Deutsche Übersetzung

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Deutsche Übersetzung
DIES IRAE
Deutsche Übersetzung (und geringfügige Überarbeitung) des Vortrags,
gehalten in “lëtzebuergescher” (luxemburgischer) Sprache, in der von
Carlo Hommel ( † 8.3.2006)
moderierten Sendung “MUSICA SACRA”
im “Soziokulturellen Sender, Luxemburg”, (Radio 100,7) am 19. November 2000.
Von Fred Casagranda
Vom Autor übersetzt.
(Der schlichte Sprachduktus und die einfache Wortwahl des luxemburgischen Vortrags
wurden weitgehend beibehalten)
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(Einführung)
Wir kennen alle das Dies Irae als einen Gesang aus der Totenmesse. Ältere Leute erinnern sich sehr
wohl: Früher gab es (gemeint ist: in Luxemburg) kein Begräbnis- oder Sechswochenamt, keine
Totengedenkmesse - wegen der schwarzen Meßgewänder nannten wir sie “Schwarze Messe” - in
der nicht das Dies Irae als sogenannte Sequenz gesungen wurde. Die Musikfreunde, auch die NichtKirchgänger unter ihnen, kennen es als das oft spektakulärste Stück aus den vielen RequiemVertonungen großer und auch weniger großer Komponisten.
Dem Thema “D. I. “ könnte man sich auf vielen Wegen nähern und es von den verschiedensten
Seiten beleuchten.
* man könnte nach dem Autor fragen; er ist unbekannt, wenn man auch lange Thomas von Celano
für den Dichter hielt;
* man könnte erklären, was eine Sequenz ist; daß das D.I. nicht als Sequenz entstanden ist und
daß, streng genommen, die Requiem-Messe keine Sequenz haben dürfte;
* man könnte die Werke der Musikliteratur aufzählen, die die Choralmelodie des D.I. zitieren
oder verarbeiten, es gibt deren eine ganze Menge;
* man könnte von den literarischen Werken reden, die den Text des D.I. auf diese oder jene Art
aufgreifen, von der Domszene in Goethes “Faust” bis zu “Jours de colère” (Tage des Zorns) von
Sylvie Germain;
* man könnte endlich sich ausgiebig dabei aufhalten, wie die Menschheit, und besonders das
Christentum, sich das Ende der Welt und das Leben nach dem Tod vorgestellt haben;
* man könnte, man könnte...
Hier und jetzt aber wollen wir eine einzige Frage ins Auge fassen und die Antwort darauf suchen:
Ist die Sequenz D.I. wirklich ein Text, der in Schreckensbildern den Untergang der
Welt ausmalt, der uns Angst einjagt, - einjagen will - vor einem Gott, der beim
Jüngsten Gericht nur Strafe und Verdammnis, nur Feuer und Hölle kennt?
Tatsache ist, daß genau das die Meinung der allermeisten Leute über das D.I. ist.
So liest man es in Konzertprogrammen bei Requiem-Aufführungen, so steht es in den CDBeiheften, so hört man es in Gesprächen, so liest man es in Zeitungen und Büchern.
In einem Buch, das im vergangenen Jahr (=1999) erschien, schreibt jemand die folgenden Sätze:
“... das Dies irae” ist der vielleicht am stärksten verschreckende und verstörende Gesang der
christlichen Liturgie. Man könnte ihn einen “schwarzen Psalm” nennen. Es werden die Schrecken
und Ängste des Jüngsten Gerichtes beschworen, die Strafen der Hölle und die zu befürchtende
ewige Pein. (...) In der Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil hat man auch
konsequenterweise diese Sequenz aus der Totenliturgie entfernt. Sie atmet mehr heidnisches als
christliches Gedankengut, vermittelt eine Schreckensbotschaft angesichts des Todes anstelle
einer Frohbotschaft. (Hervorhebung durch den Redner) Und wenn man bedenkt, daß ein
Begräbnisgottesdienst wohl auch die Angehörigen trösten und Hoffnung wecken soll, wird man
diesem Text - trotz dichterischer Größe und eindrucksvoller Kompositionen - nicht nachtrauern.”
Das schreibt Peter Paul Kaspar, in: Musica Sacra. Das große Buch der Kirchenmusik, StyriaVerlag.1999. Im Nachwort des Buches stellt der Autor sich vor als “Musiker und Seelsorger,
Organist und Priester” und weist eigens hin auf seine Artikel in “Singende Kirche” und “Musica
Sacra”.
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Na denn ! Wenn ein Theologe, der Latein kann, sich außerstande zeigt, das D.I. zu lesen, ohne
gleich die vorgefaßte Meinung mit zu lesen, dann darf man dem Laien, der die alte Kirchensprache
nicht versteht, keinen Vorwurf machen, wenn er derlei Unsinn für bare Münze hält.
Denn, - das muß gesagt werden, - auf die vielen schön gereimten deutschen Übersetzungen ist kaum
Verlaß, wenn man das D.I. richtig verstehen will.
Sie merken, liebe Hörer, meine Meinung über das D.I. ist eine andere. Ich will sie Ihnen gleich hier
zu Gehör bringen:
Thema des Gedichts ist - das ist klar - das Gericht am Ende der Welt, von dem in den
sechs ersten Strophen ausdrücklich die Rede ist. Aber! man muß genau wahrnehmen,
wie davon gesprochen wird. Und man darf nicht überhören, daß da auch das
Auferstehen genannt wird.
Im zweiten Teil bekennt sich ein Mensch als reuiger Sünder vor Gott, dem Richter,
aber er tut das nicht in Angst und Verzweiflung, sondern in fester Hoffnung und in
sicherem Vertrauen auf das Erbarmen Gottes, des Erlösers, auf dessen Wort Verlaß
ist.
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(Erste Musikeinlage: Mozart, Requiem, erster Satz aus dem Dies irae.)
(A: Das Ende der Welt und die Auferstehung)
Diese Meinung wollen wir nun, indem wir den Text lesen und interpretieren, im Einzelnen darlegen
und beweisen, soweit Sie, liebe Hörer, gewillt sind, sich überzeugen zu lassen.
Dies irae, dies illa
solvet saeclum in favilla
teste David cum Sibylla.
Ein Tag des Zorns ist jener Tag,
der die Welt in (glühende) Asche auflöst,
wie es David und die Sibylle bezeugen.
Die erste Strophe kann man als Überschrift ansehen; in der ersten Zeile steht gleich zweimal das
Wort dies: alles, was im Folgenden gesagt wird, geschieht an jenem Tag, bezieht sich auf jenen
Tag.
Quantus tremor est futurus
quando iudex est venturus
cuncta stricte discussurus.
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Welch ein großes Zittern wird da sein,
wenn der Richter kommen wird
um alles streng zu untersuchen.
Die erste Strophe kündigt den Weltuntergang an, die zweite das Gericht. Jetzt fragen Sie sich: Ja,
soll man denn nicht Angst bekommen, wenn von Zorn, von Zittern, vom strengen Richter die Rede
ist?
Hier müssen wir nun etwas weiter ausholen.
Man muß wissen, daß das D.I. fast ganz aus Zitaten besteht, aus Zitaten aus der Bibel.
Wohlverstanden: nirgends wird ein ganzer Satz aus der Heiligen Schrift im Wortlaut zitiert und erst
recht machen keine Anführungszeichen auf Zitate aufmerksam. Aber man stößt, sozusagen auf
Schritt und Tritt, auf Worte, die an ganz bestimmten Orten in der Bibel zu finden sind. Der
hochmittelalterliche Dichter des D.I. schrieb ja praktisch nur für Kleriker; sie allein konnten derlei
lesen, der lateinische Text der Vulgata-Bibel war ihnen geläufig, viele unter ihnen kannten große
Teile daraus auswendig. Das biblische Wort, auf das sie im D.I. stießen, erinnerte sie an den
biblischen Kontext dieses Wortes; so waren sie imstande, sozusagen zwischen den Zeilen des
Gedichts ganze Stellen aus der Heiligen Schrift mit zu lesen.
Wir müssen hier nicht alle Bibelreferenzen im D.I. nachweisen. Greifen wir aus dem bisher
gelesenen Text nur das Wort dies irae heraus. Die Bibel enthält sehr viele Sätze, die vom “Tag
des Herrn” (d.h. der Tag an dem er Gericht hält), vom “Tag des Zorns des Herrn” sprechen. Ich lese
Ihnen davon nur eine aus dem Propheten Zefanja, 1. Kap. Verse 14-18:
“Der Tag Jahwes
Der Tag des Herrn ist nahe, der gewaltige Tag, / er ist nahe, schnell kommt er herbei.
Horch, der Tag des Herrn ist bitter, / da schreit sogar der Kriegsheld auf.
Ein Tag des Zorns ist jener Tag, (dies irae dies illa!) / ein Tag der Not und Bedrängnis,
ein Tag des Krachens und Berstens, / ein Tag des Dunkels und der Finsternis, / ein Tag der Wolken
und der schwarzen Nacht,
ein Tag des Widderhorns und des Kriegsgeschreis in den befestigten Städten / und auf den hohen
Zinnen.
Da jage ich den Menschen Angst ein, / so daß sie wie blind umherlaufen; / denn sie haben sich
gegen den Herrn versündigt.
Ihr Blut wird hingeschüttet wie Schutt / und ihr fettes Mark wie Kot.
Weder ihr Silber noch ihr Gold kann sie retten / am Tag des Zornes des Herrn.
Vom Feuer seines leidenschaftlichen Eifers / wird die ganze Erde verzehrt. (solvet saeclum in
favilla - der Tag, der die Welt in Asche auflöst!)
Denn er bereitet allen Bewohnern der Erde ein Ende, / ein schreckliches Ende.”
Mit Bedacht habe ich einen längeren, ausführlichen Text gewählt, um den Unterschied zum D.I. zu
verdeutlichen. Zwar habe ich eben darauf hingewiesen, der Dichter rechne damit , daß der kundige
Leser die anzitierten Bibelstellen mitlese. Das hieße, die Schreckensbilder des Propheten stehen
sozusagen zwischen den Zeilen der ersten Strophen des D.I. und müssen mitbedacht werden. Ist es
also doch ein “Schreckensgesang”? Nun, der Dichter kennt die ganze Bibel, er will keine Aussagen
über das Gericht unterschlagen. Aber verglichen mit dem Wort- und Bildreichtum des Propheten ist
sein Text dieser zwei ersten Strophen von einer extremen Nüchternheit. Erst recht muß man
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feststellen, daß diese Sprache weit entfernt ist von den schrecklichen Beschreibungen der
Höllenleiden, die exaltierte Mystiker von ihren Visionen überliefert haben. Man könnte sagen, im
D.I. “geschieht lediglich Erwähnung” des Tags des Zorns. Sogar wenn ein Gefühl, eine Emotion
genannt wird, das Zittern vor dem Richter, der kommt, ein strenges Gericht zu halten, geschieht das
eigenartig distanziert, gewissermaßen nur beiläufig. Wir werden im zweiten Teil des D.I. sehen,
wenn er mit dem “guten Jesus” - pie Jesu! - spricht, daß der Dichter da - salopp gesagt - ganz
anders rangeht. Hier ist man versucht, anzunehmen, die einzige Leidenschaft des Autors sei darauf
gerichtet gewesen, seine Botschaft in kunstvolle Verse zu setzen. Tatsächlich ist der Dies irae-Vers,
mit dem lapidaren Rhythmus seiner vier Trochäen,
Di -es i- rae di- es il - la
— v —v — v — v
durch den dreimaligen Gleich- und Wohlklang der Reime in Strophen gefasst, seit jeher zu Recht
bewundert worden.
Die Zurückhaltung des Ausdrucks, die, wie wir gleich sehen werden, auch die weiteren vier
Strophen prägt, ist der direkte Gegensatz zu dem musikalischen Theaterdonner, mit dem die
Komponisten in ihren Vertonungen des D.I. so schaurig-schön aufwarten. Das gilt insbesondere für
die folgende dritte Strophe.
(Zweite Musikeinlage: Verdi, Requiem, Tuba mirum Takte 91 bis 139)
Tuba mirum spargens sonum
per sepulchra regionum
coget omnes ante thronum.
Die Trompete, - oder Posaune oder Shofar, wie Sie wollen, - führt - der Text sagt coget! d. h.
zwingt, - mit einem gewaltigen Ton, der über die Gräber der ganzen Welt erschallt, alle vor den
Thron.
Mors stupebit et natura
cum resurget creatura
iudicanti responsura
Der Tod und die Natur entsetzen sich
beim Anblick der Kreatur, die aufersteht
um sich vor dem Richter zu verantworten.
Diese Trompete oder Posaune ist jedem Musikfreund bestens bekannt durch jene Baßarie aus
Haendels “Messias”: “The trumpet shall sound and the dead shall be raised incorruptible.” und
ebenso aus dem “Deutschen Requiem” von Brahms, zu demselben Text, 1. Kor. 15.52: “Denn es
wird die Posaune schallen und die Toten werden auferstehen unverweslich.” Sie kündet, daß das
Gesetz der Natur außer Kraft gesetzt ist, nach dem alles, was lebt, vergehen muß. Die Macht von
Tod und Natur ist gebrochen, darüber sind sie entsetzt. Sie bläst nicht den Untergang der Welt als
das Ende von Allem, sondern den Übergang in das versprochene, neue und ewige Leben, den
Anfang des neuen Himmels und der neuen Erde. (Offb 21)
Überspitzt könnte man sagen, die Komponisten wären gut beraten gewesen, wenn sie freudige
Festfanfaren komponiert hätten, statt des an dieser Stelle üblichen Katastrophenalarms.
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(B: Das Gericht)
Doch wollen wir ihnen zugut halten, daß den Auferstandenen zunächst einmal das Gericht
bevorsteht. Von ihm geht Rede in den zwei nächsten Strophen, Nr. 5 und 6.
Liber scriptus proferetur
in quo totum continetur
unde mundus iudicetur.
Ein Buch wird herbeigebracht;
in ihm steht alles geschrieben,
worüber gerichtet wird. (Offb 20.12)
Iudex ergo cum sedebit
quidquid latet apparebit
nil inultum remanebit.
Vor dem Richter kommt dann alles,
was verborgen war, ans Licht,
und nichts bleibt ungebüßt.
Der lateinische Text sagt wohl nil inultum, also eigentlich: nichts bleibt ungerächt. Aber die
Formulierung ist wieder von einer trockenen Abstraktheit, die keine Emotionen schürt, es ist kein
Bild, das ins Auge springt.
(Dritte Musikeinlage: Mozart, Requiem, aus Dies irae: Tuba mirum)
Nach dem Urteil mancher Betrachter eröffnet die nun folgende siebente Strophe den zweiten Teil
des Gedichts. Ich neige eher dazu, den zweiten Teil erst mit der neunten Strophe Recordare
beginnen zu lassen und die siebente und achte Strophe als Überleitung anzusehen. Sie vollziehen
die Wende von der nüchternen Knappheit der sechs Auferstehungs- und Gerichtsstrophen zum
persönlichen, aus dem Herzen kommenden Ausdruck des zweiten Teiles. Allerdings erscheint
bereits hier in der siebenten Strophe etwas völlig Neues. Bisher war der Text eine unpersönlich
verfasste Aufzählung der an jenem Tage - illa die - geschehenden Dinge. Ab jetzt aber spricht der
Dichter im eigenen Namen, er sagt: Ich! und wer sich den Text zu eigen macht, nämlich als Gebet denn als solches wurde er verfasst - der wird selber dieser Ich, der hier auftritt und sich der
gegebenen Situation stellt.
Quid sum miser tunc dicturus
quem patronum rogaturus
cum vix justus sit securus.
(In klagendem Ton gesprochen:)
Was soll ich Armer dann sagen?
wen soll ich um Fürsprache bitten,
wo doch kaum der Gerechte seiner Sache sicher sein kann?
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Ich habe das in wehklagendem Ton vorgetragen, wie es jemand täte, der keinen Rat, keinen Ausweg
wüßte, der am Verzweifeln wäre. Aber ist das der Sinn dieser Verse? Weiß der Dichter, der Beter
dieser Zeilen, wirklich nichts zu sagen? Dann müßte hier der Schlußpunkt stehen und das Gedicht
wäre aus. Der Strophenzahl nach haben wir jedoch noch nicht einmal die erste Hälfte durch.
Die Frage: Was soll ich Armer sagen ist mit einigen weiteren Gedanken dem Buch Hiob 9.13-15
entnommen. Für Hiob ist das eine bitter-ernste Frage; hier aber kann sie nur rhetorisch gemeint
sein, denn wir werden im zweiten Teil sehen, daß der Arme geradezu übersprudelnd viel zu sagen
weiß.
Auch die zweite Frage: wen kann ich um Fürsprache bitten? ist keine echte Frage; gleich die erste
Zeile der folgenden, achten Strophe liefert die Antwort, indem sie den Fürsprecher direkt anspricht:
Rex tremendae maiestatis!
Augenblick mal! Der Rex tremendae maiestatis ist doch der Richter selber, und nicht der Anwalt
der Verteidigung! (Hier fällt mir eine Szene aus einem Theaterstück von Goethe ein. (Das Stück heißt “Die Aufgeregten”, es ist
Fragment geblieben und deshalb so gut wie unbekannt.) Da gibt (1. Akt, 6. Auftritt) ein alter Soldat, der
unter dem Großen Fritz gedient hat, ganz gewaltig damit an, wie der König mit ihm - und er mit dem König!
- geredet hat. Seine Zuhörer staunen: “So habt Ihr mit dem König gesprochen, Gevatter? Durfte man so mit
ihm sprechen?” Und der alte Soldat antwortet: “Freilich durfte man so und noch ganz anders... Es war ihm
einer wie der andere, und der Bauer lag ihm am mehrsten am Herzen. Ich weiß wohl, sagte er, ... die Reichen
haben viel Advokaten, aber die Dürftigen haben nur einen, und das bin ich.”)
Der Dichter des D.I. weiß, daß sein Heil nur beim König und Richter selber zu finden ist, und in der
nächsten, der achten Strophe wird er uns auf wunderbare Weise, mit einem sprachlichen
Meisterstück, sagen, weshalb das so ist.
(Vierte Musikeinlage: Mozart, Requiem, aus Dies irae: Rex tremendae maiestatis)
Ich sagte soeben, die Strophen 7 und 8 seien die Überleitung zum zweiten Teil des D.I. In der Tat,
die achte Strophe steht geradezu wie ein Portal, wie ein Tor mit zwei Schauseiten zwischen den
beiden Teilen des Gedichts. Vom ersten Teil herkommend nähern wir uns dem Portal, und da steht
der angekündigte königliche Richter, von dem Matthäus 25.31 schreibt: “Wenn der Menschensohn
in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner
Herrlichkeit setzen.” - so, wie ihn viele Darstellungen der “Maiestas Domini” oder des Jüngsten
Gerichts zeigen: der
Rex tremendae maiestatis
der König von erschreckender Majestät. Oder: der König von furchterregender Größe
Dann gehen wir durch das Portal. An dieser Stelle gebraucht der Dichter einen Kunstgriff, den die
Lehrer der Rhetorik Polyptoton nennen. D.h. er gebraucht ein und dasselbe Wort mehrmals in
verschiedenen grammatischen Formen. Hier steht dreimal das Verb salvare retten, erlösen,
heilen, seligmachen.
Qui salvandos salvas gratis
salva me!
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Zu erlösen gekommen, erlösest du aus freier Gnade, oder: unverdienterweise;
erlöse mich!
Dreimal salvare - erlösen! Damit wirklich jedermann ohne Ausnahme versteht, daß dieser
König kein schlimmer Eroberer ist, der uns in Ketten schlagen und unterjochen will, sondern daß es
der Salvator, der Erlöser, der Heiland selber ist, der wiederkommt, um sein Werk der Erlösung zu
vollenden. Die Anspielung an Römerbrief 3.24 ist nicht zu überhören: “Sie werden gerecht ohne
es verdient zu haben, dank seiner Gnade - gratis pro gratia sagt der Vulgatatext - durch die Erlösung
in Christus Jesus.”
Dann treten wir heraus aus dem Portal und sehen seine dem zweiten Teil zugewandte Schauseite:
fons pietatis!
Quell der Güte, des Erbarmens.
Was dem Dichter hier gelungen ist, die “schreckliche Majestät” und die “Quelle des Erbarmens”,
den strengen Richter und den gütigen Erlöser, durch die dreifache Klammer des Wortes salvare in
eins zu fügen, das ist ein Wunderwerk an Wortkunst und dichterischer Kraft. Von dieser Strophe
gilt im besonderen, was der bedeutende Hymnologe Hermann Adalbert Daniel vor 150 Jahren vom
ganzen D.I. schrieb, es sei ein “ Κειμηλιον pretiosissimum”, ein Kleinod von unschätzbarem Wert.
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(C: Vertrauen, Zuversicht)
Wir stehen am Beginn der zweiten Hälfte des Gedichts, die wiederum aus acht Strophen besteht. In
den liturgischen Büchern und ihnen entsprechend in den D.I.-Vertonungen stehen einige Strophen
mehr, die jedoch erst später hinzugefügt wurden und deshalb hier nicht berücksichtigt werden
sollen. Das sind die letzten Strophen ab Lacrimosa, die schon durch abweichendes Reimschema
und veränderte Metrik, vor allem aber durch ihren Inhalt als Fremdkörper sich erweisen. Inhaltlich
nebenher geht auch die Strophe
Iuste iudex ultionis
donum fac remissionis
ante diem rationis.
Richter gerechter Strafe,
gewähre Vergebung
vor dem Tag der Rechenschaft.
Versmaß und Reimschema dieser Strophe entsprechen zwar dem D.I.-Muster, aber allein die
Tatsache, daß sie um etwas bittet, was nicht an jenem Tag des Zornes, sondern bereits vor dem
Tag der Rechenschaft geschehen soll, stellt sie, wie wir sehen werden, abseits des Leitgedankens,
der die acht Originalstrophen der zweiten Hälfte prägt.
Recordare, Iesu pie!
Denke daran, erinnere dich, guter, lieber Jesus!
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Diese Zeile steht als Motto, wie eine Inhaltsangabe, am Eingang zum zweiten Teil.
Jetzt zeigt sich: der eben fragte: Was soll ich Armer sagen? der kann jetzt acht Strophen lang,
salopp gesagt, seinen Mund nicht mehr halten. Wie ein Kind sich an den Hals seines Vaters hängt
und nicht aufhört zu schmeicheln, zu betteln, sagt er: Iesu pie lieber Jesus, und tu bonus fac
benigne du Guter, in deiner Güte mache... (wieder andeutungsweise ein Polyptoton!) Er fängt
an, aufzuzählen, was er, der gute Jesus alles gesagt, versprochen, getan und gelitten hat für ihn, den
Dichter, d.h. für die Menschen, das ist, ich sagte es bereits, für dich, für mich, für jedermann, der
sich diesen Text als Gebet zu eigen macht.
Recordare, Iesu pie,
quod sum causa tuae viae,
ne me perdas illa die!
Denke daran, gütiger Jesus,
meinetwegen bist du gekommen,
laß mich an jenem Tage nicht zugrunde gehen!
(Fünfte Musikeinlage: Mozart, Requiem: aus Dies Irae: Recordare)
Recordare! Denke daran!
Man erinnert sich an den Vers aus dem Magnificat: «Recordatus misericordiae suae.» - Er denkt
an sein Erbarmen!
Das ist eine Reminiszenz an das Gebet des Mose: (Deuteronomium 9. 25-29) “Denk an deine
Knechte, an Abraham, Isaak und Jakob!” Und zuvor hieß es da: “ Gott, mein Herr, bring nicht das
Verderben über dein Volk (...) das du in deiner Macht freigekauft und mit starker Hand aus
Ägypten geführt hast.” Soll man sagen können: “...er hat sie nur herausgeführt, um sie in der
Wüste sterben zu lassen.”
Dieses Gebet wird erhört; die Antwort Gottes an Mose (Dtn 10.11) muß man mit bedenken: “Sie
sollen in das Land hineinziehen und es in Besitz nehmen, das Land, von dem du weißt: Ich habe
ihren Vätern geschworen, es ihnen zu geben.”
«Ne disperdas populum tuum» - “Bring nicht Verderben über dein Volk!” so betet
Mose. Darauf und auf Gottes Antwort beruft sich der Dichter des D.I. : Ne me perdas illa
die! Laß mich an dem Tag nicht zugrunde gehen! Vor allem aber erinnert er den «pius Jesus» an
dessen Worte aus Joh 6.40: “Es ist aber der Wille dessen, der der mich gesandt hat, daß ich keinen
von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, «non perdam» sondern daß ich sie
auferwecke am Letzten Tag.”
Quaerens me sedisti lassus
Mich suchend, saßest du müde. Oder: Ermattet von der Suche nach mir, saßest du.
Das ist im Gedicht nur eine Zeile, nur vier Worte! Wie schnell liest man darüber hinweg! Wie viel
aber ist darin enthalten!
Quaerens me - Du suchst mich: Du bist der gute Hirt, du bist jener Mann aus dem Gleichnis im
Evangelium, der das eine verlorene Schaf sucht und der sich freut, wenn er es wiedergebracht hat.
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Und: Recordare! Denk daran! du hast es gesagt: “Ebenso wird auch im Himmel
herrschen über jeden Sünder, der umkehrt.”
Freude
Sedisti lassus - Ermattet saßest du! Der Evangelist Johannes erzählt in seinem 4. Kapitel, wie
Jesus in Samaria «fatigatus ex itinere sedebat super fontem» - “müde von der Reise sich an den
Brunnen setzte”. In seinen Traktaten über das Johannesevangelium versteht Augustinus diese Reise
durch Samaria, während der Jesus ermüdete, symbolisch für seinen Lebensweg auf der Erde als
Mensch, als Erlöser der Menschen. So meint es auch der Dichter: quod sum causa tuae viae
- meinetwegen bist du diesen Weg gegangen - und: redemisti crucem passus - durch das
Kreuz hast du mich freigekauft.
Wenn Augustinus anschließend die Müdigkeit Jesu kommentiert, beginnt er vier aufeinander
folgende Sätze mit: «non enim frustra fatigatur» - nicht umsonst ermüdet er. Der Autor des D.I.,
der seinen Augustinus sicher gut kannte, sagt: tantus labor non sit cassus - so viel Mühe
kann doch nicht vergeblich gewesen sein.
Der bibelkundige Leser erinnert sich aber der ganzen Szene am Jakobsbrunnen bei dem Dorfe
Sychar, vor allem des Kernsatzes aus dem Gespräch mit der Samariterin: “Das Wasser, das ich
gebe, wird zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.” Diese trostvolle
Verheißung ewigen Lebens muß man mitbedenken.
***
(D: Reue)
Jetzt aber, als wolle er seinen Schmeicheleien vorsichtig Einhalt gebieten, oder als ob er noch
einmal auf Quaerens me zurückkommen wolle, wo die Umkehr des Sünders zwischen den
Zeilen angedeutet wurde, jetzt bekennt er sich, wie der Verlorene Sohn aus dem Gleichnis, als
reuigen Sünder:
Ingemisco tamquam reus,
Culpa rubet vultus meus,
Supplicanti parce, Deus!
Ich jammere in meiner Schuld;
sie treibt mir Schamröte ins Gesicht:
Ich bitt dich, Gott, verschone mich!
Dann stellt er sich gewissermaßen in die Reihe der aus der Bibel bekannten reuigen Sünder und
wieder ruft er Jesus dessen Worte und Handlungen in Erinnerung:
Qui Mariam absolvisti...
Du hast Maria die Sünden vergeben...
Gemeint ist natürlich Maria aus Magdala, die in der Sicht des Mittelalters eine große Sünderin
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gewesen war, dann aber, nach ihrer Begegnung mit Jesus, zur großen Büßerin wurde.
Et latronem exaudisti...
Du hast den Schächer am Kreuz erhört...
Dieser bekannte Reue und Glauben: “Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!” Und
Jesus versprach ihm: “ Amen, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.”
Mihi quoque spem dedisti.
Damit hast du auch mir Hoffnung gegeben.
(E: Das Höllenfeuer)
Preces meae non sunt dignae
sed tu bonus fac benigne
ne perenni cremer igne!
Mein Beten hat nicht viel Gewicht;
doch, du, Guter, sei so gut; mache
daß ich nicht im ewigen Feuer brenne!
Aha! da ist es also doch, das ewige Feuer! Die übernächste Strophe wird sogar noch konkreter von
“schrecklichen Flammen” reden:
Confutatis maledictis,
flammis acribus addictis,
voca me cum benedictis!
Wenn die Verdammten überführt
und zu den schrecklichen Flammen verurteilt sind,
dann ruf mich auf zu den Seligen!
Darf man von dem Dichter des D.I. erwarten, nicht an die Existenz der Hölle zu glauben? Das Feuer
wird oft genug in der Hl. Schrift erwähnt; wie könnte ein Mensch des 12. Jahrhunderts gegen das
Wort Gottes das Höllenfeuer leugnen? Noch dreihundert Jahre später will Martin Luther “viel eher
zu lassen, das alle menschen, engel und teuffel verloren werden, denn das Gott nicht sollt warhafftig
seyn ynn seynen wortten.” (Werke, Weimarer Ausgabe10/2, 320)
Das D.I. erlaubt sich also nicht, Hölle und Feuer in Frage zu stellen. Doch wo bleibt die Angst
davor? Weder drückt der Text Angst aus, noch malt er, um Angst zu schüren, die Höllenqualen
genüßlich aus. Quasi nebenbei nur wird das ewige Feuer genannt, um zu sagen, daß der gute Jesus
dafür sorgen wird: ne perenni cremer igne - daß ich nicht im ewigen Feuer brenne! Von
den flammis acribus - den schrecklichen Flammen - heißt es, sie seien für die Verdammten
bestimmt — man denkt an das Wort: Die Hölle, das sind die Andern; das D.I. scheint es zu
variieren: Die Hölle ist für die Andern —, während ich selber zu den Auserwählten gehöre; ich
werde zur Rechten des Herrn meinen Platz finden, wie es die Strophe dazwischen in Erinnerung an
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Mt 25 zum Ausdruck bringt:
Inter oves locum praesta
et ab haedis me sequestra
statuens in parte dextra.
Bei den Schafen gib mir meinen Platz,
sondere mich von den Böcken;
stelle mich zu deiner Rechten.
(Sechste Musikeinlage: Mozart, Requiem: Confutatis maledictis incl. Oro supplex)
(F: Letzte Hingabe)
Wir sind bei der letzten Strophe angekommen - wohlverstanden der letzten Strophe der
angenommenen “Urfassung” des D.I.
Oro supplex et acclinis
cor contritum quasi cinis
gere curam mei finis.
Die erste Zeile zeigt die äußere Haltung des reuigen Sünders:
Ich bete knieend und hingebeugt...
Tut man des Guten zuviel, wenn man sich vorstellt, seine Stirn berühre den Staub der Erde?
Die zweite Zeile zeigt sein Inneres. - Will man sich für etwas entschuldigen, sagt man gerne
leichthin: “Ich bin ganz zerknirscht.” Die Frage drängt sich auf, ob die solcherart zur leeren
Worthülse gewordene Redensart “zerknirschtes Herz” die angemessene Übersetzung von cor
contritum ist? Das lateinische Verb «conterere» bedeutet zerdrücken, zerreiben, mit dem Mörser
zu Staub zermalmen; das hinzugefügte quasi cinis - wie Asche - zeigt, daß man die Zeile sehr
krass verstehen darf. (Hier folgt in der luxemburgischen Fassung ein Zitat in französischer Sprache
aus einem Gedicht von Dinos Christianopoulos, Volupté nocturne [Figaro littéraire vom
13.2.1997]; hier nur die Schlußzeilen: «Et c’est alors au fond de l’anéantissement / que mon âme,
Seigneur, a eu soif de toi.» Da, zutiefst im Abgrund der Vernichtung, / dürstete meine Seele, Herr,
nach dir. )
Wie auch immer man cor contritum übersetzen mag, man muß das Zitat erkennen, um das es
sich dabei handelt: «Sacrificium Deo spiritus contribulatus, cor contritum et humiliatum Deus non
despicies» - Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist; ein zerbrochenes und
zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.» Das ist aus dem Bußpsalm «Miserere»,
Psalm 51, Vers 19. Ein letztes Mal also erinnert der Dichter den “guten Jesus” an ein Wort aus der
Schrift, ein Wort, das aufbaut, das tröstet, das Vertrauen schenkt.
In diesem Vertrauen kann er, wie Jesus am Kreuz, wenn auch mit andern Worten, sein Leben und
Sterben in Gottes Hand geben: gere curam mei finis. - sorge du für mich an meinem Ende.
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[(Nachtrag Juli 2008) Die Wendung „curam gerere“ ist zwar auch Bibelzitat (Tobias 14,15), es
muß hier aber auf ihr Vorkommen in einem anderen Gedicht hingewiesen werden, das aus
derselben Zeit stammt, in der man die Entstehung unserer Sequenz ansetzt. Es ist die sogenannte
„Vagantenbeichte“ des unsterblichen Archipoeta aus den 1160er Jahren. Da heißt es in der 5.
Strophe:
Voluptatis avidus magis quam salutis
mortuus in anima curam gero cutis
Nach Lust begehr ich stets, mehr als nach Heil der Seele;
die Seele ist verlorn, ich tracht den Leib zu pflegen.
Diese freche Unbekümmertheit um das Seelenheil, - das genaue Gegenteil des D.I., - dürfte freilich
zu einem guten Teil dichterische Übertreibung sein; immerhin handelt es sich um eine „Beichte“,
und am Ende des Gedichtes wird der Wille zur Besserung, zur Umkehr angedeutet.]
***
(Es folgen im luxemburgischen Originaltext noch
1. der klarstellende Hinweis, daß das D.I. nicht kurzerhand “abgeschafft” wurde, sondern lediglich
aus der Totenmesse entfernt wurde, im lateinischen Stundengebet als Hymnus der 34. Woche im
Jahreskreis aber erhalten wurde;
2. die vorsichtige Andeutung, daß, unabhängig von auf den Inhalt bezogenen Erwägungen, auch
formal-liturgische und liturgie-historische Gründe für die Entfernung der Sequenz aus der
Requiem-Messe angeführt werden können;
3. die Anerkennung der Tatsache, daß das D.I. leider in früheren Zeiten in Christenlehre, in
Bußpredigten und, schlimm genug, in Begräbnispredigten vielfach dazu mißbraucht wurde, den
Gläubigen “die Hölle heiß zu machen”; daß es so zum Stein des Antoßes wurde und man daher gut
daran tat, in der kirchlichen Öffentlichkeit weitgehend darauf zu verzichten.
(Siebente und letzte Musikeinlage: Mozart, Requiem: Lacrimosa.)
Übersetzung beendet am 24. November 2004.