendlich dazu geführt, dass die Fischerträge in Malawi seit drei Jahren tatsächlich allmählich wieder zunehmen. Gemächliche Fahrt über den See Es ist Abend auf dem Malawi-See. Das Passagierschiff Illala steuert den kleinen Hafen in Nkhata Bay, im Norden des Landes, an. Hier möchte ich zusteigen. Eigentlich hätte das Schiff schon am Nachmittag da sein sollen, aber es hat sich mal wieder verspätet. Fahrpläne sind nur grobe Orientierungshilfen. Mit mir warten hunderte geduldig darauf, endlich an Bord gehen zu können und für den Rest der Nacht Schlaf zu finden. Doch zunächst werden Waren ein- und ausgeladen, und das kann zwei bis drei Stunden lang dauern. Die Illala ist das einzige Passagierschiff, das zur Zeit auf dem Malawi-See verkehrt: Ein großer, etwas rostiger Dampfer, der bis zu 400 Personen transportieren kann und seit über 40 Jahren auf dem See verkehrt. Nur der Motor wurde vor ein paar Jahren ausgetauscht. Auf der Brücke steht Kapitän John Mohango, in Shorts und Badeschlappen. Er ist stolz auf seinen Beruf. “Mein Job ist in Malawi sehr selten. Wenn man die Almuth Schellpeper Malawi Geschichte der Navigation auf dem Malawi-See betrachtet, waren anfangs alle Kapitäne Weiße. Erst seit kurzem werden Malawier eingestellt“. Auf der Illala kann man zwischen drei verschiedenen Decks wählen: Auf dem Oberdeck mit Bar und Liegestühlen treffen sich vor allem rucksackreisende Europäer. Auf dem Zwischendeck reisen die Erste-Klasse-Passagiere in eigenen Kabinen. Jede Kabine ist ausgestattet mit Kojen, Schrank, Spiegel und Waschbecken und überall Lampen. Der Luxus vergangener Zeiten ist noch deutlich zu spüren. Vom Zwischendeck führen steile Treppen zum unteren Deck. Hier reist die einheimische Bevölkerung, dicht gedrängt, meist mit viel Gepäck: Säcke mit Mais, Pakete mit getrocknetem Fisch, Bündel mit Tabak, Zuckerrohr und Reis stapeln sich. Auch Ziegen und Fahrräder sind an Bord. Die Illala ist schließlich vollgeladen und kann mit einem halben Tag Verspätung von Nkhata Bay ablegen. Sie stampft ihrem nächsten Ziel entgegen: Likoma Island, der einzigen Insel im Malawi-See, nahe an der Grenze zu Mosambik. Es ist mitten in der Nacht, als die Illala ankommt. Auf Likoma Island gibt es keinen Landungssteg, die Illala geht vor Anker, die beiden Rettungsboote werden heruntergelassen. Passagiere, die aussteigen wollen, quetschen sich mit ihrem Gepäck in die kleinen Motorboote und los geht´s in Richtung Festland. Mehrmals müssen die Boote hin- und herfahren. Dann wird der Anker gelichtet. Kapitän Mohango hat ein paar Stunden ausgeruht, jetzt ist er wieder im Dienst. Seit drei Jahren fährt er als Kapitän auf der Illala über den See. Er stammt aus Nkhata Bay und kennt den Malawi-See sehr gut: „Mit Kanufahren hab ich angefangen. Ich bin ein guter Fischer und ich bin mit allen Arten von Wind vertraut“. Wenn der See so friedlich daliegt, glaubt man nicht, dass hier auch tosende Stürme hinwegfegen können, besonders zwischen April und August. Doch nur ein einziges Mal ist bisher ein Passagierschiff gesunken, das war 1946. Nkhota, die nächste Station ist in Sicht. Mehr als die Hälfte der gemächlichen Reise ist geschafft. Das südliche Ende des Sees ist jetzt noch eine Tages-und Nachtreise entfernt. Katinka Schröder aus Deutschland Stipendien-Aufenthalt in Malawi vom 10. Juli bis 10. Oktober 1999 Malawi Katinka Schröder Demokratie kann man nicht essen Zur Situation von Häftlingen und Arbeiterin in Malawi Katinka Schröder vom 10.07. – 10.10.1999, betreut von der Friedrich-Ebert-Stiftung Malawi Katinka Schröder Inhalt Zur Person Prolog Zur Situation in malawischen Gefängnissen Nichts zu verbergen „Money makes the world go round“ „Früher ging es uns besser” „Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist” Kein Rauch ohne Feuer – Polizei und Gerichte „Was für eine Art Demokratie ist das?” Geld und Wille 400 Hektar Brachland – die Gefängnisfarmen Strafe muss (trotzdem) sein Gewerkschaften in Malawi Von der Zwangsharmonie zur Unabhängigkeit De-Industrialisierung und „Export Processing Zones“ Besuche in „Export Processing Zones“ Von der Sklaverei zum Landraub Die Tabak-Sklaven Eine starke Lobby 479 Katinka Schröder Malawi Zur Person Katinka Schröder, geboren 1967 in Jugenheim/Hessen, lebt seit 1987 in Dortmund. Nach Buchhändler-Lehre in Aachen und Volontariat bei der Zeitschrift PRINZ in Bochum, arbeitete sie dort bis 1991 als Redakteurin. Mit dem Honorar für ein Sachbuch („Sie radeln wie ein Mann, Madame”) wird die erste ausgedehnte Afrikareise finanziert. Von 1992 bis 1994 Reporterin für SAT1, seit 1995 freie Mitarbeit beim WDR. Von Juni bis Oktober 1999 als Heinz-Kühn-Stipendiatin in Malawi. Prolog „Wie, Du fährt nach Malaria?” Diese Frage hörte ich öfter, nachdem ich mein Reiseziel genannt hatte. Malawi, umschlossen von Tanzania, Mozambique und Zambia, knapp dreieinhalb mal so groß wie Nordrhein-Westfalen, ist für viele „terra incognita“. Das hier der drittgrößte See Afrikas, der artenreichste der Welt, liegt, lernt man im Erdkunde-Unterricht nicht. Nicht nur wegen seiner schlechten Infrastruktur und der fehlenden Meeresküste ist das Agrarland, welches über keine nennenswerten Bodenschätze verfügt, touristisch kaum erschlossen. Von 1964, als aus dem britischen Protektorat ein unabhängiges Land wurde, bis 1994 regierte ein Diktator, der auf neugierige Besucher aus dem Ausland wenig Wert legte. Dr. Hastings Banda, der 1997 über 90jährig starb, hat seine Untergebenen nicht nur gnadenlos ausgepresst, während seiner Herrschaft wurden auch Tausende politischer Gefangener interniert, gefoltert und getötet. Entwicklungshilfe floss dennoch reichlich, da Malawi während des kalten Krieges eine strategische Bedeutung als anti-kommunistischer Schutzwall und Aufmarschgebiet der RENAMO hatte. Weil wegen des Bürgerkriegs in Mozambique und der schlechten Beziehungen zum sozialistischen Nachbarland Tanzania die kürzesten Wege zu den Ausfuhrhäfen am Indischen Ozean abgeschnitten waren, paktierte Banda mit dem Apartheid-Regime in Süd-Afrika. Mit dem Zerfall der Sowjetunion verlor der Westen das strategische Interesse an Malawi, interessierte sich aber nun für die Menschenrechtsverletzungen im Lande. Unter aus- und inländischem Druck stimmte der Präsident auf Lebenszeit einem Referendum zu, bei dem das Volk 1993 die weitere Alleinherrschaft der Partei MCP ablehnte. 1994 fanden die ersten demokratischen Wahlen statt, die ein ehemaliger Weggefährte Bandas, der Geschäftsmann Bakili Muluzi, mit seiner United Democratic Front (UDF), gewann. Das war auch das Ergebnis der Wahlen im Juni 1999. Mich interessierten in Malawi zwei Fragen: Wie sieht es in den berüchtigten Gefängnissen Malawis heute aus? Wie werden die jungen, malawischen Gewerkschaften mit der schlechten wirtschaftlichen Lage fertig? Malawi Katinka Schröder Viele Menschen in Malawi haben mir geholfen, mein besonderer Dank gilt Dr. Harald Braun und Anita Deppe für Hilfe in allen Lebenslagen, sowie den Journalisten Justice Kamakwa, Chimweme Ndalahoma und Dickson Kashoti für Übersetzungen und Informationen. Zur Situation in malawischen Gefängnissen Nichts zu verbergen Etwa 300 der 1.300 Insassen des „Chichiri Prison“ in Blantyre hocken auf dem hartgestampften Erdboden im Gefängnishof. Demonstrativ haben sie uns – einer Gruppe malawischer Nichtregierungsorganisationen, der ich mich angeschlossen habe – zwei mit Kleidungsfetzen bedeckte Skelette vor die Füße gelegt. Sie leben noch. Fliegen landen auf den Wunden, die Krätzemilben in ihr Fleisch gefressen haben. Ab und zu hört einer der Mithäftlinge auf sich selbst zu kratzen und verjagt die Plagegeister von den Körpern. Die katastrophalen Verhältnisse in malawischen Gefängnissen sind kein Geheimnis. Als ich mich später offiziell als Journalistin um eine Besuchserlaubnis für das Central Prison in Zomba bemühe, wird sie sofort erteilt. Während der Diktatur wäre das undenkbar gewesen. Selbst das Rote Kreuz hatte keinen Zugang zu den Gefängnissen. Bandas „Malawi Congress Party“ kontrollierte die Wirtschaft, die Presse und das Privatleben. Männer, die ihren Frauen verboten, für den Ngwazi – den Führer – zu tanzen, weil die Parteiveranstaltungen häufig für Seitensprünge genutzt wurden, landeten im Gefängnis. Yao-Frauen, die aus traditionellen Gründen an bestimmten Festtagen Hosen trugen, wurden inhaftiert, weil Frauen Röcke zu tragen hatten. Politische Gegner Bandas kamen bei mysteriösen Autounfällen ums Leben oder verschwanden hinter Gittern. Malawis berühmtester politischer Häftling, Machipisa Munthali, überlebte 27 Jahre Einzelhaft in einer 1,50 Meter langen und 1 Meter breiten Zelle. Die Zelle ist saniert worden und steht Besuchern des „Mikuyu Prison Museum“ offen. Inzwischen herrscht Demokratie in Malawi. Die kann man zwar nicht essen, wie viele Malawis sagen, aber man kann nun gefahrlos darüber spekulieren, wer Schuld daran ist, dass es nicht genug zu Essen gibt. Freie Meinungsäußerung ist möglich, für Journalisten allerdings ökonomisch riskant. Wer über politische Ereignisse im Inland berichtet, muss sich auf eine Seite schlagen. Die beiden Tageszeitungen gehören Politikern rivalisierender Parteien. Der Rundfunk, offiziell öffentlich-rechtlich, versteht sich als Organ der Regierungspartei und der frischgegründete Fernsehsender beschäftigt hauptsächlich Verwandte regierungsnaher Politiker und Funktionäre. Entlassungen und Verhaftungen von Journalisten, Lehrern und Gewerkschafts- Katinka Schröder Malawi führern aus politischen Gründen gibt es auch unter der demokratischen Regierung. Politische Häftlinge allerdings, sitzen in Malawis Gefängnissen nicht mehr. Drastisch gestiegen ist die Zahl der Gefängnisinsassen, von 3000, Anfang der 90er Jahre, auf heute 7000. Von 100.000 strafmündigen Einwohnern sitzen 117 im Gefängnis. Das ist eine vergleichsweise moderate Zahl. In zwei Drittel der afrikanischen Staaten gibt es mehr Häftlinge. Auch der Vergleich mit reichen Demokratien zeigt, dass Malawi ein verhältnismäßig friedliches Land ist: In Deutschland sind 108, in Großbritannien 153, in den USA 806 von 100.000 strafmündigen Einwohnern inhaftiert. Money makes the world go round So friedlich wie bei meinem ersten Besuch ist Malawi allerdings nicht mehr. Im Februar 1992, drei Monate bevor sich die Unzufriedenheit der Menschen mit dem diktatorischen Regime in einem Generalstreik entlud, konnte ich im nächtlichen Blantyre unbesorgt alleine herumlaufen. In der mit damals etwa 600.000 Einwohnern größten Stadt Malawis gab es keine Straßenhändler, keine Straßenkinder, keine Slums wie ich sie in Kenia oder Tanzania gesehen hatte. Die Straßen von Blantyre waren sicher, gespenstisch sicher. Ein Freund, der mich damals nach Hause begleitete, fürchtete sich, mit mir gesehen zu werden. „Hier laufen überall Spitzel ‘rum. Wenn sie mich mit einer Weißen sehen, denken sie, ich könnte etwas Schlechtes über die Regierung sagen”. „Lauf’ nachts bloß nicht alleine ‘rum”, ist der erste Ratschlag nach meiner Ankunft im Malawi des Jahres 1999. Tagsüber sind die Straßen von Blantyre ein lärmender Handelsplatz. Kleidung, Kugelschreiber, Kochtöpfe, Kohl – es gibt fast nichts, was nicht auf den Bürgersteigen feilgeboten wird. Die Zulassung des Straßenhandels gehörte zu den Wahlversprechen der Regierungspartei. Mit der Demokratisierung setzte in Malawi die lange unterdrückte Landflucht um so heftiger ein, als die Landwirtschaft und der überfischte Lake Malawi seit Beginn der 90er Jahre immer weniger Menschen eine Existenz bieten können. Wie viele Bewohner Blantyre heute hat, weiß niemand. Allein Ndirande, der am dichtesten besiedelte Stadtteil, soll in 10 Jahren um 100.000 auf 300.000 Einwohner angewachsen sein. Viele Neuankömmlinge sind Waisenkinder, deren Verwandte entweder nicht willens oder nicht in der Lage dazu sind, sie aufzunehmen. Mit Malawi gehe es bergab, sagt der stellvertretende deutsche Botschafter Michael Morgenstern: „Früher funktionierte hier alles, Telefon, Strom- und Wasserversorgung”. Kriminelle tragen einen Teil dazu bei, dass sich das geändert hat. Ende August wurden 40 Prozent des Telefonnetzes in Blantyre wegen Kabeldiebstahls lahmgelegt. Kurz zuvor hatte die Polizei eine Kupferschmelze ausgehoben, die den Rohstoff unter anderem aus gestohlenen Telefonkabeln gewonnen hatte. Vandalismus und Diebstahl habe die staatliche Telekom allein Malawi Katinka Schröder im ersten Halbjahr ‘99 über 20 Millionen Kwacha (knapp 900.000 DM) gekostet, meldet die regierungsnahe Tageszeitung „Nation“. Auch Schrauben und Leitungen von Strommasten seien vor Dieben nicht sicher, berichtet ein Mitarbeiter des Stromversorgers ESCOM. Geschäftsleute und Reiche fürchten sich vor allem vor bewaffneten Kriminellen. Offizielle Statistiken gibt es nicht, doch einer Analyse von Medienberichten zufolge, meldete die Presse von Oktober 1998 bis Mai 1999 über 90 bewaffnete Raubüberfälle. Der größte Teil der von der Polizei beschlagnahmten Waffen kommt aus Süd-Afrika, der Rest stammt hauptsächlich aus den Arsenalen des inzwischen befriedeten Mozambique. „Früher waren Waffen kein Problem”, erinnert sich der pensionierte Polizist Benson Ndalahoma, „heute höre ich von ehemaligen Kollegen, dass sie Angst davor haben, im Dienst erschossen zu werden”. Die Auflösung der „Malawi Young Pioneers“ (MYP), der von Diktator Banda vor allem zur Kontrolle der Landbevölkerung eingesetzten paramilitärischen Parteijugend, habe ein Sicherheits-Vakuum hinterlassen, das die Polizei nicht ausfüllen könne, sagt Undule Mwaksaungura vom „Centre for Human Rights and Rehabilitation“. Einige der ehemaligen Ordnungshüter von der MYP sollen ihren Lebensunterhalt heute als Kriminelle verdienen. Auch die Polizei wird verdächtigt, an Raubüberfällen beteiligt zu sein und Kriminelle zu decken. Bei drei von zehn in Blantyre durchgeführten Gerichtsverfahren wegen bewaffneten Raubüberfalls, seien aus Polizeistationen stammende Waffen involviert, berichtet eine Zeitung. Owen Njirongo, Reporter bei der „Nation“, würde es wundern, wenn die Polizei nicht korrupt wäre: „Ein einfacher Polizist verdient 1000 Kwacha. Die Miete in einem miserablen Zwei-Zimmer-Haus zahlt zwar der Staat, aber allein die Wasserrechnung beträgt 200 Kwacha, dazu kommen noch 600 Kwacha für einen Sack Mais.” Nach Abzug dieser Ausgaben bleiben von umgerechnet 45 Mark Gehalt noch sieben Mark. „Money makes the world go round” verkündet ein Plakat der Malawi National Bank am Kamuzu Highway in Blantyre. Legal an „Chizungu – Das Geld der Weißen“ zu kommen, ist heute schwerer denn je. Die 67prozentige Abwertung der Landeswährung im August 1998, der keine adäquate Anpassung der Gehälter folgte, macht das Leben selbst bei einem überdurchschnittlichen Einkommen kompliziert. Umgerechnet etwa 400 Mark verdient der Journalist Dickson Kashoti, und sagt, der einzige Luxus, den er sich davon leisten könne, seien Freitags ein paar Flaschen Bier. Der von vielen Arbeitgebern noch unterschrittene Mindestlohn beträgt ca. 25 Mark. Eine Polizistin berichtet, aus Angst vor Diebstahl hänge in Ndirande niemand mehr seine Wäsche draußen auf. Die Armen bestehlen sich gegenseitig. In der Asservatenkammer der Polizeistation in Blantyre liegen viele Dinge – ein Ventilator, eine Matratze, eine Decke, ein Stuhl, eine Bibel -, die Katinka Schröder Malawi nicht so aussehen, als seien sie aus Villen entwendet worden. Unter einem Schreibtisch steht ein Blecheimer voll Marihuana. Weil man nicht alle Menschen, bei denen man die Droge findet, ins Gefängnis stecken kann, entschied der High Court, das zweithöchste Gericht, dass der Besitz von weniger als einem halben Kilogramm auch mit einer Geldstrafe geahndet werden kann. Gelöst ist das Problem damit nicht. Häufig berichten die Zeitungen über Fälle wie diesen: Ein 20jähriger muss wegen Besitzes von 200 Gramm Marihuana für drei Monate ins Gefängnis, weil er 30 Mark Geldstrafe nicht aufbringen kann. Auch auf dem Land habe die Kriminalität bedrohliche Ausmaße angenommen, berichtet ein Referent während eines Workshops zur Verbrechensbekämpfung: „Wasserpumpen, Dünger, Samen, die Ernte – es wird gestohlen, was zu stehlen ist”. Streitigkeiten um Land seien ein häufiges Motiv für Totschlag, sagt Shinhead Mazengela, Anwalt bei der Menschenrechtsorganisation „Malawi Carer“. Vor allem im Süden hätten die Chiefs kaum noch „customary land“, das dem Volk gehört und nicht verkauft werden darf, zu verteilen. Das einige der Chiefs korrupt seien, und mehreren Menschen Geld für das selbe Stück Land abknöpften, verschärfe die Situation noch. Gegenüber Großgrundbesitzern würden die landlosen Habenichtse immer aggressiver, teils ermuntert von Politikern, die um ihre Stimmen buhlten. „Die Menschen nehmen Land in Besitz, von dem sie meinen, es würde nicht genutzt”. „Früher ging es uns besser” Von einer Kriminalität südafrikanischen Ausmaßes ist Malawi zwar noch weit entfernt, doch es sieht so aus, als würden sich die Gefängnisse in Zukunft eher weiter füllen als leeren. Im Gefängnishof des „Chichiri Prison“ in Blantyre demonstrieren Häftlinge, wie sie schlafen – einer hinter dem anderen hocken sie und verbringen so 13 Stunden eingeschlossen in der Zelle. Im „Chichiri Prison“ teilen sich bis zu 165 Häftlinge, im „Maulu Prison“ bis zu 109 Menschen eine 70 Quadratmeter große Zelle. „Zomba Central Prison“, für 600 Häftlinge gebaut, beherbergt 2000. Unter solchen Bedingungen verbreiten sich Krankheiten schnell. „Vorsicht”, ruft der Wärter, als über mir, von der Galerie aus, ein Häftling einen Blecheimer in den Mittelgang entleert: „Das ist kein Wasser, das ist Urin”. Mangels anderer Gefäße wird der Eimer auch zum Wasserholen und Spülen benutzt. Levious Mbunju, seit 1992 Untersuchungshäftling im „Zomba Central Prison“, sagt: „Früher ging es uns besser. Es gab genug zu Essen, die Wasserversorgung und die Toiletten funktionierten, wir konnten unsere Kleidung weggeben und draußen flicken lassen. Auch den Wärtern ging es besser, sie hatten anständige Uniformen”. Malawi Katinka Schröder Heute gehen viele Wärter mit privat erworbenen Schuhen zur Arbeit, weil Stiefel nicht mehr zugeteilt werden. Die meisten Gefangenen laufen in Lumpen herum. Morgens kämpfen die 2000 Insassen des Gefängnisses um Wasser. Manchmal gibt es keinen Tropfen, weil die Tanks lecken. Die Toilettenspülungen sind kaputt, barfuß in den Fäkalien stehend verrichten die Gefangenen ihre Notdurft. Da sie sich mangels Papier mit Lumpen und Ziegelsteinstücken säubern, sind die Toiletten hoffnungslos verstopft. Henry Dickson, wegen Mordes zum Tod durch den Strang verurteilt und 1997 von Präsident Muluzi begnadigt, berichtet: „Als ich 1992 inhaftiert wurde, bekamen wir Frühstück und Mittagessen. Reis gab es regelmäßig und alle zwei Wochen Fisch oder Fleisch”. Seit 1994 gäbe es immer dasselbe und manchmal ein oder zwei Tage lang gar nichts. Die tägliche Mahlzeit besteht aus einer Schöpfkelle Bohnen und einer Pampe aus Maismehl, die viel zu dünnflüssig ist, um die Bezeichnung „nsima“ – für Malawis das, was für Deutsche die Salzkartoffel ist – zu verdienen. Unandi Banda, der während der Diktatur als politischer Häftling und 1995 wegen der Organisation einer Demonstration inhaftiert war, sagt: „Für politische Häftlinge war das Gefängnis früher die Hölle. Es gab Folter und man hat uns absichtlich verfaulte Nahrungsmittel gegeben. Die Kriminellen dagegen wurden einigermaßen anständig behandelt. Heute dagegen können auch kurze Haftstrafen schon tödlich sein”. „Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist” Seit 1992 wurde die Todesstrafe in Malawi nicht mehr vollzogen. Weil westliche Geldgeber wegen Menschenrechtsverletzungen den Geldhahn zudrehten, war der greise Diktator Banda in den letzten Jahren seiner Regierungszeit milde gestimmt. Sein demokratisch gewählter Nachfolger, Präsident Bakili Muluzi, sicherte Amnesty International zu, keine Todesurteile mehr zu unterzeichnen. Im „Zomba Central Prison“ starb in den ersten sechs Monaten des Jahres 1999 alle zwei Tage ein Gefangener. Kranke aus allen Gefängnissen des Landes werden in das Hospital der Haftanstalt gebracht. „Die meisten kommen zum Sterben”, sagt Dr. Alban Jadidi, Leiter des Krankenhauses. In Maula und Chichiri, den beiden anderen Groß-Gefängnissen Malawis, gibt es, nach unterschiedlichen Angaben der Angestellten, ein bis vier Tote pro Monat. Darüber können die Häftlinge in Maula nur lachen. „Hier stirbt fast täglich einer”, sagen sie, und werfen den Behörden vor, die Angehörigen über den Tod eines inhaftierten Verwandten nicht zu informieren. Wer weit von seinem Heimatort entfernt im Gefängnis stirbt, landet im Massengrab. Dr. Jadidi ist der einzige studierte Mediziner in Malawis Haftanstalten, seine beiden Mitarbeiter sind Krankenpfleger. Viel können sie nicht tun, möglich ist nur eine klinische Diagnose. Wer Fieber hat wird als Malaria- Katinka Schröder Malawi Patient behandelt, wenn Medikamente vorhanden sind. Ob es wirklich Malaria ist, kann Dr. Jadidi nicht feststellen, weil er kein Labor hat. Das staatliche Krankenhaus in Zomba ist zwar besser ausgerüstet, aber auch hoffnungslos überlastet. Ohnehin haben Häftlinge kaum eine Chance, dort behandelt zu werden. Meist ist kein Auto für ihren Transport verfügbar und es fehlt an Personal zur Bewachung der Patienten. Von den 60 Wärtern, die sich in drei Schichten um 2000 Gefangene kümmern, kann selten einer entbehrt werden. Im Gefängnis-Hospital sind Medikamente Mangelware. Selbst für ausreichend Seife, unerlässlich für die Behandlung von Krätze, reicht das Geld nicht. Mit Aspirin, Schmerz- und Schlafmitteln, den einzigen Medikamenten, die meist ausreichend vorhanden sind, lassen sich die häufigsten Krankheiten Malaria, Durchfall und Krätze nicht kurieren. Ein 16jähriger im Jugendtrakt schildert die Hilflosigkeit der Krankenpfleger: „Wenn man Durchfall hat und das richtige Medikament nicht verfügbar ist, dann geben sie einem manchmal Schlaftabletten, damit sie ihre Ruhe haben. Sie können sich denken, was dann in der Zelle passiert”. Dank ausländischer Finanzhilfe kann Tuberkulose behandelt werden. Eine spezielle Diät, unerlässlich für den Heilprozess, bekommen die Patienten aber nicht. Um die mentale Gesundheit kümmert sich niemand. Die Jugendlichen bekommen keinen Schulunterricht, viele werden als Analphabeten entlassen. Seit 1993 haben die Häftlinge keinen Volleyball, keinen Fußball mehr gesehen. Die kleine Bibliothek wird zwar gerne genutzt, bietet mit 30 Büchern aber wenig Auswahl. Nur 50 Insassen haben das Glück, in den Gefängniswerkstätten arbeiten zu können. Früher wurden in der Tischlerei Möbel produziert, die Schneiderei stellte Uniformen her. Doch die meisten Maschinen sind kaputt, es fehlt Geld, um Stoff oder Holz zu kaufen. Dennoch werden in Malawi oft Haftstrafen mit „hard labour“ verhängt. Von den fast 2000 Menschen, die den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun haben, als auf den nächsten Tag zu warten, haben sich viele aufgegeben und liegen apathisch im Dreck. „Sie hören auf, sich zu waschen, sie leben wie die Tiere”, sagt Henry Dickson. Und Levious Mbunju fügt hinzu: „Eigentlich ist das hier ein Irrenhaus. Die Leute sind unberechenbar. Kürzlich hat sich einer die Axt geschnappt, die zum Holzhacken benutzt wird, und ist auf Mithäftlinge losgegangen”. Während meines Besuchs im „Chichiri Prison“ erzählt ein Wärter von einem einbeinigen Wahnsinnigen, der sich weigerte, dem Richter vorgeführt zu werden. Drei Wochen später ruft ein Freund an: „Der Einbeinige ist tot, ich habe gerade mit dem Polizisten gesprochen, der ihn erschossen hat. Er sagt, es war Notwehr”. Die Kugel traf ins Herz. Im Krankenhaus des Dr. Jadidi kommt der Tod langsamer aber mit ziemlicher Sicherheit zu früh. „Wie sollen sie hier gesund werden?”, fragt er 486 Malawi Katinka Schröder angesichts der Menschen, die in einem fensterlosen Raum auf dem Boden liegen. In der Quarantänestation für Tuberkulosefälle holen sich die Patienten leicht eine Lungenentzündung. Die beiden Krankensäle sind nicht viel besser ausgestattet, es gibt zwar einige rostige Bettgestelle aber keine Matratzen. An den allgegenwärtigen Mangel hat sich Dr. Jadidi gewöhnt, nicht aber an die Sturheit der Behörden. 1997 schlug er 173 Totkranke zur Begnadigung vor. Es dauerte ein Jahr, bis die notwendige Zustimmung des Präsidenten eingeholt war. Zwei Patienten wurden freigelassen, die anderen hatten zwischenzeitlich entweder ihre Strafe abgesessen oder waren gestorben. Dr. Jadidi zeigt auf zwei bis zum Skelett abgemagerte Menschen, die in einer Ecke kauern, und sagt leise: „Man fragt sich, ob das Teil der Strafe ist”. Kein Rauch ohne Feuer – Polizei und Gerichte Das fragt sich auch Mr. Sidira, höchster Richter in der Ost-Region. „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo fast jede Verurteilung einem Lebenslänglich gleichkommt. Kaum einer verlässt das Gefängnis lebend und wer es überlebt, dessen Gesundheit ist lebenslänglich ruiniert”. Trotzdem ist Milde keine hervorstechende Eigenschaft malawischer Richter, weiß der Anwalt Shinhead Mazengela von „Malawi Carer“. Im März 1999 interviewte er 42 im „Zomba Central Prison“ inhaftierte Jugendliche. Ein Drittel von ihnen habe mit dem Jugendstrafgesetz unvereinbar lange Haftstrafen bekommen, oder wegen Geringfügigkeit des Delikts überhaupt nicht ins Gefängnis gehört. „Der krasseste Fall war ein 16jähriger, der wegen Diebstahl eines Maiskolbens zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war”. Ein Urteil, das vor dem „High Court“ keinen Bestand gehabt hätte. Er ist unter anderem dafür zuständig, alle Entscheidungen der ersten Instanz auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. In Malawi ist das keine Formalität sondern bitter nötig, denn unterhalb des High Courts gibt es nur fünf Richter mit juristischer Ausbildung. Die meisten Urteile werden von Laien-Richtern gefällt, die immerhin Haftstrafen bis zu sieben Jahren verhängen können. Viele von ihnen haben während der Diktatur in den „Traditional Courts“ gewirkt, in denen Angeklagte kein Recht auf einen Anwalt hatten. Anaklet Chipeta, Chef-Anwalt von „Legal Aid“, einer dem Justizministerium unterstehenden Behörde, die mittellosen Malawis Rechtshilfe leisten soll, hat die „Traditional Courts“ in schlechter Erinnerung: „Es gab dort diese Kein-Rauch-ohne-Feuer-Philosophie. Wer beschuldigt wurde, musste irgendwie schuldig sein”. Nach dem Studium vieler Fälle kommt Anwalt Shinhead Mazengela zu dem Schluss, dass sich daran wenig geändert hat :„Die meisten Richter haben überhaupt keine Ahnung vom Gesetz. Sie scheinen nach Lust und Laune zu urteilen, nach dem Motto: Den kann ich nicht leiden, dem gebe ich zwei Jahre Gefängnis. Oder: Die Beweise reichen zwar nicht aus, aber er scheint schuldig zu Katinka Schröder Malawi sein“. Schlecht geschulte Richter verschärften noch das Unrecht, das durch die Methoden der Polizei erzeugt wird: „Noch immer wird mit Zigaretten-Folter und Schlägen gearbeitet, um Geständnisse zu erzwingen”. Während eines Workshops, bei dem es um die Frage geht, wie das Verhältnis zwischen Bürgern und Polizei verbessert werden kann, wehrt sich Loti Dzonzi, Forschungsreferent im Innenministerium, gegen den Vorwurf, die Polizei sei grundlos brutal: „Das Problem ist, dass die Polizei mit gerichtskriminalistischen Mitteln völlig unzureichend ausgestattet ist, manchmal fehlt sogar das Pulver, um Fingerabdrücke abzunehmen. Ich will es nicht entschuldigen, aber angesichts dieser Zustände ist es doch kein Wunder, dass versucht wird, Geständnisse zu erpressen”. Einige Wochen später habe ich Gelegenheit, mir Polizeiarbeit aus der Nähe anzusehen. Wegen eines angeblich abgelaufenen Visums werde ich um vier Uhr morgens aus meinem Hotelzimmer-Bett heraus verhaftet und aufs Revier gebracht. Es ist die Nacht der großen Säuberungsaktion, bei der allerdings nur kleine Fische ins Netz von Polizei, Militär und Einwanderungsbehörde gehen – illegale Prostituierte aus den Nachbarländern, Straßenhändler, die den legalen Erwerb ihrer Waren nicht belegen können, kleine Marihuana-Dealer, Flüchtlinge aus der Republik Kongo. Ein Passfälscher ist der größte Fang in der Gruppe von 100 Menschen, zu der auch ich gehöre. Ein Flüchtling aus Ruanda, der sich zum wiederholten Male unerlaubterweise aus dem Lager entfernt hat, wird beim Verhör mehrmals geschlagen. Als wir alle im Hof versammelt sind, zeigt ein Kommissar seinem Untergebenen, wie man eine Pistole lädt, die dabei in unsere Richtung gehalten wird. Weil die beiden etwa 80 Meter entfernt sind, kann ich nicht beurteilen, ob die Waffe entsichert ist. Die Männer um mich herum schauen besorgt, mir fällt der Häftling aus dem „Chichiri Prison“ ein, der geschrieen hatte: „Schreib’ die Wahrheit, Polizisten erschießen einen, wenn man nicht gesteht”. Ich habe mir umsonst Sorgen gemacht, wir werden anständig behandelt. Mit den weniger arroganten Polizisten, die nicht demonstrativ mächtig umherstolzieren, könnte man fast Mitleid bekommen. Sie arbeiten hart. Abends werde ich entlassen, und an der Bar des teuersten Hotels am Platze sehe ich den Kommissar wieder, der den ruandischen Flüchtling geschlagen hatte. Entspannt lächelt er mir zu und strebt zur Bar, wo schon Kollegen sitzen und den Extraverdienst aus der Säuberungsaktion in Alkohol umsetzen. Wie viele Urteile von Richtern gefällt werden, die nicht erkennen können oder wollen, dass die Beweislage nicht ausreicht, weil vielleicht ein Polizist schnell einen Schuldigen brauchte oder seine Karriere durch eine Verhaftung beförderten wollte – Shinhead Mazengela schätzt, dass es viele sind. Den Prüfern am „High Court“ entgehe nicht nur wegen Personalmangels so manches Unrechtsurteil: „Viele Urteile werden dem Gericht nicht zugesandt”. Aus eigener Initia- Malawi Katinka Schröder tive Berufung einzulegen, ist den meisten Verurteilten unmöglich. Ein Anwalt ist am „High Court“ zwar nicht vorgeschrieben, wegen der für Laien unverständlichen Prozeduren aber unumgänglich. „Was für eine Art Demokratie ist das?” Shinhead Mazengela schätzt, dass von den etwa sechs Millionen strafmündigen Malawis fünf Millionen nicht in der Lage sind, einen Rechtsanwalt zu bezahlen. Mit sechs Anwälten ist das „Legal Aid Department“ hoffnungslos unterbesetzt. Wer hier arbeitet, ist entweder ein Anfänger, ein Gescheiterter oder ein Engel. Als Angestellte in einer Rechtsanwaltskanzlei können schon Anfänger 600 Mark verdienen, die Anwälte der Armen bekommen nur ein mageres Gehalt, je nach Dienstjahren zwischen 100 und 300 Mark. Zur Zeit sind sie fast ausschließlich mit Mord- und Totschlag-Prozessen beschäftigt. Diese müssen vom „High Court“ entschieden werden und wegen der drohenden Todesstrafe muss dem Angeklagten ein Rechtsbeistand zur Seite stehen. Verlorengegangene Akten, Personal- und Geldmangel verzögern die Rechtsprechung. Zudem hat das alte Regime einen Haufen unerledigter Verfahren hinterlassen. Weil das Problem mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht in den Griff zu kriegen ist, verhandelte das Justizministerium im Oktober 1999 mit dem Anwaltsverein. Gegen eine reduzierte, vom Staat und der britischen Regierung gezahlte Gebühr sollen private Anwälte die Verteidigung übernehmen. Von den 3.000 Untersuchungshäftlingen in Malawi werden etwa 900 des Mordes oder Totschlags beschuldigt. Laut Verfassung haben sie das Recht auf ein Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit. Was angemessen ist, darüber schweigt die Verfassung. Nach der aktuellsten Bestandsaufnahme des „Malawi Inspectorate of Prisons“ aus dem Jahre 1997 saß jeder achte Mordverdächtige länger als vier Jahre in Untersuchungshaft. Für Levious Mbunju, seit 1992 inhaftiert, sind daraus mittlerweile sieben Jahre geworden. Er war in eine Massenschlägerei verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde. „Ich habe es nicht getan”, sagt er, „ich bin am nächsten Tag zur Polizei gegangen, um meine Zeugenaussage zu machen. Das würde sich schon alles aufklären, hat der Polizist mir gesagt. Seitdem hat man mich einfach vergessen.” Die Unschuldigen – denn als solche haben Untersuchungshäftlinge zu gelten – sind den selben lebensbedrohlichen Umständen ausgesetzt wie die Verurteilten. Verschärfend kommt für sie allerdings noch hinzu, dass für sie nicht die Gefängnisverwaltung, sondern die Polizei zuständig ist. Doch die trägt zur Ernährung der Untersuchungshäftlinge nichts bei. Wer keine Verwandten hat, die das Essen vorbeibringen, wird aus dem mageren Gefängnis-Budget mit durchgefüttert. Wer als Untersuchungshäftling krank wird, kann auf eine vielleicht lebensrettende Behandlung im Hospital noch weniger hoffen als ein Verurteil- Katinka Schröder Malawi ter. „Es sterben immer mehr Untersuchungshäftlinge, weil die Polizei sie nicht abholt und ins Krankenhaus bringt”, sagt Lazles Chikanamoyo, Leiter der Apotheke in „Maula Prison“. Wer kein Geld hat, braucht sich keine Hoffnung auf einen baldigen Prozess zu machen. Diese Erfahrung hat nicht nur der im „Zomba Central Prison“ inhaftierte Levious Mbunju gemacht. 5000 Kwacha (220 DM) habe der Anwalt von Legal Aid, der doch eigentlich kostenlos arbeiten solle, verlangt, um beim High Court die Aufnahme des Verfahrens zu beantragen. Dieselbe Summe nennt der Sprecher der Untersuchungshäftlinge im „Chichiri Prison“: „Wo sollen wir dieses Geld hernehmen? Die Demokratie in Malawi nützt nur den Reichen, wir Armen werden links liegen gelassen. Was für eine Art Demokratie ist das?” Geld und Wille Es ist vor allem eine arme Demokratie. Malawi gehört zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Nur eine kleine Oberschicht lebt gut. Das vom Parlament genehmigte Budget für das Haushaltsjahr 1999/2000 sieht umgerechnet 4,5 Millionen Mark für das leibliche Wohl des Präsidenten und seiner Gäste im „State House“ vor. Alle 23 Gefängnisse mit 7000 Insassen dürfen nur 3,5 Millionen Mark kosten. Aus diesem Ansatz müssen nicht nur die Ausgaben für die tägliche Ration der Häftlinge bestritten werden, sondern auch die Gehälter der Angestellten und sämtliche Betriebskosten. Der Ansatz kann sich bei schlechter wirtschaftlicher Entwicklung auch verringern. Zugeteilt wird das Geld monatlich in nicht vorauszusagender Höhe. Im Namen der Regierung kann das „Prison Department“ keine Schecks mehr ausstellen. Das nennt sich „cash-budget“, soll der Eindämmung der Geldverschwendung dienen, ist aber nichts anderes als ein Euphemismus für chronische Unterfinanzierung. Der Staat springt nicht mehr ein, wenn die Lieferanten nicht mehr liefern, weil sie ihr Geld nicht bekommen. Im Frühjahr konnte nur eine Finanzspritze der britischen Regierung eine Hungersnot in den Gefängnissen verhindern. Es mangele aber nicht nur an Geld, um die Zustände zu verbessern. Vor allem am Willen fehle es, meint Richter Sidira: „Ich kenne keinen Abgeordneten, der sich für Gefangene einsetzt. Sie glauben, an solche Leute sollte man kein Geld verschwenden”. Auch sähen viele Menschen, die selbst wenig haben, nicht ein, warum von dem Wenigen auch noch den Verbrechern gegeben werden sollte. Wegen der ablehnenden Haltung der Bevölkerung mache auch das Programm „Gemeinnützige Arbeit statt Haft“ nur langsame Fortschritte. Die Stimmen der Häftlinge zählten auch bei der zweiten demokratischen Wahl nicht. Kurz vor dem Wahltermin im Juni 1999 verkündete die Wahlkommission, man habe es nicht rechtzeitig geschafft, die Gefangenen zu registrieren. Die Wahlen wurden zu großen Teilen von der EU finanziert, das Geld reichte nicht. Malawi Katinka Schröder Zur Misere in den Gefängnissen hat nicht zuletzt beigetragen, dass sich die junge Demokratie bemühte, einem Image gerecht zu werden, dass es sich nicht leisten kann. Kurz nach seinem Sieg in den ersten freien Wahlen 1994 ließ der Präsident drei berüchtigte Gefängnisse, in denen während der Diktatur politische Häftlinge einsaßen, schließen. Neue Haftanstalten sind seitdem nicht gebaut worden, obwohl sich die Zahl der Gefangenen seit Ende der Einparteienherrschaft verdoppelt hat. 400 Hektar Brachland – Die Gefängnisfarmen Welche Rolle ein unreflektiertes Verständnis der Menschenrechte beim Niedergang der Gefängnisfarmen gespielt hat, ist umstritten. Ich habe hierzu viele Meinungen gehört, ohne das sich ein klares Bild ergeben hätte. Unani Banda, der 1992 aus dem Exil in Südafrika zurückkehrte um ein demokratisches Malawi aufzubauen, gibt sich und seinesgleichen die Schuld. „Um der internationalen Gemeinschaft zu gefallen, haben wir gefordert, die Zwangsarbeit auf den Gefängnisfarmen abzuschaffen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken”. Die Farmen seien geschlossen worden, das System der Selbstversorgung zusammengebrochen. Ein Wärter im „Maula Prison“ meint, das Rote Kreuz trage daran eine Mitschuld: „Die kamen 1992 und haben den Gefangenen erzählt, sie brauchten keine Zwangsarbeit zu leisten. Daraufhin haben sich die Häftlinge geweigert, auf den Farmen zu arbeiten. Heute, wo es nicht genug zu Essen gibt, flehen sie uns an, wieder dort arbeiten zu dürfen”. Machatine Mojo, stellvertretender Leiter des „Prison Farm Department“, widerspricht beiden Versionen. Zwar hätten sich Gefangene nach Besuchen von Mitarbeitern des Roten Kreuzes geweigert zu arbeiten, doch das sei nicht der Grund für die schlechte Ertragslage. Auch seien die Farmen nie geschlossen worden, vielmehr habe eine Dürre in den Jahren 1992 bis 1994 für schlechte Ernten gesorgt. „Schon früher reichten die Erträge der Gefängnisfarmen nicht aus, um alle Gefangenen das ganze Jahr lang zu ernähren. Vor 1992 wurden für 3.000 Gefangene 300 Tonnen Mais gebraucht, produziert wurden aber nur 40 Prozent, also 120 Tonnen. Heute müssen wir 7.000 Gefangene ernähren und brauchen dafür mindestens 450 Tonnen. 50 Prozent kommen von Gefängnisfarmen, mit 225 Tonnen produzieren sie heute also mehr als früher”. 450 Tonnen Mais für 7.000 Häftlinge – das wären knapp 20 Gramm „nsima“ mit einem Energiegehalt von 75 Kilokalorien pro Tag und Häftling. Da ein durchschnittlicher Bewohner der Ersten Welt bereits während achtstündiger Nachtruhe 500 Kilokalorien verbraucht, kann an dieser Zahl etwas nicht stimmen. Der Blick in die Kochtöpfe der Gefängnisküchen von Maula und Chichiri zeigt, dass die Häftlinge etwas mehr erhalten, doch bei weitem nicht genug. In Katinka Schröder Malawi den Stahlkesseln der beiden Gefängnisse werden nach offiziellen Angaben täglich 1,45 Tonnen Mais und 350 Kilo Erbsen oder Bohnen für insgesamt 2.350 Häftlinge gekocht. Jeder erhält demnach 60 Gramm „nsima“ und 5 Gramm suppiges Gemüse, was zusammengerechnet etwa 230 Kilokalorien entspricht. Unvorstellbar, dass ein Mensch von dieser Ration überleben kann. Ebenso unvorstellbar andererseits, dass die 50 Menschen, die um die Mittagszeit vor dem „Chichiri Prison“ darauf warten, Verwandten oder Freunden Essen bringen zu dürfen, das Problem lösen können. Es bleibt mir ein Rätsel, warum ich so wenige Häftlinge sah, die offensichtlich dabei waren zu verhungern. Den Ertrag aller neun Gefängnisfarmen in diesem Jahr schätzt Machatine Mojo auf 400 Tonnen. Mehr ist zur Zeit nicht drin, denn von den 500 Hektar Farmland können aus Geldmangel nur 75 Hektar für den Anbau von Häftlingsnahrung und 25 Hektar für die kommerzielle Landwirtschaft, deren Erlöse wieder dem Gefängnis-Etat zufließen, verwendet werden. „Wenn wir nur mehr Geld für Dünger und Farmmaschinen hätten – wir könnten auf lange Sicht bei der Versorgung der Häftlinge viel Geld sparen”, klagt Machatine Mojo. Mag sein, dass die Gefängnisfarmen dank der Finanzhilfe von der Europäischen Union heute mehr produzieren als früher, wie er behauptet. Ich habe nur eine Farm besucht und einen anderen Eindruck gewonnen. Auf der „Mpyupyu Prison Farm“ wird ein Drittel des fruchtbaren Landes für den Anbau von Mais, Gemüse und Tabak genutzt. „Vor 1992 wurde hier mit weniger Häftlingen mehr produziert. Sie mussten länger arbeiten, Menschenrechte wurden ja nicht beachtet. Außerdem gab es zwei Traktoren”, sagt der stellvertretende Gefängnisleiter Frederick Kainja. Von 350 Häftlingen arbeiten zur Zeit nur 100 auf der Farm, allerdings schaffen sie wegen der schlechten Ernährung nur vier Stunden Arbeit am Tag. Selbst wenn das gesamte Land genutzt werden könnte, fehlte es an Personal um die Arbeiter zu bewachen. John Chimodzi, seit einem Jahr Leiter dieser Farm, kann den diesjährigen Ertrag noch nicht abschätzen, doch er dürfte wohl ähnlich niedrig ausfallen, wie bei seiner letzten Dienststelle in Kasungu: „Dort haben wir 1998 1,2 Tonnen Mais produziert, 1994 waren es 2,8 Tonnen”. Zu schaffen macht dem Farmleiter auch, dass bereits dreimal Gemüse gestohlen wurde, seit er hier ist. Beim letzten Mal seien die Kohlköpfe nur entwurzelt aber nicht mitgenommen worden. „Die Leute in der Umgebung neiden uns das unbenutzte Land”, so erklärt er sich das. Seine drei Kinder, die mich fröhlich begrüßen, haben Hungerbäuche. Strafe muss (trotzdem) sein „Wir sind nicht hier, weil wir zu Nahrungsmittelentzug verurteilt wurden”, sagt Chimwemwe Mputahelo, Sprecher der Untersuchungshäftlinge im „Zomba Central Prison“, „ wir sind hier, weil uns die Freiheit entzogen wurde. Das ist schlimm genug”. Welchen Zweck eine Haftstrafe unter diesen 492 Malawi Katinka Schröder Bedingungen habe, sei ihm nicht klar. Ginge es darum, die Menschen zu reformieren, würde eine Woche in dieser Hölle ausreichen; ging es um Buße, habe es keinen Sinn, die Menschen für harmlose Straftaten mit dem Leben bezahlen zu lassen. Als Beispiel nennt er Barton Mkandawire, einen ehemals staatlich angestellten Buchhalter, der wegen Diebstahls von 21.000 Kwacha (knapp 1.000 DM) zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Ich treffe den 32jährigen im Gefängnishospital, er hat sich mit Tuberkulose angesteckt. „Manchmal bin ich kurz davor wahnsinnig zu werden, wenn ich daran denke, dass ich wahrscheinlich bald sterben werde”, sagt er. Warum habe man ihm nicht erlaubt, das Geld in Raten zurückzuzahlen, anstatt ihn auf Staatskosten durchzufüttern? Vielleicht hätte er dann weiter das Schulgeld für seine beiden Schwestern bezahlen können. Wäre es nicht Strafe genug gewesen, ihn zu entlassen? Warum Haft unter solchen Bedingungen trotzdem sein muss, erfahre ich auf einer von Deutschen und Briten besuchten Party in der Diplomatenstadt Lilongwe. Zu 18 Monaten Gefängnis sei jemand verurteilt worden, weil er einen Rückspiegel gestohlen habe, erzähle ich der Freundin eines deutschen Unternehmers. Sie reagiert schnell und kühl: „Nur so lernen sie, mit dem Stehlen aufzuhören”. Gewerkschaften in Malawi Von der Zwangsharmonie zur Unabhängigkeit 31 Jahre lang, bis zur Gründung des „Malawi Congress of Trade Unions“ im Jahr 1995, wirkten die Gewerkschaften unter der Fuchtel der allein herrschenden Partei. Es galt ein Streikverbot, unabhängige Tarifverhandlungen gab es nicht. Der „Trade Union Congress of Malawi“ war ein zahnloser Tiger. Dennoch hat ein Mann aus der Gewerkschaftsbewegung, ähnlich wie Frederick Chiluba in Zambia, eine wichtige Rolle beim Übergang von der Diktatur zum Mehrparteiensystem gespielt. Bereits als junger Politiker war Chakufwa Chihana wegen seiner radikalen Einstellung zu Arbeiterrechten bei dem Regime in Ungnade gefallen. Nach sieben Jahren Haft und anschließendem Exil kehrte er 1988 nach Malawi zurück, wobei ihm seine Rolle als Vorsitzender des „Southern African Trade Union Congress“ eine gewisse Immunität ab. Drei Wochen nach dem 8. März 1992, jenem Tag, an dem in den Kirchen des Landes der regimekritische Hirtenbrief der katholischen Bischöfe verlesen worden war, reiste Chihana nach Zambia und verkündete in einem BBCInterview, er wolle den Diktator mit einer Partei der demokratischen Allianz herausfordern. Bei seiner Rückkehr nach Malawi wurde er am Flughafen festgenommen und inhaftiert. Die Opposition hatte ihren Märtyrer, die Verhaftung Katinka Schröder Malawi machte weltweit Schlagzeilen und erhöhte den Druck, den die internationalen Geldgeber auf die malawische Regierung ausübten. Anfang Mai 92 erlebte die Republik Malawi den ersten Streik ihrer Geschichte. Ausgehend von der Textilfabrik David Whitehead in Blantyre, breitete er sich über die Industriebetriebe der Hauptstadt Lilongwe, die staatliche Zuckerfabrik in der Zentralregion und die Tee- und Tabak-Plantagen im Süden des Landes aus. Selbst die Angestellten der staatlichen Fluggesellschaft, der Eisenbahn und der Banken in Blantyre und Lilongwe schlossen sich an. Die zwei Tage dauernden Straßenkämpfe mit der Polizei kosteten 38 Menschen das Leben, doch die in Jahrzehnten der Diktatur gezüchtete Kultur aus Angst, Opportunismus und Schweigen war gebrochen worden. Und das nicht durch die Gewerkschaften, sondern durch Arbeiter, die aus eigener Initiative und auf eigenes Risiko gehandelt hatten. Das die ehemalige Gewerkschaftsführung noch in der Umbruchphase kuschte, ist ein schweres Vermächtnis für die jungen Gewerkschaften. Die MCTU habe aus der Vergangenheit eine Lehre gezogen, sagt ihr Generalsekretär Francis Antonio: „Traue keinem Politiker, sie versprechen viel und halten nichts”. Auch mit der von Chakufwa Chihana geführten Partei AFORD, der drittstärksten Fraktion im Parlament, möchten sich die Gewerkschaften nicht gemein machen. Ohnehin hat Chihana heute selbst im Norden, seiner Heimatregion, einen schlechten Ruf. Natürlich wählen die Menschen hier AFORD, so wie die im Süden UDF wählen, doch selbst in Mzuzu, der Hauptstadt des Nordens, wird über seinen diktatorischen Führungsstil und seine Doppelmoral gelästert. Aus der Umklammerung einer Partei haben sich die malawischen Gewerkschaften befreit. Nun haben sie es mit einer Regierung zu tun, die in ihnen vor allem eine Bedrohung sieht. „Unser Präsident hat wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten seinen Arbeitsplatz verloren”, führt Francis Antonio als ein Beispiel an. Nach 21 Jahren bei der staatlichen „Malawi Tourism Development Investment“ wurde Ken Mhango 1998 entlassen, weil er durch die Übernahme der MCTU-Präsidentschaft angeblich Vertragsbruch begangen hätte. Warnungen des Arbeitgebers, wie etwa „Beiße nicht den Finger, der dich füttert”, seien vorausgegangen und das Staatsoberhaupt persönlich, damals zusätzlich Minister für staatliche Beteiligungen, habe gespottet: „Wie, Du stehst noch auf der Gehaltsliste?” Nach seiner Entlassung hetzte die regierungsnahe Presse, Mhango dürfe als Arbeitsloser nicht der MCTU vorstehen und leugnete dabei das in der Verfassung verbriefte Recht auf freie Assoziation. Nach meiner Abreise erklärte das Arbeitsgericht die Kündigung Mhangos mit Verweis auf dieses Recht für unzulässig. Es gibt noch weitere Beispiele dafür, dass das Verhältnis zwischen Regierung und Gewerkschaft gespannt ist. 128 Arbeiter, die für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen bei der „National Seed Company“ gestreikt hatten, wurden Malawi Katinka Schröder fristlos gekündigt und die Eisenbahngesellschaft hat vor ihrer Privatisierung drei bei ihr angestellte Gewerkschaftsfunktionäre entlassen. Das ist schon finanziell ein Problem, denn hauptamtlich angestellte Funktionäre können sich die Gewerkschaften in Malawi nicht leisten. Sie sind auf ausländische Unterstützung, unter anderem von der deutschen FriedrichEbert-Stiftung, schwedischen, norwegischen und englischen Gewerkschaftsverbänden, angewiesen. Etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer seien organisiert, aber nur fünf Prozent davon zahlten ihre Beiträge regelmäßig, sagt Francis Antonio. Da viele Arbeitnehmer kein Konto haben, ist es mühsam, die Beiträge einzutreiben. Die hohe Arbeitslosigkeit – offizielle Statistiken gibt es nicht, doch sollen etwa 70 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Anstellung sein – verschärft die Lage. Außerdem gibt es nur wenige Arbeitnehmergruppen – im öffentlichen Dienst, im Transportwesen und bei der Post – die starke Blöcke bilden können und mächtig genug sind, überbetriebliche Tarifverhandlungen durchzusetzen. Die, welche die Unterstützung der Gewerkschaften am nötigsten bräuchten – Plantagen-Arbeiter, Hausangestellte und Beschäftigte in den „Export Processing Zones“ – sind wegen des überreichen Angebots an Arbeitskräften, ihrer Armut und schweren Erreichbarkeit wegen, am schwierigsten zu organisieren. De-Industrialisierung und „Export Processing Zones“ Die mit dem Status einer „Export Processing Zone“ verbundenen Subventionen sind in Malawi nicht an einen Produktionsstandort gebunden. Einzige Bedingung für den Erhalt einer EPZ-Lizenz ist, dass die Firma ausschließlich für den Export produziert, damit der Wettbewerb auf dem einheimischen Markt nicht gestört wird. Denn EPZ-Unternehmen können konkurrenzlos günstig produzieren. Sie sind von der 38-prozentigen Körperschaftssteuer ausgenommen und zahlen keine Importzölle für Maschinen, Rohstoffe und Zwischenprodukte. Zur Zeit produzieren in Malawi 16 EPZ-Firmen, deren Mutterunternehmen aus Süd-Afrika, Taiwan und anderen asiatischen Staaten stammen, für den Export in afrikanische Nachbarländer und nach Europa. Zwölf davon stellen Bekleidung her, zwei sind im Schnittblumen-Geschäft, eine verarbeitet Vermiculit, ein unter anderem zur Dämmung und Plastikherstellung verwendetes Mineral, eine produziert Möbel. Im Prinzip sollten die EPZ-Firmen nicht nur verlängerte Werkbänke ausländischer Unternehmen sein, sagt Watipaso Mkandawire von der „Malawi Investment Promotion Agency“ (MIPA), die für die Ausstellung der Lizenzen zuständig ist. Man hoffe, die Handelsbilanz zu verbessern, indem Rohstoffe, anstatt zu Schleuderpreisen ins Ausland verkauft zu werden, im Land verarbeitet würden. Katinka Schröder Malawi Außerdem sollten einheimische Unternehmen als Zulieferer von Vorprodukten profitieren. Beide Rechnungen seien zumindest für die Textilindustrie bisher nicht aufgegangen, obwohl Malawi ausreichend Baumwolle produzieren könne, bedauert Watipaso Mkandawire: „Es gibt nur einen einzigen einheimischen Stoffproduzenten, der die Nachfrage nicht bedienen kann. Deshalb importieren alle EPZ-Firmen die benötigten Vorprodukte, vom Garn bis zum Knopf ”. Mkandawire leugnet nicht, dass es Betrüger gegeben habe, die EPZ-Unternehmen nur gegründet hätten, um ihre in Asien fertig produzierten Textilien als ‘Made in Malawi’ zollfrei nach Süd-Afrika, Zimbabwe und Europa exportieren zu können. Die Bedingungen für die Zollfreiheit – eine 25-prozentige Wertsteigerung des Produkts durch Veredelung in Malawi – seien nicht erfüllt worden. Inzwischen habe man in Absprache mit Süd-Afrika, dem wichtigsten Einund Ausfuhrland für malawische EPZ-Produkte, wirksame Kontrollmechanismen eingeführt. „Angesichts der Schwierigkeiten, die selbst der hochentwickelte Zoll in Europa mit dem Quotenschwindel hat, ist es zwar vorstellbar, dass es hier und da noch Betrug gibt. Doch im großen und ganzen haben wir das Problem gelöst”, meint Watipaso Mkandawire. 1995, als in Malawi erstmals Lizenzen für die EPZ-Produktion vergeben wurden, hagelte es Kritik von der Weltbank und dem Internationalem Währungsfond, denn Exportsubventionen sind ein Verstoß gegen die Regeln der Welthandelsorganisation. Darüber habe er angesichts der Wirtschaftspolitik in Europa, wo Firmen sogar Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen bekämen, nur lachen können, erinnert sich Watipaso Mkandawire. „Das ärgerliche an dieser Kritik ist, dass uns niemand gesagt hat, wie wir ohne diese Subventionen Arbeitsplätze schaffen und mehr Devisen erwirtschaften sollen. Ohne diese Anreize sind in Malawi produzierte Güter nicht wettbewerbsfähig. Wir können es uns nicht erlauben, nur noch zu importieren”. Als „Extreme Suffering for African People” bezeichnete ein malawischer Journalist die ESAP, die seit den 80er Jahren von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond aufoktroyierten Strukturanpassungsprogramme. Exportorientierung, Liberalisierung und Reduzierung des Haushaltsbudgets, wozu auch die Streichung von Subventionen für die Kleinbauern gehörte, haben dem Land nicht den erhofften Aufschwung gebracht. Seit der weitgehenden Abschaffung protektionistischer Importzölle durch bilaterale Abkommen innerhalb der „Southern African Development Community“ (SADC), unter anderem mit den wichtigsten afrikanischen Handelspartnern Zimbabwe und Süd-Afrika, findet in Malawi eine schleichende De-Industrialisierung statt. Die Transportkosten für importierte Produktionsmittel sind höher als in den Nachbarländern, die Infrastruktur ist miserabel und durch die Währungsabwertung sind die Preise für Rohstoffe, Transport, Energie und Wasser gestiegen, während die Kaufkraft gesunken ist. Mit hohen Einfuhrzöllen auf Malawi Katinka Schröder – abgesehen von Dünger – fast alles, was für die Herstellung landwirtschaftlicher oder industrieller Güter benötigt wird, würgt der fast bankrotte Staat die einheimische Industrie ab, während fertige Produkte aus Süd-Afrika und Zimbabwe zollfrei auf den malawischen Markt gelangen. Wie schlecht es um das produzierende Gewerbe steht, zeigt die während meines Aufenthaltes verkündete Schließung von Brown & Clapperton. Mangels Aufträgen musste die Firma, die in Malawi ein Monopol für die Installation von Produktionsmaschinen hatte, aufgeben. Welche Folgen der freie Wettbewerb zwischen dem kleinen Land ohne nennenswerte Bodenschätze und Zugang zum Meer und den geografisch begünstigten und besser entwickelten Handelspartnern Süd-Afrika und Zimbabwe hat, lässt sich auf den ersten Blick im Supermarkt erkennen: Geflügel, Eier und Marmelade – einst in Malawi produziert und sogar exportiert – stammen aus SüdAfrika oder Zimbabwe; Körperpflege- und Waschmittel sind „Made in South Africa“, der multinationale Konzern Unilever verpackt sie in seiner malawischen Niederlassung nur neu; genauso macht es auch BAT. „Life“, die bis vor einem Jahr in Malawi hergestellte Zigarettenmarke, wird nun aus Süd-Afrika importiert. Es ist betriebswirtschaftlich günstiger, den Rohstoff, und danach das fertige Produkt, Tausende von Kilometern weit zu transportieren, als die Zigaretten im Erzeugerland, dem zweitgrößten Tabak-Exporteur Afrikas, zu produzieren. Die „Export Processing Zones“ gehören zu den verzweifelten Versuchen, die De-Industrialisierung Malawis aufzuhalten. 10.000 Arbeitnehmer, schätzt Watipaso Mkandawire, werden in EPZ-Firmen beschäftigt, davon vier Fünftel in der Textilindustrie. Billige Arbeitskraft alleine, die das Land im Überfluss habe, ziehe heute keinen Investor mehr an, sagt er. Zusammen mit den großzügigen Subventionen allerdings, habe sie eine große Rolle bei der Entscheidung der zwölf Textilhersteller und -handelsketten aus Süd-Afrika, Taiwan und anderen asiatischen Ländern gespielt, in Malawi EPZ-Niederlassungen zu gründen: „Die Textilindustrie ist sehr arbeitsintensiv. 2.000 Leute in Süd-Afrika anzustellen, wo der Mindestlohn bei etwa 14.000 Kwacha (ca. 600 DM) liegt, oder sie hier in Malawi zu beschäftigen, wo ein Näher 2.000 Kwacha (ca. 90 DM) verdient, ist schon ein großer Unterschied. Das rechnet sich trotz der erhöhten Transportkosten für den Export”. Es rechnet sich noch besser, wenn man weiß, dass Arbeiter in den „Export Processing Zones“ weitaus weniger verdienen. Das monatliche Einkommen in den EPZ-Unternehmen liegt je nach Qualifikation zwischen 700 und 1.500 Kwacha. Eine soziale Absicherung ist darin nicht enthalten, sieht man einmal davon ab, dass ein Arbeitnehmer einen gesetzlichen Anspruch auf einen Tag Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat, allerdings nur jeweils einmal in zwei Wochen. Die EPZ-Unternehmen zahlen zwar mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 550 Kwacha, doch der ist eine schlechte Messlatte. Augustine Bobe vom „United Katinka Schröder Malawi Nations Development Programme“ hat ausgerechnet, dass ein Arbeiter, der den Mindestlohn bekommt, 28,77 Tage arbeiten muss, um ausreichend Mais für die Ernährung einer vierköpfigen Familie zu kaufen. Von 800 Kwacha, der niedrigsten Lohnstufe beim EPZ-Textilhersteller Bentex, könnten sich die Arbeiter gerade mal die Miete für eine elende Ein-ZimmerHütte und das Essen leisten, sagt der Näher Joseph. Er verdient 1.060 Kwacha und hat ein eigenes Haus. Selbst ihm aber fehle das Geld, um Second-Hand-Kleidung zu kaufen. In seinem sauberen blauen Hemd und der grauen Polyesterhose sieht er eigentlich ganz ordentlich aus. „Das ist alles auf Kredit gekauft, wir nennen das „Katapilasi“. Ein Freund leiht dir Geld, vielleicht 50 Kwacha, damit Du Dir ein Shirt kaufen kannst. Wenn Du Deinen Lohn bekommt, zahlst Du ihm 75 Kwacha zurück. Obwohl Du den ganzen Tag arbeitest, hast Du immer Schulden, immer Probleme. Leben kann man das nicht nennen”. Jeden Morgen bricht er gegen fünf Uhr im Dunkeln auf, damit er um sieben Uhr in der Fabrik ist. Mit dem Sonnenuntergang um halb sechs ist er dann wieder daheim. Heute fahre ich ihn nach Hause. Selbst mit dem Auto brauchen wir eine halbe Stunde, denn etwa fünf Kilometer außerhalb des Zentrums von Blantyre beginnt eine tückische Sandstraße, danach droht ein buckliger Feldweg den Boden des Autos aufzuschlitzen. Endlich sagt Joseph vor einem Haus aus Lehmziegeln „Stop”. Mit seiner Frau teilt er eine Wohnküche, natürlich ohne Wasser- und Stromanschluss, sowie das durch einen Vorhang abgetrennte Schlafzimmer. Beiläufig erzählt er, ihr sechs Monate alter Sohn sei vor kurzem an Tuberkulose gestorben. Besuche in „Export Processing Zones“ Seit einem halben Jahr versucht die Textil-Gewerkschaft Mitglieder in Export Processing Zones zu gewinnen. Bisher erfolglos. Die Arbeitnehmer seien bereit, sich zu organisieren, doch nicht nur die Arbeitgeber blocken. „Die Regierung hat mit den EPZ-Firmen Sondervereinbarungen getroffen”, vermutet Francis Antonio. Kurze Zeit später bekomme auch ich diesen Eindruck. Mit Pecy Banda, George Kapalanga und Charles Mikunde, drei „Organizern“ verschiedener Gewerkschaften, mache ich mich auf den Weg zu einigen EPZ-Firmen in Blantyre. Unsere erste Station ist Bentex. Ein kleiner Wächter in Camouflage-Uniform öffnet das Tor und salutiert. Wie gut, dass ich ein Auto habe. Mit einem Auto genießt man Vertrauen. Meine drei Begleiter müssen sich normalerweise in Minibusse quetschen, und, wenn der Betrieb außerhalb liegt, noch kilometerweit laufen, um dann am Tor unter Umständen abgewimmelt zu werden. „Der Boss ist nicht da”, sagt ein anderer Wächter, der den Eingang zum Büro bewacht. Pecy Banda bittet darum, mit der Sekretärin einen Termin absprechen zu dürfen. Während wir warten, kommt sein Kollege vom Tor auf Malawi Katinka Schröder uns zu und murmelt zweideutig: „Wenn ich eine Waffe hätte, ich würde die Bosse feuern. Das sind Räuber”. Nach einer Viertelstunde erfahren wir von seinem Kollegen: „Die Sekretärin ist nicht bereit, mit ihnen zu sprechen”. Für meine Begleiter nichts Neues. Es ist bereits der dritte Besuch hier, bei dem eine Terminabsprache scheitert. Einige Tage später machen wir einen zweiten Versuch bei Bentex und werden zum Geschäftsführer vorgelassen. Was er von Gewerkschaften halte, wolle er mir nicht sagen, und eine Besichtigung der Fabrik sei generell nicht zulässig, weil das die Arbeiter nur verwirren würde. Immerhin schlägt er einen Termin in zwei Wochen vor, dann sei sein Boss aus Süd-Afrika zurück. Was daraus wurde, weiß ich nicht, denn meine Zeit ist bereits für die Gefängnis-Recherche verplant. Unsere zweite Station ist die Textilfabrik Crossbow. Charles Mikunde hatte mir Hoffnung gemacht, hier ein Interview mit dem Arbeitgeber führen zu können. Dies sei die einzige EPZ-Firma, die nicht grundsätzlich gewerkschaftsfeindlich sei und alle Arbeiter wollten sich organisieren. Wir haben Glück, der Mann, der uns freundlich begrüßt, ist der Boss höchstpersönlich. Als er erfährt, um was es geht, zieht er sich in die Tiefen seiner Lagerhalle zurück und ruft: „Ob ich hier Gewerkschaften zulasse, muss ich mir erst noch überlegen”. Den dritten Versuch machen wir bei Chilimba Garments. Bei diesem Textilhersteller hatten Arbeiter vor einigen Monaten in einem Wutausbruch Nähmaschinen zerstört und Feuer gelegt, weil die versprochene Lohnerhöhung nicht gezahlt worden war. Die, denen man nicht gekündigt habe, wollten nun geschlossen der Gewerkschaft beitreten, hatte Charles Mikunde mir erzählt. Wir gehen eine Rampe hinauf und blicken in eine Halle, in der etwa 20 Männer damit beschäftigt sind, Blusen und Kinderkleider für den Export nach SüdAfrika zu verpacken. Zeit, mit einem der Arbeiter zu sprechen, bleibt nicht. Freundlich aber bestimmt werden wir in das Büro des Personalchefs gebeten. Büro? Es ist ein Verschlag mit wackliger Sitzbank und alterskrummem Tisch. Die Tür ächzt in den Angeln, als ein etwa 30jähriger Mann im verblichenen Kittel, dem eine nur noch aus Flicken bestehende Hose um die Beine schlottert, den Verschlag betritt: „Guten Tag, ich bin der Personalchef. Was kann ich für Sie tun?” Charles Mikunde kennt den Mann bereits von zwei früheren Besuchen. Er war nicht besonders kooperativ gewesen und hatte ihn beim letzten Mal an die Chefsekretärin verwiesen, die sehr deutlich geworden war: „Wir wollen die Gewerkschaft hier nicht”. Die schriftliche Bestätigung, um die er gebeten habe, sei bisher nicht eingegangen. Damit könnte Charles Mikunde beim „Labour Office“ Beschwerde einlegen. Die Regierungsbehörde ist unter anderem dafür zuständig, die Einhaltung aller den Arbeitsmarkt betreffenden Gesetze zu fördern und zu überwachen. Das „Labour Office“ muss ein- Katinka Schröder Malawi schreiten, wenn ein Arbeitgeber einer Gewerkschaft den Zutritt zum Gelände, oder Angestellten das in der Verfassung verankerte Recht, sich in der Gewerkschaft zu organisieren, verweigert. Auch heute sei der Boss nicht da, bedauert der Personalchef. Mister Shi, der zweite Mann in der Firma, spreche leider kein Englisch. Wir sind also umsonst gekommen. Immerhin erfahren wir vom Personalchef, dass das Management es für legitim halte, die Arbeiter erst gar nicht entscheiden zu lassen, ob sie Mitglied einer Gewerkschaft werden wollen. Kürzlich sei ein Mann vom „Labour Office“ da gewesen: „Der hat gesagt, wir bräuchten hier keine Gewerkschaft, weil wir doch bereits ein Arbeiter-Komitee haben”. Noch deutlicher wird Watipaso Mkandawire von der MIPA: „Wir wollen nicht, dass die Arbeiter in den EPZ ausgebeutet werden, deshalb schlagen wir vor, Arbeiter-Komitees zu gründen. Aber wir wollen auch nicht, dass die Leute sich ihre eigene Zukunft verderben. Sie sehen nur „Oh, diese Firma macht eine Menge Geld“, aber sie sehen nicht die Kosten, die dahinterstecken. Sie glauben, wenn sie Mitglied einer Gewerkschaft werden, könnten sie mehr und mehr verlangen”. Richtig daran ist, dass nur die Gewerkschaften durch den „Labour Relations Act“ gesetzlich verankerte Rechte haben, gleichberechtigt mit dem Arbeitgeber zu verhandeln und für Lohnverhandlungen Bilanzen einzusehen. Im Gegensatz zu den Arbeiter-Komitees können sie außerdem ihre Mitglieder bei Arbeitsprozessen vertreten. Falsch ist die indirekte Behauptung, Gewerkschaften in Malawi seien streikwütig. Sie sind eher übervorsichtig, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie es sich noch nicht leisten können, streikende Mitglieder finanziell zu unterstützen. Bei zwei Betriebsversammlungen war ich dabei und erstaunt, wie bescheiden die Forderungen waren, die gestellt wurden. Nie fehlte die mit Pathos vorgetragene Mahnung an die Arbeiter: „Seid fleißig und lasst euch nichts zu Schulden kommen. Sonst können wir nichts erreichen”. Dass die Arbeiter-Komitees den Gewerkschaften vorgezogen werden ist um so paradoxer, als gerade in den nicht gewerkschaftlich organisierten „Export Processing Zones“ Streiks und Streikandrohungen häufig sind. Joseph, Mitglied im Arbeiter-Komitee einer EPZ-Firma, beschreibt, warum sie oft die einzige Sprache seien, die Arbeitgeber verstünden: „Wenn der Chef etwas von uns will, müssen wir uns sputen. Wenn wir ihn um etwas bitten oder ein Problem besprechen wollen, warten wir lange auf einen Termin”. Streiks sind nicht nur üblich um Lohnerhöhungen durchzusetzen. Gestreikt wird auch, um Forderungen nach Einhaltung der gesetzlicher Kündigungsfrist oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Nachdruck zu verleihen. Das Behörden wie MIPA oder das „Labour Office“ gewerkschaftsfeindlichen EPZ-Firmen Rückendeckung geben, ist weniger aus der Angst vor Streiks zu erklären. Vielmehr scheint es darum zu gehen, die Unsicherheit aufrechtzuerhalten. Ein illegaler Streik, ob wegen einer umstrittenen Lohnerhöhung oder Malawi Katinka Schröder klarer gesetzlicher Verstöße des Arbeitgebers, ist nervenaufreibend. In einem Land, in dem es weder Sozialhilfe noch Arbeitslosenunterstützung gibt, ist es riskant, seinen Job zu verlieren. Von der Sklaverei zum Landraub Als David Livingstone Ende 1861 die erste europäische Expedition an den Lake Malawi leitete, beschrieb er die Gegend um Nkhotakota als einen „Ort von Gesetzlosigkeit und Blutvergießen……. buchstäblich übersät mit menschlichen Knochen und verwesten Körpern”. Im 19. Jahrhundert war die Stadt der größte Sklavenmarkt des Landes, Abfertigungsstation für jährlich bis zu 20.000 Menschen, die von hier aus mit Dhaus über den See und anschließend über Land zum Indischen Ozean gebracht wurden. Auf dem Gelände der alten Missionsstation steht noch der Feigenbaum, der David Livingstone und Chief Jumbe vor 136 Jahren Schatten gespendet haben soll. Livingstone war zurückgekehrt, um dem Sklavenhändler afrikanisch-arabischer Abstammung das lukrative Geschäft auszureden. Vergebens. Erst in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts unterschrieb der alternde Chief einen Vertrag, der ihm im Gegenzug für die Abschaffung der Sklaverei den Schutz der Briten garantierte. Mit der Kolonisierung begann eine neue Art der Sklaverei. Land, das bisher allen gehört hatte und von Dorfvorständen verteilt worden war, wurde nun von Europäern gekauft oder für lange Zeit geleast, um „cash crops“ wie Tee, Kaffee, Baumwolle, Zucker und Tabak anzubauen. Die folgende Landknappheit machte es leichter, an billige Arbeitskräfte heranzukommen. Zusätzlich wurde eine Steuer eingeführt, die nur zahlen konnte, wer einer Erwerbsarbeit nachging. Mit der Unabhängigkeit änderte sich die Politik für kurze Zeit zugunsten der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Doch bereits 1968 begann Malawi der von der Weltbank geforderten Orientierung auf den Anbau von „cash crops“ auf Großfarmen bereitwillig zu folgen. Bis 1992 durften Kleinbauern keinen Tabak, das lukrativste „cash crop“ Malawis, anbauen. Die malawische Elite aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung wurde ermuntert, Plantagen zu gründen. Große Teile des so genannten „customary land“, das auch heute noch unverkäuflich ist, wurden für wenig Geld auf 20 bis 99 Jahre verpachtet. Die Regierung verpflichtete Banken dazu, den neuen Farmern günstige Kredite zu geben und besteuerte zu ihrem Vorteil die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Die „Agricultural Development and Marketing Corporation“, die zum Schutz der Kleinbauern vor den Schwankungen der Weltmarktpreise gegründet worden war, kaufte deren Produkte zu Preisen unterhalb des Weltmarktniveaus. Die Profite flossen wieder als Kredite an die Plantagen. In den 80er Jahren war die Landverteilung so ungerecht, wie sie es zur Zeit des britischen Protektorats gewesen war. Mit dem einzigen Unterschied, dass nun hauptsächlich afrikanische Großgrundbesitzer ihre Landsleute Katinka Schröder Malawi ausbeuteten. Einige Zahlen verdeutlichen die Entwicklung: 1968 hatten 71 Prozent der Landbevölkerung mehr als zwei Hektar Land zur Verfügung, 1978 waren es nur noch 13 Prozent. 1987 gehörten 0,27 Prozent der Bevölkerung fast 20 Prozent des fruchtbaren Landes. Je länger der kleinbäuerliche Sektor finanziell und infrastrukturell vernachlässigt wurde, desto größer wurden die Einkommensunterschiede. 1980 teilten sich die etwa 4000 Plantagen 20 Prozent des Einkommens aus der gesamten landwirtschaftlichen Produktion, 1995 waren es 45 Prozent. Mit dieser scheinbar höheren Produktivität war die ungleiche Verteilung des Landes immer gerechtfertigt worden. Das dies eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist, die sich durch die Vernachlässigung und Übervorteilung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft bewahrheitet und nicht naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit entspringt, hat eine Schar von Agrar-Ökonomen am Beispiel vieler Länder bewiesen. Anfang der 80er Jahre, so geht aus einer von der UN und der malawischen Regierung durchgeführten Studie hervor, wurden mindestens 40 Prozent des Plantagen-Landes nicht genutzt. Die erste demokratisch gewählte Regierung hat eine Landreform angekündigt. Die hierfür durchgeführten Studien habe ich während meines Aufenthalts zusammengebettelt und kopiert (im zuständigen Ministerium gab es keine Kopien). Sie sind aber leider auf dem Postweg nach Deutschland verloren gegangen. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Dritten Welt würde eine Neuverteilung in Malawi nicht bedeuten, dass Plantagenbesitzer enteignet werden müssten, da die meisten das Land nicht käuflich erworben sondern gepachtet haben. Ob die Weltbank und der Internationale Währungsfond für die sicherlich fälligen Kompensationszahlungen, welche die enteignete Landbevölkerung natürlich nicht erhalten hatte, Kredite gewähren, wage ich allerdings stark zu bezweifeln. Die Tabak-Sklaven Abgesehen von dem Feigenbaum erinnert heute nichts an die grausame Vergangenheit. Nkhotakota ist eine geschäftige aber gesichtslose Straßensiedlung. Trotzdem finde ich, dass hier etwas Böses in der Luft liegt. „Blödsinn”, herrscht mich mein Übersetzer Zagwa Zata an, „glaubst Du jetzt auch schon an Geister?” Eine andere Antwort hatte ich von jemandem, der „Was geschehen ist, ist geschehen“ heißt, auch nicht erwartet. Wir sind nach Nkhotakota gekommen, weil es hier viele Tabak-Plantagen gibt. Das Geschäft mit dem braunen Gold bringt Malawi 65-70 Prozent seiner Exporteinnahmen. Rafael Sandramu hatte angeboten, mir einige Farmen zu zeigen. Er ist Generalsekretär der „Tobacco Tenants and Allied Workers Union of Malawi“. Außerdem arbeitet er in der 1995 gegründeten Missionsstation des katholischen Ordens „Salesianer Don Bosco” in Nkhotakota. Die „Brüder“ unterstützen ihn bei seinen Aktivitäten für die Gewerkschaft. Er kann ihr Telefon, den Malawi Katinka Schröder Computer und den Kopierer nutzen und im Hof steht eine missionseigene MZ, ein recht geländegängiges Motorrad, mit dem Sandramu die „Tabac-Estates“ abknattert, um Arbeiter zu organisieren. Heute ist es zu spät um aufzubrechen, außerdem hat Sandramu noch eine Sitzung. Nachdem er uns unsere Zimmer in der Mission gezeigt hat, verschwindet er. Gerne würden wir zum Abendbrot ein Glas Bier trinken, wir trauen uns aber nicht, weil „Bruder“ Paul aus Polen, der 36-jährige Leiter der Missionsstation, am Tisch sitzt. Weit gefehlt, nach dem Essen bietet er uns einen Brandy an, den er mit Cola mixt. Das Glas ist noch halbvoll, da erzählt er uns die schaurige Geschichte von einem Inder, dem vor einigen Wochen tagsüber und auf offener Straße alle Finger der rechten Hand abgehackt worden seien. Das Glas ist noch nicht leer, da beschreibt er, wie kürzlich die Missionsstation von Dieben belagert wurde. Danach haben die „Brüder“ auf den drei Meter hohen Mauern, welche die Missionsstation umgeben, Glasscherben angebracht. Nkhotakota bleibt unheimlich. Am nächsten Morgen brechen wir mit Rafael Sandramu zur Tabak-Plantage Malizanitu auf. Während der Fahrt bemerke ich zum ersten Mal den langen Narbenknubbel auf seinem linken Unterarm. So einen hätte er auch noch am Bein, sagt er, von einem Motorradunfall. Er glaube an einen Anschlag, aber beweisen könne er das nicht. Einen Tag vor dem Unfall waren 32 Arbeiter von einer 110 Kilometer entfernten Tabak-Farm in sein Büro gekommen. Drei Tage Fußmarsch brachten sie hinter sich, um ihn um Hilfe zu bitten. Der Landbesitzer hatte sie nach der Ernte von seiner Farm verjagt und nun hatten sie nichts mehr zu Essen. Am nächsten Morgen machten sich Bruder Paul und die Arbeiter im Pick-Up, Sandramu auf dem Motorrad, auf den Weg zu der Plantage. Unterwegs passierten sie eine Tankstelle. „Dort stand ein mir unbekannter Mann, der seinen Geländewagen tankte. Ein auffälliger Wagen, wie es ihn hier in der Gegend nicht so oft gibt. Ich denke, er hat den Zweck unserer Reise erkannt”. Die Verhandlungen mit dem Landbesitzer waren fruchtbar. Er versprach, die Arbeiter weiterhin mit Nahrung zu versorgen. Abends, auf dem Heimweg, kam Sandramu der Geländewagen entgegen, den er an der Tankstelle gesehen hatte. „Mit der Lichthupe hat mich der Fahrer absichtlich geblendet. Ich konnte dem Schlagloch nicht mehr ausweichen, danach war ich bewusstlos”. Fast wäre er noch von seinem Retter überfahren worden, der ihn ins Krankenhaus brachte. Ob es ein Anschlag, oder ein Unfall war – Sandramus Einsatz für die TabakArbeiter scheint auch sonst nicht ungefährlich zu sein. Ein Farm-Manager habe die Hunde auf ihn gehetzt, ein anderer sei mit dem Holzknüppel auf ihn losgegangen. Nach diesen Geschichten bin ich froh, auf Malizanitu weder den FarmManager noch den Besitzer anzutreffen. Letzterer arbeitet beim Finanzministerium in Lilongwe und ist gerade auf Geschäftsreise in Süd-Afrika. Den Tabak, Katinka Schröder Malawi den seine Arbeiter gepflanzt und geerntet haben, hat er zwar schon versteigern lassen, doch sie haben noch kein Geld gesehen. Ungeduldig erwarten sie seine Rückkehr, denn sie haben keinen Mais mehr. Zur Zeit ernähren sie sich von wildwachsenden Okra-Schoten und Wurzeln. Das ist die erste Klage, die ich höre, nachdem Sandramu eine Schar zerlumpter Männer und Frauen aus den versprengt liegenden Grashütten zusammengetrommelt hat. Zenanzio January, ein hagerer 40-jähriger mit wenigen, schwarzen Zähnen, arbeitet seit 1979 auf Tabak-Plantagen. Wie viele hier, hat er sein eigenes Stück Land verlassen, weil er es aus Geldmangel nicht kultivieren konnte. Und wie viele hier, hat er davon geträumt nach ein paar Jahren Arbeit auf fremder Scholle zurückzukehren. Doch daraus ist nichts geworden: „Seit ich diese Arbeit tue, habe ich, abgesehen davon, dass ich nicht verhungert bin und mir ein paar Lumpen kaufen konnte, nichts erreicht”. Die meisten Menschen, die auf Tabak-Farmen arbeiten, bekommen keinen Lohn. Sie sind Scheinselbständige aus denen oft Schuldknechte werden. Auf Kredit verkauft ihnen der Landbesitzer Samen, Dünger, Hacken und den Mais, den sie zum Überleben brauchen. Dafür verpflichten sie sich, den von ihnen angebauten Tabak an den Landbesitzer zu verkaufen. Was nach Abzug der Kredite übrigbleibt, ist ihr Gewinn. Ein tückisches System, denn die Abrechnung ist völlig intransparent. Der 24-jährige Austin Kaunda, der erst seit einem Jahr auf Malizanitu arbeitet, hat auf zwei anderen Farmen schlechte Erfahrungen gemacht: „Dort gab es keine Gerechtigkeit. Wenn die Bosse sahen, dass reichlich Tabak wuchs, haben sie die Kosten für die Kredite erhöht, damit wir keinen Profit machen konnten”. Er rechnet vor: 1998 kostete ein Sack Dünger im Laden 800 Kwacha. Der Landbesitzer verlangte 1.500 Kwacha. Für einen Eimer Mais berechnete er statt 80 Kwacha 250. Aus 45 Kwacha für eine Hacke wurden 100. Auf der ersten Farm hat Kaunda 1.700 Kwacha (1997: 100 US Dollar) Gewinn gemacht, auf der zweiten 4.000 Kwacha (1998: 95 US Dollar). Was es dieses Jahr geben wird, weiß er noch nicht, aber wie seine Mitarbeiter auf Malizanitu rechnet er mit dem Schlimmsten, nämlich gar nichts zu bekommen. Einige hier haben mehrfach versucht aus der Schuldknechtschaft auszubrechen. Wie Dickson Josef sind sie mit dem, was sie kriegen konnten, nach Hause zurückgekehrt. „Aber nachdem ich den Transport bezahlt hatte und anfing Lebensmittel zu kaufen, gab es wieder nur die Armut. Also sagte ich zu meiner Frau und meinen Kindern: „Lasst uns wieder auf eine Tabak-Farm gehen”. Dorthin zu gelangen ist einfach, denn es gibt Agenturen, die vor allem im dichtbevölkerten Süden arbeits- und landlose Dörfler anwerben und mit Trucks kostenlos zur Plantage transportieren. „Sie haben mir gesagt: Auf dieser Farm wirst Du Geld verdienen. Deine Armut wird ein Ende haben. Der Farmbesitzer versprach, den Tabak zu einem fairen Preis zu kaufen und uns Malawi Katinka Schröder die Lebensmittel umsonst zu geben. Als die Ernte dann gut war, weigerte er sich den Tabak zum vereinbarten Preis zu kaufen. Er beleidigte uns, was wir denn wollten, wir wären doch als arme Schlucker zu ihm gekommen. Dabei haben wir doch die ganze Arbeit gehabt. Wir überlegten also, was zu tun sei und stellten fest, dass wir keine andere Wahl hatten, als weiterzumachen”. Den Transport nach Hause gibt es nicht mehr umsonst. Ein andere Methode, um die Arbeiter bis zur nächsten Saison auf der Plantage zu halten, beschreibt Koltrida Smoke: „Wenn die Zeit kommt, da der Tabak verkauft wird, schließt der Boss das Schuldenbuch und gibt uns nichts mehr zu Essen. Aber es gibt auch einige gute Landbesitzer. Sie fangen ein neues Schuldenbuch an, so das wir etwas zu Essen haben, bis wir wieder anfangen, Tabak anzupflanzen”. Der Besitzer von Malizantu scheint nicht zu den Guten zu gehören. Drei Tage später kehren wir zurück, um zwei Säcke Maismehl vorbeizubringen. Koltrida Smoke strahlt: „Gott segne Dich. Wir wären heute hungrig ins Bett gegangen”. Der Boss hatte noch immer keinen Mais gebracht. Mit 40 Hektar ist Malizanitu eine kleine Farm. Katote II hat 250 Hektar und scheint besser organisiert zu sein. Es gibt zwei Verwaltungsgebäude und einen Speicher, der randvoll mit Mais gefüllt ist. Die Arbeiter bauen ihn an und dürfen ihn dann zu Wucherzinsen auf Kredit erwerben. Steve Thompson, der gutgekleidete Buchhalter, hält es nicht für nötig, dass sich die Gewerkschaft hier engagiert. Den Arbeitern gehe es gut, im letzten Jahr hätten sie durchschnittlich 15.800 Kwacha (700 DM) Gewinn gemacht. Später flüstert mir Sandramu zu: „Das war eine Lüge, der höchste Gewinn war 5.000 Kwacha (220 DM)”. Die 72 Arbeiter auf Katote II kommen alle von weit her, aus den südlichen Bezirken Mulanje und Dedza. Warum sie aus bis zu 500 Kilometer entfernten Ortschaften geholt würden, frage ich den Buchhalter. „Die Leute hier am See sind faul, die sind lieber Fischer. Die Leute aus Dedza oder Mulanje arbeiten hart und sie verstehen etwas vom Tabakanbau”. Wären die Bedingungen besser, würden sicherlich mehr Leute aus der Gegend hier arbeiten wollen, hält Rafael Sandramu dagegen, der See sei ziemlich leer gefischt. Im Süden und in der Zentralregion fänden die Agenten allerdings weitaus verzweifeltere Menschen, die man außerdem noch besser ausbeuten könne, weil sie sich die Heimreise nicht leisten könnten. Nach einem halbstündigen Fußmarsch, vorbei an abgeernteten Tabakfeldern und verkohlten Baumstümpfen, erreichen wir die Grashütten der Arbeiter. Wir finden nur ein paar Frauen mit Säuglingen, die anderen sind bei den Saatbeeten. Dort werden gerade die kleinen Tabakpflanzen, unter Stroh vor der sengenden Sonne geschützt, gegossen. Unter den dreißig Arbeitern sind zehn Kinder im Alter zwischen 8 und 16 Jahren. Weil sie noch nicht so schwer tragen können, sind sie dafür zuständig, Wasser aus dem Fluss in die Gießkannen zu schöpfen. Warum er an diesem Morgen nicht in der Schule sei, fragt Katinka Schröder Malawi mein Übersetzer einen der Jungen auf Chichewa, denn Englisch kann keiner der Tabak-Arbeiter. Der Junge fällt ins Wasser und die anderen lachen schadenfroh: „Du hast wohl Angst vor der weißen Frau, was?” Trotzig sagt er: „Wer lacht, ist ein Arschloch ... Ich gehe nicht zur Schule wegen des Burley. Burley-Tabak anzubauen ist ein Job und ein Job bedeutet Geld. Ich bin 16 Jahre alt”. Drei jüngere Kinder, denen wir dieselbe Frage stellen, wären lieber in der Schule. Aber das sei heute nicht möglich gewesen, weil sie dreckige Kleidung anhätten, sagen sie unisono. Diese Ausrede scheinen sie häufiger zu benutzen. Die beiden 14-jährigen sind in der dritten Klasse, der 12-jährige ist in der zweiten. Er sagt: „Wenn ich groß bin, will ich Lehrer werden. Wenn ich das nicht schaffe, dann möchte ich Fahrer sein oder Büroangestellter auf einer Tabak-Plantage. Ich will auf keinen Fall machen, was meine Eltern machen”. Warum nicht? „Weil das ein unangenehmer Job ist”. Eine starke Lobby 4.700 Arbeiter hat die „Tobacco Tenants and Allied Workers Union“ bereits organisiert. Wie viele es gibt, kann Sandramu nur grob schätzten. Vielleicht 300.000? Selten zahlt einer den Jahresbeitrag von 50 Kwacha. Doch die TabakArbeiter schätzen die Organisation. Endlich haben sie jemanden, an den sie sich wenden können. „Ich war bei einigen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft und Farmbesitzern dabei. Am Ende haben die immer nachgegeben und bezahlt”, sagt Zenanzio January, einer der Arbeiter auf Malizanitu. Rafael Sandramu kann mit seinem Motorrad nicht überall sein. Er würde gerne die Verhältnisse grundsätzlich ändern. Sein Lieblingsplan ist es, eine gemeinnützige Bank aufzubauen, die Arbeitern, die eigenen Landbesitz haben, Kredite für Samen und Dünger gibt. Dann würden es sich die Landbesitzer wohl zweimal überlegen, wie sie die Menschen behandeln. Woher er das Geld nehmen soll, weiß er allerdings nicht. Theoretisch hat die „Tobacco Tenants and Allied Workers Union“ schon viel erreicht: In diesem Jahr wurde sie von der Tabakpflanzer-Vereinigung TAMA als Tarifverhandlungspartner akzeptiert, deren Mitglieder sich außerdem verpflichteten, keine Kinder mehr auf ihren Farmen zu beschäftigen. Die Unterschrift ist bisher das Papier nicht wert, auf dem sie steht. „Es ist wirklich die Ausnahme, dass uns ein Plantagenbesitzer erlaubt, mit den Arbeitern zu sprechen und sie über ihre Rechte aufzuklären”, sagt Rafael Sandramu. Sandramu und die MCTU kämpfen gegen eine mächtige Lobby. Denn die meisten Tabakfarmer sind Politiker, höhere Verwaltungsangestellte oder Mitarbeiter in Ministerien. Seit 1994 schmort der „Tenant Labour Protection Act” beim Justizministerium, das alle Gesetzesvorlagen prüft, bevor sie ans Parlament weitergeleitet werden. „Seit fünf Jahren gibt es von dort keine Reaktion, obwohl wir jedes Quartal nachfragen”, sagt „Labour Officer“ Southwood 506 Malawi Katinka Schröder Ngooma. „Es ist ungewöhnlich, dass es so lange dauert”. Diplomatisch ausgedrückt. Das Gesetz würde aus den Schuldknechten Menschen mit Rechten machen. Schriftliche Arbeitsverträge wären obligatorisch, genauso wie Entschädigungen bei krankheitsbedingtem Vertragsabbruch und die Bereitstellung sauberen Trinkwassers. Die Naturalkredite müssten zinslos vergeben und ordnungsgemäß quittiert, die von der Regierung vorgegebenen Kaufpreise für den Tabak eingehalten und sofort bezahlt werden. Selbst wenn alle Tabakplantagen-Besitzer Engel wären, könnten viele von ihnen steigende Kosten nur schwer verkraften. Durch die zunehmenden Plantagen-Pleiten werde der Druck auf die Arbeiter noch erhöht, sagt Rafae