Alte Stadt, neuer Blick
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Alte Stadt, neuer Blick
reise ESTLAND Alte Stadt, neuer Blick Das estnische Tallinn ist Kulturhauptstadt Europas 2011. Im mittelalterlichen Stadtbild gibt es Neues zu entdecken. Architekten, Künstler, Musiker und Tänzer laden in ihre Heimat am nördlichen Zipfel der Ostsee ein. OSTSEE Tallinn ESTLAND RUSSLAND Unzerstörtes Erbe: Vom Tallinner Rathausturm blickt man auf die Häuser und Gassen der Altstadt. LETTLAND 18 mobil 03 | 11 mobil 03 | 11 19 [1] 1/3 hoch rechts, 67*280 In den Metropolen ist die Avantgarde ein Massenphänomen. In der kleinen Szene Tallinns entsteht Neues auf familiäre Art. Andrus Köresaar vom Architekturbüro Koko plant gleich zwei neue Museen: »In Tallinn wächst das Neue aus dem Alten hervor. Bei unseren Businessbauten direkt vor den Toren zur Altstadt ist das buchstäblich so. Einem alten Fabrikgebäude im Rotermann-Quartier haben wir drei schlanke Büroquader aufs Dach gesetzt, die nun zwischen den anderen neuen Bauten in dem früheren Industriegebiet wie Leuchttürme hervorschauen. Unten sitzt man im Restaurant »Platz« zwischen urigen Steinwänden, oben hat man Top-Büroräume. Dass wir beim Bürohaus Metro Plaza – nur ein paar Schritte weiter – die klassizistische Fassade jedes Dorf hat andere Farben und Strukturen. Ich habe in Stockholm Modedesign studiert, bin dort als Kind estnischer Eltern aufgewachsen. Meine Großeltern waren 1944 nach Schweden geflohen. Ich selbst habe mit sechs Jahren das erste Mal Estland besucht. Als das Land 1991 nach Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft seine Unabhängigkeit zurückerlangte, wurde das auch in Schweden groß gefeiert. Aber erst als ich 2004 nach einer längeren Zeit als Textildesignerin bei H & M beruflich nach einer neuen Orientierung suchte, ist die Heimat meiner Großeltern zu meiner geworden: 2005 gewann ich bei einem Tal- [4] [3] erhalten haben, hat historische Gründe: Hier wurde in unserem kleinen Land, das mal unter russischem, mal unter deutschem Einfluss stand, zum ersten Mal Schulunterricht in der estnischen Landessprache erteilt. Im Moment bauen wir die alte Große Gildehalle zum Stadtmuseum und einen früheren Hangarkomplex für Wasserflugzeuge zum Meeresmuseum um. Als Estland noch zur Sowjetunion gehörte, war der Zugang zur Küste streng überwacht – Helsinki liegt nur 80 Kilometer entfernt. Als Kulturhauptstadt entdeckt Tallinn zusammen mit seinen Besuchern jetzt den Zugang zum Wasser neu.« Liina Viira, Textildesignerin, verwandelt traditionelle estnische Ornamente mit psychedelisch anmutenden Farb- und Formexperimenten in coole Mode: »Was für irre Motive, dachte ich angesichts der alten Strickmuster. Jeder estnische Landstrich, [2] Kreative Energien: Andrus Köresaar setzt auf Altbauten noch was drauf [1, 3], Liina Viira interpretiert alte Muster neu [2], Taavet Jansen und Maike Lond [mit Sohn Lukas] inszenieren experimentelle Tanzevents [4]. 20 mobil 03 | 11 mobil 03 | 11 linner Modewettbewerb, beschäftigte mich intensiv mit Sprache und Kultur Estlands, stellte 2009 meine erste eigene Kollektion vor und habe 2010 mein erstes Geschäft eröffnet – in der Tallinner Pikk-Straße. Die Stadt regt die Kreativität an. Im Februar ist meine erste Männerkollektion herausgekommen. Das Tolle ist: Die Sachen sehen nicht nur ungewöhnlich aus, sie sind auch praktisch.« Taavet Jansen und Maike Lond [mit Sohn Lukas, fünf Jahre] inszenieren Tanz- und Theaterprojekte der anderen Art: »Ob du in Moskau tanzt, in Berlin und Amsterdam auftrittst oder in Hamburg auf Kampnagel – das ist im Prinzip egal. Wir sind viel rumgekommen und haben gemerkt: In den Metropolen ist Avantgarde ein Massenphänomen. Der Markt ist gesättigt, die Menschen auch. Aber hier in Europas Nordostecke, in der kleinen Szene Tallinns, entsteht durch die engen 21 [1] [2] Tallinner Schauplätze: Sirje Helme und der Skulpturensaal im KUMU [1, 4], Kneipe an der Stadtmauer [2], Ilona Gurjanova im Designzentrum [3], Helen Rannamäe im »Kaerajaan« mit bunter Volkskunst an der Decke [5]. [4] Helen Rannamäe, Kellnerin im Restaurant »Kaerajaan«, freut sich auf die internationale Gästeschar: »Meine Oma hat einen Hof mitten im Wald, ganz im Westen Estlands, bei Haapsalu. Viele alte Bräuche sind dort noch lebendig. Aber ich war auch immer gern bei meinen Verwandten in Kanada und habe später in England Grafik studiert. Mein Job hier bringt viele dieser Aspekte zusammen. Die Einrichtung vereinigt estnische Volkskunst mit modernen Elementen. Und hier am Marktplatz muss ich meist Englisch sprechen und manchmal auch interkulturell vermitteln. Wollen Japaner etwa nach ihrer Sitte Vorspeisen teilen, bringe ich ihnen baltische Appetithäppchen, vorzugsweise Fisch. Für mich ist das Verstehen ebenso wichtig wie das Bewirten. Und ich mag es, wenn Gäste eine schöne Erfahrung mit nach Hause nehmen.« [5] »Die Einrichtung des ›Kaerajaan‹ vereinigt estnische Volkskunst mit modernen Elementen. Für mich ist das Verstehen ebenso wichtig wie das Bewirten.« HELEN RANNAMÄE [3] Kontakte quer durch die Kultursparten Neues auf eine gleichsam familiäre Art. Darum sind wir aus Holland nach Estland zurückgekommen. ›MIM – Music is Motion‹ lautet unser Motto. Konzerte, Tanz und Theater sehen wir als Energieaustausch, bei dem auch die Nachhaltigkeit eine Rolle spielt. Bei unseren Performances bezahlt man Eintritt, indem man sich aktiv einbringt: einfach mithilft, über Dynamos Energie für das Licht erzeugt oder selber mitspielt – zum Beispiel beim Projekt ›MIM goes sustainable‹ im Mai. Zuschauer, die nur zuschauen, gibt es bei uns nicht. Was wir tanzen, leben wir auch: Mit Lukas sind wir aufs Land gezogen und nutzen auch da so viele eigene Ressourcen wie möglich.« Sirje Helme, Kunsthistorikerin, holt die digitale Kultur in das größte Museum des Baltikums: »Bevor ich 2006 das Estnische Kunstmuseum [KUMU] eröffnen konnte, 22 habe ich lange Jahre das estnische Magazin für Bildende Kunst herausgebracht. Eigentlich sollte die Zeitschrift zu Sowjetzeiten zweisprachig erscheinen – auf Estnisch und Russisch. Aber das wollten wir nicht. Denn dann wäre der Kulturbürokratie gewiss aufgefallen, welche Freiheiten wir uns hinter dem Eisernen Vorhang erlaubt haben. Immerhin profilierten sich die Esten schon 1990 als Internetpioniere und später als Skype-Entwickler. Wenn wir im Mai in Kooperation mit dem Goethe-Institut die Ausstellung ›gateways – Kunst und vernetzte Kultur‹ mit Beiträgen von Künstlern aus ganz Europa eröffnen, weist das auch darauf hin, welche Bedeutung die digitalen Technologien für kleine Nationen wie Estland hatten und haben.« Ilona Gurjanova, Designerin, präsentiert Musterbeispiele estnischer Produktgestaltung: »Auch vor 1990 war Erfindungsgeist gefragt. Glücklicherweise hatte mein aus Russland stammender Vater ein Händchen für ideenreiche Lösungen. Aus der Mangelsituation heraus verwendete er Pappe und Sperrholz für den Möbelbau und entwickelte Klappmechanismen, weil es in den Wohnungen so eng war. Inzwischen habe ich selbst Design studiert und ein eigenes Büro. Ein Faible für Gestaltungslösungen, die einfach und raffiniert zugleich sind, habe ich noch immer. Toll sind zum Beispiel die zusammensteckbaren Kindermöbel von Igor Volkov. Als Vorsitzende des Estnischen Designerverbands organisiere ich seit 2006 das Tallinner Designfestival, das in diesem Jahr vom 16. bis 25. September stattfindet – in Kombination mit dem European Innovation Festival. Unsere schönen Sachen kann man aber jederzeit anschauen: im 2010 gegründeten ›Eesti Disaini Maja‹, dem Haus des Estnischen Designs, Adresse: Kalasadama 8.« mobil 03 | 11 1/2 quer, 210*136 mobil 03 | 11 23 [1] 1/1, 210*280 Drinnen und draußen schön: Ostseestrand mit Hauptstadt am Horizont [1], Komponistin Helena Tulve in der Musikakademie [2], DJ Priit Juurmann im Bistro-Café »F-Hoone« [3], Gasse in der Tallinner Altstadt [4]. [3] [4] Tipps für Tallinn: Kulturprogramm: www.tallinn2011.ee Anreise: Air Baltic fliegt von Berlin, Düsseldorf, Frankfurt/M., Hamburg und München bis zu vier Mal täglich nach Tallinn. Tel. 09001/ 24 72 25 [49 Cent/Min. aus dem dt. Festnetz, Mobilfunk abweichend], www.airbaltic.de Hotels: Merchant’s House Hotel in Rathausnähe, Dunkri 4/6, DZ/F ab 95 €, Tel. 00372/6977500, www.merchantshousehotel.com – Nordic Hotel Forum, neuer Chic am Viru-Platz, Viru Väljak 3, DZ/F ab 95 €, Tel. 00372/622-29 99, www.nordichotels.eu Allgemeine Infos zu Estland: Enterprise Estonia, Mönckebergstraße 5, 20095 Hamburg, www.visitestonia.com – www.investinestonia.com Reiseinfos: Baltikum Tourismus Zentrale, Tel. 030/89 00 90 91 24 Helena Tulve, Komponistin, lässt in ihrer Musik Blumen blühen und Wellen rauschen. Jetzt soll es darin auch tuten: »Nach sechs Jahren in Paris war ich froh, wieder in Tallinn zu sein. Hier trifft man den Premierminister im Supermarkt, und die Natur ist immer nah. Meine Kindheit habe ich in Südestland verbracht. Das hat meine Musik sehr beeinflusst. Meine Stücke sind nicht wie Häuser gebaut, sondern wie Pflanzen gewachsen, sind Landschaften, in denen Wind und Regen ihr Spiel treiben. Für das Meeresmuseum würde ich gern ein Stück schreiben, in dem maritime Alltagsgeräusche der Stadt aufgehoben sind, das Tuten der Schiffe und andere unerwartete Geräusche – Musik, die nicht klingt, als hätte man sie komponiert, sondern als wäre sie passiert. Ich denke auch an ein Video, in dem es um das Salz gehen soll. Um Meersalz? Nein, vielleicht eher um das Salz des Lebens.« Priit Juurmann alias DJ Julm, findet, dass Musik zur Würze des Lebens gehört: »Ich habe lange selbst Musik gemacht und jahrelang in ganz Europa aufgelegt. Als Vater bin ich ein bisschen sesshafter geworden und habe in einem alten Werkstattgebäude außerhalb der Altstadt ein eigenes Restaurant eröffnet. Es heißt ganz einfach ›F-Hoone‹ – Haus F – in der Telliskivistraße 60. Hier kann man bei gutem Essen und cooler Hintergrundmusik relaxen. Als DJ bin ich aber auch noch zu hören: im Club ›Von Krahl‹, Rataskaevu 10, ansonsten immer samstagabends im Rundfunk. Dann läuft auf dem Sender Radio 2 von sieben bis neun Uhr mein ›Tallinn Ekspress‹ – wie im Club mit Jazz, House und Techno-Musik.« INTERVIEWS: KAI-UWE SCHOLZ Eine Audioslideshow über Tallinn finden Sie auf www.deutschebahn.com/mobil mobil 03 | 11 PETER HIRTH FÜR DB MOBIL [8]; FLUEELER/SCHAPOWALOW; FRANZ MARC FREI / LOOK-FOTO; INDREK AIJA/LVIIRA; KOKO ARCHITEKTURBÜRO; ANDREAS MEICHSNER/VISUM; G. SIMEONE/BILDAGENTUR HUBER [2] mobil 03 | 11 25