Geschminkte Provokationen

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Geschminkte Provokationen
kultur.rock.
Geschminkte Provokationen
Nach den Mangas exportiert Japan nun die extravagante Rockmusik Visual-Kei
PETER DISCH, Berlin
Aus Japan kommt ein neuer PopTrend nach Europa: Visual-Kei –
harte, von Glamrock, Mangas und
dem Kabuki-Theater inspirierte
Musik femininer Männer für ein
weibliches Publikum zwischen zwölf
und 22 Jahren.
Wenn Teenager zu sehr lieben, werden ihre Eltern auf eine harte Probe
gestellt. Gemessen an ihren Mienen ist
die Schmerzgrenze der meisten Erziehungsberechtigten in der Berliner
Columbiahalle überschritten. Dabei
haben sie durchaus Verständnis. Man
war doch selbst mal jung, ist mit Pop
gross geworden. Aber das hier?
Eine Mutter, randlose Brille, strenger Pferdeschwanz, die Lippen ein
schmaler Strich, starrt vor sich hin. Zwei
Schritte weiter verschränkt ein Vater in
stummem Protest die Arme. Ratlos
beobachtet er die wogende Masse aus
jungen und jüngsten Fans der japanischen Metal-Band Dir en grey. Die
schmächtigen Jungs aus Tokio sind das
Aushängeschild eines neuen Genres,
das das Internet aus Asien in Europas
Kinderzimmer brachte. Die Gitarren
kreischen. Die Mädchen toben. Die
Eltern schütteln den Kopf – willkommen
in der wundersamen Welt von VisualKei und J-Rock, dem nächsten grossen
Ding der unaufhörlich arbeitenden
Trendmaschine namens Popmusik.
Geschlechtslose Idole. Mit ihrer harten Rockmusik wollen MUCC auch in Europa Konzerthallen füllen.
HETEROGEN. Natürlich erfinden VisualKei und J-Rock die Musik nicht neu.
Geborgt wird bei allem, was hart ist –
Heavy und Nu Metal, Industrial, Hardcore und Punk. Dazu kommen Gothic
Rock oder eine ordentliche Portion Pop.
Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die
alles extrem reglementiert, nehmen sich
Japans Musiker, was ihnen gefällt.
Das erklärt das unglaublich heterogene Repertoire vieler dieser Bands –
und deren Sinn für extravagantes Styling, der sich bis zu den Anfängen
zurückverfolgen lässt. In seiner japanischen Heimat hob Visual-Kei – zu
Deutsch «visueller Stil» – vor über 20
Jahren das sorgsam gepuderte Haupt.
Beeindruckt vom Glamrock und Hairspray-Metal, inspiriert von geschminkten Vorbildern wie David Bowie, Alice
Cooper, den Maskeradenrockern Kiss
und Mötley Crüe, entwickelt sich in
Japan eine eigene Szene.
Gründerväter wie X Japan reicherten ihre westlichen Einflüsse mit Versatzstücken der eigenen Kultur an.
Denn was die Optik anging, bediente
sich Visual-Kei nicht nur bei MangaComics und Anime-Zeichentrickfilme,
baz | 31. Mai 2006 | Seite 5
Die Aushängeschilder des Japan-Rock
OHNMÄCHTIGE. Dir en grey aus
sondern auch beim traditionellen
Kabuki-Theater, in dem geschminkte
und kostümierte Männer in Frauenrollen schlüpfen. «Aus dieser Zeit stammt
das bis heute gültige Schönheitsideal für
den Mann – so schön sein wie eine
Frau», erklärt Jan Ruppert.
Der 25 Jahre alte Student der Physik
und Japanologie ist bei der DeutschJapanischen Gesellschaft Potsdam der
Experte für Visual-Kei. Er sagt: «Die
Visual-Kei-Bands haben das bis zum
Exzess betrieben.» Auf dem Höhepunkt
der Entwicklung in den neunziger Jahren gaben sich die Musiker androgyn.
Ältere Fotos zeigen die Musiker von Dir
en grey mit Schleifchen im quietschbunten Haar, grell geschminkten, geschlechtslosen Gesichtern und Roben,
die sich bei Cyperpunk, Endzeit-Kinofilmen à la «Mad Max» und der höfischen Mode des Rokoko bedienten. In
einem Land, in dem die Gemeinschaft
alles und der Einzelne nichts bedeutet,
war offen zu Tage getragener Individualismus pure Provokation.
KOMMERZIELL. «Wir wollten anders
sein. Optisch und musikalisch. VisualKei war eine Möglichkeit, uns auszudrücken», sagt Dir-en-grey-Sänger Kyo
rückblickend beim Interview. «Heute ist
Visual-Kei etwas für kleine Mädchen.
Wir haben keine Beziehung mehr dazu.»
Dann schaut der kleine Mann, der sich
vor dem Berliner Konzert angeblich
zwei Tage in sein Hotelzimmer zurückzog, um zu meditieren, auf seine spitzen
Teddyboy-Schuhe mit den dicken
Kreppsohlen. Längst tragen Dir en grey
auf der Bühne Jeans und T-Shirts.
Visual-Kei ist aus ihrem aktiven
Sprachschatz gestrichen. Sie nennen
ihre Musik jetzt lieber J-Rock. 20 Jahre
nach den Anfängen hat sich die japanische Bandszene differenziert. «VisualKei mit Kostümen und Schminke findet
heute hauptsächlich im Indiebereich
statt», sagt Jan Ruppert. Die Stars toben
sich dafür musikalisch aus. Dir en grey
springen wild zwischen den Stilen hin
und her. MUCC bedienen sich bei
Grunge und New Metal. Hyde macht
fast eingängigen Crossover.
SCHILLERND. Nur einer der grossen
Namen blieb dem Pomp treu: Mana,
Gründungsmitglied der wegweisenden
Malice Mizer, ist heute Gitarrist und
schillernder Kopf von Moi dix Mois,
schätzt operettenhafte Chöre genauso
wie einen prügelnden Punkbeat, stylt
seine Musiker zu femininen Todesengeln und hat ein eigenes Modelabel.
Überraschender als der Erfolg dieses
eklezistischen Genres, das in Japan Millionen Platten verkauft, ist nur noch die
Gefolgschaft, die Visual-Kei und J-Rock
in Europa gefunden hat. Von Pokémon
über Manga und Anime zu Visual-Kei –
das war bei den meisten nur eine Frage
der Zeit. Die Szene ist jung (kaum älter
als 20 Jahre), extrem loyal (zu Konzerten in Paris oder Berlin reisen Fans aus
Schweden, Finnland, Italien oder Spanien an) und trotz der harten Musik zu
90 Prozent weiblich.
ANDROGYN. Das hat einen einfachen
Grund, sagt Bernhard Heinzlmaier von
der Hamburger Trendforschungsfirma
«tfactory»: «Diese Form von Androgynität ist für junge Männer, die sich auf
der Suche nach ihrer psychosexuellen
Identität befinden, völlig inakzeptabel.
Das ist ein Grund, warum das eher für
Frauen interessant ist.» Ein weiterer
dürfte die Möglichkeit sein, sich nach
dem Vorbild der Stars ein cooles Outfit
zuzulegen und sich abzugrenzen.
Bei Moi dix Mois’ jüngstem Berliner
Auftritt bevölkerten Scharen von
«Gothic Lolitas» die Halle – Plateausohlen oder Spangenschuhe, Petticoats,
lange oder rüschenverzierte Mäntel
waren Trumpf. Dir en greys Publikum
mag es wie die Band dezenter: Geringeltes in allen Varianten, Band-Shirts,
kurze karierte Röcke – Punkrock reloaded, kombiniert mit morbid verschmierten Lippen und Augenringen.
LIZENZIERT. Das Interesse an ihrer
Szene haben die Fans von Visual-Kei
zwei Entwicklungen zu verdanken. Zum
einen sind die Platten der J-Rocker jetzt
leichter zu bekommen. Branchenführer
Universal hat zusammen mit zwei Spezialisten für Japan und harte Musik das
Label «Gan Shin» gegründet und bringt
die Alben jetzt in Lizenz heraus. Zum
anderen ist durch den Erfolg von Tokio
Hotel für die Teenypresse alles interessant geworden, was auch nur im Entferntesten etwas mit Asien zu tun hat.
Zum Ärger der Visual-Kei-Fans, die
Bill für einen Epigonen halten, springt
vor allem das Tokio-Hotel-Zentralorgan
«Bravo» auf den fahrenden Zug J-Rock
auf. Ob Visual-Kei in Europa auf Dauer
mehr ist als eine Mode, muss sich erst
noch zeigen. Aber selbst wenn dem so
wäre – für eine kurze Zeit hätte VisualKei etwas erreicht, was selten geworden
ist: Den Kids etwas zu geben, was ihre
Eltern nicht verstehen – und das ist
mehr, als man von den meisten PopGenres dieser Tage sagen kann.
Osaka ist derzeit die populärste und
kommerziell erfolgreichste Band des
J-Rock. 1997 gegründet, erhält die
Gruppe bereits nach zwei Jahren
einen Vertrag bei einem Majorlabel.
Mit der Hilfe des Produzenten Yoshiki, einem früheren Mitglied der
Visual-Kei-Legende X Japan, steigt
Dir en grey zur wichtigsten Band des
Visual-Kei auf. 2002 tritt das Quintett
bei einer Asientour erstmals ausserhalb Japans auf. Das im Jahr 2003
veröffentlichte Album «Vulgar» markiert den grossen Wendepunkt in der Karriere von Dir en grey.
Die Band entwächst der Visual-Kei-Szene, die Kostüme wurden
eingemottet, Make-up und Styling reduziert. Dazu kommt ein stilistischer Schwenk in Richtung Metal. 3500 Fans aus zehn Ländern, 300 Ohnmächtige und 60 Rettungskräfte – die Europapremiere von Dir en grey im Mai 2005 in Berlin macht die bis dato im
Verborgenen blühende Szene im deutschsprachigen Raum
schlagartig bekannt. Diesen Sommer tragen Dir en grey den
J-Rock im grossen Stil in die USA – die Band spielt bei 30 Konzerten im Vorprogramm der Nu Metal Veteranen Korn.
SKURRIL. D’Espairs Ray
aus Tokio besteht seit
1999. Seit der Gründung
spielt die Band in derselben Besetzung – was in
der japanischen Musikszene eher selten ist.
Durch permanente
Tourneen und Auftritte
bei wichtigen japanischen Festivals gehört das Quartett schnell zu den grössten
Stars der Visual-Kei-Szene. Der endgültige Durchbruch gelingt
2003, als die Single «Garnet» Platz eins der japanischen IndieCharts erreicht. Im Herbst 2004 kam die Band für zwei ausverkaufte Konzerte erstmals nach Europa. Skurriler Humor oder
Verbeugung vor der alten Welt? Das Motto der Shows – «Wollust
ward dem Wurm gegeben» – borgen sich die Edel-Gruftis aus
Friedrichs Schillers Ode «An die Freude», die Beethoven in seiner
9. Sinfonie vertont hat. Trotz aller Erfolge ist das im Januar
erschienene Album «[Coll:set]» die erste reguläre Langspielplatte
von D’Espairs Ray. Die Musik wurzelt im Gothic Rock, wobei
Anklänge an Bands wie Marilyn Manson nicht zu überhören sind.
MORBID. Kagerou wurde 1999
gegründet. Der Name – japanisch für
«Eintagsfliege» – ist alles andere als
Programm, denn das Quartett gehört
in Europa zu den bekanntesten und
erfolgreichsten Bands des J-Rock.
Viel eher zeugt es vom Hang der
Szene für pathetische Gesten,
grosse Gefühle und morbide Themen: Angeblich leidet Kagerous Sänger Daisuke seit Kindertagen an einer
Herzkrankheit, die ihm Tag für Tag
die eigene Sterblichkeit vor Augen
führt … Während amerikanische
Fans im Internet eine Petition gestartet haben, um die Band in
die USA zu holen, sind die Dunkelmänner in Europa bereits
mehrfach live aufgetreten. So ist die Gruppe in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal beim prestigeträchtigen deutschen Mammutfestival «Rock am Ring» dabei. Trotz eines bereits beachtlichen Katalogs mit diversen Singles und drei Alben gibt es Kagerous Platten in Europa bisher allerdings nur als teure Importe.
Wer die Ausgaben nicht scheut, den erwartet harter, aber doch
melodiöser Rock.