Literaturbericht 1/2012 - TIERethik - Zeitschrift zur Mensch

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Literaturbericht 1/2012 - TIERethik - Zeitschrift zur Mensch
LITERATURBERICHT
TIERethik
4. Jahrgang 2012
Heft 4, S. 68-101
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
Literaturbericht 1/2012
Petra Mayr, Regina Binder, Andreas Brenner, Anna Katarina Engel,
Arianna Ferrari, Kathrin Herrmann, Margot Michel
Inhalt
Vorbemerkung ............................................................................................................. 69
1. Allgemeines zum Tierschutz ............................................................................. 70
1.1 Andrew Knight: The Costs and Benefits of Animal Experiments ............... 70
1.2 Josef H. Reichholf: Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas ............................................................................................. 76
1.3 Franz M. Wuketits: Schwein und Mensch: Die Geschichte einer Beziehung ......................................................................................................... 78
1.4 Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen.............. 80
2. Ethik interdisziplinär .......................................................................................... 82
2.1 Iris Radisch und Eberhard Rathgeb (Hrsg.): Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind............................................................... 82
2.2 Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): HumanAnimal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-TierVerhältnissen ............................................................................................... 86
2.3 Frans de Waal: Das Prinzip Empathie – Was wir von der Natur für
eine bessere Gesellschaft lernen können ...................................................... 90
3. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung ........................................................... 93
3.1 Gieri Bolliger, Michelle Richner und Andreas Rüttimann: Schweizer
Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis .................................................. 93
3.2 Gieri Bolliger, Antoine F. Goetschel und Manfred Rehbinder (Hrsg.):
Schriften zur Rechtspsychologie, Band 11: Psychologische Aspekte
zum Tier im Recht ....................................................................................... 96
Literatur .................................................................................................................... 101
Literaturbericht
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Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Vorbemerkung
Mitleid und Mitgefühl sind nichts rein Menschliches; auch Tiere können
sich in die Lage ihres Gegenübers versetzen. Der Verhaltensbiologe
Frans der Waal hat sein aktuelles Buch der Fähigkeit des Mitgefühls gewidmet. Das Prinzip Empathie – Was wir von der Natur für eine bessere
Gesellschaft lernen können fokussiert eine bislang von der Biologie eher
stiefmütterlich behandelte Eigenschaft von Menschen und Tieren. De
Waal, der gerne als Humanist unter den Biologen bezeichnet wird, übt in
seinem Buch zugleich auch Gesellschaftskritik. Das Bekenntnis zu wirtschaftlicher Freiheit befördere sowohl gute als auch schlechte Seiten des
Menschen, so der Biologe. Die schlechte sei der Mangel an Mitgefühl.
Auf eben diesen Mangel wollen auch die beiden Herausgeber des Buches
Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind hinweisen. Mit
sorgsamer Auswahl von aktuellen und historischen Texten gelingt den
beiden Redakteuren Iris Radisch und Eberhard Rathgeb ein besonders
einfühlsames und zugleich in der Textauswahl breit gefächertes Buch.
Gesellschaftskritisch sind auch solche Ansätze, die sich auf einer breiten Basis unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen mit dem
Mensch-Tier-Verhältnis beschäftigen. Im Buch Human-Animal Studies.
Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen wird
grundlegende Kritik an der westlichen Philosophietradition und ihrer
anthropozentrischen Ausrichtung geübt. Hier sehen sich die Herausgeber
auch als politische Akteure. Mit den „Human-Animal Studies“ hat sich
das Spektrum derer, die sich dem Mensch-Tier-Verhältnis widmen, mittlerweile weiter ausdifferenziert. Und das ist gut so. Denn die „HumanAnimal Studies“ erforschen die Mensch-Tier-Frage in einem fachübergreifenden und damit breiteren wissenschaftlichen Zusammenhang. Damit wird es möglich, Strukturen freizulegen und Verhaltensmuster zu
erkennen, die unser Verhältnis zu Tieren geprägt haben und auch weiter
beeinflussen, beispielsweile die Selbstverständlichkeit, mit der bislang
Tierversuche durchgeführt werden. Mittlerweile hat die gesellschaftliche
Akzeptanz im Hinblick auf Tierversuche erheblich abgenommen, und
auch die wissenschaftliche Frage nach ihrer Zweckhaftigkeit erfährt zunehmend Brüche. Jeder Tierversuch muss sich, so die Gesetzeslage, moralisch und fachwissenschaftlich legitimieren lassen. Eine ethische Verträglichkeitsprüfung etwa, wie sie vorgeschrieben ist, kann aber immer
nur die erhofften und damit rein hypothetischen wissenschaftlichen Erfolge des Versuchs mit den tatsächlichen Schmerzen, Leiden und Schäden der dafür verwendeten Tiere in Relation setzen. Somit lässt sich erst
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nach dem Versuch einschätzen,
n, ob er halten konnte, was er versprach.
Eine solche retrospektive Bewertung von Tierversuchen hat Andrew
Knight in seiner Studie The Costs and Benefits of Animal Experiments
vorgelegt.
1. Allgemeines zum Tierschutz
1.1 Andrew Knight: The Costs and Benefits of
Animal Experiments
254 S., Hampshire: Palgrave Macmillan Great Bri
Britain, 2011, 70,99 €
Sind Tierversuche ethisch vertretbar?,
vertretbar? ist die große
Frage, die sich der australische Tierarzt und Bi
Bioethiker Andrew Knight in seinem Buch The Costs
and Benefits
its of Animal Experiments stellt. Ziel des
Buches ist es, die Erfolge von Tierversuchen zu
beurteilen. Grundlage hierfür sind verlässliche IInformationen über den Umfang an eingesetzten Versuchstieren,
Versuchstiere über das
Ausmaß der verursachten Schmerzen, Leiden und Schäden für die Tiere,
über den Nutzen der Tierversuche für den Menschen und über die Mö
Möglichkeiten von alternativen Forschungsmethoden. Knight trägt all diese
zusammen und beleuchtet sie. Außerdem untersucht er den Einfluss des
Einsatzes von Tieren in der Lehre auf das Urteilsvermögen und die EmE
pathie der Lernenden gegenüber Tieren.
Grundlage aller gesetzlichen Regelungen von Tierversuchen ist eine
utilitaristische Kosten-Nutzen-Abwägung.
Abwägung. So unterstreicht die neue EU
Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für
f wissenschaftliche Zwecke
verwendeten Tiere, dass der Einsatz eines jeden Tieres sowohl aus mor
moralischen als auch auss wissenschaftlichen Gründen genau abzuwägen sei.
Auch das deutsche Tierschutzgesetz fordert explizit eine ethische Ve
Vertretbarkeitsprüfung (§ 7 Abs. 3 TierSchG). Die Kosten, also die zu erwarerwa
tenden Schmerzen, Leiden und Schäden, sind gegen den erhofften ErE
kenntnisgewinn abzuwägen. Jedoch handelt es sich hierbei um eine prospro
pektive Einschätzung. Erst retrospektiv kann eigentlich wirklich verif
verifiziert werden, ob ein Tierversuch ethisch vertretbar war. Knight führt di
diese retrospektive Bewertung der Kosten für die Tiere und des Nutzens für
uns Menschen durch, um dann aufss Neue die Kosten für die Tiere gegen
den Nutzen der Tierversuche für uns Mensc
Menschen abzuwägen. Er bemerkt
ganz richtig: Auch wenn finanzielle und personelle Kosten ebenfalls bbe| 70 | TIERethik, 4. Jg. 4(2012)
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stehen, würden die Hauptkosten, im Sinne von Leiden, Schmerzen und
Tod, doch von den Tieren getragen, die für die Versuche benutzt werden.
Und auch wenn Forschung auch zum Nutzen der Tiere und der Umwelt
betrieben würde, so sei doch die überwältigende Mehrheit der Tierversuche für das menschliche Benefit gedacht – egal ob es sich nun um reinen
Wissensgewinn handle (Grundlagenforschung), um Toxizitätsstudien
oder um Lehrzwecke. Knight analysierte insgesamt über 500 wissenschaftliche Publikationen über Tierexperimente, über Belastungen der
Versuchstiere sowie über den Einsatz von Tieren in der Lehre.
Um Bias zu vermeiden, konzentrierte er sich insbesondere auf im
großen Umfang durchgeführte systematische Reviews, die die klinische
Anwendbarkeit von Tierstudien am Menschen und die Übertragbarkeit
von Ergebnissen aus Toxizitätsstudien untersuchen. Wir verlassen uns in
der biomedizinischen Forschung und in Toxizitätsstudien auf Tiermodelle. Wir gehen davon aus, dass diese Tiermodelle uns realistische Voraussagen für die Auswirkungen beim Menschen geben könnten. Verifiziert
wurden diese Annahmen bislang kaum. Der Tierversuch gilt in vielen
Forschungsbereichen nach wie vor als Goldstandard, obgleich er nie validiert wurde. Erst in den letzten Jahren gebe es endlich systematische Reviews, die diese Annahmen überprüfen.
Knight untersuchte zwanzig solcher Reviews. In nur zwei davon kamen die Autoren zu dem Schluss, dass die Studien am Tier entweder
einen besonders nützlichen Beitrag zur Entwicklung von klinischen Eingriffen am Menschen geleistet hatten oder dass die Tiermodelle übereinstimmend mit den Ergebnissen aus den klinischen Studien waren. Die
systematischen Reviews umfassten vielzitierte Publikationen mit Ergebnissen aus invasiven Experimenten an Schimpansen zur klinischen Anwendbarkeit am Menschen, die in High Impact Journalen publiziert worden waren. Knight konzentrierte sich auf die Untersuchung des klinischen
Nutzens von Studien an Schimpansen und auf den toxikologischen Nutzen von Kanzerogenitätsstudien an Tieren, weil man davon ausgehen
müsse, dass andere Tiermodelle sogar noch weniger allgemeingültige
Aussagen für die Auswirkungen beim Menschen liefern könnten als Studien an Menschenaffen und weil andere Bereiche von Toxizitätsstudien
noch weniger gesundheitlichen Nutzen hätten als Kanzerogenitätsstudien.
Wenn man sähe, wie schlecht die Tiermodelle in diesen beiden tierexperimentellen Forschungsbereichen abschnitten, müsste man die Verlässlichkeit von Tiermodellen anderer Forschungsbereiche erst recht in Frage
stellen. Eine Reihe von Faktoren scheint für die schlechte Übertragbarkeit
verantwortlich zu sein, schreibt Knight im 7. Kapitel. Diese seien u.a.
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angeborene genotypische und phänotypische Unterschiede zwischen
Mensch und Versuchstier, physiologische und immunologische Unterschiede, Krankheitsprädispositionen und kognitive und Verhaltensmerkmale. Außerdem beeinflussten eine zu Distress führende Versuchsumgebung und belastende Versuchsprotokolle sowie die schlechte methodische
Qualität vieler Studien, die in zahlreichen Reviews dokumentiert wird,
die Versuchsergebnisse.
Einen Überblick über die Gesamtkosten für die Versuchstiere zu bekommen, sei schwierig, da viele Länder derartige Statistiken nicht haben
bzw. nicht veröffentlichen und da es keine länderübergreifende standardisierte Veröffentlichung solcher Informationen gebe. Dennoch ist klar,
dass mehrere Millionen Tiere in invasiven Experimenten eingesetzt werden. Die wohl genaueste Schätzung über den weltweiten Einsatz von
Versuchstieren stamme aus dem Jahr 2005: Insgesamt mindestens 126,9
Millionen Wirbeltiere wurden für Grundlagen- und angewandte biomedizinische Forschung, für Toxizitätsstudien und für die Lehre eingesetzt
bzw. wurden getötet, um an ihren Geweben oder Organen zu forschen,
oder wurden genutzt, um etablierte gentechnisch veränderte Stämme zu
erhalten. Trotzdem ist Knight der Ansicht, dass diese Schätzung von
126,9 Millionen weltweit eingesetzten Tieren im Jahr 2005 eine konservative Schätzung sei. Hier fehlen beispielsweise die unzähligen Tiere, die
für Tierversuche gezüchtet wurden bzw. bei der Herstellung neuer gentechnisch veränderter Linien anfielen, aber dann nicht benötigt und in der
Folge getötet wurden.
Die große Bandbreite an Stressoren, die zu Angst und Distress bei den
Versuchstieren führen können, fasst Knight im 4. Kapitel zusammen.
Hierzu gehört das Einfangen wilder Spezies, der teilweise lange Transport der Tiere, die Haltung in Gefangenschaft, das Handling sowie sowohl Routineeingriffe und -behandlungen als auch invasive Verfahren.
Die genaueste Statistik bezüglich des Grads der Belastung für die Tiere
im Versuch stamme aus Kanada – ca. 29-44% aller Eingriffe und Behandlungen in den vergangenen zehn Jahren seien stark belastend für die
Tiere gewesen. Außerdem stellte Knight fest, dass – soweit er dies aus
den veröffentlichten Daten herauslesen konnte – der Großteil der Eingriffe und Behandlungen ohne Anästhesie durchgeführt werde. Hierzu stamme die aussagekräftigste Statistik aus Großbritannien, wo ohne vorherige
Anästhesie durchgeführte Eingriffe und Behandlungen in den letzten
zwei Jahrzehnten jährlich zwischen ca. 59 und 69% schwanken (Kapitel 3).
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Um die Belastung für die Versuchstiere realistisch einschätzen zu
können, wäre es hilfreich zu wissen, wie häufig Schmerzmittel zum Einsatz kommen, den Korrelationsgrad zwischen belastenden Experimenten
und dem Analgetika- und Anästhetikagebrauch zu kennen und zu wissen,
wie artgemäß und verhaltensgerecht die Tiere gehalten werden (Sozialkontakte mit Artgenossen, Environmental Enrichment). Leider, so stellt
Knight fest, werden derartige Informationen nur sporadisch veröffentlicht
und tauchen in den nationalen Statistiken überhaupt nicht auf. Dennoch
konnten in einer Vielzahl von Studien der Stress gezeigt werden, den die
Tiere bereits durch ihre Lebensumwelt und Art der Unterbringung und
durch
gängige
Prozeduren
wie
Handling,
Blutentnahmen,
Magenschlundsonde-Schieben etc. erfahren, sowie die Einflüsse dieses
Stresses auf eine Reihe physiologischer Parameter wie Hormonkonzentrationen, Blutglu-kosekonzentration und Herz-Kreislaufparameter. Auch
das Verhalten sei oftmals verändert. So könne sich stereotypes Verhalten
entwickeln – geschätzte 50% aller Labormäuse weisen Stereotypien auf
(vgl. Mason/ Latham 2004) – oder Aggressivität. Auch seien Veränderungen neuroanatomischer Parameter und kognitiver Fähigkeiten mögliche Folgen der Belastung (Kapitel 4). Diese Veränderungen seien nicht
nur aus ethischer und aus Tierschutzsicht kritisch zu bewerten, sondern
beeinflussten auch die Ergebnisse, insbesondere die solcher Versuche, die
von der Erhebung genauer physiologischer und Verhaltensparameter
abhängig seien.
Auch wenn Knight bei seiner umfangreichen Recherche nicht alle
Wissenslücken insbesondere bezüglich der Belastung der Versuchstiere
schließen konnte, kommt er basierend auf der Auswertung von über 500
wissenschaftlichen Studien zu dem Schluss: Wenn man alle Kosten und
allen Nutzen mit einbeziehe, könne niemand zu dem Ergebnis kommen,
dass der Nutzen für menschliche Patienten und Verbraucher oder für
diejenigen, die nach wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn strebten, größer sei als die Kosten für die Versuchstiere. Nur wenn man mit ungleichem Maß messe, also wenn man für minimale Verbesserungen für den
Menschen die Schmerzen, Leiden und Schäden von Millionen von Versuchstieren in Kauf nähme, könnte man behaupten, der Nutzen rechtfertige die Kosten für die Tiere. Knights Schlussfolgerungen erscheinen einleuchtend und plausibel, stützt er sie doch in erster Linie auf groß angelegte systematische Reviews. Ein Review, welches Knight heranzieht, ist
von Hackam und Redelmeier (2006). Hier wurde die Übertragbarkeit
einer kleinen Anzahl von tierexperimentellen Studien untersucht, die
zwischen 1980 und 2000 in sieben führenden Wissenschaftsjournalen
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publiziert worden waren und die jeweils mehr als 500mal zitiert wurden.
Die Reviewer gingen davon aus, dass diese Studien das Potential hätten,
zu klinischen Studien am Menschen zu führen. Von den insgesamt 76
untersuchten tierexperimentellen Studien wurden nur 28 (~37%) in randomisierten klinischen Studien repliziert. 14 der 76 Studien am Tier wurden in den klinischen Studien widerlegt, und 34 der 76 Studien schafften
es bis Mai 2006 nicht in die klinische Studienphase (Kapitel 5). Laut
FDA (Food and Drug Administration 2004), die in den USA für die Arzneimittelzulassungen zuständig ist, schaffen es 92% aller Medikamente
aufgrund von Sicherheitsrisiken bzw. aufgrund fehlender Wirksamkeit
nicht auf den Markt, obgleich sie vorher ausgiebig in präklinischen Studien auch im Tierversuch – oftmals an mehreren Tierarten – getestet wurden. Außerdem komme es auch bei bereits zugelassenen neuen Medikamenten häufig zu Nebenwirkungen, und sie stellten die viert- bis sechsthäufigste Todesursache in US-amerikanischen Krankenhäusern dar (vgl.
Lazarou/Pomeranz 1998).
Andrew Knight sei Dank für dieses Buch, für das er eine Vielzahl an
Studien und Statistiken rund um das Thema Tierexperimente zusammengetragen und ausgewertet hat. Seine Schlussfolgerungen werden vielen
Menschen nicht gefallen. Sie sind erschütternd. Wenn man nun noch
bedenkt, wie viele Ergebnisse von Tierversuchen niemals veröffentlicht
werden, da die Versuche nicht zum gewünschten Erkenntnisgewinn geführt oder keinen Nutzen für uns Menschen haben, und dass diese nicht
veröffentlichten Versuche nicht Bestandteil der Untersuchung Knights
sein konnten, wird einmal mehr deutlich, wie ungleich und unfair die
Kosten-Nutzen-Abwägung von Tierversuchen fast immer ist.
Ein Schritt in die richtige Richtung ist das open access Journal of Negative Results in BioMedicine (http://www.jnrbm.com/). Hier wurde endlich ein Anfang gemacht, auch nicht erfolgreiche Forschung zu publizieren. Unnötige Mehrfachversuche können nur durch die Publikation aller
Forschungsergebnisse – auch der negativen – vermieden werden, und
unbrauchbare Tiermodelle können so endlich herausgefiltert werden. Um
Tiere effektiv vor unnötigen Leiden zu bewahren und auch finanzielle
und personelle Kosten zu sparen, müssten die tierexperimentell Forschenden verpflichtet werden, sämtliche Forschungsergebnisse – auch die
„unattraktiven“ – zu veröffentlichen. Außerdem brauchen wir dringend
mehr systematische Reviews zur Überprüfung des Erfolgs und der Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen.
Es bleibt nun zu hoffen, dass die gemäß Artikel 39 der neuen EU
Tierversuchsrichtlinie (2010/63/EU) durchzuführende retrospektive Be| 74 | TIERethik, 4. Jg. 4(2012)
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wertung belastender Experimente und die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse (Artikel 43, Abs. 2) endlich mehr Transparenz in die in der EU
durchgeführten Tierversuche bringen wird. Durch die Pflicht zur Veröffentlichung von nichttechnischen Projektzusammenfassungen, in denen
laut Artikel 43, Abs. 1 b) u.a. auch die Maßnahmen zur Leidensminimierung (Refinementmethoden) zu nennen sind, und durch die Pflicht der
Behörden zur retrospektiven Bewertung belastender Tierversuche bestünde erstmals die Möglichkeit zur genaueren Analyse der Verhältnismäßigkeit von Tierversuchen. Denn die Informationen aus den Projektzusammenfassungen und die Ergebnisse aus den rückblickenden Bewertungen hätten das Potential, einen Teil der Wissenslücken bezüglich der
Kosten und des Nutzens der belastenden Tierversuche schließen zu können und ein klareres Bild über ihre Kosten und ihren Nutzen zu geben.
Ob es in Deutschland endlich mehr Transparenz geben wird, hängt
nun allerdings davon ab, ob das zuständige Ministerium die Pflicht zur
Veröffentlichung der Ergebnisse aus der rückblickenden Bewertung in
nationales Recht umsetzen wird. Im Entwurf der Tierschutz-Versuchstierverordnung ist derzeit keine Veröffentlichung der Ergebnisse aus
der retrospektiven Bewertung vorgesehen. Außerdem wird im § 41 des
Entwurfs der Tierschutz-Versuchstierverordnung auch kein Nachweis
über die Erfüllung der Anforderungen der Vermeidung, Verminderung
und Verbesserung (3R-Prinzip) gefordert, obwohl die EU Richtlinie
2010/63/EU dies im Rahmen der nichttechnischen Projektzusammenfassung (Artikel 43, Abs. 1 b) explizit fordert. Öffentlich zugängliche Informationen aus den rückblickenden Bewertungen von Tierexperimenten
sind Voraussetzung dafür, dass die Ethikkommissionen und die genehmigenden Behörden die ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen prospektiv richtig bewerten können. Es wäre fatal, wenn die Tierschutz-Versuchstierverordnung nicht entsprechend geändert würde. Die Forderung
nach Transparenz bei Tierversuchen, eines der Hauptziele der Richtlinie
2010/63/EU, würde dann von Deutschland nicht erfüllt. Und Transparenz
sind wir nicht nur der ethisch besorgten Öffentlichkeit schuldig, sondern
sie ist für den Schutz unserer Mitgeschöpfe unerlässlich.
Kathrin Herrmann
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1.2 Josef H. Reichholf: Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas
151 S., Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2011,
10,90 €
Bereits 2008 produzierte Deutschland über 7,7
Millionen Tonnen Fleisch und ist somit nach China, den USA und Brasilien das „produktivste“
Land. Diese Form von „Produktivität“ bezeichnet
der Ökologe Reichholf als „Ökokolonialismus“. Er
beschreibt, warum wir uns diese Hochleistungslandwirtschaft nicht länger leisten können. Dabei
lehnt er nicht per se den Konsum von tierischen Produkten ab, aber die
Art und Weise sowie den Umfang der Produktion. Vor allem verdeutlicht
er die Folgen unserer Gier nach Fleisch, indem er die Zusammenhänge
zwischen der Massentierhaltung, der Abholzung der Regenwälder, dem
Klimawandel, dem Artensterben, der Überdüngung unserer Böden und
der Verschmutzung des Grundwassers mit dem Übermaß an tierischen
Fäkalien verdeutlicht. Ein Thema, das interessiert, denn Reichholfs Buch
erscheint bereits in dritter Auflage.
Reichholf bezeichnet Deutschland mit einem Tierbestand von 75
Tonnen pro Quadratkilometer als „Super-Serengeti“ (20), die jedoch – im
Gegensatz zur Serengeti mit einem Lebendgewicht der Großtiere von 20
Tonnen – den Tierbestand ökologisch nicht verkraften kann. Und wir
produzierten weit mehr als wir jemals essen könnten – der Rest geht in
den Export. Die „Super-Serengeti“ Deutschland könne ihren Tierbestand
nicht selbst ernähren und müsse deshalb riesige Mengen an Futtermitteln
importieren. Ein Drittel des Viehs in deutschen Ställen werde direkt oder
indirekt aus Südamerika ernährt. „Wäre der Bedarf an Massenproduktion
von Futtermitteln für Europas Viehställe gar nicht erst zustande gekommen, dann wäre ein Großteil der Tropenwaldflächen, die seit den 1980er
Jahren gerodet und vernichtet worden sind, erhalten geblieben – mit den
angestrebten Effekten für das Klima. Und es hätte wohl auch keine ,Futtermittelskandale‘ gegeben.“ (120) Reichholf prangert darüber hinaus an,
dass trotz zunehmender Weltbevölkerung immer mehr für den Menschen
essbare Nahrung an die sog. Nutztiere verfüttert wird. „Wir schufen uns
einen Planeten der Rinder, der Schweine und der Hühner. Wir, das ist der
kleinere Teil der Menschheit. Der größere kann sich so viel Fleisch gar
nicht leisten oder hungert.“ (27) Der Autor bezeichnet diese Hochleistungslandwirtschaft und ihre Folgen nach Kriegen und Seuchen als drittes
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großes Weltproblem. Nicht ohne Grund sei 1992 beim „Erdgipfel von
Rio“ von den Vereinten Nationen der Bezug zwischen nachhaltiger Entwicklung und Erhaltung der Biodiversität zum Hauptziel für die Zukunft
erklärt worden, wobei Klimaschutz und global change die Hauptaufgaben
darstellten, um die Erde auch zukünftig für eine immer weiter anwachsende Bevölkerung lebenswert zu erhalten. Mittlerweile habe sich gezeigt, dass die Hauptwiderstände bei der Umsetzung der Ziele von Rio
und deren Folgekonferenzen keinesfalls von der Industrie kämen, sondern
von der Landwirtschaft. Und der landwirtschaftliche Widerstand sei bestens organisiert, die meisten Politiker scheiterten daran. „Nicht einmal
Europa scheint stark genug, die Macht der Agrarlobby zu brechen und ein
sinnvolleres System auf den Weg zu bringen.“ (135)
Die reellen Kosten der industrialisierten Hochleistungslandwirtschaft
schlagen sich keineswegs im Preis für tierische Produkte nieder – wir
zahlen sie alle. Auf die Trinkwasser-Abwasser-Problematik bezogen
zahlen wir gleich dreimal, so Reichholf: mit Agrarsubventionen, Trinkwasserkosten und Abwassergebühren. „Die Belastung des Grundwassers
wurde in weiten Teilen Deutschlands so groß, dass es als Trinkwasser seit
Jahrzehnten schon nicht mehr verwertet werden kann. […] Großstädte
müssen daher zumeist aus fernen Gebieten ihr Trinkwasser herbeischaffen, weil der Nahbereich mit landwirtschaftlich genutzten Flächen dafür
nicht mehr infrage kommt. Gutes Trinkwasser ist im niederschlagsreichen
Deutschland weithin ein kostbares Gut geworden. Die Wasserrechnungen
weisen dies aus. Verursacher dieser Kosten ist die von der Landwirtschaft
ausgehende Überdüngung.“ (129)
Reichholf präsentiert sogar eine Lösung: Er empfiehlt, nur so viele
Tiere zu züchten und zu halten, wie deutsche Weiden auch ernähren
könnten. Das fehlende Fleisch könne aus Regionen importiert werden, in
denen es ausreichend Weideland gibt. „Dort, wo das Produkt am besten
wächst oder zustande kommt, sollte es im globalen Miteinander auch
erzeugt werden.“ (144)
Es bleibt nun zu hoffen, dass Reichholfs Worte endlich Gehör finden
und „sich die Gesellschaft in Deutschland das Dreieck von Milliardensubventionen für umweltbelastende Agrarproduktion, teurem Trinkwasser und exorbitanten Kosten für die Entsorgung von Abwasser nicht mehr
bieten lassen wird“ (144) und endlich gegen das dritte große Weltproblem – die Hochleistungslandwirtschaft – vorgeht.
Kathrin Herrmann
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| Petra Mayr et al.
1.3 Franz M. Wuketits: Schwein und Mensch:
Die Geschichte einer Beziehung
170 S., Hohenwarsleben: Westarp Wissenschaften,
2011, 19,95 €
Einen Streifzug durch die facettenreiche real- und
kulturgeschichtliche Beziehung zwischen Mensch
und Schwein unternimmt Franz Wuketits, der an
der Universität Wien Wissenschaftstheorie unter
besonderer Berücksichtigung der Biowissenschaften lehrt. Auf die polyvalente Rolle des Schweines, dessen Bedeutung
zwischen Glückssymbol, „unreinem Tier“ und Inspirationsquelle für Zoten oszilliert, hat freilich bereits Thomas Macho in seinem 2006 herausgegebenen Sammelband „Arme Schweine“ hingewiesen und mit zahlreichen Beispielen aus Alltagskultur, Geschichte, Literatur und bildender
Kunst illustriert (vgl. ALTEX 4/07, 284).
Wuketits geht zunächst auf die bekanntermaßen komplexen kognitiven Fähigkeiten des Schweines ein und zeigt auf, welche degenerativen
Veränderungen das auf Mastleistung gezüchtete Hausschwein im Vergleich zur Wildform erfahren hat. Während das Schwein im Judentum
und im Islam als „unreines Tier“ einem strikten Nahrungstabu unterliegt,
hat es sich in vielen Regionen der Welt als domestiziertes Tier, aber auch
als Jagdwild zum „unverzichtbaren Nutztier“ entwickelt. Die Bedingungen der modernen Nahrungsmitteproduktion werden zwar mit Nachdruck, aber recht allgemein kritisiert: Die „wahrhaft unglücklichen
Schweine“, so Wuketits, „[…] werden heute zu Tausenden eingepfercht
in Schweinemastanstalten gezüchtet, die lediglich dem schnellen wirtschaftlichen Profit dienen und auf das arttypische Verhalten der Tier keine Rücksicht mehr nehmen.“ (47) Über die spezifischen Tierschutzprobleme in der intensiven Schweinehaltung, insbesondere die Fixierung der
Zuchtsauen im Kastenstand, die Zulässigkeit von Vollspaltenböden und
den Umstand, dass männliche Ferkel ohne Betäubung kastriert werden,
erfährt der Leser bedauerlicher Weise recht wenig. Eingehend befasst der
Autor sich allerdings mit den modernen Schlachtbedingungen, dem Sinnbild für die zunehmende Entfremdung zwischen Nutztier und Mensch. So
hat die fließbandartige Massentötung von Schweinen (und anderen Nutztieren) einen „Abstumpfungsgrad seitens [der] Töter erreicht, für den es
keine Präzedenzfälle in der Geschichte gibt.“ (94) Ob die nostalgischen
(?) Kindheitserinnerungen an den „Sautanz“ oder das Umschlagfoto den
Leser davon überzeugen können, dass die Hausschlachtungen, die noch
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bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts zum festen Bestandteil des bäuerlichen Jahreskreises gehörten, vergleichsweise „humane“ Ereignisse waren, möge jeder einzelne Leser nach seinem subjektiven Empfinden beurteilen.
Ein eigenes Kapitel widmet der Autor einem bislang eher wenig beachteten Thema: dem Schwein als Versuchstier. Am Beispiel der medial
breit thematisierten „Lawinenschweine“, die 2010 in den Tiroler Bergen
im Schnee vergraben wurden, um die Überlebensbedingungen von Lawinenopfern zu untersuchen, zeigt er, dass einzelne Tierversuche trotz der
erforderlichen behördlichen Genehmigung aus erkenntnistheoretischer
Sicht fragwürdig und aus ethischer Perspektive „zumindest als bedenklich einzustufen“ sind. (137) Zur Ehrenrettung der Veterinärmedizinischen Universität, die der Autor kurzerhand von Wien nach Innsbruck
verlegt, muss jedoch darauf hingewiesen werden, das diese, anders als
vom Autor ausgeführt, an diesem Versuch in keiner Weise beteiligt war.
Schlicht unzutreffend ist schließlich auch die Behauptung, dass in
Fertigfuttermitteln für Hunde und Katzen kein Schweinefleisch enthalten
sei, was Wuketits mit der etwas weit hergeholten Vermutung zu begründen versucht, es könne sich um eine „ins Groteske gesteigerte ‚politische
Korrektheit‘“ handeln, wonach auch Hunde und Katzen keine „unreinen
Tiere“ fressen sollen. (76) Auch wenn „political correctness“ mitunter
seltsame Blüten treibt, diesen Verdacht kann man getrost ad acta legen:
Fertigfutter für Hunde und Katzen stammt nämlich zu fast einem Drittel
vom Schwein. Man könnte also allenfalls darüber spekulieren, weshalb
auf dem Tiernahrungsmittelsektor keine Sorte bzw. Geschmacksrichtung
„Schwein“ angeboten wird.
Insgesamt enthält der Streifzug durch die Geschichte und Erscheinungsformen der Mensch-Schwein-Beziehung jedoch durchaus eine Fülle
informativer Details, die dazu anregen kann, den Umgang des Menschen
mit Schweinen kritisch zu reflektieren.
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1.4 Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer
Schnecke beim Essen
169 S., München: Nagel & Kimche, 2012, 16,90 €
Niemand geht in den Zoo, um sich eine Schnecke
anzuschauen, und niemand hält sich eine Schnecke,
so wie man sich einen Hund oder eine Katze hält.
Schnecken sind einfach da, und wir sind meistens
froh wenn sie wieder weg sind. Denn Schnecken
fressen unsere Blumen und unser Gemüse im Garten und hinterlassen noch dazu eine hässliche
Schleimspur. Das sah auch die US-amerikanische
Journalistin Elisabeth Tova Bailey nicht anders. Das änderte sich erst, als
sie eine Schnecke geschenkt bekam. Eine Schnecke geschenkt zu bekommen, ist auch dann ein ungewöhnliches Geschenk, wenn man, wie
Bailey, schwer krank ist und sich nicht mehr außerhalb seines Betts bewegen kann. Eine seltene Viruskrankheit hatte Bailey aus ihrem sehr
bewegten Leben gerissen und ans Bett gefesselt. Die ohnehin immer seltener werdenden Besuche werden der jungen Frau zunehmend lästig: Es
ist mit Händen zu greifen, dass selbst ihre Freunde immer seltener aus
Freude vorbeischauen und mehr aus Pflicht. Und was sie von ihrem Leben da draußen zu berichten haben, kann Bailey nicht wirklich erfreuen
und trösten, erinnert doch alles an das, was ihr nun fehlt: die Freiheit, sich
selbstbestimmt in der Welt zu bewegen.
Und da kommt die Schnecke. Eine Freundin hat sie bewusst und wohl
auch mit Mut mitgebracht: „Ich habe sie dir mitgebracht, sie sitzt hier
unter den Veilchenblättern“. Bailey ist überrascht und will wissen, warum
ihr die Freundin eine Schnecke schenkt: „Ich weiß auch nicht“, antwortet
die und fährt fort: „Ich dachte, du hast vielleicht Freude daran.“ Keine der
beiden Frauen konnte in diesem Moment erahnen, wie sehr sich diese
Intuition bewahrheiten sollte. In der Folge wird Bailey mit ihrer Schnecke
all das erleben, was eine intensive Beziehung ausmacht; sie wird Freude
und Sorge haben, wird Verantwortungsgefühle entdecken, wird sich in
jeder Beziehung für ihr Gegenüber interessieren und sehr viel lernen.
Das beginnt schon in den folgenden Tagen: Ein Blatt Papier, in der
Nähe des Blumentopfs gelegen, weist kleine quadratische Löcher auf.
Bailey bekennt lakonisch, dass, nachdem später auch ihre an den Blumentopf gelehnten Postkarten diese quadratischen Löcher aufweisen, ihr
„dämmerte, dass die Schnecke etwas Richtiges zu fressen brauchte.“ Von
nun an beginnt sie ihr neues Haus- oder besser Zimmertier zu füttern:
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Blütenblätter bilden jetzt ihre Nahrung. Für die gelähmte Bailey ist es
faszinierend zu beobachten, wie schnell die Schnecke von der Höhe des
Blumentopfs aus die neue Situation erkennt und sich auf den Weg macht:
Geschwind heruntergekrochen, beginnt sie, ihr Blatt zu fressen. Und in
der Folge erweisen sich zahlreiche Ansichten über Schnecken für Bailey
als bloße Vorurteile, so auch diejenige, dass Schnecken langsam seien.
Die Schnelligkeit, mit der sich ihre Schnecke bewegt, verschlägt Bailey
schier die Sprache und das erst recht, nachdem Bailey in einem kleinen
ausrangierten Aquarium eine schneckenadäquate Umwelt hat anlegen
lassen: In ihren schlaflosen Nächten kommt Bailey kaum nach, den Aufenthaltsort ihres Tieres ausfindig zu machen, und als sie sie tagelang
nicht mehr finden kann, verzweifelt sie beinahe, ergeht sich in Selbstvorwürfen und gelobt Besserung: Der Speiseplan wird von nun an um
Champignons erweitert.
Parallel zur praktischen Pflege ihres Tieres beginnt Bailey nun mit einem natur- und kulturwissenschaftlichen Studium der Schnecke. Die
anfängliche Beobachtung der quadratischen Löcher in ihren Postkarten
kann sie nun besser verstehen: Dreiunddreißig Zähne pro Reihe bei achtzig Zahnreihen machen die Radula der Schnecke zu einem schlagkräftigen Instrument. Die kannibalischen Arten unter den Schnecken können
ihre Zahnreihen zusätzlich zur Seite klappen um in ihrem Mundraum
mehr Platz für ihre Opfer zu schaffen.
Die Arbeiten, mit denen sich Bailey beschäftigt und die überwiegend
aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen, helfen ihr, ihr Tier besser zu
verstehen: So vergleicht Ernest Ingersoll in seinem Buch In a Snailery die
Fühler der Schnecke mit den Ohren eines Maultieres, und Oliver
Goldsmith bezeichnet in A History of the Earth and the Animated Nature
die Fühler der Schnecken als ihre Augen, eine Vorstellung, die hundert
Jahre später von James Weir in seinem Werk mit dem bezeichnenden
Titel The Dawn of Reason wiederholt wird, wenn er feststellt: „Die Augen der Schnecke sitzen in teleskopischen Wachtürmen.“
Es ist diese Mischung aus wissenschaftlicher Literatur ‒ unter den
zeitgenössischen Arbeiten kommt Edward Wilsons Biophilia eine herausragende Bedeutung zu ‒ und eigener Beobachtung, die dieses Buch so
reich macht. Dass Baileys Krankheit hier das ihre dazu tut und dass die
Autorin wohl kaum je ein Buch über die Schnecke geschrieben hätte,
wenn sie nicht von einer schweren Krankheit befallen worden wäre, darf
man dabei getrost behaupten. Denn die Beobachtungen ihrer Schnecke
sind immer zugleich auch Selbstbeobachtungen. So erkennt die Autorin
erst als Gelähmte die Mobilität des Kriechtieres. Und als weitgehend von
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ihren Mitmenschen Verlassene beobachtet sie mit Bewunderung, dass
Schnecken ein Sozialleben haben. Denn als Baileys Schnecke in einer
ersten Kolonie Eier gelegt hat, kann die Autorin beobachten, wie sie diese
pflegt und wie später die jungen Schnecken immer mit genügend Fressen
versorgt sind.
Dieses Verhältnis der Generationen lässt Bailey erneut die sprichwörtliche Langsamkeit bedenken, die wie alle Zeitaussagen relativ ist. Denn
die Schnecke bewegt sich zwar langsamer als der Mensch durch die Welt,
entwickelt sich aber als Spezies viel schneller und entwickelt eine deutlich höhere Generationenfolge. Und der Schnelligkeit der Menschheit in
der Entwicklung technischer Innovationen korrespondiert, wie die Autorin klagt, die Langsamkeit in anderen Bereichen, wie denen der Konfliktlösung und Therapie.
Zum Schluss bleibt nur noch Dankbarkeit: „Die Schnecke“, schreibt
Bailey, „verhinderte, dass mein Lebensmut schwand. Wir zwei bildeten
eine ganz eigene Gemeinschaft.“ Den Lesern von Baileys Buch bleibt die
Einsicht, dass es im Reich des Lebendigen nichts gibt, das es nicht zu
betrachten lohnt, so wie es der Verhaltensforscher Karl von Frisch sagt,
dessen Aussage Bailey wie folgt einem Kapitel vorangestellt hat: „Es sei
bemerkt, dass jedes Tier ziemlich alle Rätsel des Lebens in sich birgt.“
Andreas Brenner
2. Ethik interdisziplinär
2.1 Iris Radisch und Eberhard Rathgeb (Hrsg.):
Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind
257 S., St. Pölten/Salzburg: Residenz Verlag,
2011,19,90 €
Wer von einem Unrecht im Innersten überzeugt ist,
wer sich empört, dass dieses Unrecht auch noch
gesellschaftlich etabliert ist, der befindet sich in
einer argumentativ schlechten Ausgangslage, der
Ausgangslage aller Vegetarier.
Gleichsam stellvertretend für alle, die nicht nachvollziehen können, warum das von Menschen verursachte Tierleid noch
immer so viele kalt lässt, nennen die beiden Herausgeber, ihren Band
emphatisch „Wir haben es satt!“ Iris Radisch und Eberhard Rathgeb,
beide Redakteure, beide Vegetarier, haben sich Texten gewidmet, die
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sich in sehr unterschiedlicher Weise mit dem Töten von Tieren zum
Fleischkonsum auseinandersetzen. Die Herausgeber haben einfühlsam
und mit viel Gespür prägnante Gedankenpassagen ausgewählt und damit
ein facettenreiches Buch gestaltet.
Zu Wort kommen namhafte Autorinnen und Autoren hauptsächlich
aus der Belletristik und Philosophie. Sie erheben ihre Stimme gegen das
für sie Unfassbare, indem sie beschreiben, was sie fühlen bei dem, was
sie sehen und im Alltag erleben. Oder sie argumentieren – Argumente,
die sicher für jeden, der aufgehört hat, Tiere als Nahrungsmittel zu betrachten, selbstverständlicher nicht sein könnten. Ihr Buch ist ein „Plädoyer für den Vegetarismus zwischen Empörung und Mitgefühl“, wie die
Herausgeber ihren Band auf dem Klappentext beschreiben. Die Vielzahl
von persönlichen Erfahrungen, die Schilderung von Empfindungen bei
der Beschreibung vom täglichen Töten, wie sie in den Textpassagen zu
finden sind, aber auch die philosophischen Begründungen sind Varianten
einer Botschaft mit der immer gleichen Absicht, dem Aufruf zum Vegetarismus.
Was für all jene, die mit anderen Lebewesen mitfühlend empfinden,
zu einer bedrückenden Lektüre werden kann, mag aber die anderen, die
es zu überzeugen gilt, unberührt lassen. Und so lässt sich befürchten, dass
nicht nur die Empörung von denen, die Tiere vor einem qualvollen Tod
bewahren wollen, verhallen könnte. Sie könnte vor allem unverstanden,
nicht nachvollziehbar bleiben. Diese Befürchtung schienen die Herausgeber auch zu haben. Sie wird gleich im ersten Text, in einer winzigen Passage aus Karen Duves Buch anständig essen aufgegriffen. In einer Anlehnung an den Film „Matrix“, der die vermeintliche Wirklichkeit als
Scheinwirklichkeit entlarvt, sei es gewissermaßen die eigene Entscheidung, so Duve, ob man die Welt des Tierelends als reale Wirklichkeit
hinter der Welt der sauberen Fleischtheken sehen wolle. Kurzum, für
Duve spaltet sich die Welt in Fleischesser und solche, die dies nicht tun.
Vor allem aber, so macht dieses Buch wieder einmal überdeutlich, spaltet
sich die Welt in empfindsame und weniger empfindsame Naturen.
Eine Fundgrube sind in dieser Hinsicht die Texte der Klassiker mit ihrer dialektischen Betrachtungsweise, die psychologische Befindlichkeiten
wie selbstverständlich zu integrieren weiß. So zum Beispiel die Erfahrungen des hochsensiblen und allen Lebewesen mit Interesse zugewandten Schriftstellers Elias Canetti. Mit seiner Schulklasse und seinem geschätzten Lehrer musste der Junge das Schlachthaus besuchen. Doch
schon die bloßen Schilderungen seiner Mutter, wie sie den Gänsen zur
Mast Maisbrei in den Hals einflößte, riefen bei ihm Albträume hervor.
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Und so halfen im Schlachthof auch alle bemühten Erklärungen des Lehrers zum „humanen“ Schlachten und dass alles seine Richtigkeit habe
nichts. Alles Beschwichtigende und Relativierende seines Lehrers empfand der unfreiwillige Schlachthofgast als bloße Leugnung und Täuschung, die das Eigentliche, was hier geschah, zu überdecken suchte: Der
Schüler spricht aus, was er empfindet. Es ist nur ein einziges Wort, das
seinem vor Entsetzen fast sprachlosen Mund entgleitet: „Mord“. (46)
Ähnlich verzweifelt erleben zwei Brüder im gleichnamigen Text von
Albert Camus „Das Hühnerschlachten“. (49) Sie erfahren die vermeintliche Unausweichlichkeit des Schlachtens, und sie spüren gleichsam die
alltägliche Gelassenheit derer, die dem Tier mit routinierten Handgriffen
das Leben nehmen. Im berühmten Erziehungsroman Émile oder über die
Erziehung von Jean-Jacques Rousseau wird einmal mehr deutlich, wie
stark die sozialisatorische Komponente beim Fleischessen wirksam ist,
wie sehr wir dieser Tradition verhaftet sind. Rousseau erwähnt hierbei,
wie wenig Kinder offenbar daran interessiert sind, Fleisch auf ihrem Teller zu haben, und wie sehr dies eine erzieherische Maßnahme der Eltern
ist.
Welche geradezu grotesken Züge der Mythos vom Fleisch annehmen
kann, beschreibt John Robbins, Sohn eines amerikanischen Eishändlers,
in seinem Text „Das tägliche Blutbad“. (130) Ihm zufolge bewerten Eltern die vegetarische Ernährung ihrer Kinder problematischer als den
Konsum von Zigaretten (vgl. 130). Robbins Text greift aber auch ein
Thema auf, das ähnlich der Praxis des Tötens von Tieren noch immer zu
wenig thematisiert wird. Es sind die in psychischer und physischer Hinsicht menschenverachtenden Arbeitsbedingungen im Schlachthof. Nicht
nur, dass Schlachthofangestellte etwas psychisch stark Belastendes ausführen, nämlich zu töten. Sie sind aufgrund der gewinnmaximierenden
Praxis des wirtschaftlichen Systems auch noch dazu gezwungen, im
Laufschritt zu töten. Und so ist es auch kein Wunder, dass in Schlachthöfen der USA die Arbeitnehmer die höchste aller Wechselraten haben. Im
Laufe nur eines Monats scheidet fast die Hälfte der Angestellten aus den
Betrieben aus (vgl. 132).
Neben solchen Texten findet sich aber auch ein in interessantes Beispiel über die fachspezifisch verschiedenen Perspektiven und die daraus
zuweilen resultierenden Missverständnisse, die entstehen können, wenn
sich Wissenschaftler auf fremdem Terrain bewegen. Aufschlussreich sind
da die Positionen des Philosophen Peter Singer und des Verhaltensforschers Frans de Waal, der Kritik an Singers Tierrechtsposition formuliert.
De Waal zieht einen Vergleich zwischen Menschen und Schimpansen:
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„Nach meiner Erfahrung streben Schimpansen ebenso rücksichtslos nach
Macht wie manche Leute in Washington. […] Ihre Gefühle können von
Dankbarkeit für politische Unterstützung bis zur Empörung, wenn einer
eine soziale Regel verletzt, reichen. All dies ist weit mehr als bloß Angst,
Schmerz und Wut: Das emotionale Leben dieser Tiere ähnelt dem unsrigen weit mehr, als man einst für möglich gehalten hat.“ (216) Er zieht
daraus aber nicht die Konsequenz von Singer, der von der Spezies
Mensch abstrahiert und auch für andere Spezies mit vergleichbaren Interessen Rechte fordert. Rechte sind für den Verhaltensforscher de Waal
eine zu starke Forderung, die er auch Menschaffen deshalb nicht gewähren möchte, weil ihm zufolge das Zugeständnis von Rechten vollkommen
vom menschlichen Wohlwollen abhänge. „Rechte die nur selektiv gewährt werden, sind nach meinem Verständnis überhaupt keine.“ (217)
Deshalb plädiert de Waal für verwandtschaftliche Verpflichtung gegenüber Menschenaffen (vgl. 218). Singer klärt das Missverständnis, das auf
einem falschen Rechtsverständnis beruht, auf, indem er erklärt, dass ohnehin alle Rechte selektiv gewährt werden. „Babys haben kein Wahlrecht, und Menschen, die wegen Geisteskrankheit oder Abnormität eine
Neigung zu gewalttätigem antisozialen Verhalten haben, können das
Recht auf Freiheit verlieren.“ (225)
Unabhängig davon, zu welcher persönlichen Konsequenz jeder im
Umgang mit Tieren kommt – Wir haben es satt ist ein unvergleichlich
gehaltvolles Buch, jenseits jeder einseitigen Gefühlsduselei. Es versammelt eine Mischung von Texten, die die Unmittelbarkeit im Alltagserleben einer karnivoren Gesellschaft beschreiben, und solchen, die philosophische Argumente liefern. Aus den Texten spricht zuweilen ein Mitgefühl, das an der Realität zu zerbrechen droht oder sich in ironische Distanz dazu flüchtet. So etwa die Passage des Dichters und Zeichners Robert Gernhardt, der sich über die „Schweinewelt“, ein Fachblatt für
Schweinezüchter, amüsiert: „Es ist ein so ehrliches Journal. Da ist so
jeder Lack so gänzlich ab. Kein heuchlerischer Nebensatz streift auch nur
die Interessen der Schweine oder die der Verbraucher, alles, alles dreht
sich um den Schweineproduzenten, der seinem Produkt nicht mehr Gefühl entgegenzubringen scheint als ein Hersteller von Plastikeimern oder
Büroklammern“. (191)
Eine weitere Besonderheit des Buches: Jedem Text ist eine kurze Einleitung vorangestellt, in der die Herausgeber die Autorin oder den Autor
vorstellen und in den Diskurs einbetten. Es ist die Auswahl der Texte, die
dieses Buch so besonders macht. Jede Schwingung zwischen Mitgefühl
und abgestumpfter Geschäftigkeit ist zu finden, so auch im Text des
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Schriftstellers John Berger, der, an einigen Passagen ästhetisch verfremdet, beschreibt, was in seinem französischen Heimatdorf seit jeher Tradition ist: „Das Schlachten einer Kuh“. (112) Manchmal ist es gerade diese
kühle Sachlichkeit einer nüchternen Erzählung, die nur schwer zu ertragen ist.
Petra Mayr
2.2 Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal
Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über
die gesellschaftliche Natur von Mensch-TierVerhältnissen
424 S., Bielefeld: transcript Verlag, 2011, 24,80 €
Der Chimaira-Arbeitskreis für Human-Animal
Studies nimmt sich eine ambitionierte Aufgabe in
diesem Sammelband vor: die hegemoniale „westliche“ anthropozentrische Philosophietradition durch
einen exemplarischen Einblick in neue Ansätze der
Human-Animal Studies zu kritisieren und damit die Etablierung dieses
neuen Feldes im deutschsprachigen Raum voranzutreiben. Deswegen
konzentriert sich der Sammelband auf die Forschung im deutschsprachigen Raum und wird durch einen sehr hilfreichen Exkurs zu den wichtigsten Publikationen eingeleitet. Der Chimaira-Arbeits-kreis besteht aus
WissenschaftlerInnen und AktivistInnen, die eine transdisziplinäre und
kritische Perspektive verfolgen und sich als politische Akteure verstehen.
Die zu kritisierende hegemoniale Tradition ist nicht nur von einem
hegemonialen männlichen Denken geprägt (dem Männlichen wird das
Geistige und dem Weiblichen das Körperliche zugeschrieben; vgl. die
Thesen von Gilles Deleuze, Féliz Guattari und Judith Butler), sondern vor
allem durch eine starke dichotomische Ontologie, die den Menschen als
überlegenes Wesen scharf vom Tier trennt, da er vernunft- und sprachbegabt ist. Dagegen wollen die AutorInnen dieses Sammelbandes durch
einen Blick in die neueren theoretischen Konzeptionen aus der Philosophie, STS (Science and Technologies Studies), Politik- und Rechtswissenschaften, Soziologie, Geschlechterstudien, Anthropologie, Kulturwissenschaften, Geographie, Psychologie, Literatur-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften einen Grundstein für eine neue Auffassung des
Mensch-Tier-Verhältnisses legen. Der erste Schritt besteht in der Anerkennung, dass auch nicht-menschliche Tiere konstitutiv für das Verständnis der Gesellschaft sind: nicht nur weil sie Symbolträger und manchmal
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Ersatz für zwischenmenschliche Beziehungen sind, sondern weil sie von
den Menschen auch unterworfen und genutzt bzw. ausgebeutet werden.
In der Tat ist die Art und Weise, wie der Mensch das Tier wahrnimmt,
gesellschaftlich strukturiert (vgl. 18).
Die zehn Beiträge dieses Sammelbandes – hauptsächlich von jungen
WissenschaftlerInnen geschrieben – bieten einen interessanten transdisziplinären Blick in den aktuellen akademischen Diskurs um Mensch-TierVerhältnisse an, die sich vor allem um eine neue Deutung des Wesens
von Tieren und ihrer sozialen und politischen Wahrnehmung bemühen.
Grundannahmen der poststrukturalistischen und postmodernen Tradition
stehen im Vordergrund dieses Sammelbandes: Ziel ist es, das klassische
abendländische dichotomische Denken des Humanismus bzw. der Aufklärung zu überwinden und neue theoretische Wege für die Definition
von Subjekt/Objekt, Mann/Frau (siehe insbesondere die Beiträge von
Sabine Hastedt, Swetlana Hildebrandt und Andrea Heubach), Natur/Kultur und natürlich Mensch/Tier sowie Spezies zu finden. Man sollte
sich von einem Bild von nicht-menschlichen Tieren als passiven Objekten von Herrschaft lösen und sie am besten als Akteure und handelnde
Wesen wahrnehmen. Außerdem sollte man Spezies nicht als feste Einheit
annehmen, die Andersartigkeit von „Tieren“ in Frage stellen und für eine
Neukonfiguration des sozialen Stellenwertes von Tieren plädieren (vgl.
Hastedt, 211).
Viele Beiträge setzten sich mit theoretischen Schwierigkeiten unterschiedlicher Herangehensweisen auseinander und fordern neue analytische Methoden für eine erfolgreiche emanzipierte Betrachtung von
Mensch-Tier-Verhältnissen. Dennoch bleibt unklar, was eine solche neue
ontologische Deutung für die heutige Tierausbeutung konkret mit sich
bringt. Zum Beispiel diskutiert Andre Gamerschlag die Fruchtbarkeit
einer Perspektive der intersektionellen Analyse für die Erforschung des
Mensch-Tier-Verhältnisses am Beispiel der Auseinandersetzung mit der
Auffassung der Unity of oppression: Im Mittelpunkt dieser Perspektive
steht der Gedanke, dass unterschiedliche Herrschaftsformen (zum Beispiel gegenüber Frauen und Tieren) sich überlappen und deswegen nicht
isoliert zu betrachten sind. Intersektionalität bietet eine theoretische Perspektive, in der auch Ethnizität und Geschlecht eine wichtige Rolle für
die (diskriminierende) Kategorisierung von Lebewesen darstellen. Die
Diskussion Gamerschlags bleibt aber innerhalb des Diskurses der Tierrechts-Tierbefreiungsbewegung, und es mangelt an einer ausführlichen
Auseinandersetzung mit den Strategien der Bewegung oder den Kampagnen in der Öffentlichkeit. Eine Ausnahme in Richtung einer konkreten
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Analyse bildet der Beitrag von Hildebrandt, die am Beispiel der Studien
in Primatologie und Zoologie zeigt, wie Tiere als geschlechtliche Lebewesen wahrgenommen und diskutiert und damit durch dichotomische
Sozialstrukturen konstituiert werden. Hildebrandt plädiert für eine Untersuchung in Queer-Studies (Studien, die die heteronormativen Regeln und
Werte in Frage stellen) und Human-Animal Studies der Art und Weise,
wie Wissen über Tiere produziert wird. Auch der Beitrag von Aiyana
Rosen über die Bedeutung von Framing-Prozessen in der Tierrechtsbewegung der Bundesrepublik ist reich an Analysen konkreter Kampagnen
und Strategien dieser Bewegung.
Es ist schade, dass in mehreren Fällen die Beiträge in einer komplizierten Fachsprache geschrieben sind, die nicht für ein breiteres, nichtakademisches Publikum geeignet ist. Lobenswert ist sicherlich das Glossar der Hauptbegriffe von Human-Animal Studies, welches am Ende des
Sammelbandes ausgearbeitet ist. Hilfreich wäre es dennoch gewesen,
konkrete Beispiele von hegemonialem Denken in der Praxis zu geben
sowie die Erarbeitung praktischer Szenarien einer Gesellschaft, in der
solche Hegemonien nicht mehr entstehen. Nur die letzten Texte des
Sammelbandes, die der Tierrechts- und Tierbefreiungspraxis sowie dem
Veganismus gewidmet sind, erfüllen partiell diese Aufgabe, wobei es
auch hier hauptsächlich um bewegungsintern relevante Aspekte der Identitätskonstruktion geht (siehe bspw. den Beitrag von Mike Roscher über
die Geschichte der Tierbefreiung oder von Markus Kurth und anderen
über das Verhältnis zwischen Hardcore-Szene und veganer Identität), so
dass die sozial relevanten Botschaften solcher Bewegungen in den Hintergrund rücken.
In seinem Beitrag über Fragmente einer anthropozentrismus-kritischen Herrschaftsanalytik zeigt beispielsweise Swen Wirth anhand einer
an Michel Foucault orientierten Analyse, wie hegemoniale Mensch-TierVerhältnisse in unserer Gesellschaft als Herrschaftsverhältnisse konzipiert sind. Obwohl der Text eine interessante Rekonstruktion der Methode Foucaults anbietet, wirkt sie gerade im Zusammenhang mit MenschTier-Verhältnissen sehr abstrakt, da solche Verhältnisse nicht in ihrer
Konkretheit analysiert sind. Für Wirth wäre es falsch, eine Legehenne als
ein passives Subjekt zu beschrieben, weil sie dadurch als Objekt, als „dualistische Gegensatzfolie“ zum Herrensubjekt Mensch, gemacht wird
(vgl. 53): Die Mensch/Tier-Opposition ist im Subjekt-Konzept bereits
enthalten (vgl. 59). Die Forderung der Überwindung von Foucault durch
Haraway, und damit die Wahrnehmung der nicht-menschlichen Tiere als
gesellschaftliche Akteure, bleibt wiederum abstrakt: Was folgt für unsere
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Legehenne, wenn sie als handelnde Akteurin wahrgenommen wird? Nicht
zuletzt ist hier anzumerken, dass das emanzipatorische Potenzial von
Donna Haraways postmoderner Analyse für einen erfolgreichen Schutz
von Tieren für viele sehr kontrovers ist, wenn man bspw. bedenkt, dass
für sie Versuchstiere mehrere Stufen von Freiheiten haben und damit als
handelnde Akteure („lab actors“) zu beschreiben sind.1
In seinem Beitrag stellt Kurth die These auf, dass eigentlich nicht das
Sprachvermögen, sondern die Beteiligung am sozialen Diskurs die Trennlinie zwischen Individuen darstellt. Auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie Louis Althusseurs zeigt Kurth, wie auch
nicht-menschliche Tiere einer sprachlichen Struktur unterworfen sind, die
sich in der Gesellschaft konstituiert. Allerdings befinden sich auch in
diesem Beitrag sehr wenige Hinweise zur Anwendung dieser Theorie in
Bezug auf die Analyse konkreter Tiernutzung.
Roscher setzt sich mit den Chancen und Grenzen einer Tiergeschichtsschreibung auseinander und zeigt, wie unzureichend das Thema
„Tiere“ bisher in der Geschichtswissenschaft beleuchtet wurde. Um das
dichotomische und diskriminierende Denken zu überwinden, wäre im
deutschsprachigen Raum eine Sozialgeschichte der Mensch-Tier-Beziehung zu entwickeln, nicht eine Geschichte über Tiere: Durch die Wechselwirkung des Verhältnisses, und damit auch der Wahrnehmung von
Tieren, die Aushandlungsprozesse zwischen Mensch und Tier (vgl. 142)
oder durch eine literaturwissenschaftliche Analyse können tierliche Handelnde als Protagonisten analysiert werden.
Alles in allem bliebt das Zweck dieses Sammelbandes für einen akademischen Kontext erfüllt: Human-Animal Studies sind ein wachsendes
und vielversprechendes Forschungsfeld im deutschsprachigen akademischen Raum. Trotz des gesellschaftskritischen und politischen Elans dieses Sammelbandes bleibt aber der konkrete Praxisbezug hier undeutlich.
Außerdem wäre für einen ersten Sammelband zu diesem Thema eine
verständlichere Herangehensweise wünschenswert gewesen, damit die
Wirkung von neuen Theorien sowohl auf die Praxis als auch für die
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit deutlich wird.
Arianna Ferrari
1
Siehe dazu Weisberg, Z. (2009), The Broken Promises of Monsters: Haraway, Animals and the Humanist Legacy, Journal for Critical Animal Studies, Volume VII, Issue 2.
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2.3 Frans de Waal: Das Prinzip Empathie – Was
wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft
lernen können
352 S., München: Carl Hanser Verlag, 2011, 24,90 €
Eine gute Nachricht für all jene, denen das Bild des
Menschen als kämpferischer Egoist schon immer
unsympathisch war! Gleich der erste Satz des
Vorwortes verspricht: „Gier ist out, Empathie ist
in“. Was ein wenig nach bloßem Modetrend klingt,
ist der Einstieg in eine abwechslungsreiche Reise
durch die Geschichte der Empathie und eine Absage an das Homohomini-lupus-Dogma (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Genauer
gesagt, wird das lang gepflegte Negativimage des Wolfes, auf dem Thomas Hobbes’ berühmt gewordene Aussage beruht, durch unser heutiges
Wissen über das komplexe Sozialverhalten von Wölfen erweitert. Bezeichnet man also den Menschen als des Menschen Wolf, so kann man
damit nicht mehr nur einen blanken Konkurrenzkampf meinen. Man
schließt zwangsläufig auch Gemeinschaftlichkeit und Gegenseitigkeit mit
ein. Die Anerkennung beider oft als unvereinbar gehandelten Aspekte
unsere stammesgeschichtlichen Entwicklung – egoistische wie soziale
Motive – ist de Waal wichtig und wird in seinem jüngsten Buch wiederholt ausführlich behandelt. Das eigentliche Thema aber sind die lange
vernachlässigten prosozialen Eigenschaften der menschlichen Natur und
insbesondere deren Grundlage: die Empathie.
Was ist eigentlich Empathie? Wo hat sie ihre Wurzeln, wo finden wir
sie in tierischen Gesellschaften, und was lehrt sie uns? Wie konnte es
dazu kommen, dass Empathie im wissenschaftlichen Kontext bislang
außer Acht gelassen wurde? Warum wurden Eigenschaften, die der Kitt
unserer Gesellschaft sind, so lange nicht ernst genommen, als sozialromantische Phantasien abgetan, geleugnet? Wie konnte alles, was auch nur
annähernd nach empathischen Regungen „roch“, immer doch noch in
einen eigentlich egoistischen Beweggrund umgedeutet werden? Alle diese Fragen beantwortet de Waal in seinem neuen Buch auf aufschlussreiche und unterhaltsame Weise. Gleich zu Anfang fordert er eine Generalüberholung unserer Grundannahmen über die menschliche Natur und
durchschaut den viel postulierten ewigen Überlebenskampf aller gegen
alle als ‚reine Projektion‘. Zwar lässt sich individualistisches, egoistisches und gewinnmaximierendes Verhalten überall in der Natur beobachten. Ebenso aber finden wir gruppenorientiertes Verhalten, das weniger
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
den eigenen Vorteil als vielmehr – zum Wohle aller – die Gemeinschaft
im Blick hat. Was nicht als Ausdruck reiner Selbstlosigkeit missverstanden werden sollte – sind die Ursprünge hilfsbereiten Verhaltens doch
aller Wahrscheinlichkeit nach durchaus im Dienste des Eigennutzes zu
suchen. Und dennoch: Eigenschaften, die sich im Verlauf der Evolution
als langfristig nützlich erweisen und dadurch entwickeln, können durchaus auch in anderem Kontext zum Tragen kommen.
De Waal veranschaulicht dies an dem schönen Beispiel, dass wir unsere Fähigkeit des Farbensehens sicher nicht mehr nur dazu einsetzen,
reife von unreifen Früchten zu unterscheiden, sondern beispielsweise
auch, um ein Gemälde zu bewundern. So ist es auch mit der Empathie.
Unsere Fähigkeit, uns in andere einzufühlen, ihre Empfindungen zu erkennen und zu verstehen, nutzen wir im besten Falle nicht nur, um für
uns vorteilhafte Schlüsse zu ziehen, sondern auch, um Hilfe und Beistand
zu leisten, selbst dort, wo uns daraus kein unmittelbarer Nutzen – außer
dem guten Gefühl – entsteht.
Frans de Waal spürt den verschiedenen Ebenen der Empathiefähigkeit
nach: der unbewussten Körperkorrespondenz, d.h. unserer Eigenart, Körperhaltungen und Gesten anderer unmittelbar zu synchronisieren; Gefühlsübertragungen wie der Schmerzansteckung, die man auch bei Labormäusen nachweisen konnte; Tröstungen und Beistand unter Menschenaffen, Delphinen und Elefanten; Selbstempfinden als Voraussetzung
für empathische Fähigkeiten. Zahlreiche Beispiele aus der Forschung an
Tier- und Menschenaffen sowie Einzelbeobachtungen verschiedener Tierarten zeigen, wie weit verbreitet und gleichsam normal Verhaltensweisen sind, die wir gerne als Errungenschaft jüngerer Menschheitsgeschichte und als eine unserer Art vorbehaltene Kulturleistung betrachten.
De Waal macht deutlich, dass die Wurzeln der Empathie weit in die
Säugetierevolution zurückreichen und als Voraussetzung für die Entstehung komplexer sozialer Gefüge gelten können. Bindungen, so de Waal,
sind unentbehrlich für unsere Art und unser wichtigster Glücksfaktor.
Dementsprechend verfehlt die Annahme einer egoistischen Grundmotivation für altruistisches Verhalten den Kern der Sache. Wir helfen auch, um
zu helfen.
Dies tun auch Menschenaffen. Ein Beispiel dafür ereignete sich im
Arnheimer Zoo auf der Schimpanseninsel, die von einem wassergefüllten
Graben umgeben ist. In diesem leben unter anderem Enten, von denen
einige Küken eines Tages in die Hände zweier jugendlicher Schimpansen
gelangten, die im Streit darüber, wem das gefiederte Spielzeug nun zustehe, mit den kleinen Enten deutlich zu grob umgingen. Ein herbeigeeilLiteraturbericht
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ter erwachsener Affe griff mit drohender Geste in die Szenerie ein, verjagte die beiden Jungaffen und beförderte das Küken, welches sich noch
auf dem Trockenen befand, in den Wassergraben zurück. Wir können
wohl annehmen, dass er nicht auf spätere Hilfe durch die Enten spekulierte. Neben solchen Einzelfällen gezielten Helfens über Artgrenzen hinweg
findet man Helfen, Tröstung und gegenseitigen Beistand vor allem innerhalb einer Art und hier insbesondere unter verwandten bzw. einander
zugetanen Individuen. Auch bei Elefanten kann immer wieder empathisches Verhalten beobachtet werden – im Falle von Eleanor und Grace der
verzweifelte Versuch, einer sterbenden Freundin zu Hilfe zu eilen. Grace,
Matriarchin einer Elefantengruppe, geriet angesichts der sterbenden
Eleanor, Matriarchin einer anderen Gruppe, in heftige Erregung und versuchte wiederholt, sie mit den Stoßzähnen wieder auf die Beine zu bekommen und zum Gehen zu bewegen.
Frans de Waal zeigt uns: Empathisches Verhalten ist keine Ausnahme
– insbesondere bei unseren nahen Verwandten, den Menschenaffen. Dass
es unter diesen auch gewaltsame Konflikte gibt, wird dabei nicht in Frage
gestellt. Das eine wie das andere – egoistische wie soziale Motivation –
sind das Ergebnis unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung, wobei
die „egoistisch-selbstlos-Dichotomie“ womöglich eine Sackgasse ist und
man wohl vielmehr von einem fließenden Übergang ausgehen müsste. De
Waal beschreibt die Gegensätze menschlicher Selbstverortung – einerseits der Natur enthoben, andererseits reduziert auf eine sozialdarwinistische Karikatur – erfrischend undogmatisch und pointiert und fordert dazu
auf, dass wir uns unserem empathischen Erbe wieder bewusst zuwenden
– zum Vorteil unserer menschlichen Gesellschaften und also zu unserem
eigenen Wohle. Es ist nur konsequentes evolutionstheoretisches Denken,
wenn nicht nur Individualismus, Eigentum, Wettbewerb und Kampf,
sondern auch Kollektivinteressen, Gemeinschaftssinn, Kooperation und
Hilfsbereitschaft als Ergebnisse unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung verstanden werden. Ergo macht auch die Empathie, mit
Theodosius Dobzhansky gesprochen, nur Sinn, wenn wir sie im Lichte
der Evolution betrachten. Frans de Waal legt mit diesem Buch ein spannendes und profundes Werk über die Ursprünge und die Allgegenwart
der Empathie vor.
Anna Katarina Engel
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3. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung
3.1 Gieri Bolliger, Michelle Richner und Andreas
Rüttimann: Schweizer Tierschutzstrafrecht in
Theorie und Praxis
340 S., Zürich: Schulthess Juristische Medien,
2011, 64,00 €
Ein Gesetz ist nur so gut wie sein Vollzug. Diese
juristische Binsenwahrheit erlangt beim Tierschutzrecht besondere und leider besonders traurige Bedeutung. Denn die Mängel beim Vollzug der Tierschutzgesetzgebung sind notorisch. Dieses wohl in
kaum einem anderen Rechtsgebiet so ausgeprägte Phänomen mangelhafter Umsetzung betrifft die nationale Gesetzgebung ebenso wie internationale Vereinbarungen und Abkommen zum besseren Schutz von Tieren
und ihrem Wohlbefinden und lässt zuweilen bereits im Vorfeld an der
Wirksamkeit entsprechender Gesetzgebungsvorhaben zweifeln. Die Ursachen, die dem mangelhaften Vollzug zugrunde liegen, sind eigentlich
seit längerer Zeit benannt: Sie betreffen zum einen die mangelnde oder
nur sehr schwach ausgeprägte Klagemöglichkeit von TierschutzInteressenvertretern, mithin die gegenüber dem Täter benachteiligte Stellung des Tieres im Strafverfahren, und zum anderen strukturelle Defizite
bei den mit dem Vollzug betrauten Behörden. Nicht zu unterschätzen und
gerade auch für den strafrechtlichen Tierschutz von besonderer Relevanz
ist allerdings die bislang im gesamten deutschen Sprachraum noch fast
völlig fehlende Ausbildung von im Vollzug tätigen Juristinnen und Juristen. Umso notwendiger sind fundierte und leicht zugängliche Darstellungen dieses anspruchsvollen Rechtsgebiets, die dem praktisch tätigen und
mit Tierschutzstraffällen konfrontierten Juristen ermöglichen, sich in
relativ kurzer Zeit in diese ihm häufig noch unbekannte Materie einzuarbeiten und so eine einheitliche und effektive Anwendung der Tierschutzgesetzgebung zu gewährleisten.
Gerade an diesem Punkt setzt das vorliegende Buch von Gieri
Bolliger, Michelle Richner und Andreas Rüttimann an. Die Autoren legen
auf gut 300 Seiten eine konzise und prägnante Übersicht über das
schweizerische Tierschutzstrafrecht vor, die sich insbesondere an die
Strafverfolgungs- und Verwaltungsstrafbehörden sowie Gerichte wendet.
Dabei handelt es sich um die erste umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung des im Jahr 2008 total revidierten schweizerischen TierschutzLiteraturbericht
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strafrechts. Die alle seit vielen Jahren in diesem Rechtgebiet tätigen und
bestens ausgewiesenen Autoren legen die Grundzüge dieser Rechtsmaterie in verständlicher und übersichtlicher Form dar und geben so den
rechtsanwendenden Behörden ein effizientes Hilfsmittel an die Hand zur
einheitlicheren und konsequenteren Umsetzung der Tierschutzgesetzgebung.
Die Zweckbestimmung des Tierschutzgesetzes (insbesondere der
Schutz der Würde und des Wohlergehens von Tieren), der Anwendungsbereich des Gesetzes, der sich im schweizerischen Recht im Wesentlichen auf Wirbeltiere beschränkt, sowie die in diesem Rechtsgebiet grundlegenden Rechtsbegriffe wie Schmerzen, Leiden, Ängste, Schäden, Würdeverletzungen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip werden umfassend
diskutiert und nicht nur in die schweizerische Rechtsordnung, sondern
auch rechtsvergleichend in die Tierschutzgesetzgebung von ausgewählten
europäischen Staaten (insbesondere von Deutschland und Österreich)
eingebettet. Daran schließt sich die wissenschaftliche Kommentierung
der einzelnen Straftatbestände des schweizerischen Tierschutzgesetzes
an, die in ihrem Schutzgehalt ausführlich diskutiert und voneinander abgegrenzt werden.
Besondere Praxisnähe gewinnt die Arbeit durch die umfassende Aufarbeitung und Diskussion der zwar insbesondere auf der Stufe der ersten
Instanz reichlich vorhandenen, mitunter aber relativ schwer zugänglichen
Kasuistik. Hier können die Autoren aus dem Vollen schöpfen, zeichnen
sie doch mitverantwortlich für die von der Stiftung für das Tier im Recht
seit dem Jahr 1982 nachgeführte Datenbank über die in der Schweiz
durchgeführten Tierschutzstrafverfahren. Darüber hinaus setzt sich die
Kommentierung auch vertieft mit der juristischen Literatur zur Tierschutzgesetzgebung auseinander und enthält somit zahlreiche Hinweise
und Hilfestellungen zur Abklärung weiterführender Problemstellungen.
Zusätzlich zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Straftatbestände
des Tierschutzgesetzes enthält das Buch empirische Daten über die Anzahl der Tierschutzstrafverfahren in der Schweiz, aufgeschlüsselt nach
den 26 Kantonen. Dabei tritt die unterschiedliche Konsequenz der einzelnen Kantone in der Verfolgung von Delikten gegen das Tierschutzgesetz
deutlich zutage. Die sorgfältige Analyse der aufgezeigten empirischen
Grundlagen benennt die Gründe für die im Vollzug zu Tage tretenden
Mängel, die – obwohl dies ein erklärtes Ziel der Totalrevision des Tierschutzgesetzes im Jahr 2008 war – noch keineswegs behoben sind. Hier
offenbaren sich auch besonders deutlich die strukturellen Defizite: Während die Deliktzahlen im Heimtierbereich seit einigen Jahren zunehmen,
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
was auf einen konsequenteren Vollzug der Tierschutzgesetzgebung
schließen lässt, stagnieren sie im Tierversuchs- und im Nutztierbereich
auf einem relativ niedrigen Niveau, was zum einen mit der mangelnden
Sichtbarkeit entsprechender Missstände zusammenhängen dürfte, zum
anderen mit der teilweise fehlenden personellen Trennung zwischen eingriffsdurchführenden und die Umsetzung der Tierschutzgesetzgebung
kontrollierenden Personen. Hier besteht noch erheblicher Handlungsbedarf, um einen effektiven Vollzug des Tierschutzgesetzes zu gewährleisten.
Die Autoren beschließen ihre Darstellung des schweizerischen Tierschutzstrafrechts mit einem auf der sorgfältigen Analyse der aufgezeigten
Vollzugsmängel basierenden Forderungskatalog. Hervorzuheben ist hier
neben der Forderung nach griffigen kantonalen Strukturen und einer konsequenten Anhandnahme und Strafuntersuchung bei einem entsprechenden Deliktsverdacht besonders die Forderung, bei der Bemessung der
Strafhöhe der objektiven Tatschwere und dem verursachten Tierleid auch
gebührend Rechnung zu tragen. Dies geschieht nach wie vor nur ungenügend, ist aber eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Tierschutzgesetzgebung einer ihrer Zielsetzungen, der Prävention von Delikten
gegen das Tierschutzgesetz mittels Abschreckung (sogenannte generalpräventive Wirkung), auch gerecht werden kann. Zur Umsetzung der
Forderung nach einer verbesserten Ausbildung und Fachkompetenz der
zuständigen Personen und Behörden leisten die Autoren gleich selbst
einen sehr wertvollen Beitrag: Ihr Buch nimmt sich der großen Lücke im
juristischen Schrifttum zur neuen schweizerischen Tierschutzgesetzgebung an und ist ein unverzichtbares Hilfsmittel für Gerichte, Strafverfolgungs- und Verwaltungsstrafbehörden bei der einheitlichen und konsequenten Umsetzung des Tierschutzstrafrechts. Dementsprechend ist
ihm möglichst große Verbreitung bei den entsprechenden Stellen zu wünschen.
Margot Michel
Literaturbericht
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3.2 Gieri Bolliger, Antoine F. Goetschel und
Manfred Rehbinder (Hrsg.): Schriften zur
Rechtspsychologie, Band 11: Psychologische
Aspekte zum Tier im Recht
176 S., Bern: Stämpfli Verlag AG, 2011, 50,00 €
Ist in Tierquälerei ein Prädiktor für Gewalt gegen
Menschen zu sehen? Dieser Frage gehen der Professor für Kriminologie und Strafrecht Martin
Killias und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin
Sonia Lucia am Institut für Entwicklungspsychologie an der Universität Genf nach. Sie stellen die Ergebnisse aus einer
schweizerischen Befragung zu selbstberichteter Jugenddelinquenz vor.
Der Studie nach korreliere Tierquälerei nicht nur mit Gewaltdelikten,
sondern mit Delinquenz im Allgemeinen, wobei sich ein starker Zusammenhang mit schweren Delikten wie Körperverletzung und Raub abzeichne. Das Buch dokumentiert die Tagung der Stiftung Tier im Recht
(TIR), die am 24. Oktober 2009 in der Universität Zürich stattgefunden
hat und die zusammen mit Manfred Rehbinder, Honorarprofessor an der
Universität Freiburg (Br.) und wissenschaftlicher Leiter des Europäischen
Instituts für Rechtspsychologie in Zürich, veranstaltet wurde. Der Band
über die psychologischen Aspekte zum Tier im Recht umfasst acht Aufsätze. Der Jurist Dr. Peter Krepper, Co-Präsident der Stiftung Animalfree
Research, zeigt die emotionalen Aspekte der Tierwürde im schweizerischen Recht am Beispiel von Tierversuchen auf.
Die Tierwürde gilt in der Schweiz als Verfassungsgrundsatz, wodurch
dieses Gebot im Spannungsverhältnis mit anderen Rechtsgütern wie der
Forschungsfreiheit stehe. Jedoch ist die Tierwürde im Gegensatz zur
Menschenwürde nicht unantastbar; sie ist kein absolut geschütztes
Rechtsgut. Im Falle von Tierversuchen lässt der Schweizer Gesetzgeber
eine Missachtung der Tierwürde unter bestimmten Voraussetzungen zu.
Folgen sind Rechtsunsicherheiten in Tierschutz und Forschung, was z.B.
an den beiden Zürcher Primaten-Urteilen von 2008 deutlich wurde.
Krepper bezeichnet die Affen-Urteile als „Zufalls-Mehr in der Tierversuchskommission […] wie es kaum je zustande kommt“ (29). Trotz Verfassungsstatus scheint das Recht die Tierwürde in der Praxis nicht ausreichend zu schützen. Peter Krepper fordert deshalb u.a. ein öffentliches
Studienregister, das alle bewilligten und durchgeführten Tierversuche
und deren Ergebnisse erfasst. Darüber hinaus solle über die Einführung
des Verbandsbeschwerderechts gegen Tierversuchsbewilligungen nach| 96 | TIERethik, 4. Jg. 4(2012)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
gedacht werden. Außerdem solle das Entwickeln, Validieren und Umsetzen der 3R-Methoden mit staatlichen Mitteln und durch Abgaben der
tierexperimentell forschenden Privatwirtschaft im entsprechenden Umfang finanziert werden. Der Goldstandard Tierversuch sei passé bzw.
müsse passé sein. „Wenn es nicht gelingt, den emotionalen Wert des Tieres […] ins Zentrum […] der Debatte um die Tierwürde zu rücken, verliert das Tier einen fundamentalen Aspekt ebendieser seiner Würde, den
lebendigen Bezug vom Menschen zum Tier als seinesgleichen.“ (44)
Jörg Luy, Fachtierarzt für Tierschutz, der seit 2004 Tierschutz und
Ethik am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin
lehrt, geht in seinem Aufsatz auf das Problem gesetzlicher Regelungen
des Lebensschutzes von Tieren ein. Die Gesetzgeber der EU sind sich seit
vielen Jahren darüber einig, dass, wenn leidensfähige Tiere getötet werden, dies so angst- und schmerzlos wie möglich erfolgen solle. Umstritten
sei jedoch die Frage, ob der Mensch überhaupt Tiere töten darf. Die ethische Unsicherheit bezüglich der sogenannten „Tötungsfrage“ spiegle sich
im Tierschutzrecht wieder. In den meisten EU-Mitgliedsstaaten existiere
kein gesetzlicher Lebensschutz für Tiere. In der Schweiz werde Töten
von Tieren „aus Mutwillen“ bestraft. Seit 2004 in Österreich und bereits
seit 1972 in Deutschland benötige man zur Tiertötung einen „vernünftigen Grund“. Luy weist auf die Inkonsequenz hin, dass z.B. die Tötung
von Eintagsküken und von sog. Überschusstieren aus Versuchstierzuchten ohne vernünftigen Grund – da rein wirtschaftliche Gründe nicht als
Rechtfertigung dienen können – toleriert wird, obwohl sie eine Straftat
ist. Luy schließt, dass die epikureische Position, im Tod keinen Schaden
zu sehen, welche seiner eigenen Auffassung entspricht, nicht die des
deutschen Gesetzgebers sei, womit er verpflichtet wäre, effektive Schritte
für einen verhältnismäßigen Lebensschutz von Tieren einzuleiten. Hier
gibt es auch meines Erachtens dringenden Handlungsbedarf!
Dr. iur. Gieri Bolliger, Geschäftsführer von TIR, gibt einen Überblick
über die meines Erachtens zumindest in Deutschland stark vernachlässigte Problematik der Zoophilie.2 Bis heute fehlen verlässliche Untersuchungen über die Häufigkeit zoophiler Kontakte in der Bevölkerung und
deren Ursachen. Zoophilie sei ein gesellschaftliches Tabuthema; im Internet werde es jedoch enttabuisiert. Es werde angenommen, dass es sich
bei Zoophilie um ein Randphänomen handle, das nur wenige instabile
und sozial isolierte Menschen betreffe. Bolliger fand bei einer Internet2
Unter Zoophilie ist eine starke erotische Hinwendung zu Tieren zu verstehen, so dass
diese zu intimen Akten mit ihnen führt.
Literaturbericht
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studie 2010 umfangreiches Material, was auf eine Vielzahl von Nutzern
hinweist. Ein typisches Profil eines Zoophilen gebe es nicht. Es werden
aber die beiden Extremformen „Zoosadismus“ und „körperliche Tierliebe“ unterschieden. Zoosadistische Menschen wenden Gewalt an, die
nicht selten zum Tod des Tieres führt. Viele Täter fühlen sich sexuell
erregt, wenn sie durch Misshandlungen ein Kontrollgefühl über das Tier
erhalten. Der sexuelle Missbrauch von Tieren bedeute häufig eine Ersatzhandlung für die Vergewaltigung von Frauen, wobei die Gewaltanwendung wichtiger zu sein scheint als die sexuelle Befriedigung. Gerade weil
sexuelle Handlungen mit Tieren Vorstufen für schwere Gewalt- und Sexualdelikte sein können, sei eine konsequente Verfolgung zoophiler Taten auch für die Prävention von Verbrechen gegen Menschen unabdingbar. Die Stiftung für das Tier im Recht erwirkte durch entsprechende Gutachten, dass sexuell motivierte Handlungen an Tieren in der Schweiz seit
2008 eine Straftat sind.
In Deutschland kann Zoophilie derzeit nur im Falle beträchtlicher
körperlicher Schädigung als Tierquälerei geahndet werden. Im Rahmen
der derzeitig stattfindenden Änderungen des Tierschutzgesetzes habe ich
das BMELV3 auf die dringende Schließung dieser Gesetzeslücke hingewiesen. Frau Dr. Regula Vogel typologisiert Tiernutzer auf der auf
Grundlage ihrer Arbeit als Kantonstierärztin erwachsenen Empirie. Sie
geht auf verschiedene „Nutzungstypen“ ein: den Verantwortungsbewussten, den Gleichgültigen, den Überforderten und nicht zuletzt den Suchtkranken. Wissen schützt Tiere, weshalb das Bundesamt für Veterinärwesen eine Webseite mit dem Namen „Tiere besser halten“ eingerichtet hat.
Auch der Grundsatz „Was wir lieben, das schützen wir“ sei von essentieller Bedeutung, um der Distanziertheit entgegenwirken zu können. Tierschutzarbeit gehe alle etwas an – die Behörden, Tierschutzorganisationen
und die Bevölkerung. Klaus Peter Rippe, Präsident der Eidgenössischen
Ethikkommission für Biotechnologie im außerhumanen Bereich und der
kantonalen Tierversuchskommission Zürich, versucht die homogene
Gruppe der Tierschützer zu typologisieren, wobei er die verschiedenen
möglichen Positionen herausarbeitet. Rippe schließt, dass die Fähigkeit,
sowohl die gängige Praxis als auch gängige Denkweisen in Frage zu stellen, eine besondere Fähigkeit der Tierschützer sei. „Auch ohne Tierbefreiungen zu bejahen, müssen sie so schon als Provokation für jene wirken, welche an der gängigen Praxis und geläufigen Denkgewohnheiten
hängen. Für diese müssen Tierschützer in all ihren Erscheinungsweisen
3
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
als gefährlich gelten.“ (152) Eine wahre Feststellung – laut Interpol
kommen die Hauptgefahren für Terroranschläge in Europa neben Linksextremisten und islamistischen Terroristen angeblich von sog. „extremistischen“ Tierschützern. Wie der Tierschutzprozess in Österreich im letzten Jahr zeigte, ist „extremistisch“ ein dehnbarer Begriff …
Der Rechtsanwalt Dr. Antoine F. Goetschel gibt einen rechtsvergleichenden Überblick über Staaten mit Tieranwälten und der Parteistellung
von Tieren. Verstöße gegen das Tierschutzrecht würden meistens von den
Tierhaltern selbst begangen. So könnten sich die Täter gegen den Vorwurf von Verstößen bestens wehren, wohingegen Tiere ziemlich schutzlos seien. Den Behörden, die für die Tiere einstehen sollen, falle es oftmals schwer; u.a. Studien der Stiftung für das Tier im Recht zeigen, dass
es in der Schweiz einen immensen Nachholbedarf beim Vollzug des
strafrechtlichen Tierschutzes gibt. In anderen Staaten zeige sich ein ähnliches Bild. Die Täter kämen stets besser weg als ihre tierlichen Opfer. Im
Kanton Zürich gibt es laut kantonalem TierSchG einen Rechtsanwalt für
Tierschutz in Strafsachen. Dieses Amt hatte Goetschel von 2007 bis zu
dessen Aufhebung im Jahr 2010 inne. Im Zürcher Verwaltungsrecht gebe
es darüber hinaus eine indirekte Verbandsbeschwerde bei Tierversuchen.
So ist es der kantonalen Tierversuchskommission möglich, den Bewilligungsbescheid der zuständigen Behörde anzufechten, wenn bereits drei
der Kommissionsmitglieder der Meinung sind, dass dieser nicht rechtens
sei. So lehnte die Kommission 2006 und 2009 erfolgreich Primatenversuche ab.
In Österreich gibt es in jedem Bundesland sog. „Tierombudsleute“
und in Liechtenstein veterinärmedizinisch ausgebildete Tierschutzbeauftragte. In Deutschland wird seit 2007 in einigen Bundesländern versucht,
das sog. Verbandsklagerecht im Verwaltungsrecht einzuführen, welches
anerkannten Tierschutzorganisationen erlaubt, mittels einer Feststellungsklage vor den Gerichten des Bundeslandes zu klagen. Derzeit existiert das nur in Bremen, jedoch bestehen auch in anderen Bundesländern
starke Bestrebungen (Nordrhein-Westfalen, Saarland, Thüringen; vgl.
http://www.gfbf.de/index.php?id=6). Die Tierschutzrechte der von
Goetschel untersuchten Staaten beruhen alle auf dem ethischen Gedanken, Tiere um ihrer selbst willen zu schützen. Ein Staat mit Ansätzen von
Tierrechten sei z.B. Neuseeland, wo der Einsatz von Menschenaffen in
Tierversuchen grundsätzlich verboten ist. Nach Ausführungen über Tierrechte in verschiedenen anderen Staaten und Tiere als Erben schließt
Goetschel mit einem rechtspsychologischen Ausblick: Die Mensch-TierBeziehung sei im Fluss, und es bleibe zu hoffen, dass vielen Regierungen
Literaturbericht
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ihre große Verantwortung für die Tiere noch stärker klar werde und sie
entsprechend zum Wohle der Tiere tätig werden. Prof. Dr. Manfred Rehbinder fasst zusammen: Zum einen gehe es um die mangelhafte Durchsetzung des geltenden Rechts, und zum anderen gehe es um die Verbesserung des geltenden Rechts sowie um eine bessere Überwachung. Es fehle
im Tierschutz „am Rechtsgefühl für die Legitimation und die Angemessenheit tierschützerischer Verbote oder Gebote, die höherrangig sind als
ökonomische Erwägungen.“ (167) Wir sähen hilflos der Kuscheljustiz im
Tierschutz zu. Der eingeräumte Strafrahmen werde nicht ausgenutzt, und
dadurch werde von der Justiz der Willen des Gesetzgebers sabotiert, „indem sie nicht Tierschutz, sondern Täterschutz betreibt (denn schließlich
sind ja ,nur‘ Tiere betroffen).“ (168) Es sei also Arbeit am Paradigmenwechsel im Tierschutzrecht notwendig, wobei es um den Wechsel des
Schutzmotivs gehe, „um die Umkehr im Tierschutz vom Schutz in erster
Linie menschlicher Interessen und um die konsequente Ersetzung durch
den Schutz des Tieres um seiner selbst Willen.“ (169) Der anthropozentrische Tierschutz habe ausgedient.
Die Einbeziehung des Tieres als Subjekt in die Rechtsordnung sei
zwar schwierig, aber machbar. „Tiere haben den Anspruch auf Einbeziehung in die Rechtsordnung als eigenständige Träger von Rechtssubjektivität, wenn auch nur im Umfang einer partiellen Personalität; denn wir
müssen ihnen – wie bei den Behinderten – jemanden zur Seite stellen, der
ihre Rechte auch wahrnehmen kann und muss. Behördliche Aufsicht
allein reicht da nicht aus.“ (172) Rehbinder schließt mit dem Aufruf an
Juristen und Psychologen: „Packen wir es an!“ (172) Dass die Überwachung durch die Behörde nicht ausreicht, um Tiere zu schützen, kann ich
als Behördenvertreterin nur bestätigen. Nun bleibt zu hoffen, dass dem
Aufruf Rehbinders gefolgt und der dringend notwendige Paradigmenwechsel im Tierschutzrecht vorangetrieben wird!
Kathrin Herrmann
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Literatur
Bailey, Elisabeth Tova (2012). Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. München:
Nagel & Kimche, 169 S., ISBN-13: 978-3312004980, € 16,90
Bolliger, Gieri, Goetschel, Antoine F. und Rehbinder, Manfred (Hrsg.) (2011). Schriften
zur Rechtspsychologie, Band 11: Psychologische Aspekte zum Tier im Recht. Bern:
Stämpfli Verlag AG, 176 S., ISBN-13: 978-3727287749, € 50,00
Bolliger, Gieri, Richner, Michelle und Rüttimann, Andreas (2011). Schweizer Tierschutzstrafrecht in Theorie und Praxis. Zürich: Schulthess Juristische Medien, 340 S.,
ISBN-13: 978-3725564408, € 64,00
Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.) (2011). Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld:
transcript Verlag, 424 S., ISBN-13: 978-3837618242, € 24,80
De Waal, Frans (2011). Das Prinzip Empathie – Was wir von der Natur für eine bessere
Gesellschaft lernen können. München: Carl Hanser Verlag, 352 S., ISBN-13: 9783446236578, € 24,90
Knight, Andrew (2011). The Costs and Benefits of Animal Experiments. Hampshire: The
Palgrave Macmillan Animal Ethics Series, 254 S., ISBN-13: 978-0230243927,
€ 70,99
Radisch, Iris und Rathgeb, Eberhard (Hrsg.) (2011). Wir haben es satt! Warum Tiere
keine Lebensmittel sind. St. Pölten/Salzburg: Residenz Verlag, 259 S., ISBN-13: 9783701715763, € 19,90
Reichholf, Josef H. (2011). Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 151 S., ISBN-13: 978-3803125323, € 10,90
Wuketits, Franz M. (2011). Schwein und Mensch: Die Geschichte einer Beziehung. Hohenwarsleben: Westarp Wissenschaften, 170 S., ISBN-13: 978-3894324469, € 19,95
Korrespondenzadresse
Dr. phil. Petra Mayr
Deisterstraße 25 B
31848 Bad Münder am Deister
E-Mail: [email protected]
Literaturbericht
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