Magazin Portrait 02 / 2015
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Magazin Portrait 02 / 2015
110 PORTRAIT 2/2015 „Ohne Solidarität zerfällt jede Gemeinschaft“ Sie ist Schauspielerin, Filmemacherin und UNESCO-Botschafterin. Sie engagiert sich für das Erinnern an die Verbrechen des Holocaust und ist immer an vorderster Front, wenn es darum geht, gegen Rechtsradikalismus Flagge zu zeigen und Zeichen zu setzen. Als Tom Cruise ihr letztes Jahr eine Rolle in Mission Impossible anbot, spielte sie gerade im Salzburger Jedermann mit und musste Hollywood vorerst absagen. KATHARINA STEMBERGER Um Unmögliches möglich zu machen, hat die Vielseitige den eigenen Aktionsradius nach und nach erweitert und setzt sich mit Filmen und als Botschafterin überall dort ein, wo sie Ungerechtigkeit und Ungleichgewicht spürt. 2007 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Fabian Eder die Produktionsfirma back:yard, es entstanden Dokumentarfilme wie Griechenland blüht (2012) als Beitrag zur Situation der Griechen in Zeiten der Wirtschaftskrise, sowie Keine Insel (2014), ein Aufruf, die Flüchtlingskatastrophe endlich als europäisches Thema ernst zu nehmen. Ihr Interesse gilt den individuellen Geschichten und der Originalität des Einzelnen, ihr Engagement trägt den Grundgedanken der Solidarität. TEXT Gudrun Tielsch FOTOS Nina Goldnagl PORTRAIT 2/2015 111 F rau Stemberger, Sie haben in den vergangenen 25 Jahren viele unterschiedliche Rollen in Theater, Fernsehen und Film gespielt. Gab es eine Lieblingsrolle? Ich durfte die Jeanne d‘Arc spielen, das ist nach wie vor meine liebste Rolle. (lacht) Ich habe den Beruf immer damit verbunden, etwas umzusetzen, was ich in mir drinnen gehen, drei Jahre als Schauspielerin zu arbeiten, um dann in die Rocky Mountains zu fahren, mir ein Pferd zu kaufen und dort nach dem Rechten zu sehen. Den Bösen eins aufs Happel zu geben und den Schwachen zu helfen. Ein paar Jahre später hat meine um vier Jahre ältere Schwester den Beruf ergriffen und ich war total schockiert, weil ich dachte: Das ist absolut unoriginell. Man kann doch nicht in derselben Familie das Gleiche machen. Ich habe mich und das ist gut. Es geht gar nicht darum, ob das irgendjemandem sonst noch gefällt. Ich habe mir selber eine Art Absolution geben können, die sehr entspannend war. Ein schöner Moment, in dem ich gespürt habe, dass alles im Leben einen Zusammenhang hat. Hat sich auch Ihr zweiter Wunsch eingelöst? Glauben Sie, man kann durch Theater und Film Veränderungen bewirken? Wann immer ich einen guten „Ich blicke auf einen Weg zurück, der zu 100 Prozent so war, wie ich es entschieden habe.“ spüre. Außerdem wollte ich mit dem, was ich mache, bei Menschen etwas auslösen, sie wachrütteln. Wenn ich ganz ehrlich bin, wollte ich Revolutionen auslösen, deshalb waren mir auch immer die Revoluzzer-Rollen am vertrautesten. Es heißt: Schauspielerei ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Gab es bei Ihnen ein Initialerlebnis? Ich wollte eigentlich schon immer Schauspielerin werden, warum, weiß ich nicht. Ich kann mich erinnern, dass ich im Kindergarten bei einer Aufführung mitgewirkt habe, wo ich zuerst als Zwergerl aufgetreten bin, in Strumpfhose, Rollkragenpulli und Zipfelmütze, und dann als Engerl. Das Gefühl, das ich dabei auf der Bühne hatte, war das tollste und aufregendste überhaupt. Ich glaube, da ist es mir eingeschossen. Später habe ich die Hälfte aller 76 Karl-May-Bände gelesen, und dadurch war ich in der Welt der Abenteuer zuhause. Mein Plan so mit elf oder zwölf war, zuerst die Matura zu machen, dann aufs Reinhardt Seminar zu 112 daraufhin ins Cello gekniet, mit 18 wurde mir klar, dass ich das, was ich in mir höre, nicht in dieser Vollkommenheit auf das Instrument übertragen kann. Das war für mich sehr schlimm, ich musste einen Schnitt vollziehen. Der alte Schauspielerwunsch ist wieder hochgekommen. Ich bin mit 18 mit meiner Schwester im Café Stein gesessen und es ist unter vielen Tränen aus mir herausgebrochen. Die Antwort meiner Schwester war: „Das finde ich super. Ich zahle dir die Ausbildung.“ Was gehört, im Rückblick gesehen, zu den persönlich entscheidendsten Erfahrungen, die Sie mit dem Beruf gemacht haben? Ich kann zu großen Teilen das umsetzen, was ich mir vorstelle. Letztes Jahr habe ich im English Theatre in Wien Witness for the Prosecution gemacht, da ist mir das richtig bewusst geworden. Ich stand vor der Premiere vor der Türe und es ist ein angenehmer Friede in mir eingetreten, weil ich dachte: Das wollte ich erreichen Film oder eine gute Aufführung gesehen habe, bin ich aufgestanden und wollte in meinem Leben etwas anders machen. Geschichten erweitern die Wahrnehmung und damit kann Veränderung initiiert werden. Deswegen gibt es ja auch in manchen Gesellschaften eine Zensur, weil man diese Kraft als Gefahr einschätzt. Ob ich für andere Initiatorin für Veränderungen war, weiß ich natürlich nicht. Sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ja. Ich werde immer ganz unrund, wenn ich Ungerechtigkeiten sehe. Schon als Kind habe ich für Gruppen meine Stimme erhoben, immer dort, wo ich gemerkt habe, dass jemand ungerecht behandelt wurde. Ich mag Hierarchien nicht, und Autorität funktioniert bei mir ganz schlecht. (lacht) Wenn Menschen, die mit der Macht, die ihnen gegeben ist, nicht umgehen können und sich an Leuten austoben, die sich nicht wehren können, dann kann ich nicht zuschauen. PORTRAIT 2/2015 Gerade beim Theater und beim Film gibt es aber klare Aufgabenverteilungen und starke hierarchische Strukturen. Wie gehen Sie damit um? Die Leute, mit denen ich gut kann, sind die, die kein Ego-Problem haben. Das Wichtigste ist immer die Sache. Wenn es um die Sache geht, ist alles in Ordnung. Es ist klar, dass es eine Aufgabenverteilung gibt und dass manchmal Ansagen gemacht werden müssen. Darum geht es nicht. Was mir schwerfällt, ist, wenn Leute jeden Tag irgendein Wirtschaftsforscher irgendein anderes Wirtschaftskonzept erzählt hat, und es ging nur mehr um Zahlen und Schuldenschnitt. Da habe ich mir gedacht: Es geht um Menschen, Freunde! Es geht nicht um Zahlen oder Ameisen, die wir von links nach rechts schieben. Wenn wir das aus dem Blick verlieren, dann haben wir verloren. Dann werden wir alle gegeneinander ausgespielt. Wir haben das Friedensprojekt Europa als einen Zusammen- Oder einen Kredit für ein neues Auto oder einen Urlaub aufnehmen. Die Leute hatten keine Erfahrung und haben dieses Angebot angenommen, weil sie geglaubt haben, das sei europäisch. Plötzlich war das alles fällig und sie hatten nichts, womit sie es hätten zurückzahlen können, außer ihren Häusern oder Grundstücken. Das ist das Ergebnis von drei Dekaden ungehemmtem Neoliberalismus. Die junge Generation trifft es besonders hart. Sie sitzt vor einem „Der Fischer in Lampedusa sagt zu dem Thema: Wir sind eine Insel. Auf einer Insel herrscht das Gesetz des Meeres. Das heißt: Wenn jemand in Not kommt, helfe ich ihm.“ aus Unsicherheit heraus Macht ausüben, wenn mit Macht verantwortungslos umgegangen wird. Das Schlimmste aber ist, das habe ich in meinem Leben oft beobachtet, wenn die Würde des Menschen angegriffen wird. Um die Würde des Menschen in einem erweiterten Sinne dreht es sich auch in Ihren beiden Dokumentarfilmen „Griechenland blüht“ und „Keine Insel“, die Sie mit Ihrem Mann Fabian Eder realisiert haben. Wie kam es zu diesen beiden Filmprojekten und worum geht es? Der erste Film, Griechenland blüht, ist aus dem Impuls heraus entstanden, dass wir das Bild, das uns die Medien zur Zeit der Wirtschaftskrise 2012 über die Griechen vermittelt haben, so nicht hinnehmen wollten. Wir dachten, das kann vielleicht nicht ganz so stimmen, dass der Grieche faul unter dem Olivenbaum sitzt und fieberhaft darüber nachdenkt, wie er keine Steuern zahlt, wenn er nicht gerade Autos anzündet oder Fahnen. Hinzu kam, dass PORTRAIT 2/2015 schluss verschiedenster Länder, Völker und Regionen längst aus den Augen verloren, weil wir von Banken und Wirtschaftsinteressen und Politikern, die sich haben instrumentalisieren lassen, hinters Licht geführt wurden. Mit Griechenland blüht wollten wir unseren Beitrag leisten, indem wir das Bild über Griechenland und vor allem über die Griechen ein wenig zurechtrücken. Fabian ist mit dem Segelschiff und einer kleinen Mannschaft durch das wilde Frühlingsmeer gereist, zu den Inseln, und hat dort mit den Menschen gesprochen, hat unglaublich viele Interviews gemacht und die Leute gefragt, wie es ihnen geht. Aus diesen persönlichen Geschichten und Erfahrungen entstand der Film. So erfährt man Dinge, die in den Medien nicht kommuniziert wurden. In den Dörfern haben Leute erzählt, dass über Jahrzehnte, vor allem ab 2000, die Banken die Menschen am Wochenende zu Hause angerufen haben und sie gefragt haben, ob sie kein Haus bauen wollen, oder renovieren. Trümmerhaufen, den die vorangegangene Generation ausgelöst hat. Dennoch versucht sie, sich eine Zukunft aufzubauen. Einer hat gesagt: Wenn uns unsere Träume genommen werden, dann haben wir verloren. Hinzu kommt, dass Griechenland mit 1½ Millionen Flüchtlingen zu kämpfen hat, womit die Griechen alleingelassen werden. Allen südlichen Ländern geht es so. Spanien, Portugal, Süditalien, sie alle sind in eine ähnliche Krise geschlittert und werden auch noch mit der Flüchtlingsproblematik alleingelassen. Wir müssen endlich begreifen, dass das ein europäisches Thema ist. Damit wären wir bei Ihrem nächsten Film „Keine Insel“. Diesmal ging die Reise zu jenen Inseln, vor deren Ufern sich Tragödien ereignen, weil Flüchtlingsboote kentern und tausende Menschen sterben: Malta, Sizilien und Lampedusa. Diejenigen, die es schaffen, werden von den Inselbewohnern aufgenommen. Hier haben Sie, ähnlich wie bei „Griechenland blüht“ 113 das Gespräch mit direkt Betroffenen gesucht. Malta, Sizilien und Lampedusa sind damit alleingelassen, Menschlichkeit walten zu lassen, während in Mitteleuropa Fremdenhass und Rassismus geschürt werden. Diese Inseln spiegeln das Dilemma der europäischen Zuwanderungs- und Asylpolitik. Lampedusa ist eine kleine Insel. Die Bewohner sagen von sich selbst, sie sind ein Taschentuch im Meer. Es sind einfache Leute – Fischer. Die haben nicht viel. Sie haben auch keine großartige Bildung. Neben den Flüchtlingen, die dort in Empfang genommen werden, leben auf der Insel 4.000 Menschen und 2.000 Uniformierte von Grenzschutz, Militär und Polizei und Küstenwache. Die Inselbewohner hätten wirklich das Recht zu sagen: Wir haben Angst. Oder: Das ist schrecklich. Der Fischer in Lampedusa aber sagt zu dem Thema: Wir sind eine Insel. Auf einer Insel herrscht das Gesetz des Meeres. Das heißt: Wenn jemand in Not kommt, helfe ich ihm. Das sollte sich Europa zum Thema Flüchtlingspolitik in großen Lettern als Überschrift wählen. Wenn bei uns ein paar hundert Flüchtlinge aufgenommen werden, titelt die U-Bahn-Zeitung: Flüchtlinge überrennen Wien. Wie lang war die Vorbereitungsphase für diesen Film? Geboren wurde die Idee am 26. Oktober 2013. Das Schiff samt Filmcrew ist am 1. Dezember gestartet. Ich bin nicht mitgefahren, ich hatte Vorstellungen. Außerdem bin ich nicht für Winterstürme im Mittelmeer gemacht. Unser Ziel war, dass der Film vor der EU-Wahl fertig ist. Ende Oktober waren die fürchterlichen Katastrophen vor Lampedusa, die jetzt nicht mehr abreißen. Die Staats- und 114 Regierungschefs Europas haben beschlossen, dieses Thema vor der Wahl nicht zu besprechen, weil sie einen Rechtsruck gefürchtet haben. Ich war zu der Zeit in London, Fabian hat mich angerufen und gefragt: Können wir das so lassen? In einer absurden Aktion haben wir beschlossen, einen Dokumentarfilm zu machen, der ins Fernsehen kommt. Uns war es wichtig, bei beiden Filmen, dass die in jedes Wohnzimmer kommen. Fernsehen ist eines der mächtigsten Kommunikationsmittel, es ging uns in beiden Fällen nicht darum, uns künstlerisch zu vervollständigen, sondern wir wollten möglichst viele Menschen möglichst bald damit erreichen. Ich habe mich vor allem um die Finanzierung und Organisation gekümmert. Der Film wurde von Ihrer Firma back:yard gemeinsam mit dem ORF produziert. Wie groß ist Ihr Team und wie konnten Sie es in so kurzer Zeit schaffen, Geld zu akquirieren? Die Firma besteht aus Fabian und mir. Bei beiden Filmen hat Fabian noch drei Männer mit an Bord genommen, gute Segler, wasser- und seefest, Kamera- und Tonleute. Das Geld in so kurzer Zeit aufzustellen war bei beiden Filmen schwer. In beiden Fällen war ja die Idee davon geprägt, dass jetzt eine Situation ist, zu der wir jetzt ein Filmdokument erstellen wollen, mit dem wir einen ganz bestimmten Zweck verfolgen. Wir hatten also keine 1½ Jahre Zeit zu planen. Beim ersten Film bin ich zu allen möglichen Leuten gegangen, um Geld, aber auch Sachleistungen zu bekommen. Ein Film bedarf vieler Mittel. André Heller hat die Schirmherrschaft sofort übernommen, ich habe eine ganze Liste von namhaften Politikern dabeigehabt. Das war alles super. Was ich nicht, oder in nur ganz geringen Maße bekommen habe, war Geld. Wenn ich versucht habe zu erklären, was wir hier machen, habe ich gesagt: Das ist in der Form künstlerisch, im Inhalt politisch und im Kern solidarisch. Das beschreibt auch in Kürze, was ich mit diesen Dingen versuche und wie ich mein Menschsein und mein Künstlerinnensein überhaupt verstehe. Viele Leute haben mir auf die Schultern geklopft und gesagt: Frau Stemberger, ganz toll, was Sie da machen, aber Geld haben wir keines. Da waren riesige Unternehmen dabei. Da gab es z.B. ein großes Reiseunternehmen, das ich um Unterstützung gebeten habe. Ich hätte Flüge gebraucht, Filmmaterial, was auch immer. Von Gage war sowieso keine Rede und der Griechenlandfilm hat ein großes Loch in unser nicht vorhandenes Familienkapital gerissen. Das Unternehmen bietet mir an, sie könnten zwei Flüge auf unserer Website verlosen. Frage ich: Was ist da die Unterstützung? Da meinte die PR-Dame mit zittriger Unterlippe, wir hätten mehr Traffic auf unserer Website. Außerdem würden sämtliche Reiseunternehmen nun verstärkt für Griechenland- und Italienreisen werben. Da bin ich einfach weggegangen. Wenn man unter Hilfe versteht, dass man an Reisen in arme Länder verdient, dann kann ich das nicht mehr ernst nehmen. Wie haben Sie es geschafft, Ihre Geduld zu behalten? Ich behalte sie nicht. Diplomatie kann ich nicht buchstabieren. (lacht) Ich war z.B. in einer Sendung von Barbara Stöckl, sie war eine Unterstützerin. Am Schluss meinte Barbara: „Katharina, es werden jetzt viele Leute zuschauen, die potentielle Sponsoren sind. Was haben die davon, wenn sie euch jetzt unterstützen?“ PORTRAIT 2/2015 PORTRAIT 2/2015 115 Meine Antwort war: „Ganz ehrlich, jemand, der mich im Zusammenhang mit diesem Thema fragt, was er davon hat, mit dem will ich gar nichts zu tun haben.“ Bei der Lampedusa-Geschichte habe ich mich gefragt: Soll ich irgendjemandem eine Schwimmweste mitbringen, wo noch Blutstropfen drauf sind? Wir sind als eines der reichsten Länder der Erde in einer Haltung angekommen, die immer eine Überschrift hat: Was habe ich davon? Diese notwendig ist, und ich habe schon gesagt, auf meinem Grabstein soll ein einziger Satz stehen und zwar auf Englisch: She couldn‘t take “no“ for an answer. Sie sagten, Sie wollten mit den Filmen einen ganz bestimmten Zweck verfolgen. Welchen? Wir machen diese Filme, damit die Leute begreifen, dass das nicht Themen sind, die im fernen Italien oder Griechenland abgehandelt werden, sondern dass wir, ob es Augen auf auch bei der Wahl. Von wem lasse ich mich vertreten? Und wir müssen unsere Werte überdenken und danach handeln: Mitfühlen und Helfen ist nicht mehr sehr schick in unserer Gesellschaft. Schick ist, wenn du schlauer bist als dein Nachbar und ihn übers Ohr hauen kannst. Dann bist du ein Gewinner. Es wird außerdem mehr und mehr eine Atmosphäre der Angst geschürt. Einseitige Berichterstattungen und reißerische Headlines tragen „Wir sind als eines der reichsten Länder der Erde in einer Haltung angekommen, die immer eine Überschrift hat: Was habe ich davon? Diese Haltung hat uns in den Orkus getrieben.“ Haltung hat uns in den Orkus getrieben. Da kommt die Gier, da kommt der Neid, da kommt, dass alles nur noch in Konkurrenz funktioniert. Abertausende syrische Kinder warten darauf, dass man sie rettet, man könnte es locker machen, und wir krampfen herum. Das ist so beschämend. Ich habe das Wort Solidarität bei vielen Gelegenheiten verwendet und hatte den Eindruck, das ist fast etwas, wofür man sich genieren muss. Das machen nur irgendwelche verträumten Menschen. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir begreifen müssen, dass Solidarität eine der größten Tugenden des Menschen ist, sonst haben wir verloren. Was meine Geduld anbelangt: Ich arbeite daran, aber in 75 Prozent der Fälle sage ich den Menschen, was ich denke, und das wollen ganz viele gar nicht hören. (lacht) Ist mir auch wurscht. Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug nicht aufhören, meine Stimme zu erheben, wo es 116 uns recht ist oder nicht, Verantwortung wahrnehmen müssen. Das beginnt damit, dass wir nicht den Leuten zuhören, die uns nur Angst machen, sondern wir sollten selber lernen hinzuschauen. Es ist wichtig zu begreifen, dass Leute, die über Jahre über einen Kontinent kriechen und ihr Leben in einem depperten Schinakl retten, in solch einer Not sind, dass es uns gut zu Gesicht steht, ihnen zu helfen, weil unsere Situation ist sehr bequem im Verhältnis dazu. Ein Sozialarbeiter in Italien hat gesagt: Wir tun immer so, als hätten wir das Problem. Die haben das Problem. Die haben alles zurückgelassen und kommen hier an mit nichts. Was kann jeder Einzelne tun? Wenn ein Flüchtlingsheim in der Nähe errichtet wird, dann ist es meine Aufgabe, dass ich, bevor ich Vorurteile entwickle, hingehe und das kennenlerne. Das kann jeder machen. dazu bei. Demgegenüber sollte man kritisch bleiben, denn Angst dient der Manipulation. Sie setzen sich nicht nur mit Ihren Filmen für wichtige Themen ein, Sie sind auch UNESCO-Botschafterin für die Aufklärung über Gebärmutterhalskrebs. Ich war selbst davon betroffen und habe eine gute Freundin verloren, die sehr jung daran gestorben ist. 2006 wurde ein Impfstoff entwickelt, der zu einem ganz hohen Prozentsatz Frauen diese Krankheit ersparen kann. Die UNESCO erachtet diesen Impfstoff als derartig große medizinische Errungenschaft, dass sie Botschafter auswählt, die in ihren Ländern darüber informieren. Ich bin eine davon. Mir war wichtig, dass dieser Impfstoff in Österreich ins staatliche Impfprogramm aufgenommen wird. Mittlerweile ist das gelungen. Durch all Ihre Tätigkeitsbereiche sind PORTRAIT 2/2015 Sie gewohnt, öffentlich zu sprechen. Seit einiger Zeit unterrichten Sie auch: Zum einen künftige Schauspieler – als Professorin am Konservatorium der Stadt Wien –, zum anderen geben Sie unter dem Label ACT Seminare für Menschen, die öffentlich sprechen müssen. Ja, ich arbeite mit Leuten an ihren Auftrittsfähigkeiten. Das ist unglaublich beglückend, weil da geht es ans Eingemachte. Eigentlich bin ich durch Zufall dazu gekommen, diese Seminare abzuhalten. Als ich in Alpbach einen Vortrag über unseren Griechenlandfilm gehalten habe, kam im Anschluss jemand auf mich zu und hat gefragt, ob man das lernen könne. Ich habe mich drei Tage hingesetzt und meinen ersten Workshop entworfen, den ich mit Leuten ein oder zwei Tage mache. Ich gebe nun auch Einzelunterricht. Dabei geht es nicht um Tipps und Tricks, die ich vermittle, sondern darum, dass ich Menschen dabei begleite, ihr Bewusstsein für das zu stärken, was ihr Inhalt und ihr Anliegen ist, und das zu transportieren. Es geht um die authentische Auseinandersetzung mit dem Anliegen. Das ähnelt einer Theatersituation. Auch bei einem Vortrag oder einer Präsentation kommt es nur darauf an, dass man meint, was man sagt. Und dass man weiß, warum man das tut, was man tut. Das ist für jeden Vortragenden immens wichtig. Das ist auch das Wesentliche, was ich meinen Schauspielstudenten am Konservatorium mitgeben möchte. Ich unterstütze sie, dass sie den Mut haben, sich auf den Prozess des Seins einzulassen. Ich gebe ihnen das weiter, was ich mir selber in 25 Jahren als Schauspielerin erarbeitet habe. Sie waren in den 25 Jahren vorwiegend freischaffende Schauspielerin. Dadurch waren Sie weder auf bestimmte Rollen noch auf ein Genre oder Medium festgelegt. Sie haben vom „Winzerkönig“ im Fernsehen über eigene Programme, Solo und mit Familie, von den Salzburger Festspielen bis zu Projekten wie „Ganymed“ im Kunsthistorischen Museum Wien eine breite Palette an unterschiedlichsten Arbeiten gemacht. War das Plan, Zufall oder Neugierde? Ganz ehrlich: Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber das Bild, das von Schauspielern gerne verbreitet wird und das sie selber gerne verbreiten, ist, dass sie vor 7 Angeboten stehen und eines auswählen. Die Wahrheit ist viel schlichter. Manchmal hat man zwei wirklich gute Angebote gleichzeitig und dann muss man sich entscheiden. Meist ist es aber so, wenn man freischaffend arbeitet, dass man zwischen zwei Punkten auswählen kann, die heißen: Ich muss meine Miete bezahlen und mein Kind ernähren und ich habe ein Angebot. Möchte ich das machen oder muss ich das machen? Daraus ergibt sich eine Karriere. Und ein Leben. Ich bin oft durch tiefe Täler geschritten. Es war brutal. Manchmal gibt es gute Angebote, da freut man sich natürlich. Manchmal sind Angebote so grässlich, dass man sie ausschlagen muss, obwohl das wirtschaftlich ein Desaster ist. Ich habe aufgrund des freischaffenden Daseins die Möglichkeit gehabt zu sagen: Das mache ich. Das nicht. Manchmal habe ich Abzweigungen genommen, die für eine Karriere nicht besonders schlau waren. Aber es war meine persönliche Wahrheit. Ich blicke auf einen Weg zurück, der zu 100 Prozent so war, wie ich es entschieden habe.� Zur Person Katharina Stemberger • • • • Theater ( Auswahl): Volkstheater Wien; Vienna`s English Theatre; Stadttheater St. Gallen; Rabenhof; Theater in der Kö, Düsseldorf; Sommer spiele Melk; Festspiele Reichenau; Festspiele Rosenburg; Salzburger Festspiele Film und Fernsehen (Auswahl): Der Winzerkönig; Der Bockerer IV – Prager Frühling; Unter den Linden - Das Haus Gravenhorst; Schlosshotel Orth; Dolce Vita& Co; Der Weihnachtshund; Soko Kitzbühel; Das Traumhotel; Ein Fall für zwei; Medicopter 117; Klinik unter Palmen; Tatort; Liebe für Fortgeschrittene; Am Seil Solo- Programme, Lesungen, Hörbücher 2007 Gründung der Produktionsfirma back:yard: „ Giechenland blüht“; „Keine Insel“ www.katharina-stemberger.at www.backyard.at PORTRAIT 2/2015 117