Magazin Portrait 02 / 2015

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Magazin Portrait 02 / 2015
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PORTRAIT 2/2015
„Ohne Solidarität zerfällt
jede Gemeinschaft“
Sie ist Schauspielerin, Filmemacherin und UNESCO-Botschafterin.
Sie engagiert sich für das Erinnern an die Verbrechen des Holocaust
und ist immer an vorderster Front, wenn es darum geht, gegen
Rechtsradikalismus Flagge zu zeigen und Zeichen zu setzen. Als Tom
Cruise ihr letztes Jahr eine Rolle in Mission Impossible anbot, spielte
sie gerade im Salzburger Jedermann mit und musste Hollywood
vorerst absagen.
KATHARINA STEMBERGER
Um Unmögliches möglich zu machen, hat die Vielseitige den
eigenen Aktionsradius nach und nach erweitert und setzt sich mit
Filmen und als Botschafterin überall dort ein, wo sie Ungerechtigkeit
und Ungleichgewicht spürt. 2007 gründete sie gemeinsam mit ihrem
Mann Fabian Eder die Produktionsfirma back:yard, es entstanden
Dokumentarfilme wie Griechenland blüht (2012) als Beitrag zur
Situation der Griechen in Zeiten der Wirtschaftskrise, sowie Keine
Insel (2014), ein Aufruf, die Flüchtlingskatastrophe endlich als europäisches Thema ernst zu nehmen. Ihr Interesse gilt den individuellen
Geschichten und der Originalität des Einzelnen, ihr Engagement trägt
den Grundgedanken der Solidarität.
TEXT Gudrun Tielsch FOTOS Nina Goldnagl
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F
rau Stemberger,
Sie haben in den
vergangenen
25 Jahren viele
unterschiedliche Rollen in
Theater, Fernsehen und Film gespielt. Gab es eine
Lieblingsrolle?
Ich durfte die Jeanne d‘Arc spielen,
das ist nach wie vor meine liebste
Rolle. (lacht) Ich habe den Beruf
immer damit verbunden, etwas
umzusetzen, was ich in mir drinnen
gehen, drei Jahre als Schauspielerin zu arbeiten, um dann in
die Rocky Mountains zu fahren,
mir ein Pferd zu kaufen und dort
nach dem Rechten zu sehen. Den
Bösen eins aufs Happel zu geben
und den Schwachen zu helfen. Ein
paar Jahre später hat meine um
vier Jahre ältere Schwester den
Beruf ergriffen und ich war total
schockiert, weil ich dachte: Das
ist absolut unoriginell. Man kann
doch nicht in derselben Familie
das Gleiche machen. Ich habe mich
und das ist gut. Es geht gar nicht
darum, ob das irgendjemandem
sonst noch gefällt. Ich habe mir
selber eine Art Absolution geben
können, die sehr entspannend war.
Ein schöner Moment, in dem ich
gespürt habe, dass alles im Leben
einen Zusammenhang hat.
Hat sich auch Ihr zweiter Wunsch
eingelöst? Glauben Sie, man kann
durch Theater und Film Veränderungen bewirken?
Wann immer ich einen guten
„Ich blicke auf einen Weg zurück, der zu
100 Prozent so war, wie ich es entschieden habe.“
spüre. Außerdem wollte ich mit
dem, was ich mache, bei Menschen
etwas auslösen, sie wachrütteln.
Wenn ich ganz ehrlich bin, wollte
ich Revolutionen auslösen, deshalb
waren mir auch immer die Revoluzzer-Rollen am vertrautesten.
Es heißt: Schauspielerei ist kein Beruf,
sondern eine Berufung. Gab es bei
Ihnen ein Initialerlebnis?
Ich wollte eigentlich schon immer
Schauspielerin werden, warum,
weiß ich nicht. Ich kann mich
erinnern, dass ich im Kindergarten
bei einer Aufführung mitgewirkt
habe, wo ich zuerst als Zwergerl
aufgetreten bin, in Strumpfhose,
Rollkragenpulli und Zipfelmütze,
und dann als Engerl. Das Gefühl,
das ich dabei auf der Bühne hatte,
war das tollste und aufregendste
überhaupt. Ich glaube, da ist es mir
eingeschossen. Später habe ich die
Hälfte aller 76 Karl-May-Bände
gelesen, und dadurch war ich in
der Welt der Abenteuer zuhause.
Mein Plan so mit elf oder zwölf
war, zuerst die Matura zu machen,
dann aufs Reinhardt Seminar zu
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daraufhin ins Cello gekniet, mit 18
wurde mir klar, dass ich das, was
ich in mir höre, nicht in dieser
Vollkommenheit auf das Instrument übertragen kann. Das war
für mich sehr schlimm, ich musste
einen Schnitt vollziehen. Der alte
Schauspielerwunsch ist wieder
hochgekommen. Ich bin mit 18 mit
meiner Schwester im Café Stein
gesessen und es ist unter vielen
Tränen aus mir herausgebrochen.
Die Antwort meiner Schwester
war: „Das finde ich super. Ich zahle
dir die Ausbildung.“
Was gehört, im Rückblick gesehen,
zu den persönlich entscheidendsten
Erfahrungen, die Sie mit dem Beruf
gemacht haben?
Ich kann zu großen Teilen das
umsetzen, was ich mir vorstelle.
Letztes Jahr habe ich im English
Theatre in Wien Witness for the
Prosecution gemacht, da ist mir
das richtig bewusst geworden. Ich
stand vor der Premiere vor der
Türe und es ist ein angenehmer
Friede in mir eingetreten, weil ich
dachte: Das wollte ich erreichen
Film oder eine gute Aufführung
gesehen habe, bin ich aufgestanden und wollte in meinem Leben
etwas anders machen. Geschichten
erweitern die Wahrnehmung und
damit kann Veränderung initiiert werden. Deswegen gibt es ja
auch in manchen Gesellschaften
eine Zensur, weil man diese Kraft
als Gefahr einschätzt. Ob ich für
andere Initiatorin für Veränderungen war, weiß ich natürlich nicht.
Sie haben einen ausgeprägten
Gerechtigkeitssinn.
Ja. Ich werde immer ganz unrund,
wenn
ich
Ungerechtigkeiten
sehe. Schon als Kind habe ich für
Gruppen meine Stimme erhoben,
immer dort, wo ich gemerkt habe,
dass jemand ungerecht behandelt
wurde. Ich mag Hierarchien nicht,
und Autorität funktioniert bei
mir ganz schlecht. (lacht) Wenn
Menschen, die mit der Macht, die
ihnen gegeben ist, nicht umgehen
können und sich an Leuten
austoben, die sich nicht wehren
können, dann kann ich nicht
zuschauen.
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Gerade beim Theater und beim Film
gibt es aber klare Aufgabenverteilungen und starke hierarchische Strukturen. Wie gehen Sie damit um?
Die Leute, mit denen ich gut kann,
sind die, die kein Ego-Problem
haben. Das Wichtigste ist immer
die Sache. Wenn es um die Sache
geht, ist alles in Ordnung. Es ist
klar, dass es eine Aufgabenverteilung gibt und dass manchmal
Ansagen gemacht werden müssen.
Darum geht es nicht. Was mir
schwerfällt, ist, wenn Leute
jeden Tag irgendein Wirtschaftsforscher irgendein anderes Wirtschaftskonzept erzählt hat, und
es ging nur mehr um Zahlen und
Schuldenschnitt. Da habe ich mir
gedacht: Es geht um Menschen,
Freunde! Es geht nicht um Zahlen
oder Ameisen, die wir von links
nach rechts schieben. Wenn wir
das aus dem Blick verlieren, dann
haben wir verloren. Dann werden
wir alle gegeneinander ausgespielt. Wir haben das Friedensprojekt Europa als einen Zusammen-
Oder einen Kredit für ein neues
Auto oder einen Urlaub aufnehmen. Die Leute hatten keine Erfahrung und haben dieses Angebot
angenommen, weil sie geglaubt
haben, das sei europäisch. Plötzlich war das alles fällig und sie
hatten nichts, womit sie es hätten
zurückzahlen können, außer ihren
Häusern oder Grundstücken. Das
ist das Ergebnis von drei Dekaden
ungehemmtem Neoliberalismus.
Die junge Generation trifft es besonders hart. Sie sitzt vor einem
„Der Fischer in Lampedusa sagt zu dem Thema: Wir
sind eine Insel. Auf einer Insel herrscht das Gesetz des
Meeres. Das heißt: Wenn jemand in Not kommt, helfe ich
ihm.“
aus Unsicherheit heraus Macht
ausüben, wenn mit Macht verantwortungslos umgegangen wird.
Das Schlimmste aber ist, das habe
ich in meinem Leben oft beobachtet, wenn die Würde des Menschen
angegriffen wird.
Um die Würde des Menschen in einem
erweiterten Sinne dreht es sich auch
in Ihren beiden Dokumentarfilmen
„Griechenland blüht“ und „Keine
Insel“, die Sie mit Ihrem Mann
Fabian Eder realisiert haben. Wie
kam es zu diesen beiden Filmprojekten
und worum geht es?
Der erste Film, Griechenland
blüht, ist aus dem Impuls heraus
entstanden, dass wir das Bild,
das uns die Medien zur Zeit der
Wirtschaftskrise 2012 über die
Griechen vermittelt haben, so
nicht hinnehmen wollten. Wir
dachten, das kann vielleicht nicht
ganz so stimmen, dass der Grieche
faul unter dem Olivenbaum sitzt
und fieberhaft darüber nachdenkt,
wie er keine Steuern zahlt, wenn
er nicht gerade Autos anzündet
oder Fahnen. Hinzu kam, dass
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schluss verschiedenster Länder,
Völker und Regionen längst aus
den Augen verloren, weil wir von
Banken und Wirtschaftsinteressen
und Politikern, die sich haben instrumentalisieren lassen, hinters
Licht geführt wurden. Mit Griechenland blüht wollten wir unseren
Beitrag leisten, indem wir das
Bild über Griechenland und vor
allem über die Griechen ein wenig
zurechtrücken. Fabian ist mit dem
Segelschiff und einer kleinen
Mannschaft durch das wilde Frühlingsmeer gereist, zu den Inseln,
und hat dort mit den Menschen
gesprochen, hat unglaublich viele
Interviews gemacht und die Leute
gefragt, wie es ihnen geht. Aus
diesen persönlichen Geschichten
und Erfahrungen entstand der
Film. So erfährt man Dinge, die in
den Medien nicht kommuniziert
wurden. In den Dörfern haben
Leute erzählt, dass über Jahrzehnte, vor allem ab 2000, die Banken
die Menschen am Wochenende zu
Hause angerufen haben und sie
gefragt haben, ob sie kein Haus
bauen wollen, oder renovieren.
Trümmerhaufen, den die vorangegangene Generation ausgelöst hat.
Dennoch versucht sie, sich eine
Zukunft aufzubauen. Einer hat
gesagt: Wenn uns unsere Träume
genommen werden, dann haben
wir verloren.
Hinzu kommt, dass Griechenland
mit 1½ Millionen Flüchtlingen zu
kämpfen hat, womit die Griechen
alleingelassen werden. Allen südlichen Ländern geht es so. Spanien,
Portugal, Süditalien, sie alle sind
in eine ähnliche Krise geschlittert
und werden auch noch mit der
Flüchtlingsproblematik alleingelassen. Wir müssen endlich begreifen, dass das ein europäisches
Thema ist.
Damit wären wir bei Ihrem nächsten
Film „Keine Insel“. Diesmal ging
die Reise zu jenen Inseln, vor deren
Ufern sich Tragödien ereignen, weil
Flüchtlingsboote kentern und tausende
Menschen sterben: Malta, Sizilien
und Lampedusa. Diejenigen, die es
schaffen, werden von den Inselbewohnern aufgenommen. Hier haben Sie,
ähnlich wie bei „Griechenland blüht“
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das Gespräch mit direkt Betroffenen
gesucht.
Malta, Sizilien und Lampedusa
sind damit alleingelassen, Menschlichkeit walten zu lassen, während
in Mitteleuropa Fremdenhass und
Rassismus geschürt werden. Diese
Inseln spiegeln das Dilemma der
europäischen Zuwanderungs- und
Asylpolitik.
Lampedusa ist eine kleine Insel.
Die Bewohner sagen von sich
selbst, sie sind ein Taschentuch
im Meer. Es sind einfache Leute
– Fischer. Die haben nicht viel.
Sie haben auch keine großartige
Bildung. Neben den Flüchtlingen,
die dort in Empfang genommen
werden, leben auf der Insel 4.000
Menschen und 2.000 Uniformierte von Grenzschutz, Militär und
Polizei und Küstenwache. Die
Inselbewohner hätten wirklich
das Recht zu sagen: Wir haben
Angst. Oder: Das ist schrecklich.
Der Fischer in Lampedusa aber
sagt zu dem Thema: Wir sind eine
Insel. Auf einer Insel herrscht
das Gesetz des Meeres. Das heißt:
Wenn jemand in Not kommt, helfe
ich ihm.
Das sollte sich Europa zum Thema
Flüchtlingspolitik
in
großen
Lettern als Überschrift wählen.
Wenn bei uns ein paar hundert
Flüchtlinge aufgenommen werden,
titelt die U-Bahn-Zeitung: Flüchtlinge überrennen Wien.
Wie lang war die Vorbereitungsphase
für diesen Film?
Geboren wurde die Idee am 26.
Oktober 2013. Das Schiff samt
Filmcrew ist am 1. Dezember gestartet. Ich bin nicht mitgefahren,
ich hatte Vorstellungen. Außerdem
bin ich nicht für Winterstürme
im Mittelmeer gemacht. Unser
Ziel war, dass der Film vor der
EU-Wahl fertig ist. Ende Oktober
waren die fürchterlichen Katastrophen vor Lampedusa, die jetzt nicht
mehr abreißen. Die Staats- und
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Regierungschefs Europas haben
beschlossen, dieses Thema vor der
Wahl nicht zu besprechen, weil sie
einen Rechtsruck gefürchtet haben.
Ich war zu der Zeit in London,
Fabian hat mich angerufen und
gefragt: Können wir das so lassen?
In einer absurden Aktion haben
wir beschlossen, einen Dokumentarfilm zu machen, der ins Fernsehen kommt. Uns war es wichtig,
bei beiden Filmen, dass die in jedes
Wohnzimmer kommen. Fernsehen
ist eines der mächtigsten Kommunikationsmittel, es ging uns in
beiden Fällen nicht darum, uns
künstlerisch zu vervollständigen,
sondern wir wollten möglichst
viele Menschen möglichst bald
damit erreichen.
Ich habe mich vor allem um die
Finanzierung und Organisation
gekümmert.
Der Film wurde von Ihrer Firma
back:yard gemeinsam mit dem ORF
produziert. Wie groß ist Ihr Team
und wie konnten Sie es in so kurzer
Zeit schaffen, Geld zu akquirieren?
Die Firma besteht aus Fabian
und mir. Bei beiden Filmen hat
Fabian noch drei Männer mit an
Bord genommen, gute Segler,
wasser- und seefest, Kamera- und
Tonleute.
Das Geld in so kurzer Zeit aufzustellen war bei beiden Filmen
schwer. In beiden Fällen war
ja die Idee davon geprägt, dass
jetzt eine Situation ist, zu der wir
jetzt ein Filmdokument erstellen
wollen, mit dem wir einen ganz
bestimmten Zweck verfolgen.
Wir hatten also keine 1½ Jahre
Zeit zu planen. Beim ersten Film
bin ich zu allen möglichen Leuten
gegangen, um Geld, aber auch
Sachleistungen zu bekommen. Ein
Film bedarf vieler Mittel. André
Heller hat die Schirmherrschaft
sofort übernommen, ich habe eine
ganze Liste von namhaften Politikern dabeigehabt. Das war alles
super. Was ich nicht, oder in nur
ganz geringen Maße bekommen
habe, war Geld. Wenn ich versucht
habe zu erklären, was wir hier
machen, habe ich gesagt: Das ist in
der Form künstlerisch, im Inhalt
politisch und im Kern solidarisch.
Das beschreibt auch in Kürze, was
ich mit diesen Dingen versuche
und wie ich mein Menschsein und
mein Künstlerinnensein überhaupt
verstehe. Viele Leute haben mir
auf die Schultern geklopft und
gesagt: Frau Stemberger, ganz
toll, was Sie da machen, aber Geld
haben wir keines. Da waren riesige
Unternehmen dabei.
Da gab es z.B. ein großes Reiseunternehmen, das ich um Unterstützung gebeten habe. Ich hätte Flüge
gebraucht, Filmmaterial, was auch
immer. Von Gage war sowieso
keine Rede und der Griechenlandfilm hat ein großes Loch in unser
nicht vorhandenes Familienkapital
gerissen. Das Unternehmen bietet
mir an, sie könnten zwei Flüge auf
unserer Website verlosen. Frage
ich: Was ist da die Unterstützung?
Da meinte die PR-Dame mit
zittriger Unterlippe, wir hätten
mehr Traffic auf unserer Website.
Außerdem würden sämtliche Reiseunternehmen nun verstärkt für
Griechenland- und Italienreisen
werben. Da bin ich einfach weggegangen. Wenn man unter Hilfe
versteht, dass man an Reisen in
arme Länder verdient, dann kann
ich das nicht mehr ernst nehmen.
Wie haben Sie es geschafft, Ihre
Geduld zu behalten?
Ich behalte sie nicht. Diplomatie kann ich nicht buchstabieren. (lacht) Ich war z.B. in einer
Sendung von Barbara Stöckl,
sie war eine Unterstützerin. Am
Schluss meinte Barbara: „Katharina, es werden jetzt viele Leute
zuschauen, die potentielle Sponsoren sind. Was haben die davon,
wenn sie euch jetzt unterstützen?“
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Meine Antwort war: „Ganz ehrlich,
jemand, der mich im Zusammenhang mit diesem Thema fragt, was
er davon hat, mit dem will ich gar
nichts zu tun haben.“
Bei der Lampedusa-Geschichte
habe ich mich gefragt: Soll ich
irgendjemandem eine Schwimmweste mitbringen, wo noch
Blutstropfen drauf sind? Wir sind
als eines der reichsten Länder der
Erde in einer Haltung angekommen, die immer eine Überschrift
hat: Was habe ich davon? Diese
notwendig ist, und ich habe schon
gesagt, auf meinem Grabstein soll
ein einziger Satz stehen und zwar
auf Englisch: She couldn‘t take
“no“ for an answer.
Sie sagten, Sie wollten mit den Filmen
einen ganz bestimmten Zweck verfolgen. Welchen?
Wir machen diese Filme, damit
die Leute begreifen, dass das nicht
Themen sind, die im fernen Italien
oder Griechenland abgehandelt
werden, sondern dass wir, ob es
Augen auf auch bei der Wahl. Von
wem lasse ich mich vertreten?
Und wir müssen unsere Werte
überdenken und danach handeln:
Mitfühlen und Helfen ist nicht
mehr sehr schick in unserer Gesellschaft. Schick ist, wenn du
schlauer bist als dein Nachbar und
ihn übers Ohr hauen kannst. Dann
bist du ein Gewinner. Es wird
außerdem mehr und mehr eine
Atmosphäre der Angst geschürt.
Einseitige
Berichterstattungen
und reißerische Headlines tragen
„Wir sind als eines der reichsten Länder der Erde
in einer Haltung angekommen, die immer eine
Überschrift hat: Was habe ich davon? Diese
Haltung hat uns in den Orkus getrieben.“
Haltung hat uns in den Orkus
getrieben. Da kommt die Gier, da
kommt der Neid, da kommt, dass
alles nur noch in Konkurrenz funktioniert. Abertausende syrische
Kinder warten darauf, dass man
sie rettet, man könnte es locker
machen, und wir krampfen herum.
Das ist so beschämend. Ich habe
das Wort Solidarität bei vielen Gelegenheiten verwendet und hatte
den Eindruck, das ist fast etwas,
wofür man sich genieren muss.
Das machen nur irgendwelche
verträumten Menschen. Wir sind
an einem Punkt angekommen, wo
wir begreifen müssen, dass Solidarität eine der größten Tugenden
des Menschen ist, sonst haben wir
verloren. Was meine Geduld anbelangt: Ich arbeite daran, aber in
75 Prozent der Fälle sage ich den
Menschen, was ich denke, und das
wollen ganz viele gar nicht hören.
(lacht) Ist mir auch wurscht.
Ich werde bis zu meinem letzten
Atemzug nicht aufhören, meine
Stimme zu erheben, wo es
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uns recht ist oder nicht, Verantwortung wahrnehmen müssen.
Das beginnt damit, dass wir nicht
den Leuten zuhören, die uns nur
Angst machen, sondern wir sollten
selber lernen hinzuschauen. Es ist
wichtig zu begreifen, dass Leute,
die über Jahre über einen Kontinent kriechen und ihr Leben in
einem depperten Schinakl retten,
in solch einer Not sind, dass es
uns gut zu Gesicht steht, ihnen
zu helfen, weil unsere Situation
ist sehr bequem im Verhältnis
dazu. Ein Sozialarbeiter in Italien
hat gesagt: Wir tun immer so, als
hätten wir das Problem. Die haben
das Problem. Die haben alles zurückgelassen und kommen hier an
mit nichts.
Was kann jeder Einzelne tun?
Wenn ein Flüchtlingsheim in der
Nähe errichtet wird, dann ist es
meine Aufgabe, dass ich, bevor ich
Vorurteile entwickle, hingehe und
das kennenlerne. Das kann jeder
machen.
dazu bei. Demgegenüber sollte
man kritisch bleiben, denn Angst
dient der Manipulation.
Sie setzen sich nicht nur mit Ihren
Filmen für wichtige Themen ein,
Sie sind auch UNESCO-Botschafterin für die Aufklärung über
Gebärmutterhalskrebs.
Ich war selbst davon betroffen und
habe eine gute Freundin verloren,
die sehr jung daran gestorben ist.
2006 wurde ein Impfstoff entwickelt, der zu einem ganz hohen
Prozentsatz Frauen diese Krankheit ersparen kann. Die UNESCO
erachtet diesen Impfstoff als
derartig große medizinische Errungenschaft, dass sie Botschafter
auswählt, die in ihren Ländern
darüber informieren. Ich bin eine
davon. Mir war wichtig, dass
dieser Impfstoff in Österreich ins
staatliche Impfprogramm aufgenommen wird. Mittlerweile ist das
gelungen.
Durch all Ihre Tätigkeitsbereiche sind
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Sie gewohnt, öffentlich zu sprechen.
Seit einiger Zeit unterrichten Sie
auch: Zum einen künftige Schauspieler
– als Professorin am Konservatorium
der Stadt Wien –, zum anderen geben
Sie unter dem Label ACT Seminare
für Menschen, die öffentlich sprechen
müssen.
Ja, ich arbeite mit Leuten an ihren
Auftrittsfähigkeiten. Das ist unglaublich beglückend, weil da geht
es ans Eingemachte. Eigentlich bin
ich durch Zufall dazu gekommen,
diese Seminare abzuhalten. Als
ich in Alpbach einen Vortrag
über unseren Griechenlandfilm
gehalten habe, kam im Anschluss
jemand auf mich zu und hat
gefragt, ob man das lernen könne.
Ich habe mich drei Tage hingesetzt und meinen ersten Workshop
entworfen, den ich mit Leuten ein
oder zwei Tage mache. Ich gebe
nun auch Einzelunterricht. Dabei
geht es nicht um Tipps und Tricks,
die ich vermittle, sondern darum,
dass ich Menschen dabei begleite,
ihr Bewusstsein für das zu stärken,
was ihr Inhalt und ihr Anliegen
ist, und das zu transportieren. Es
geht um die authentische Auseinandersetzung mit dem Anliegen.
Das ähnelt einer Theatersituation.
Auch bei einem Vortrag oder einer
Präsentation kommt es nur darauf
an, dass man meint, was man
sagt. Und dass man weiß, warum
man das tut, was man tut. Das ist
für jeden Vortragenden immens
wichtig.
Das ist auch das Wesentliche, was
ich meinen Schauspielstudenten
am Konservatorium mitgeben
möchte. Ich unterstütze sie, dass
sie den Mut haben, sich auf den
Prozess des Seins einzulassen. Ich
gebe ihnen das weiter, was ich mir
selber in 25 Jahren als Schauspielerin erarbeitet habe.
Sie waren in den 25 Jahren vorwiegend freischaffende Schauspielerin.
Dadurch waren Sie weder auf bestimmte Rollen noch auf ein Genre
oder Medium festgelegt. Sie haben
vom „Winzerkönig“ im Fernsehen
über eigene Programme, Solo und mit
Familie, von den Salzburger Festspielen bis zu Projekten wie „Ganymed“
im Kunsthistorischen Museum Wien
eine breite Palette an unterschiedlichsten Arbeiten gemacht. War das Plan,
Zufall oder Neugierde?
Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wie
das bei anderen ist, aber das Bild,
das von Schauspielern gerne verbreitet wird und das sie selber
gerne verbreiten, ist, dass sie vor
7 Angeboten stehen und eines
auswählen. Die Wahrheit ist viel
schlichter. Manchmal hat man zwei
wirklich gute Angebote gleichzeitig und dann muss man sich entscheiden. Meist ist es aber so, wenn
man freischaffend arbeitet, dass
man zwischen zwei Punkten auswählen kann, die heißen: Ich muss
meine Miete bezahlen und mein
Kind ernähren und ich habe ein
Angebot. Möchte ich das machen
oder muss ich das machen? Daraus
ergibt sich eine Karriere. Und ein
Leben.
Ich bin oft durch tiefe Täler geschritten. Es war brutal. Manchmal
gibt es gute Angebote, da freut
man sich natürlich. Manchmal
sind Angebote so grässlich, dass
man sie ausschlagen muss, obwohl
das wirtschaftlich ein Desaster ist.
Ich habe aufgrund des freischaffenden Daseins die Möglichkeit
gehabt zu sagen: Das mache ich.
Das nicht. Manchmal habe ich
Abzweigungen genommen, die
für eine Karriere nicht besonders
schlau waren. Aber es war meine
persönliche Wahrheit. Ich blicke
auf einen Weg zurück, der zu 100
Prozent so war, wie ich es entschieden habe.�
Zur Person Katharina Stemberger
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Theater ( Auswahl):
Volkstheater Wien; Vienna`s English Theatre; Stadttheater St. Gallen; Rabenhof; Theater in der Kö, Düsseldorf; Sommer
spiele Melk; Festspiele Reichenau; Festspiele Rosenburg; Salzburger Festspiele
Film und Fernsehen (Auswahl):
Der Winzerkönig; Der Bockerer IV – Prager Frühling; Unter den Linden - Das Haus Gravenhorst; Schlosshotel Orth; Dolce
Vita& Co; Der Weihnachtshund; Soko Kitzbühel; Das Traumhotel; Ein Fall für zwei; Medicopter 117; Klinik unter Palmen;
Tatort; Liebe für Fortgeschrittene; Am Seil
Solo- Programme, Lesungen, Hörbücher
2007 Gründung der Produktionsfirma back:yard: „ Giechenland blüht“; „Keine Insel“
www.katharina-stemberger.at
www.backyard.at
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