Titel: - Evangelische Hochschule Freiburg
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Titel: - Evangelische Hochschule Freiburg
Contribution for: Prospects – UNESCO Quarterly Review of Comparative Education Special Issue on ‘Policies and Practices of Holocaust Education: International Perspectives’ Reinhold Boschki & Wilhelm Schwendemann “I can’t hear it any more!” – Education after and about Auschwitz in Germany Prof. Dr. Reinhold Boschki University Professor of Religious Education Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann Professor of Protestant Theology, Religious Education and Education Management Bonn University Protestant University of Applied Sciences Buggingerstr. 38 79114 Freiburg Germany ##49-761-4781235 ##49-761-4781230 [email protected] Am Hof 1 53113 Bonn Germany Tel. ##49-228-73-7428 Fax. ##49-228-73-9077 [email protected] Abstract: The article gives an overview on Holocaust education in Germany in theory and practice as well as exemplary insights in special fields and problems. Overview of current research status: The watershed in Holocaust education in Germany has been Theodor W. Adorno’s famous radio speech “Education after Auschwitz” in 1966. His statement that every education today has to be an education after Auschwitz has stimulated a vast amount of research activities especially since the 1970s. In the last two decades research focuses on the fact of the vanishing of the witnesses and survivors as well as on the conditions of Holocaust education in a pluralistic society. Best practice in Holocaust education: This part focuses on successful activities of education after and about Auschwitz in different fields: classroom, outdoor projects in search of clues, educational programmes of memorial sites (e.g. former concentration or death camps). Reasons for failure of Holocaust education: In many cases Holocaust education fails. Some reasons lie in the lack of preparation of the learners or in obstacles that are caused by individual or family biographies. Many young Germans feel being fed up with information on the Holocaust and state: “I can’t hear it any more!” – In this part the findings of several empirical studies with young Germans conducted by the authors and by others are described. Perspectives for Holocaust education in Germany four generations after Auschwitz: Holocaust education must focus on two major points: remembrance of the past and conditions for a human society today. Both belongs together, learning about and from history (historical consciousness; historical identity), and learning of human rights for contemporary society and for tomorrow. 1 Key words: Holocaust education; remembrance; empirical studies; best practice; Germany; human right education Einstieg und Erkenntnisinteresse An den Beginn stellen wir einige reale Erfahrungen der Holocaust-Education in Deutschland. • Schüler im Alter von 15 und 16 Jahren suchen nach Spuren der nationalsozialistischen Verfolgung in ihrer kleinen Heimatstadt. Bis zur Deportation der letzten Juden im Jahr 1942 gab eine große, jüdische Gemeinde, eine Synagoge, reiches jüdisches Leben in der Stadt. Im Archiv der Lokalzeitung findet ein Schüler den Namen seines Großvaters im Zusammenhang mit der Organisation der Transporte. Er ist schockiert und fragt: „War mein Opa ein Nazi? Man hat mir gesagt, er war ein Nazi-Gegner.“ • Ein Lehrer will mit seiner Klasse einen besonderen Akzent zum Erinnerungslernen setzen, indem er der Lerngruppe den Film „Schindlers Liste“ vorführt. In der darauf folgenden Pause und in den Tagen danach werden Schüler auf dem Schulgelände beobachtet, die immer wieder den sogenannten ‚Hitlergruß’, den ausgestreckten rechten Arm, zeigen. Der Skandal zieht Kreise, die Presse kommt auf das Schulgelände und macht den Fall öffentlich, es kommt zum Eklat. • Eine Schulklasse unternimmt eine Exkursion nach München. Auf dem Weg hält der Bus an der Gedenkstätte Dachau. Die Schüler bekommen eine Stunde lang eine Führung und werden danach in das Museum geschickt. Sodann geht die Fahrt weiter, man besichtigt die Münchner Filmstudios, einige Sehenswürdigkeiten und gibt den Schülern die Gelegenheit einzukaufen. Auf dem Rückweg singt man Songs der Beatles und hat viel Spaß. • Bei einem Schulbesuch bekundet die Schulleitung, dass es an der Schule keine neonazistischen Vorfälle gibt; die Außenwand der Turnhalle ist voller Hakenkreuze und beim Interview geben Schüler zu, dass sie schon des Öfteren von Neonazis verprügelt worden seien. 2 • „Ich kann es nicht mehr hören!“ sagen die Schüler, als der Religionslehrer Texte von Auschwitz-Überlebenden in den Unterricht mitbringt. „Wir haben schon das ‚Tagebuch der Anne Frank’ gelesen, wir haben in Geschichte, Gemeinschaftskunde und Deutsch ‚darüber’ gesprochen. Jetzt ist es genug!“ Der Lehrer beginnt, an diesen Blockaden zu arbeiten. Er lässt die Schüler ihre Gedanken, Gefühle und ihre Abwehr ausdrücken. Ein spannender Lernprozess beginnt. Man arbeitet an den Rollen der Täter, der Opfer, der Zuschauer und an den Familienbiografien der Schüler. Am Ende sagen einige: „So haben wir noch nie über den Holocaust gesprochen!“ Diese Szenen Sie sind nicht repräsentativ, aber sie sind beliebig erweiterbar. Sie zeigen, wie vielfältig und ambivalent die Erfahrungen in der Erinnerungsarbeit an Auschwitz in Deutschland sind. Gelingen und Scheitern liegen of nahe zusammen. Das Erkenntnisinteresse der folgenden Ausführungen ist es, den Kontext, die Bedingungen, Voraussetzungen, und Konsequenzen des Erinnerungslernens in Deutschland, dem Land der Täter, mehr als drei Generationen nach Ende des Holocaust darzustellen. Dazu geben wir im ersten Teil (1) einen Überblick über die Forschung und Praxis der Holocaust Education in Deutschland. In einem zweiten Abschnitt (2) zeigen wir entlang dem best-practice-Ansatz einige gelungene Beispiele für Erinnerungslernen in unterschiedlichen Feldern, um in einem weiteren Abschnitt (3) die Gründe für das Scheitern und/oder für das Gelingen von Erziehung nach und über Auschwitz anhand empirischer Studien zu ermitteln. Dabei wird insbesondere nach den Zugängen und Blockaden der jungen Generation gefragt. Schließlich (4) wird die Holocaust Education in den Kontext der Negation von Inhumanität gestellt und der Zusammenhang von Lernen nach und über Auschwitz mit dem Lernen von Menschenrechten untersucht. Zur Terminologie: Der Begriff Holocaust Education ist im deutschsprachigen Bildungsraum ambivalent konnotiert. Gemeint ist Erziehung nach und über Auschwitz oder auch Unterricht über Auschwitz (Glück 2002). Die Problematik des Begriffs Holocaust wurde schon vielfach diskutiert (Literatur: Zimmermann 2005, 20) und ist durchaus problembeladen, da er die Opferkonnotation mit sich führt (Münz 1995, 102f). Da der Terminus im englischen und amerikanischen Sprachraum gebräuchlich geworden ist, setzt er sich auch im deutschen Sprachraum mehr und mehr durch (u.a. Wagensommer 2009), wobei er vornehmlich die Vernichtung der europäischen Juden meint, bisweilen aber auch den Mord an den Sinti, Roma, Polen, Russen, Homosexuellen, Kommunisten und Behinderten usw. umfasst (Heyl 1997, 16). Aufgrund der Fernsehserie „Holocaust“, die 3 Ende der 1970er Jahre auch im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde, wird der Terminus „Holocaust“ heute allgemein verwendet. Seit der Ausstrahlung von Claude Lanzmanns Dokumentationen wurde auch der Begriff Shoah in Deutschland bekannt (z.B. Kellenbach et al. 2001; Lohrbächer 1999). Seit der bedeutenden Rede von Theodor W. Adorno zur „Erziehung nach Auschwitz“ (siehe unten) im Jahr 1966 wird in Deutschland für das Verbrechen an den europäischen Juden mehr und mehr der Ortsname Auschwitz als Chiffre verwendet. Der Begriff steht insbesondere in der Philosophie (Zimmermann 2005, Diner 1988), der Theologie (Kogon and Metz 1979) und der Pädagogik (Schwendemann and Boschki 2009; Fechler et al. 2000) für die Totalität aller Vernichtungslager, Vernichtungsstrategien und Vernichtungsoperationen der Nationalsozialisten, die sich insbesondere gegen Juden gerichtet hatten. Da der Begriff „Holocaust Education“ aus den genannten Gründen und in sich (‚Erziehung zum Holocaust’?) problematisch ist, reden wir im Folgenden von „Erziehung nach und über Auschwitz“. Statt „Erziehung“ verwenden wir aus bildungstheoretischen [theory of education] Erwägungen auch die Begriffe „Bildung“ [formation] und „Lernen“, insbesondere „Erinnerungslernen“ [learning of remembrance], wobei der Kontext deutlich macht, um welche Erinnerung es sich handelt. 1. Overview of current research status: Education after and about Auschwitz in Germany Die Entwicklungen in der Pädagogik nach Auschwitz sind nur im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in Deutschland zu verstehen. Wir können drei große Etappen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust ausmachen (Konrad 2001; Heyl 1997): Erste Phase: In den Jahren nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus im Jahr 1945 fühlten sich viele nichtjüdische Deutsche ebenso traumatisiert wie die Opfer der Verfolgung und Vernichtung (Wagensommer 2009, 94). Deutschland war besiegt, fremde Armeen beherrschten das Land, die identitätsstiftende nationale Ideologie war zerbrochen, die messianische Figur des „Führers“ („Heil Hitler“) war tot. Es herrschte materielle Not. In dieser Situation wurden die Kriegsverbrechen und die Gräueltaten in den Konzentrationsund Vernichtungslagern bekannt. Insbesondere auf Druck der Alliierten kam es unmittelbar nach Kriegsende zu einer offenen Thematisierung des Holocaust und einer zumindest 4 ansatzweisen Verfolgung und Bestrafung der Täter. An Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen wurde Plakate mit großen Fotos von Leichenbergen aus den Konzentrationslagern aufgehängt mit der deutschsprachigen Aufschrift: „Das habt Ihr gemacht!“ Aus der Stadt Dachau beispielsweise wurden nichtjüdische Bürger in das Konzentrationslager gebracht, um die Tausenden von Leichen der kurz vor der Befreiung Ermordeten anzusehen. Jedoch, im westlichen Teil Deutschlands begann sofort nach der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 eine Zeit der öffentlichen und privaten Tabuisierung und der gewollten NichtThematisierung des Holocaust, die bis in die 1960er Jahre anhielt. In den Familien wurde über die Zeit des NS strikt geschwiegen. Die heimgekehrten Soldaten waren unwillig, mit der nächsten Generation über ihre Erlebnisse und Taten zu sprechen. Eine Mauer des Schweigens wurde errichtet. Öffentliche Debatten über den Holocaust wurden so gut wie nicht geführt. Man war damit beschäftigt, den „Wiederaufbau“ zu leisten, Beschäftigung und Wohlstand für die Bevölkerung wieder herzustellen, die zerbombten Städte neu zu beleben. In anderer Weise, aber mit den gleiche Konsequenzen, verlief die Entwicklung im von der sowjetischen Armee besetzten Osten Deutschland und in der dann gegründeten DDR (Deutsche Demokratische Republik). Zwar kam es zu einer gründlicheren „Entnazifizierung“ als in Westdeutschland. Dabei aber kamen die Fragen der Judenverfolgung und des Holocaust kaum in den Blick. In der Ideologie des „Antifaschismus“ wurden nur diejenigen Elemente des NS zur Sprache gebracht, die für die Durchsetzung der sozialistischen Weltanschauung in allen Teilen der Gesellschaft nützlich waren. Aus diesem Grunde wurde der NS in der Staatsideologie fast ausschließlich als antisozialistisch und anti-kommunistisch dargestellt. Das Konzentrationslager Buchenwald wurde als Lager stilisiert, in dem Anti-Faschisten, Kommunisten, Sozialisten und Freiheitskämpfer ermordet wurden. Von verfolgten und ermordeten Juden war kaum die Rede. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelten sich im Erziehungs- und Bildungswesen wider. Nach dem 2. Weltkrieg wurden die NS-Schulbücher, die nationalsozialistische Darstellung von Geschichte beinhalteten, von den Besatzungsmächten eingezogen. Bereits ab 1947 erschienen neue Lehrpläne, die schon die Zeit des NS und den Terror in den Konzentrationslagern thematisierten. Doch der in der 1950er Jahren beginnende Wirtschaftsaufschwung, die nationale Restauration, die sogenannte „Adenauer-Ära“, der Anfang des kalten Krieges und der damit verbundene strikte Antikommunismus prägten das 5 Lebensgefühl in Westdeutschland, wo die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit nur störend wirken konnte. Zudem kehrten die alten Bildungseliten nach den Entnazifierungsprojekten wieder in den Schuldienst zurück. So waren bis in die beginnenden 1960er Jahren weder in der Schule, noch in Familie oder Öffentlichkeit günstige Voraussetzungen für eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem NS und eine Konfrontation mit dem Holocaust gegeben. Zweite Phase: Dies änderte sich im Verlauf der 1960er Jahre. Bildungspolitiker und Kirchenvertreter wurden durch neue antisemitische Übergriffe in den Jahren 1959 und 1960 aufgeschreckt. Gefragt wurde nun, in welcher Weise der Völkermord an den Juden unterrichtlich thematisiert werden kann. Die Kultusministerkonferenz der Länder beschloss daraufhin in den Jahren 1960 und 1962 die Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht in den Schulen. Schließlich brachten der in Deutschland stark wahrgenommene Jerusalemer Eichmann-Prozess (1961), die Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1964/65) und insbesondere die sogenannten Studentenunruhen der 1968er Jahre und die damit verbundene gesellschaftliche und kulturelle Öffnung eine neue öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und mit dem Holocaust ins Entstehen. Der entscheidende Einschnitt für die pädagogische Behandlung des Holocaust bildete der Radiovortrag „Erziehung nach Auschwitz“ von Theodor W. Adorno im Jahr 1966 (Adorno 1997). Sein berühmter Eröffnungssatz „The very first demand on education is that there not be another Auschwitz“ wurde bis heute vielfach zur Begründung pädagogischer Initiativen zitiert. Adorno hat nicht nur isolierte Bildungsvorgänge sondern die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit im Blick: „When I speak of education after Auschwitz, I mean two areas: 1) education in childhood, especially early childhood, and 2) general enlightenment that creates a spiritual, cultural and social climate that permits no repetition of such monstrous action, thus a climate in which motives that have led to the horror become conscious to some degree.“ (Adorno 1997 [1966], 13). Der Vortrag Adornos entfaltete eine breite Wirkungsgeschichte in der Pädagogik, die bis heute anhält (Wagensommer 2009, 23ff; Meseth 2000). Adorno trug dazu bei, dass die Frage nach der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen und deren Konsequenzen für heute in bildungstheoretischen, in (schul-) didaktischen und in den gesellschaftlichen Debatten verstärkt aufgegriffen wurde. Dennoch bliebt die Konfrontation mit der Erinnerung an Auschwitz in Deutschland ambivalent. 6 Bereits in den 1970er Jahren kam es zu ersten Gedenkinitiativen teilweise von privaten Gruppen, teilweise von Städten und Gemeinden, um der deportierten Juden und anderen Volksgruppen zu gedenken. Erste Gedenktafeln wurden aufgestellt. Zum Teil jedoch gab es heftigen Widerstand gegen das öffentliche Gedenken, Initiativen wurden unterdrückt, die Stadtverwaltungen wehrten sich gegen eine Bearbeitung der Vergangenheit oder es wurden „stillschweigend“ Fakten geschaffen, um die Erinnerung auszulöschen. An manchen Orten wurden ehemalige und beschädigte Synagogen endgültig abgerissen. Die Erinnerung an die Juden war aus dem Blickfeld verbannt. Im Gefolge von Adornos Vortrag entstanden weitere theoretische und praktische Ansätze im Horizont einer „Erziehung nach Auschwitz“. Insbesondere verbesserte sich die Qualität der Schulbücher und des Geschichtsunterrichts zu diesem Thema. Eine junge Generation kritischer und politisch wacher Lehrer kam in die Schulen. Eine deutsch-israelische Schulbuchkonferenz untersuchte mehrere Jahre lang deutsche Schulbücher in den Fächern Geschichte und Geographie und erstellte bis 1985 Schulbuchempfehlungen. Darin wurde unter anderem gefordert, die jüdische Bevölkerung nicht als Objekte der Geschichte und als Opfer dazustellen, sondern als eine eigenständige, von der Mehrheitsgesellschaft verfolgte Bevölkerungsgruppe mit eigener Kultur und Identität. Denn immer noch zeigten die Schulbücher große inhaltliche Defizite: In der Rezeption der NS-Geschichte konnten Schüler zwar detailliert Fakten und Zahlen erlernen und auch ihrer Bestürzung über das Geschehene Ausdruck verleihen; die Wurzeln und Bedingungen des Antisemitismus blieben aber im Dunkeln. Ebenso wurden Fragen nach Verantwortung und Schuld noch weitgehend ausgeblendet. Rassenwahn und Massenmord wurde personalisiert an die Person Hitlers gebunden. Der Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit der jüdischen Minderheit wurde nicht thematisiert. Die Geschichte wurde fast ausschließlich aus der Perspektive der Täter wahrgenommen. Die Opferseite blieb unterrepräsentiert, obwohl der Bildungsauftrag die Opferseite in den Vordergrund rückte. Dritte Phase: Sehr vergröbernd kann von einer dritten Phase in der Auseinandersetzung mit der Schoah gesprochen werden, die seit der Mitte der 1980er Jahre zu beobachten ist und im wesentlichen bis heute anhält. Sie ist durch eine zunehmende Intensität des wissenschaftlichen, pädagogischen und öffentlichen Interesses gekennzeichnet. Die Ausstrahlung des bereits erwähnten amerikanische Mehrteilers „Holocaust“ (1979) hat immense Diskussionen in Öffentlichkeit, in Familien und Schulklassen nach sich gezogen. Gesellschaftlich breit geführte Diskussionswellen, wie der sogenannte „Historikerstreit“ ab 7 1986 um die Frage der Historisierung des Nationalsozialismus (Historikerstreit 1987; Diner 1987), die „Goldhagen-Debatte“, also der Aufschrei, der angesichts der Veröffentlichung des Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ des amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen durch Deutschland ging (Heil 1998; Goldhagen 1996), die Diskussionen um eine Ausstellung über die deutsche „Wehrmacht“, in der die Verbrechen der deutschen Armee im NS gezeigt wurden (Thiele 1997), die zwanzig Jahre währende Diskussion um das Berliner Holocaust-Mahnmal, das am 10. Mai 2005 endlich eingeweiht werden konnte (Kirsch 2003; Cullen 1999). In der Erziehungswissenschaft kam es seit den 1980er Jahren zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit Adornos Vortrag und Anliegen (Fechler et al. 2000; Boschki and Konrad 1997; Schreier and Heyl 1995; Schreier and Heyl 1992; Rathenow and Weber 1986). Dabei stehen theoretische Abhandlungen (z.B. um die Frage der Singularität von Auschwitz; Antisemitismus-Bekämpfung; Entwurf einer Pädagogik der Verantwortung und vieles mehr) neben dem Versuch, konkrete Vorschläge für die Praxis zu entwickeln (z.B. „Facing History“ als Konzept aktiven Erinnerns) oder praktische Initiativen darzustellen und pädagogisch zu bewerten (z.B. Gedenkstättenarbeit; schulische Initiativen; Erinnerungsinitiativen an ehemaligen jüdischen Synagogen, Nickolai 2007). Neben der Entwicklung von pädagogischen Konzepten wird in dieser dritten Phase in der Erziehungsund Sozialwissenschaften eine immer stärkere empirische Erforschung des Geschichtsbewusstseins, der Kenntnis über den Holocaust und der Zugänge von jungen Menschen zur Erinnerung an Auschwitz erkennbar (siehe unten; Überblick von den 1960er Jahren bis heute: Zülsdorf-Kersting 2008, 35-121). Eine weitere Wegmarke ist das Jahr 1988. In diesem Jahr wurde am 9./10. November in unzähligen Initiativen, Gedenkstätten, Veranstaltungen, Gottesdiensten, Reden, Jugendaktionen und schulischen Veranstaltungen des 50. Jahrestags der Nacht der brennenden Synagogen gedacht. Fünfzig (!) Jahre nach der Pogromnacht kam es zur ersten großflächigen Erinnerungsinitiative, die nicht „von oben“, also staatlich vorgegeben wurde, sondern zumeist von lokalen Initiativen auf eigene Verantwortung geplant und durchgeführt wurde. Daran hatten auch die christlichen Kirchen einen nicht unerheblichen Anteil. Beispielsweise wurde im Bistum Freiburg anlässlich des 50. Gedenktages der Reichspogromnacht eine Jugendinitiative gegründet, die mehr als 20 Jahre lang intensive Jugendarbeit zum Thema Erinnerung an den Holocaust unternahm und bis heute existiert. 8 Die Erziehung über und nach Auschwitz in Deutschland in heutiger Zeit hat viele Facetten. Einige davon können mit folgenden Stichworten beschrieben werden (zum Überblick siehe: Theile 2009, 39-239; Wagensommer 2009, 23-241; Zülsdorf-Kersting 2008, 9-120; Berenbaum 2007; Education on the Holocaust 2006): Gedenktage: Der offizielle Gedenktag des Holocaust in Deutschland, der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, wurde erst im Jahr 1996 von dem damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt; in Israel (Yom Hashoa) schon seit 1959! An diesem Tag finden staatliche Gedenkfeiern, z.B. im Bundestag, dem deutschen Parlament in Berlin, oder auch in Landesparlamenten statt. Regelmäßig berichten die Medien über diese staatlichen Veranstaltungen. Vielfach werden an diesen Tagen im Fernsehen oder Radio besondere Sendung ausgestrahlt, die sich mit der Holocaustthematik beschäftigen. Auch viele Schulen partizipieren an der Gedenkkultur dieses Tages, was jedoch auf die Initiative einzelner Lehrkräfte oder Rektoren zurückgeht und nicht staatlich verpflichtend ist. Teilweise gibt es besondere Unterrichtsthemen, eine zentrale Gedenkveranstaltung aller oder eines Teil der Schüler, eine Schweigeminute, ein Theaterprojekt, eine Ausstellung, die von Schülern vorbereitet wurde, ein Film oder eine Diskussionsrunde. Manche Schulen nehmen die Gelegenheit wahr, einen der letzten Zeitzeugen einzuladen. Der 9. oder 10. November ist ebenso ein Gedenktag, der von vielen Initiativen genutzt wird, um insbesondere an den ehemaligen oder wiedererrichteten Synagogen eine Gedenkfeier abzuhalten. Oft sind – neben den jüdischen Gemeinden – die christlichen Kirchen Träger oder Mitveranstalter (z.B. die ökumenische Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen). Teilweise partizipieren die städtischen Behörden daran, Gewerkschaftsverbände, Parteien oder antirassistische Gruppen. Der Yom Hashoah, der israelische Holocaustgedenktag, findet in Deutschland keinen Widerhall. Gedenkstätten. Seit der Befreiung vom NS wurden die Orte nationalsozialistischen Unrechts (Konzentrationslager, Gefängnisse, Gestapokeller, SS-Hauptquartiere etc.) mit staatlichen Mitteln als Gedenkstätte oder Museum hergerichtet. Die ehemaligen großen Lager (Dachau, Buchenwald, Bergen-Belsen etc.) haben heutzutage alle eine intensive pädagogische Abteilung, die sich insbesondere um Besuchergruppen (Schulklassen etc.) kümmern, Führungen organisieren, mit Überlebenden in Kontakt bringen und didaktisch aufbereitete Materialien zur Verfügung stellen (in gedruckter Form oder via Internet). Zur Vorbereitung und Durchführung von Gedenkstättenbesuchen gibt es pädagogische Vorschläge (Ruppel and Schmidt 2002) und inzwischen auch empirische Forschungen, die die Wirkung von 9 Gedenkstätten auf ihre Besucher untersucht (Pampel 2007; Klenk 2006). Zwar gibt es kaum empirische Anhaltspunkte, dass Besucher von Gedenkstätten ihr Verhalten, ihre Haltungen, Denkweisen oder Wertvorstellungen überprüfen bzw. verändern (Pampel, 340), doch bekunden etwa die Hälfte aller Besucher, dass sie durch den Besuch mit der Gedenkstätte zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema angeregt wurden. Entscheidend sind Gespräche und dialogische Verarbeitungsmöglichkeiten nach dem Besuch. Gedenkstätten werden im Allgemeinen als „Lernorte“ gesehen. Als Gedenkstätten können auch Museen gelten, die sich mit jüdischem Leben und jüdischer Kultur beschäftigen, da sie immer auch eine Abteilung über Ausgrenzung, Deportation und Vernichtung enthalten (z.B. das jüdische Museum in Berlin, aber auch kleinere, regionale jüdische Museen). Die Gedenkstättenpädagogik hat unter anderem folgende Ziele (Pampel, 46ff; Nickolai 2002): a) Vermittlung von historischen Informationen b) Empathie für die Opfer wecken; c) Nachdenken über die Opfer anregen und für Gefährdungen der Menschenrechte sensibilisieren; d) demokratische Einstellungen und Kompetenzen fördern – Handeln beeinflussen; e) zur Selbstreflexion anregen. Empirische Forschung zum Geschichtsbewusstsein: Schon vereinzelt in den 1960er und 70er Jahren, verstärkt jedoch seit den 1980er Jahren wurden und werden sozialwissenschaftliche empirische Studien durchgeführt, die das Geschichtsbewusstsein, die Kenntnis und Einstellung zum Nationalsozialismus bzw. Holocaust in verschiedener Hinsicht untersuchen. In quantitativen Studien wird v.a. das Wissen von (jungen) deutschen über NS und Holocaust abgefragt. Die berühmt gewordene und viel diskutierte Studie „Auschwitz – I have never heard about it“ (Silbermann and Stoffers 2000) steht exemplarisch für Studien, die den geringen Wissenstand der befragten Jugendlichen feststellten und von einer „wachsenden Ahnungslosigkeit über die nazistische Barbarei“ (ebd. 194) berichteten. Diese Arbeiten wurden jedoch auch kritisiert, da sie die ermordeten nur als Zahlenmaterial behandelten (Frage: „Wieviel Juden wurden im Holocaust getötet?“) und nicht auf die Gründe eingehen, die die Befragten für ihre Antwort haben. Tiefer führen Studien, die die stärker auf das „Geschichtsbewusstsein“ (nicht nur das Wissen!) fokussieren (Borries 1995; 1999). Europäische und deutsche Jugendliche sind sich des NS durchaus bewusst. Ihre dominante Assoziation mit dem Wort NS ist „Ermordung der Juden und Sinti und Roma“, die fast durchgängig negativ bewertet wird. Doch es gibt auch positive Einschätzungen des NS: Zum Beispiel wurden „Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit“ 10 jener Zeit als positiv eingeschätzt. Einige der Ergebnisse sind interessant zur Analyse des Scheiterns von Holocaust Education (siehe unten Teil 3). Mehr und mehr kam und kommt es zu qualitativer empirischer Forschung. Michael Kohlstruck hat in qualitativen Interviews verschiedene „Thematisierungstypen“ des NS durch die dritte Generation nach dem Holocaust festgestellt (Kohlstruck 1997): solche, die den NS als Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit und als Last für eine positive nationale Selbstvergewisserung betrachten; solche die die Auseinadersetzung mit dem NS als Katalysator für die Bewältigung von Gegenwartsproblemen sehen und schließlich solche, denen der NS als vergangenen Geschichte nichts mehr bedeutet. Bodo von Borries legte Jugendlichen Fotos des Holocaust vor und ließ sie sie bewerten (Borries 2001). Dabei gaben die Jugendlichen zwar eine Ablehnung des NS an, was aber nicht auf einer breiten Kenntnis oder einer mentalen Verarbeitung beruht, sondern relativ oberflächlich geäußert wurde und eher sozialer Erwünschtheit widerspiegelt. Die wohl wichtigste Untersuchung der Zugänge zur Erinnerung an die Schoah wurde von Konrad Brendler in Zusammenarbeit mit dem israelischen Sozialforscher Dan Bar-On durchgeführt (Bar-On et al. 1997). Die Forscher konzentrierten sich auf die Frage nach der Identität von jungen Menschen „im Schatten der Schoah“. Sie konnten unterschiedliche Rezeptionsniveaus deutscher Jugendlicher nachweisen: a) narzistische Kränkung und aggressive Abwehr der NS-Geschichte, keine Auseinandersetzung; b) Verdrängung und keine emotionale und kognitive Rationalisierung persönlicher Betroffenheit; Auseinandersetzung; Unfähigkeit, moralische Konsequenzen zu ziehen; c) Stagnation in depressiver Lähmung und Scham, zwar gibt es Gefühle der Trauer und Angst, die jedoch negative Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl haben; d) konstruktive Auseinandersetzung mit der Geschichte; Gewinn für die Persönlichkeit; negative Abgrenzung, daraus positive Identität; Lehren: Humanisierung der Gesellschaft aufgrund der Erinnerung. Eng mit der Identitätsthematik zusammen hängen die Themen Generationenfolge und Familienbiographie. Letztere werden mehr und mehr in den Mittelpunkt von empirischer Forschung gerückt. Gabriele Rosenthal (1997) hat ebenso wie Harald Welzer (2001, 1997) mehrere Generationen von Tätern bzw. Mitläufer und Zuschauer in qualitativen Interviews befragt. Rosenthal hat die Familiengeheimnisse, Familienmythen und Familienlügen entdeckt, die von Generation zu Generation über die Verstrickung der Familien in den NS weiter tradiert wurden. Welzer und seine Teams stellten eine Verharmlosung und Umdeutung des NS von Generation zu Generation fest. Entscheidend ist die empirische 11 Erkenntnis der Bedeutung der Familienbiographie für das historische Lernen und die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein, die für die Gründe des Scheiterns von Holocaust Education wesentlich sind (siehe unten). Neueste empirische Forschungen bestätigen die Bedeutung der Familienbiographischen Bezüge zum NS für die jugendlichen Geschichtskonstruktionen (Zülsdorf-Kersting 450) und die Bedeutung des Konzepts „Generation“ (Wagensommer 2009, 151-241). Zu den empirischen Studien zählen auch die seit Jahrzehnten durchgeführten Studien zum Antisemitismus der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg (Bergmann 2009; Bergmann 2006). Geschichtsdidaktik und Schulunterricht: Der Unterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust ist verpflichtend in allen Schulen und liegt in der Hand der 16 Länder (federal states). Die Geschichtsdidaktik und der Schulunterricht haben sich in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich weiterentwickelt (Überblick: Mayer et al. 2006; Günther-Arndt 2003). Sie sind (im Idealfall) nicht länger reine Institutionen zur Weitergabe von Informationen, sondern bilden ein dialogisches Forum zur Auseinandersetzung mit historischen Themen. Zu dieser Weiterentwicklung trugen auch die empirischen Forschungen zum Geschichtsverständnis und Geschichtsbewusstsein bei (siehe oben; zusätzlich: Rüsen 2008a, 2008b, 2001). Dennoch haben Geschichtsdidaktiker auf die relative Bedeutungslosigkeit des Geschichtsunterrichts hingewiesen. Es ist von einer „bescheidenen Rolle von Schule, Fach Geschichte und der Lehrer“ die Rede (Borries 2009, 46). Dabei sind mehrere Gründe maßgebend (Zülsdorf-Kersting 63ff; 120): a) die im Blick auf den NS starke prägende Kraft der Familienbiographie; b) die immense Bedeutung der medialen Konfrontation (Filme, Diskussionsrunden, Berichte); c) die zu späten Thematisierung des NS und Holocaust im Unterricht der Schule (erst mit 15 bzw. 16 Jahren). Bis zum Alter von 15 oder 16 Jahren sind die entscheidenden Prägungen durch Familie und Medien längst erfolgt. Eine wesentliche Qualitätsverbesserung der Lehre des NS bringen fächerübergreifende Projekte in den Schulen. Das Thema Holocaust ist nicht allein ein Thema des Geschichtsunterrichts. Die Fächer Gemeinschafts- du Sozialkunde, Religious Education, Ethik, Literatur, ja sogar Biologie (Thema Rassismus) oder Musik und Kunst (ästhetische Beareitung des Holocaust) können gewinnbringend zusammenarbeiten. Insbesondere führen viele Lehrer handlungsorientierte Unterrichtseinheiten durch (Besuche von Gedenkstätten; Erstellung von Ausstellungen; Recherchen in Archiven, Theaterprojekte etc.). 12 Kinder und Holocaust: Immer wieder wird die Frage diskutiert, welches das angemessene Alter ist, in dem Heranwachsende mit dem Thema Holocaust konfrontiert werden sollen: bereits im Kindergarten (bis 6 Jahre) oder in der Grundschule (6 bis 10 Jahre; Moysich and Heyl 1998)? Neuere Untersuchungen zeigen die Kompetenz von älteren Grundschulkindern (9 und 10 Jahre), historische Erzählungen zu verstehen und sich mit historischen Themen auseinanderzusetzen (Hanfland 2008). Insbesondere können mit Geschichten, Erzählungen und Zeichnungen von Kindern (z.B. aus den Konzentrationslagern) Zugänge und Räume für eine erste Auseinandersetzung geschaffen werden. Erwachsene und Holocaust: Die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist nicht auf Kinder und Jugendliche beschränkt. Erwachsenen in Deutschland sind ebenso Zielgruppen von Gedenkstätten, Erinnerungsveranstaltungen, Aktionen vielfältigster Art oder wissenschaftlicher Beschäftigung. Die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung stellen zwar auch Materialien und Veranstaltungen für den Bereich Schule zur Verfügung, arbeiten aber vornehmlich für Erwachsene (Lehrerausbildung, allgemeine Erwachsenenbildung). Auch die Arbeit mit Studentengruppen zu diesen Themen kann als Erwachsenenbildung gerechnet werden, insbesondere an Universitäten zur Lehrerausbildung, wo sie einen festen Platz in der Ausbildung einnimmt. Doch auch diese Aktivitäten können noch intensiviert werden. Viele Studierende waren noch nie in einer Synagoge, in einem jüdischen Museum oder in einer Gedenkstätte nationalsozialistischen Unrechts. In der außeruniversitären Erwachsenenbildung sind Ansätze erkennbar, die Frage nach einer Gedenkkulturarbeit und ihrer Relevanz für die Bildung Erwachsener zu untersuchen (Theile 2009). Religionspädagogik nach Auschwitz: [Religious education after Auschwitz]: Die Religionen stellen Räume der Erinnerung dar. Was für die jüdische Religion in besonderem Maße gilt, gilt auch für die christliche. Deshalb ist christliche Theologie in Deutschland zu einem Teil sensibilisiert für die Fragen der Theologie und Kirchen nach Auschwitz (Metz 2006; Kellenbach et al. 2001; Görg and Langer 1997; Kogon and Metz 1979). Wie gesagt, nicht selten sind die Kirchen Träger der Erinnerungskultur. Sowohl die protestantischen Kirchen als auch die katholische Kirche haben sich in bedeutenden Erklärungen der Verantwortung und Schuld gestellt, wozu die Schoah verpflichtet, auch wenn die Frage der christlichen Mitschuld an der Judenverfolgung im NS ambivalent behandelt wird (Klappert 1988; Schwier 2001). Der „Lernprozess Christen-Juden“ hat auch wesentliche Auswirkungen auf das christliche Erinnerungslernen nach Aschwitz (Biemer et al. 1981ff). Inzwischen kam es 13 zur Ausbildung einer „Religionspädagogik nach Auschwitz“ (Wagensommer 2009, 23-85; Schwendemann and Wagensommer 2007; Boschki 2001; 1997; Langer 1997), die folgende Leitlinien entwickelte: a) schweigen lernen; b) Fragen nach Gott und Frage nach dem Menschen angesichts von Auschwitz; c) an Gott zweifeln, Gott suchen Gott anklagen; d) doppelte Subjektorientierung im Blick auf die Subjekte der Gegenwart (die Lernenden) und der Vergangenheit (die Opfer, Zuschauer und Täter); e) Solidarität mit den Opfern einüben; f) die Frage nach den Zuschauern und Tätern stellen; die anamnetischen Erfahrungen der Jugendlichen ernst nehmen. Erziehung nach Auschwitz in der pluralistischen Gesellschaft: Die Gesellschaft in Deutschland macht einen dramatischen Wandel durch: Sie entwickelt sich insbesondere aufgrund der Migration zu einer multikulturellen Gesellschaft. Deshalb untersuchen pädagogische Ansätze mehr und mehr die Bedingungen und Möglichkeiten einer Erziehung nach und über Auschwitz in einer heterogenen Gesellschaft (Fechler et al. 2000). Erste Ergebnisse zeigen, dass auch Migranten ein großes Interesse an der Vergangenheit des Landes haben, in dem sie nun leben. Selbstverständlich sind ihre Zugänge zur Geschichte des NS völlig anders als die der Deutschen, deren Familien aus diesem Land stammen (Schwendemann and Wagensommer 2004). 2. Best practice in Holocaust education. Geschichtliche Neugier und Aufnahmebereitschaft sind innerhalb und außerhalb der Schule wichtige Größen im Rahmen von Lernprozessen, die vom Engagement („Erziehung nach und über Auschwitz“) der lehrenden Personen abhängen. Am Beispiel von zwei gelungenen Projekten der außerschulischen und der schulischen Erinnerungsarbeit zeigen wir die Möglichkeiten auf, wie in der vierten Generation nach Auschwitz Erinnerung für die Zukunft gelernt werden kann, ohne dass jugendliche Identitäten gestört werden (Brendler and Rexilius 1991). Über die Kinder und Kindeskinder der Holocaustopfer liegen zahlreiche Studien vor, die die Spätfolgen bis in die zweite und dritte Generation nachweisen (Wagensommer 2003, 56f.). Auch über die Kinder und Kindeskinder der Täter gibt es mittlerweile zahlreiche Berichte und Forschungsergebnisse. Aber: In den Familien war das Schweigen und Verdrängen lebensbestimmend und es ist empirisch gesichert, dass die Spätfolgen und die indirekten Wirkungen des Nationalsozialismus weit in die nachfolgenden Generationen hineinwirken. 14 Ein besonderes Problem bildet dabei die Sprache, durch die wir in gewisser Weise in den Nationalsozialismus hineingebunden sind, wie Viktor Klemperer belegt (Mütter and Uffelmann 1992, 338). Aufgrund unreflektierten Sprachgebrauchs bleiben wir in den überkommenen Sprachmustern und reinszenieren neben nationalsozialistischer Sprache eine ebensolche Ideologie. Die Projekte hatten die Aufgabe, sich auch mit diesen Sprachmustern kritisch zu beschäftigen und die unbenannten Emotionen wahrzunehmen, die mit ihnen verbunden sind. a. Innerhalb des ökumenischen außerschulischen „Mahnmalprojektes“ (Steine gegen das Vergessen) der Erzdiözese Freiburg und der Evangelischen Landeskirche in Baden haben sich Jugendliche aus ganz Baden in den letzten 10 Jahren mit dem Thema Judenverfolgung und Nationalsozialismus befasst. Hierbei stand die Deportation von ca. 6500 jüdischer Menschen aus 137 Städten Badens am 22. Oktober 1940 im Vordergrund. Die Jugendlichen interviewten Zeitzeugen, forschten nach Fotos, sichteten Akten und stellten der Öffentlichkeit anschließend ihre Ergebnisse in Ausstellungen, Videos oder Computerpräsentationen vor. Dabei berichteten sie von Verachtung, Gewalt und Brutalität, zeigten aber auch Beispiele der Solidarität und Hilfsbereitschaft und zogen Schlüsse für ihr eigenes Handeln. Jede Projektgruppe gestaltete zwei „Memorialsteine“. Einer blieb zur Mahnung an die Deportation der jüdischen Bürger im Heimatort der Gruppe, der andere wurde Teil des zentralen Mahnmals in Neckarzimmern. Das Mahnmal besteht aus einem 25 mal 25 Meter großen geflochtenen Davidstern, der auf einer Wiese als Betonband in den Boden eingelassen wurde. Darauf wurden die Memorialsteine der Projektgruppen festgemacht. Für die Tagungsstätte sprach, dass dort während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter interniert waren und dass 1940 aus Neckarzimmern auch Juden deportiert wurden. Bislang gab es noch keine zentrale Gedenkstätte für die Deportierten. Das Projekt wurde auf nachhaltiges Lernen evaluiert und die Ergebnisse zeigen den Lernerfolg. Das Projekt legte zudem den Grundstein für heutige Versöhnungs- und Begegnungsarbeit zwischen jüdischen und christlichen Jugendlichen (Schwendemann et al. 2007, 95-136). b. Im Folgenden geht es um das fächerübergreifende Projekt Spurensuche- „erinnern und begegnen“ - Fotogeschichten-Kalender (ein Projekt zwischen Realschule Breisach und Ev. Hochschule Freiburg im Jahre 2000). Der Vorteil der Projektmethode ist, dass sich Unterricht öffnet für außerschulische Lernorte und dass häufig Gäste als Sachverständige in 15 den Unterricht kommen. So konnten Schüler aktiv Erfahrungen machen, indem sie Kontakte zu Institutionen und Experten herstellten, Termine vereinbarten, einen Organisationsrahmen erstellten. Anders als im herkömmlichen Unterricht wurden Schüler aus ihrer gewohnten Konsumentenrolle gerissen, wurden plötzlich zu Akteuren und aktiven Produzenten von Lernprozessen. Soziale Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, Organisationstalent, Kooperationsbereitschaft und Konfliktmanagement wurden zu wichtigen Faktoren der Projektarbeit. Grundlage des Projektes war die Lektüre des Buches von Hans-Peter Richter „Damals war es Friedrich“, das die Judenverfolgung im Nationalsozialismus aus der Sicht eines Kindes thematisiert. Die Schüler erarbeiteten sich selbstständig den historischen Rahmen. Ergebnisse wurden ans schwarze Brett geheftet und um Briefe, Tagebucheinträge, Bilder usw. ergänzt. Geplant wurden 12 Bilder zu Spuren jüdischen Lebens samt den passenden Geschichten aus der Umgebung der Schule in Breisach (Kaiserstuhl, Breisgau). Die Schüler recherchierten in ihren jeweiligen Heimatorten und führten Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen. Nach einem Unterrichtsgang nach Ihringen/Kaiserstuhl hatte das Grauen für die Schüler konkrete Namen bekommen. Sie realisierten, dass ganze Familien ermordet worden sind. Die Klasse reagierte mit Betroffenheit und es entstand ein Plakat in Fluchtpunktperspektive, Zielpunkt ist Gurs. Die Klasse wählte den häufig vorkommenden jüdischen Namen „BLOCH“. Innerhalb eines ganztägigen Projekttages entstanden so großformatige Plakate und der Kalender mit der Rekonstruktion der Biografie des Ihringer Bürgers Hermann Bloch (Bock and Schwendemann 2003, S. 250-293). 3. Reasons for failure of Holocaust education Seit Mitte der 1980er Jahre wurden der Unterricht und die Schulmedien immer wieder quantitativen und qualitativen Untersuchungen unterzogen, wobei aber schon 1987 resigniert ein ’inadäquates Verhältnis‘ zwischen Geschichtswissenschaft und Schulbuchproduktion festgestellt werden konnte. Die Verfasser von Schulmedien würden sich eher an die Lehrpläne und Richtlinien halten, als an die jüngeren Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Im Freiburger Forschungsverbund „Geschichte und Erinnerung“ (Universität Freiburg, Evangelische Hochschule Freiburg, Katholische Hochschule Freiburg, Pädagogische Hochschule) wurde seit 1998 mit der Aufgabe geforscht, Einsichten in die psychosoziale Dynamik des Nationalsozialismus, in die Mechanismen seiner Genese, politischen Durchsetzung und Tradierung auf die jetzige 16 Generation zu gewinnen. Ausgangspunkt dieses Projekts war die Frage: Wie konnten Hitler und die NSDAP die ‚Herzen’ von Millionen von Menschen gewinnen? Wir suchten Antworten auf diese Frage zu gewinnen, indem wir offene Interviews mit Männer und Frauen führten, die damals Hitler und dem Nationalsozialismus nicht ablehnend gegenüber gestanden, sondern ihn akzeptiert, bejaht oder mitgetragen hatten; ebenso wurden LehrerInnen und SchülerInnen nach ihren Unterrichtserfahrungen und –problemen (wie Unterrichtsblockaden usw.) zum Thema Nationalsozialismus befragt. Das Forschungsprojekt „Geschichte und Erinnerung“ setzte an einem spezifischen Defizit im deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit an, das sich insbes. im öffentlichen Erinnerungsdiskurs, im Verhältnis der Generationen untereinander und im schulischen Unterricht zeigt. In unserem Forschungsverbund wurde deshalb verstärkt nach den Tätern und ihrer Motivation gefragt und wie sich diese Haltung als Ideologiefragment auf die nachkommenden Generationen „weitervererbt“ (Welzer 1997, 9). Auch schulische Zeitzeugen-Projekte widmen sich i.d.R. den Erinnerungen von Überlebenden und Personen des Widerstands. Für den schulischen Unterricht stellt sich deshalb die Frage: Wie können der Nationalsozialismus und seine Verbrechen als Unterrichtsgegenstände so unterrichtet werden, dass der Unterricht „prophylaktisch“ gegen Rassismus, Antisemitismus und Fanatismus zu wirken vermag, ohne dass Unterricht kontraproduktiv wird? Der Nationalsozialismus gehört zwar zu den meist erforschten Epochen der Zeitgeschichte, aber gleichzeitig macht sich pädagogisches Verstummen breit bei dem Versuch, diesen Zeitabschnitt so zu unterrichten, dass nicht nur Informationen und Kognitionen vermittelt werden, sondern Schüler gegen Unrecht sensibilisiert werden. Untersuchungen ergaben, dass das Wissen vieler Schüler über die NS-Zeit und Holocaust dürftig ist, obwohl dieses Thema in mehreren allgemeinbildenden Fächern und einer nicht geringen Zahl von Stunden in der Sekundarstufe I unterrichtet wird. Statt prophylaktisch gegen rechtsextremistisches Gedankengut zu wirken, scheint mancher Schulunterricht zur Abwehr gegen ‚das Thema’ beigetragen, möglicherweise sogar an der unbewussten Weitergabe nazistischer Denkmuster mitgewirkt zu haben (Schwendemann und Wagensommer 2007). In einem Hauptschulprojekt wurden die Schüler der 9. Klasse vor und nach der Unterrichtseinheit „Nationalsozialismus“ und einer zusätzlichen Projektwoche zu demselben Thema befragt. Bei der Auswertung der Interviews vor der Unterrichtseinheit, in der das Vorwissen der SchülerInnen eruiert worden war, zeigte sich, dass die Schüler zu einem „Hitlerismus“ neigten, d.h. Hitler mehr oder weniger zum einzig Verantwortlichen für den Nationalsozialismus machten. Erschreckend ist, dass sich das nach 11-wöchigem (!) 17 Unterricht im Wesentlichen nicht geändert hatte. Ein weiteres Ergebnis war die Unkenntnis der Schüler über das Judentum. Juden wurden nur als ‚Opfer‘ und ‚Vergaste‘ wahrgenommen oder als ‚Ausländer‘ definiert. Dass das ‚Jude sein‘ nichts über die Nationalität eines Menschen aussagt, sondern über die Zugehörigkeit zu einer Religion, war den Schüler nicht bewusst. Diese Ergebnisse weisen die Untersuchung der Schulbücher von 1985 zurück, in der festgestellt wurde, dass bisher Juden nur als Opfer dargestellt wurden. (Renn 1987). Dieser damals aufgestellten Forderung, Juden eben nicht nur als Opfer zu zeigen, ist 16 Jahre später offenbar immer noch nicht Folge geleistet worden. Ähnlich wie die von Brendler interviewten Schüler war auch bei dieser Schülergruppe die Vermittlung von emotionalen Inhalten nicht gelungen. Am Ende der Unterrichtseinheit, die sehr auf kognitive Inhalte angelegt war, wurde das Konzentrationslager Natzweiler im Elsaß besucht. Dieser Besuch hatte offenbar emotionale Spuren hinterlassen. Gefühle wie Trauer, Erschütterung, Betroffenheit, Überfahrenfühlen, Verlorenheit, Scham, Nichtwohlfühlen, Faszination in Bezug Deprimiertsein, auf die Möglichkeit Sichder Machtausübung, Wut usw. kommen in den Interviews zum Ausdruck. Auch hier benutzten die Schüler nur die Peer-Groups zum Austausch über das Erlebte. Im Unterricht war dafür offenbar kein Platz eingeräumt worden. Ein letztes Ergebnis dieses Forschungsprojektes war die Erkenntnis, dass jeder Schüler bereits über ein vages Vorwissen aus der NS-Zeit verfügte, das weitestgehend durch die Groβväter oder Väter vermittelt worden war. Diese Schüler erlebten nicht selten einen Widerspruch zwischen dem, was in der Schule gelehrt wurde und dem, was sie durch ihre Familie erfahren hatten (Marks und Schwendemann 2003, 189-210). Ein weiterer Grund für das vielfache Scheitern von Erinnerungslernen ist das Problem, dass sowohl Lehrende als auch Lernende mit der Psychologie der NS-Ideologie wenig vertraut sind und sich so in wohlmeinender pädagogischer Absicht unterrichtliche Fehleinschätzungen einstellen können (Marks 2007), indem NS-Ideologiefragmente im Unterricht übernommen werden. Die Tiefenstruktur der NS-Machtausübung kann man als bewusst eingesetzte emotionale Abhängigkeiten charakterisieren, die viel mit der Abhängigkeit von Drogen und Rauschmittel gemeinsam haben, sodass auch nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft in vielen Teilen der Bevölkerung ein emotionaler Aggregatzustand nachweisbar war, der Entzugserscheinungen z.B. eines Drogenabhängigen ähnlich gewesen ist. Wir sind überzeugt, dass man aus der Geschichte nur dann lernen kann, wenn Schuld bekannt und angenommen wird. Wenn im Unterricht nun Medien eingesetzt werden, die 18 den Nationalsozialismus demonstrieren, kommt es zu Anschlussreaktionen bei den Rezipierenden und es entstehen vergleichbare Wirkungen wie bei den Erstadressaten. Wenn die Gefährlichkeit der NS-Ideologie aufgrund von Verdrängung sprachlich nicht scharf benannt werden kann, erhöht sich die Attraktivität der Ideologie, die durch Tabuisierung als magischer Raum definiert wird. Die Folgen auf die Reden Hitlers sind Wahrnehmungsverzerrungen, regressives Verhalten, Verlust von Realitätskontrolle, Verwirrungen, Fesselung der kognitiven Fähigkeiten, Faszination als gefesselte Aufmerksamkeit. Dieser Mechanismus ist in der NS-Ideologie kombiniert mit kollektiver Schamabwehr, Schamverdrängung, Schamüberwindung und Schamlosigkeit. Unsere empirischen Untersuchungen über die Wirkung des Unterrichts über Nationalsozialismus belegen diese Wirkungen als Übertragungsphänomene. Narzisstische Strukturen und Angebote sind in der NS-Ideologie so eingesetzt worden, dass amoralische Begehren so umdefiniert wurden, dass sie in ein moralisches System eingebunden werden konnten (Marks 2007, 122). Ein Erklärungsversuch der eingangs genannten Vorfälle des Scheiterns von Erinnerungslernen könnte in der generationalen Weitergabe schuldhafter Kriegserfahrungen liegen, wobei in den NS involvierte Eltern und Großeltern die Beziehung zu den Kindern bzw. Enkeln entsprechend ihrer eigenen psychischen Deformation gestaltet haben. Als erschreckendes Fazit bleibt, dass das Lernen aus der Geschichte erst begonnen hat und dass NS-Ideologiefragmente immer noch in unserer Gesellschaft wirksam sind, die den gleichen Mustern folgen wie zwischen den beiden Weltkriegen und im Unterricht zu Blockaden führen. Unreflektierter Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Unterricht über NS wiederholt nationalsozialsitisches Denken, das durch dämonisierende Begrifflichkeit geradezu resymbolisiert wird. 4. Perspectives for Holocaust education in Germany four generations after Auschwitz. Saul Friedländer beschreibt als Basis der Schoah den nationalsozialistischen „Erlösungsantisemitismus“ der NS-Eliten und sieht darin die radikale Eskalation des „Krieges gegen die Juden“ (Friedländer 2007, 28) bis hin zum Massenmord. Er versteht unter Erlösungsantisemitismus „ein allumfassendes Glaubenssystem, in dem »Rasse« den Kampf gegen die Juden zwar bestimmte, aber nicht dessen einziger Grundpfeiler war. Vielmehr nahm der Kampf gegen die Juden im Erlösungsantisemitismus eine apokalyptsiche Dimension an. Die Erlösung des Volkes, … war nur durch die Ausmerzung 19 der Juden zu erlangen.“ (Friedländer 2007, 29) Diese pseudoreligiöse Dimension ist in allen Erscheinungen des Nazismus gegenwärtig und Erinnerungslernen in unserem Sinn hält den Widerstand gegen diese nazistische Verführung wach. Gleichzeitig werden Christen in doppelter Weise an die Grundlagen ihres eigenen Glaubens erinnert: Die jüdische Wurzel des Christentums verweist auf den menschenfreundlichen Gott und der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs erinnert die Christen an die humanen und humanitätsstiftenden Grundlagen der Tora und der Bergpredigt Jesu. Das Bekenntnis zum Gott der Bibel schließt diese anamnetische Dimension des Glaubens mit ein. Das bedeutet, dass Erinnerungslernens keineswegs vergangenheitsfixiert bleiben darf. Im Gegenteil: Durch Erinnerung und Anamnese als Glaubensakt werden Vergangenheit ‚vergegenwärtigt’, das heißt in die aktuelle Gegenwart gesetzt. Historisches Bewusstsein ist dadurch gekennzeichnet, dass es zwar an vergangenen Ereignissen ansetzt und sich in Auseinandersetzung mit ihnen ‚bildet’, dass aber gerade dieser Bildungsprozess eine Verortung in der Gegenwart ermöglicht (Zülsdorf-Kersting 2008; Kölbl 2004; Rüsen 2002). Historische Sensibilisierung ist ein erster Schritt, der zu einer intensiven Auseinandersetzung und schließlich zur religiösen und historischen Identitätsbildung erinnerungsgeleitet: führen kann. Erfahrungen, Das menschliche Sozialisation, Selbstkonzept bewusste und ist geradezu unbewusste Gedächtnisinhalte bestimmen über unsere Ich-Identität. Diese Tatsache kann in historischen und auch religiösen Lernprozessen bewusst zum Thema gemacht werden. Wird nämlich die Beschäftigung mit der Vergangenheit zu einem Teil der Identitätskonstitution, können sich grundlegende Einstellungen und das Verhalten von (jungen) Menschen ändern. Voraussetzung: Geschichte muss erlebt werden, dass sie etwas ‚mit mir’ zu tun hat. Nur dann wenn das Ich in seiner Existenz, d.h. wenn die Identität des (jungen) Menschen betroffen ist, kann so etwas wie Verhaltensänderung geschehen. Verhaltensänderung ist eine der wichtigsten Kennzeichen von nachhaltigem Lernen: In unserem Fall, dem historischen Lernen, haben (junge) Menschen nicht (wirklich) gelernt, wenn sie sich einen Sachverhalt rein kognitiv erarbeitet haben und wiedergeben können, sondern dann, wenn eine relativ dauerhafte Veränderung bzw. Erweiterung des Verhaltensrepertoires in Bezug auf die historischen Themen vorliegen. Im Zusammenhang mit Auschwitz als der absoluten Inhumanität kann dies nur bedeuten, dass Menschen etwas gelernt haben, wenn sie ‚Humanität’ gelernt haben. Somit bedingen sich Erinnerungslernen und Lernen des Humanum gegenseitig. „Erziehung nach Auschwitz“ (Theodor W. Adorno) ist gleichbedeutend mit „Erziehung zur Humanität“. Die 20 Lernenden lernen in der Konfrontation mit den historischen Themen nicht nur etwas über die Situation damals, sondern auch etwas über heute und vor allem etwas über sich selbst. Denn wer die Mechanismen der Ausgrenzung, Konzentration, Deportation und Vernichtung analysieren lernt, lernt verstehen, dass diese Mechanismen auch heute noch am Werk sind. Eine wesentliche und unvermeidliche, wenn auch beunruhigende Einsicht aus der Beschäftigung mit Auschwitz ist die, „…dass ein Rückfall in Barbarei immer möglich bleibt“ (Zimmermann 2005, 15). Auschwitz ist in historischer Hinsicht als „präzendenzlos“ (Bauer 2001, 42) zu kennzeichnen, doch heißt dies nicht, dass es sich nicht wiederholen könnte. Aus diesem Grunde sind Lernprozesse so anzulegen, dass sie die „praktische Identität“, d.h. die „moralische Zeitgenossenschaft“ der Lernenden betreffen (Zimmermann 2005, 92ff.). Bildung in historischer und religiöser Hinsicht ist Befähigung zu moralischer Zeitgenossenschaft, die darin besteht, die „Negation von Inhumanität“ (Zimmermann 2005, 87) vollziehen zu können. Humanität wird demnach in erster Linie als Negation der Inhumanität gelernt. Ebenso wie die Menschenrechte in historischer Hinsicht als Negation der Inhumanität entstanden sind, kann auf individueller und sozialer Ebene durch die Ablehnung von Inhumanität die Möglichkeit zur Humanität erlernt werden. Die pädagogische Hoffnung ist, dass die so angestoßene Potenzialität der Verhaltensänderung in einen Lernprozess zu zivilcouragiertem und solidarischem Handeln mündet. Von daher sind bisherige Ansätze zur Menschenrechtspädagogik (Benedek 2006) dringend um die Dimension des historischen und religiösen Lernens zu erweitern und damit um die Dimension der Achtsamkeit. References Adorno, Th. W. (1997). Education after Auschwitz [1966]. In: H. Schreier, & M. Heyl (Ed.). Never again! 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