47. Christian Wymann - Institut für Sozialanthropologie
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47. Christian Wymann - Institut für Sozialanthropologie
ARBEITSBLATT Nr. 47 2009 I N S T I T U T F U R S O Z I A L A N T H R O P O LO G I E Christian Wymann Tätowierungen und Tätowierte im Film beobachtet. Diskurse in US-amerikanischen Spielfilmen. U N I V E R S I T A T B E R N Arbeitsblätter des Instituts für Sozialanthropologie der Universität Bern Herausgegeben von: Madlen Kobi Laura Münger Verena Rothen Pascale Schild Michael Toggweiler Angelica Wehrli Heinzpeter Znoj Institut für Sozialanthropologie Länggass-Str. 49A, CH-3000 Bern 9 Fax +41 31 631 42 12 E-Mail: [email protected] ISBN-13: 978-3-906465-47-0 EAN: 9783906465470 © Christian Wymann und Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern URL: http://www.anthro.unibe.ch/content/publikationen/ arbeitsblaetter/arbeitsblatt_47/index_ger.html This is the electronic edition of Christian Wymann „Tätowierungen und Tätowierte im Film beobachtet. Diskurse in US-amerikanischen Spielfilmen“, Arbeitsblatt Nr. 47, Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, Bern 2009 ISBN-13: 978-3-906465-47-0 EAN: 9783906465470 Electronically published January, 2009 © Christian Wymann and Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. All rights reserved. This text may be copied freely and distributed either electronically or in printed form under the following conditions. You may not copy or distribute it in any other fashion without express written permission from me or the Institut für Sozialanthropologie. Otherwise we encourage you to share this work widely and to link freely to it. Conditions You keep this copyright notice and list of conditions with any copy you make of the text. You keep the preface and all chapters intact. You do not charge money for the text or for access to reading or copying it. 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Inhaltsverzeichnis 1 2 I Einleitung .................................................................................................1 Diskursanalyse und Film..........................................................................6 Markierungen der Tätowierung.................................................... 14 3 Leitbeobachtungen .................................................................................14 3.1 3.2 4 Beobachtungen der Kunst ......................................................................25 4.1 4.2 4.3 II Die Selbstverständlichkeit sichtbarer Tätowierungen ................................ 15 »Could you teach me how to read that?« – Die Lesbarkeit der Tätowierung................................................................................................ 19 Unterscheidungen ....................................................................................... 26 Inszenierung der Ästhetik und Funktion – einzigartige ›Tribals‹ und massenhaft Vampirzeichen ......................................................................... 30 Die Ästhetik japanischer Tätowierungen.................................................... 34 Diskursive Konstruktionen tätowierter Personen ....................... 37 5 »Dangerous, dirty, tattooed, uncivilized« – Zeichen von Verbreche(r)n ................................................................................................................37 5.1 5.2 5.3 5.4 6 Inklusion/Exklusion tätowierter Personen .................................................. 38 »What type of people?« – kriminell und tätowiert ..................................... 41 »Three Xs tattooed ... that’s rather appropriate« ........................................ 45 Formen der Inklusion von Exkludierten ..................................................... 50 Zwischenspiel: Sind Frauen tätowiert?..................................................56 6.1 6.2 7 Tätowierungen und Weiblichkeit in der Realität........................................ 56 Filmische Konstruktion der Gender-Unterscheidung................................. 58 Inklusive Inskriptionen als Zeichen der Zugehörigkeit .........................60 7.1 7.2 7.3 Kurze Geschichte der Zwangstätowierung................................................. 61 Nummern und Strichcodes: Markierungen totaler Institutionen der Zukunft ....................................................................................................... 63 Freiwillige Inklusion und fremdbestimmte Tätowierungen ....................... 72 III Schluss .............................................................................................. 75 IV Bibliographie ................................................................................... 78 V Filmographie.................................................................................... 86 Danksagung Ich bin der Dr. Joséphine de Kármán-Stiftung der Universität Bern für ihr Stipendium zu grossem Dank verpflichtet, das mir unter anderem die Anschaffung der Filme ermöglicht hat. Ich habe mich auch bei den TätowiererInnen und Tätowierten zu bedanken, die mit mir an den zwei Tattoo-Conventions über Fragen zum Tätowieren im Film gesprochen haben. Ihr Interesse und ihre Kenntnisse der verschiedenen Filme haben dazu beigetragen, meinen Analysehorizont zu erweitern. Des Weiteren bedanke ich mich auch bei Fabian Leuthold, Samuel Schmidiger, Olivier Salzgeber, Michael Toggweiler, den TeilnehmerInnen des Lizentiatskolloquiums (Frühling 2006), Dirk Verdicchio und Zhenguang Cam für Anregungen, Filmhinweise, klärende Gespräche und kritische Textkorrekturen. Prof. Dr. Heinzpeter Znoj danke ich für seine Unterstützung dieses eher ungewöhnlichen Zugangs zum Thema Tätowieren. Und schliesslich geht mein Dank an meine Familie, die mich stets unterstützt und ermutigt hat. 1 1 Einleitung Autos explodieren bei Auffahrtkollisionen, Menschen überleben Stürze aus grosser Höhe unbeschadet und im Hintergrund ertönt die dazu passende Musik, wie etwa die eines Symphonieorchesters – Vorkommnisse, die so nur im Spielfilm möglich sind. Ausserhalb des Films sind sie äusserst selten. Darüber, dass zwischen den Geschehnissen im Film und im alltäglichen Leben in vielerlei Hinsicht Divergenzen bestehen, ist sich ein Filmpublikum im Klaren. Filme bieten inszenierte Welten, eine »Welt der Imagination« (Luhmann 2004: 99). Die Inszenierung umfasst jedoch nicht nur so spektakuläre Ereignisse wie Explosionen oder Stunteinlagen von SchauspielerInnen. Jedes kleinste Detail in einem Film ist Folge der Inszenierung. Demnach sind alle hervorstechenden oder im Gegenteil unauffälligen, aber trotzdem präsenten Phänomene, an die sich das Publikum gewöhnt hat, Effekte einer Inszenierung: Handle es sich um etwas so Grundlegendes und deshalb dem Publikum Entgehendes wie den menschlichen Körper (Tischleder 2001), die Hautfarbe von SchauspielerInnen (Foster 2003) oder, noch spezifischer, um Tätowierungen und tätowierte Menschen, um die es in dieser Arbeit gehen soll.1 Die Auseinandersetzung mit dem Tätowieren in Filmen gründet auf der Feststellung von Divergenzen zwischen der Konstruktion von Tätowierungen und tätowierten Menschen in der filmischen, »fiktionalen« und der »realen« Realität. Die Unterscheidung zwischen fiktionaler und realer Realität, die Niklas Luhmann (2004: 99) getroffen hat, soll auf die Differenz in der Konstruktion von Realitäten verweisen. Die Rede von einer ›realen‹ im Gegensatz zu einer ›fiktionalen‹ Realität bedeutet jedoch nicht, dass die ›reale‹ realer als die ›fiktionale‹ ist.2 Die anfängliche Feststellung von Divergenzen zwischen den beiden Realitätstypen also gab den Anstoss zu einer genaueren und differenzierten Beschäftigung – sowohl mit den Divergenzen als auch mit den Gemeinsamkeiten. Es sind nicht unbedingt spektakuläre (wie bei dem explodierenden Auto) Divergenzen oder frappierende Gemeinsamkeiten, die sich beim Vergleich von realer und fiktionaler Realitätskonstruktion des Tätowierens zeigen würden. Und 1 2 Ich verwende fortan die deutschen Begriffe ›Tätowierung‹ und ›Tätowieren‹, die den englischen Begriffen ›tattoo‹ und ›tattooing‹ entsprechen. Sie haben sich im Gegensatz zum Begriff ›tatau‹, ursprünglich aus dem pazifischen Raum stammend, in den verschiedenen Diskursen etabliert (als Ursprungsorte sind Tahiti, Tonga und Samoa bekannt). Den von ›tatau‹ eingedeutschten Begriff ›Tatauierung‹ existiert zwar, wird heute jedoch eher selten verwendet (vgl. z.B. Cattani 1922; von den Steinen 1925; Lanzer 1988). Zur Begriffsgeschichte bzw. -wandlung von ›tatau‹ zu ›tattoo‹ und den Bezeichnungen (›punktieren‹, ›bemalen‹, ›einstechen‹ u.a.) vor Captain Cooks Bericht über die Praktik vgl. Oettermann (1995: 9, 121, Fn. 3). Siegfried Kracauer beispielsweise konzipiert in seiner »Theorie des Films« (2003 [1960]) das Verhältnis zwischen der Realität und dem Film anders. Filme berufen sich zwar auf die ›physische Realität‹, sie beschwören jedoch eine umfassendere Wirklichkeit, als sie eigentlich abbilden. Sie weisen über die ›physische Realität‹ hinaus (2003: 55, 109). 2 gleichwohl sind sie nicht gänzlich verborgen, sondern lassen sich in den unterschiedlichen Formen der Thematisierung des Tätowierens beobachten. Es handelt sich um unterschiedliche und gemeinsame Arten, Tätowierungen und tätowierte Menschen in der realen und fiktionalen Realität durch Beobachtungen zu erzeugen und ihnen durch deren Diskursivierung darin einen Platz zuzuweisen. Mit Hilfe der Filmanalyse gehe ich der Frage nach, auf welche Arten Tätowierungen als Bilder auf der Haut und tätowierte Menschen als Personen in einer sozialen Position oder Gruppe konstruiert werden. Welche Diskurse ziehen Filme dazu heran und produzieren bzw. reproduzieren sie? Welche Diskurse werden nur im Film erzeugt? Und hinsichtlich welcher diskursiven Konstruktionsweisen lassen sich Gemeinsamkeiten und Divergenzen zwischen realer und fiktionaler Realität ausmachen? Oder, in Michel Foucaults Worten formuliert, frage ich danach, was dem Tätowieren im Film durch die Diskursivierung angetan oder aufgezwungen wird (Foucault 2003: 34–35). Hierbei ist von Interesse, mit welchen filmischen Mitteln (Sprache, Bild, Narration u.a.) die Diskurse der Tätowierungen und tätowierten Menschen in der fiktionalen Realität konstruiert werden. Diese Fragen zielen auch auf die Regelmässigkeiten in der Konstruktion des Tätowierens ab, also auf die wiederkehrenden Formen der Diskursivierung. Die Divergenzen zwischen der diskursiven Konstruktion des Tätowierens der realen und fiktionalen Realität werden letztlich Hinweise darauf geben, in Richtung welcher Diskurse die Filme das Publikum ziehen (für eine allgemeinere Formulierung dieser Frage vgl. Willemen 1995: 33–34). Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die Filmbetrachtungen und ersten Analysen zu Beginn durch die These der kriminalisierenden Diskursivierung des Tätowierens angeleitet waren. Das bedeutet, dass ich anfänglich die Annahme getroffen habe, das Tätowieren in Filmen hauptsächlich in Verbindung mit kriminellen Personen und Gruppen anzutreffen. Diese Leitthese steht nicht fern von den stereotypen und fast schon ›normalen‹, diskursiv stabilisierten Annahmen der realen Realität, die oftmals einen ›natürlichen‹ Zusammenhang zwischen Tätowierungen/Tätowierten und Kriminellen oder zumindest sozial exkludierten Personen herstellen. Ich werde mit dieser Arbeit zeigen können, inwiefern diese These der kriminalisierenden Diskursivierung einerseits ihre Berechtigung hat, jedoch andererseits sowohl in der fiktionalen wie auch der realen Realität zu kurz greift. Auf Grund der Vielzahl von Filmen aus verschiedenen Ländern, in denen Tätowierungen gezeigt und thematisiert werden, beschränkt sich meine Analyse auf eine begrenzte und nicht repräsentative Auswahl von US-amerikanischen Filmen seit den 1980erJahren. 3 Die Eingrenzung hat zwei Gründe: Zum einen stehen mir am meisten Filme aus den USA zur Verfügung. Selbstverständlich wären Filme aus Japan, Neuseeland, Hong Kong, Australien, Deutschland und Frankreich ebenso aufschlussreich, was das Tätowieren angeht (aus all diesen Ländern sind mir Filme dazu bekannt).3 Doch hat die mir zugängliche Menge an Filmen dieser Herkunft nicht die Variation und Redundanz geboten, wie sie für Filme aus den USA vorliegen. Die Eingrenzung auf US-amerikanische Filme bedeutet jedoch nicht, dass filmische Bezüge auf das Tätowieren ausserhalb der USA unberücksichtigt bleiben. Wäre dem so, müssten zum Beispiel alle Science-Fiction-Filme beiseite gelegt werden. Die Filme als abgeschlossene Medienprodukte sind auf Grund ihrer Beobachtungen und fiktionalen Realitätskonstruktionen von Interesse – die Materialeingrenzung ist lediglich ein notwendiges Übel. Zum anderen liegt zum Tätowieren in den USA und Europa viel Material vor, das den Vergleich von fiktionaler und realer Realität in verschiedenster Hinsicht ermöglicht. Es liegen vermehrt wissenschaftliche Studien aus verschiedenen Disziplinen, SzeneMagazine, autobiographische Berichte, populäre Abhandlungen und massenmediale Berichte vor, welche die ›Renaissance‹ (Rubin 1988b) seit den 1960er-Jahren und die ›fashionalization‹ (DeMello 2000: 191; Pitts 2003: 12) des Tätowierens in den USA und Europa kommentieren und analysieren. Die Filme, die ich auf den folgenden Seiten analysieren und diskutieren werde, haben zusätzlich eines gemeinsam: In diesen Filmen werden Tätowierungen und tätowierte Menschen in visueller, sprachlicher oder narrativer Hinsicht fokussiert thematisiert. Das bedeutet beispielsweise, dass Tätowierungen in Detailaufnahmen gezeigt werden, über tätowierte Personen und Personengruppen explizit gesprochen wird oder das Tätowieren für das Filmnarrativ eine zentrale Rolle spielt. Zusätzlich zu den Filmanalysen habe ich an zwei ›Tattoo-Conventions‹ in der Schweiz informelle Gespräche mit professionellen TätowiererInnen und Tätowierten geführt.4 Mit den Gesprächen wollte ich einerseits in Erfahrung bringen, wie tätowierte Personen über das Tätowieren in Filmen denken. Andererseits halfen die Gespräche, den Analysehorizont zu öffnen und bestehende Beobachtungsverzerrungen meinerseits aufzudecken. 3 4 Zu Filmen aus Japan und Neuseeland vgl. Beeler (2006), zu Neuseeland auch Wilson (2003). Tattoo-Conventions sind Plattformen, an denen sich TätowiererInnen und Interessierte austauschen können, wo tätowiert wird und Tätowier-Wettbewerbe stattfinden. Die TätowiererInnen kommen meistens aus verschiedenen Ländern. Ich habe die Conventions in Sursee (6.–7. Mai 2006) und in Conthey (20.–21. Mai 2006) besucht. Die Gespräche mit den TätowiererInnen und Tätowierten wurden schriftlich festgehalten. Die zehn befragten Personen stammen aus der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Kanada und Neuseeland. Die Gespräche kreisten um das Kopieren/Imitieren von Tätowierungen, auch aus Filmen, und die Tätowierungen in Filmen. Erstaunlicherweise und trotz der verschiedenen nationalen Herkunft der Befragten, bekam ich stets ähnliche Antworten. 4 In der Sozialanthropologie finden sich im Gegensatz zur typischen Methode der Feldforschung eher selten Analysen von Spielfilmen der Unterhaltungsindustrie. Folgt man Michael Fischers Argumentation, dann besteht die lange anhaltende Indifferenz der Sozialanthropologie populären Filmen gegenüber bestimmt nicht in deren Verbreitung und Bekanntheit: Modern fieldwork anthropology was born into an environment in which film was changing the spatio-temporal-visual dimensions of social life (including this comparative multicultural mind-set). Film, for example, was brought to India – produced in India and disseminated not only in urban cinemas but also by rural traveling shows – long before the Malinowskian revolution that created modern anthropology. And yet, oddly, until very recently, anthropology has largely ignored this perceptual world. (Fischer 1995: 36; vgl. auch Spitulnik 1993) Die wenigen Ausnahmen der anthropologischen Beschäftigung mit Filmen stammen von Bateson (1956 [1943]) sowie Mead und Métraux (2000 [1953]), die, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, Filmanalysen im Rahmen der »Study of Culture at a Distance« unternahmen (vgl. auch Benedict 1974 [1946]). William Beeman hebt in der Einleitung zu Mead und Métraux's Werk unter anderen Aspekten hervor, dass »it offers the first serious suggestion that anthropologists should study film, literature, and popular culture systematically as part of their investigations« (Beeman 2000: xiv). Neuere Beiträge zu populären Filmen in der Anthropologie mit teilweise diskursanalytischem Einschlag stammen von Fischer (1995), Caton (1999) und Battaglia (2001). Wenn Filme eine Rolle in der Anthropologie spielen, dann vor allem im Rahmen ethnographischer Filme (z.B. Crawford und Turton 1992) oder medienanthropologischer/-ethnographischer Auseinandersetzungen (z.B. Askew und Wilk 2002; Ginsburg et al. 2002). Die Beschäftigung mit Filmen, die ein breites Publikum erreichen und die ich deshalb populäre Filme nenne, erscheint mir deshalb von (anthropologischer) Relevanz, weil Filme Teil der Selbstbeobachtung sind und damit auch der Selbsterzeugung der Gesellschaft (Luhmann 2004: 153). Filme widerspiegeln nicht einfach, was in der Realität geschieht. Sie konstruieren eine ihnen eigene fiktionale Realität, indem sie die reale(n) Realität(en) beobachten. Die ›Rückkopplung‹ von Filmen auf die reale Realität kann durchaus vorkommen, jedoch (aus systemtheoretischer Sicht) ebenso nur durch deren Beobachtung der fiktionalen Realität. Durch die Analyse von Filmen kann nicht nur deren fiktionale Konstruktionsweise eruiert werden, sondern im Vergleich mit der realen Realität können Evidenzen beobachtet und dadurch als kontingent ausgewiesen werden. Hinsichtlich der Tätowierungen und tätowierten Menschen bedeutet das, zu zeigen, welchen Realitätskonstruktionen und damit Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten sie ausgesetzt sind. Mit Karin Beelers publiziertem Buch »Tattoos, Desire and Violence. Marks of Resistance in Literature, Film and Television« (2006) liegt meines Wissens die erste detaillierte Betrachtung der Tätowierung in Massenmedien wie Film, Fernsehen und Literatur vor. Vorher findet man in verschiedenen Publikationen zum Tätowieren kurze Anmerkungen oder Besprechungen von Werbung, Film und Literatur (zu Film vgl. 5 Steward 1990: 10, 57–58, 129; Sullivan 2001: 33ff.; Mascia-Lees und Sharpe 1992: 149ff.; Battaglia 2001; zu Presse und Bildwerbung vgl. Lugrin und Pahud 2002; Pitts 1999; Strausak 2003). Was die Filmauswahl angeht, analysiert Beeler hauptsächlich Filme seit den 1970er-Jahren und wenige vor dieser Zeit aus den USA, Japan und Neuseeland. Beelers und meine Filmauswahl haben nur einen Film gemeinsam, nämlich American Yakuza, auf den sie lediglich in einer Fussnote eingeht (Beeler 2006: 203, Fn. 4). Beeler begründet ihre Auswahl mit dem »extensive use of postmodern, postcolonial, feminist or inter-media techniques in these works which highlight the theme of resistance« (Beeler 2006: 5) – was Beeler unter diesen verschiedenen ›Techniken‹ versteht, bleibt unklar. Meines Erachtens bestehen zwei wesentliche Unterschiede zwischen Beelers und der vorliegenden Untersuchung: Erstens lässt sich ihre Narrativanalyse in theoretischanalytischer Hinsicht nicht mit der hier vorgeschlagenen Diskursanalyse vergleichen.5 Es ist schwierig, in Beelers Untersuchungen einen einheitlichen analytischen Rahmen zu erkennen, mit dem sie an die Literatur und Filme herangeht. Zwar verwendet Beeler einen Begriff des Narrativs, doch diesen wendet sie auf unterschiedliche und nicht weiter spezifizierte Arten an (die Tätowierung als Narrativ; Tätowierungen erzeugen Narrative; »narratives of desire and violence«; »master-narrative«; vgl. Beeler 2006: 2f.). Im Gegenteil scheint Beeler selbst in die Diskurse verstrickt zu sein, die in den Filmen beobachtet werden. Zweitens sehe ich ein Problem darin, wie sich Beeler den Texten und Filmen annimmt: »Instead of reading or viewing the image of the tattoo as a symbol that requires historical interpretation or an anthropological context, I propose to read the tattoos in texts, television, and film in relation to the narratives of desire and violence in which they are embedded« (2006: 3). Dem hier angekündigten Vorgehen vermag sie jedoch in vielen Analysen nicht gerecht zu werden. Ohne Bezüge zu realer Realität oder historischem Material riskiert sie demgegenüber eine eingeschränkte und vielleicht sogar verzerrte Filmanalyse. Im nachfolgenden Kapitel lege ich als Erstes dar, wie die Foucault'sche Diskursanalyse durch die Beobachtungstheorie systemtheoretischer Herkunft ergänzt und für die Analyse von Filmen fruchtbar gemacht werden kann. Filme werden dadurch nämlich als Beobachtungen erster Ordnung begriffen, die mittels Beobachtung zweiter Ordnung im Hinblick auf die filmisch erzeugten Diskurse beobachtet werden können. Den Analyseteil der Arbeit gliedere ich in zwei Teile: Im ersten Teil geht es in erster Linie um die Konstruktion der Tätowierung als Bild auf der Haut und im zweiten Teil um die diskursiven Konstruktionsweisen tätowierter Menschen. 5 Ebensowenig lässt sich Beelers Ansatz beispielsweise mit Somers' Ansatz der Narrativität (1994), der ähnlich einem Diskursansatz theoretisch aufgebaut ist, vergleichen. 6 Teil I umfasst die Kapitel drei und vier und widmet sich den filmischen ›Markierungen der Tätowierung‹. Kapitel drei geht den zwei Leitbeobachtungen der Sicht- und Lesbarkeit nach, die für die filmische Inszenierung der Tätowierung charakteristisch sind. Das vierte Kapitel handelt von Beobachtungen, die dem Kunstdiskurs zugeordnet werden können. Der Grund für die Beobachtung des Kunstdiskurses im Film ergibt sich aus der Bedeutung desselben in der realen Realität. Doch, wie ich zeigen werde, findet der Kunstdiskurs im Vergleich zu anderen Diskursen eher wenig Beachtung in populären Filmen. Teil II der Arbeit dreht sich um drei Diskurse in Filmen, in denen die tätowierten Menschen in spezifischen sozialen Positionen konstruiert werden. In jedem der drei Diskurse spielt die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion eine wichtige Rolle. Die Unterscheidung wird zu Beginn des fünften Kapitels eingehend diskutiert. In Kapitel fünf betrachte ich den Kriminaldiskurs bzw. den Diskurs über die Kriminellen, der sowohl in der realen Realität als auch im Film noch immer wesentlich an der Konstruktion tätowierter Personen beteiligt ist. Im sechsten Kapitel frage ich im Vergleich zum realen Genderdiskurs im Rahmen des Tätowierens nach den filmischen GenderUnterscheidungen und lege den Fokus auf die Darstellung tätowierter Frauen. In Kapitel sieben gehe ich schliesslich auf den Diskurs der Zugehörigkeit ein, der besonders in Science-Fiction-Filmen zu beobachten ist. Im Vergleich mit der Geschichte der (Zwangs-)Tätowierung zeigt sich, dass in den filmischen Zukunftsentwürfen die fremdbestimmte Tätowierung als Inklusionspraktik wieder aufgenommen wird. Zwangstätowierungen sind aber auch in anderen Filmen zu beobachten, in welchen die Kontrolle der Inklusion in eine Gruppe anhand von spezifischen Zeichen erfolgt. In diesen Fällen handelt es sich nur bedingt um die erzwungene Markierung der inkludierten Personen, da diese die Inklusion freiwillig vollziehen. 2 Diskursanalyse und Film Zur Beantwortung der Frage nach der fiktionalen Konstruktionsweise des Tätowierens unternehme ich eine Diskursanalyse populärer Filme, die auf Michel Foucaults diskursanalytischem Ansatz aufbaut und durch die Beobachtungstheorie der Systemtheorie Niklas Luhmanns ergänzt ist. Ich interessiere mich sowohl für die Diskursanalyse von Michel Foucault als auch für die Systemtheorie von Niklas Luhmann, weil es sich in beiden Fällen um analytische Strategien handelt, die der Frage nach dem ›Wie‹ nachgehen (vgl. Andersen 2003). Baecker (1996: 560) bezeichnet dies in Anschluss an Heinz von Foerster, im Gegensatz zur ontologischen Was-Frage, als die ontogenetische Frage. In der Diskursanalyse von Foucault geht es um die Art und Weise, wie Begriffe, Themen und Gegenstände diskursiv erzeugt werden, welche Aussagen deren Existenzmöglichkeiten bilden und wie Subjektpositionen geschaffen und angeordnet werden (Foucault 2000 [1969]). Mit anderen Begriffen operierend, jedoch auf derselben Abstraktionsebene angesiedelt, interessiert sich auch Luhmanns Systemtheorie nicht so sehr 7 für das, was der Fall ist, sondern vielmehr für dessen Konstruktionsweise (vgl. Fuchs 2004: 75). Luhmann gibt sich nicht mit der Tatsache zufrieden, dass es Gesellschaft gibt. Seine primär auf soziale Systeme ausgerichtete Theorie unternimmt den Versuch zu zeigen, wie es dazu kommt, dass es Gesellschaft überhaupt geben kann (vgl. Luhmann 2002b [1984]). Um es in der beobachtungstheoretischen Terminologie Luhmanns zu benennen: Sowohl Diskursanalyse als auch Systemtheorie beobachten Beobachtungen und sind damit Beobachtungen zweiter Ordnung. An diesem Punkt sei ein kurzer Exkurs zur Beobachtungstheorie eingeschoben, um die Verständlichkeit der weiteren Ausführungen zu sichern (gestützt auf Luhmann 2002a: 70ff.; Fuchs 2004: 11ff.).6 Beobachten bedeutet, eine Unterscheidung zu treffen, wobei eine Seite der Unterscheidung bezeichnet bzw. markiert wird und die andere Seite der Unterscheidung unmarkiert bleibt. Eine Unterscheidung ist stets eine zweiseitige Form, die eine Einheit bildet. Die unmarkierte Seite der Unterscheidung kann nur mit einer Beobachtung zweiter Ordnung bezeichnet werden, mit welcher die Einheit der Beobachtung erster Ordnung markiert wird. Die Einheit einer Unterscheidung und der Beobachter bleiben dabei stets im unmarkierten Bereich (eingeschlossen), weil sie mit der Unterscheidung nicht beobachtet werden können. In Luhmanns Worten heisst das: The operation of observing, therefore, includes the exclusion of the unobservable, including, moreover, the unobservable par excellence, observation itself, the observer-inoperation. The place of the observer is the unmarked state out of which it crosses a boundary to draw a distinction and in which it finds itself indistinguishable from anything else. (Luhmann 1995c: 44) Nur eine weitere Beobachtung kann die Einheit der Unterscheidung der Beobachtung erster Ordnung unterscheiden und sie als die eines bestimmten Beobachters beobachten.7 Beobachter und die Einheit der Unterscheidung bilden den blinden Fleck einer Beobachtung – sie bleiben ›unsichtbar‹ oder schlicht unbeobachtbar. Das gilt für jede Beobachtung gleichermassen. Der Unterschied zwischen einer Beobachtung erster Ordnung und jener zweiter Ordnung besteht darin, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung die Einheit der Unterscheidung einer Beobachtung ›sieht‹ – sowohl, was der Beobachter erster Ordnung ›sehen‹ kann, wie auch, was ihm mit der unmarkierten Seite der Unterscheidung entgeht (Luhmann 2002a: 156). Dadurch vermag eine Beobachtung zweiter Ordnung das kontingent zu setzen, was für die Beobachtung erster Ordnung als evident gilt. Oder um es in den Worten von Peter Fuchs zu formulieren: 6 7 Luhmann hat seine Beobachtungstheorie auf der Basis des Formkalküls von George Spencer-Brown (1999 [1969]) erarbeitet (Luhmann 2002a: 70ff.; vgl. Baecker 2002). In der Systemtheorie von Luhmann nimmt Beobachtung die Position eines Leit- und Letztbegriffs ein (Fuchs 2004: 11). Der Ausdruck ›Beobachter‹ verweist nicht notwendig auf einen Menschen oder ein bewusstseinsfähiges Subjekt (vgl. Luhmann 2002a: 147). Im vorliegenden Fall kann man beispielsweise den Film als Beobachter beobachten. 8 Auf der Beobachtungsebene erster Ordnung steht die Welt, die durch Beobachtungen inszeniert wird, ausser Frage. [...] Die Fraglichkeit der Welt wird instituiert auf der Beobachtungsebene der zweiten Ordnung. Sie ist ein Effekt des Umstandes, dass man Beobachtungen daraufhin beobachten kann, welchen Unterscheidungen sie sich verdanken. (Fuchs 2004: 21) Es handelt sich jedoch bei einer Beobachtung zweiter Ordnung auch immer um eine Beobachtung erster Ordnung, inklusive der unmarkierten Seite der getroffenen Unterscheidung und dem blinden Fleck. Auch sie ist »Beobachtung von Etwas« (Fuchs 2004: 17) – Beobachtung einer Beobachtung – und »erzeugt, was sie beobachtet« (Fuchs 2004: 14), ohne die Evidenz ihrer Beobachtung zugleich beobachten respektive kontingent setzen zu können. Das Potential sowohl der Diskursanalyse als auch der Beobachtungstheorie liegt im Abstraktionsgrad und in der Reichweite. Beide Ansätze ermöglichen, scheinbar verschiedenartige, ›konkrete‹ und aus Sicht einer Beobachtung erster Ordnung unhinterfragte Phänomene ins Auge zu fassen und zu analysieren – »Der Weg zum Konkreten erfordert den Umweg über die Abstraktion«, wie es Luhmann formuliert (2003: 10). Zudem erweisen sich meiner Ansicht nach die Diskursanalyse nach Foucault (2000) und die Beobachtungstheorie als höchst anschlussfähig. Der Begriff der Beobachtung mit seinen oben dargestellten theoretischen Implikationen lässt sich auf fruchtbare Weise an den Platz der Aussage im Sinne der ›Archäologie des Wissens‹ (Foucault 2000) stellen. Die Diskursanalyse gewinnt damit an Klarheit und besserer Anwendbarkeit auf ›konkrete‹ Phänomene wie beispielsweise Filme, wie ich gleich in aller Kürze darzustellen versuche.8 Um die Ähnlichkeit des Aussage- und des Beobachtungsbegriffs herauszustellen, will ich zeigen, was Foucault unter Aussage, Diskurs, Diskursanalyse und Subjektposition versteht und in welchen Aspekten der Beobachtungsbegriff anschliessen und meines Erachtens einen fruchtbaren Ersatz bieten kann. Foucaults Begriff der Aussage entspricht weder dem grammatikalischen Satz noch dem Sprechakt oder der Proposition der Logik (Foucault 2000: 126). Die Aussage steht für die einer Zeichenmenge eigenen Existenzmodalität. Es kann sich bei der Zeichenmenge um einen Satz, einen Sprechakt, eine Proposition oder generell eine Äusserung handeln (Foucault 2000: 155). Den Aussagebegriff als einen Strukturbegriff ablehnend, schreibt Foucault (2000: 126): »[S]ie ist eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist und von der ausgehend man dann durch die Analyse oder die Anschauung entscheiden kann, 8 Selbstverständlich bildet mein Vorschlag nur einen von vielen, in denen Foucaults Diskursanalyse auf die eine oder andere Weise einer spezifischen Lektüre und Umformung unterzogen wird (z.B. Keller et al. 2001; Diaz-Bone 2006). Meine Ausführungen zur Verbindung von Foucault'scher Diskursanalyse und Luhmann'scher Systemtheorie lehnen sich an die Foucault-Luhmann-Debatte an, in der die ›Kompatibilität‹ der beiden Denkansätze geprüft wird (vgl. Parr 2003; Link 2003; Reinhardt-Becker 2004; Stäheli 2004; Borch 2004; auch Andersen 2003). 9 ob sie einen ›Sinn ergeben‹ oder nicht, gemäss welcher Regel sie aufeinanderfolgen und nebeneinanderstehen«. In diesem Sinne bildet eine Aussage die Bedingung der Möglichkeit einer Äusserung. Ein Problem mit dem Begriff ›Aussage‹ besteht meines Erachtens darin, dass er mit anderen Sprachbegriffen (Äusserung, Satz u.a.) verwechselt werden kann.9 Setzt man nun den Beobachtungsbegriff, wie er oben skizziert wurde, an die theoretische Stelle des Aussagebegriffs, können nicht nur Verwechslungen mit den Begriffen des Satzes, der Äusserung oder der Formulierung vermieden werden. Der Beobachtungsbegriff in seiner formalen Konzeption als Unterscheiden/Bezeichnen erlaubt auch eine Erweiterung des Zugriffsbereichs. Wo Foucaults Aussage ›nur‹ die Möglichkeitsbedingung von (sprachlichen, schriftlichen) Äusserungen oder Formulierungen zu betreffen scheint, eignet sich der Beobachtungsbegriff ebenso für Visuelles (visuelle Unterscheidung/Bezeichnung).10 Für die Filmanalyse bedeutet dies, dass sowohl sprachliche Äusserungen als auch die einzelnen Filmeinstellungen durch Beobachtungen bedingt sind, welche beobachtet werden können. Foucault stellt der Aussage keinen Autor voran, sondern analysiert diesen als Effekt der Aussage. In gleicher Weise ist in der Beobachtungstheorie der Beobachter denkbar.11 Aussagen zu analysieren bedeutet für Foucault nicht, »die Beziehungen zwischen dem Autor und dem, was er gesagt hat (oder hat sagen wollen oder, ohne es zu wollen, gesagt hat) zu analysieren; sondern darin, zu bestimmen, welche Position jedes Individuum einnehmen kann und muss, um ihr Subjekt zu sein« (Foucault 2000: 139; meine Herv.; vgl. auch Foucault 2001b). Die Diskursanalyse setzt demnach nicht beim Autor einer Formulierung oder einer Sprecherin und deren Intentionen an, sondern geht den umgekehrten Weg über die Aussagen hin zu den möglichen Subjektpositionen in einem Diskurs. Beobachtungstheoretisch formuliert, beobachtet die Diskursanalyse Beobachtungen nicht nur hinsichtlich der getroffenen Unterscheidungen und Bezeichnungen, sondern auch in Bezug auf die unmarkierten Seiten und die Beobachter. Durch den Beobachtungsbegriff wird deutlich, was in Foucaults Konzeption der Aussage und des Autors implizit enthalten ist, aber unbeobachtet bleibt: der Autor bzw. der Beobachter ist Effekt einer »Zurechnung von Beobachtungen auf jemanden oder etwas – durch Beobachtung« (Fuchs 2004: 15). Das heisst, dass durch eine Diskursanalyse – das Beobachten von z.B. filmischen Beobachtungen – Beobachtungen den Beobachtenden und damit deren Position in einem Feld von Beobachtungen zugerechnet werden. Im vorliegenden Fall der Filmanalysen interessiere ich mich jedoch nicht für die Zurechnung der filmischen Beobachtungen auf die Filmemacher (RegisseurInnen, ProduzentInnen, 9 10 11 Da hilft das Begriffspaar »seriöser Sprechakt« von Dreyfus und Rabinow (1994) auch nicht wesentlich weiter. Später z.B. in »Überwachen und Strafen«, besonders im Kapitel zum Panoptismus, misst Foucault dem Visuellen in Form der Techniken der Sichtbarkeit mehr Bedeutung zu (2001a [1975]: 256ff.). Hier lässt sich eine Gemeinsamkeit von Diskursanalyse und Systemtheorie konstatieren, nämlich die »Dezentrierung des Subjekts« (Stäheli 2000: 48) oder, wie es Luhmann formuliert, »post-humanistic perspective« (1986: 4). 10 DrehbuchschreiberInnen, SchauspielerInnen etc.). Es sind die Beobachtungen innerhalb des Film, welche eine fiktionale Realität und damit auch Subjektpositionen innerhalb dieser ›Welt‹ konstituieren, die es zu beobachten gilt (ich nehme demnach eine ›Produktanalyse‹ fertiggestellter Filme vor, vgl. Faulstich 2002: 63). Der Begriff des Diskurses – Foucault verwendet in der ›Archäologie‹ vielfach die Bezeichnung ›diskursive Formation‹ – bezeichnet das Feld von Aussagen, die aneinander anschliessen können. Er stellt ein »angeschlossenes Feld« dar, das »ein Gebiet der Koexistenz für andere Aussagen ist« (Foucault 2000: 167). Damit ist auch gesagt, dass es keine neutrale oder unabhängige Aussage gibt. Um überhaupt als eine solche gelten zu können, muss eine Aussage an andere Aussagen anschliessen und Anschlüsse bieten (Foucault 2000: 144). Das Feld der anschlussfähigen Aussagen, also der Diskurs, ist »ein Raum mannigfaltiger Entzweiungen; eine Menge verschiedener Gegensätze, deren Ebenen und Rollen zu beschreiben sind« (Foucault 2000: 222) und nicht der »glatte Text, der unter der Multiplizität der Widersprüche einherläuft und sie in der stillen Einheit eines kohärenten Denkens auflöst« (Foucault 2000: 222). Der Ausdruck »Raum mannigfaltiger Entzweiungen« scheint mir nahe an dem, was unter Beobachtung verstanden wird. Diskurs kann ohne Weiteres, und dies mit einem handhabbareren Begriff, als Raum von anschlussfähigen Beobachtungen betrachtet werden. Ein Diskurs ist demnach ein Feld von Unterscheidungen, die aneinander anschliessen. Je nach bezeichneter Seite einer Unterscheidung, wird eine bestimmte Beobachter-/Subjektposition durch eine Beobachtung in diesem Feld angewiesen. Gerade am Beispiel der Beobachtungen des Films kann die Anschlussfähigkeit hervorgehoben werden. Um überhaupt von einem Film sprechen zu können (und ihn damit von anderen medialen Produkten oder Dingen unterscheiden zu können), müssen mehrere Bilder aneinandergereiht und zu einzelnen Sequenzen und Szenen gruppiert sein. Erst durch eine Bildsequenz entsteht die Möglichkeit, einen Realitätseindruck zu erzeugen (Baecker 1996: 571; vgl. auch Metz 1972). Es braucht jedoch mehr als nur eine Serie von zusammengeschnittenen Bildern, damit das Publikum einen Film versteht. Nun kommt wieder die Beobachtung ins Spiel: Die Beobachtungen des Films müssen nicht nur innerhalb des Films – d.h. der fiktionalen Realität – anschlussfähig sein, sondern ebenso in Bezug auf die reale Realität. Würde ein Film keine anschlussfähigen Beobachtungen in Form von Bildern, Narrativen, Dialogen etc. liefern, könnte das Filmpublikum nicht verstehen, worum es im Film geht (Luhmann 2004: 99). Oder, um es anders zu formulieren: Die fiktionale Realität des Films lässt sich erst dann nachvollziehen, wenn sie sich von der realen Realität ›irritieren‹ lässt und dadurch Anschlussfähigkeit gewährleistet. Zugleich ›irritieren‹ Filme die reale Realität des Filmpublikums, wodurch filmspezifische Beobachtungen, gesamte Diskurse oder Realitäten zu mehr Anschlussfähigkeit gelangen (vgl. Luhmann 2004: 176). Man denke etwa an das Science-Fiction-Genre, das in vielerlei Hinsicht nicht dem entspricht, was in der 11 realen Realität beobachtet wird; und trotzdem konnte es sich als anschlussfähiges Genre etablieren.12 Die gegenseitige ›Irritation‹ von Film und Realität besteht nicht etwa in der gegenseitigen ›Berührung‹ oder direkten Beeinflussung. Irritation bezeichnet die Fremd- und Selbstbeobachtung, welche Filmbeobachtungen ›quer‹ mitlaufen lassen. Die Fremd/Selbstreferenz macht im Film die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion. Dasselbe geschieht in der realen Realität. Nach Luhmann liegt der Unterhaltungswert gerade in der filmischen Fremdreferenz in Hinblick auf Realität und Fiktion: »[E]s ist vor allem die Richtung der Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität, die den Unterhaltungswert der Unterhaltungskommunikation produziert« (Luhmann 2004: 114). Doch nicht nur der Film unterscheidet zwischen realer und fiktionaler Realität, sondern ebenso geschieht diese Beobachtung in der realen Realität durch das Publikum (Luhmann 2004: 102) – anders als noch in den Anfängen des Films, Ende des 19. Jahrhunderts, als das Medium Film auf Grund seiner damals noch unbekannten Wirklichkeitstreue schockartige Wirkungen im Publikum hervorrief (z.B. in Filmen der Gebrüder Lumière; Kracauer 2003 [1960]: 57; Lapsley und Westlake 1994: 156). Auf die Frage an TätowiererInnen und Tätowierte, ob sie sich an den einseitigen, d.h. oftmals kriminalisierenden Darstellungen tätowierter Menschen im Film nicht stören würden, bekam ich von allen befragten Personen in etwa die gleiche Antwort: Sie nehmen keinen Anstoss daran, vielmehr finden sie es amüsant (›Unterhaltungswert‹), dass häufig die ›Bösen‹ im Film tätowiert sind. Darüber hinaus sind sie, und ihres Erachtens ebenso allgemein das Publikum, sich über den Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit im Klaren. Dass in Filmen oft Kriminelle tätowiert seien, so die Antwort einiger der Befragten, bedeute nicht automatisch dasselbe für die Realität – sonst wären an den Tattoo-Conventions ausschliesslich Kriminelle anzutreffen. Nach diesem Einschub komme ich wieder auf die analytisch-theoretischen Begriffe zurück. Wenn schon von Luhmanns Systemtheorie und dessen Beobachtungsbegriff die Rede ist, warum dann nicht auch gleich den Luhmann'schen Begriff der Semantik verwenden?13 Mit dem Diskursbegriff zu arbeiten, bringt den Vorteil, Felder von Beobachtungen und die mit diesen einhergehenden Themen und Gegenstände fassen zu können, 12 13 Dirk Baecker schreibt zu diesem Aspekt: »The western, the drama, the comedy, the horror film, the thriller, the porn film, the adventure, and, of course, the avant-garde film are bundles of conventions linking audience and cinema together in an agreement about which realities may be shown by which elements of fiction. [...] They establish expectations, and they play with certain violations of the expectations they have established, but in the long run they become traditions of themselves, thereby providing both film-makers and audience only with the distinction between reality and fiction that was appropriate to states of fiction and reality at the time they were established« (1996: 574; meine Herv.). Luhmann kritisiert im Vorwort zur englischen Ausgabe von ›Liebe als Passion‹ Foucaults Diskursbegriff, weil dieser keinen Bezug zur restriktiven Sozialstruktur habe (1986: 2; vgl. auch Stäheli 2004: 14). Stäheli (2006) zum Beispiel bringt sowohl den Diskurs- als auch den Semantikbegriff in seiner Analyse des Populären der Ökonomie zum Einsatz. Vgl. zu den zwei Begriffen auch Reinhardt-Becker (2004). 12 ohne aber damit eine enge Verbindung mit einer Sozialstruktur herstellen zu müssen. Denn der Semantikbegriff Luhmanns hängt stark mit der jeweiligen Sozialstruktur zusammen. Ein Beispiel einer solchen engen Verbindung stellt die Inklusions/Exklusions-Semantik der Barbarei bei den Griechen der Antike dar, die zwischen Hellenen und Barbaren unterschieden. Diese Semantik war eng an die segmentäre Sozialstruktur gekoppelt, was bedeutet, dass Hellenen zum sozialen System der Griechen gehörten, die Barbaren jedoch nicht bzw. dass diese lediglich in der Systemumwelt vorkamen. Mit dem Wandel zur stratifikatorischen und schliesslich zur funktional differenzierten Gesellschaft hat sich diese Kopplung aufgelöst, da sich die Inklusion/Exklusion nun auf die Funktionssysteme verlagert hat. Dadurch entstanden neue Semantiken der Inklusion/Exklusion (vgl. Luhmann 1995b). Gerade für die Beobachtung des Tätowierens erscheint mir der Diskursbegriff besser geeignet, handelt es sich dabei doch um ein Phänomen, das keineswegs etwa nur einem sozialen Teilsystem zuzuordnen wäre. Vielmehr findet es in/durch verschiedenste/n Diskurse/n Beachtung und wird mit je diskursspezifischen Beobachtungen in Erscheinung gebracht. Im Sinne des oben ausgeführten Diskursbegriffs knüpft nun die Diskursanalyse am »Raum mannigfaltiger Entzweiungen« an und arbeitet die Unterschiede heraus, um zeigen zu können, »worin sie genau bestehen, und sie zu unterscheiden« (Foucault 2000: 243; Herv. i. Orig.). Damit konzipiert Foucault die Diskursanalyse als »eine differentielle Analyse der Modalitäten des Diskurses« (2000: 199) oder, als Unterscheiden von Unterscheidungen eines Diskurses auf der Ebene der Aussagen. Foucaults »Diskurs über Diskurse« (2000: 292)14 hat »die Unterschiede zu machen: sie als Objekte zu konstituieren, sie zu analysieren und ihren Begriff zu definieren« (2000: 293; Herv. i. Orig.). Die Diskursanalyse zeichnet sich durch die Beobachtung zweiter Ordnung aus, welche die Unterscheidungen erster Ordnung zu unterscheiden/zu bezeichnen hat und diese dabei konstituiert (vgl. Fuchs 2004: 14). Der Titel meiner Arbeit »Tätowierungen und Tätowierte im Film beobachtet« spielt auf diese Unterscheidung der Beobachtungsebenen im doppelten Sinn an: Zum einen beobachten Filme Tätowierungen und Tätowierte, zum anderen beobachtet die Diskursanalyse diese Filmbeobachtungen.15 Foucault (2000: 159) betont, dass eine solche Analyse keine andere Möglichkeit hat, als sich »auf gesagte Dinge, auf Sätze, die wirklich ausgesprochen oder geschrieben worden sind, auf Bedeutungselemente, die geschrieben oder artikuliert worden sind« zu beziehen. In anderen Worten heisst das, dass sich die Diskursanalyse auf verwirklichte Aussagen beruft (2000: 145ff.). Meine Diskursanalyse 14 15 Entgegen der von Foucault behaupteten ›Ortlosigkeit‹ seines »Diskurs[es] über Diskurse« (2000: 292; vgl. Stäheli 1995: 375), lässt sich mit der beobachtungstheoretischen Erweiterung der ›Ort‹ des Diskursanalytikers/Beobachters in Relation zu den analysierten Diskursen als Beobachter zweiter Ordnung bestimmen – und damit auch seine Relationalität verdeutlichen. Die Idee der Doppeldeutigkeit des Titels ist durch die Lektüre Luhmanns entstanden, der immer wieder Heinz von Foersters Buch »Observing Systems« (1984 [1981]) im Hinblick auf diese Doppeldeutigkeit zitiert (›beobachtende Systeme‹ und ›Systeme beobachten‹). 13 untersucht also Filme im Sinne von Beobachtungen erster Ordnung, die sich in der Form des Gesprochenen, des Visuellen, der Montage u.a. beobachten lassen.16 16 Dirk Baecker (1996) beschäftigt sich demgegenüber in Bezug auf Film mit der Frage nach der Kommunikation. Er kommt zum Schluss, dass Filme nicht kommunizieren, dennoch viel über Kommunikation erzählen (1996: 576). 14 I Markierungen der Tätowierung Im ersten Teil der Arbeit wende ich mich primär der Tätowierung als Bild auf der Haut zu. Es gilt zum einen, die leitenden Beobachtungen, denen Tätowierungen im Film ihre Existenz verdanken, im Vergleich mit denjenigen der Realität zu diskutieren. Ich werde zeigen, dass diese Beobachtungen den Eigenschaften des Mediums Film entsprechend verwirklicht werden und sich zuweilen stark von den realen Beobachtungen unterscheiden. Zum anderen betrachte ich den Kunstdiskurs über das Tätowieren, der in den letzten Jahrzehnten zunehmend Einzug in den realen Diskurs gehalten hat. Nach der Diskussion der leitenden Unterscheidungen des Kunstdiskurses analysiere ich Filme auf diese Beobachtungen und genereller den Einfluss des Kunstdiskurses hin. Ich werde mit den wenigen Beispielen zeigen können, dass der Kunstdiskurs noch kaum in Filmen Fuss gefasst hat respektive als konstitutiver Diskurs des Tätowierens Geltung beanspruchen kann. 3 Leitbeobachtungen Eine Tätowierung stellt weder in der (realen) Realität noch im Film ausschliesslich Farbpartikel unter der menschlichen Haut dar – ein Ding für sich, ohne jegliche diskursiven ›Anschlüsse‹. In den unterschiedlichen Diskursen bilden Tätowierungen stets Anlass zu mehr als der Beobachtung, die eine Tätowierung bezeichnet (und sie von der Haut unterscheidet). Tätowierungen stehen für etwas, be-deuten, erzählen Geschichten17, sind Ausdruck von etwas – d.h., sie sind in Bezug auf etwas oder auf jemanden hin lesbar. Mit der Beobachtung der Lesbarkeit gebe ich die Bedingung des ›Bedeutens‹ etc. von Tätowierungen an. Die Lesbarkeit bildet die bezeichnete Seite einer Unterscheidung, die in verschiedenen Diskursen anschlussfähig ist. Darin liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Diskurse der realen und fiktionalen Realitäten, in denen Tätowierungen beobachtet werden.18 Gerade für die betrachteten Filme erweist sich die Lesbarkeit als eine von zwei Leitbeobachtungen, an die alle anderen Beobachtungen anschliessen. 17 18 Beelers Analyse der Narrative basiert etwa auf der Annahme, dass »the power of the tattoo lies in its ability to generate countless stories and multiple truths« (2006: 12), womit die Lesbarkeit der Tätowierung unhinterfragt bleibt. In einem Artikel im TätowierMagazin (2004/1:130–134) mit dem Titel »Skurrile Tattoo Motive« wird die Lesbarkeit von Tätowierungen thematisiert. Bei originellen, d.h. einzigartigen und vielfach skurrilen Tätowierungen sei es schwerer, die ›Botschaft‹ oder den ›Sinn‹ herauszulesen oder zu verstehen. 15 Die andere Leitbeobachtung scheint mir selbst noch die Leitbeobachtung der Lesbarkeit anzuleiten und erweist sich gerade für die filmische Konstruktion der Tätowierung als notwendige Bedingung (was jedoch nicht auch für die reale Realitätskonstruktion so sein muss). Ich meine die Bezeichnung der Sichtbarkeit der Tätowierung und die durch diese bedingte visuelle Konstruktion im Film. 3.1 Die Selbstverständlichkeit sichtbarer Tätowierungen Es ist dem Medium Film eigen, dass es Personen, Gegenstände, Situationen und dergleichen in bewegte Bilder bannt, also visualisiert. Geht man davon aus, dass diese Visualisierungen durch Beobachtungen bedingt sind, verschiebt sich die Frage dahin, wie Personen, Gegenstände oder eben Tätowierungen beobachtet werden. Anders als dies in der realen Realität der Fall zu sein scheint, gibt die Sichtbarkeit der Tätowierung den Ausschlag für deren filmische Konstruktion. Was wäre, wenn Tätowierungen in Filmen nicht gezeigt würden, sie also nicht im Medium Film in Szene gesetzt würden? Für die Thematisierung von Tätowierungen – sei sie sprachlicher, visueller oder narrativer Art – ist der Film auf die Sichtbarkeit der Tätowierung angewiesen – selbst dann noch, wenn sie alleine Gegenstand sprachlicher Auseinandersetzung ist. Das Medium Film profitiert in zweierlei Hinsicht von der Möglichkeit, Tätowierungen sichtbar machen zu können: Erstens zeichnet das Visuelle unter anderem das Medium Film aus und zweitens besteht eine Tätowierung in der visuellen Unterscheidung zwischen Tätowierung und Haut (wobei die Tätowierung die bezeichnete Seite darstellt).19 Gegenüber etwa der Untersuchung eines nur schwer visualisierbaren Phänomens wie zum Beispiel der Finanzökonomie (Verdicchio 2006) oder der ›weiblichen Lust‹ (Williams 1989), birgt die filmische Auseinandersetzung mit Tätowierungen den Vorteil, dass sie durch ihren visuellen Charakter beobachtbar sind bzw. in gewissem Sinne »Oberflächen« (Verdicchio 2006: 58) bieten, die im Film dargestellt werden können. Kurz: Die filmische Beobachtung der Tätowierung baut auf deren Sichtbarkeit auf und wird für die spezifisch filmische Konstruktionsweise weiterverarbeitet. Wie selbstverständlich die Beobachtung (erster Ordnung) der Sichtbarkeit in der Darstellung von Tätowierungen ausfällt, macht der Vergleich verschiedener Filme deutlich: In XXX hat der Extremsportler und selbst erklärte Kriminelle Xander Cage drei stilisierte ›X‹ im Nacken; die ornamentalen Tätowierungen in den drei Blade-Filmen breiten sich im Nacken, auf dem Hinterkopf und im letzten Film auf den Wangen des Protagonisten Blade aus; in From Dusk Till Dawn hat der Kriminelle Seth Gecko über den gesamten linken Arm eine ornamentale Tätowierung, deren Spitzen auf der linken Seite des Halses enden; in Shadow Hours steht das Wort ›BZAR‹ (›Bizarre‹) auf den Finger- 19 Darin liegt eine Gemeinsamkeit mit anderen visuellen Medien, z.B. der Fotografie. Lombrosos Arbeit profitierte genauso von den visuellen Darstellungsmöglichkeiten der Tätowierungen mitttels der Fotografie und von Zeichnungen, wie es dem Film zugute kommt (vgl. die Darstellungen in Lombroso 1896 und Delarue und Girard 1950). 16 gliedern eines ehemaligen Drogenabhängigen (und im S/M-Nachtclub sind Gesichtstätowierungen zu sehen), und in Blues Brothers sind es in gleicher Weise die auf die Fingerglieder tätowierten Namen ›Jake‹ und ›Elmond‹ der Brüder Blues; und schliesslich besitzt der Soldat Todd in Soldier auf der linken Wange eine militärisch bedeutsame Tätowierung mit Nummern und Symbolen. Ähnliche Tätowierungen lassen sich auch bei Personen in Nebenrollen beobachten, denn diese sind in den meisten Fällen immer zu sehen, wenn die jeweilige Person im Bild ist. In der filmischen Darstellung der Tätowierungen spielen Detailaufnahmen der tätowierten Haut- oder Körperpartien eine wichtige Rolle. Sie dienen zum Beispiel zur erstmaligen Einführung des Protagonisten (XXX, Blues Brothers) oder als visueller Hinweis auf eine Person und deren soziale Zugehörigkeit (A Man Apart, National Security). Dabei verdeutlichen die Detailaufnahmen von Tätowierungen oftmals die Entdeckung der Tätowierung aus Sicht einer Person (subjektive Kamera) oder aber ermöglichen dem Filmpublikum eine Sichtweise, die etwa dem Protagonisten verwehrt ist und dadurch zur Erhöhung der Spannung beiträgt. Die Beispiele machen deutlich, dass Tätowierungen an Stellen platziert werden, die der Sichtbarmachung durch die Kamera Vorschub leisten. In den Fällen, in denen Tätowierungen vorhanden, jedoch beispielsweise durch lange Haare (Dark Angel) oder Kleidung (American Yakuza, X-Men-Trilogie) die meiste Zeit verdeckt sind, spielt das Aufdecken bzw. Entblössen einer Tätowierung eine wichtige visuelle und narrative Rolle: In Dark Angel werden die Haare der Protagonistin durch eine andere Person mit der Hand auf die Seite geschoben, damit die Strichcode-Tätowierung zum Vorschein kommt. Das gewaltsame Aufreissen des Hemdes eines Yakuza-Mitglieds durch einen Polizisten bildet in Filmen über die japanische Yakuza die gängigste Art der Aufdeckung von gruppenspezifischen Tätowierungen (American Yakuza, Showdown in Little Tokyo). Im Gegensatz zur Aufdeckung und Sichtbarmachung einer Tätowierung durch andere Personen entblösst in X-Men der Bösewicht Magneto seine Nummerntätowierung auf dem Arm für sich selbst, was durch eine Detailaufnahme aus Magnetos Perspektive eingefangen wird. Die Beobachtung der Sichtbarkeit wirkt sich auf die filmische Inszenierung der Tätowierung aus, wie die aufgeführten Beispiele veranschaulichen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn eine sprachlich thematisierte Tätowierung visuell als solche nicht mehr zu erkennen ist. Eine Szene im Film Bird on a Wire baut genau auf der Abwesenheit einer sprachlich thematisierten Tätowierung auf. Der Protagonist Rick Jarmin hat in einem Gerichtsprozess mit seinen Zeugenaussagen zur Inhaftierung eines (tätowierten) Kriminellen beigetragen. Seitdem steht er unter einem Zeugenschutzprogramm, in dem er immer wieder seinen Namen und seine Identität wechseln musste. Unterdessen ist der von Rick Jarmin belastete Kriminelle entlassen worden und versucht Jarmin zu töten. Es sind jedoch nicht die Auftragsmörder, die Jarmin als erste in seiner falschen Identität entlarven, sondern seine ehemalige Verlobte Marianne Graves. Sie erkennt beim Tanken im Tankwart ihren ehemaligen Freund Rick Jarmin, der plötzlich verschwand. Auch er erkennt sie, versucht aber seine Identität vor ihr zu verbergen und gibt sich als Billy 17 Ray aus. Um ihn zu enlarven, bittet sie ihren ehemals Verlobten darum, ihr seinen rechten Oberarm und damit seine Tätowierung einer Taube zu zeigen. Als Rick Jarmins Verweigerung der Bitte nicht funktioniert, zeigt er ihr den Oberarm. Statt einer tätowierten Taube ist eine vernarbte Hautstelle zu sehen. Marianne Graves lässt ihn daraufhin vorerst in Ruhe. Kurze Zeit später gibt sich Billy Ray Marianne Graves doch noch als Rick Jarmin zu erkennen und verrät ihr, dass er die Tätowierung habe entfernen lassen (daher die vernarbte Haut). Der Film beobachtet insofern die Sichtbarkeit der Tätowierung, als er die Möglichkeit, eine Tätowierung zu sehen, als selbstverständlich voraussetzt. Die potentielle Identifizierung von Rick Jarmin anhand der tätowierten Taube bildet den Angelpunkt der Szene. Abb. 1: Sichtbares ›Tribal‹ am Hals in From Dusk Till Dawn Die filmische Beobachtung der Sichtbarkeit, welche die Visualisierung der Tätowierung ermöglicht, erweist sich in den meisten Fällen als evident, nicht in Frage gestellt. Aber im Hinblick auf die reale Konstruktion der Tätowierung, beispielsweise im SzeneDiskurs20 der Tätowierten, kann die Beobachtung der Sichtbarkeit in ihrer Kontingenz beobachtet werden. Die Kritik im Szene-Diskurs an den Filmen XXX, From Dusk Till Dawn (vgl. Abb. 1) oder jenen der Blade-Trilogie betrifft nicht unbedingt die Motive, die Machart oder die Qualität der dargestellten Tätowierungen (es ist z.B. allgemein bekannt, dass die meisten Tätowierungen in Filmen nicht wirklich gestochen wurden, sondern ›body paintings‹ sind; vgl. Warneck und Ulbrich 2001: 89). Die Kritik bezieht sich auf die stets sichtbare Platzierung von Tätowierungen auf Händen, Hals und Kopf – der »public skin«, wie sie Sanders (1989: 78) nennt – und beobachtet damit die Sichtbarkeit der Tätowierungen in Filmen (in der theoretischen Einleitung nannte ich dies die Irritation zwischen fiktionaler und realer Realitätskonstruktion). Es ist die Selbstverständlichkeit der filmischen Sichtbarmachung von Tätowierungen, die thematisiert wird. Ein Beispiel aus der bedeutenden deutschen Tätowierzeitschrift ›TätowierMagazin‹ verdeutlicht die filmische Irritation im Szene-Diskurs: Nach dem Start von Blade II 20 Der Szene-Diskurs kann mit jener Gruppe von Tätowierten verglichen werden, die Margo DeMello für die USA als »highbrow« (Künstler, Mittelschicht etc.) in Abgrenzung zum »lowbrow«-Diskurs (Biker, ›working-class‹ etc.) bezeichnet (vgl. DeMello 2000: 109). 18 steht im Editorial der Zeitschrift, »dass die Präsenz von Tattoos in Werbung, VideoClips und eben auch Kinofilmen eine Selbstverständlichkeit suggeriert, die tatsächlich in dieser Form in unserer Gesellschaft nicht gegeben ist« (TätowierMagazin 2002/7: 3). Die Divergenz zwischen realer und fiktionaler Realität bezüglich der stets sichtbaren Tätowierungen wird betont hervorgebracht, wobei die sozialen Effekte solcher Tätowierungen in der realen Realität negativer veranschlagt werden als jene im Film. In den negativen Effekten stets sichtbarer Tätowierungen besteht ein wesentlicher Grund für viele TätowiererInnen, ihren KundInnen keine solchen Tätowierungen zu stechen – sie wollen die soziale Stigmatisierung bzw. Exklusion nicht mitproduzieren, um nicht selbst in Verruf zu geraten (vgl. DeMello 2000: 197, Fn.2 Kap. 1).21 Eine Szene im Film Biker Boyz bildet für die in Filmen übliche Beobachtung der Sichtbarkeit eine Ausnahme. Sie steht selbst im Film alleine, in dem ansonsten, wie oben beschrieben, die Sichtbarkeit der Tätowierung die Inszenierung anleitet. Den Kern des Filmnarrativs bilden unterschiedliche Motorrad-Clubs in Kalifornien, die sich untereinander regelmässig Strassenrennen liefern. Wie dies auch in der realen Realität für Mitglieder von Motorradclubs charakteristisch ist,22 sind im Film die meisten MotorradfahrerInnen tätowiert und zeigen ihre Tätowierungen an den Club-Treffen. An einem solchen Treffen spricht die Tätowiererin Tina mit einem Biker des Motorradclubs ›Strayz‹. Diesem hat sie vor Kurzem eine Tätowierung gestochen und überprüft nun den Heilungsprozess. Nachdem beide übereinstimmend die Tätowierung für gut gestochen befinden, meint der leicht angetrunkene Biker zu Tina: »Yo, I need you to hook me up. I got this new girl who wanna get a tattoo, right?« Er fährt nach einem bejahenden ›uhhuh‹ von Tina fort und sagt: »She wanna put my name on her cheek.« Darauf erwidert Tina sogleich in besorgtem und fragendem Ton: »I take it you don't mean on her face.« Der Biker antwortet auf Tinas Besorgnis lachend: »You know how I do – I got to brand my women. Right on their ass.« Tina ist auch von dieser Körperstelle nicht sonderlich begeistert und geht weg. In einer späteren Szene tätowiert Tina trotz ihrer Reaktion im Gespräch mit dem Biker dessen Namen auf die Pobacke seiner Freundin. Die vorerst unklare Hautstelle (»cheek«), die der Biker für die Tätowierung nennt, weckt Tinas Besorgnis, es könnte sich um die Wange im Gesicht handeln. Tina formuliert es jedoch so, als sei selbstverständlich, dass nicht das Gesicht gemeint ist. Doch auch die Bitte um eine Tätowierung auf die Pobacke, wie sie vom Biker im Grunde gemeint war, scheint sie im Gespräch nicht sonderlich zu billigen. Die vorliegende Beobachtung entspricht für einmal jener des realen Szene-Diskurses, in welchem die 21 22 Sanders gibt hierzu die Aussage eines Tätowierers wieder: »This guy came in and wanted me to tattoo something on his forehead. I refused to do that. Large designs on people's faces ... I don't think the world is ready to accept that yet ... unless you are a Maori chief. The society doesn't accept it and I don't want my name associated with something like that.« (1989: 145). Sanders (1989: 52) zitiert eine tätowierte Frau aus der Biker-Szene: »The typical biker would tell you that you almost have to have tattoos to be part of the group.« Vgl. auch Schouten und McAlexander (1995: 49ff.). 19 evidente ›Unsichtbarkeit‹ der Sichtbarkeit einer Tätowierung auf der ›public skin‹ vorgezogen wird. Die Sichtbarkeit einer Tätowierung erweist sich in realen Diskursen vielfach als problematisch, gerade wenn es sich um jene Körperpartien handelt, die nur schwer verborgen werden können. Selbst in Kreisen von stark Tätowierten läuft die Beobachtung der Sichtbarkeit darauf hinaus, dass die ›public skin‹ auf Grund potentieller (und vielfach auch aktueller) sozialer Konsequenzen nicht tätowiert werden sollte (vgl. Irwin 2003: 37f.). Doch in Filmen fällt die Beobachtung in der Regel zugunsten der Seite der Sichtbarkeit aus. Die Beobachtung erster Ordnung des Films instituiert die Selbstverständlichkeit der sichtbaren Tätowierung (vgl. Fuchs 2004: 21). Mit welcher Selbstverständlichkeit die zweite Leitbeobachtung, die Beobachtung der Lesbarkeit, die Inszenierung der Tätowierung in Filmen anleitet, diskutiere ich im nächsten Abschnitt. 3.2 »Could you teach me how to read that?« – Die Lesbarkeit der Tätowierung Der Film Waterworld entwirft eine Zukunft, in der die Erde nach der Polkappenschmelze eine ›Wasserwelt‹ ist und die Menschen auf Schiffen und schwimmenden Festungen hausen. Die einzige Karte, die den Weg nach dem ersehnten trockenen Land (›Dryland‹) weist, tritt in Form einer tätowierten ›Karte‹ mit dazugehörigen Koordinaten auf (Abb. 2). Die Tätowierung besteht aus einem ausgefüllten Kreis, an dessen oberem Rand zwei ›Berge‹ in ihren Konturen hervorragen. Im Innern des Kreises wurde ein geschwungener Pfeil in Richtung der Berge und zu beiden Seiten des Pfeils Schriftzeichen ausgespart (also nicht tätowierte Haut). Zu beiden Seiten des Kreises stehen, diesmal tätowiert, je drei weitere Schriftzeichen, bei denen es sich womöglich um japanische Zeichen handeln könnte. Die Problematik, die sich durch den ganzen Film hindurch zieht, besteht darin, die richtige Lesart der tätowierten Karte und damit den Weg nach ›Dryland‹ herauszufinden. Denn die Überflutung der Erde liegt zu lange zurück, als dass die Menschen noch die alten Schriftzeichen kennen könnten, geschweige denn über die versunkenen Landmassen Bescheid wüssten. Abb. 2: Enolas Rückentätowierung in Waterworld 20 In dieser vom Meer bedeckten Welt wollen alle Menschen nach ›Dryland‹, dem lange ersehnten und gelobten trockenen Land. Enola, ein kleines Mädchen, trägt die Tätowierung der Karte auf ihrem Rücken und wird deshalb zu einer begehrten Person. Obwohl es bis kurz vor Filmschluss niemandem gelingt, die Schriftzeichen zu entziffern und zu lesen, und nur Vermutungen darüber bestehen, dass die Tätowierung den Weg nach ›Dryland‹ zeige, wird Enola dennoch auf Grund ihrer Tätowierung als wertvoll erachtet. Besonders die ›Smoker‹, eine Gruppe von stark bewaffneten ›Piraten‹, haben es auf Enolas Tätowierung abgesehen. Das Mädchen wird bei ihnen zu einem quasi-religiösen Objekt, mit dessen Hilfe ›Dryland‹ gefunden werden kann. Die ›Smoker‹ zelebrieren eine Art von Cargo-Kult, in dem Enolas Tätowierung als Karte nach ›Dryland‹ von grösster Bedeutung ist und Enola das ersehnte Gut der Erlösung darstellt. Doch die ›Smoker‹ sind ebenso unfähig, die Tätowierung richtig zu lesen, wie alle anderen, die einen Entzifferungsversuch unternommen haben. Als sie Enola gefangen nehmen können, sagt Deacon zu den anderen ›Smokers‹: »All we gotta do is figure out this map. Turn her upside down. Does that mean anything to you?« Weil die ›Smoker‹ nicht richtig mit der Tätowierung umzugehen wissen, befragt Deacon Enola über die Lesart der Karte: »Could you teach me how to read that?« Das Mädchen weiss jedoch nur so viel wie die Smoker, nämlich dass die Tätowierung den Weg nach ›Dryland‹ zeigt. Durch den Vergleich der tätowierten Schriftzeichen mit alten Zeitungsseiten gelingt schliesslich die Entzifferung der tätowierten Karte. Gregor, ein alter Mann, der mit Enola und ihrer Adoptivmutter Helen befreundet ist, kann die Tätowierung mit den Zeitungsseiten lesbar machen. Gregor findet heraus, dass es Koordinatenangaben alter Art sind und kann sie mit Hilfe eines alten Navigationsinstruments an der Sonne anpeilen. Die Gruppe um Enola stösst dank der richtigen Lektüre der Tätowierung auf ›Dryland‹. Dort treffen sie auf eine Hütte, in der nicht nur zwei menschliche Skelette auf einem Bett liegen, sondern auch ein Tätowierinstrument polynesischer Art und mit Enolas Tätowierung identische Vorlagen zu sehen sind. In Waterworld handelt es sich bei Enolas Tätowierung um die einzige im gesamten Film. Obschon die Zeichen in und um die Tätowierung, die Herkunft von Enola und auch der Grund der Tätowierung unbekannt sind, werden von allen dieselben Spekulationen über die tätowierte Karte angestellt – ob von Enolas Bekannten, den ›Smokers‹ oder gänzlich unbeteiligten Personen. Ein älterer Mann etwa, der um das begehrte ›Hydro‹ (Süsswasser) bittet, antwortet auf die Frage nach dem tätowierten Mädchen einem Smoker-Spion: »They say if you read the marks on the child, they'll lead ya all the way to Dryland.« Dass Enolas Tätowierung als Karte gelesen werden kann, scheint in der ›Wasserwelt‹ Allgemeinwissen zu sein. Es ist die Beobachtung der Lesbarkeit, welche die Möglichkeit der Spekulationen über die richtige Lektüre von Enolas Tätowierung bedingt. Der Film markiert die Lesbarkeit der Tätowierung und stellt sie somit nicht in Frage. Obschon bis zur Entdeckung von Festland ›Dryland‹ für viele als Mythos gilt – »Dryland's a myth«, meint etwa der Smoker-Spion –, werden unterschiedliche Versuche 21 unternommen, die Tätowierung Enolas im Sinne einer richtungsweisenden Karte zu entziffern. Die Entziffer- oder Lesbarkeit steht nie in Frage. Selbst der ›Mariner‹, der eigentliche Protagonist des Films, der ›Dryland‹ als Mythos bezeichnet, zweifelt nicht an der potentiellen Lesbarkeit der tätowierten ›Karte‹. Im Gespräch mit Enolas Adoptivmutter Helen scheint der ›Mariner‹ die potentielle Bedeutung der Tätowierung zu erahnen. Denn er fragt Helen: »What are those marks on her back?«, worauf Helen abweisend antwortet: »Nothing. They're just fanciful things.« Helen streitet zwar gegenüber dem ›Mariner‹ (vorerst) jegliche Bedeutung der Tätowierung Enolas ab, bestätigt jedoch gleichsam die Beobachtung der Lesbarkeit. Denn durch die Antwort, dass die Tätowierung (»those marks«) bzw. die potentiellen Schriftzeichen »just fanciful things« seien, wird die andere und ansonsten in Waterworld unmarkierte Seite der Beobachtung der Lesbarkeit bezeichnet. Die »marks« – der Mariner spricht womöglich nur die Schriftzeichen in der Tätowierung an – werden in diesem Moment als fantastische Dinge dargestellt, denen keine Bedeutung anhaftet und die nicht der Rede wert sind. Die Unterscheidung Lesbarkeit/Nicht-Lesbarkeit bildet in Waterworld die entscheidende Bedingung der Tätowierung. Das ganze Filmnarrativ stützt sich auf sie, wobei es ausser beim eben beschriebenen Ausnahmefall durch die Bezeichnung der Seite der Lesbarkeit angeleitet wird. Die Beobachtung der Nicht-Lesbarkeit der Tätowierung als die in der Regel unmarkierte Seite der Unterscheidung Lesbarkeit/Nicht-Lesbarkeit wird, der Beobachtung in Waterworld vergleichbar, auch in Blade: Trinity gemacht. Die drei Blade-Filme Blade, Blade II und Blade: Trinity handeln vom Vampirjäger Blade, der sich die Jagd und Auslöschung der Vampire zur Lebensaufgabe gemacht hat. Blade ist zwar selbst eine Art Vampir, ihm können aber beispielsweise Sonnenstrahlen, Knoblauch und dergleichen vampirschädliche Einflüsse nichts anhaben. Dennoch muss er seinen Durst nach menschlichem Blut stillen, wozu seine verschiedenen Helfer immer bessere Mittel erfinden. In jedem der drei Filme kämpft Blade unter der Mithilfe von Menschen oder anderen Vampirjägern jeweils gegen eine bestimmte Gruppe, die einen Vampirgott, eine neue Vampirspezies oder Dracula persönlich zum Leben zu erwecken versuchen. Sowohl Blade als auch die Vampire agieren versteckt vor den Menschen, die von der Herrschaft der Vampire und Blades Kampf nichts wissen. Schliesslich ist wichtig zu wissen, dass Blade am ganzen Oberkörper, inklusive Hals und Hinterkopf, mit schwarzen Ornamenten (›tribals‹) tätowiert ist. Die Vampire und deren menschliche Anwärter verfügen im Gegensatz dazu über kleine, hieroglyphenartige Zeichentätowierungen, die über ihre Zugehörigkeit als Vampir Auskunft geben. Die Blade-Trilogie beobachtet die Vampirtätowierungen stets im Sinne ihrer Lesbarkeit und konstruiert sie unter anderem als Verweis auf die Gruppe der Vampire (dazu mehr in Kap. 4 und 7). Blades ornamentale Tätowierungen werden demgegenüber durch die andere Seite der Unterscheidung bedingt. In Blade: Trinity kommt in einem kurzen Dialog die unmarkierte Seite der Unterscheidung zum Zuge, indem das erste und letzte 22 Mal in allen drei Filmen Blades Tätowierungen sprachlich zum Thema gemacht werden. In dem Moment, als die Vampirin Danica Talos auf den berüchtigten Blade trifft (er befindet sich gerade in Polizeigewahrsam), spricht sie mit gelangweilter Miene und in einem spöttischen Ton zu Blade: »Hi, Blade. So glad to finally meet you. I am such a fan. I like your tattoos. Do they mean anything? [halblaut] Stupid.« Die Umstände von Blades Gefangenschaft – er steht unter Drogen – erlauben es ihm nicht, auf Danica Talos' Frage zu antworten. Und da sich die Vampirin gleich nach dem Ausspruch »Stupid« noch spöttischer nach Blades Gesundheit erkundigt, ist die Thematisierung von Blades Tätowierungen beendet. Danica Telos' Frage nach der Bedeutung von Blades Tätowierungen wird durch die Unterscheidung gestützt, die sich durch die Film-Trilogie in der Beobachtung der Lesbarkeit hindurchzieht. Denn die Thematisierung der Vampirtätowierungen erfolgt stets im Hinblick auf deren Bedeutung und Funktion. Sie werden dementsprechend durch die Lesbarkeit (im Sinne von etwas bedeuten bzw. Funktion für etwas) ermöglicht. Die Konstruktion der Vampirtätowierung in Blade: Trinity geht gar so weit, dass Lesegeräte die Zeichen ›abtasten‹ (scannen) können, um damit Türen von Gebäuden der Vampire freizugeben. In Anbetracht der bedeutungsvollen (und funktionalen) Vampirtätowierung werden Blades ornamentale Tätowierungen (›tribals‹) auf seinem Oberkörper, Hals und beiden Seiten des Kopfes als bedeutungslos bezeichnet – die Bezeichnung der Nicht-Lesbarkeit und damit die Reproduktion der in den drei Filmen gängigen Unterscheidung. In den verschiedenen Filmen lässt sich beobachten, dass die Beobachtung der Lesbarkeit und die unmarkierte Seite der Nicht-Lesbarkeit von Tätowierungen auf unterschiedliche Weisen erzeugt werden. In Waterworld wird Enolas Tätowierung als lesbar konstruiert, indem sich die Lesbarkeit auf direkte Weise in ihrer filmischen Ausgestaltung zeigt. Daran sind sprachliche Äusserungen über die Tätowierung, die Tätowierung in ihrer Bildlich- und Zeichenhaftigkeit (wenn nicht sogar in ihrer Indexikalität durch die graphische Konzeption und den ausgesparten Pfeil) und die fokussierte Visualisierung derselben beteiligt (Detailaufnahmen, während Gregor die Tätowierung studiert, und deren Analyse mittels einer Kopie auf Papier). In diesem Fall lässt sich die Beobachtung der Lesbarkeit in der filmischen Inszenierung der Tätowierung beobachten. Vergleichbare Ausgestaltungsformen der Beobachtung der Lesbarkeit können ebenso in anderen Science-Fiction-Filmen beobachtet werden. Die Beobachtung der Lesbarkeit findet in diesen Anschluss an einen Diskurs der Zugehörigkeit, in dem Tätowierungen vergleichbar mit jener aus Waterworld Zeichencharakter besitzen. Wie ich noch genauer zeigen werde (Kap. 7), handelt es sich um tätowierte Zahlen bzw. Zahlenfolgen, Namen oder Strichcodes, die im Rahmen militärwissenschaftlicher und gentechnologischer Projekte vergeben werden. Die in den Science-Fiction-Filmen dargestellten verschiedenen und in ihrer Konzeption dennoch vergleichbaren Tätowierungen sind nahe an der Beobachtung der Lesbarkeit konstruiert. Die Tätowierungen lassen sich auf Grund ihres 23 Zeichencharakters tatsächlich (im Film) einer Lektüre unterziehen: Die Zahlen und Buchstaben lassen sich ablesen und zur Lektüre des Strichcodes würde ein Strichcodeleser benötigt. Mit der richtigen Lesart geben sie Informationen preis, die direkt mit der tätowierten Person als Teil des militärwissenschaftlichen Projekts in Zusammenhang stehen. Anders verhält es sich im Allgemeinen in Filmen, in denen die Beobachtung der Lesbarkeit an den Kriminaldiskurs anschliesst. Die Beobachtung bedingt in diesen Fällen nicht so sehr den Inhalt oder die Konzeption einer Tätowierung, sondern erwirkt eine generellere Art der tatsächlichen Lektüre einer Tätowierung. Eine Tätowierung erweist sich bereits auf Grund ihrer Existenz als lesbar und gibt über die tätowierte Person die wichtigste Information preis – grob formuliert: dass diese kriminell ist. Dass hier eine Verbindung zu realen Diskursen besteht, möchte ich abschliessend anhand der Diskussion durch Nikki Sullivan (2001) darstellen. Sullivan arbeitet die Beobachtung der Lesbarkeit in Bezug auf den Kriminaldiskurs implizit in ihrer Diskussion der psychiatrischen und kriminologischen Diskurse der realen Realität heraus (Sullivan 2001: Kap. 1, auch 152ff. zum ›Mythos‹, dass alle Bilder/Tätowierungen lesbar sind). Dem psychiatrischen und kriminologischen Diskurs ist die Beobachtung der Tätowierung als sichtbarer Ausdruck der Psyche oder des Charakters eines Menschen gemeinsam. In den zwei Diskursen gibt eine Tätowierung Anlass zu einer »dermal diagnosis« (Sullivan 2001: 21) – einer diskursspezifischen ›Textanalyse‹ oder Lektüre –, welche nicht an der ›Oberfläche‹ stehen bleibt, sondern Rückschlüsse auf das ›Innere‹ eines Menschen zulässt (vgl. Sullivan 2001: 20ff.). »The methods of ›dermal diagnosis‹ [...]«, hält Sullivan fest, »designate or represent the marked body as the intentional expression (conscious or unconscious, it makes little difference) of an innate ego« (2001: 112). Obschon beispielsweise im kriminologischen (oder kriminal-anthropologischen) Diskurs auch andere Körpermerkmale Anlass zur ›Lektüre‹ des kriminellen Charakters geben, bildet die Tätowierung dennoch stets einen wichtigen Anhaltspunkt. Cesare Lombroso stellt für den kriminalanthropologischen Diskurs das bekannteste Beispiel dar.23 In Bezug auf die Tätowierung vertrat Lombroso die These des Atavismus. Obwohl Lombroso in seinem Werk »Der Verbrecher« (1890, 1894, 1896) einige andere Gründe angibt, warum sich Kriminelle24 tätowieren (Religion, Nachahmung, Eitelkeit u.a.; Lombroso 1890: 265ff.), besteht für ihn der wesentlichste Grund im Atavismus des Kriminellen: Aber der erste, allererste Grund für die Verbreitung dieses Gebrauches ist der Atavismus, d.h. die Tradition, da das Tättowiren ein besonderer Charakter des Urmenschen und des 23 24 Vgl. Caplan (2000) zu anderen europäischen Kriminalanthropologen zu Zeiten von Lombroso. Die Bezeichnung ›Kriminelle‹ wird hier als die eine Seite einer im Diskurs getroffenen Unterscheidung angesehen, im Gegensatz etwa zu den ›Normalen‹. 24 Menschen im wilden Zustande ist. [...] Nichts ist nun natürlicher, als dass eine unter den Wilden und prähistorischen Völkern so eingewurzelte Sitte bei den roheren Menschenklassen sich wiederfindet, welche nicht nur die alten Gebräuche, den Aberglauben und sogar die Volksgesänge hartnäckig festhalten, sondern auch dieselbe Heftigkeit der Leidenschaften, dieselbe Stumpfheit gegen den Schmerz, dieselbe kindliche Eitelkeit wie Jene besitzen. Und namentlich muss dieses der Fall sein bei den Wildesten unter den rohen Volksklassen, bei den Verbrechern, namentlich dann, wenn das Gefängnissleben ihnen die Musse zu derartiger Beschäftigung vergönnt. (Lombroso 1890: 271) Die Kriminellen lassen sich also auf Grund ihrer ›natürlichen‹ Verwandtschaft mit den ›Primitiven‹ tätowieren, denn in ihnen lebt der ›wilde Zustand‹ weiter. Für Lombroso ist deshalb in erster Linie die Existenz der Tätowierung ausschlaggebend, die auf eine ›rohe‹ bzw. kriminelle Person verweist (1890: 253). In zweiter Linie, und nur in einigen Fällen, geben für Lombroso das tätowierte Motiv, auf Grund seiner Obszönität, und dessen Platzierung auf dem Körper zusätzlich über das begangene Verbrechen der tätowierten Person Auskunft (1890: XXVII). Wie Sullivan im Hinblick auf Literatur der 1960er-Jahre konstatiert, werden Lombrosos Thesen (oder vielmehr Spekulationen) noch lange nach dessen Zeit vorgebracht:25 Although a century later we may like to imagine it possible to dismiss Lombroso's somewhat disturbingly rapturous proselytizing with a mere shake of the postmodern head, the fact remains that his ideas still resonate throughout the majority of criminological and psychological analysis of the subject in/of tattooing, and, in part, in society more generally. (Sullivan 2001: 24)26 Im psychiatrischen und kriminologischen Diskurs gilt also eine Tätowierung an der ›Oberfläche‹ der Haut als Ausdruck eines ›Innern‹ eines Menschen (sei dies der Psyche, des Charakters o.ä.) und lädt den Psychiater oder den Kriminologen – »dermal diagnostician« (Sullivan 2001: 112) – dazu ein, sie auf dieses Innere hin zu ›lesen‹ (vgl. Sullivan 2001: 36). Es liegt ein ›Tiefenmodell‹ des Subjekts mit der Tätowierung als Ausgangspunkt vor, das in Anschluss an die Beobachtung der Lesbarkeit möglich ist (vgl. Sullivan 2001: 20). Ich werde in Kapitel fünf zeigen, auf welche Weise die Beobachtung der Lesbarkeit im Sinne des Kriminaldiskurses noch Ende des 20. und anfangs des 21. Jahrhunderts in Filmen (re-)produziert wird. *** Die Beobachtungen der Sichtbarkeit und Lesbarkeit erweisen sich für die filmische Inszenierung von Tätowierungen als wesentliche Bedingungen. Sie ermöglichen den Filmen, Tätowierungen zu visualisieren und auf etwas hin lesbar oder entzifferbar zu 25 26 Vgl. etwa auch Delarue und Giraud (1950: 53f.), die trotz ihrer Kritik an Lombroso ganz in dessen Sinne argumentieren. Wie stark sich diese Normalisierung des Kriminaldiskurses bezüglich des Tätowierens äussern kann, veranschaulicht eine Kinderzeichnung, die im Buch von Vandekerckhove (2006: 20) abgedruckt ist. Sie zeigt den belgischen Kinderschänder Dutroux am Galgen: auf seinem Unterarm ist die Tätowierung eines Ankers sichtbar. 25 machen. Der Film Waterworld, in dem eine Tätowierung für die gesamte Filmgeschichte von zentraler Bedeutung ist, wird beispielhaft durch beide Beobachtungen angeleitet. Im Vergleich zu den Beobachtungen der Sichtbarkeit und Lesbarkeit, lassen sich die anderen Seiten der Unterscheidungen seltener beobachten. Es wird sich in den folgenden Diskursen immer wieder zeigen, dass diese besonders in den Filmen stark durch die in diesem Kapitel diskutieren Beobachtungen angeleitet werden. 4 Beobachtungen der Kunst Clinton Sanders stellt in seinem Buch »Customizing the Body. The Art and Culture of Tattooing« aus dem Jahre 1989 fest, dass sich das Tätowieren weg vom reinen Handwerk hin zur Kunst wandelt (Sanders 1989: 21; vgl. auch Govenar 1982: 37). Dieser Wandel wurde spätestens mit der ›Renaissance‹ (Rubin 1988b) des Tätowierens in den 1960er-Jahren in den USA eingeläutet, als junge Tätowierer sich vom alten USamerikanischen Stil (›Old School‹) zunehmend lösten und unter anderem in Anlehnung an japanische Motive und Ornamente aus Polynesien neue Stile schufen und miteinander verbanden (Rubin 1988b). Es entstand beispielsweise unter der Bezeichnung ›tribalism‹ (oder einfach ›tribals‹) der ornamentale Stil in schwarz, der mit dem Modetrend des Tätowierens seit den 1980er-Jahren eine weite Verbreitung fand (vgl. DeMello 2000: 86ff.). Daraus gingen beispielsweise die ›hawaiischen‹ OrnamentTätowierungen in Form von ›Armbändern‹ hervor, die ihren Ursprung in den USA der 1970er-Jahre und nicht etwa in Hawaii haben (DeMello 2000: 91). Wie häufig in der Literatur zum Tätowieren bemerkt wird, verfügen seit der ›Renaissance‹ viele TätowiererInnen über einen künstlerischen Ausbildungshintergrund (z.B. DeMello 2000: 3). Entsprechend ist vermehrt von ›tattoo artist‹ und ›tattoo studio‹ im Gegensatz etwa zu ›tattooist‹ und ›tattoo shop/parlor‹ die Rede (vgl. Kosut 2006: 87). Mittlerweile gibt es ebenso ›collectors‹, die ihren Körper als ›Leinwand‹27 für ›fine-art‹ betrachten und ihn mit ausgewählten Tätowierungen zu einer persönlichen ›KunstSammlung‹ machen (Vail 1999). Doch auch schon vor der ›Renaissance‹ wurde vereinzelt vom Tätowieren als einer Kunst gesprochen. So stellen Delarue und Giraud ihrer Primitivismus-These à la Cesare Lombroso zum Trotz fest, dass es sich beim Tätowieren um »un art, un art étrange certes« handle (Delarue und Giraud 1950: 52). In Buchtiteln wie »Marks of Civilization. Artistic Transformations of the Human Body« (Rubin 1988a) oder dem oben genannten Titel von Sanders wird die Zugehörigkeit des Tätowierens zur Kunst nicht angezweifelt, sondern bereits als evident beobachtet – und damit im Hinblick auf den Kunstdiskurs als Kunst produziert.28 27 28 »Active members of the tattoo world view the body as a canvas« (Vail 1999: 263, Fn. 10). Beeler (2006: 5) schreibt im Sinne dieses neuen Kunstdiskurses von »tattoo artist«, ohne jedoch näher auf diesen Diskurs einzugehen. 26 Die Entwicklung hin zu einer Kunstpraktik ist dem Tätowieren seit den 1990er-Jahren zunehmend gelungen. Mit Ausstellungen nicht nur in ethnologischen Museen, sondern auch in Kunstmuseen und -galerien gelangte das Tätowieren zu einer »institutional quasi-legitimacy« (Kosut 2006: 75). Der Grund dafür liegt in der ästhetischen Aufwertung der Tätowierung durch anerkannte Kunstinstitutionen, die dem Tätowieren als Kunst den Weg bereiteten (Kosut 2006: 90). Das Tätowieren hält Einzug in ein neues diskursives Feld, in dem zum Beispiel nicht mehr die Unterscheidung normal/abweichend oder normal/kriminell getroffen wird, sondern es überschreitet die Unterscheidung Kunst/Handwerk und trifft auf die dem Kunstdiskurs eigenen Beobachtungen. Das Tätowieren und tätowierte Menschen werden in ein neues diskursives und institutionelles ›Licht‹ gerückt, das sie etwa mit der Unterscheidung schön/nicht-schön hinsichtlich des ästhetischen Wertes beobachtet. Damit geht ein Nebeneffekt einher, der womöglich auch der Tätowier-Szene entgegenkommen könnte. Mary Kosut schreibt zu diesem Nebeneffekt: »the discourse of artistic elites is entering the publics' imagination, potentially playing a role in the process wherein a cultural practice may be further transformed« (2006: 91). Nicht nur durchdringt der Kunstdiskurs die Tätowier-Szene – jedenfalls dürfte dies für jenen Teil gelten, den DeMello (2000: 109) als »highbrow« oder Irwin (2003: 28) als »elite tattoo realm« bezeichnet –, sondern er scheint vermehrt mit der diskursiven (und institutionellen) Inklusion des Tätowierens als Kunst ausserhalb der Gruppe der Tätowierten Fuss zu fassen.29 4.1 Unterscheidungen Auf Grund der verstärkten Zuwendung zum Kunstdiskurs in der realen Auseinandersetzung mit dem Tätowieren gilt es, den diskursiven Einfluss auf die Filme aufzuzeigen. Dazu müssen speziell zwei miteinander verflochtene Unterscheidungen betrachtet werden, die spätestens seit der ›Renaissance‹ des Tätowierens im Szene-Diskurs und dem Kunstdiskurs von Bedeutung sind. Wenn in Filmen das Tätowieren in Verbindung mit dem Kunstdiskurs erzeugt wird, dann erweisen sich zwei Unterscheidungen als Anhaltspunkte. Ich meine zum einen die Unterscheidung zwischen ›Flash‹- und ›Custom‹Tätowierungen und zum anderen jene zwischen Einzigartigkeit (Originalität) und Imitation. Der Ausdruck ›Flash‹ bezeichnet eine Tätowierung nach einer vorgezeichneten Vorlage, die einfach und schnell auf die Haut übertragen und tätowiert werden kann. Der Kunde muss lediglich die Kataloge oder Flash-Bogen durchsehen und sich für ein Motiv entscheiden. Flash-Tätowierungen werden in der Tätowier-Szene häufig mit einem Handwerk in Verbindung gebracht, das nicht viel Kreativität erfordert. Dieses Handwerk wird in den Tätowierläden (»tattoo parlor« oder »shop«) ausgeführt, in die die 29 Hinsichtlich des Kriminaldiskurses bemerkt Kosut: »Longstanding and commonplace associations between tattoo and criminals or psychopaths still linger, yet they reside alongside new representations and discourses« (2006: 91). 27 Kunden nach Belieben eintreten und sich die Flash-Bogen ansehen können.30 FlashMotive bedecken häufig nur kleine Hautflächen. Eine Custom-Tätowierung bezeichnet das Gegenteil einer Flash-Tätowierung. Eine Custom-Tätowierung basiert auf Ideen oder Wünschen des Kunden (›customer‹), die durch diesen selbst oder aber durch den Tätowierer in eine Tätowierung umgesetzt werden. Tätowierer und Kunde erarbeiten gemeinsam ein Motiv, das in vielen Fällen in der Ausdehnung grösser als ein herkömmliches Flash ausfällt und spezifisch für eine Körperpartie ausgearbeitet wird. Custom-Tätowierungen können sich dabei über den gesamten Rücken oder sogar Körper ausdehnen. Der Kunde betritt nicht bloss den Tätowierladen und lässt sich tätowieren, sondern trifft sich zuerst mindestens einmal mit dem Tätowierer, um das Motiv zu diskutieren und zu skizzieren. Besitzer von ›tattoo studios‹, die sich auf Custom-Arbeiten konzentrieren, verlangen vielfach vor einem Besuch deswegen auch eine Anmeldung. Das Stechen der Custom-Tätowierung kann im Gegensatz zu einem Flash-Motiv eine längere Zeit bis zur Vollendung in Anspruch nehmen, also über mehrere sogenannte Sitzungen verlaufen. Selbstverständlich liegt hier nicht nur ein Entweder-Oder von Flash- oder CustomTätowierung vor, sondern es gibt auch Zwischenstufen. Dies ist etwa auf TattooConventions der Fall, an denen beispielsweise Custom-Tätowierungen in einer kurzen Diskussion vereinbart und schon nach kurzer Zeit gestochen werden. In der TätowierSzene und den einschlägigen Zeitschriften, die mittlerweile stark durch den Kunstdiskurs geprägt sind, wird die Unterscheidung zwischen Flash und Custom trotzdem stets neu verfestigt. Die Unterscheidung Flash/Custom tritt häufig in Verbindung mit der an zweiter Stelle genannten Unterscheidung zwischen Einzigartigkeit (Originalität) und Imitation auf. Im Tätowier-Diskurs der ›Elite‹ (Irwin 2003: 28) – den »heavily tattooed« (Oettermann 1982) – ist es die Seite der Einzigartigkeit, welche markiert wird (vgl. Oettermann 1982: 341). Eine Custom-Tätowierung, die der eigenen Kreativität und Idee zu verdanken ist, stellt im Tätowier-Diskurs ein einzigartiges Motiv, wenn nicht sogar Kunstwerk dar. Es sind denn auch die Custom-Tätowierungen, die in den institutionellen Rahmen der Kunst Einzug halten und ausgestellt werden. Demgegenüber beobachtet der SzeneDiskurs Flash-Tätowierungen als Imitationen, d.h. durch den Träger nicht selbst erschaffen, sondern von einem Flash-Bogen kopiert. Eine Flash-Tätowierung kann mehrere Male reproduziert werden und wird dadurch zu einer (potentiellen) Massenware. Der Szene-Diskurs verwehrt dem Imitieren und Kopieren einer Flash-Vorlage jeglichen Kunststatus und bezeichnet es eher als Handwerk auf Seiten der Tätowierer und als Mode auf Seiten der Kunden.31 Das Imitieren oder Kopieren von CustomMotiven verstösst schliesslich am stärksten gegen die Einzigartigkeit und Kreativität 30 31 Vgl. den autobiographischen Bericht von Steward (1990), der über Jahre einen solchen Laden geführt und vor allem nach Flash-Vorlagen tätowiert hat. Für Tätowierer bilden Flash-Tätowierungen im Gegensatz zu Custom-Tätowierungen dennoch eine wesentliche Einnahmequelle, wie mir ein deutscher Tätowierer erzählte. 28 von Custom-Tätowierungen und deren Trägern. Der Szene-Diskurs findet mit Blick auf die dargestellten Unterscheidungen stets von neuem Anlass, die Einzigartigkeit von Tätowierungen zum Thema zu machen. Hierfür bieten die offiziellen Szene-Magazine eine Diskussionsplattform. In der April-Ausgabe (2006/4) des TätowierMagazins wurde beispielsweise die Aktion »Copycats – Nein danke!« lanciert. Im Editorial (S. 3) und in verschiedenen Artikeln (S. 88–95, 130–134) dieser Ausgabe wird die Ablehnung »gegen Kopiererei und Ideenklau« (TätowierMagazin 2006/4: 89) deutlich gemacht und die Einzigartigkeit, Individualität und Kreativität von Tätowierungen im Gegensatz zu Kopien als Massenware betont (TätowierMagazin 2006/4: 3, 88, 91). Doch nicht nur in Magazinen, sondern auch in Gesprächen mit TätowiererInnen liegt die Bezeichnung der Unterscheidung auf Seiten der Einzigartigkeit und Originalität der Tätowierung. Auf die Frage, ob Tätowierungen aus Filmen von KundInnen gewünscht würden, erhielt ich stets ähnliche Antworten: Die Tätowierungen aus Blade (vom Hals über die Kopfseite hinterm Ohr), XXX (Nackentätowierung) oder jene aus From Dusk Till Dawn (›Tribal‹ am Hals) finden bei vielen Kunden Anklang. Sie scheuen sich nicht, eine exakte Kopie der Filmtätowierung beim Tätowierer zu verlangen. Doch entsprechend dem einflussreichen Kunstdiskurs behält die Beobachtung der Einzigartigkeit die Oberhand. Die befragten TätowiererInnen versuchen in solchen Fällen die KundInnen davon zu überzeugen, dass das Kopieren von Tätowierungen nicht originell sei. Es sei unter anderem deshalb nicht originell, weil die Tätowierungen in den Filmen mit bestimmten Bedeutungen und Geschichten in Verbindung gebracht werden (vgl. Kap. drei zur Lesbarkeit). Wenn die Kunden überzeugt werden können, ändern sie gewisse Dinge an den Filmtätowierungen, machen daraus also in gewisser Weise ein Custom-Motiv. Für gewisse Kunden spiele ungeachtet des genauen Motivs nur die Körperstelle wie Hals oder Nacken eine wichtige Rolle. Aber trotzdem gibt es immer wieder Kunden, die exakt eine Filmtätowierung tätowiert haben möchten, auch wenn dies selten wirklich auf der Basis von Fotografien aus dem Film oder anderem Bildmaterial machbar ist.32 An dieser Stelle sei auf den ›Rückkopplungseffekt‹ von Filmen auf die Realität hingewiesen, der sich in der Imitation von Filmtätowierungen ausmachen lässt. Filme irritieren dabei nicht nur die Wahl von Motiven und Körperstellen, sondern durch die Imitation auch die Debatte in der Realität. Die Beobachtung fällt aus der Perspektive der nicht oder nur wenig tätowierten Personen anders aus oder, wie Katherine Irwin schreibt, »middle class and largely conventio- 32 In einem Artikel, den ich auf der Website des TätowierMagazins gefunden habe, steht bezüglich der Imitation von Filmtätowierungen Folgendes geschrieben: »Die Krönung unorigineller Tattoos sind jedoch die Imitate von Film- und Promi-Tattoos. Nach Filmen wie ›Blade‹, ›From Dusk til Dawn‹ [sic] oder ›Triple X‹ verzeichnen Tattoostudios regelmässig einen dramatischen Anstieg von Kunden, die ›das selbe Tattoo wie Wesley Snipes / George Clooney / Vin Diesel‹ haben möchten – um dann den Rest ihres Lebens als Kopie bald vergessener Kinohelden herumzulaufen« <http://www.taetowiermagazin.de/index.php?content=223&gesamtansicht=1&layout =home.php#> [03.03.2006]. 29 nal individuals who see getting tattoos as fun, hip, and trendy« (2003: 30). Es sind jene Personen, die (wenige) Tätowierungen haben, im Gegensatz zu jenen, die (grosszügig) tätowiert sind (Bell 1999: 55f.) Die Unterscheidung Einzigartigkeit/Imitation spielt hier eine weniger wichtige Rolle. Jedoch lässt sich die Beobachtung der Tätowierung als Kunst beobachten. Sie fällt im Gegensatz zur Beobachtung im Szene-Diskurs zugunsten kleinflächiger Motive aus, die häufig als ästhetischer bewertet werden als die grossflächigen und oft vielfarbigen Custom-Tätowierungen. Irwin macht diese Feststellung und präsentiert eine Aussage einer nicht tätowierten Person: While large tattoos are rewarded in collecting worlds, heavily tattooed individuals find themselves denounced, shunned, and insulted when interacting in mainstream circles. [...] Entrenched in a love of plain skin, conventional individuals see large tattoos as »covering up too much body« or as bold, gaudy, or tacky statements. Even those conventional individuals who admit liking small tattoos remark that large tattoos are an abomination. Frank, a 72-year-old father of four, discusses his aesthetic tattoo preferences: »Some of these little tattoos on the shoulders, I find artistic. Some of them look good. If it covers up too much body, it becomes counterproductive. I'm seeing more and more people with big tattoos, big tattoos on whole arms. I think that is ugly«. (Irwin 2003: 36; meine Herv.) Die ›reine Haut‹ soll, wenn überhaupt, nur mit kleinen und ästhetischen Tätowierungen bedeckt werden. Auf gar keinen Fall aber mit Tätowierungen, die ganze Körperteile zudecken (»covering up too much body«). Frauen mit grossflächigen Motiven stossen noch zusätzlich auf Unverständnis, da sie in der Welt der Nicht-Tätowierten einer rigideren Ästhetikbeobachtung ausgesetzt sind (Irwin 2003: 38; zur GenderUnterscheidung vgl. Kap. 6). Die Frage lautet nun, inwiefern diese Entwicklung der verstärkten diskursiven und institutionellen Einbindung des Tätowierens in den Kunstdiskurs in Filmen Beobachtung findet, das heisst, wie die oben angeführten Unterscheidungen Flash- und Custom, Einzigartigkeit/Imitation, schön/hässlich, Kunst/Handwerk bzw. nicht Kunst filmisch getroffen werden. Schon vorweg muss ich feststellen, dass das Tätowieren im Sinne des Kunstdiskurses nur in wenigen Filmen beobachtet wird. Und in diesen wenigen Fällen fehlt die institutionelle Inklusion der Tätowierung vollständig.33 Der Kunstdiskurs, wie 33 Obschon nicht in meiner Filmauswahl enthalten, möchte ich auf den Film Tattoo aus Deutschland verweisen. Der Film beobachtet in gewisser Hinsicht eine »institutional quasilegitimicy« (Kosut 2006: 75) des Tätowierens und Tätowierungen als Kunst. Der ›Sammler‹ im Film ist selbst nicht tätowiert, sondern betrachtet tätowierte Häute, die er in einer privaten Ausstellung aufgespannt hat, als Kunstwerke. Der Film beobachtet das Tätowieren in einer Mischung aus Kunst- und Kriminaldiskurs und inszeniert einen Thriller rund um die tätowierten, abgezogenen Hautstücke. Die Sammlung der tätowierten Häute, das muss angefügt werden, bildet keine ausschliesslich fiktionale Erfindung, sondern findet in der realen Realität im medizinisch-dermatologischen Diskurs Beachtung. Hautsammlungen wissenschaftlicher Art sind aus Japan, Deutschland und der Schweiz bekannt (Sanders 1989: 192; Oettermann 1995: 72–74; Cattani 1922: 53, 57). Das bizarrste Beispiel der Sammlung entfernter (geschundener) Häute, bei dem Kunst in Verbindung mit Medizin gebracht wurde, stammt aus der Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Den tätowierten Konzentrationslagerhäftlingen wurden auf Geheiss der Lagerärzte Buchenwalds mittels Schindung die 30 er den Szene-Diskurs durchdringt, kann vor allem im Visuellen beobachtet werden, das heisst, anhand der Ästhetisierung und der Inszenierung von einzigartigen, im Gegensatz zu massenhaft angefertigten Tätowierungen. In den Blade-Filmen lässt sich eine Ästhetisierung gegenüber der Funktionalisierung von Tätowierungen aufzeigen. Demgegenüber findet in Filmen über die Yakuza (organisiertes Verbrechen in Japan) eine Ästhetisierung nicht während des Hauptfilms, sondern hauptsächlich im (Titel-) Vorspann statt. 4.2 Inszenierung der Ästhetik und Funktion – einzigartige ›Tribals‹ und massenhaft Vampirzeichen Die Blade-Trilogie handelt vom Vampirjäger Blade. Er ist selbst ein halber Vampir, jedoch mit der Stärke, bei Tageslicht nach draussen gehen zu können. Deshalb wird er von den Vampiren ›Daywalker‹ genannt. Weil die Vampire die Menschen als Nahrungsquelle betrachten und nach der Herrschaft über die Menschen streben, hat sich Blade die Vernichtung der Vampire zur Lebensaufgabe gemacht. In den drei Filmen kämpft Blade mit wechselnder Unterstützung gegen bedeutende Vampiranführer und deren Gefolgschaft. Blade bekämpft dabei insbesondere die menschlichen Vampiranwärter (›familiars‹), welche für die Vampire arbeiten. In der Blade-Trilogie scheint die Unterscheidung der Tätowierungen ganz einfach zu sein: Der Protagonist Blade ist über den ganzen Oberkörper hinauf bis zum Kopf (und schliesslich in Blade: Trinity auch im Gesicht) mit schwarzen und in den meisten Fällen breiten ›tribals‹ tätowiert. Blades Tätowierungen passen sich seinem Körper an, weshalb es nahe liegt, von CustomTätowierungen zu sprechen. Ausserdem sind sie einzigartig, denn niemand anderes in den drei Filmen hat vergleichbare Tribal-Tätowierungen. Die Vampire tragen im Gegensatz zu Blades grossflächig ausgeführten TribalTätowierungen in der Regel lediglich ein kleines Zeichen in Vampirschrift auf ihrer Haut. Alle Vampire und Vampiranwärter haben eine solche Tätowierung. Jene, die zum gleichen Vampir gehören (in dessen Besitz sind), verfügen über dasselbe tätowierte Zeichen. Unter den Vampiren ist nicht Individualität oder Originalität gefragt. Entscheidend ist die Erkennbarkeit anhand der Zeichen, die durch eine immer gleiche Art von Tätowierung gewährleistet wird – Imitation statt Einzigartigkeit. Die massenhaft vorhandenen Vampirtätowierungen kommentiert der Protagonist im ersten Blade-Film mit den Worten »a vampir cattle brand«. Nach Blade handelt es sich bei den Vampirzeichen um Brandmarkungen, wie sie bei Vieh angewandt werden. Diese Aussage verweist einerseits auf die fremdbestimmte Tätowierung, die den Vampiren als Besitz- und Zugehörigkeitszeichen verpasst wird (siehe Kap. sieben), andererseits impliziert die (Herden-)Tier-Metapher die Massenhaftigkeit der einfachen und bei Neuzugängen kopierten Tätowierungen. Tätowierungen entfernt. Sie wurden für Angehörige der SS ausgestellt oder zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet (Kogon 1974 [1946]: 161–162; Oettermann 1995: 112–113). 31 Die Blade-Trilogie führt exemplarisch die den Kunstdiskurs konstituierenden Beobachtungen vor. Einzigartige Custom-Tätowierungen im Tribal-Stil stehen vervielfachten und massenhaft vorhandenen Zeichen-Tätowierungen gegenüber. Blade als »heavily tattooed« (Oettermann 1982) äussert sich dem Szene-Diskurs entsprechend abschätzig über die Vampirtätowierungen, indem er mittels der Tier-Metapher die unoriginelle Massenhaftigkeit anspricht.34 Die Unterscheidung zwischen Blades Tribals und den Vampirzeichen wird aber vor allem visuell getroffen, indem die Filme die beiden Arten von Tätowierungen auf verschiedene Weise in Szene setzen (Abb. 3 und 4). Verallgemeinert ausgedrückt werden Blades Tätowierungen nicht so oft wie die Vampirtätowierungen explizit visualisiert (ins Zentrum einer Einstellung gerückt). Aber wenn die Tribals in den Fokus der Kamera gelangen, lässt sich im Gegensatz zu den Vampirtätowierungen deren Ästhetisierung mittels spezifisch filmischer Mittel beobachten. Abb. 3: Vampirtätowierung in Blade Abb. 4: Blades Hinterkopf-›Tribal‹ in Blade: Trinity Ich will an zwei gleichartigen Szenen verdeutlichen, wie die ästhetisierende Inszenierung der Tätowierungen Blades vorgenommen wird. Die zweite Szene zu Beginn von Blade II ist dafür typisch: Blade spricht im Off über seine Herkunft, die Existenz der Vampire und das Verschwinden seines Helfers Whistler am Ende des ersten Films. Währenddessen sind Rückblenden zu Blades Geburt, Whistler und vor allem Blades Vorbereitungen für die Vampirjagd zu sehen. Blade, in seiner schwarzen ›Kampfkleidung‹, platziert die Messer und Schusswaffen an seiner Kleidung und setzt eine schwarze Sonnenbrille auf – für die Figur Blade ein charakteristisches Accessoire. Dies alles geschieht in einem Raum mit stark gedämpftem Licht. In dem Moment, in dem Blade die Sonnenbrille aufsetzt, zeigt ihn eine Detailaufnahme von hinten. Die Kamera 34 Die Vieh-Metapher findet sich schon lange in Diskursen über das Tätowieren, vor allem dann, wenn es um die Mode des Tätowierens geht. So äusserte sich ein Mitglied der New Yorker Oberschicht anfangs des 20. Jahrhunderts über das Tätowieren – »the most vulgar and barbarous habit the eccentric mind of fashion ever invented« – in der Oberschicht, dass die Nachahmer sich »[l]ike a flock of sheep driven by their master [der tätowierte Prinz von Wales]« tätowieren liessen (zit. in Sanders 1989: 17; meine Herv.). Vgl. auch Dubuis und Knüsel (2004: 18), die von der Tätowier-Mode der letzten Jahre als einem ›Herdenphänomen‹ (»un phénomène grégaire«) sprechen (ähnlich auch Steward 1990: 47). 32 schwenkt von rechts oben nach links unten und zeigt dabei seinen tätowierten Nacken und sein Samuraischwert, das er am Rücken trägt. Die Tätowierung im Nacken ist jedoch nur auf der rechten Nackenseite sichtbar, weil die linke Seite des Nackens auf Grund der Belichtung in der Dunkelheit verbleibt. Dass es sich bei dieser Art der Visualisierung von Blades Tätowierungen nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt die Szene vor dem ›Show-Down‹ in Blade: Trinity. Blade und die Vampirjägerin Abigail Whistler bereiten sich auf den Endkampf mit Drake alias Dracula und den Vampiren um Danica Talos vor. Es liegt in etwa das gleiche Muster vor, wie in der vorher skizzierten Szene aus Blade II: Bilder von den Vorbereitungen, also dem Überprüfen und Laden der Waffen, dem Ankleiden und schliesslich – obwohl es Nacht ist – dem obligaten Aufsetzen der schwarzen Sonnenbrille. Die Inszenierung des Aufsetzens der Sonnenbrille, die wie seine Tribal-Tätowierungen zu Blade gehört, schliesst erneut die Vorbereitungen für den bevorstehenden Kampf ab. Diesmal jedoch fällt die Konstruktion der Szene ins Auge. Während den gesamten Vorbereitungen ist Blade mit aufgesetzter Sonnenbrille zu sehen. Trotzdem setzt er sich in der letzten Einstellung die Sonnenbrille auf, bevor er und Abigail mit ihren Motorrädern wegfahren. Wiederum zeigt die Einstellung Blades Hinterkopf und sein rechtes Ohr in einer Detailaufnahme (vgl. Abb. 4). Die Tribal-Tätowierung, die hinter und über das Ohr bis zur Schläfe reicht, ist trotz des diffusen Lichts und der Schatten gut sichtbar. Die Kamera steht auch in dieser Einstellung nicht still, sondern schwenkt von Blades beleuchteter, rechter Kopfseite über den Hinterkopf zur linken, kaum ausgeleuchteten Seite. Meines Erachtens sind drei filmische Mittel für die Ästhetisierung von Blades Tätowierungen verantwortlich: Erstens die Detailaufnahme seines Hinterkopfes oder Nackens, welche nicht nur die Tribals als solche sichtbar macht, sondern die Körperpartie erkennen lässt (es gibt weitere Einstellungen in den drei Filmen, in welchen dies der Fall ist). Zweitens die Bewegung über die tätowierte Körperpartie. Die Kamerabewegung, so Christian Metz im Aufsatz ›Zum Realitätseindruck im Kino‹, bewirkt bei Objekten im Film den Eindruck von Körperlichkeit, sie »entreisst sie der flachen Oberfläche« (1972: 26). Sie verleiht im vorliegenden Fall der tätowierten Körperpartie Plastizität und betont die Angepasstheit der Tätowierung auf Blades Körper. Und drittens das Spiel mit diffusem Licht und Schatten. Diese drei filmischen Elemente verschaffen Blades Tätowierungen durch die Ästhetisierung einen Eigenwert. Im Unterschied zu den Vampirtätowierungen und deren Inszenierung, wird die Ästhetik von Blades Tätowierungen noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Die Inszenierung der Vampirzeichen erfolgt demgegenüber vielmehr anhand einer funktionalen Betrachtung und des Vergleichs. Blades Tätowierungen sind im Gegenteil unvergleichlich. Vampirtätowierungen stehen für die Zugehörigkeit zu den Vampiren als richtiger Vampir oder als Anwärter. Darin besteht der Hauptgrund für Blade oder den Vampir und Anwärter, die kleinen Zeichentätowierungen aufzudecken. Um die tätowierten Zeichen sichtbar zu machen, drückt Blade Hemdkragen von Vampiren und Anwärtern nach unten und senkt deren Köpfe, um den Nacken zu sehen. Beim Händeschütteln zwischen 33 Blade und einem Mitglied der Vampire hebt und dreht Blade die Hand seines Gegenübers nach oben. Wenn es nicht Blade ist, der die Zeichen aufdeckt, dann machen Vampire und Anwärter freiwillig ihre Zeichen sichtbar. Indem beispielsweise Scud, Blades Helfer in Blade II, die Innenseite seiner Unterlippe mit den Fingern nach aussen dreht oder Dr. Vance in Blade: Trinity den Hemdsärmel hochzieht, um dem gefesselten Blade das Vampirzeichen vor Augen zu halten, geben sie sich als Anhänger der Vampire zu erkennen.35 Diese Art von Sichtbarmachung findet ihren Höhepunkt in einer Szene in Blade: Trinity, in der Hannibal King, Abigail Whistler und Blade auf die Jagd nach Vampiranwärtern gehen. Die Szene besteht zu einem Grossteil aus einer schnellen Folge von Einstellungen, in der die drei gegen Anwärter kämpfen und deren Tätowierungen überprüfen. Das ›split-screen‹-Verfahren führt den visuellen Vergleich der verschiedenen, bei der Jagd vorgefundenen Vampirzeichen vor (Abb. 5). Die Zeichen werden dabei mit (extremen) Detailaufnahmen sichtbar gemacht. Das Nebeneinanderstellen der Vampirzeichen verdeutlicht nicht nur deren Vergleichbarkeit und potentielle Zurechnung auf einen Vampir-Besitzer, sondern führt darüber hinaus die Massenhaftigkeit und Ähnlichkeit der Vampirtätowierungen vor Augen. Abb. 5: Vampirzeichen im Vergleich in Blade: Trinity 35 Obschon die Innenseite der Unterlippe kein üblicher Ort für eine Tätowierung ist, stellt sie dennoch eine möglich Hautstelle dar. Wroblewski (2004: 306) meint dazu, »this is a great place to hide one's membership insignia for instance«. 34 Wie ich bereits im Kapitel zu den Leitbeobachtungen hinsichtlich der Lesbarkeit gezeigt habe, erfüllen die Vampirtätowierungen eine Funktion: sie verweisen auf einen Besitzer und haben dadurch eine spezifische Bedeutung. Im Gegensatz dazu bedeuten Blades Tribal-Tätowierungen offensichtlich nichts (vgl. die zitierte Anspielung der Vampirin auf die Bedeutung der Tribals, S. 21 dieser Arbeit). Sie verfügen im Gegensatz zu den Vampirtätowierungen aber über einen ästhetischen Eigenwert. Die Filme verleihen der Funktion und Vergleichbarkeit der Vampirtätowierungen durch die eben beschriebenen Darstellungsweisen Nachdruck, wogegen sie Blades Tribal-Tätowierungen vielmehr auf ästhetische, unvergleichliche und nicht funktionale Weise inszenieren. 4.3 Die Ästhetik japanischer Tätowierungen Befasst sich ein US-amerikanischer Film mit der japanischen ›Unterwelt‹ respektive mit dem organisierten Verbrechen Japans – der Yakuza –, scheinen japanische Tätowierungen in der Darstellung der Yakuza-Mitglieder unerlässlich zu sein (in meiner Filmauswahl sind die Filme American Yakuza, Into the Sun und Showdown in Little Tokyo enthalten). Was in der realen Realität seit Langem als besonderes Zeichen gilt und auch heute noch in Japan mit kriminellen Gruppen in Verbindung gebracht wird, wird nicht nur in japanischen Filmen des Yakuza-Genres, sondern ebenso in USamerikanischen Filmen beobachtet.36 In diesem Abschnitt interessiere ich mich für die spezifisch ästhetisierende Inszenierung japanischer Tätowierungen in zwei USamerikanischen Filmen (Showdown in Little Tokyo, Into the Sun). Die ästhetische Markierung der japanischen Tätowierungen wird in beiden Filmen am auffälligsten im Titelvorspann vollzogen. Der Action-Film Showdown in Little Tokyo beginnt mit dem Titelvorspann. Zwischen den Namen der Filmemacher und Schauspieler wird ein vollständig tätowierter Oberkörper inklusive der Arme eines muskulösen Mannes gezeigt (der Kopf des Mannes ist nie zu sehen). Es handelt sich um eine Tätowierung japanischer Art, die aus verschiedenen Motiven in unterschiedlichen Farben als ganzes Gebilde besteht. Ähnlich wie bei der Inszenierung von Blades Tätowierungen, wird auch in diesem Fall mit Licht und Bewegung gearbeitet. Der tätowierte Oberkörper ist von Dunkelheit umgeben und wird nur durch ein schwaches Licht beleuchtet. Durch die zusätzliche Bewegung der Kamera, des Mannes oder durch Manipulation des Lichts und der Schatten taucht beispielsweise der tätowierte Körper aus der Dunkelheit auf und verschwindet auf der anderen 36 Zum Yakuza-Genre vgl. Burch (1979: 152, 317) und Schilling (2003). Zur Geschichte der japanischen Tätowierung und deren Verbindung zur Yakuza im 20. Jahrhundert siehe McCallum (1988: bes. 128f.). Selbst in der kriminologischen Literatur zum organisierten Verbrechen werden die Tätowierungen der Yakuza speziell aufgeführt; z.B. Lindberg et al. (1998: 225). Auch noch im zeitgenössischen Japan sind Tätowierungen auf Grund ihrer Verbindung zur Yakuza in öffentlichen Einrichtungen nicht gern gesehen (in Bädern u.a.). In einem Leserbrief im englischen Magazin SkinDeep (2006/131: 8) sind entsprechende Verbotstafeln abgebildet, die tätowierten Personen den Zutritt in die Einrichtungen verbieten. 35 Seite wieder darin. Dabei spannt der Mann auch die Muskeln an, hält ein Samuraischwert oder eine kleine Schusswaffe in den Händen. Der Titel des Films wird als einziger Schriftzug gemeinsam mit dem tätowierten Körper in einer Einstellung gezeigt (Abb. 6). Der Schriftzug wird dabei wie eine Negativschablone aus weissem Licht auf den Körper geworfen, wodurch sich die Tätowierung in ihrer Farbigkeit im Licht des Schriftzuges abzeichnet. Abb. 6: Titelvorspann in Showdown in Little Tokyo Ein vergleichbarer Schabloneneffekt wird auch im Vorspann des Films Into the Sun angewandt. Innerhalb japanischer Schriftzeichen wird unter anderem eine Rückentätowierung im japanischen Stil gezeigt. Sowohl die Schriftzeichen als Negativschablonen wie auch das Bild innerhalb der Schriftzeichen bewegen sich, wobei die beiden Bewegungen stets in entgegengesetzter Richtung verlaufen. Die Zeichen geben dabei nur partiell die Tätowierung wieder. Zu Beginn sind einzelne Motive der Tätowierung im Detail zu sehen. Erst gegen Ende des Titelvorspanns, als eine Frau mit dem Rücken zur Kamera aus einem Dampfbad steigt, ist zu erkennen, dass es sich bei den tätowierten Motiven um die Rückentätowierung einer Japanerin handelt. Im Verlauf des Films Into the Sun treten zudem japanische Tätowierungen im Rahmen eines japanischen Tätowierstudios auf, in dem Rückentätowierungen japanischer Art gestochen werden. Im Gegensatz zu den Filmen American Yakuza oder Showdown in Little Tokyo sind es jedoch nicht Männer oder Yakuza-Mitglieder, die sich tätowieren lassen. In diesem Film handelt es sich um Frauen, deren Rückentätowierungen von einem Tätowierer gestochen werden, der Beziehungen zu einer Yakuza-Gruppe hat. Into the Sun stellt insofern eine Ausnahme unter den Filmen über die Yakuza dar, als er das Tätowieren von Frauen zeigt und nicht wie in den zwei anderen (und oft in japanischen Filmen) als fokussiertes Charakteristikum von Yakuza-Mitgliedern. Lediglich im Endkampf sind Oberkörpertätowierungen des Tätowierers, der an der Seite des Protagonisten kämpft, und zweier Yakuza zu sehen (einer davon nicht im japanischen Stil). In Into the Sun und Showdown in Little Tokyo werden vergleichbare Effekte bei der ästhetisierenden Inszenierung der japanischen Tätowierung eingesetzt. In beiden Filmen findet diese Inszenierung zu Beginn im Titelvorspann statt. Die Darstellung der japani- 36 schen Tätowierungen kommt durch eine Beobachtung der Ästhetik zustande. Im einem Fall als eine Ganzkörpertätowierung (›body suit‹) eines Mannes, im anderen als eine Rückentätowierungen (›back piece‹) von Frauen. Man mag sich fragen, warum diese Art von Inszenierung zu Beginn des Films nicht auch in anderen Filmen vorkommt, in welchen andere Tätowierstile gezeigt werden. Die Antwort könnte im Hinblick auf die realen Beobachtungen der unterschiedlichen Tätowierstile wie folgt ausfallen: Tätowierungen japanischen Stils werden bereits seit Langem als hohe Kunst betrachtet. Man kann sogar sagen, dass sie in der Hierarchie der Tätowierungen, die im Diskurs teilweise gemacht wird, an oberster Stelle steht. Für den Mediziner Paul Cattani etwa bildete der japanische unter allen Tätowierstilen den »Höhepunkt neuzeitlicher Stichelkunst« (1922: 38). Die Hochschätzung des japanischen Tätowierstils lässt sich beispielsweise auch in Schriften ausmachen, die auf den ersten Blick nichts mit dem Tätowieren zu tun haben, jedoch das Tätowieren beispielhaft heranziehen. Dabei fällt auf, dass speziell auf die Tätowierung japanischen Stils Bezug genommen wird respektive diese als konkretes Beispiel angeführt wird (so z.B. bei Derrida 2003: 87–88, Fn. 8; Foucault 2005: 31–32). Mit diesen Beispielen möchte ich auf die bedeutende Stellung des japanischen Tätowierstils hinweisen, die dieser sowohl im Szene-Diskurs wie auch im Allgemeinen ausserhalb Japans geniesst. Die japanische Tätowierung gerät also nicht bloss in den besprochenen Filmen ins Licht der Ästhetik und im weitesten Sinne der Kunstbeobachtung, sondern wird durch diese auch in den realen Diskursen konstruiert. Und man mag sich abschliessend ebenso fragen, warum im dritten Film über die Yakuza, American Yakuza, keine vergleichbare Ästhetisierung der japanischen Tätowierung vorliegt. In Into the Sun und Showdown in Little Tokyo kommt eine Bewunderung für die ›traditionelle‹ japanische Lebensweise bzw. für die japanischen Kunstformen zur Geltung. Es werden in diesen beiden Filmen unter anderem Dampfbäder genommen, Bonsaibäume geschnitten, die Schwertkunst ausgeübt und über die japanische Tradition gesprochen. Dies ist in American Yakuza nicht der Fall, der ein ›amerikanisiertes‹ Bild der Yakuza zeigt. Obschon auch in diesem Film über die Yakuza in den USA Tätowierungen dargestellt werden, sind sie nicht Gegenstand einer Ästhetisierung. In American Yakuza spielen die japanischen Tätowierungen ausschliesslich die Rolle des Zugehörigkeitszeichens, anhand dessen der verdeckte FBI-Ermittler die Yakuza identifiziert. *** Die Blade-Filme, Into the Sun und Showdown in Little Tokyo bieten unter den Filmen, die ich betrachtet habe, die deutlichsten Beispiele für Beobachtungen des Kunstdiskurses. Durch die spezifisch filmischen Inszenierungsweisen der Tätowierungen unternehmen die Filme in Bezug auf die dargestellten Custom-Tätowierungen eine Ästhetisierung. Gerade in den Blade-Filmen wird dies in aller Deutlichkeit durch die Unterscheidung der massenhaft vorhandenen Flash-Tätowierungen der Vampire und Anwärter sowie der einzigartigen und unvergleichlichen Custom-Tätowierung des Protagonisten hervorgehoben. 37 II Diskursive Konstruktionen tätowierter Personen Im zweiten Teil wende ich mich nun der Konstruktion der Tätowierten und NichtTätowierten in drei verschiedenen Diskursen zu: dem Kriminal-, dem Gender- und dem Zugehörigkeitsdiskurs. Es handelt sich um drei Diskurse, die in den Filmen wie auch in der Realität wesentlich zur Konstruktion tätowierter Personen beitragen. In allen drei Diskursen spielt die Beobachtung der Inklusion/Exklusion eine wichtige Rolle in der Zuweisung von sozialen Positionen. In der Literatur zum Tätowieren finden sich teilweise andere Namen für dieselben Diskurse. Ich habe die Diskursbezeichnungen anhand den meines Erachtens zentralen Aspekten der Diskurse gewählt, was impliziert, dass aus einer anderen Beobachterperspektive die Benennung auch anders ausfallen könnte. Anstatt Kriminaldiskurs oder Diskurs über die Kriminellen schreibt zum Beispiel Sullivan vom »criminological discourse« (2001: 23) und bezieht sich dabei hauptsächlich auf die kriminologische und kriminalanthropologische Literatur. Ich ziehe die Bezeichnung ›Kriminaldiskurs‹ deshalb vor, weil sie den Diskurs nicht ausschliesslich auf die Kriminologie als Lehre bezieht, sondern das diskursive Feld auf Äusserungen allgemeiner Art oder von Kriminellen selbst auszuweiten erlaubt. Der Kriminal- und der Diskurs der Zugehörigkeit scheinen sich vielleicht in einigen Punkten ähnlich zu sein. Die Unterscheidung scheint mir jedoch deshalb von analytischem Wert zu sein, weil sie die Art der Tätowierung und den vorrangigen Inklusions/Exklusions-Effekt genauer fasst. Im Kriminaldiskurs herrscht nämlich die selbstbestimmte gegenüber der fremdbestimmten oder Zwangstätowierung im Diskurs der Zugehörigkeit vor. Die Gemeinsamkeit besteht aber darin, dass den beiden Formen der Tätowierung in den Filmen oftmals fremdbestimmte Lesarten entgegengebracht werden. Mit Blick auf den Effekt der Inklusion/Exklusion wirken die Beobachtungen des Kriminaldiskurses primär exkludierend und jene des Zugehörigkeitsdiskurses inkludierend. 5 »Dangerous, dirty, tattooed, uncivilized« – Zeichen von Verbreche(r)n Das folgende Kapitel befasst sich mit dem Diskurs, der spätestens mit dem Kriminalanthropologen Cesare Lombroso und seinen Zeitgenossen in Erscheinung trat und noch heute besonders in kriminologischen Publikationen weiter wirkt (vgl. Sullivan 2001: 24). Es geht um die diskursive Konstruktion tätowierter Menschen als kriminelle, von einer Norm abweichende Personen und Personengruppen. Die Tätowierung bildete dazu nicht nur bei Lombroso einen zentralen Anhaltspunkt, sondern ebenso in den zeitgenössischen Filmen. Die These Lombrosos und der Bezug zur Lesbarkeit des Charakters oder der sozialen Position einer Person habe ich bereits im dritten Kapitel skizziert. Ich 38 werde darauf zurückkommen. In diesem Kapitel dient mir der Film XXX (sprich: ›Triple X‹) als Hauptbeispiel für die Analyse des Kriminaldiskurses. Andere Filme, die gleiche oder ähnliche Konstruktionen aufweisen, werde ich ergänzend hinzuziehen. Zuerst diskutiere ich nun die zentrale Beobachtung der Inklusion/Exklusion, die mit anderen Beobachtungen des Kriminaldiskurses eng verknüpft ist. Anschliessend analysiere ich, mit welchen Beobachtungen tätowierte Menschen als Kriminelle konstruiert werden und dabei eine diskursive Exklusion erfahren. Dabei gehe ich auf die generelle und mehrere spezifische Lesarten von Tätowierungen ein, die durch die kriminalisierende Beobachtung angeleitet werden. Abschliessend betrachte ich die paradoxe Beobachtung der sozialen Inklusion der Exkludierten, durch welche tätowierte Kriminelle entweder in eine/r Institution wie dem Gefängnis eingesperrt sind/werden oder aber für Zwecke der ›Normalen‹ eine Instrumentalisierung erfahren. 5.1 Inklusion/Exklusion tätowierter Personen Filme beobachten Tätowierungen oftmals im Hinblick auf die Inklusion oder Exklusion von Personen in/aus eine/r spezifische/n Gruppe. Diese Beobachtung lässt sich ähnlich der in Kapitel drei verwendeten Unterscheidung zwischen genereller und spezifischer Lesart einer Tätowierung unterscheiden. Zum einen beobachten Filme, in denen der Diskurs über die Kriminellen produziert wird, die Tätowierung generell als Anhaltspunkt für die Inklusion/Exklusion von Personen. Oftmals wird diese Beobachtung durch visuelle Hinweise oder das Narrativ unterscheidbar, dagegen wird sie in Dialogen eher seltener getroffen. Zum anderen lässt sich die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion in Filmen anhand der Markierung spezifischer Tätowierungen innerhalb der Gruppe der Tätowierten beobachten. Man kann von einem ›Re-entry‹ der Unterscheidung in eine Seite der Unterscheidung sprechen (vgl. dazu Luhmann 2002a: 80). Bevor ich jedoch die Inklusions- und Exklusionseffekte durch die Diskursivierung der Tätowierten genauer betrachte, erlaube ich mir erneut einen kleinen Ausflug in systemtheoretisches Terrain. Es soll klar werden, um was es sich bei der Unterscheidung der Inklusion/Exklusion handelt und in welcher Weise sie für die Beobachtung tätowierter Menschen in Diskursen genutzt werden kann (für eine Diskussion der verschiedenen Begriffsverwendungen von Inklusion und Exklusion bei Luhmann vgl. Göbel und Schmidt 1998). In seinem Aufsatz »Inklusion und Exklusion« (1995a) betont Luhmann, dass der Begriff der Inklusion ohne den Begriff der Exklusion nicht denkbar ist (1995a: 239). Zusammen bilden sie die Form der Inklusion, die aus der bezeichneten Seite der Inklusion und der unmarkierten Seite der Exklusion besteht (Luhmann 1995a: 241). Die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion wird in einem sozialen (Teil-)System getroffen 39 und entscheidet je nach Kommunikationszusammenhang37, welche Menschen zum System dazugehören und welche nicht (Luhmann 1995a: 259, 261). Die Inklusion oder Exklusion von Menschen bedeutet jedoch für Luhmann nicht, dass Menschen innerhalb des sozialen Systems respektive der Gesellschaft existieren (Luhmann 1995a: 259). Erst die Inklusion, also die Bezeichnung des Menschen, fügt ihn auf spezifische Weise in ein soziales (Teil-)System ein. Luhmann führt dazu aus: Inklusion (und entsprechend Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden. Man kann, an eine traditionale Bedeutung des Terminus anschliessend, auch sagen: die Art und Weise, in der sie als ›Personen‹ behandelt werden. (Luhmann 1995a: 241; Herv. i. Orig.) Inklusion wird damit als »Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen« (Luhmann 2001: 620) konzipiert, mit welcher immer auch die Möglichkeit der Exklusion – der anderen Seite der Unterscheidung – verbunden ist (Luhmann 2001: 621). Es hängt vom sozialen Rahmen und der Form der Inklusion ab, welche »Bedingungen der Zugehörigkeit und, infolgedessen, die Konsequenzen der Nichtzugehörigkeit« (1995a: 259) gegeben sind. Nach Luhmann entschied sich in den sozialen Differenzierungsformen der Vergangenheit die Inklusion und Exklusion von Personen anders als in der heutigen Gesellschaft. In ›segmentären‹ Gesellschaften wurde sie anhand von Wohn- und Lebensgemeinschaften und in ›stratifizierten‹ Gesellschaften durch die Zugehörigkeit zu einem Stand, einer Schicht oder einer Kaste getroffen (Luhmann 1995a: 242–243).38 In der heute vorherrschenden, funktional differenzierten Gesellschaft entscheidet sich die Inklusion/Exklusion durch die Funktionssysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht u.a.; Luhmann 1995a: 246ff.), wobei Inklusion in der Regel nicht nur auf ein Funktionssystem begrenzt ist. Die vollständige Inklusion, wie sie beispielsweise in einer stratifikatorischen Gesellschaft durch eine bestimmte Schicht erfolgte, hat in der funktional differenzierten Gesellschaft eine eingeschränkte Inklusionschance in andere Funktionssysteme zur Folge. In diesem Fall liegt »Hyperinklusion« vor (Göbel und Schmidt 1998: 107ff.; für den Fall im Wirtschaftssystem vgl. Stäheli 2002: 117). Dirk Verdicchio (2006) zeigt in seiner Analyse von Filmen über die Finanzökonomie und Börse genau diese Art von Inklusion in ein Funktionssystem auf. Die totale Inklusion oder Hyperinklusion von angehenden Börsenspekulanten bildet in Filmen ein gängiges Thema und zeigt sich in einem ›monströsen‹ Inklusionsmodus. Ein anderes Beispiel für die totale (teils temporäre) Inklusion lässt sich etwa im Gefängnis oder ähnlichen Institutionen ausmachen (Göbel und Schmidt 1998: 111f.; auch Bohn und 37 38 Luhmann baut seine Theorie sozialer Systeme nicht auf Handlungen auf. Kommunikation bildet die Grundoperation sozialer Systeme (vgl. Luhmann 2002b: Kap. 4). Die ›segmentären‹ Gesellschaften entsprechen in etwa jenen, über welche die frühe Sozialbzw. Kulturanthropologie Beschreibungen anfertigte. Luhmann (2001: 634) spricht auch von ›primitiven‹, ›archaischen‹ und ›tribalen‹ Gesellschaften. Als Beispiel für eine ›stratifikatorische‹ Gesellschaftsform nennt er das »spätmittelalterlich-frühmoderne Europa« (Luhmann 2001: 682). 40 Hahn 2002: 24). Die vollständige Inklusion von Personen in ein Gefängnis betrifft eine Institution oder Organisation, jedoch nicht der Konzeption Luhmanns entsprechend die Funktionssysteme (Göbel und Schmidt 1998. 112; zur Unterscheidung von Funktionssystem, Organisation und Interaktion vgl. Luhmann 1975). Die Unterscheidung Inklusion/Exklusion hinsichtlich tätowierter Personen drängt sich zur Beobachtung richtiggehend auf. In seinem Buch zur Tätowierung in Europa äussert sich Stephan Oettermann in etwas anderen Worten zur Inklusion/Exklusion als Effekt von Tätowierungen – ein Beispiel unter vielen aus der Literatur über das Tätowieren: Die Tätowierung war, jedenfalls in Europa und soweit die Belege sich zurückverfolgen lassen, immer Grenzziehung. Es gab die, die dazu gehörten und die, die nicht dazu gehörten. Die Tätowierung schied die Rechten von den Unrechten, die Guten von den Bösen. [...] In ihrer Funktion als Grenzziehung, als Ingroup- oder Outgroupzeichen, war die Tätowierung (und ist es auf eine archaische Weise noch heute) eminent politisch – und daher immer heiss umstritten. Und bei dem Hin und Her zwischen der Hochschätzung der Tätowierung und ihrer Verdammung zogen [...] merkwürdigerweise letztlich immer die Tätowierten den Kürzeren. Niemals die Glatten. (Oettermann 1995: 14; Herv. i. Orig.) Oettermann streicht den inklusiven und exklusiven Effekt von Tätowierungen heraus, indem er von ›In- und Outgroup‹ und ›Grenzziehung‹ spricht. Eine Grenze zu ziehen bedeutet, eine Unterscheidung zu treffen (die Tätowierten/die ›Glatten‹, d.h. NichtTätowierten), die soziale Wirkungen zeitigt – darin liegt das politische Moment (vgl. Marchart 2002: 72). Und genau die Art und Weise, wie Grenzen in Bezug auf tätowierte Personen gezogen werden, wie inkludierende oder exkludierende Beobachtungen gemacht werden, ist von Interesse.39 Wie ich schon einmal betont habe (Kap. 2), finden sich Tätowierungen und tätowierte Menschen nicht speziell in einem Funktionssystem oder werden durch ein solches beobachtet. Die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion betrachte ich deshalb nicht, wie es Luhmann vorschlägt, als an Funktionssysteme der funktional differenzierten Gesellschaft gebunden. Inklusion/Exklusion verstehe ich als (sozialen) Effekt von Beobachtungen, die in einem Feld von anschlussfähigen Beobachtungen – einem Diskurs – gemacht werden. Durch inkludierende/exkludierende Beobachtungen werden Personen nicht nur einer sozialen Position zugerechnet, sondern ebenso in ihren (personalen) Eigenschaften diskursiv erzeugt. Ihnen werden soziale Identitäten zugeschrieben und dies in Unterscheidung zur anderen, stets konstitutiv wirkenden Seite (Stäheli und Stichweh 2002: 4). Wie Stephan Oettermann im obigen Zitat für die reale Realität feststellt, dass »letztlich immer die Tätowierten den Kürzeren« zogen, dies kann in gewissem Sinne ebenso für Filme behauptet werden. Tätowierte gehören in Filmen oft den exkludierten Gruppen an 39 Die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion ist dem Konzept der »boundary maintenance« von Fredrik Barth (1994 [1969]) ähnlich. Barths Konzept legt meines Erachtens den Schwerpunkt mehr auf die Aufrechterhaltung einer (ethnischen) Grenze, wogegen Inklusion/Exklusion den Modus der Konstruktion einer Grenze hervorhebt. 41 – egal ob von der ›normalen‹, dem Filmpublikum eher vertrauten Gesellschaft exkludiert oder von einem totalitären Staat, der womöglich beim Publikum weniger Sympathie als der tätowierte Protagonist auslöst. Der Diskurs über die Kriminellen weist den tätowierten Personen in den Filmen beinahe ausnahmslos die Positionen der Diebe, (Serien-/Auftrags-)Mörder, Drogenhersteller (›Köche‹), -dealer oder -konsumenten – kurz: der Kriminellen – zu.40 Es handelt sich dabei fast ausschliesslich um selbstbestimmte Tätowierungen (im Gegensatz zu den fremdbestimmten, die im nächsten Kapitel eine bedeutende Rolle spielen). Die Beobachtung der tätowierten Kriminellen erwirkt meines Erachtens zwei Inklusions-/Exklusions-Effekte: Im ersten Fall erzeugt der Diskurs die tätowierten Kriminellen anhand der Tätowierungen. Diese werden durch die ›Normalen‹ (BürgerInnen, Polizei, Drogenfahndung) vom ›normalen‹ Leben ausgeschlossen, gesucht, gejagt, in Gefängnissen verwahrt oder aber getötet. Im zweiten Fall des Inklusions-/Exklusions-Effekts werden Tätowierte zwar als Kriminelle beobachtet, sie werden jedoch von der Gruppe (Geheimdienst, Polizei) benutzt und instrumentalisiert, durch die sie im Grunde exkludiert werden. In beiden Fällen handelt es sich nicht lediglich um Exklusionseffekte, sondern immer um ein Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion. 5.2 »What type of people?« – kriminell und tätowiert Der Film XXX bietet eine exemplarische Beobachtung tätowierter Menschen im Rahmen des Kriminaldiskurses. Die Beobachtung der Kriminalität lässt sich unter anderem an zwei verschieden ausgestalteten Lesarten von Tätowierungen aufzeigen. Die eine Lesart betrifft generell Tätowierungen und die andere bezieht sich konkret auf eine spezifische Tätowierung des Protagonisten. Beide Lesarten bringen dessen ungeachtet die Tätowierung und Kriminalität eng miteinander in Verbindung und wirken mit Blick auf Inklusion und Exklusion unterschiedlich. Im Gegensatz zu den selbstbestimmten Tätowierungen stammen die Lesarten nicht von der tätowierten Person selbst, weshalb ich sie als fremdbestimmt bezeichne. Um die generelle Lesart zu diskutieren, beginne ich ganz am Anfang des Films, um dann auf die Szene von Interesse zu kommen. Denn schon bevor überhaupt von Tätowierungen die Rede ist, wird der Verbindung zwischen der Kriminalität und dem Tätowieren der Weg bereitet. XXX hat mit den James-Bond-Filmen vieles gemeinsam: die teuren Autos, die vielen Stunts und Explosionen und die gut aussehenden Frauen. Doch zeichnet sich der Film 40 Die Hard bietet eine solche Ausnahme. Auf einem Oberarm des Polizisten John McClane ist einige Male eine kleine, blaue Tätowierung sichtbar (das Motiv ist nicht erkennbar). McClane befreit im Alleingang Geiseln in einem Hochhaus und beseitigt die Geiselnehmer einen nach dem anderen. Doch schon in Die Hard 2 ist McClanes Tätowierung nicht mehr zu sehen, dafür aber jene des Terroristenanführers. In The Salton Sea scheinen nicht nur der Protagonist und seine Drogenfreunde tätowiert zu sein, sondern ebenso einer der (selbst kriminellen) Polizisten (obwohl die Tätowierung nur wenige Male und dabei nur undeutlich, also nicht fokussiert, sichtbar ist). 42 XXX im Unterschied zu den Bond-Filmen dadurch aus, dass in ihm nicht ein charmanter Gentleman im Anzug als Geheimagent die Welt vor den Bösen rettet, sondern vielmehr das Gegenteil eines James Bond. Die erste Szene des Films zeigt den fehlschlagenden Einsatz eines Agenten (à la James Bond) des US-amerikanischen Geheimdienstes (NSA). Die Mission gelingt deshalb nicht, weil der Agent auf der Flucht vor Mitgliedern der Kriminellengruppe ›Anarchy 99‹ in seinem Anzug geradewegs in die Höhle des Löwen stürzt. Er platzt in ein Konzert hinein, dessen Publikum aus schwarz gekleideten und vielfach tätowierten Personen besteht. Weil die Mission mit dem Tod des Agenten endet, schlägt der Geheimdienstagent Augustus Gibbons im NSAHauptquartier vor, eine neue Strategie zu verfolgen. Gibbons präsentiert seinem Vorgesetzten und einem anderen Agenten seine Vorschläge mittels Porträtfotografien von Männern – darunter auch einer Fotografie von Xander Cage, dem zukünftigen Spezialagenten. Einige Fotografien erinnern auf Grund der schwarzen, horizontalen Linien im Bildhintergrund an Polizeiaufnahmen nach der Verhaftung. Auf die zwei Fragen, wer die Männer seien und ob sie vom CIA kämen, antwortet Gibbons: »No, civilians. Convicts, mercs [Söldner], contract killers. The best and brightest of the bottom of the barrel«. Der andere Agent, empört über Gibbons Auswahl, erwidert: »They're the scum of the earth«. Gibbons entgegnet jedoch dem schockierten Agenten: »And they're programmable, expendable, and they work. I think it's our best shot. Do we want to drop another mouse in the snake pit? Or do we want to send our own snake and let him crawl in?« Gibbons Strategie besteht darin, nicht mehr einen Geheimagenten im Anzug loszuschicken, sondern einen, der ebenso zum ›Bodensatz‹ gehört wie die Zielgruppe. Er wird der Gruppe ›Anarchy 99‹ dadurch nicht auffallen – er ist keine ›Maus‹, sondern eine weitere ›Schlange in der Schlangengrube‹. Damit kündigt Gibbons bereits die Inklusion eines Kriminellen41 in der Position eines Geheimagenten an. Ich komme später besonders auf diese Paradoxie der Inklusion des Exkludierten zurück. Nachdem Gibbons seine Pläne für einen neuen Geheimagenten vorgelegt hat, unterzieht er die ausgewählten Kandidaten Tests. Unter den Kandidaten befindet sich auch der Extremsportler Xander Cage. An Cage fallen wesentlich seine vielen farbigen Tätowierungen auf: Der ganze rechte Arm ist mit unterschiedlichen Motiven und Ornamenten geschmückt; auf dem linken Oberarm, der Brust und dem Bauch hat er Tätowierungen; doch die wichtigste Tätowierung im Film sind die drei stets sichtbaren, stilisierten ›X‹ in seinem Nacken.42 Letztere wird im Film sowohl visuell als auch sprachlich speziell betrachtet. Kurz bevor Cage vom Geheimdienst entführt und den Tests von Gibbons unterzogen wird, stiehlt er mit seinen ebenso farbig tätowierten Freunden einen teuren Wagen. 41 42 Ich verwende wieder den Begriff des Kriminellen, da er im Film selbst Verwendung findet. Obschon die ›straightedge‹-Bewegung in Nordamerika unter anderen Motiven ebenso drei ›X‹ zur Bekennung zum körperbewussten und asketischen Lebensstil tätowiert, ist Xander Cage keinesfalls dieser Bewegung zuzuordnen (zum Tätowieren der ›straightedgers‹ siehe Atkinson 2003: bes. 210). 43 Nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei lässt Cage bei einem spektakulären Stunt den Wagen von einer Brücke in den Abgrund stürzen, wobei alles auf Videokamera festgehalten wird. Er selbst segelt mit einem Gleitschirm davon und flieht mit seinen Helfern. Cage wird noch am selben Abend vom Geheimdienst festgenommen. Cage und die anderen Kandidaten werden zwei Testsituationen ausgesetzt. Nach einer Simulation eines Überfalls in einem Restaurant werden Cage und zwei andere Kandidaten mit einem Militärflugzeug bei Kokainfeldern in Kolumbien unliebsam abgesetzt. Dabei geraten sie in die Gefangenschaft der Drogenhersteller. Die drei Testkandidaten können sich zwar nach einer kleinen Auseinandersetzung aus den Fängen des kolumbianischen Drogenbosses befreien – der Drogenboss ist ›selbstverständlich‹ stark tätowiert (vgl. Fn. 45). Sogleich geraten sie aber in die Schusslinie der kolumbianischen Armee, die einen Angriff gegen die Drogenhersteller gestartet hat. Cage und ein anderer Testkandidat werden letztlich lebend wieder festgenommen. Am nächsten Morgen taucht Augustus Gibbons zur Überprüfung der ›Testergebnisse‹ auf. Cage kennt Gibbons bereits von der kurzen Begegnung beim ersten Test im Restaurant. Nach ersten Feindseligkeiten von Cage gegen Gibbons und einen anderen Agenten fordert Gibbons Cage auf, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Im folgenden Dialog werden Kriminalität und Tätowierungen von Gibbons direkt in Verbindung gebracht. Dabei nimmt die Beobachtung beinahe Lombroso'sche Züge an. A. Gibbons: »You know, I am the kind of guy that believes that under the right circumstances, a man can change. For instance, last night you exhibited courage, leadership and willingness to protect a man you hardly knew.« X. Cage: »So give me a medal.« A. Gibbons: »I'd rather give you a job.« X. Cage: »Look at me. Do I look like a fan of law enforcement?« A. Gibbons: »This is your lucky day, Xander. This is your chance to pay back your Uncle Sam for all your wonderful freedoms you enjoyed. The job’s not that difficult. I want you to meet people and find out what you can about them.« X. Cage: »What type of people?« A. Gibbons: »Dangerous, dirty, tattooed, uncivilized. Your kind of people.« X. Cage: »Hold up. My kind of people would say, ›Kiss my ass, scarface‹.« In der Zentrale des Geheimdienstes wurden die Agenten-Kandidaten (Verurteilte, Söldner, Auftragskiller) in generalisierter Weise als ›das Beste des Bodensatzes‹ und als ›Abschaum der Erde‹ bezeichnet. Sie erfahren dadurch eine Marginalisierung als die schlechtesten Menschen. Gibbons spricht nun ähnlich von ›Anarchy 99‹ und Xander Cage. Auf Cages Frage, um welche Art von Menschen es sich handle, die er treffen und über die er Informationen beschaffen solle, antwortet Gibbons mit einer sprachlich betonten Beschreibung solcher Personen: Sie seien gefährlich (›dangerous‹), schmutzig/gemein (›dirty‹), tätowiert (›tattooed‹) und unzivilisiert (›uncivilized‹). Expliziter 44 und pointierter könnte die Unterscheidung zwischen anständigen, ›normalen‹ und gefährlichen, tätowierten Personen kaum formuliert werden. Die Bezeichnung liegt auf der Seite der Kriminellen. Das Tätowieren wird in eine Reihe äquivalenter Begriffe gestellt, wodurch tätowiert zu sein (›tattooed‹) zu einem feststehenden Attribut gefährlicher und unzivilisierter, d.h. krimineller Personen gemacht wird. Sie alle werden einem bestimmten Personentyp (»Your kind of people«) zugerechnet. Bei der Begriffsserie handelt es sich um eine Beobachtung, die auf eine Typisierung von Menschen abzielt. Sie bewirkt die Exklusion der bezeichneten Menschen im Sinne von kriminellen Personen. Dennoch findet die Exklusion der tätowierten Kriminellen in Unterscheidung zu den nicht-tätowierten und nicht-kriminellen Menschen innerhalb des Kriminaldiskurses statt. Die durch die generelle Beobachtung der Kriminellen unbeobachteten NichtKriminellen erfahren zugleich eine Typisierung, welche nur in Unterscheidung zu der »kind of people« möglich ist, die Gibbons umschreibt. Die durch den Kriminaldiskurs exkludierten Kriminellen bilden das konstitutive Aussen für die Seite des nichttätowierten ›Normalen‹ (Stäheli 2000: 25; Stäheli und Stichweh 2002: 4) – für jene Seite, die Augustus Gibbons mit seiner Mission zu verteidigen versucht. Obwohl Cage Gibbons' Bezeichnungen Einhalt gebietet (»Hold up«), antwortet er ihm stellvertretend für ›seine Sorte von Leuten‹ mit »Kiss my ass, scarface« (›scarface‹ deshalb, weil Gibbons' linke Gesichtshälfte vernarbt ist). Erstens positioniert sich Cage selbst in der von Gibbons beschriebenen Gruppe (»My kind of people would say«) und reagiert ausserdem in genau der Weise, wie Gibbons ihn und die anderen seiner Sorte beschrieben hat. Es ist also nicht nur durch Gibbons in der Position des ›Guten‹, durch den Kriminelle konstruiert werden, sondern auch aus Cages Position, der sich den ›gefährlichen, gemeinen, tätowierten und unzivilisierten‹ Personen zurechnet. Cage reproduziert damit, wogegen er sich zu wehren versucht. Diese Art von (Re-)Produktion der ›offiziellen‹ Beobachtung ist noch in zwei anderen Szenen mit Cage anzutreffen. Als Cage in Prag als Spezialagent in Gibbons' Mission unterwegs ist, soll er mit einem tschechischen Agenten zusammenarbeiten. Bevor die beiden einen Nachtclub der Gruppe ›Anarchy 99‹ betreten, erklärt ihm der Agent, dass die Clubbesucher zwei Dinge gemeinsam hätten: sie seien reich und kriminell. Darauf erwidert Cage: »I'll fit in, except for the rich part«. Cage erklärt sich damit explizit selbst zum Kriminellen. In einer anderen Szene wird Cage dagegen wieder durch einen Geheimdienstmitarbeiter als Krimineller bezeichnet. Der Erfinder und Tüftler des Geheimdienstes, Agent Lee Shavers, stellt beim ersten Treffen mit Cage die Vermutung an, dass Cage für die Mission direkt vom Gewichte stemmen aus dem Gefängnis geholt worden sei. Obwohl er von Cage für diese Anmassung gewarnt wird, stellt Shavers anschliessend noch einmal die These über Cage als einen Kriminellen auf. Als er Cage beim routinierten Umgang mit einer Waffe sieht, spekuliert Shavers fälschlicherweise, Cage habe wohl die Waffenhandhabung bei Überfällen auf Supermärkte erlernt. Beide Vermutungen über die soziale Position von Cage vor seinem Eintritt in den Geheimdienst betreffen dessen Kriminalität. Doch keine trifft wirklich zu. 45 Diese Beispiele von Cages selbst erklärter Kriminalität und die Spekulationen des (nicht-tätowierten) Erfinders zeigen, dass die Beobachtung der Kriminalität nicht nur von Gibbons Position aus möglich ist. Cage nimmt zeitweise selbst die Beobachtung der Kriminalität für seine Position in Anspruch und reproduziert damit die Unterscheidung zugunsten der Seite der Kriminalität. Die generelle Beobachtung der Verbindung zwischen tätowierten Personen und der Kriminalität und die damit einhergehende Exklusion, die Gibbons' Ausführungen anleitet, lässt sich im Film im Visuellen wieder beobachten. Gibbons' Aussage, dass es sich bei den Personen von ›Anarchy 99‹ um Cages ›kind of people‹ handle, bewahrheitet sich. Yorgi, der Anführer von ›Anarchy 99‹, passt in das von Gibbons heraufbeschworene Bild des Kriminellen. Yorgi ist gefährlich und gemein, denn er plant mit seinen Leuten und der Hilfe russischer Wissenschaftler weltweit Giftgasanschläge. Er benutzt die russische Geheimagentin Yelena, die beim KGB in Vergessenheit geraten ist, ohne ihr Wissen für seine Zwecke. Und schliesslich passt Yorgi auch in visueller Hinsicht in Gibbons' bzw. das offizielle Bild des Kriminellen: Er ist mit einem grossen Drachen im japanischen Stil auf dem Oberkörper tätowiert, wobei die Krallen des Drachen stets auf der rechten Seite des Halses sichtbar sind. Andere Personen im Umfeld von Yorgis ›Anarchy 99‹ passen in gleicher Weise in dieses Bild der kriminellen »kind of people«. Die Beobachtung also, die Gibbons' Gespräch mit Cage anleitet, wirkt auf visuelle Weise ebenso in der Darstellung von Personen der Gruppe ›Anarchy 99‹. In XXX sind also die Tätowierten kriminell bzw. gehören einer kriminellen Gruppe an. In vielen anderen Filmen erfolgt diese Beobachtung auf ähnliche Weise. Sie bedingt jedoch in den meisten Fällen lediglich das Visuelle und nur selten so explizit die Dialoge wie in XXX. 5.3 »Three Xs tattooed ... that’s rather appropriate« Nachdem Gibbons Cage und die Gruppe ›Anarchy 99‹ in denselben Topf wirft und sie zur gleichen »kind of people« – den Kriminellen – zählt, bringt er erneut Kriminalität und Tätowierungen zusammen. Gibbons erzählt Xander Cage die Geschichte des eingesperrten Löwen, der mit der Zeit in seiner kleinen Zelle abstumpft. Das gleiche passiere mit einem Mann. Er versucht, ihn mit der Löwen-Parabel dazu zu bewegen, für ihn zu arbeiten. Cages Tätowierungen kommen Gibbons bei seinen Bemühungen, Cage für die Mission zu gewinnen, entgegen: A. Gibbons: »[...] Leavenworth Federal Penitentiary is no joke. They'll take a wild man like you and throw him in solitary just for the fun of it. No more mountains to board, no more oceans to surf. Just a 6-by-8 cell with no window and only a bucket to shit in. But you can avoid all that by doing me this small favour.« X. Cage: »You don't have shit on me.« A. Gibbons: »I noticed you have three Xs tattooed on the back of your neck. 46 I think that's rather appropriate since you're looking at three strikes. Grand theft auto, reckless endangerment, and that bridge stunt of yours makes you a three-time loser. Maybe you ought to call yourself ›Triple X‹. But if you do what I want, I'll make all your little recent criminal transgressions go away and let you get back to that pathetic excuse of a life.« Abb. 7: Xander Cages Nackentätowierung in XXX Gibbons Lesart der Tätowierungen befindet sich nicht mehr auf der allgemeinen Ebene, sondern bezieht sich nun auf eine konkrete Tätowierung im Nacken des Protagonisten (Abb. 7). Gibbons bemüht hier eine Lesart, die aus seiner Position als Geheimagent im Dienste des Staates ihre Richtigkeit oder, besser gesagt, ihre Evidenz hat. Drei tätowierte ›X‹ und drei Verbrechen, die Xander Cage bei der Fahrt mit der Corvette des Senators begangen hat, passen für Gibbons zusammen (»that's rather appropriate«). Gibbons drückt gewissermassen der Tätowierung eine Lesart auf, die ihm die Erpressung von Xander Cages Teilnahme an der Geheimmission erlaubt – eine fremdbestimmte Lesart, die womöglich nicht der des Tätowierten entspricht. Im diskursiven Feld, in dem der Geheimagent Gibbons positioniert ist, ist die Beobachtung der Übereinstimmung der drei tätowierten ›X‹ im Nacken von Cage mit seinen Verbrechen anschlussfähig – auch wenn Xander Cage die Tätowierung im Nacken bereits vor dem Brückenstunt hatte. Cage wehrt sich in diesem Moment nicht gegen Gibbons und dessen Lesart seiner Nackentätowierung, sondern hört sich besorgt den erpresserischen Monolog an. Warum sich Cage speziell die drei stilisierten ›X‹ im Nacken tätowieren liess oder welche Lesart er hervorbringen würde, thematisiert der Film nicht.43 43 Zwei mögliche Spekulationen zu Xander Cages Tätowierungen, die ich nur andeuten möchte, lauten folgendermassen: Wie mir ein Tätowierer aus Deutschland im Gespräch über den Film XXX sagte, gehören seiner Meinung nach Tätowierungen zu Extremsportlern. Xander Cage ist im Film ein bekannter Extremsportler. Es sei deshalb nicht von ungefähr, dass Cage und seine Freunde entsprechend tätowiert seien. Eine ähnliche Verbindung liesse sich in Biker Boyz feststellen, in dem es um (extreme) Strassenrennen geht. Oder aber die drei ›X‹ in 47 In dieser Szene ist nur Cages Nackentätowierung sichtbar. Doch beim ersten Test im Restaurant, eine Szene davor, trägt Cage ein ärmelloses Oberteil. Die Tätowierungen auf seinem rechten Arm sind dadurch sichtbar, ohne jedoch Gibbons Aufmerksamkeit zu wecken, wie es in der darauf folgenden Szene des ›Jobangebots‹ die Nackentätowierung vermag. Warum zieht also Gibbons nicht beispielsweise die Tätowierungen auf dem rechten Arm zu Rate, als er Cage für die Geheimdienstmission gewinnen will? Nur die Nackentätowierung mit ihren stilisierten ›X‹ scheint im Diskurs über die Kriminellen Sinn zu machen, weil sie in ihrer Zeichenhaftigkeit der Beobachtung der Lesbarkeit entgegenkommt. Gibbons erkennt in den drei ›X‹ Zeichen für Cages Verbrechen. Die restlichen Tätowierungen auf Cages Körper sind für Gibbons in dieser Situation nicht von Bedeutung. Aber trotzdem sind sie Gegenstand der Beobachtung, welche die beschriebenen Szenen prägt. Für die erste, generelle Lesart von Gibbons sind die tätowierten Motive und Ornamente – auch die stilisierten ›X‹ im Nacken – auf Grund ihrer Existenz von Interesse. Cage ist grossflächig und gut sichtbar tätowiert, was der kriminalisierenden Beobachtung Vorschub leistet.44 Sie werden auch ohne genaueres Studium als Zeichen von Kriminalität/Kriminellen beobachtet. Die Nackentätowierung erlaubt Gibbons zusätzlich, die Verbindung zwischen Tätowierung und Kriminalität noch deutlicher zu koppeln. Nicht zuletzt nutzt er die Zeichenhaftigkeit der Nackentätowierung dazu aus, Cage mit dessen drei Verbrechen zur Annahme des ›Jobangebots‹ zu bringen. Die spezifische Lesart einer Tätowierung in Verbindung mit Kriminalität erfolgt im Fall von XXX durch einen Vertreter der Nicht-Tätowierten, aus einer sozial anerkannten Position also. Eine solche Lesart ist aber nicht auschliesslich nur aus einer anerkannten Position wie der von Augustus Gibbons möglich. Der Film Con Air zeigt, dass die Verbindung zwischen einer spezifischen Tätowierung und Verbrechen ebenso von der tätowierten Person selbst gemacht werden kann. Dabei bemüht sich der Tätowierte um die fremdbestimmte Lesart, die dem ›offiziellen‹ Diskurs über die Kriminellen eigen ist. Con Air erzählt die Geschichte eines Elitesoldaten, der in Folge seiner Selbstverteidigung in einem Kampf mit Betrunkenen wegen Totschlags ins Gefängnis muss. Nach acht Jahren Haft wird er frühzeitig entlassen. Sein Transport erfolgt in einem Gefängnisflugzeug, mit dem vor allem Schwerverbrecher übelster Art in andere Gefängnisse überführt werden sollen. Es ist letztlich dem ehemaligen Elitesoldaten beschieden, die Flugzeugentführung und die Flucht der Schwerverbrecher zu verhindern. Ausser den Polizisten, dem ehemaligen Elitesoldaten, dessen Gefängniskollegen und dem berüchtigten Serienmörder sind alle Häftlinge an Bord sichtbar tätowiert. Auch der verdeckt ermittelnde Drogenfahnder ist tätowiert, der als Häftling getarnt im Flugzeug 44 Cages Nacken sind als ›Ausformulierung‹ und Stilisierung von Cages Kosenamen ›X‹ gedacht. Vielleicht spielt hier gerade die Unterscheidung zwischen ›Tätowierungen haben‹ und ›tätowiert sein‹ (Bell 1999: 55f.) die entscheidende Rolle, wobei Xander Cage zu Letzteren gezählt werden muss – zu den ›heavily tattooed‹ (Oettermann 1982). 48 sitzt. Im Flugzeug befindet sich auch der Mehrfachvergewaltiger mit dem Namen ›Johnny 23‹.45 Bevor die Häftlinge das Flugzeug in ihre Gewalt bringen, erklärt ›Johnny 23‹ im Gespräch mit einem der späteren Flugzeugentführer, warum er ›Johnny 23‹ genannt wird. Dazu zeigt er seinem Gesprächspartner die Innenseite seines rechten Unterarms, auf dem 23 rote Herzen an grünen Ranken tätowiert sind. ›Johnny 23‹ spricht als einziger im ganzen Film über seine Tätowierung. Jedes der 23 tätowierten Herzen steht für ein Vergewaltigungsopfer. Sowohl der Name ›Johnny 23‹ als auch die 23 Herzen repräsentieren also die ›offizielle‹ Opferzahl seiner Verbrechen – sie sind Zeichen seiner Verbrechen. Johnny fügt aber sogleich an, dass er in Wahrheit ›Johnny 600‹ heissen müsste, ginge es nach der inoffiziellen Anzahl seiner Opfer. Der Film Con Air beobachtet also einerseits generell Tätowierungen in Verbindung mit Kriminellen (wie in XXX): Mit einer Ausnahme sind die wahren Verbrecher im Flugzeug sichtbar tätowiert, die Polizisten und der zu Unrecht verurteilte Protagonist sind es nicht. Andererseits erzeugt Con Air ähnlich der Lesart der Nackentätowierung durch Gibbons eine offizielle und fremdbestimmte Lesart einer spezifischen Tätowierung. In dem Fall jedoch wird die offizielle Lesart, wie sie im Diskurs über die Kriminellen anschlussfähig ist, vom Tätowierten selbst hervorgebracht. ›Johnny 23‹ reproduziert die Beobachtung, welche die Lesart seiner Tätowierung bedingt, und positioniert sich selbst im Diskurs als 23-facher Vergewaltiger. Er vollzieht mit der Beobachtung im Sinne des ›offiziellen‹ Kriminaldiskurses sowohl durch die sprachliche Feststellung als auch seine spezifische Tätowierung seine Selbst-Exklusion (vgl. dazu Hahn 2000: 381; Bohn und Hahn 2002: 10f.). Nicht zuletzt dient ›Johnny 23‹ die Übernahme der offiziell gültigen Lesart als Selbstschutz vor der Justiz. ›Johnny 23‹ würde sonst ›Johnny 600‹ genannt und müsste sich entsprechend für die inoffizielle Zahl seiner Opfer 600 Herzen auf den Arm tätowieren lassen. Die Beobachtungen der Tätowierungen und der Tätowierten in XXX und Con Air fallen ähnlich der These Lombrosos aus. Die Unterscheidungen normal/kriminell und tätowiert/nicht-tätowiert schliessen allgemein im Diskurs über Kriminelle wie auch spezifisch in XXX, Con Air und anderen Filmen aneinander an. Es sind die Seiten ›tätowiert‹ und ›kriminell‹ der Unterscheidungen, die bezeichnet und miteinander verbunden werden. Statt als Kriminelle könnten die Tätowierten im Sinne von XXX ebenso als ›unzivilisiert‹, ›gefährlich‹ und ›gemein/schmutzig‹ bezeichnet werden. Alle die Beschreibungen von Xander Cages »kind of people« sind mit dem ›Tätowiert-Sein‹ 45 Ich möchte kurz auf einen Schauspieler eingehen, der auf Grund seiner markanten Tätowierungen oft in Filmen mitspielt. Es handelt sich um Danny Trejo. Er spielt den Barkeeper und Vampir in From Dusk Till Dawn, ›Johnny 23‹ in Con Air, den kolumbianischen Drogenboss in XXX, einen Handlanger eines Drogenhändlers in The Salton Sea oder einen Auftragsmörder in Desperado und The Devil's Rejects. In jedem dieser Filme spielt er einen stark tätowierten Kriminellen bzw. Bösewicht, denn er ist wirklich tätowiert. Laut den biographischen Angaben in der Internet-Filmdatenbank (www.imdb.com) war er früher GangMitglied und hat etliche Jahre in verschiedenen Gefängnissen gesessen. Dass dieser Schauspieler eine ›gute‹ Rolle bzw. keinen Kriminellen spielt, scheint schon auf Grund seiner Tätowierungen kaum vorstellbar. 49 anschlussfähig – nicht zuletzt, weil sie in Unterscheidung zur ›normalen‹, nichttätowierten ›Sorte von Menschen‹ beobachtet werden. Insbesondere der Bezeichnung ›uncivilized‹, die Gibbons mit ›tattooed‹ in einer Serie nennt, scheint die AtavismusThese Lombrosos nicht fern zu sein. Lombrosos These besagt, wie ich früher bereits angeführt habe, dass Tätowierungen der ›Primitivität‹ des Kriminellen entstammen, denn das Tätowieren ist dem Charakter der ›Primitiven‹ eigen und findet sich als ein ›Überbleibsel‹ bei den »roheren Menschenklassen« wieder (siehe Lombroso 1890: 271).46 Im Film XXX halten weder Xander Cage, den die Beobachtungen insbesondere als Kriminellen markieren, noch andere Tätowierte den Beobachtungen des Diskurses über die Kriminellen andere Beobachtungen entgegen. Ich habe zwar oben auf die Reaktion von Cage hingewiesen, mit der er Gibbons Bezeichnungen seiner Sorte von Menschen Einhalt gebietet. Cages Antwort »Kiss my ass, scarface« kann jedoch nicht als Widerstand gesehen werden,47 sondern vielmehr als Reproduktion der kriminalisierenden Unterscheidung des vorherrschenden Diskurses. In gleicher Weise handelt es sich in Con Air bei der Übernahme der offiziellen Lesart durch den Schwerverbrecher ›Johnny 23‹ in Form der tätowierten Herzen um eine Reproduktion der Beobachtung der tätowierten Kriminellen. In XXX trifft eine fremdbestimmte Lesart auf eine selbstbestimmte Tätowierung, insofern als nur Augustus Gibbons über Tätowierungen allgemein und speziell über die Nackentätowierung von Xander Cage spricht. Der Film beobachtet insgesamt Tätowierungen, was durch Gibbons Äusserungen explizit wird. Grob formuliert macht der Film – und er ist gewiss nicht der einzige – folgende Beobachtung: Kriminelle sind tätowiert respektive Tätowierte sind kriminell. Con Air bietet sich als weiteres Beispiel unter anderen an. Die Verbindung von Kriminalität und tätowierten Menschen erweist sich in der filmischen Inszenierung als evident und beinahe als notwendig. In vielen Filmen bedingt diese Beobachtung vor allem das Visuelle, also die Darstellung von tätowierten Menschen. XXX und Con Air stellen dagegen zwei Beispiele dar, in denen die Beobachtung zusätzlich in Dialogen explizit gemacht wird. 46 47 Trotz ablehnender Haltung Lombrosos These gegenüber kommen Delarue und Giraud zu einem ähnlichen Schluss: »Nous terminerons en ajoutant que les tatouages ne se trouvent que sur les primitifs par appartenance à une peuplade non civilisée, sur des individus primitifs par essence, ou sur des individus ayant été contraints de vivre dans des conditions absolument primitives pendant une période de leur existence. Pour nous, donc, le tatouage est une marque indiscutable de primitivisme« (1950: 54; meine Herv.). Obschon Beeler (2006) diesen Film nicht behandelt, würde ihre Analyse womöglich an dieser Stelle ›resistance‹ aufspüren, an der ich die Reproduktion der Beobachtung des kriminalisierenden Diskurses bezeichne. 50 5.4 Formen der Inklusion von Exkludierten XXX und Con Air bieten zwei Beispiele für die Konstruktion tätowierter Personen als Kriminelle durch den Kriminaldiskurs. Besonders in XXX wird die Typisierung tätowierter Krimineller deutlich. Die Beobachtungen – seien sie aus der Position einer nicht-tätowierten oder einer tätowierten Person verwirklicht – haben den Effekt der Exklusion der mit der Beobachtung erfassten Menschen. Ich habe bereits auf die Paradoxie hingewiesen, die damit aus beobachtungstheoretischer Sicht vorliegt: Der Kriminaldiskurs beobachtet Tätowierungen und Kriminalität in Verbindung miteinander und erzeugt eine bestimmte Personengruppe. In diesem Fall ist es die Exklusionsseite der Inklusions-/Exklusions-Unterscheidung, die markiert wird. Sie folgt nicht wie ein »logischer Schatten« (Luhmann 1995a: 262) der Inklusionsseite, die nach Luhmann bevorzugte Beachtung findet (1995a: 262). Die exkludierende Beobachtung der tätowierten Kriminellen schliesst die bezeichnete Seite jedoch nie vollständig aus. Das Exkludierte bildet einen notwendigen Teil der Definition des Inklusionsbereichs – das ›Aussen‹, das konstitutiv für das ›Innere‹ ist (vgl. Stäheli und Stichweh 2002: 4). Obschon der Kriminaldiskurs die Tätowierten ausschliesst, sind diese stets als notwendiges Abgrenzungsobjekt inkludiert. Das bedeutet, dass die Unterscheidung der Inklusion/Exklusion in die Seite der Inklusion wieder eintritt (Luhmann 2002a: 80). Es besteht ausserdem eine weitere Paradoxie der Inklusion/Exklusion, die mit den sozialen Effekten der Beobachtungen einhergeht. Die Exklusion der tätowierten Kriminellen durch die Beobachtung hat vielfach deren soziale Inklusion in unterschiedlichen Formen zur Folge. In den hier untersuchten Filmen können zwei solche Formen beobachtet werden. Die vollständige Inklusion oder Hyperinklusion (Göbel und Schmidt 1998: 112) tätowierter Krimineller in ein Gefängnis bildet in vielen Filmen eine Form, die mit der kriminalisierenden Beobachtung einhergeht.48 Ein Film, in dem ein Gefängnis vorkommt oder den Hauptschauplatz bildet, macht auch immer tätowierte Gefängnisinsassen sichtbar. Ein Gefängnis ohne Tätowierte gibt es in meiner Filmauswahl nicht. Die nicht-tätowierten Ausnahmen sind jene inhaftierten Protagonisten, die wie in Con Air oder XXX: State of the Union zu Unrecht als Kriminelle im Gefängnis landen (zu Letzterem vgl. Fn. 55). Im Kriminaldiskurs fallen sie jedoch auf die Seite der NichtTätowierten und werden damit von den tätowierten Kriminellen unterschieden. Ihre Unschuld und Aufrichtigkeit wird unter anderem durch die fehlenden Tätowierungen inszeniert.49 48 49 Bohn und Hahn nennen die Inklusion z.B. in ein Gefängnis oder ein Asyl »an including exclusion via spatial concentration« (2002: 24). Die Omnipräsenz und die visuelle Inszenierung der Tätowierungen der Gefängnisinsassen in Filmen findet erstaunlicherweise in Publikationen ausschliesslich über die filmische Inszenierung von Gefängnissen kaum oder keine Erwähnung (vgl. O'Sullivan 2001; Wilson und 51 In American History X erfolgt eine solche »(temporäre) Hyperinklusion« (Göbel und Schmidt 1998: 112) des Protagonisten in ein Gefängnis.50 Der Film erzählt die Geschichte von Derek und seinem Bruder Danny, die beide einer rechtsextremen Gruppierung mit dem Namen »D.O.C«51 angehören. In der Gruppe hat Derek die Position des stellvertretenden Anführers inne, die er vom Kopf der Gruppe, Cameron Alexander, erhalten hat. Der Film besteht aus Farb- und Schwarzweissbildern, die unterschiedliche Zeitstränge verfolgen. Die Farbbilder spielen in der Gegenwart, in der Derek aus dem Gefängnis entlassen wird und versucht, seinen Bruder zum Ausstieg aus der rechtsextremen Szene zu bewegen. Denn im Gefängnis wurde er von ideologisch Gleichgesinnten vergewaltigt, was seine Abkehr von der Gruppe einleitete. Die Sequenzen in Farbe werden durch Rückblenden in schwarzweiss abgelöst, in denen in nicht chronologischer Reihenfolge von den Ereignissen im Zusammenhang mit der rechtsextremen Gruppierung und Dereks zunehmendem Fremdenhass erzählt wird. Die Rückblenden zeigen auch, wie es zu Dereks Inhaftierung gekommen ist. In dieser Farbe-Schwarzweiss-Unterscheidung fällt auf, dass Dereks zahlreiche Tätowierungen hauptsächlich in den schwarzweissen Sequenzen zu sehen sind, die zeitlich bis vor die Entlassung Dereks aus dem Gefängnis reichen. Eines Nachts versuchen drei schwarze Männer, Dereks Wagen in der Einfahrt zu stehlen. Dereks Bruder Danny wird durch Geräusche auf den Diebstahl aufmerksam und holt Derek deshalb aus dem Bett. Derek steht sogleich auf und zieht zusätzlich zu den Unterhosen nur seine Springerstiefel an. Er nimmt seine Waffe und geht nach unten. Den Mann, der bei der Haustüre Wache schiebt, erschiesst er, ohne zu zögern. Den zweiten, der sich am Wagen zu schaffen macht, verprügelt er zuerst, bis dieser am Boden liegt. Als der dritte Beteiligte in einem Wagen flüchtet, feuert Derek die übrigen Schüsse auf den davon fahrenden Wagen ab. Mit einem Grinsen im Gesicht dreht sich Derek in Richtung des Hauses, vor dem Danny steht, der die Geschehnisse mitverfolgt hat. Das sind die Ereignisse, wie sie zu Beginn von American History X dargestellt werden. In einer späteren Rückblende kommt die Ankunft der Polizei und die Verhaftung Dereks hinzu. 50 51 O'Sullivan 2004). Für eine psychoanalytische Betrachtung von American History X, in welcher die Tätowierung des Protagonisten mit einem Trauma in Verbindung gebracht wird, vgl. Holland Sarnecki (2001). »DOC« nennt sich die Gruppierung, in der Derek vor seiner Verhaftung der stellvertretende Anführer war. Im Film wird nicht klar, um was es sich beim Akronym handelt, das sich beispielsweise Danny während Dereks Haft auf den Arm tätowieren liess. Laut einer Internetdatenbank zu extremistischen Symbolen handelt es sich bei der »D.O.C« lediglich um eine fiktive rechtsextreme Gruppe. Auf der Website wird jedoch deutlich, dass American History X die Realität diesbezüglich irritieren konnte. Dort heisst es nämlich: »Now, some racist skinheads actually tattoo themselves with the acronym DOC, paying homage to the gang in the movie« (zu finden auf: http://www.adl.org/hate_symbols/acronyms_DOC.asp [30. 08.2006]). 52 In der ganzen Szene sind Dereks Tätowierungen auf dem Oberkörper sichtbar, vor allem aber das grosse, schwarze Hakenkreuz auf seiner linken Brust. Die tätowierten Motive rechtsextremer Art auf Dereks Körper sind der sicherste Beweis für seine politisch-ideologische Ausrichtung. In verschiedenen Rückblenden wird dies unterstrichen, indem Derek in bestimmten Situationen seine Hakenkreuztätowierung absichtlich sichtbar macht und sich gegenüber anderen Personen als Mitglied der rechtsextremen Gruppierung positioniert. Dereks rechtsextreme Tätowierungen gewinnen insbesondere im Gefängnis wesentlich an Bedeutung. Denn im Gefängis gilt es, sich aus Schutz vor Übergriffen einer Gruppe anzuschliessen, was unter anderem bedeutet, mit spezifischen Tätowierungen ›Farbe‹ zu bekennen.52 Derek trifft im Gefängnis auf Gleichgesinnte und mit ähnlichen Motiven tätowierte Häftlinge, denen er sich nach seiner visuellen Bekennung zur Gruppe der Rechtsextremen anschliesst. An dieser Stelle muss auf dieselbe Bedeutung bestimmter Tätowierungen in realen Gefängnissen hingewiesen werden. Die soziale Differenzierung zwischen Häftlingsgruppen in den USA erfolgt mitunter wesentlich durch spezifische Tätowierungen (DeMello 1993: 13). Sie machen die Unterscheidung zwischen Mitgliedern der rechtsextremen Bewegung (z.B. ›White Power‹), der Gruppe der ›Schwarzen‹ und jener der ›Chicanos‹/›Hispanics‹ kenntlich (DeMello 1993: 11; zu den ›Chicanos‹ auch Philips 2001: 361). Es liegt in diesem Fall eine Binnendifferenzierung innerhalb der eingeschlossenen Gruppe der tätowierten Kriminellen vor. Diese Differenzierung, die nun nicht zwischen Tätowierten und Nicht-Tätowierten erfolgt, bedeutet den Wiedereintritt der Inklusions-/Exklusions-Unterscheidung auf Seiten der tätowierten Exkludierten. Dieses Phänomen lässt sich jedoch ebenso in Bezug auf die Gruppen ausserhalb des Strafvollzugs sowohl in der Realität als auch im Film beobachten (vgl. auch Kap. 7 zum Zugehörigkeitsdiskurs). In American History X wird nicht nur ein Mitglied der rechtsradikalen Gruppe nach einem Gewaltverbrechen hinter Gitter gebracht. Der Film inszeniert Derek im Rahmen des Kriminaldiskurses als tätowierten und kriminellen Rechtsextremisten, wie es auch für die Mithäftlinge und Gleichgesinnten von Derek der Fall ist. Dereks Tätowierungen und die der anderen bieten nebst einem Anhaltspunkt zur rechtsextremen Gruppierung ebenso in ihrer Existenz Grund zur kriminalisierenden Beobachtung. Dass es sich in American History X nicht ›nur‹ um eine ideologisch extreme Gruppe handelt, die gelegentlich aus ihrer Sicht der Dinge Ordnung schafft, zeigt die Überwachung ihrer Aktivitäten durch die Polizei. Dies wird im Film in einer Besprechung der Polizei mit Dereks ehemaligem Lehrer Sweeney erkennbar, in der es um Dereks bevorstehende Entlassung aus dem Gefängnis geht. Es zirkulieren Akten, in denen gewisse Mitglieder von Camerons Gruppierung mit Fotografien und deren Tätowierungen erfasst sind.53 52 53 Ebenso in Con Air und Undisputed beobachtbar. Beeler (2006: 120ff.) hat diesbezüglich eine Fernsehserie über ein Gefängnis diskutiert. Ähnliches ist im Film Dark Angel beobachtbar, den ich im siebten Kapitel in Bezug auf den Zugehörigkeitsdiskurs näher betrachte, da versucht die Protagonistin Max Personen ausfin- 53 Die kriminalisierende und zugleich ›hyperinkludierende‹ Beobachtung in American History X bietet nur ein Beispiel unter vielen anderen Filmen, in denen tätowierte Menschen nicht nur in Verbindung mit Kriminalität beobachtet werden, sondern ebenso als Exkludierte Ziel einer vollständigen Inklusion werden oder sind. In einigen Fällen bleibt dem Exkludierten im Gegensatz zur bedingungslosen Inklusion die Wahl zwischen Gefängnis und ›Arbeit‹. Dass es sich bei letzterer Wahlmöglichkeit ebenso um eine forcierte Inklusion der Exkludierten handelt, will ich erneut am Film XXX diskutieren. Die zweite Form der sozialen Inklusion der diskursiv Exkludierten besteht in der zweckgerichteten Inklusion des tätowierten Kriminellen. Der tätowierte Kriminelle wird auf Grund seiner sozialen Position von den ›Normalen‹ für eine Arbeit angeheuert, bei der er den ›Normalen‹ im Kampf gegen die im Diskurs Exkludierten helfen soll (z.B. in XXX, Escape from New York, Escape from L. A. und The Salton Sea der Fall).54 Wie oben im Dialog (S. 45f) zwischen Augustus Gibbons und Xander Cage deutlich wird, steht Cage vor der Wahl zwischen diesen zwei Formen der Inklusion der Exkludierten: Um Cage die Inklusion als Geheimagenten schmackhaft zu machen, erzählt ihm Gibbons die Parabel des zahm werdenden Löwen im Käfig und weist auf die vergleichbaren Folgen des Gefängnisses hin (»Leavenworth Federal Penitentiary is no joke«). In Gibbons Dialog wird deutlich, dass Cage als Exkludierter in der einen oder anderen Weise inkludiert werden wird. Um Cage die Entscheidung aus Gibbons' Sicht noch einfacher zu machen, bezieht sich Gibbons auf die Nackentätowierung. Obschon Cage sagt, Gibbons habe nichts gegen ihn in der Hand (»You don't have shit on me«), bringt Gibbons die drei tätowierten ›X‹ in Cages Nacken in Verbindung mit seinen Verbrechen. Er macht Cage damit klar, dass die Option des Gefängnisses verwirklicht werden könnte – die Verbindung zwischen Tätowierung und Verbrechen ist im Kriminaldiskurs evident und könnte reale Folgen haben. Die Androhung der Inhaftierung, mit der vollständigen Inklusion in eine geschlossene Institution also, dient letztlich dazu, Cage von der zweckgerichteten Inklusion als Geheimagenten zu überzeugen. In diesem Fall erfolgt die Inklusion nicht von alleine, sondern muss erpresst werden. Es gilt in vergleichbarer Weise, was Urs Stäheli für die Inklusion ins Wirtschaftssystem beschrieben hat: »inclusion does not work automatically: inclusion is always also a process of 54 dig zu machen, die mit ihr bis zum dreizehnten Lebensjahr in einer militärischen Institution zu Soldaten ausgebildet wurden. Ein Merkmal der Soldaten ist eine Strichcode-Tätowierung im Nacken. Bei der Suche konzentriert sie sich vor allem auf Datenbanken der Polizei, in denen unter anderem Tätowierungen als Identifizierungsmerkmal von festgenommenen Kriminellen festgehalten werden. Sullivan zitiert einen Autor, der die Konstruktion der Kriminalität durch Inklusion und zweckgerichtete Verwendung der Kriminellen beschreibt: »Deliquents are not outlaws, nomads prowling about the confines of the docile and frightened citizenry; delinquency is not constituted through successive exclusions from the social order, but through successive inclusions under ever more insistent surveillance. [...] [Deliquents] are an identified, documented group, maintained under surveillance outside and used by the forces of order to maintain under surveillance the whole network of their contacts and their milieux. They are recruited and put to use« (Lingis zit. in Sullivan 2001: 31; meine Herv.). 54 persuasion [...] is also always a seduction« (2002: 115). Cage gibt schliesslich Gibbons' Erpressung respektive der forcierten Inklusion nach und entscheidet sich für die Option des Geheimagenten in der Erscheinung eines tätowierten Kriminellen. Der Wunsch, den Gibbons zu Beginn des Films im Geheimdienstquartier gegenüber seinem Vorgesetzten äussert, geht damit in Erfüllung. Ich habe früher in diesem Kapitel dargestellt, dass Gibbons nach dem Fehlschlag des Geheimagenten à la James Bond eine neue Strategie vorschlägt. Gibbons schliesst seinen neuen Vorschlag mit den Worten: »Do we want to drop another mouse in the snake pit? Or do we want to send our own snake and let him crawl in?« Diese Aussage fasst mit der Schlangenmethapher die zweckgerichtete Inklusion eines Kriminellen zusammen – wohlgemerkt eines unter anderem tätowierten Kriminellen, wie die Beobachtung im Film ausfällt. Der getötete Geheimagent war die ›Maus‹, die in die ›Schlangengrube‹ von ›Anarchy 99‹ in Prag gelegt wurde. Mit Xander Cage verfügt Gibbons über eine ›Schlange‹, die in der ›Schlangengrube‹ weder durch ihr Aussehen noch durch ihr Verhalten Aufmerksamkeit weckt. Cage ist eine ›Schlange‹ unter anderen.55 Die Schlangenmethapher und eine ähnlich paradoxe Form der Inklusion kommen in den zwei Filmen Escape from New York und Escape from L.A. vor. Beide Filme erzählen die gleiche Geschichte, nur mit dem Unterschied, dass sie in einem Fall in New York und im anderen Fall in Los Angeles spielt. Die USA haben sich der Kriminellen des Landes dadurch entledigt, dass sie in Escape from New York die ganze Insel Manhattan zu einem Gefängnis erklären und entlang der Küste des angrenzenden Festlandes eine hohe Mauer aufgezogen haben. In Escape from L.A. herrscht eine vergleichbare Situation vor, nur dass die USA in diesem Fall ein totalitärer Staat geworden sind und die Kriminellen nach Los Angeles verbannt haben, das durch ein Erdbeben vom Festland abgetrennt wurde. In beiden Filmen gilt, wer einmal auf der Gefängnisinsel angelangt ist, verlässt sie nie mehr oder nur noch tot. In Escape from New York stürzt das Flugzeug des Präsidenten genau über der Gefängnisinsel auf Grund einer Flugzeugentführung ab. Nur der Präsident überlebt den Absturz. Da sich die Polizei nicht auf der Insel blicken lassen kann, ohne dass dem Präsidenten etwas geschieht, wird der berühmte Kriminelle Snake Plissken zur Rettung des Präsidenten verpflichtet. Plisskens Inklusion findet ebenso wenig freiwillig oder automatisch statt, wie sie für XXX beschrieben wurde. Um Plisskens Mithilfe zugesi55 Im Folgefilm XXX: State of the Union führt Gibbons eine eigene Abteilung mit dem Namen ›Triple X‹ und einem Logo, das leicht von Cages Nackentätowierung abweicht. Der neue Spezialagent sitzt zwar bei seiner Rekrutierung im Gefängnis, er ist aber nicht tätowiert. Es handelt sich um einen ehemaligen Elitesoldaten, der unter seltsamen Umständen inhaftiert wurde. Der Kriminaldiskurs lässt sich in diesem Fall nicht beim Protagonisten beobachten, dafür bei seinen kriminellen Freunden. Die Bezeichnung ›Triple X‹ ist nun für den besonderen Geheimagenten reserviert. Nach erfolgreicher Mission, als der Protagonist mit einem Sportwagen wegfährt, bewegt sich die Kamera kurz auf den Nacken des Protagonisten zu und zeigt in einer Detaileinstellung drei tätowierte ›X‹, wie jene des Abteilungslogos. Die Nackentätowierung von Xander Cage wird im Folgefilm vom Kriminaldiskurs entleert und in der Art einer Auszeichnung als Spezialagent des Geheimdienstes eingesetzt. 55 chert zu bekommen, schlägt der Polizeichef diesem ein Geschäft vor, das ihm nach der erfolgreichen Rettung des Präsidenten Straffreiheit garantiert. Damit Plissken während der Rettungsaktion nicht das Weite sucht, wird ihm unter einem medizinischen Vorwand eine kleine Sprengladung mit Zeitzünder in den Körper gespritzt. Sie soll Plissken immerzu an die Rückkehr mit dem Präsidenten erinnern. Die Geschichte in Escape from L.A. ist analog aufgebaut, nur dass diesmal Plissken zur Sicherheit seiner Rückkehr angeblich beiläufig ein Giftstoff verabreicht wird. In beiden Filmen gelingt Plissken selbstverständlich die Mission, wobei er beide Male am Ende die wertvolle Kassette bzw. die Fernbedienung zur Auslösung elektromagnetischer Impulse vertauscht und dadurch den Machthabern eines auswischt. Beide Filme beobachten Tätowierungen im Rahmen des Kriminaldiskurses: Snake Plissken hat sich seinen Vornamen bildlich in Form einer grossen, schwarzen Kobraschlange auf den Bauch tätowiert. Die Tätowierung ist in beiden Filmen zu sehen. Neben Plissken sind auf den Gefängnisinseln in beiden Filmen ebenso andere exkludierte Kriminelle tätowiert. Plissken wird nun nicht nur auf Grund seiner militärischen Vergangenheit zur Infiltration der Gefängnisinsel herangezogen. Wie in XXX handelt es sich beim Protagonisten um einen tätowierten Kriminellen, der unter den anderen Kriminellen auf der Insel weniger als ein Polizist auffällt – ausser, dass er dank seiner Berühmtheit als Krimineller von allen erkannt wird. In Escape from New York und Escape from L.A. wird die Schlangenmetapher durch den Namen und die Tätowierung des Protagonisten vollständig ausgereizt. Snake Plissken, der immer zu Beginn der Filme ›Snake‹ genannt werden will, wird zur Rettung des Präsidenten und der Beschaffung eines Kontrollinstruments in die ›Schlangengrube‹ gelassen. Der eigentlich Exkludierte wird gerade auf Grund seiner sozialen Position als Krimineller in den Dienst der Ordnungsmacht (forciert) inkludiert, um denjenigen zu helfen, die ihn ursprünglich wegsperren respektive vollständig in das Gefängnis inkludieren wollten. *** Es ist auffallend, in wie vielen Filmen Tätowierungen und tätowierte Menschen durch den Kriminaldiskurs konstruiert werden. In diesem Kapitel wollte ich mit einigen Filmbeispielen auf die diskursive Verknüpfung zwischen Tätowierten und Kriminellen in Unterscheidung zu den Nicht-Tätowierten und Nicht-Kriminellen, den ›Normalen‹ hinweisen. Sie entstammt ursprünglich dem realen Kriminaldiskurs, der vor allem mit der Kriminalanthropologie ins Leben gerufen wurde. Sowohl die realen als auch die filmischen Beobachtungen des Kriminaldiskurses erzeugen tätowierte Menschen als Kriminelle. Wie ich anhand des Films XXX zeigen konnte, kann die filmische Beobachtung sogar Lombroso'sche Züge annehmen und das Tätowiert-Sein und die Kriminalität sich zusätzlich auf ›Unzivilisiertheit‹ beziehen. In den Analysen wird auch deutlich, dass die kriminalisierenden Beobachtungen nicht nur aus den sozialen Positionen der ›Normalen‹ möglich sind, sondern ebenso die vom Diskurs Exkludierten in ihren Möglichkeiten bedingen. Damit lässt sich auch der fehlende bzw. im Kriminaldiskurs verbleibende Widerstand seitens der diskursiv Exkludierten erklären. In den besproche- 56 nen Filmen lässt sich keine Auseinandersetzung verschiedener Diskurse um die Richtigkeit und Evidenz von Beobachtungen feststellen. Der Kriminaldiskurs ist im Hinblick auf die tätowierten Menschen in den untersuchten Filmen vorherrschend. Die besprochenen Filme beobachten im Rahmen des Kriminaldiskurses auch immer die sozialen Effekte der Kriminalisierung. Tätowierte werden nicht bloss als Kriminelle beobachtet und exkludiert. Die Beobachtung ruft gerade in Filmen vielfach einen sozialen Effekt der Inklusion hervor. Ich habe beispielsweise mit der Analyse von XXX verdeutlicht, dass der tätowierte Xander Cage nicht nur eine kriminalisierende und typisierende Exklusion in Unterscheidung zu den ›normalen‹ und nicht-tätowierten Menschen erfährt. Er wird darüber hinaus dazu gezwungen, zwischen zwei Formen der Inklusion als Exkludierter zu wählen: Gefängnis oder ›Arbeit‹ für jene, die ihn auszuschliessen versuchen. In anderen Filmen steht dagegen nur die erste Option offen, für die sich die meistens sichtbar tätowierten Personen nicht entscheiden können. Wie die Entscheidung zwischen den Inklusionsformen auch ausfällt, die durch den Kriminaldiskurs beobachteten Tätowierten sind einer forcierten Inklusion ausgesetzt. 6 Zwischenspiel: Sind Frauen tätowiert? In diesem kurzen Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern sich in Filmen eine Unterscheidung zwischen tätowierten Männern und Frauen beobachten lässt. Bevor ich jedoch Beispiele von tätowierten Frauen bespreche,56 will ich auf die gängige und deshalb umstrittene Gender-Unterscheidung und deren Kritik von feministischer Seite in der Realität hinweisen. 6.1 Tätowierungen und Weiblichkeit in der Realität Die Unterscheidung zwischen Personen, die Tätowierungen haben, und jenen, die tätowiert sind, scheint mir für die Gender-Unterscheidung von Nutzen zu sein, welche sich seit Langem hält. In den realen Diskursen wird ›Tätowierungen haben‹ einerseits oft mit der Tätowiermode in Verbindung gebracht, andererseits aber ebenso eher mit weiblichen Tätowierten. ›Tätowiert sein‹ hingegen taucht in der Thematisierung der TätowierSzene und den männlichen Tätowierten auf (vgl. Irwin 2003: 30; Bell 1999: 55f.; Atkinson 2002). Die Geschichte der Tätowierung hielt weiblichen Tätowierten im Gegensatz zur Verbreitung und Variabilität bei männlichen Tätowierten nur wenige mögliche Positionen vor. Das scheint daher zu rühren, dass das Tätowieren zu einem Grossteil in Gruppen von Männern praktiziert wurde, von denen Frauen in der Regel ausgeschlossen wurden (z.B. Militär, Seefahrt; vgl. Braunberger 2000: 4; Atkinson 2002: 220). Als ›Nischen‹ weiblicher Partizipation in der Tätowiergeschichte wären etwa die Tätowier- 56 Ich sehe vorerst von den tätowierten Protagonistinnen in den Science-Fiction-Filmen Alien Resurrection und Dark Angel ab, die Gegenstand der folgenden Kapitel sind. 57 mode oder »crazes for tattoos« (Braunberger 2000: 6) um 1900 besonders unter Frauen zu nennen oder die im Rampenlicht von ›freakshows‹ stehenden ›monströsen‹ Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich zu Schaustellungszwecken den gesamten Körper tätowieren liessen (mit Ausnahme der ›public skin‹, versteht sich; Braunberger 2000: 8ff.; zu den ›freakshows‹ auch Oettermann 2000). Auch mit der Renaissance der Tätowierung seit den 1960er-Jahren und verschiedenster Bewegungen (u.a. der feministischen) wandelten sich die Gender-Unterschiede beim Tätowieren nicht beträchtlich. Noch heute scheint für einen Grossteil der tätowierten Frauen und Männer evident zu sein, welche Motive, in welcher Grösse, wo platziert und für welches Geschlecht angebracht sind. Christine Braunberger (2000: 15) schreibt zu den üblichen Motiven tätowierter Frauen: »[F]rom the 1970s into the 1990s, the obvious femininity of the most popular images – butterflies, flowers, and hearts – equated the feminine with the natural and seemed to annul the contestation of the tattoo.« Die Zuordnung solcher und anderer ›weiblicher‹ Motive kann in zahlreichen Publikation nachgelesen werden – ob in Aussagen von Autoren oder befragten Personen (z.B. Steward 1990: 129–130; Burton 2001: 64; Atkinson 2002: 226). Die Platzierung, wie Atkinson (2002: 226) festhält, erfolgt bei Frauen vielfach anhand der einfachen Regel der Möglichkeit, die Tätowierung zu verbergen (auch Sanders 1988: 412f.). Und schliesslich haben Frauen oftmals nur wenige und kleine Tätowierungen (Atkinson 2002: 223, 226) – weibliche ›heavily tattooed‹ entsprechen nicht der Vorstellung von Weiblichkeit und werden etwa als »disgustingly unfeminine« bezeichnet (Atkinson 2002: 226; DeMello 1995: 46 stellt ähnliche Konventionen in Bildern von Tätowierzeitschriften fest). Die Tätowierungen von Männern werden vielfach im Gegensatz zu den weiblichen Tätowierungen thematisiert, wobei nicht die Schmuck- oder Verzierungsfunktion, sondern die identitätsstiftende Funktion und Maskulinität hervorgehoben wird (Atkinson 2002: 222; Sanders 1988: 415). Dies sind die üblichen Unterscheidungen, die generell oder aber innerhalb des ›mainstream‹-Phänomens des Tätowierens getroffen werden. Diese Unterscheidung zwischen den (tätowierten) Geschlechtern wird nicht von allen Tätowierten hingenommen. Einige Bemerkungen zur Sichtweise aus der Position der ›heavily tattooed‹ finden sich im Kapitel zum Kunstdiskurs. An dieser Stelle will ich nur auf die Kritik feministischer Seite eingehen.57 In einem Teil der feministischen und oftmals psychoanalytisch geprägten Literatur über das Tätowieren wird die Unterscheidung zwischen tätowierten Frauen und Männern zum zentralen Gegenstand der Debatte gemacht (ein anderer Teil übt Kritik am Tätowieren als Selbstverstümmelung, vgl. Pitts 2003: 53f.). Der Begriff des Widerstands 57 Kritik generellerer Art kommt von den ›Modern Primitives‹, die in Körpermodifikationspraktiken Mittel zur Durchbrechung sozialer Zwänge und ›normaler‹ Körpervorstellungen, die Möglichkeit spiritueller Erfahrungen und des Ausdrucks des Selbst sehen. Sie orientieren sich dabei an ›primitiven Kulturen‹, welche nach Meinung der ›Modern Primitives‹ die verfolgten Praktiken, Rituale und Ideale vertreten (vgl. Pitts 2003; Atkinson und Young 2001; Rosenblatt 1997). 58 gegen die verfestigten Gender-Unterschiede hinsichtlich Körpervorstellungen und Körperveränderung (›body projects‹) bildet den Kern, um die ›maskuline Ästhetik‹ (Beeler 2006: Kap. 2) und die ›patriarchalen Lesarten‹ (Braunberger 2000: 1) des weiblichen Körpers zu durchbrechen. Im Tätowieren und anderen Modifikationspraktiken (Piercing, Skarifikation, Cutting) werden Mittel des Widerstands, Mittel für »revolutionary aesthetics for women« gesehen (Braunberger 2000: 3). Michael Atkinson hält zu dieser Debatte fest: The overriding meta-narrative in the emerging literature on the practice is that tattooing is intentionally structured by North American women as political resistance against misogynist ideologies and social structures of oppression [...]. Almost without exception, contemporary discourses point to the socially rebellious and personally emancipating nature of tattooing for women. (Atkinson 2002: 220; meine Herv.) In der Wahl ›männlicher‹ Motive, ›männlicher‹ Hautstellen oder generell »through bold and highly visible tattoo projects« (Atkinson 2002: 233) eröffnet sich für Frauen ein Potential, den gängigen Gender-Unterscheidungen Widerstand entgegenzusetzen. Die Unterscheidungen werden von den ›maskulinen‹ Tätowierungen auf der Haut von Frauen und der dadurch ausgelösten »monster beauty« (Braunberger 2000: 20) untergraben. Es stellt sich nun die Frage, welche Gender-Unterschiede oder Widerstandsformen in Filmen erzeugt werden. 6.2 Filmische Konstruktion der Gender-Unterscheidung In den hier diskutierten Filmen, in denen tätowierte Frauen gezeigt werden, fällt die oben getroffene Unterscheidung zwischen Tätowierungen haben und tätowiert sein zugunsten der Seite ›Tätowierungen haben‹ aus. Wenn tätowierte Frauen dargestellt werden, handelt es sich in den meisten Fällen um kleinflächige Tätowierungen und um ein paar wenige Motive – verglichen mit den vielfach grossflächigen und/oder zahlreichen Tätowierungen der Männer. In der Motorrad-Szene Kaliforniens in Biker Boyz gibt es einige Frauen, deren Tätowierungen sichtbar gemacht werden. Gleich im Vorspann bewegt sich die Kamera auf den Oberschenkel einer Frau im Minirock zu. Die Tätowierung zeigt ein schwarzes Motorrad und darunter den Spruch: »Can You Ride This?« Es ist die einzige Tätowierung, die auf der Haut dieser Frau zu sehen ist. Wie bereits im dritten Kapitel (zur Beobachtung der Sichtbarkeit) dargestellt wurde, lässt sich die Freundin eines ›Bikers‹ dessen Namen (›Wood‹) auf eine Pobacke tätowieren. Ihre Reaktionen während der Prozedur verraten, dass sie das erste Mal den Tätowiernadeln ausgesetzt ist. Ausserdem ist keine weitere Tätowierung auf ihrer Haut sichtbar. Und schliesslich wird eine ›Bikerin‹ während einer Wohltätigkeitsfeier der Motorradclubs in einer Grossaufnahme gezeigt, durch welche ihre kleine, schwarze Tribal-Tätowierung auf der linken Seite des Halses sichtbar wird. Man erinnere sich an das Zitat einer ›Bikerin‹ (in Sanders 1989: 52; vgl. Fn. 22 dieser Arbeit), in dem das Tätowieren für die Motorrad-Szene als typisch und für die Zugehö- 59 rigkeit als unvermeidlich geschildert wird. In allen diesen Fällen von tätowierten Frauen in Biker Boyz sind es kleinflächige und einfarbige Tätowierungen, die in den Fokus der Kamera gerückt werden. Die Inszenierung der tätowierten Personen erfolgt dabei auf zwei unterscheidbare Weisen. Einerseits die besitzanzeigende bzw. brandmarkende (fremdbestimmte) Tätowierung auf dem Po von Woods Freundin (Wood sagt zur Tätowiererin: »You know how I do. I got to brand my women«). Der Film nimmt damit in leicht abgeschwächter Form (›nur‹ der Name) Bezug auf die »Property of ...«-Tätowierungen auf weiblicher Haut, die in Motorrad-›Gangs‹ nicht unbekannt sind (vgl. Braunberger 2000: 16; auch Steward 1990: 49, der solche ›Besitz‹-Tätowierungen oft auf die Brust von ›Hell's Angels‹ Frauen gestochen hat). Andererseits die selbstbestimmte Tätowierung der Frau, die selber ein Motorrad fährt, und damit ihren männlichen Kollegen der Szene ebenbürtig ist. Dennoch handelt es sich um kleine, einfarbige Tätowierungen, im Gegensatz zu den farbigeren und grösseren Tätowierungen in Biker Boyz. In der realen Motorrad-Szene lässt sich eine ähnliche Situation ausmachen, wie Schouten und McAlexander (1995: 55) feststellen: »Women who ride also display the symbols of machismo (e.g. chrome, leathers, tattoos, loud pipes); however, the symbols often are softened with the addition of pastel colors, floral motifs, and other feminizing touches« – so auch die kleine ornamentale Tätowierung am Hals. In einer anderen Gruppe, die sich in einigen Filmen wesentlich durch Tätowierungen auszeichnet, sind den ›Bikerinnen‹ vergleichbar auch die weiblichen Mitglieder mit den einschlägigen Motiven tätowiert. Es ist die Rede von rechtsradikalen Gruppen. In American History X sind es nicht nur die männlichen Gruppenmitglieder, die durch nationalsozialistische oder rechtsradikale Motive auffallen (Hakenkreuze, Doppel-S bzw. zwei ›Blitze‹ u.a.). Besonders in einer (Rückblenden-)Szene, in der der Protagonist Derek vor dem Überfall auf einen Supermarkt eine Rede hält, wird das Gesicht eines weibliches Mitglieds im Profil gezeigt (Abb. 8). Die Detailaufnahme macht eine kleine Tätowierung zweier ›S‹ in Runenschrift unmittelbar neben dem linken Auge der Frau sichtbar. Die Frau trägt zwar eine der Gruppe entsprechende Tätowierung – und diese auf ›public skin‹ –, doch verglichen mit den Tätowierungen der männlichen Gruppenmitglieder handelt es sich um ein verschwindend kleines Motiv. Abb. 8: Tätowierte Frau der rechtsextremen Gruppe in American History X 60 Wiederum ganz andere Motive und tätowierte Körperstellen sind in XXX oder Mission: Impossible 2 zu sehen. In XXX wird am Ende des Films sichtbar, dass die in Vergessenheit geratene Geheimagentin des KGB tätowiert ist. Nachdem sie Xander Cage bei der Beseitigung von ›Anarchy 99‹ geholfen hat, spannen beide auf Bora Bora aus. Yelena trägt einen Bikini, wodurch ihre ornamentale Tätowierung um den Bauchnabel und das tätowierte Auge auf ihrem linken Schulterblatt zu sehen sind. Verglichen mit Xander Cages zahlreichen und grosse Hautflächen bedeckenden Tätowierungen handelt es sich bei Yelena um zwei kleine Motive. Ebenso ist in Mission: Impossible 2 eine kleine, einfarbige Tätowierung zu sehen. Nyah Hall, die sich selbst als Diebin bezeichnet und dem Spion Ethan Hunt bei seiner Mission behilflich ist, hat eine Tätowierung auf der Innenseite des linken Fusses, direkt über dem Knöchel. Die Tätowierung ist lediglich einmal zu sehen, nämlich in dem Moment, in dem Ethan Hunt ihr einen kleinen Peilsender genau an der tätowierten Stelle injiziert. *** Die Beispiele zeigen, dass Filme hauptsächlich kleinflächige, einfarbige (meistens schwarze) Tätowierungen auf der Haut von Frauen darstellen. Sie schliessen fast nahtlos an die reale Diskursivierung der Gender-Unterschiede hinsichtlich des Tätowierens an. Selbst jene Beispiele von tätowierten Frauen, die Motive auf der ›public skin‹ tragen (Biker Boyz, American History X) und auch sonst den männlichen Gruppenmitgliedern nicht nachstehen, zeigen die relationalen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. 7 Inklusive Inskriptionen als Zeichen der Zugehörigkeit In Kapitel fünf habe ich hauptsächlich von Tätowierungen berichtet, die sich die Tätowierten aus unterschiedlichen Gründen selbst zugelegt haben – ich nannte sie selbstbestimmte Tätowierungen. Sie werden im Diskurs über die Kriminellen nicht selten mit fremden Lesarten belegt und durch diese konstruiert. In diesem Kapitel wende ich mich nun einer anderen Konstellation der Beobachtungen der Tätowierung, deren Lesbarkeit und den damit positionierten Tätowierten und Nicht-Tätowierten zu. Ich betrachte Filme, in denen Zwangs- respektive fremdbestimmte Tätowierungen mit fremdbestimmten Lesarten einhergehen. Dazu unterscheide ich zwei Arten von Zwangstätowierungen anhand des Grades der Fremdbestimmung: die Zwangstätowierung, die in der Geschichte des Tätowierens als Strafpraktik verwurzelt ist und eine mildere Form der fremdbestimmten Tätowierung, die für die freiwillige Inklusion in eine spezifische Gruppe notwendig ist. Die erste Art der fremdbestimmten Tätowierung findet sich in Science-Fiction-Filmen wie Alien Resurrection, Soldier und Dark Angel58, in denen Zwangstätowierungen als ein Teil ›totaler Institutionen‹ (Goffman 2002 [1961]) integriert sind. Die zweite, mildere Art der fremdbestimmten Tätowierung ist 58 Obwohl es sich bei Dark Angel um einen Pilotfilm zur TV-Serie handelt, diskutiere ich ihn trotzdem (er hat Spielfilmlänge). 61 demgegenüber nicht mit totalen Institutionen verbunden, sondern regelt die Inklusion in soziale Gruppierungen (z.B. kriminelle Gruppen in American History X, A Man Apart, American Yakuza, Showdown in Little Tokyo oder die Gruppe der Vampire in den Blade-Filmen). In beiden Fällen aber entfaltet sich rund um die tätowierten Personen ein Diskurs der Zugehörigkeit. Die Zwangstätowierung in ihren unterschiedlichen Graden der Fremdbestimmung regelt den Zugang zu einer Gruppe, weist Personen mit der Markierung eine spezifische, soziale Position zu und fungiert als Kontrollinstanz sowohl für die Inkludierten als auch für die nicht-markierten Exkludierten. Im Gegensatz zum Kriminaldiskurs übt der Diskurs der Zugehörigkeit in erster Linie einen inklusiven Effekt auf die tätowierten Personen aus. In diesem Kapitel will ich aufzeigen, auf welche Weise Tätowierte in Filmen durch den Zugehörigkeitsdiskurs beobachtet und dabei in Institutionen und soziale Gruppierungen inkludiert werden. Dazu beginne ich mit einem kleinen Abriss zur (realen) Vergangenheit der Zwangstätowierung. Danach analysiere ich die Zwangstätowierungen in Science-Fiction-Filmen, die eng an totale Institutionen gebunden sind. Zum Schluss zeige ich, wie fremdbestimmte Tätowierungen im Rahmen sozialer Gruppen die selbst gewählte Inklusion markieren. 7.1 Kurze Geschichte der Zwangstätowierung Die Zwangstätowierung findet man bereits im antiken Griechenland in Form der Markierung von Sklaven und Verbrechern. Für diese und vergleichbare Praktiken schufen die Griechen den Begriff ›Stigma‹ (Goffman 2005 [1963]: 9; Jones 2000: 2–9). Im Anschluss an die Griechen wandten die Römer das Tätowieren ebenso als Strafpraktik an. Sie verwendeten sie jedoch auch zur Markierung von Soldaten, die als Staatseigentum angesehen und als solches bezeichnet wurden (Jones 2000: 10–12; Gustafson 2000). In beiden Fällen von Zwangstätowierungen war es die ›public skin‹ der Sklaven oder Gefangenen, in welche die soziale Position der Person eingeschrieben wurde. Potentiell fluchtgefährdeten Personen tätowierte man bei den Römern beispielsweise die Abkürzung ›F‹ oder ›FUG‹ für ›fugitivus‹ auf die Stirn (Gustafson 2000: 26). Es sei bemerkt, dass es sich ausschliesslich um Tätowierungen handelte und nicht etwa um das Einbrennen (›branding‹) eines Zeichens mit einem heissen Eisen (Jones 2000: 2). Im Mittelalter wurde die Zwangstätowierung der Kriminellen fortgesetzt (Jones 2000: 13; Oettermann 1995: 103ff.) und galt noch bis ins 19. Jahrhundert in einigen europäischen Ländern als gängige Rechtspraxis. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde in Frankreich einigen Kriminellen ihre Strafe zur Galeere oder ständiger Schwerstarbeit mit einer Abkürzung in die Haut gestochen (Gustafson 2000: 28; vgl. auch Foucault 2001a: 18, 128). Eine ähnliche Praxis der Zwangstätowierung von Straftätern ist ebenso aus dem Japan des 7. und später des 17. bis 19. Jahrhunderts bekannt (van Gulik 1982: 10–14; McCallum 1988: 115–118).59 Aber das bekannteste Beispiel der Zwangstätowierung 59 Die heute in Europa bekannte und gängige Bezeichnung für das japanische Tätowieren ist 62 des 20. Jahrhundert bilden die tätowierten Zahlenkombinationen auf den Armen der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz während des deutschen Nationalsozialismus (Kogon 1974 [1946]: 50; Oettermann 1995: 109f.). Und selbst in den vergangenen Jahrzehnten gab es Vorstösse zur Zwangstätowierung bestimmter Personengruppen. So zum Beispiel 1986, als in den USA ein konservativer Kolumnist vorschlug, »victims of AIDS [...] be tattooed on the buttocks in order to limit the spread of the disease among homosexuals« (Sanders 1989: 183, Fn. 10 des 2. Kap.). Der Vorschlag gelangte jedoch nie zur Umsetzung (ähnliche Vorschläge nennt Oettermann 1995: 108f.). In all diesen Beispielen wurde mittels unterschiedlicher Tätowierungen – Abkürzungen, Wörtern, Zahlen – einer Gruppe von Menschen eine soziale Position zugewiesen, sie wurden also zu spezifischen Personen gemacht. Das Zwangstätowieren von Sklaven, Gefangenen und Kriminellen diente der Markierung bestimmter Menschen und der dadurch ermöglichten Identifizierung derselben als Zugehörige zu dieser Personengruppe. Die Tätowierung als solche erfüllte ihren Zweck sowohl gegenüber nichttätowierten Personen als auch durch die Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Markierten innerhalb der Gruppe der Tätowierten. Sie ermöglichte die Kontrolle anhand der sichtbaren Zeichen auf der Haut, nicht selten gar auf der ›public skin‹. Die Zwangstätowierung stellt demnach die Inskription der Kontrolle in den zu kontrollierenden Körper dar: sie wird zu einer »institutionalisierten Form sozialer Kontrolle« (Hahn 2000: 383). Es handelt sich im eigentlichen Sinne des Begriffes um stigmatisierende Tätowierungen oder um Markierungen, welche die betroffene Person sozial (negativ) positioniert. Erving Goffman schreibt zum griechischen Begriff ›Stigma‹: Die Griechen schufen [...] den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, dass der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war [...]. (Goffman 2005: 9; Herv. i. Orig.) Eine Folge der Stigmatisierung durch Zwangstätowierung ist bestimmt die Unterscheidung zwischen den markierten und den nicht-markierten Personen. Mit der Zwangstätowierung wird jedoch in erster Linie die Seite der Inklusion von bestimmten Personen bezeichnet. Eine spezifische Markierung dient als Zeichen der ›Mitgliedschaft‹ in einer Gruppe. Obschon die Beispiele der Vergangenheit zeigen, dass Zwangstätowierte häufig durch eine räumliche Absonderung in eine ›totale Institution‹ (Goffman 2002 [1961]) vollständig inkludiert wurden, erweist sich schon eine Zwangsmarkierung als ausreichend inklusiv. Die Markierung übt eine ähnliche Funktion aus, wie sie etwa Gefängnismauern zukommt: sie inkludiert und kontrolliert die tätowierte Person. ›irezumi‹. Bis zur Abschaffung der Zwangstätowierung im Jahre 1870 bezeichnete jedoch ›irezumi‹ die bestrafende Tätowierung und ›horimono‹ die freiwillige, dekorative Tätowierung (van Gulik 1982: 3). 63 7.2 Nummern und Strichcodes: Markierungen totaler Institutionen der Zukunft Die Science-Fiction-Filme Alien Resurrection, Soldier und Dark Angel beziehen sich zwar auf die Verknüpfung von Zwangstätowierung mit totalen Institutionen, wie sie in der Vergangenheit gegeben war. Es handelt sich in diesen Filmen jedoch nicht um bestrafende Institutionen, sondern um totale Institutionen militärisch-wissenschaftlicher Art. Das heisst auch, dass die Zwangstätowierung entgegen einer Strafpraktik zur Markierung medizinisch-wissenschaftlicher Forschungsobjekte und militärisch sozialisierter SoldatInnen eingesetzt wird.60 Die Funktion der filmisch inszenierten Zwangstätowierungen bleibt dessen ungeachtet dieselbe: Sie geben entsprechend der offiziellen Lesart der jeweiligen Institution Informationen über die tätowierten Personen und deren institutionelle Inklusion preis. In allen drei Filmen lassen sich totale Institutionen beobachten, in denen Personen zu spezifischen Zwecken kreiert, eingeschlossen und in zwei Fällen zu Soldaten ausgebildet werden. In den folgenden Filmbeschreibungen werde ich den totalen Charakter der inszenierten Institutionen hervorheben. Die daran anschliessende Betrachtung der Zwangstätowierungen wird zeigen, dass diese einen wichtigen Aspekt der totalen Inklusion der unter Kontrolle gehaltenen Personen darstellt. Um zu zeigen, inwiefern es sich in diesen Science-Fiction-Filmen um totale Institutionen handelt, ziehe ich die Beschreibung totaler Institutionen von Erving Goffman aus seinem Buch »Asyle« (2002 [1961]) hinzu. Der Charakter einer totalen Institution besteht nach Goffman in den »Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Aussenwelt« (2002: 15–16). Eine totale Institution wirkt sich zum einen räumlich und dinglich in Form von abgeschlossenen Gebäuden und Hindernissen aus (Goffman 2002: 16). Zum anderen lässt sich eine totale Institution durch die Zusammenlegung und Abstimmung verschiedener Lebensbereiche und -aktivitäten für eine »Gruppe von Schicksalsgenossen« an einem Ort charakterisieren (Goffman 2002: 11, 17). Alien Resurrection handelt von der Wiedergeburt der Alien-Jägerin Ellen Ripley – jener Ellen Ripley, die sich eigentlich am Ende des dritten Alien-Films das Leben genommen hat. Damit verhinderte Ripley, dass Wissenschaftler ihr die Alien-Königin in ihrem Brustkorb herausnehmen und sie zu wissenschaftlichen Zwecken am Leben erhalten konnten. Der vierte Alien-Film spielt nun 200 Jahre nach Ripleys Selbstmord, als Wissenschaftler noch dieselbe Idee verfolgen, wie zu Zeiten vor Ripleys Tod. Wissenschaftlern gelingt es, Ripley wieder ins Leben zu rufen. Mit Hilfe von genetischem Material, das von ihr übrig geblieben ist, rekonstruieren sie Ripley. Sie haben ihr jedoch auch wieder eine Alien-Königin in den Brustkorb eingepflanzt, die sie zu Beginn des 60 Den Film Alien 3 habe ich zu spät entdeckt, als dass ich ihn noch hätte genauer analysieren können. Im diesem Film wird nämlich die Verbindung zwischen Zwangstätowierung und dem Gefängnis aus der realen Vergangenheit in Science-Fiction-Manier wieder aufgenommen. 64 Films aus Ripleys Körper entfernen. Ripley diente der medizinischen Forschung genau in der Weise als Alien-Leihmutter, wie sie es mit ihrem Tod zu verhindern versuchte. Das ist die Version, welche die Wissenschaftler Ripley erzählen. Es ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die neue Ellen Ripley scheint nur zu einem Teil ein Mensch zu sein. Sie kann zum Beispiel die anderen Aliens, die dank ihr gezüchtet werden konnten, trotz einer räumlichen Trennung hören und fühlen. Ähnlich wie es bei den Aliens der Fall ist, verfügt sie über Säure-ähnliches Blut, das sich durch jegliches Material frisst. Letzten Endes erfährt Ripley, dass sie nicht bloss eine genetische Rekonstruktion eines Menschen ist. Sie wurde mit Aliens auf genetischer Basis ›gekreuzt‹. Der gesamte Film spielt sich auf einem grossen Raumschiff im Weltall ab. Das Raumschiff ist für medizinisch-wissenschaftliche Zwecke eingerichtet und wird von Militärpersonal bewacht. Die Aufzucht und Disziplinierung der Aliens dient zur Erschaffung einer neuen Sorte von Kriegern. Das ist der Grund für die Geheimhaltung, die abgelegene Position des Raumschiffes und die Anwesenheit von General Perez und seinen Soldaten. Die Wissenschaftler versuchen, die Aliens zu ›erziehen‹ und ihnen Gehorsam beizubringen. Doch die Aliens finden einen Weg, ihre Zellen zu verlassen. Sie eliminieren alle Soldaten und Wissenschaftler bis auf zwei und richten im Raumschiff einen Brutplatz ein. Auf der Flucht vor den ausgebrochenen Kreaturen kämpfen sich Ripley und die Besatzung eines Frachters den Weg zu deren Raumschiff frei. Es gelingt ihnen, vor allem dank Ripleys ›Verwandtschaft‹ mit den Aliens, den Kreaturen zu entkommen und letzten Endes das Forschungsraumschiff durch eine Kollision mit der Erde zu zerstören. Das militärisch-medizinische Forschungsraumschiff in Alien Resurrection bildet insofern eine totale Institution, als dieses räumlich abgeschlossen im leeren Weltraum schwebt. Obschon die Mitglieder der Frachtschiffbesatzung als Zulieferer Zutritt zum Schiff erhalten, dürfen sie dennoch nicht jede Station betreten. Auch Ripley wird vor dem Ausbruch der Aliens von den Besatzungsmitgliedern des Frachters ferngehalten. Während der anfänglichen medizinischen Untersuchungen sind Ripleys Hände mit Handschellen gefesselt. Ausserdem schläft sie in einer Zelle, in der sich keinerlei Möbel oder sonstige Gegenstände befinden. Der Zutritt zu Ripleys Zelle ist nur autorisiertem Personal möglich, das zur Personenidentifizierung und Öffnung der Zellentür einen Sensor anhauchen muss. Ripleys Zelle wird zusätzlich von Wachpersonal bewacht, das von oben durch eine Glasscheibe Einblick in die Zelle hat. Doch nicht nur Ripley und die eingeschlossenen Aliens sind der ständigen Kontrolle ausgesetzt. Die WissenschaftlerInnen und das Wachpersonal sind in gewisser Weise ebenso Gefangene auf dem Schiff. Ein Zentralcomputer namens ›Father‹ überwacht alle Sektoren des Raumschiffs und die Zutrittsberechtigungen. Das Raumschiff vereint alle Lebensbereiche, in diesem Fall nicht nur von Ripley, sondern ebenso der Forschungs- und Militärbesatzung in einer abgeschlossenen Institution. Die totale Institution findet ihr Ende jedoch mit dem Ausbruch der Aliens, der Flucht von Ripley und der Frachtschiffbesatzung und der Zerstörung des Forschungsschiffes. 65 Der Film Soldier beginnt im Jahre 1995. Dieses Jahr wird zugleich »Year Zero« genannt, weil es das Jahr der Selektion der Säuglinge ist – der zukünftigen Soldaten. Die Säuglinge werden von uniformierten Männern begutachtet und ausgewählt. Fünf Jahre später befinden sich die ausgewählten Knaben in einem Saal und müssen Kampfhunden beim Töten eines Wildschweins zusehen. Mit Zeitsprüngen zeigt der Film, wie die Knaben heranwachsen und zu Soldaten ausgebildet werden. In den Schulungsräumen vermittelt eine immerzu hörbare, weibliche Stimme den Jungen, was sie zu tun und zu glauben haben. Die Knaben werden bei all dem von uniformierten Männern und Frauen beobachtet und kontrolliert. Die Vorgesetzten sind stets anwesend und nehmen eine fortwährende Selektion vor. In der Ausbildung wird Schwäche bestraft, so wird beispielsweise ein Junge erschossen, der beim Laufen nicht mit der übrigen Gruppe mithalten kann. Das Leben der zukünftigen Soldaten spielt sich in grossen Hallen ab, in denen sich Trainingsgeräte, Schiessstände und Militärfahrzeuge befinden. Alle Soldaten schlafen in einer solchen Halle. Die Betten stehen in einer Reihe mittendrin, umgeben von militärischen Gerätschaften. Die Soldaten scheinen keine Freizeit und kein Privatleben zu kennen. Die Jungen werden bis zu ihrem 17. Lebensjahr zu gnadenlosen Soldaten ausgebildet, die nichts anderes als ständigen Drill kennen. Sie wurden nur zu einem Zweck der harten Ausbildung unterzogen: in den Krieg zu ziehen und diesen zu gewinnen. Als die Soldaten 40 Jahre alt sind und zahlreiche Schlachten überlebt haben, ersetzt eine neue ›Fracht‹ von Soldaten die alten, noch ›biologisch‹ und auf natürliche Weise entstandenen Soldaten. Die Neuen zeichnen sich gegenüber den Alten durch Genmanipulation und damit auch verbesserte Leistungsfähigkeit aus. Die neue ›Fracht‹ von Soldaten ersetzt die alten und erfahrenen Veteranen. Der Vorgesetzte der alten Soldaten sieht nicht ein, warum er sie durch neue ersetzen sollte. Um ihm die höhere Leistungsfähigkeit der neuen Soldaten vorzuführen, fordert der Vorgesetzte der neuen ›Fracht‹ ein Kräftemessen zwischen den alten und neuen Soldaten. Nach mehreren Wettkämpfen, die zu Gunsten der genetisch verbesserten, ›frischen‹ Soldaten ausfallen, muss der Protagonist Todd mit zwei Soldaten seiner Truppe gegen einen der neuen Soldaten kämpfen. Todd wird schwer verletzt und die zwei anderen sterben beim Kampf. Damit die Vorgesetzten den Verlust nicht erklären müssen, werden die zwei Toten und der für tot erklärte Todd unbürokratisch entsorgt. Tot geglaubt, gelangt Todd auf einen Müllplaneten, auf dem gestrandete Siedler ein Zuhause aufgebaut haben und ihn aufnehmen. Unter den Siedlern erlebt Todd eine ihm unbekannte Welt fern von Disziplin, Krieg und Angst. Bei einer Routinekontrolle und ersten Prüfung der neuen Soldaten auf dem Müllplaneten verteidigt Todd die Siedler erfolgreich gegen die angeblich besseren Soldaten und schafft es letztlich, mit den Überlebenden den Müllplaneten zu verlassen. 66 Dark Angel dreht sich unter anderem um eine totale Institution, die vergleichbar mit der in Soldier dargestellten aufgebaut ist und geführt wird. Sie wird mehrheitlich in Rückblenden dargestellt. Auf einem abgelegenen Militärstützpunkt werden KriegerInnen erschaffen, die auf Grund von Genmanipulation kräftiger und leistungsfähiger sind als normale Menschen. Anders als in Soldier, in dem die erste Soldatengeneration erst nach der natürlichen Geburt selektiert wird, wurden in Dark Angel die zukünftigen SoldatInnen vor der Geburt genetisch verbessert und durch Leihmütter geboren. Zu Beginn des Films fliehen die SoldatInnen im Alter von 13 Jahren vom Stützpunkt, weil sie sich nicht mehr mit ihren Vorgesetzten und deren Gewalttätigkeiten abfinden wollen. Max, die Protagonistin, ist eines dieser Kinder, denen die Flucht gelingt. Der eigentliche Film spielt Jahre später in einer Stadt, die durch einen elektromagnetischen Impuls ins Chaos gestürzt wurde. Der Film ist von Rückblenden durchzogen, die die Vergangenheit von Max' Ausbildung auf dem Militärstützpunkt zeigt. Die Rückblenden stellen Ausschnitte aus dem Leben der Kinder bzw. der zukünftigen Soldaten dar, in dem es häuptsächlich um Gehorsam und Disziplin ging. Nun ist Max erwachsen und verdient ihren Unterhalt tagsüber als Fahrradkurierin und in der Nacht als Diebin. Nach der Begegnung mit Logan Cale, der eine Piratensendung zur Aufdeckung korrupter und krimineller Politiker betreibt, hilft ihm Max, den kriminellen Machenschaften ein Ende zu setzen. Als Gegenleistung sucht Logan Cale Informationen über das Militärprojekt und die anderen, damals mit Max geflüchteten Kinder. Max befindet sich jedoch stets auf der Hut vor denen, die sie als Kind zur Kriegerin ausbilden wollten. Soldier und Dark Angel stellen totale Institutionen dar, wie sie von Goffman definiert werden. In ihnen werden zu militärischen Zwecken Menschen aufgezogen und entsprechend sozialisiert. In Soldier verlassen die Soldaten die Institution nur, um an einer Schlacht teilzunehmen – stets von den Vorgesetzten überwacht – oder infolge ihres Todes. Der Protagonist Todd, der versehentlich für tot erklärt wurde, lernt erst mit seiner Exklusion aus der militärischen Institution andere Lebensbereiche kennen. In Dark Angel endet die totale Inklusion für die Protagonistin Max mit ihrer Flucht ganz zu Beginn des Films. Mit der Flucht überschreiten die Kinder die räumliche Abgrenzung, die durch die militärische Institution bis zu diesem Zeitpunkt sowohl nach innen als auch nach aussen erfolgreich aufrechterhalten werden konnte. Wie es für den Soldaten Todd der Fall ist, wissen auch die Kinder in Dark Angel bis zu ihrer gemeinsamen Flucht nichts über die Aussenwelt. Ihre Sozialisation beschränkt sich auf die militärische Ausbildung und ihr Leben, räumlich betrachtet, auf den Militärstützpunkt. Die totalen Institutionen in Alien Resurrection, Soldier und Dark Angel zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass in ihnen die ›Insassen‹ bzw. zukünftigen SoldatInnen durch räumliche Abschottung, ständige Überwachung und in zwei Filmen durch die spezifisch militärische Sozialisierung diszipliniert und kontrolliert werden. Die totale Kontrolle der eingeschlossenen Personen umfasst auch die körperliche Inskription mittels Zwangstätowierungen. Die Tätowierungen bilden einen sichtbaren und sichtbar ma- 67 chenden Teil der totalen Institutionen, die den eingeschlossenen Personen deutlich und unwiderruflich ihre Zugehörigkeit verleihen. Die Zwangstätowierung führt so weit, dass die Personen zu dem gemacht werden, was in ihre Haut gestochen wurde. Sie sind nicht, was man gemeinhin als Individuen bezeichnet, sondern erfahren durch die Zwangstätowierung und durch ihre Benennung durch die Verantwortlichen respektive Vorgesetzten der Institutionen eine Ent-Individualisierung. In Alien Resurrection ist Ellen Ripley auf dem gesamten Forschungsschiff als einzige Person tätowiert. Die Prozedur des Tätowierens wird im Film aber nicht dargestellt. Ellen Ripley erwacht nach der ›Geburt‹ der Alien-Königin in einem abgeschlossenen und bewachten Raum. Sie ist in einen weissen, halb durchsichtigen Stoffsack eingewickelt, aus dem sie sich allmählich befreien kann. Als sie ihren Körper betrachtet, fährt sie mit der rechten Hand auf der Innenseite ihres linken Arms nach oben. Dabei entdeckt sie die Zahl Acht, schwarz in ihre Haut tätowiert. Die Kamera zeigt den Moment dieser Entdeckung in einer Detailaufnahme der Arminnenseite und ihrer Hand, wie sie über die tätowierte Acht fährt (siehe Abb. 9). Weshalb sie tätowiert wurde und warum gerade die Zahl Acht auf ihrem Arm steht, erfährt Ripley erst, als sie sich mit der Besatzung des Frachtschiffes, einem übrig gebliebenen Soldaten und einem Wissenschaftler, auf der Flucht vor den ausgebrochenen Aliens befindet. Abb. 9: Ellen Ripley als »number eight« in Alien Resurrection Auf dem Weg zum Frachtschiff kommt die Gruppe an einer Tür vorbei, auf der die Aufschrift »1–7« geschrieben steht. Ripley bleibt vor der Tür stehen und sieht sich die Aufschrift an. Zuerst ist die Aufschrift auf der schmalen Glasscheibe in der Tür aus der Perspektive von Ripley zu sehen, die auf die Tür zugeht. Dann zeigt die Kamera die weisse Aufschrift »1–7« auf der Scheibe des schmalen Türfensters aus dem Innern des Raumes. Ripley betrachtet die Aufschrift und senkt dann ihren Blick nach links unten auf die Tätowierung auf ihrem Arm. Die nächste Einstellung zeigt Ripleys linken Arm mit der tätowierten Acht von vorne. Währenddessen sind die anderen Personen stehen geblieben und versuchen, ohne über Ripleys Entdeckung Bescheid zu wissen, Ripley mit Zurufen zum Weitergehen zu bewegen. Doch Ripley hört nicht auf die anderen und 68 betritt den Raum »1–7«. Im Raum klärt sich schliesslich die Bedeutung der tätowierten Acht und deren Verbindung zur Aufschrift »1–7«. Ripley findet im Raum sieben Klone von ›Ellen Ripley‹, wovon sechs bereits tot sind und in grossen Behältern in einer Flüssigkeit gelagert werden. Nur noch eine geklonte ›Ripley‹ ist am Leben. Als sich die zwei ›Versionen‹ von Ellen Ripley sehen, bittet die entstellte Ripley die Protagonistin darum, sie zu töten. Ripley greift unter Schock zu einem Flammenwerfer, tötet den lebenden Klon und zerstört die Behälter der eingelagerten toten Klone. Ripleys Entdeckung des Raums »1–7« und der darin aufbewahrten Klone stellt den Schlüssel zum Verständnis der tätowierten Acht auf Ripleys Arm dar. Ripley verfügt damit über die offizielle Lesart zur Entzifferung der schlichten Zahl Acht. Die tätowierte Acht findet ihre Bedeutung mit ihrer Einordnung in die Serie von wissenschaftlichen Klonexperimenten, bei denen die Gene der bereits lange verstorbenen Ellen Ripley und der Aliens zur Erschaffung eines Wesens gemischt wurden. Sieben Klonversuche wurden unternommen, die allesamt auf Grund gravierender anatomischer Entstellungen fehlschlugen. Erst der achte Versuch des Experiments, einen Menschen mit einem Alien zu kreuzen und zum Leben zu erwecken, gelang. Der Film zeigt nicht, ob die sieben fehlgeschlagenen Klone auch tätowiert sind. Doch die Türaufschrift »1–7« und Ripleys »8« machen deutlich, dass »number eight« das Produkt und Objekt einer medizinischwissenschaftlichen Forschungsinstitution ist. Die tätowierte Acht bildet den sichtbarsten Indikator für Ripleys Status als Forschungsobjekt und für ihre totale Inklusion.61 Die institutionell festgelegte Lesart der Tätowierung und die totale Inklusion von Ripley äussert sich nicht zuletzt auch in der Benennung von ›Ellen Ripley‹ durch das medizinische und militärische Personal. Im Umgang mit ihrem Produkt der Klonexperimente sprechen die Wissenschaftler und der General selten vom einst lebenden Menschen, von der Alien-Jägerin Ellen Ripley. Sie bezeichnen ihre Schöpfung ihrem Status in der Experimentenserie entsprechend »number eight« oder seltener »Ripley eight«. Sie benennen sie nach ihrer Tätowierung. Während eines Tests an Ripley nach deren Operation fragt beispielsweise einer der verantwortlichen Wissenschaftler: »How is our number eight today?« Obschon »number eight« anwesend ist, richtet sich die Frage nicht direkt an sie. Die Antwort kommt denn auch nicht von Ripley, sondern von der Person, die Ripley den medizinischen Tests unterzieht. Im selben Satz wird durch die Wendung »our number eight« deutlich, dass Ripleys soziale Position die eines Forschungsobjekts ist, das von den Wissenschaftlern besessen wird. »Number eight« ist Eigentum der totalen Institution, die sie ins Leben zurückgerufen hat. Mit derselben Bezeichnung spricht auch General Perez über Ripley, der als Verantwortlicher des Militärs über die Erschaffung der Alien-Soldaten wacht. Weil Perez befürchtet, dass 61 Vgl. Battaglia (2001), die andere Filme über Klone betrachtet. Battaglia geht in ihrem Artikel besonders auf einen Film näher ein, in dem, ähnlich wie in Alien Resurrection, fremdbestimmte Zahlentätowierungen zur Kennzeichnung mehrerer Klone/Kopien gezeigt werden. Die Autorin bringt jedoch die Zwangstätowierung hauptsächlich mit einer Konstruktion einer ›weissen Übermacht‹ des Originals über die Klone in Verbindung (Battaglia 2001: 511f.). 69 Ripley zu viele Erinnerungen an ihr früheres Leben haben könnte und dadurch ihre frühere Beschäftigung als Alien-Jägerin erneut aufnehmen könnte, würde er Ripley lieber tot sehen. Für ihn stellt Ripley keine erhaltenswerte Person dar, sondern lediglich das notwendige Produkt der Klonexperimente für die im Zentrum stehende Zucht von Alien-Soldaten. Dieser Einstellung verleiht General Perez mit einer deutlichen Äusserung Ausdruck: »Number eight is a meat by-product«. Alien Resurrection stellt die Tätowierung in einer totalen Institution dar, in der durch medizinisch-wissenschaftliche Forschung Mensch-Alien-Klone erschaffen werden. Die offizielle Lesart der Tätowierung Ripleys als Ausdruck ihrer Position in einer Versuchsserie schlägt sich direkt in der tätowierten Zahl »8« nieder. Mit der Tätowierung hat sich die totale Institution in der Haut ihrer ›Insassin‹ und ihres ›Eigentums‹ verewigt. Die Zwangstätowierung bildet den sichtbarsten und ihre Benennung mit »number eight« den sprachlich explizitesten Teil von Ripleys institutioneller Inklusion als Forschungsobjekt. In Soldier und Dark Angel sind die zukünftigen SoldatInnen zwar auch Gegenstand medizinischer Forschung und (Gen-)Manipulation. Die Tätowierung wird in den Filmen aber nicht als Zeichen ihres Status als Forschungsobjekt wie im Falle von »Ripley eight« beobachtet, sondern als inklusives Zeichen in die Gruppe der SoldatInnen. In Soldier wird im Gegensatz zu Dark Angel und Alien Resurrection die Prozedur des Tätowierens und damit die Inklusion in die Gruppe der Soldaten dargestellt. Bis zum 17. Lebensjahr werden die zukünftigen Soldaten einer gnadenlosen Disziplinierung unterzogen. Angst und Disziplin bilden die Grundpfeiler der militärischen Ausbildung, wie es Todd gegenüber einer Siedlerin auf dem Müllplaneten formuliert. Das Ende der Ausbildung zum Soldaten und der Beginn der militärischen Einsätze wird durch das Tätowieren aller Soldaten zur gleichen Zeit und am gleichen Ort markiert – ein ›rite de passage‹ (van Gennep 2005 [1909]) mittels Inskription. Mit einer futuristisch anmutenden Tätowiermaschine, deren Ton beim Tätowieren jedoch ähnlich den heute gebräuchlichen elektrischen Maschinen klingt, werden die Soldaten auf der linken Wange im Gesicht tätowiert. Die Tätowierung umfasst den Namen des Soldaten in Grossbuchstaben, eine Abkürzung aus Buchstaben und eine Nummernfolge (Abb. 10). Für den Protagonisten Todd bedeutet dies, dass folgende Angaben auf seine Wange tätowiert werden: »TODD Q-Pos 3469«. 70 Abb. 10: Tätowierte Informationen des Soldaten Todd in Soldier Die militärische Institution schreibt sich auf diese Weise in die Körper der von ihr aufgezogenen und sozialisierten Soldaten ein. Die Tätowierung bildet den Abschluss der institutionellen Prägung und weist die Ausgebildeten damit als vollwertige Soldaten aus. In diesem Fall handelt es sich im Gegensatz zur tätowierten Acht in Alien Resurrection um eine stets sichtbare Tätowierung auf ›public skin‹. In Soldier erweist sich die Beobachtung der Sichtbarkeit, wie ich sie im dritten Kapitel besprochen habe, für die dargestellten Tätowierungen als selbstverständlich. Neben den militärischen Informationen auf der Wange erhalten die Soldaten für jeden Kriegseinsatz auf dem rechten Oberarm eine Tätowierung des Namens des Krieges. Als Todd im Alter von 40 Jahren auf dem Müllplaneten von den Siedlern aufgenommen wird, besitzt er mehrere dieser Tätowierungen. Ausserdem werden den Soldaten ebenso die Rangabzeichen tätowiert, die sie sich mit ihren Taten verdient haben. Wie in Abbildung 10 sichtbar ist, verfügt Todd ausser den militärischen Standardinformationen auf der Wange auch über drei nach unten zeigende Winkel.62 Die institutionelle Inklusion, wie sie in Soldier am sichtbarsten durch die Tätowierungen auf der Wange eines Soldaten geschieht, lässt sich auch anhand der Unterscheidung zwischen den Soldaten und ihren Vorgesetzten beobachten. Obschon die Vorgesetzten einen Teil der Institution bilden, unterscheiden sie sich wesentlich von den Soldaten. Im Gegensatz zu den Soldaten verfügen die Vorgesetzten über keine Tätowierungen. Sie tragen Uniformen, auf denen ihre Rangabzeichen festgemacht sind. Die militärisch geprägte Tätowierung steht der Uniform der Vorgesetzten gegenüber, wobei in Soldier durch die visuelle Thematisierung und Fokussierung in mehreren Szenen die Bezeichnung auf den Markierungen der Soldaten liegt. Vergleichbar mit der tätowierten Acht in Alien Resurrection unterscheiden die militärischen Tätowierungen zwischen den in die totale Institution inkludierten Personen und den darin Beschäftigten und Verantwortlichen. Dieselbe Feststellung lässt sich auch für den Film Dark Angel festhalten, in dem die genmanipulierten SoldatInnen mit einem tätowierten Strichcode im Nacken verse62 Den Hinweis auf die Bezeichnung des militärischen Symbols verdanke ich Heinzpeter Znoj. 71 hen sind und sich durch diese Markierung am deutlichsten von den nicht-tätowierten Vorgesetzten unterscheiden (Abb. 11). Abb. 11: Max' Strichcode-Tätowierung in Dark Angel Ich habe oben gezeigt, dass in Alien Resurrection die soziale Position von Ellen Ripley wesentlich durch ihren Status in der Serie der Klonexperimente bestimmt ist. Im Film wird durch die tätowierte Acht und durch Ripleys Benennung als »number eight« oder »Ripley eight« die Ent-Individualisierung und Positionierung im Sinne eines austauschbaren respektive replizierbaren Objekts deutlich. Ellen Ripley ist nicht mehr Ellen Ripley, sondern nur noch ein wissenschaftliches Objekt als Mittel zu einem anderen Zweck. In Soldier und zum Teil auch in Dark Angel lässt sich anhand der Tätowierungen und der Benennung der Soldaten ebenso von einer Ent-Individualisierung sprechen. Die Soldaten in Soldier haben zwar alle einen (Vor-)Namen, der ihnen sichtbar auf die Wange tätowiert wurde. Auf der Wange steht jedoch auch eine Nummernfolge, die zusätzlich zum Namen für die Identifizierung der Soldaten herangezogen wird. Während der Ankunft der ›frischen‹ und genetisch verbesserten ›Fracht‹ und deren Konfrontation mit den alten Soldaten wird einer der neuen Soldaten mit dem Namen und der Nummer (»Cain 607!«) oder auch nur der Nummer, die an unterster Stelle auf seiner Wange tätowiert ist, in militärischem Befehlston aufgerufen. Die Veteranen hingegen, womöglich auf Grund ihrer langen Dienstzeit, werden entweder mit ›Soldat‹ oder ihrem Namen genannt und kommandiert. Dass die alten Soldaten keinesfalls zu einzigartigen Individuen geworden sind und von den Vorgesetzten als solche behandelt würden, zeigt sich in derselben Szene. Der Soldat Todd muss auf Befehl mit zwei Soldaten seiner Gruppe gegen ›Cain 607‹ kämpfen. Der Soldat der neuen ›Fracht‹ tötet dabei die zwei anderen und verletzt Todd schwer. Obschon der Vorgesetzte der alten Soldatengeneration das Ausscheiden von Todd beklagt, tut er dies auch nur mit Blick auf dessen militärische Fähigkeiten. Die Soldaten sind ersetzbar, denn es handelt sich um gekennzeichnete, durchnummerierte Soldaten und nicht um Individuen. Die neue und frische ›Fracht‹ – als handle es sich bei den Soldaten um Waren – steht als Ersatz für die Veteranen bereits zur Verfügung. 72 Die militärische Institution in Dark Angel verfährt in der Ausbildung der verbesserten SoldatInnen ebenso streng und gnadenlos wie jene in Soldier. In diesem Film wird die Ent-Individualisierung der SoldatInnen im Kindesalter mittels der spezifischen Tätowierung jedoch noch weiter getrieben. Wie ich erwähnt habe und in Abbildung 11 zu sehen ist, handelt es sich um einen tätowierten Strichcode im Nacken der SoldatInnen – einen Strichcode, der ansonsten nur Waren aufgedruckt wird. Obschon in Dark Angel kein Lesegerät (Scanner) zur Entzifferung der tätowierten Strichcodes gezeigt wird, kann davon ausgegangen werden, dass die unterschiedlich breiten und von einander entfernten Striche Informationen zur markierten Person enthalten. Dass die StrichcodeTätowierungen eng mit den total inkludierten SoldatInnen verbunden sind, zeigt sich auch noch einige Zeit nach der Flucht der SoldatInnen. Die Protagonistin Max und die anderen erfolgreich entflohenen Soldaten können sich auch nach Jahren nicht als ehemalige SoldatInnen des Geheimprojekts zu erkennen geben, denn die Verantwortlichen der militärischen Institution suchen noch immer nach ihnen. Die StrichcodeTätowierungen bieten bei der Suche nach den Entflohenen einen wesentlichen Anhaltspunkt: sowohl für Max, die auf der Suche nach ihren damaligen Freunden ist, als auch für die Verantwortlichen. Offenbar besassen die SoldatInnen zu Zeiten des Militärprojekts keine offiziellen Namen – womöglich gaben sie sich untereinander selbst welche. Die Suche der Verantwortlichen konzentriert sich entsprechend auf das Aussehen und vor allem auf die Strichcode-Tätowierungen der Entflohenen. Letztere sind denn auch unterhalb der Porträtfotografien der verschwundenen SoldatInnen abgedruckt, die im Büro des Projektverantwortlichen Lydecker an den Wänden hängen. Der tätowierte Strichcode gibt zwar auf den ersten Blick nicht so explizite Informationen über die tätowierte Person preis wie es bei der tätowierten Acht in Alien Resurrection und den Wörtern und Nummernfolgen in Soldier der Fall ist. Wer aber über das geheime Militärprojekt Bescheid weiss, muss den Strichcode nicht entziffern können. Die Strichcode-Tätowierung wirkt ungeachtet der verborgenen Informationen inklusiv und verweist auf die ursprüngliche Zugehörigkeit der markierten Person zu einer Gruppe von genetisch verbesserten SoldatInnen in einer militärischen Institution. Die Zwangstätowierungen fungieren in den Science-Fiction-Filmen Alien Resurrection, Soldier und Dark Angel als sichtbarstes Zeichen der Zugehörigkeit zu einer totalen Institution. Sie machen die institutionelle Inklusion sichtbar und ermöglichen die Identifizierung der markierten Person sowohl innerhalb der Gruppe der Zwangstätowierten als auch in Unterscheidung zu den nicht-markierten Vorgesetzten oder zu Personen ausserhalb der totalen Institutionen. 7.3 Freiwillige Inklusion und fremdbestimmte Tätowierungen In den vorangehenden Kapiteln habe ich bereits Filme angeführt, in denen fremdbestimmte Tätowierungen als Zugehörigkeitszeichen einer Gruppe beobachtet werden. Von den Tätowierungen, die ich im letzten Abschnitt diskutiert habe, unterscheiden sich 73 diese insofern, als dass sie nicht im Rahmen totaler Institutionen vorkommen und zur Inklusion in eine Gruppe durch die Mitglieder auf freiwilliger Basis gewählt werden. Bei diesen Tätowierungen handelt es sich dennoch um fremdbestimmte Motive, die sich in Gruppen als exklusives Zeichen der Zugehörigkeit etabliert haben. Wer sich einer solchen Gruppe freiwillig anschliessen will, muss sich für die erfolgreiche Inklusion entsprechend tätowieren lassen. Auf diese Art inklusiver Tätowierungen bin ich beispielsweise bei der Analyse der Kunstbeobachtungen bezüglich der Blade-Filme zu sprechen gekommen. Die Vampire sind mit kleinflächigen, schwarzen Zeichen tätowiert, die laut dem Protagonisten Blade auf den ›Besitzer‹ der tätowierten Person verweisen. Die tätowierte Person wird somit, wie Blade es im ersten Film formuliert, – ob Vampir oder Anwärter – als »someone's property« erkennbar. In allen drei Filmen spielt, wie ich bereits dargelegt habe, die Entblössung der Vampirzeichen eine visuell wichtige Rolle. Aus Blades Sicht lassen sich Vampire und Anwärter leicht mit Hilfe der Zeichentätowierungen als Mitglieder der Vampirgruppe identifizieren. Eine solche Tätowierung verweist ungeachtet des spezifischen Zeichens auf die Zugehörigkeit der Person. In Blade: Trinity interessieren sich jedoch Blade und die zwei anderen Vampirjäger, Hannibal King und Abigail Whistler, nicht nur generell für Vampirzeichen, sondern spezifisch für das Zeichen eines ›Besitzers‹ und damit für eine durch das Zeichen differenzierte Untergruppe der Vampire. Im Film wird das mit dem in Kapitel vier beschriebenen ›split-screen‹Verfahren in Szene gesetzt. Insbesondere Vampir-Anwärter, die auf ihre Verwandlung in einen Vampir hoffen, können sich nur mit einer Zeichentätowierung als Inkludierte ausweisen. Wer sich jedoch von einem Vampir erneut zu einem Menschen verwandelt, wie es im Falle des Vampirjägers Hannibal King geschehen ist (Blade: Trinity), wird auch nach der Exklusion aus der Gruppe der Vampire entsprechend mit einer Vampirtätowierung gekennzeichnet bleiben. Im fünften Kapitel habe ich auf die Binnendifferenzierung in Gefängnissen anhand einschlägiger Motive hingewiesen (vgl. auch DeMello 1993 zur realen Differenzierung). In American History X unterscheiden sich Rechtsextreme von den ›Schwarzen‹ und den ›Chicanos‹ besonders durch ihre Tätowierungen. Der Protagonist Derek und die anderen ›weissen‹ Gefängnisinsassen verfügen zwar nicht unbedingt über dieselben rechtsextremen Motive, dennoch sind diese aber als solche erkennbar und können, als begrenzte Auswahl an Zeichen, dieser spezifischen Gruppe zugewiesen werden. Demgegenüber scheinen die Mitglieder in der rechtsextremen Gruppe um Cameron Alexander und Derek ein tätowiertes Motiv gemeinsam zu haben, das ihre Zugehörigkeit markiert: die tätowierten Buchstaben »D.O.C.«. Derek hat diese Tätowierung unterhalb seines Nackens und sein Bruder Danny auf der Innenseite des rechten Unterarms. Eine Szene in American History X verdeutlicht den inklusiven Effekt der »D.O.C.«-Tätowierung: Am Tag von Dereks Entlassung aus dem Gefängnis präsentiert ihm Danny mit Stolz seine »D.O.C.«-Tätowierung. Danny sagt zu seiner frischen Tätowierung, dass seine Zugehörigkeit zu der »D.O.C.« durch den Anführer Cameron Alexander damit offiziell sei. Es ist die offizielle Anerkennung der fremdbestimmten 74 Gruppen-Tätowierung, welche die Inklusion in die »D.O.C« beschliesst. Fremdbestimmte Tätowierungen als Zeichen der Zugehörigkeit bilden sowohl in der Realität als auch im Film einen wichtigen Bestandteil krimineller Gruppen. Mitglieder einer der bekanntesten mexikanischen Kriminellengruppen in den USA der 1940er- und 1950er-Jahre gaben sich mit einer Tätowierung auf der Fläche zwischen Daumen und Zeigefinger zu erkennen, welche ein einfaches Kreuz mit drei Strichen oder Punkten darüber darstellt. Die Tätowierung wird ›pachuco‹ genannt (Steward 1990: 67; Govenar 1988: 210). Samuel M. Steward berichtet aus seiner Zeit als Tätowierer, 1950–1965, dass die unterschiedlichen kriminellen Gruppen ihre eigenen Tätowiermotive entwarfen und als Zugehörigkeitszeichen der Gruppe zu etablieren versuchten (Steward 1990: 67). Hierzu gehören auch die »Property-of-...«-Tätowierungen, die in der Gruppe der Hells' Angels auf der Haut der Frauen anzutreffen waren (Steward 1990: 49). In den Filmen werden die Zeichen der Zugehörigkeit und deren inklusive Effekte häufig visuell verstärkt inszeniert. Ähnlich der Inszenierung der Identifizierung von Personen anhand spezifischer Tätowierungen in den Blade-Filmen kann dies auch in Filmen über kriminelle Gruppen wie zum Beispiel die japanische Yakuza in den USA beobachtet werden (American Yakuza, Showdown in Little Tokyo). Die visuelle Fokussierung der Gruppentätowierung erfolgt in gleicher Weise, wie ich es in Kapitel drei zur Beobachtung der Sichtbarkeit diskutiert habe. Die Entblössung und Identifizierung durch eine Person von ausserhalb der markierten Gruppe spielt dabei eine wesentliche Rolle. *** Die Zwangs- oder fremdbestimmte Tätowierung geht sowohl in der Realität als auch im Film stets mit der Inklusion der markierten Personen einher – und immer auch mit einer Exklusion aller anderen. Diese Art der Tätowierung war in der realen Vergangenheit oftmals Teil totaler Institutionen, wobei sie, anders als etwa hohe Mauern, die Betroffenen direkt am Körper als institutionell Inkludierte bezeichnet. In den besprochenen Science-Fiction-Filmen wird diese Verbindung zwischen Zwangstätowierung und totaler Institution aufgenommen. In ihnen wird jedoch eine Zukunft entworfen, in der die fremdbestimmte Tätowierung nicht im Sinne einer Straftechnik angewandt wird, sondern die Tätowierungen Objekte medizinischer Forschung und militärischer Projekte markieren und als solche identifizieren. Die etwas ›mildere‹ Form der fremdbestimmten Tätowierung, die nicht Bestandteil einer totalen Institution ist, bildet ebenso eines der sichtbarsten Zeichen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Sie basiert jedoch im Gegensatz zu den Zwangstätowierungen auf der freien Entscheidung, einer Gruppe beizutreten. Wer inkludiert werden will, hat sich entsprechend zu markieren und muss seine Zugehörigkeit zu erkennen geben. 75 III Schluss Der Beginn meiner Auseinandersetzung mit Tätowierungen und Tätowierten in populären Filmen war durch die These der Kriminalisierung geprägt. Ich nahm an, dass in Filmen das Tätowieren ausschliesslich in Verbindung mit kriminellen Personen und Gruppen dargestellt wird. Die These entspricht den stereotypen Vorstellungen vom Tätowieren, die auch heute noch in der Gruppe der Nicht-Tätowierten oftmals über Tätowierte geäussert werden (vgl. z.B. Dubuis und Knüsel 2004). Mit der vorliegenden Arbeit wollte ich anhand der analysierten Filme zu zeigen versuchen, dass die filmische Darstellung von Tätowierungen und tätowierten Menschen nicht auf den Kriminaldiskurs reduziert werden kann. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein differenzierteres Bild. Der Kriminaldiskurs ist lediglich einer von mehreren anderen Diskursen, die auf ihre jeweils spezifische Weise Tätowierungen und Tätowierte beobachten und damit diskursiv konstruieren. Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich den Fokus auf die filmisch inszenierten Tätowierungen gelegt. Ich konnte anhand verschiedener Beispiele aufzeigen, dass zwei Beobachtungen in Filmen für die Darstellung von Tätowierungen von wesentlicher Bedeutung sind: Die Beobachtung der Sichtbarkeit und die der Lesbarkeit. Die Beobachtung der Sichtbarkeit gilt als die Bedingung schlechthin für die visuelle Darstellung einer Tätowierung im Film. Sie wird in den meisten Filmen beobachtet. Die Beispiele, die ich für die Bezeichnung der anderen Seite der Unterscheidung – der ›Unsichtbarkeit‹ respektive Verborgenheit der Tätowierungen – aufgeführt habe, machen in den betrachteten Filmen nur einen kleinen Teil aus. Im Vergleich zur Beobachtung in der Realität, wie sie etwa im Szene-Diskurs feststellbar ist, habe ich deutlich gemacht, dass die Selbstverständlichkeit der filmischen Beobachtung der Sichtbarkeit in der Realität in dieser Weise nicht gegeben ist. Filme vermögen mit ihrer Bezeichnung der Sichtbarkeit von Tätowierungen den realen Szene-Diskurs zu irritieren, indem sie Kritik an der Selbstverständlichkeit der Sichtbarkeit hervorrufen. Vor allem die stets sichtbaren Tätowierungen auf ›public skin‹, die in vielen Filmen durch die Beobachtung der Sichtbarkeit ermöglicht werden, stossen im realen Szene-Diskurs auf Widerstand. Anders verhält es sich in Bezug auf die Beobachtung der Lesbarkeit. Diese bedingt die Konstruktionsweise von Tätowierungen sowohl in realen als auch fiktionalen Diskursen. Die Beobachtung der Lesbarkeit bildet die Möglichkeit, über Tätowierungen als Zeichen für etwas, als etwas bedeutende oder Geschichten erzählende Hautbilder sprechen zu können. Mit Waterworld liegt beispielsweise ein Film vor, in dem sich das gesamte Filmnarrativ um die richtige Lesart der tätowierten Karte auf Enolas Rücken dreht. Der Film beobachtet die Lesbarkeit von Tätowierung mit einer Selbstverständlichkeit, die selbst angesichts der Einzigartigkeit der Tätowierung und der unbekannten tätowierten Zeichen in der ›Wasserwelt‹ kaum in Frage gestellt wird. 76 Die Beobachtung der Lesbarkeit prägt ausserdem in vielen Filmen die Art der Tätowierung und die daran geknüpften Lesarten. Insbesondere in den analysierten ScienceFiction-Filmen handelt es sich um Tätowierungen von Zahlen, Wörtern und Strichen, die mit der richtigen respektive offiziellen Lesart gelesen oder entschlüsselt werden können. Es handelt sich hierbei um eine spezifische Lesart. Generellere Lesarten habe ich für den Kriminaldiskurs beschrieben, in dem alleine die Tätowierung Ausdruck oder Zeichen von Verbrechen und Kriminellen ist. Im ersten Teil der Arbeit ›Markierungen der Tätowierung‹ habe ich versucht zu zeigen, dass der reale Szene-Diskurs seit einiger Zeit stark vom Kunstdiskurs beeinflusst wird. Die Unterscheidungen im Kunstdiskurs fallen zugunsten der Einzigartigkeit und Originalität einer Custom-Tätowierung aus. Das Kopieren von bestehenden Flash-Motiven und das Imitieren, beispielsweise von Tätowierungen aus Filmen, finden im realen Szene-Diskurs wenig Anklang. In Filmen wurde dem Kunstdiskurs im Gegenzug noch kein fester Platz eingeräumt. Die analysierten Ausnahmen beschränken sich zum einen auf die drei Blade-Filme, die exemplarisch die zentrale Unterscheidung des Kunstdiskurses durch die Zeichentätowierungen der Vampire sowie die ornamentale TribalTätowierung von Blade beobachten. Zum anderen konnte ich in Filmen über die Yakuza eine Tendenz zur Ästhetisierung von Tätowierungen im japanischen Stil ausmachen. Diese beschränkt sich jedoch vor allem auf den Titelvorspann und zeigt im Verlaufe der Filme kaum mehr Wirkung. Es lässt sich damit sagen, dass der Kunstdiskurs in Filmen hinsichtlich der diskursiven Konstruktion von Tätowierungen und Tätowierten noch kaum richtungsweisend ist. Zwei der drei Diskurse, die ich im zweiten Teil ›Diskursive Konstruktionen tätowierter Personen‹ analysiert habe, möchte ich im Gegensatz zum Kunstdiskurs in den Filmen als vorherrschend bezeichnen. Ich meine den Kriminal- und den Zugehörigkeitsdiskurs, wie ich sie in den meisten Filmen angetroffen habe. Die Filme berufen sich hinsichtlich der beiden Diskurse stark auf deren reale Entsprechungen. So konnte ich beispielsweise für den Kriminaldiskurs am Beispiel von XXX aufzeigen, dass Cesare Lombrosos kriminalanthropologische Beobachtungen noch im heutigen Film vertreten sind und mit der diskursiven Konstruktion tätowierter Personen als Kriminelle weitergetragen werden. In Bezug auf den Zugehörigkeitsdiskurs lassen sich ebenfalls Verbindungen zur Vergangenheit der Praktik der Zwangstätowierung und den Zeichen der Zugehörigkeit in der Gegenwart ziehen. Der einzige Unterschied dazu, den ich in den Science-FictionFilmen beobachten konnte, besteht in der medizinisch-militärischen Einbettung des Zugehörigkeitsdiskurses – anstatt in einen Rahmen der Bestrafung. Der Gender-Diskurs im Film, den ich als ›Zwischenspiel‹ behandelt habe, zeigt deutlich Ähnlichkeiten mit dem realen Diskurs. In der Weise, wie die Gender-Unterschiede hinsichtlich des Tätowierens in der Realität eher zugunsten der tätowierten Männer ausfallen, liegt der Schwerpunkt in den Filmen auch auf der Seite der tätowierten Männer. Die einzigen und durch den Zugehörigkeitsdiskurs konstruierten Ausnahmen bieten Alien Resurrection und Dark Angel mit ihren tätowierten Protagonistinnen. 77 Abschliessend bleibt mir eine Bemerkung zur Rückkopplung vom Film auf die Realität: Viele Beispiele der Imitation von Tätowierungen aus Filmen, die Gegenstand reger Diskussionen in Tätowierzeitschriften und unter TätowiererInnen sind, verdeutlichen einen möglichen Effekt der filmisch inszenierten Tätowierungen und tätowierten Personen auf das Filmpublikum. Einen anderen Effekt, den filmische Darstellungsweisen des Tätowierens in der Realität anscheinend nach sich ziehen, stellt Samuel M. Steward fest: »TV, movies, and newspapers had imprinted on the public mind the connection between tattoos and criminal or derelict behavior« (1990: 10). Seine Aussage scheint mir nicht fern der kriminalisierenden These zu sein, die zu Beginn ebenso meine Betrachtungen prägte. Ob die filmische Irritation der Realität in solch direkter Weise die Vorstellungen des Filmpublikums prägt, wie es Steward behauptet, sei dahingestellt. Ungeachtet der vorherrschenden Diskurse in Sachen Tätowierungen und Tätowierte – ob Kriminal-, Zugehörigkeits-, Gender- oder Kunstdiskurs – zeitigen diese einen scheinbar unvermeidlichen Rückkopplungseffekt: Das Filmpublikum gewöhnt sich daran, Tätowierungen und Tätowierte zu sehen – »they become used to see the tattoos«, wie es ein kanadischer Tätowierer mir gegenüber formulierte. 78 IV Bibliographie Andersen, Niels Åkerstrøm 2003: Discursive Analytical Strategies. Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luhmann. Bristol: The Policy Press. 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