Mehr Lebensqualität für chronisch Kranke - AOK
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Mehr Lebensqualität für chronisch Kranke - AOK
Das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft Spezial 7 - 8/2002 SPEZIAL Disease-Management der AOK Mehr Lebensqualität für chronisch Kranke +++ Ziele, Methoden, Erfahrungen Inhalt Vorwort Ein Plus für die Patienten von Rolf Hoberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Pilotprojekt in Baden-Württemberg „DMP“ lernt laufen von Jürgen Graf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Disease-Management im Überblick Auf dem Weg zu mehr Gesundheit 4 DMP-Entstehungsgeschichte Kritik wider besseren Wissens von Norbert Schmacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen Informieren statt bevormunden von Peter Thaddäus Sawicki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Diabetiker-Versorgung Zur Debatte um die beste Therapie von Michael Berger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Hausarzt-Praxis Die stillen Reserven mobilisieren von der G+G-Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Fünf Fragen, fünf Antworten Disease-Management auf einen Blick von der G+G-Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 von Gabriele Müller de Cornejo und Jens-Martin Hoyer . . . . . . . . . Lese- und Webtipps ■ AOK Bundesverband Disease-Management-Programme im Rahmen der Reform des Risikostrukturausgleichs, Beilage zum Deutschen Ärzteblatt vom 8. März 2002, Bestelladresse: [email protected] ■ ■ ■ ■ Berger/Sawicki/Schmacke (Hrsg.) Stichwort: Diabetes. Dokumentation eines internationalen Symposiums. G+G Kleine Reihe, Bonn 2002, Bestell-Fax KomPart: (0228) 84900246 Bundesgesundheitsministerium Mehr Gesundheit ist möglich. DiseaseManagement-Programme verbessern die Behandlungsqualität, Pressemitteilung Nr. 37 vom 27.3.2002 www.bmgesundheit.de ■ Forum für Gesundheitspolitik Disease-Management-Programme konkret, Berlin 2001 ■ Jacobs/Häussler Disease-Management im künftigen Kassenwettbewerb; in: G+G-Wissenschaft, 1/2002, S. 24-31 Lauterbach, Karl W. Disease Management in Deutschland – Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Faktoren zur Entwicklung, Implementierung und Evaluation, Köln 2001 Müller de Cornejo, G./Linnenbürger, J. Disease-Management-Programme: Der erste Schritt ist getan; in: G+G, 6/2002, S. 20-21 ■ Nadolski, H. Disease Management in den USA; in: G+G Wissenschaft, 1/2002, S. 16-23 ■ Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Band III: Über-, Unter- und Fehlversorgung, Bonn 2001, PDF-Datei unter www.svr-gesundheit.de ■ G+G-Spezial zum Risikostrukturausgleich Mehr Gleichgewicht im Wettbewerb. Der neue Risikostrukturausgleich. G+G-Spezial 2/2002; Bestell-Fax: (0228) 84900246 ■ www.aok.de AOK-Die Gesundheitskasse: Programme für chronisch Kranke ■ www.aok-presse.de Hintergrundinformationen zu Disease-Management und zum RSA ■ www.bmgesundheit.de Bundesministerium für Gesundheit ■ www.svr-gesundheit.de Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ■ www.leitlinien.de Leitlinien-Information der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung Vorwort Ein Plus für die Patienten In anderen Ländern bereits bewährt, in der Bundesrepublik noch Neuland: Disease-Management. Warum die „gemanagte“ Versorgung nicht nur für chronisch Kranke eine große Chance ist, erläutert Rolf Hoberg. D isease-Management in Deutschland – das ist ein Plus für viele! An erster Stelle sind dabei die Patientinnen und Patienten zu nennen. Nicht erst seit dem Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zur Über-, Unter- und Fehlversorgung wissen wir, dass die Versorgung von chronisch Kranken hierzulande Mängel aufweist. Überflüssige Doppeluntersuchungen, unkoordiniertes Nebeneinander von haus- und fachärztlichem Sektor, Defizite in der psychosozialen Betreuung und beim Selbstmanagement der Patienten – das Verbesserungspotenzial ist erheblich. Und genau dieses Potenzial soll und kann Disease-Management ausschöpfen. Dabei steht eine bessere Koordinierung der Behandlungsabläufe im Mittelpunkt: Es ist eine alte Schwäche des bundesdeutschen Gesundheitswesens, dass zwar zahlreiche Behandlungsoptionen und -kapazitäten vorhanden sind, die Behandlungsabläufe aber teilweise nur mangelhaft aufeinander abgestimmt werden. Im Disease-Management der AOK, das unter dem Namen Curaplan läuft, übernimmt darum der behandelnde Arzt die Rolle eines medizinischen Lotsens. Disease-Management ist aber nicht nur für die Versicherten ein Pluspunkt. Die neuen Programme tragen auch dazu bei, Verwerfungen im Wettbewerb abzuflachen. Bislang ist es für eine Kasse eine unternehmenspolitische Gratwanderung, wenn sie sich stärker als andere Mitbewerber um ihre chronisch kranken Versicherten kümmert: Folgt sie diesem sozialpolitischen Auftrag, verschlechtert sie ihre Position im Wettbewerb; versucht sie dagegen, vor allem junge und gesunde Kunden zu gewinnen, gerät das Solidarprinzip aus dem Blickfeld. Die Verknüpfung von Disease-Management-Programmen (DMP) mit dem Risikostrukturausgleich entschärft diesen Widerspruch: Krankenkassen, die in DMP investieren, erhalten künftig mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich als Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang Kassen, die dies nicht tun. Damit leiten DMP eine Trendumkehr im Kassen-Wettbewerb ein. Disease-Management stellt darüber hinaus für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen ein interessantes Feld dar. Zum einen bietet sich engagierten Ärzten Gelegenheit, durch eine engere Zusammenarbeit mit anderen Kollegen und medizinischen Einrichtungen mehr als bisher für ihre Patientinnen und Patienten tun zu können. Zum anderen gewinnen Leistungserbringer-Gruppen, die hochwertige DMP-Pakete schnüren, im Wettbewerb an Profil. Das Disease-Management stellt nicht zuletzt die Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung im bundesdeutschen Gesundheitswesen unter Beweis. Zwar waren die Verhandlungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen beileibe nicht immer einfach. Doch unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die Selbstverwaltung im Koordierungsausschuss zu klaren Anforderungsprofilen an Disease-Management-Programme gekommen ist. Daran ändern auch Kampagnen einzelner Interessenvertreter nichts: DMP sind keine Billigmedizin, sondern für chronisch Kranke konzipierte Behandlungsprogramme, die sich im internationalen Vergleich sehen lassen können. Zugegeben: Es ist noch manche Hürde – insbesondere im Vertragsbereich – zu nehmen, bevor die Programme flächendeckend in Deutschland zur Verfügung stehen. Doch die Reformchancen, die die Politik mit dem DiseaseManagement eröffnet hat, sollten die Akteure im Gesundheitswesen nutzen – im Interesse der Patientinnen und Patienten. Dr. Rolf Hoberg, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes 3 Disease-Management im Überblick Auf dem Weg zu mehr Gesundheit Sieben Meilensteine 01. Januar 2002 Idee und Erfahrungen stammen aus den USA: Chronisch Kranke profitieren von einer strukturierten Betreuung und Therapie. Gabriele Müller de Cornejo und Jens-Martin Hoyer zeigen Hintergrund und Konzept des Disease-Managements auf. Die AOK setzt die Disease-ManagementProgramme unter dem Namen Curaplan in die Praxis um. RSA-Reform tritt in Kraft 28. Januar 2002 Koordinierungsausschuss empfiehlt DMP für ● ● ● ● Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 Koronare Herzkrankheiten Chronische Atemwegserkrankungen (Asthma, COPD) Brustkrebs D as Gutachten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zur Über-, Unter- und Fehlversorgung fiel beschämend aus. Die Experten mahnen darin insbesondere bei acht Krankheiten erhebliche Verbesserungen an: Diabetes, Schlaganfall, Asthma und chronische Lungenerkrankungen, Krebs, Rückenleiden, Depressionen, Koronare Herzkrankheit, Zahnerkrankungen und Kieferorthopädie. Bislang sei beispielsweise in der Diabetikerversorgung kein Durchbruch erzielt worden, obwohl einfache Methoden für Diagnose und eindeutige Erkenntnisse für die Behandlung und Erfolgskontrolle vorliegen: Die Versorgung erfolge vor allem zu unkoordiniert. Disease-Management hat demgegenüber zum Ziel, die Versorgung von chronisch Kranken zu verbessern. Patienten, die langsam sich entwickelnde und andauernde Krankheiten haben, sollen durch eine gut abgestimmte, kontinuierliche Betreuung und Beratung mehr Lebensqualität erlangen und vor Spätfolgen ihrer Erkrankung bewahrt werden. Das Disease-Management soll langfristig aber auch Kosten sparen. Die direkten Kosten beispielsweise von Diabetes in Deutschland wurden 1994 auf über drei Milliarden Euro geschätzt. Disease-Management-Programme (DMP) stammen aus den Vereinigten Staaten. Dort waren regionale DMP sehr erfolgreich, beispielsweise das Diabetes Roadmap Programm von Group Health Cooperative of Puget Sound. Die Idee ist bestechend: Für die wirksame Behandlung moderner Volkskrankheiten („disease“ = Krankheit, Leiden) reicht es nicht aus, wenn der Patient in akut bedrohlichen Situationen zum Arzt geht. Insbesondere chronisch Kranke benötigen vielmehr eine kontinuierliche Betreuung, die für eine stabile körperliche Verfassung sorgt. Der Begriff „Management“ drückt aus, dass es in den Disease-Management-Programmen nicht um die traditionelle ärztliche Intervention in Krisensituationen, sondern um die langfristige Planung und Strukturierung der Patientenbetreuung geht. Die Ziele von Disease-Management gehören zu den ehrgeizigsten, die sich die Gesundheitspolitik stellen kann. DMP verbessern die Qualität der medizinischen Versorgung und vermeiden akute, kostenintensive und den Patienten belastende Stadien chronischer Erkrankungen. In den Disease-Management-Programmen wird den Patienten eine Behandlung nach neuesten, gesicherten medizinischen Erkenntnissen garantiert. Zudem unterstützen DMP die Eigenaktivität und die Gesundheitskompetenzen der Patienten. Beispielsweise sollen alle im Rahmen von DiseaseManagement betreuten Diabetiker Zugang zu strukturierten, evaluierten, zielgruppenspezifischen und publizierten Schulungsprogrammen erhalten, in denen sie einen eigenverantwortlichen Umgang mit ihrer Erkrankung trainieren. Auch die Ärzte werden geschult, damit die vertraglich vereinbarten Versorgungsziele erreicht werden. Die Inhalte der Leistungserbringer-Schulungen zielen unter anderem auf die sektorenübergreifende Zusammenarbeit ab. 13. Mai 2002 Der Koordinierungsausschuss einigt sich auf Anforderungen für die Ausgestaltung des DMP für Diabetes Typ 2. Die Empfehlungen des Koordinierungsausschusses dienen dem Bundesministerium für Gesundheit als Grundlage für die Verordnung zum Risikostrukturausgleich. 13. Juni 2002 Der Koordinierungsausschuss einigt sich auf Anforderungen an die Ausgestaltung des DMP für Brustkrebs. 1. Juli 2002 Rechtsverordnung für DMP ● ● Diabetes Typ 2 Brustkrebs 2. Jahreshälfte 2002 DMP-Verträge zwischen Ärzten und Krankenkassen Akkreditierung der Verträge durch das Bundesversicherungsamt DMP-Start Versicherte schreiben sich in AOK-Curaplan ein. 4 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang Die rot-grüne Bundesregierung schuf mit verschiedenen Regelungen im Sozialgesetzbuch V, die am 1. Januar 2002 in Kraft traten, die Grundlage für die deutschen Disease-Management-Programme. Der Gesetzgeber koppelt sie an den Risikostrukturausgleich (RSA): Krankenkassen, deren Versicherte erfolgreich an DMP teilnehmen, erhalten zukünftig höhere Ausgleichszahlungen aus dem gemeinsamen Finanztopf der gesetzlichen Krankenversicherung. Damit wurde auf die sozialpolitische Forderung reagiert, die hohen Behandlungskosten für chronisch Kranke gerechter zu verteilen. Erstmals wird im RSA auf diese Weise indirekt berücksichtigt, wie häufig, lange und schwer ein Versicherter krank ist. Der Koordinierungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der dem Bundesgesundheitsministerium die medizinischen und datenrechtlichen Anforderungen für DMP vorschlägt, hat am 28. Januar 2002 folgende chronische Krankheiten für strukturierte Behandlungsprogramme empfohlen: Diabetes mellitus (Typ 1 und Typ 2), Chronische Atemwegserkrankungen (zum Beispiel Asthma und COPD), Brustkrebs und Koronare Herzkrankheit. Arzt bekommt Entscheidungshilfen an die Hand Von großer Bedeutung im Disease-Management sind die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen für die Therapie (Evidenz: Deutlichkeit, einleuchtende Erkenntnis, überwiegende Gewissheit). Evidenzbasierte Medizin führt das Wissen aus systematischer Forschung und der klinischen Erfahrung des Arztes zusammen. Laut David Sackett, ihrem bekanntesten Vertreter, ist evidenzbasierte Medizin „der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.“ Die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen im Disease-Management informieren Arzt und Patient über den neuesten Stand des medizinischen Wissens zum Beispiel bei der Behandlung von Diabetes oder Brustkrebs. Diese Entscheidungsgrundlagen sind keine „Rezeptbücher“ für eine „Kochbuchmedizin“, sondern helfen bei der Orientierung. Denn welche Studien aussagekräftig, welche Therapien ausreichend erprobt und welche Medikamente wirksam sind – das ist für den einzelnen Arzt häufig kaum überschaubar. Evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen gehen von der Überlegung aus, das aktuelle medizinische Wissen in konkrete Vorschläge für Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge umzusetzen, um eine gemeinsame Entscheidung des Arztes und des informierten Patienten für einen Behandlungsplan vorzubereiten. Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang Kein gläserner Patient durch Disease-Management In den Verhandlungen zwischen Ärzteschaft und Krankenkassen wurde um die Details der Dokumentation zäh gerungen. Die Ärzte müssen auf allgemein verbindlichen Formularen die Behandlung innerhalb der DMP dokumentieren. Die Verhandlungspartner einigten sich im Mai 2002 auf eine zweiteilige Dokumentation für Diabetes mellitus. In einer Teildokumentation erhalten die Krankenkassen nur die Daten, die sie für die Wahrung ihrer gesetzlich geregelten Aufgaben bei der Durchführung von DMP benötigen: allgemeine Daten, wie Stammdaten, Diagnose, einige allgemeine Statusdaten sowie in begrenztem Umfang medizinische Angaben, die für die Betreuung der Versicherten wichtig sind (unter anderem die Wahrnehmung der Arzttermine). Nur die Volldokumentation enthält die detaillierten Befunde (zum Beispiel Langzeitblutzuckerwert HbA1c, Body-Mass-Index, Blutdruck). Die Daten der Volldokumentation gehen an eine gemeinschaftliche Einrichtung, z. B. der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen. Von dieser Stelle werden die Daten pseudonymisiert und durch die Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen gemeinsam zur medizinischen Qualitätssicherung genutzt sowie an Forschungsinstitute weitergeleitet, die DMP wissenschaftlich sta n d p u n k t Jörg Wohlhüter, Vorsitzender des Sozialverbandes VdK in Bayern Zarte Versuche nicht niedermachen ■ Sicherlich liefern die Disease-Management-Programme nicht das ultimative gesundheitspolitische Allheilmittel. Sie könnten jedoch – ähnlich wie die Fallpauschalen in den Kliniken – einen ersten bescheidenen Anstoß geben für mehr Wirtschaftlichkeit auf dem Gesundheitsmarkt. Die Art und Weise, wie man diese zaghaften Versuche niedermacht, ist erschreckend: Man beruft sich auf die letzten abendländischen Werte und denkt nur an das eigene Geld. Sollte sich diese Methode auch nach der Bundestagswahl fortsetzen, dann machen sich die Repräsentanten einer mittelalterlichen Sozialpolitik mitschuldig am Niedergang unseres Wirtschaftssystems und damit auch einer solidarischen Gesundheitsversorgung. Im Interesse des Projektes Disease-Management sollte jedoch der überzogene, schulmeisterliche Ansatz und die sensible Datenschutzlage überdacht werden. Ein gängigerer Begriff als Disease-Management wäre hilfreich und kundenfreundlich. 5 „Curaplan“ für Brustkrebs auswerten – vom gläsernen Patienten kann also keine Rede sein. Dieser Kompromiss der Vertragspartner ist die Grundlage für die Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums, mit der die Anforderungen an Disease-Management-Programme im Detail geregelt werden. Schritt 1: Diagnose Curaplan Brustkrebs startet, wenn histologisch gesichert ist, dass ein bösartiger Tumor in der Brustdrüse besteht. Die Diagnose erfolgt durch: ● ärztliche Untersuchung, ● Mammographie in zwei Ebenen, ● Gewebeentnahme „Curaplan“ der AOK zunächst für Diabetiker und Brustkrebs-Patientinnen Das DMP der Gesundheitskasse heißt Curaplan. Im AOK-Konzept ist der behandelnde Arzt der zentrale Disease-Manager. Das Vertrauen, das in regelmäßigen Gesprächen zwischen Arzt und Patient entsteht, ist eine wichtige Grundlage für eine langfristige und wirksame Betreuung des Patienten. Häufig haben die Patienten mehrere Erkrankungen gleichzeitig: Der behandelnde Arzt hat den Überblick darüber und kann die Rolle eines Koordinators zwischen den verschiedenen medizinischen Disziplinen und Sektoren übernehmen. Medizinisches Ziel von Curaplan für Diabetiker ist unter anderem, die Spätfolgen der Zuckerkrankheit wie Erblindung und Nierenfunktionsstörungen abzuwenden. Ist Diabetes Typ 2 diagnostiziert, kann der Patient sich in Curaplan einschreiben. Zu den Voraussetzungen der Teilnahme gehört außerdem die grundsätzliche Bereitschaft des Patienten zur aktiven Mitwirkung. Der Arzt klärt den Patienten über Nutzen und Risiken der möglichen Maßnahmen auf, schlägt ihm eine Therapie vor und vereinbart mit ihm zusammen Therapieziele. In Schulungen lernt der Diabetiker, sein Leben und seine Krankheit aufeinander abzustimmen. Dabei geht es zum Beispiel um eine krankheitsspezifische Ernährung, die Blutdruck- und Blutzucker-Selbstkontrolle, die Interpretation der Werte und die richtigen Schlussfolgerungen aus den Messungen. Benötigt der Patient Medikamente, sollte der Arzt vorrangig solche wählen, deren Nutzen und Sicherheit in prospektiven, randomisierten Langzeitstudien nachgewiesen worden ist. Je nach dem Gesundheitsrisiko des Patienten erfolgen alle drei bis sechs Monate weitere Arztkontakte. Der Arzt überprüft medizinische Messwerte und untersucht den Patienten auf Anzeichen für Folgeschäden. Auch für das Disease-Management bei Brustkrebs hat das Bundesgesundheitsministeriums bereits eine Rechtsverordnung erlassen. Die Brustkrebs-Therapie setzt eine interdisziplinäre Kooperation und Kommunikation voraus. Während der gesamten Behandlung ist eine psychosoziale Betreuung zu sichern, die an die individuelle Situation der Patientin angepasst ist. Das erfordert kommunikative Kompetenzen und eine erhöhte diagnostische Aufmerksamkeit gegenüber psychischen Konflikten und Belastungen bei Patientinnen und deren Angehörigen. Im Rahmen von Curaplan (siehe Kasten links) wird mit den Brustkrebs-Patientinnen vor Beginn der Therapie ausführlich über ihre Erkrankung und die Behandlungsalternativen gesprochen. In einem patientenzentrierten Gespräch spielt die emotionale Befindlichkeit der Erkrankten eine wichtige Rolle. Jeder Behandlungsschritt sollte zusammen mit der aufgeklärten Patientin diskutiert und entschieden werden. Alle Patientinnen sollen insbesondere über die brusterhaltende Therapie, die Brustamputation und die Möglichkeiten der Wiederherstellung der Brust aufgeklärt werden. Ihnen ist eine angemessene Zeit für die Entscheidungsfindung einzuräumen. Die AOK setzt sich dafür ein, dass möglichst viele Patienten die Vorteile von Curaplan nutzen können. Disease-Management stärkt insgesamt den sozialen Aspekt in der gesetzlichen Krankenversicherung. Investitionen in die Versorgung chronisch Kranker lohnen sich künftig wieder – ein Sieg für das Solidarprinzip. ◆ Schritt 2: Operation Bei Tumoren bis vier Zentimeter Größe ist eine brusterhaltende Operation genauso erfolgreich wie bei einer Entfernung des gesamten Brustgewebes. Ziel der brusterhaltenden Operation ist die vollständige Entfernung des Karzinoms bei gleichzeitiger Berücksichtigung des kosmetischen Ergebnisses. Schritt 3: Lymphknoten-Kontrolle Bei Tumoren, die in umliegendes Gewebe wuchern, sollten mindestens zehn Lymphknoten entfernt und untersucht werden. Schritt 4: Ergänzende Therapie Die Ärzte besprechen mit der Patientin zunächst, wie groß das Risiko ist, dass der Krebs erneut in der Brust oder an anderen Stellen im Körper entsteht. Die anschließende Behandlung zielt darauf ab, möglicherweise vorhandene winzige Tochtergeschwülste zu zerstören und damit das Risiko des Rückfalls zu senken. Zu den Behandlungsvorschlägen gehört grundsätzlich die Strahlentherapie. Bei allen Frauen sollte die Option einer Hormon- und Chemotherapie geprüft werden; Arzt und Patientin treffen dann unter Abwägung von Nutzen und Risiko zusammen die Entscheidung. Schritt 5: Leben nach dem Krebs Die Nachsorge ist nicht nur als Verlaufskontrolle oder Nachbeobachtung zu verstehen, sondern soll einen Beitrag zur physischen, psychischen und psychosozialen Rehabilitation der Patientinnen leisten. Sie soll sich an den Symptomen orientieren und ist den individuellen Bedürfnissen der Frauen anzupassen. Alle sechs Monate sollten als Mindestbestandteile einer Nachsorge Anamnese, körperliche Untersuchung und Aufklärung und Information erfolgen. Dr. Gabriele Müller de Cornejo und Jens-Martin Hoyer leiten das DMP-Projektmanagement des AOK-Bundesverbandes. Mehr Infos Kontakt zur DMP-Projektleitung des AOK-Bundesverbandes per E-Mail: [email protected]; Hintergrund-Informationen zum DMP im Internet unter: www.aok-presse.de 6 Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang e v i d e n z ba s i e rte E ntsch e i d u n gs g r u n d l ag e n Informieren statt bevormunden Peter Thaddäus Sawicki, Chefarzt im St. Franziskus-Hospital in Köln und Vorstandsmitglied des Netzwerkes Evidenz-basierte Medizin Deutschland Wichtiges Element der Disease-Management-Programme sind die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen für die Behandlung. Peter Thaddäus Sawicki erläutert, wie diese Entscheidungshilfen aufgebaut sind und wie sie die Therapie unterstützen. ■ G+G: Wie unterscheiden sich die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen – wie sie für Curaplan jetzt vorliegen – von in anderen Ländern üblichen evidenzbasierten Leitlinien? ■ Peter Thaddäus Sawicki: Der wesentliche Unterschied zu den bislang üblichen Leitlinien liegt darin, dass die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen keine direkten Handlungsanweisungen enthalten, sondern konkrete, praxisrelevante Inhalte vermitteln. Die Entscheidung, ob eine bestimmte Maßnahme angezeigt ist oder nicht, muss dem Patienten und seinem Arzt obliegen und nicht einem wissenschaftlichen Papier. Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen: Die üblichen Leitlinien fordern auf, zum Beispiel: „Nach einem Herzinfarkt sollen Betablocker gegeben werden“. Die Entscheidungsgrundlagen informieren dagegen: „Nach einem Herzinfarkt ist das Risiko innerhalb von zwei Jahren zu versterben bei Patienten im Alter unter 70 Jahren mit Betablocker-Therapie elf Prozent und ohne Betablocker-Therapie 19 Prozent.“ ■ Wie wird die Brücke geschlagen zwischen der Theorie der evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen und der ärztlichen Praxis? ■ Die meisten üblichen Leitlinien evaluieren zunächst die wissenschaftliche Literatur und stellen sie dann bewertet dar. Die Entscheidungsgrundlagen gehen von täglichen praktischen Problemen in der Behandlung und Diagnose der Patienten aus und beschreiben die relevanten wissenschaftlichen Inhalte. Nach dem Ansatz der evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen gibt es keine absolut richtige oder falsche Entscheidung in der praktischen Medizin, sie muss immer neu für den jeweiligen Fall gefunden werden. Das bedeutet dann konkret, dass im Gegensatz zu den üblichen Leitlinien die Entscheidungsgrundlagen weder den Patienten noch seinen Arzt durch eine allgemeine Vorwegnahme der Entscheidung bevormunden, sie informieren lediglich. Der Patient und der Arzt und nicht die Leitlinie entscheiden dann zusammen individuell nach einer konkreten Information über die Diagnostik und Therapie. Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang ■ Die Entscheidung für oder gegen eine Behandlung kann also im Einzelfall sehr unterschiedlich ausfallen? ■ Ja, durchaus. Es ist zum Beispiel vorstellbar, dass ein Patient sagt: „Die Nebenwirkungen des Betablockers sind für mich sehr einschränkend. Wenn ich weiß, dass 13 von 14 Patienten von der Therapie nicht profitieren, verzichte ich lieber auf Betablocker.“ Ein anderer Patient wird angesichts des Überlebensvorteils durch diese Präparate die Nebenwirkungen für erträglich halten. Die Entscheidungsgrundlagen fördern also den mündigen Patienten. – Ein praktisch ganz wesentlicher Unterschied zu den üblichen Leitlinien ist die Genauigkeit der Aussagen der Entscheidungsgrundlagen. „Die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen sind konkret und praxisrelevant“ Die üblichen Leitlinien sind häufig pauschal, zum Beispiel: „Patienten mit Bluthochdruck sollen abnehmen, sich körperlich betätigen und kochsalzarm ernähren.“ Die Entscheidungsgrundlagen sind dagegen konkret: „Pro Kilogramm Gewichtsreduktion sinkt der Blutdruck im Mittel systolisch/diastolisch um 2,5/1,5 mm Hg. Dynamische körperliche Betätigung wie Radfahren und Schwimmen mindestens dreimal pro Woche jeweils 45 Minuten senkt den Blutdruck um rund vier bis acht Millimeter Quecksilbersäule systolisch.“ ■ Welchen Vorteil bieten evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen gegenüber üblicher ärztlicher Fortbildung? ■ Leider wird derzeit der überwiegende Teil der ärztlichen Fortbildung in Deutschland durch Referenten der pharmazeutischen Industrie durchgeführt. Dies ist für die Patienten gefährlich und für die Gesellschaft teuer. Die evidenzbasierten Entscheidungsgrundlagen bieten eine unabhängige, objektive, konkrete, praxisbezogene Information, die regelmäßig aktualisiert wird. Darüber hinaus ist über das allgemeine Review-Verfahren die Beteiligung aller Ärzte an der Modifikation der Inhalte vorgesehen. ◆ 7 Hausarzt-Praxis Die stillen Reserven mobilisieren Hand auf Herz und Fuß, das Auge im Blick: Die empfindlichen Stellen der Diabetiker fordern besondere Aufmerksamkeit. G+G hat einen Hausarzt im Schwarzwald besucht, der zuckerkranke Patienten jetzt im Rahmen des Disease-Managements betreut. D ass sie Diabetikerin ist, weiß Irma Jäger erst, seit sie vor zwölf Jahren mal ins Krankenhaus musste. Bei der Blutuntersuchung wurde ein Zuckerwert von 290 Milligramm pro Zehntelliter gemessen – als normal gelten bis zu 110 Milligramm. Ein Befund, der das Leben der damals 58-Jährigen veränderte. Denn mit der Einnahme von Medikamenten und dem regelmäßigen Arztbesuch ist es nicht getan. Mittags gibt es bei Jägers häufiger als früher Gemüse und Salat. „Ich achte jetzt auch auf Ballaststoffe,“ sagt Irma Jäger und lacht: „Das muss mein Mann dann halt auch essen.“ Als sie noch Kassiererin bei Edeka war, probierte sie jede Süßigkeit, die neu auf den Markt kam. Die verkneift sie sich nun, weil sie als Diabetikerin auch auf ihr Gewicht achten muss. „Ah, das Hühnerauge ist weg.“ Zufrieden betrachtet Dr. Johannes Probst Irma Jägers rechten Fuß. Die regelmäßige Untersuchung der Füße gehört wie das Messen von Blutdruck und Blutzuckerwert zum Programm, für das Frau Jäger alle drei bis vier Wochen die Praxis im Schwarzwald-Städtchen Sankt Georgen aufsucht. Dr. Probst hält eine schwingende Stimmgabel an die Fußsohle, um die Vibrationsempfindlichkeit zu testen: alles in Ordnung. Keine Druckstellen, keine Verletzungen, kein Haut- oder Nagelpilz – ein vorbildlich gepflegter Fuß. Die aufmerksame Fußpflege ist für Diabetiker sehr wichtig, damit sich keine schlecht heilenden Wunden entwickeln. 3.600 AOK-versicherte Diabetiker gibt es im Schwarzwald-Baar-Kreis, und sie alle haben Anfang Mai Post von ihrer Gesundheitskasse bekommen: Informationen über das Disease-Management-Pilotprojekt zum Diabetes. Auch auf der Südwest-Messe in Schwenningen stellte die AOK ihr Projekt vor. Wer den Weg zur Messe scheute, konnte sich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den KundenCentern der AOK zwischen Triberg und Donaueschingen informieren. Der Regelweg der Information geht allerdings über den behandelnden Arzt. Die Ärztinnen und Ärzte aren die ersten, die darüber informiert wurden, dass die AOK Baden-Württemberg und die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Südbaden gemeinsam die Versorgung chronisch Kranker verbessern wollen und das am Beispiel des Diabetes testen. Karl Heinrich Behringer, Diplom-Psychologe, Leiter des Gesundheitszentrums der AOK in Villingen-Schwenningen und verantwortlich für das Pilotprojekt, ist stolz auf Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang Fotos: Dieter Reinhardt „Nur wenn viele Kollegen teilnehmen, können wir Ärzte Einfluss auf die Entwicklung des Disease-Managements nehmen“ Dr. Johannes Probst, Hausarzt die Resonanz: „159 Hausärzte, hausärztlich tätige Internisten und Kinderärzte kommen im Schwarzwald-BaarKreis für eine Teilnahme in Frage. 138 Ärzte haben an den Informationsveranstaltungen von AOK und KV teilgenommen.“ 115 Ärzte und mehrere hundert Patienten haben sich bis Ende Juni eingeschrieben. Täglich kommen ungefähr zehn neue Patienten hinzu. Die KV Südbaden hat sich sehr für eine Teilnahme möglichst vieler Kollegen eingesetzt. „Nur so können wir Einfluss auf die Entwicklung nehmen“, sagt Dr. Probst. Der Hausarzt von Irma äger ist Kreisstellenleiter der KV im Schwarzwald-BaarKreis und Mitglied im Vorstand der KV Südbaden.Was ändert sich denn eigentlich, wenn Arzt und Patient bei dem Programm mitmachen? „Ja, das haben wir uns auch gefragt“, sagt Dr. Probst. Im Großen und Ganzen sei die Versorgung chronisch Kranker nicht schlecht. Natürlich gebe es auch hier „stille Reserven“, die mobilisiert werden könnten, doch wer jetzt schon medizinisch gut versorgt werde, für den ändere sich nichts. Eine der Fragen, die aus Sicht der Kassenärzte bis zur Zwischenbilanz im Herbst geklärt werden müssen: Ist der Betrag, mit dem jedes Ausfüllen eines Dokumentationsbogens extra honoriert wird – 25 Euro gibt es für die Erstdokumentation, 15 Euro für jede weitere –, wirklich angemessen? DMP gelte ohnehin bei vielen Ärzten nicht nur als Abkürzung für „Disease-Management-Programm“, sondern stehe auch für „drastisches MehrarbeitsProgramm“, erzählt Dr. Probst. Die andere Sorge ist: Was passiert mit den Bogen? Der „gläserne Patient“ wird verhindert, weil der Arzt den Namen des Patienten vor der Weitergabe zur wissenschaftlichen Auswertung an AOK und KV durch eine fest zugeordnete Nummer ersetzt, also pseudonymisiert. Der Name des Arztes aber bleibt lesbar, und die Vorstellung vom „gläsernen Doktor“ empfinden manche Ärzte als bedrohlich. Alle drei bis sechs Monate werden die Bogen vom Arzt ausgefüllt und von ihm und dem Patienten unterschrieben. Das ist dann doch etwas Neues: Arzt und Patient legen zum Beispiel Behandlungsziele fest, den angestrebten Blutzuckerwert, den angepeilten Blutdruck, wenn nötig auch mehr Bewegung und ein reduziertes Gewicht. Das DIN-A4-Formular fragt nach Symptomen, Begleiterkrankungen, Laborwerten, nach Medikamenten und nach Überweisungen an Fachärzte. Dort wird Dr. Probst vermerken, dass Frau Jäger wie bisher einmal jährlich den Augenarzt aufsucht, weil zu den Spätfolgen eines Diabetes nicht nur die Amputation eines Fußes und Nierenversagen, sondern auch die Erblindung gehören kann. Er wird den Befund der Fußuntersuchung eintragen und ankreuzen, dass er Frau Jäger außer Metformin noch ein weiteres Präparat verschreibt. Metformin erhöht die Empfindlichkeit der Körperzellen für Insulin und erleichtert damit die Umwandlung von Blutzucker in Energie. Für Patienten mit Übergewicht gilt Metformin als Mittel der Wahl und spielt deshalb in den Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang Entscheidungsgrundlagen, die den Ärzten im Rahmen des Programms zur Verfügung gestellt werden, eine zentrale Rolle. Irma Jäger nimmt zusätzlich ein Acarbose-Präparat, das sie gut verträgt. Bislang ist für Acarbose zwar nicht nachgewiesen, dass es das Risiko verringert, Folgeerkrankungen zu erleiden oder das Sterberisiko senkt. Dr. Probst hat sich als ergänzende Therapie trotzdem dafür entschieden, weil das Medikament die Aufnahme des Zuckers über den Darm ins Blut verlangsamt. Zumindest scheint also die Befürchtung vieler Ärzte unbegründet zu sein, Disease Management bedeute „Kochbuchmedizin“, vorsichtiger ausgedrückt: eine Einengung der ärztlichen Therapiefreiheit. Die Entscheidungsgrundlagen argumentieren auf Basis zuverlässiger Studien und wollen das Expertenwissen des Arztes durch wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem neuesten Stand ergänzen: „evidence based medicine“. Beim Diabetes Typ 2, dem so genannten Altersdiabetes, hat sich zum Beispiel gezeigt, dass die intensive Senkung der Blutzuckerwerte zwar jüngere Patienten vor den Spätfolgen des Diabetes schützen kann. Für die Lebenserwartung der älteren Diabetiker und die Vorbeugung von Herzinfarkt und Schlaganfall ist es aber viel wichtiger, den Bluthochdruck in den Griff zu bekommen. Dr. Probst weiß das. Das Programm trägt dazu bei, dieses Wissen unter Ärzten und Patienten weiterzutragen. Weil es wichtig ist, dass die Patienten den Umgang mit ihrem Diabetes lernen, gehören Schulungen zum festen Programm. Die AOK des Schwarzwald-Baar-Kreises bietet seit 1995 einwöchige Schulungen gemeinsam mit dem Klinikum Schwenningen an. Karl Heinrich Behringer berichtet von manchem Aha-Erlebnis: „Ich habe schon Patienten sagen hören: ‚Jetzt habe ich 20 Jahre lang den Diabetes, und hier habe ich Dinge erfahren, die mir noch nie jemand gesagt hat.’“ Auch Dr. Probst erwartet, dass die Bedeutung der Patientenschulung betont wird. Von zentralen Schulungen wie in Schwenningen hält er dagegen wenig. Er hat einen gemeinnützigen Verein gegründet, der sich der Prävention am Ort widmet. Elf Ärzte lassen ihre Patienten gemeinsam schulen, in kleinen Gruppen an vier Nachmittagen, jeweils im Wochenabstand. So können die Patienten das Gelernte in ihren Alltag einfügen und Probleme beim nächsten Treffen besprechen. Irma Jäger hat sich längst auf den Alltag mit ihrem Diabetes eingerichtet. Natürlich haben ihre Schwester und sie am Anfang gesagt: „Warum trifft es gerade uns?“ Zwar litt ihre Großmutter an der Zuckerkrankheit, ihre Tante auch, aber von den sechs Geschwistern hat es nur die beiden Schwestern erwischt. Dass sie sich trotzdem nicht hängen lässt, dafür sorgt die Familie: „Ich habe fünf Kinder und acht Enkel. Die halten mich in Schwung.“◆ Mehr Infos Die Pressestelle der AOK in Baden-Württemberg gibt Auskunft zum DMP-Pilotprojekt unter Tel. (07 11) 259 32 31/-234 9 Pilotprojekt in Baden-Württemberg „DMP“ lernt laufen Bevor es bundesweit richtig ernst wird, testet die Gesundheitskasse das Disease-Management auf Landesebene. In Baden-Württemberg sind bereits rund zweihundert Ärzte und viele Patienten in das Programm für Diabetiker eingestiegen. Von Jürgen Graf D ie AOK Baden-Württemberg hat die Aufgabe übernommen, Disease-Management-Programme (DMP) für Diabetes Typ 1 und Typ 2 in Pilotprojekten zu erproben. Die Gesundheitskasse erforscht auf diese Weise, wie die Programme bei Ärzten und Patienten ankommen und wie die Verwaltungsprozesse möglichst ökonomisch gestaltet werden. Ein Pilotprojekt zum Disease-Management-Programm Diabetes ist damit konfrontiert, dass der gesetzlichen Krankenversicherung einerseits aus zahlreichen DiabetesModellversuchen bereits Erfahrungen vorliegen. Auf der anderen Seite zeigen die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf der Basis der Anwendung evidenzbasierter Medizin Änderungsbedarf bei der Ausgestaltung und der Schwerpunktsetzung neuer Verträge zur Umsetzung einer optimierten Diabetikerversorgung auf. Das erzwingt ein Umdenken bei allen Beteiligten. Große internationale Langzeitstudien zur Versorgung von Diabetikern belegen, dass der Blutdruckbehandlung deutlich mehr Aufmerksamkeit als bisher eingeräumt wer- Diabetes in Zahlen Zahl der Diabetiker in der AOK (Typ 1 und Typ 2) AOK-Gesamt Anteil der Diabetiker unter den AOK-Versicherten Durchschnittliche Leistungsausgaben pro Diabetiker (AOK) (in Prozent) (in Euro, im Jahr 2000) 1.504.164 West AOK-Gesamt 3.626 Ost 3.730 den muss: Mit der Blutdrucksenkung verringert sich nachweislich die Rate von Herzinfarkten und Schlaganfällen bei Diabetikern. Daneben liegen aus diesen Studien Erkenntnisse zur Wirksamkeit unterschiedlicher Wirkstoffgruppen vor, die gegenüber der bisherigen Medikamentenauswahl teilweise ebenfalls eine Umorientierung nahe legen. Dezentral Einigung erzielt Die AOK Baden-Württemberg hat von Beginn an auf die gute Zusammenarbeit mit den Kassenärztlichen Vereinigungen gebaut und konnte zwei Kassenärztliche Vereinigungen für die Pilotprojekte gewinnen. Beteiligt sind die Kassenärztliche Vereinigung Südbaden im SchwarzwaldBaar-Kreis und im Pforzheim/Enzkreis die Kassenärztliche Vereinigung Nordbaden. Bei den Gesprächen über die Ausgestaltung der Pilot-Programme war es sehr hilfreich, dass die Vertragspartner von Beginn an die Chancen eines solchen Projekts für die Versorgung von Diabetikern in den Mittelpunkt gestellt haben. Vor diesem Hintergrund konnten auch für die auf Bundesebene strittigen Themen zum Datentransfer und zu den medizinischen Inhalten pragmatisch Kompromisse gefunden werden. Auch bei der Frage der Vergütung wurde ein allseits akzeptables Ergebnis erzielt. Mit Start des Pilotprojektes waren Ärzte, Patienten und Mitarbeiter über das DMP Diabetes spezifisch zu informieren. Dabei haben sich die Vorteile der dezentralen Organisation der AOK Baden-Württemberg gezeigt. Sowohl auf Seiten der Kreisärzteschaft als auch in den Bezirksdirektionen der AOK konnten mit großem Einsatz vielfältige Vorbereitungen für den Projektstart in enger Abstimmung untereinander und mit den Projektbeteiligten auf Landesebene getroffen werden. 3.398 West Ost 1.047.900 Arzthandbuch fasst Informationen zusammen 8,6% AOK-Gesamt 5,5% West 4,8% Ost 465.264 Die Zahl der chronisch kranken Diabetiker in der AOK wurde mit Hilfe von Krankenhausdiagnosen und Arzneimittel-Verordnungen ermittelt – und ist deshalb als Annäherung an die wahre Zahl zu betrachten. Bei den Leistungsausgaben handelt es sich um Ausgaben für Krankenhausbehandlung, Arzneimittel und Krankengeld; auch die nicht diabetesspezifischen Ausgaben wurden einbezogen. Quelle: AOK-Bundesverband, Stand 2000 10 Die Teilnahme an vierstündigen Informationsveranstaltungen ist für Ärzte eine Voraussetzung für die Aufnahme in das Pilotprojekt. Im Rahmen dieser Veranstaltungen, an denen zum Teil über 100 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen haben, wurden die gesetzlichen und versorgungspolitischen Hintergründe des Disease-Managements, die Grundlagen der Methodik der evidenzbasierten Medizin und die medizinische Entscheidungshilfe für Diabetes erläutert. Daneben wurden die praktischen Abläufe zur Teilnahme von Patienten und Ärzten sowie zur Dokumentation und Ab- Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang sta n d p u n k t Prof. Karl Lauterbach, Institut für Gesundheitsökonomie der Universität Köln, Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Philosophie für Qualität rechnung vorgestellt. Ein übersichtliches Arzthandbuch fasst all dies zusammen. Arzt-Patienten-Verhältnis wird aktiviert Die Vorbereitung und Information der Mitarbeiter der AOK in den Pilotregionen erfolgte in interaktiven Arbeitstreffen mit engagierter Unterstützung durch AOKConsult, dem internen Beratungsunternehmen der Gesundheitskasse. In der Kommunikation mit den Mitarbeitern spielen außerdem das Intranet der Gesundheitskasse, Rundmails und die Mitarbeiterzeitschrift WIR eine wichtige Rolle. Nachdem Ärzte und Mitarbeiter eingestimmt waren, wurden alle Versicherten der AOK in den Pilotregionen angeschrieben, denen diabetesspezifische Medikamente verordnet wurden. Dem Anschreiben war ein achtseitiges Faltblatt beigelegt, das den Patienten das neue Programm ausführlich erläutert. Das bisherige Ergebnis hat alle Beteiligten positiv überrascht: Trotz der zum Teil kritischen Äußerungen zu DMP in der Öffentlichkeit haben nach rund einem Monat über 260 von 380 eingeladenen Ärzten an den Informationsveranstaltungen teilgenommen. Annähernd 200 haben sich bereits für eine Teilnahme am Programm entschieden. Auch die ersten Versicherten haben sich eingeschrieben und täglich kommen neue hinzu. Insgesamt versichert die AOK in den Pilotregionen rund 8.000 Diabetiker. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass es richtig war, die Umsetzung von Disease-Management-Programmen gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen anzugehen und dass dieses Vorgehen bei Ärzten und Patienten auf hohe Akzeptanz stößt. Im Mittelpunkt steht dabei zum einen das Versprechen, die Behandlung auf der Grundlage gesicherten medizinischen Wissens durchzuführen. Zum anderen wird die Arzt-PatientBeziehung durch umfangreiche Informationen aktiviert. Damit verbunden ist ein Dokumentationskonzept, das eine gemeinsame Therapieplanung von Patient und Arzt befördert. ◆ Jürgen Graf leitet das DMP-Pilotprojekt Diabetes in BadenWürttemberg. Mehr Infos Die Projektleitung des DMP-Piloten der AOK in Baden-Württemberg ist erreichbar unter E-Mail: [email protected] Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang ■ In der gesetzlichen Krankenversicherung wäre durch die Einführung von DiseaseManagement-Programmen mit einem Qualitätsschub zu rechnen. Dazu müssten sich jedoch Ärzte und Krankenkassen zum ersten Mal gemeinsam auf Programme verständigen, die eine evidenzbasierte Therapie chronisch Kranker zum Ziel haben. Damit würden die von verschiedenen Seiten unternommenen Anstrengungen zur Schaffung eines einheitlichen evidenzbasierten Therapiestandards in Deutschland gebündelt und durch den Gesetzgeber aktiv unterstützt. Die Thesen, dass Umverteilungen über den Risikostrukturvergleich für die Krankenkassen im Vordergrund stünden oder sich die Versorgung von Patienten, die nicht in Disease-Management-Programme eingeschrieben sind, verschlechtern würde, sind falsch und teilweise polemisch gemeint. Von der Philosophie des Disease-Managements, durch einen evidenzbasierten einheitlichen Versorgungsstandard Transparenz, Qualität und Wirtschaftlichkeit in die Versorgung zu bringen, und den aktiven Patienten zu stärken, könnte vielmehr das gesamte deutsche Gesundheitssystem profitieren. Die Denkweise der evidenzbasierten Medizin, nämlich sich zu fragen, welche Verfahren einen gesicherten Nutzen haben, würde auf allen Versorgungsebenen gefördert. Echte Innovationen mit guter Kosten-Nutzen-Relation würden dann schneller in die Regelversorgung übergehen. Pseudoinnovationen könnten dagegen als solche entlarvt und problematisiert werden. sta n d p u n k t Birgit Fischer (SPD), Ministerin für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen Reformen brauchen finanzielle Anreize ■ Verschiedene Gutachten bescheinigen dem deutschen Gesundheitswesen bei höchsten Kosten allenfalls durchschnittlichen Erfolg und insbesondere deutliche Defizite bei der Versorgung chronisch kranker Patientinnen und Patienten. Diese Aussagen treffen mit den Ergebnissen verschiedener Gutachten zum Risikostrukturausgleich (RSA) zusammen, die deutlich machen, dass der RSA bisher die Tendenzen zur Risikoselektion im Kassenwettbewerb nicht ausreichend eindämmen konnte. Insbesondere die chronisch Kranken sind Verlierer des Wettbewerbs. Es lag daher nahe, die notwendige Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker für eine Übergangszeit bis zur Einführung genauerer Morbiditätsindikatoren mit dem RSA zu verknüpfen. Die damit verbundenen finanziellen Anreize sollen das Eigeninteresse der Krankenkassen praktisch umkehren. Auch wenn die Verknüpfung ordnungspolitisch eher als Sündenfall zu bezeichnen ist, stehe ich diesem Reformelement im Grundsatz positiv gegenüber. Es hat sich ja leider in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass gute Reformansätze ohne finanzielle Anreize ins Leere laufen. Allerdings sehe ich bei der konkreten Umsetzung der Disease-ManagementProgramme noch Gefahren. Im Mittelpunkt aller Maßnahmen muss das Ziel der Verbesserung der Versorgungssituation, müssen die Patientin und der Patient stehen und nicht finanzielle Interessen der Krankenkassen oder der Ärzteschaft – Disease-Management-Programme sind keine Geldmaschine. Die Akzeptanz und damit die Zukunft strukturierter Behandlungsprogramme im deutschen Gesundheitswesen hängen wesentlich von der erfolgreichen Implementierung und Durchführung der jetzt geplanten Programme ab. Scheitern diese, dürfte das Instrument der strukturierten Behandlungsprogramme auf absehbare Zeit in Deutschland „verbrannt“ sein. Alle Beteiligten sollten sich also bewusst machen, dass es nicht darum geht, partikuläre Eigeninteressen durchzusetzen und Patienteninteressen nur vorzuschieben. DMP-Entstehungsgeschichte Kritik wider besseren Wissens Die Disease-Management-Programme für Typ 2 Diabetiker stärken die Qualität der Versorgung. Dennoch sprechen einige Kritiker von „Billigmedizin“. Norbert Schmacke entlarvt ihre Gründe und erhellt den Hintergrund der aktuellen Diskussion um die richtige Diagnostik und Therapie. D ie Geschichte des bundesrepublikanischen Gesundheitswesens ist von Fachleuten immer wieder als eine Abfolge von Reformblockaden beschrieben worden. Dies gilt ganz besonders für den Mangel an strukturierten Versorgungskonzepten für chronisch Kranke. Es ist das große Verdienst des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, mit seinem Gutachten zur Über-, Unter- und Fehlversorgung noch einmal in einem großen Anlauf die Öffentlichkeit wachgerüttelt zu haben: Insbesondere bei Erkrankungen wie dem Diabetes mellitus Typ 2 und dem Brustkrebs muss gesichertes Wissen wirkungsvoller als bisher in die Praxis umgesetzt werden. Diese Analyse hat starken Einfluss darauf genommen, dass der Koordinierungsausschuss genau diese beiden Diagnosen in die erste Reihe der geplanten Disease-Manage- Lob von berufener Seite: Aus einem Brief von Univ. Prof. Dr. Thomas Pieber, Leiter Diabetes und Stoffwechsel, Med. Univ. Klinik Graz Präsident der Österreichischen Diabetesgesellschaft, Leiter des Institutes Medizinische Systemtechnik und Gesundheitsmanagement des Joanneum Research ment-Programme (DMP) gestellt hat. Und es ist auch kein Zufall, dass die größten Anstrengungen unternommen wurden, in der gemeinsamen Selbstverwaltung der Krankenkassen, Ärzteschaft und Kliniken die Peinlichkeit zu vermeiden, zu diesen beiden Erkrankungen nicht zeitnah Konzepte vorlegen zu können. Wer hat nicht alles geunkt, die Selbstverwaltung sei unfähig, derart komplexe Probleme an- 12 zupacken. Doch sie hat es geschafft, im Kontext der Debatte um Über-, Unter- und Fehlversorgung auf dem Boden der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse wichtige Eckpunkte zu beschreiben, mit denen die Versorgung chronisch Kranker bessere Ergebnisse erzielt und sicherer wird. Die Patientinnen und Patienten werden nicht mehr als Objekte von Experten-Verkündigungen begriffen, sondern als Partner, die über Therapiemöglichkeiten aufgeklärt werden und über Therapieziele mitentscheiden. Dieses Ergebnis markiert den Anfang eines grundlegenden Wandels in der Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten. Offenlegen der vorhandenen Evidenz und Transparenz der Behandlungsempfehlungen, Einbeziehung der Kranken in den Behandlungsprozess, Festschreiben individueller Therapieziele: Dies ist „Sackett pur“, dies ist genau das, was der „Vater“ der heutigen evidenzbasierten Medizin als Antwort auf die Intransparenz und mangelnde Qualität in der Medizin gefordert hat. Wer etwas anderes aus den Texten herausinterpretiert, die der Koordinierungsausschuss dem Bundesministerium für Gesundheit für die Risikostrukturausgleichs-Verordnung empfohlen hat, der verkauft der Öffentlichkeit ein X für ein U. Wie ist der Koordinierungsausschuss zu seinen Empfehlungen für die medizinischen Anforderungen an das DMP Diabetes mellitus Typ 2 gekommen? ● Der Arbeitsausschuss DMP bildete eine Unterarbeitsgruppe (Sektion), in der Vertreter aller Parteien des Koordinierungsausschusses vertreten sind (Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Spitzenverbände der Krankenkassen). Jede der vier Parteien benannte darüber hinaus Sachverständige ihres Vertrauens, wobei sicher gestellt werden sollte, dass sowohl methodisch-biometrischer wie klinischer Sachverstand vertreten ist. Jede Partei war frei in der Benennung einer selbst gewählten Zahl von Sachverständigen. Die Ärzteschaft hatte also drei Gelegenheiten, die besten Wissenschaftler und Kliniker zum Thema Diabetes mellitus zu benennen. Alle Fachgesellschaften und Vereinigungen, die sich aufgerufen fühlten, hatten über diese Konstruktion zudem reichlich Gelegenheit, ihren Sachverstand und ihre Erwartungen zu artikulieren. ● Bezüglich des Diabetes mellitus kann man davon ausgehen, dass auch die Debatte, die um die parallel entstandene so genannte Nationale Versorgungsleitlinie unter Beteiligung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft geführt wurde, durch die Mitarbeit prominenter Vertreter der Ärzteschaft in der Sektion berücksichtigt worden ist. ● Die Spitzenverbände der Krankenkassen waren die einzigen, die zu Beginn des Prozesses ein geschlossenes Konzept Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang „Alle Fachgesellschaften hatten reichlich Gelegenheit, ihren Sachverstand und ihre Erwartungen zu artikulieren.“ Prof. Norbert Schmacke, Internist und Gesundheitswissenschaftler vorlegen konnten. Dies waren die inzwischen legendären „Sawicki-Papiere“, die eben nicht das Produkt eines einsamen Kölner Chefarztes waren, sondern von einer kompetenten Gruppe, in evidenzbasierter Medizin (EbM) erfahrener Ärzte geschrieben und mit zahlreichen Praktikern abgestimmt worden waren und dann von allen Spitzenverbänden als exzellente Ausgangsposition für den Koordinierungs- ausschuss übernommen wurden. Also keine „AOK-Papiere“ von „EbM-Extremisten“. Viele kenntnisreiche Vertreter der Ärzteseite im Koordinierungsausschuss haben ihren Hut vor der Qualität dieses Ansatzes der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung gezogen. Es war unter Insidern von Anbeginn an klar, dass es aus EbM-Sicht nicht um die Qualität dieser „Sawicki-Papiere“ ging, sondern um die Eitelkeit von Schlüsselpersonen in der Ärzteschaft und um die Angst bestimmter Interessengruppen, dass eine konsequente EbM-Ausrichtung des Diabetes-DMPs an lieb gewordenen Besitzständen rütteln könnte. ● Die Arbeit in der Sektion setzte auf einer von Bundesärztekammer, Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Spitzenverbänden der Krankenkassen konsentierten Methodik der Suche und Bewertung von wissenschaftlichen Materialien auf, die internationalen Standards entspricht. Dazu gehört maßgeblich das Gebot, Studien zugrunde zu legen, in denen klinisch bedeutsame Behandlungsergebnisse auf dem Boden von Langzeitstudien gemessen worden sind und die Qualität der Behandlung nicht an der Veränderung von Laborwerten festgemacht wird. Erst nach Fertigstellung des Sektionspapiers zum Diabetes und dem darauf folgenden Beschluss des Koordinierungsausschusses distanzierte sich die Bundesärztekammer von dieser Methodik. Fest steht: Jeder Satz in den Empfehlungen zum DMP Diabetes ist von allen Parteien des Koordinierungsausschusses einvernehmlich für gut befunden worden – mit der Ausnahme, dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft sich bezüglich der Nennung von Wirkstoffen und Wirkstoffgruppen im Text der Stimme enthielt – interessant insofern, als es auf der Welt bisher noch kein DMP gegeben hat, dass den Bereich der Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang medikamentösen Behandlung ausgeklammert hat. ● Die Kritik der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) richtet sich somit gegen die gemeinsame Selbstverwaltung. Es hat mehrere Versuche unter Moderation des Bundesgesundheitsministeriums gegeben, den Sprachführern der DDG diesen Sachverhalt zu erläutern, ohne Erfolg. Es bleibt einer juristischen und politischen Bewertung vorbehalten, eine Antwort auf die Frage zu finden, was es bedeutet, wenn prominente Diabetologen wider besseren Wissens behaupten, die AOK vertrete ein Billigprogramm für Diabetiker – und gemeint ist der im Einvernehmen beschlossene Text des Koordinierungsausschusses. Vielleicht ist es für manche Experten schwer zu ertragen, dass sie sich im fachlichen Diskurs argumentativ nicht behaupten konnten. Damit ist auch die Frage beantwortet, was von den ungeheuerlichen Unterstellungen der DDG zu halten ist, die AOK nehme in Kauf, dass durch ein inkompetent getextetes DMP mehr Menschen erblinden, Amputationen erleiden oder an die künstliche Niere müssten als bisher. Tatsache ist vielmehr: Erstmals in der Geschichte der Diabetikerversorgung ist jetzt festgehalten worden, dass Ärzte wie Patienten mit den Kernergebnissen wissenschaftlicher Studien und, soweit vorhanden, evidenzbasierten Leitlinien vertraut gemacht werden müssen, ehe das individuelle Therapieziel vereinbart wird. Und es wird deutlich, wie entscheidende Fortschritte entsprechend der St.-Vinzenz-Deklaration erzielt werden können: Unter anderem mit der Bluthochdruck-Behandlung und der routinierten Versorgung des diabetischen Fußes. Die Empfehlungen des Koordinierungsausschusses sind präzise, an jedem Punkt durch wissenschaftliche Belege begründet und frei von subjektiven Eindrücken. Es empfiehlt sich, diesen Text neben die Versorgungsleitlinie der Bundesärztekammer zu legen und dann die Frage zu beantworten, womit Ärzten und Patienten besser gedient ist. Wer trotz dieser klaren Situation dabei bleibt, die Umsetzung der Ergebnisse des Koordinierungsausschusses zur Verbesserung der Diabetikerversorgung zu sabotieren, wird in die Geschichte der Medizin als unbelehrbar eingehen. Jetzt steht eine ganz andere Aufgabe auf der Tagesordnung: diesen hervorragenden Text zu nutzen, um akkreditierte DMP zu praktizieren. ◆ Prof. Dr. Norbert Schmacke leitet den Stabsbereich Medizin im AOKBundesverband Mehr Infos Norbert Schmacke ist erreichbar per E-Mail: [email protected] 13 Diabetiker-Versorgung Zur Debatte um die beste Therapie Professor Michael Berger ist Direktor der Klinik für Stoffwechselkrankheiten und Ernährung (WHO Collaborating Center for Diabetes) an der HeinrichHeine Universität Düsseldorf Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft und der Deutsche Diabetiker Bund üben Kritik an den Anforderungen, die der Koordinierungsausschuss für Disease-Management-Programme im Bereich Typ 2 Diabetes formuliert hat. Diabetes-Spezialist Prof. Michael Berger macht deutlich, worum es in dem Streit geht. ■ G+G: Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) hat Ihnen vorgeworfen, „Extrempositionen“ zu vertreten. An welchen Punkten hat sich die Debatte entzündet? ■ Prof. Michael Berger: Bezüglich der Therapieziele fordern Vertreter der DDG für Patienten mit Typ 2 Diabetes – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – eine Absenkung des Blutzuckerwertes HbAIc auf unter 6,5 Prozent. Das ist nach den vorliegenden Befunden nicht gerechtfertigt. Das klinische Hauptproblem des Typ 2 Diabetes ist die Makroangiopathie, die Arteriosklerose, aus der Koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt und Schlaganfall folgen können. In mehreren Studien konnte übereinstimmend kein Nachweis darüber geführt werden, dass durch eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung, wie eine Senkung des HbA1c unter acht Prozent, eine Verringerung von Auftreten oder Fortschreiten der Makroangiopathie erreicht werden kann. Diesbezüglich müssen die Therapie eines Bluthochdrucks, die Raucherentwöhnung, die Behandlung mit Mitteln gegen Fettstoffwechselstörungen und mit Aspirin im Vordergrund stehen. Für jüngere Patienten mit Typ 2 Diabetes stellt auch die durch krankhaft erhöhten Blutzucker bedingte Mikroangiopathie ein Risiko dar. Sie äußert sich in Form von Schäden an der Netzhaut, den Nieren und Nerven. Bei Typ 2 Diabetikern mit einem durchschnittlichen Alter von 53 Jahren verringert eine Senkung des HbA1c von im Median 7,9 Prozent auf 7,0 Prozent über zehn Jahre das Mikroangiopathie-Risiko von 11,4 auf 8,6 Prozent. Das bedeutet, dass man bei 36 Patienten zehn Jahre lang die genannte Senkung des HbA1c durchhalten muss, um bei einem einzigen Patienten eine mikroangiopathische Komplikation zu verhindern. ■ Die überwiegende Mehrzahl der Patienten mit Typ 2 Diabetes in Deutschland ist älter als 60 Jahre. Welche Grenzwerte gelten für diese Altersgruppe? ■ Der Diabetes ist oft nur eine relativ unbedeutende Facet- te im Spektrum der Alterskrankheiten. Gefahren durch eine Hyperglykämie-bedingte Mikroangiopathie bestehen bei 14 diesen Patienten nicht. Haupt-Therapieziele im Bereich des Diabetes sind nun die Vermeidung von diabetischen Stoffwechselentgleisungen, Hyperglykämie-bedingten Symptomen und Diabetes-bedingten Einschränkungen der Lebensqualität. Dies lässt sich mit einer Senkung des HbA1c-Wertes auf 8,5 bis 9,0 Prozent sehr gut erreichen. Eine Senkung des HbA1c-Wertes bei diesen Patienten auf unter 6,5 Prozent ist durch keinerlei wissenschaftliche Befunde zu belegen – würde aber eine erhebliche Belastung der Patienten darstellen und wäre als Folge der Pharmakotherapie potenziell gefährlich. ■ Die Empfehlungen für die Pharmakotherapie sind ein weiterer Stein des Antoßes für die DDG. Um welche Medikamente geht es in der Kritik? ■ Zufolge der Kriterien der evidenzbasierten Medizin müs- sen Medikamente in prospektiv-kontrollierten Langzeitstudien auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit überprüft werden, bevor sie außerhalb von klinischen Studien eingesetzt werden können. Leider werden aufgrund der Zulassungsgesetze immer wieder Medikamente vermarktet, die nicht entsprechenden Prüfungen unterzogen worden sind. Erst in derartigen Langzeitstudien konnten die Schädlichkeit der Sulfonylharnstoffe Tolbutamid und Chlorpropamid und die Wirksamkeit und Sicherheit von Glibenclamid nachgewiesen werden. Erst in einer solchen Studie konnte die Gefährlichkeit der in Deutschland so populären Kombination von Sulfonylharnstoff- und Metformin-Therapie aufgedeckt werden. Liegen derartige Prüfungen nicht vor, kommt es immer wieder zu Arzneimittelskandalen wie kürzlich mit „Lipobay“. Mit dem Glitazone-Präparat Troglitazone sind weltweit bereits 800.000 Typ 2 Diabetiker behandelt worden, bevor es wegen lebensbedrohlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen werden musste. Für die überwiegende Mehrzahl der in Deutschland verordneten oralen Antidiabetika fehlen die entsprechenden Nachweise von Wirksamkeit und Sicherheit, so zum Beispiel für Glimepiride, Acarbose, die Glitazone, die Glinide und alle Sulfonylharnstoffe, außer Glibenclamid. Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang „Für die Mehrzahl der in Deutschland verordneten oralen Antidiabetika fehlen die Nachweise für ihre Wirksamkeit und Sicherheit“ Prof. Michael Berger, Universität Düsseldorf Nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin kommen im Rahmen der Pharmakotherapie des Typ 2 Diabetes mellitus nur Human- und Schweine-Insulin, Glibenclamid-Monotherapie bei Patienten ohne klinisch apparente koronare Herzkrankheit, Metformin-Monotherapie bei übergewichtigen Patienten ohne Kontraindikationen gegen Biguanide in Frage. Dass nur für diese Pharmakotherapien positive Endpunkt-Studien zum Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen, ist unbestritten und auch in der Nationalen Versorgungsleitlinie Typ 2 Diabetes vom Mai 2002 dokumentiert. Dass nach den Vorstellungen von Vertretern der DDG und des DDB trotzdem andere orale Antidiabetika und Insulin-Analoga eingesetzt und trotz enorm höherer Preise von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden sollen, ist vollkommen unverständlich – und mag die Unabhängigkeit einiger Vertreter von DDG und DDB in Frage stellen. ■ Umstritten sind außerdem bestimmte Screening-Untersuchungen. Um welche handelt es sich? ■ Vertreter der Deutschen Diabetes-Gesellschaft fordern die Verpflichtung der Ärzte zur Durchführung von Screening-Untersuchungen bei allen Typ 2 Diabetikern, die in ihrer Validität wissenschaftlich nicht bewiesen sind: zum Beispiel die Durchführung von jährlichen Mikroalbuminurie-Tests, Untersuchungen auf autonome Neuropathie, Screening auf Depression. Ohne wissenschaftliche Belege für den Nutzen und den Ausschluss eines Schadens für die betroffenen Patienten sind derartig aufwändige und kostspielige Maßnahmen aus meiner Sicht für die Routine-Versorgung des Typ 2 Diabetes abzulehnen. Wirksamkeit und Sicherheit nachgewiesen sind, und dass sie vor ungeprüften, potenziell gefährlichen und für sie lästigen Maßnahmen, wie zum Beispiel täglichen Blutzuckerselbstkontrollen bei nicht-insulinpflichtigem Typ 2 Diabetes, geschützt sind. ■ Ist die Kritik der DDG ein Zeichen für eine grundlegende Spaltung der Fachwelt in Bezug auf die Diabetes-Therapie? ■ Seit über 20 Jahren habe ich auf die drohende Spaltung der Diabetologie, wie sie jetzt offenbar zu werden scheint, hingewiesen. Ein kleiner Teil der diabetologischen Meinungsbildner in Deutschland hat immer wieder darauf gedrungen, die Therapie mit oralen Antidiabetika auf Präpatate mit erwiesener Wirksamkeit und Sicherheit zu beschränken. Das entspricht den heute auch vom Gesetzgeber anerkannten Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. Diese Forderung ist von der überwiegenden Mehrzahl der Diabetologen und vom Vorstand der Deutschen DiabetesGesellschaft abgelehnt worden; im Gegenteil sind – im Gleichschritt mit der Pharma-Industrie – immer wieder neue, enorm teure orale Antidiabetika ohne eine EvidenzBasis propagiert worden. Derzeit machen evidenzbasierte Behandlungen mit oralen Antidiabetika (GlibenclamidMonotherapie; Metformin-Monotherapie bei übergewichtigen Typ 2 Diabetikern) weniger als 15 Prozent an dem Gesamtumsatz aus, den die gesetzliche Krankenversicherung aus den Mitteln der Solidargemeinschaft für in ihrer Wirksamkeit und Sicherheit ungeprüfte orale Antidiabetika bezahlt. Das ist in verschiedener Hinsicht skandalös. ■ Wie begegnen Sie der Kritik der DDG? ■ Welche Bedeutung hat die Diskussion mit der DDG, beziehungsweise dem DDB? Wird sie die Disease-Management-Programme für Diabetiker beeinflussen? ■ Falls (Vorstands-)Mitglieder der Deutschen Diabetes-Ge- sellschaft und des Deutschen Diabetiker Bundes von der Teilnahme an den Disease-Management-Programmen für Typ 2 Diabetiker, die auf der Grundlage der oben genannten Empfehlungen konzipiert werden, abraten sollten, erweisen sie den Betroffenen einen schlechten Dienst. Denn mit der Teilnahme an einem derartigen Programm wird den Betroffenen in Deutschland erstmalig garantiert, dass sie nach dem neuesten Stand der Wissenschaft im Sinne der evidenzbasierten Medizin betreut werden. Das schließt ein, dass ihnen – einschließlich qualitätsgesicherter Therapieund Schulungsprogramme – alles an diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen angeboten wird, für das Gesundheit und Gesellschaft SPEZIAL 7-8/02, 5. Jahrgang ■ Die DDG als gemeinnütziger Verein und deren Vor- stand haben keinerlei Legitimation zur Abgabe von verbindlichen wissenschaftlichen Stellungnahmen. Das wird aus den Modalitäten für die Rekrutierung der Vereinsmitglieder und für die Wahl des Vorstands deutlich. Die diesbezügliche Legitimation eines Diabetologen ist in seinem/ihrem wissenschaftlichen œvre durch Publikationen, wissenschaftliche Auszeichnungen und Führungspositionen im internationalen Bereich, ausgewiesenen Kenntnissen in Evidence-based Medicine (Clinical Epidemiology) sowie durch den Nachweis der Unabhängigkeit von der Pharma-Industrie und von anderen Profit-orientierten Interessengruppen begründet. Insofern ergibt sich für mich über die inhaltlichen Argumente hinaus kein Anhalt, der Kritik seitens einzelner oder mehrerer Vorstandsmitglieder der DDG zu begegnen. 15 Fünf Fragen, fünf Antworten: Disease-Management auf einen Blick ■ Was sind die Ziele des Disease-Managements? Das Ziel der Disease-Management-Programme (DMP) ist, die Versorgung von chronisch Kranken in der gesetzlichen Krankenversicherung zu verbessern. Patienten, die unter lang andauernden Krankheiten leiden, sollen durch eine gut abgestimmte, kontinuierliche Betreuung und Behandlung vor Folgeschäden, beim Diabetes beispielsweise Amputationen und Nierenfunktionsstörungen, weitgehend bewahrt werden. Zu den regelmäßigen Arzt-Patienten-Gesprächen und medizinischen Kontrollen kommen Informationen für den Patienten, mit denen dieser seine Krankheit besser einschätzen lernt. Das stärkt die Eigenaktivität und die Gesundheitskompetenzen des Patienten und verbessert außerdem seine Lebensqualität. ■ Wie sind die DMP aufgebaut? Im Rahmen des Disease-Managements in Deutschland sind strukturierte Schulungs- und Behandlungsprogramme für bisher vier chronische Krankheiten vorgesehen: Diabetes mellitus (Typ 1 und Typ 2), chronische Atemwegserkrankungen (Asthma und COPD), Brustkrebs und Koronare Herzkrankheit. Die Teilnahme an einem DMP ist für Patient wie Arzt freiwillig, unterliegt allerdings bestimmten Voraussetzungen, beispielsweise muss der Patient grundsätzlich zur aktiven Mitwirkung bereit sein. Diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die auf einer aktuellen und gesicherten Auswertung medizinischer Forschung (evidenzbasierte Medizin) beruhen, erfolgen in Abstimmung mit dem Patienten. Nach ausführlicher Aufklärung über Nutzen und Risiken legt der behandelnde Arzt gemeinsam mit dem Patienten individuelle Therapieziele. ■ Was sind evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen? Welche Studien aussagekräftig, welche Therapien ausreichend erprobt und welche Medikamente wirksam sind – das ist für den einzelnen Arzt häufig kaum mehr überschaubar. Medizinische Leitlinien sind Empfehlungen für gutes ärztliches Handeln. Sie gehen von der Überlegung aus, das aktuelle mediinische Wissen in konkrete Vorschläge für Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge von Krankheiten umzusetzen. Evidenzbasierte Entscheidungsgrundlagen – im Rahmen vom Disease-Management der AOK vorgesehen – geben sol- Spezial ist eine Verlagsbeilage von G+G Impressum: Gesundheit und Gesellschaft, Kortrijker Str. 1, 53177 Bonn Redaktion: Änne Töpfer, Hans-Bernhard Henkel Grafik: Beatrice Hofmann che konkreten Handlungsvorschläge, für die sich Arzt und Patient gemeinsam entscheiden können. Sie leiten sich ab aus der evidenzbasierten Medizin, die Wissen aus systematischer Forschung und der klinischen Erfahrtung des Arztes zusammenführt. Die Entscheidungsgrundlagen sind jedoch keine „Rezeptbücher“ für eine „Kochbuchmedizin“, sondern lassen dem Arzt seine Behandlungs- und dem Patienten seine Entscheidungsfreiheit. ■ Was ist „Curaplan“ der AOK? Curaplan ist das DMP der Gesundheitskasse. Im AOK-Konzept, wie es jetzt für Typ 2 Diabetiker in der Praxis getestet wird, ist der behandelnde Arzt – in der Regel der Hausarzt – der zentrale Disease-Manager. Chronisch Kranke haben meistens einen Hausarzt, den sie als ersten zu Rate ziehen. Das Vertrauen, das aufgrund der regelmäßigen Gespräche zwischen Arzt und Patient entsteht, ist eine wichtige Grundlage für eine langfristige, wirksame, vom Patienten akzeptierte Betreuung. Häufig haben die Patienten mehrere Erkrankungen gleichzeitig (Multimorbidität): Der behandelnde Arzt hat den besten Überblick darüber und kann die Rolle eines Koordinators zwischen den verschiedenen medizinischen Disziplinen und Sektoren übernehmen. Curaplan bietet den Patienten umfangreiche Informationen und Schulungen, die es ihnen ermöglichen, ihre Erkrankung besser zu verstehen und selbst den Verlauf zu beeinflussen. Der Patient kann selbst körperliche Daten ermitteln und lernt, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. ■ Welche Folgen haben DMP für den Risikostrukturausgleich? Bisher wurde das finanzielle Ungleichgewicht zwischen Kassen mit vielen jungen, einkommensstarken Versicherten und Kassen mit vielen alten, chronisch krankenVersicherten durch den Risikostrukturausgleich (RSA) nur ungenügend abgefedert. Durch die RSA-Reform erhalten jetzt Krankenkassen für Versicherte, die in akkreditierte DMP eingeschrieben sind, mehr Geld aus dem Finanzausgleich als Kassen, die keine Versicherten in solchen Programmen haben. Damit wurde die sozialpolitische Forderung berücksichtigt, die hohen Behandlungskosten für chronisch Kranke gerechter zu verteilen. Verantwortlich: Stabsbereich Medizin des AOK-Bundesverbandes Stand: Juli 2002