Yehudi Menuhin
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Yehudi Menuhin
Sonntag, 22. Mai 2016 15.04 – 17.00 Uhr Yehudi Menuhin Eine Sendereihe zum 100. Geburtstag Von Michael Struck-Schloen 21. Folge: Familientreffen und Experimentierfeld AUTOR Alljährlich, etwa ab Juli, wenn die reguläre Konzertsaison sich ihrem Ende zuneigt, werden Künstler und Publikum in aller Welt von einer seltsamen Krankheit erfasst. Statt sich und ihren Instrumenten Ruhe zu gönnen, setzen sich Musikerinnen und Musiker erneuten Strapazen aus, um an schönen Orten mit Freunden und Kollegen weiter zu musizieren. „Festavilitis“ nennt man diese Ruhelosigkeit und ihre epidemischen Folgen. Yehudi Menuhin litt daran seit Ende der fünfziger Jahre, als er nach Europa kam, gleich in der Schweiz ein Festival gründete und in England ein zweites als künstlerischer Leiter übernahm. Die 21. Folge dreht sich also um Menuhins Festspiele und ihr unterschwelliges Motto: „Familientreffen und Experimentierfeld“. MUSIK 1 Warner LC 02822 0825646777815 Track 2 Gabriel Fauré Klavierquartett Nr. 1 c-Moll op. 15 2) Scherzo. Allegro vivo Yehudi Menuhin, Violine Ernst Wallfisch, Viola Maurice Gendron, Violoncello Jeremy Menuhin, Klavier (Aufn. 1970) 5‘15 AUTOR Das Scherzo aus Gabriel Faurés erstem Klavierquartett c-Moll op. 15 ‒ gespielt von einer Besetzung, wie sie für Yehudi Menuhins Festivals typisch war. Der Meister selbst spielte die Geige und versammelte um sich Freunde und Familie: den Bratschisten Ernst Wallfisch, einen gebürtigen Frankfurter, dem Menuhin kurz nach dem Krieg die Ausreise aus seiner Wahlheimat Rumänien in die USA ermöglicht hatte; den französischen Cellisten Maurice Gendron, mit dem Menuhin seit Jahren im Trio spielte, und den 18-jährigen Jeremy, einen Sohn von Diana und Yehudi Menuhin, der im Aufnahmejahr 1970 gerade eine viel beachtete Karriere als Pianist begonnen hatte. Wallfisch, Gendron und Jeremy Menuhin waren Stammgäste auf den Musikfestivals in der Schweiz und in England, die Menuhin seit seiner Übersiedlung nach Europa leitete. Dass er damit kein Pionier war, sondern auf einen immer schneller ratternden Zug aufsprang, hat er selbst in seiner Autobiografie Unvollendete Reise zugegeben. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die europäischen Großstädte sich von Terror, Zerstörung und ernsthaften wirtschaftlichen Problemen erholen mussten, drängten viele Musiker aufs Land, um der Kunst in einer inspirierenden Umgebung ihren Raum zu schaffen. Vor 1945 hatte es nur wenige Festspiele mit Opernschwerpunkten gegeben, etwa in Bayreuth, Salzburg oder Glyndebourne, die der antiken Vorstellung von kultischen Festspielen nahe standen und eine ideelle Vereinigung der Künste in idealer Umgebung im Sinn hatten. Nach dem Krieg veränderten sich die Festspiele zu Künstlerfestivals, wobei die Programme der letzten Saison an idyllischen Orten wiederholt wurden, um damit den land- Yehudi Menuhin – 21. Folge Seite 2 von 6 schaftlich herrlichen, aber strukturschwachen Gegenden in den Bergen und Wäldern internationalen Glanz und den kommerziellen Aufschwung zu bringen. Menuhin hatte eine andere Idee von Festivals. Wenn die Künstler schon auf ihre Urlaubszeit verzichteten, dann sollten sie auch davon profitieren, indem sie mit interessanten Kollegen eben nicht immer die gleichen Programme spielten. 1962 hat der Geiger seine Idee im Sender Freies Berlin erläutert. O-TONYehudi Menuhin (0’50) Gerade jetzt freue ich mich auf die Sommersaison, weil, in diesen Tagen arbeitet der Künstler auch im Sommer. Aber für mich ist der Sommer eine besondere Freude, weil ich dann mit meinen Kollegen musiziere. Nicht nur bin ich auf Reisen und spiele die Programme, die gewünschten Konzerte, aber was ich besonders jetzt im Sinne habe, sind die Werke, die … zum Beispiel das Oktett von Schubert oder Sextett von Brahms oder die Concerti grossi von Händel, verschiedene Konzerte von Mozart, die ich begleite, nicht wahr, Konzerte für Flöte, für Oboe und Flöte und Harfe und allerlei verschiedene Werke, die ich sonst nie machen kann. [Yehudi Menuhin im Gespräch mit Peter Csobádi, SFB 1962] MUSIK 2 Warner LC 02822 0825646777068 Track 1 Wolfgang Amadeus Mozart Konzert für zwei Klaviere Es-Dur KV 365 1) Allegro Hephzibah Menuhin & Fou Ts‘ong, Klavier Bath Festival Orchestra Leitung: Yehudi Menuhin (Aufn. 1964) 9‘47 AUTOR Mozarts Konzert für zwei Klaviere KV 365 ist ein typisches Werk, das eher auf Festivals als im normalen Konzertbetrieb zu finden ist. Das Bath Festival Orchestra begleitete den ersten Satz in dieser Aufnahme von 1964 unter Leitung des Festspielchefs Yehudi Menuhin. Und eigentlich musste er nur in seiner großen Familie Umschau halten, um die geeigneten Solisten für diese Rarität zu finden ‒ in diesem Fall spielten seine Schwester Hephzibah und sein Schwiegersohn Fou Ts’ong, der aus einer Intellektuellenfamilie in Shanghai stammte, in Warschau studiert hatte und seit 1960 mit Menuhins Tochter Zamira verheiratet war. Für seine eigene Tätigkeit als Festivalchef hatte Menuhin ein bedeutendes Vorbild: Benjamin Britten, der damals als wichtigster Opernkomponist Englands galt, hatte 1948 im Küstenstädtchen Aldeburgh in der englischen Grafschaft Suffolk ein eigenes Festival gegründet. Obwohl es später für die Aufführung kleiner Opern und großer Kammermusik mit prominenten Solisten bekannt wurde, war das Aldeburgh Festival eigentlich kein exklusives Musikfestival, sondern integrierte Literatur, Theater und Tanz, weitete also ‒ ganz im antiken Sinne ‒ den Horizont auf alle Künste aus. In den vierziger und fünfziger Jahren, als Aldeburgh noch ein Geheimtipp war, wurde organisatorisch viel improvisiert, es gab niedrige oder überhaupt keine Gagen, und Menuhin beteiligte sich mit Begeisterung am intelligent zusammengestellten Programm, in dem Britten Altes mit Neuem verband. Menuhin und Britten hatten sich 1945 kennen gelernt, als sie kurz nach Kriegsende im Auftrag der Alliierten eine Tournee durch ehemalige Konzentrationslager unternommen hatten. Die Zustände in den Lagern und die erschütternden Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen hatten beide damals innerlich zusammengeschweißt, die Künstlerfreundschaft dauerte bis zu Brittens Tod im Jahr 1976 und brachte großartige Gipfeltreffen hervor wie die gemeinsame Aufführung von Franz Schuberts Violinfantasie C-Dur beim Aldeburgh Festival 1957. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 21. Folge MUSIK 3 BBC Legends LC 10552 4083-2 Track 3 Franz Schubert Fantasie C-Dur D 934 (Schluss) Yehudi Menuhin, Violine Benjamin Britten, Klavier (Aufn. 1957) Seite 3 von 6 6‘34 AUTOR Der Schlussteil von Franz Schuberts Fantasie C-Dur für Geige und Klavier D-934. Sie hörten einen Konzertmitschnitt vom Aldeburgh Festival 1957 ‒ mit einem höchst fingerfertigen Benjamin Britten am Klavier und einem virtuos aufspielenden Yehudi Menuhin. Dass Menuhin sich nicht lange bitten ließ, für wenig Geld in der englischen Provinz aufzutreten, hat ihm der Festivalleiter Benjamin Britten hoch angerechnet ‒ und ihm einen verlockenden Vorschlag gemacht: Sollte er, Menuhin, jemals sein eigenes Festival gründen, dann wären Britten und sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, selbstverständlich als Geburtshelfer mit von der Partie. Menuhin hätte wahrscheinlich selbst nicht geglaubt, dass diese Vision wenig später schon Realität wurde: Am 4. und 6. August 1957 gaben Britten, Pears, Maurice Gendron und Menuhin in der Mauritiuskirche von Saanen in der Schweiz die beiden legendären Konzerte, aus denen das Menuhin Festival Gstaad werden sollte. Neben Brittens Anregung spielten noch weitere Gründe eine Rolle bei Menuhins erster Festivalgründung. Im Frühjahr 1956 war er zusammen mit seiner Frau Diana und den gemeinsamen Söhnen Gerard und Jeremy nach Europa übergesiedelt; als Fixpunkte im nach wie vor ruhelosen Leben des Virtuosen wurden London, Dianas Geburtsstadt, und Gstaad in der schweizerischen Gemeinde Saanen, an der Grenze zwischen dem Berner Oberland und dem Waadtland gewählt. Der Ablösungsprozess von der kalifornischen Heimat und den Eltern ging einher mit neuen Ideen und Selbstfindungen. Menuhin mochte die vielsprachige Schweiz mit ihrer alten demokratischen Tradition und multikulturellen Prägung. In Gstaad, das im Winter ein Treffpunkt der Schönen und Reichen, im Sommer aber idyllisch und verschlafen war, quartierten sich die Menuhins in einem Chalet ein. Und als der örtliche Kurdirektor ihm vorschlug, der traditionell flauen Sommersaison mit einem eigenen Musikfestival kommerziell auf die Beine zu helfen, zierte sich Menuhin nicht lange. Die programmatische Mischung, die ihm dabei vorschwebte, verrieten schon die Programme der allerersten Konzerte. Mozart, Vivaldi und Schubert standen auf dem Zettel ‒ aber auch Benjamin Brittens Liederzyklus nach den Holy Sonnets des Dichters und Priesters John Donne vom Beginn des 17. Jahrhunderts. Hören Sie, in einer späteren Aufnahme mit Pears und Britten, die vier Lieder, die 1957 in der Kirche von Saanen erklangen. MUSIK 4 EMI LC 06646 754605-2 Track 27,29,32, 30 Benjamin Britten The Holy Sonnets of John Donne op. 35 1) Oh my blacke Soule! 3) O might those sighes and teares 6) Since she whom I lov‘d 4) Oh, to vex me Peter Pears, Tenor Benjamin Britten, Klavier (Aufn. 1967) 11‘06 AUTOR Vier Gedichte von John Donne aus den Holy Sonnets, die Benjamin Britten 1945 vertont hat. Es sang Peter Pears, am Klavier begleitete der Komponist. Mit diesen Liedern, dargeboten vom prominenten Künstlerpaar Britten und Pears, wurde 1957 das Menuhin Festival in Gstaad geboren. Und Menuhin setzte auch später seine weltweiten Verbindungen ein, um Prominenz in die Innerschweiz zu locken: den © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 21. Folge Seite 4 von 6 Cellisten Gaspar Cassadò etwa oder den Pianisten Wilhelm Kempff, die Kollegen Zino Francescatti und Igor Oistrach oder die Komponistin und Dirigentin Nadia Boulanger, die mehrere Generationen europäischer rund vor allem amerikanischer Komponisten ausgebildet hatte. Und wenn die Prominenz auf dem Podium nicht ausreichte, sorgten die Stars der Gesellschaft und des Films für Glamour ‒ so wie Liz Taylor und Richard Burton, die nach ihrer zweiten Hochzeit 1975 in der Kirche von Saanen ins Konzert gingen ‒ begleitet von Schwärmen von Paparazzi, was die braven Schweizer Bürger befremdete. MUSIK 5 Warner LC 02822 0825646777051 Track 9 Jimmy McHugh I can’t believe that you are in love with me Stéphane Grappelli & Yehudi Menuhin, Violine (Aufn. 1975) 3‘00 AUTOR Auch solche Musik erklang in Gstaad, denn immer hat Yehudi Menuhin darauf geachtet, dass das programmatische Spektrum bei seinen Festivals breit blieb: von Vivaldi bis zur traditionellen indischen Musik, von Bartók bis Stéphane Grappelli, der hier zusammen mit Menuhin einen Jazz-Standard von Jimmy McHugh spielte: „I can’t believe that you are in love with me“. Tatsächlich waren die Menuhins sehr verliebt in ihre Schweizer Ferien- und Festivalheimat ‒ auch wenn die hoch aufgeschossene Diana in Berner Lokaltracht immer ein bisschen verkleidet wirkte. Man nahm es ihr als leicht schrulliger Engländerin nicht übel ‒ zumal viele wussten, dass Diana zusammen mit Menuhins späterer Sekretärin Eleanor Hope für den reibungslosen Ablauf im Hintergrund sorgte. Die Künstlerfamilie war die Attraktion des Ortes: das „Label“ Menuhin stand für Hochkultur mit internationalem Flair, aber auch für demokratische Bodenständigkeit, für in sich ruhende Gelassenheit, ökologisches Bewusstsein und mehr und mehr auch für politisches Engagement ‒ Tugenden, welche die Schweizer zu schätzen wussten. 1968 trug der Kanton Solothurn Menuhin die Schweizer Staatsbürgerschaft an, 1970 zog Gstaad nach und verlieh ihm das Ehrenbürgerrecht. Die amerikanische Staatsbürgerschaft war davon ‒ entgegen aller Befürchtungen in den USA ‒ nicht betroffen: Menuhin besaß fortan einen doppelten Pass; 1985 durfte er dann auch noch die britische Staatsbürgerschaft eintragen lassen. Über die Jahrzehnte erweiterte und modernisierte sich das Festival in Gstaad: In den achtziger Jahren wurde es durch ein Festivalzelt, das vor der Alpenkulisse wie eine weiße Plastikritterburg wirkte, auch für Sinfoniekonzerte attraktiv; seit 2006 gibt es eine feste, moderne Konzerthalle. Jugendkonzerte und die Ansiedlung der Internationalen Menuhin Musik-Akademie für junge, hochtalentierte Streicher gaben dem Festival seit den siebziger Jahren ein jüngeres Gesicht; und auch die Schüler der Menuhin School in England treten immer wieder auf ‒ darunter der junge Nigel Kennedy, einer der bekanntesten Schüler von Menuhin. Vor allem aber war Gstaad Stelldichein und Prüfstein für die Familie, die sich immer weiter verzweigte. Neben Yehudi, der als Geiger und Dirigent auftrat, spielten die beiden Schwestern Hephzibah und Yaltah, der chinesische Schwiegersohn Fou Ts’ong und der junge Jeremy, der zum blendenden Pianisten heranreifte; seit 2007 ist er Direktor der Jugendakademie. Während Yehudi Menuhin in der Erinnerung der Kinder nicht unbedingt als treu sorgender Vater erscheint, sondern im Familienleben meist durch Abwesenheit und berufliche Geschäftigkeit glänzte, galt ihm doch die Idee der Familie ziemlich viel, und er förderte die Kinder, wo er es für nötig und sinnvoll hielt ‒ wie im Fall von Jeremy, der in den späten Jahren zu seinem bevorzugten Begleiter wurde. 1980 haben Vater und Sohn die beiden Violinsonaten von Béla Bartók eingespielt ‒ für Yehudi Menuhin eine Herzensangelegenheit wie alle Werke des Komponisten, den er kurz vor seinem Tod in New York kennen und bewundern lernte. Hören Sie die zweite Sonate aus dem Jahr 1922 mit den beiden Sätzen Molto moderato und Allegro. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 21. Folge MUSIK 6 Warner LC 02822 0825646777051 Track 11-12 Béla Bartók Violinsonate Nr. 2 Sz. 76 Yehudi Menuhin, Violine Jeremy Menuhin, Klavier (Aufn. 1980) Seite 5 von 6 19‘40 AUTOR Die zweite Violinsonate von Béla Bartók, gespielt von Vater und Sohn: Yehudi und Jeremy Menuhin haben das zweisätzige Werk im Jahr 1980 für die EMI eingespielt. Die Londoner Schallplattenfirma, der Menuhin ein halbes Jahrhundert lang die Treue hielt, war auch entscheidender Motor beim zweiten Festival, das Menuhin gestaltete ‒ diesmal in England, wo er sich 1959 niedergelassen hatte. Die Bäderstadt Bath in Südwestengland nahe Bristol, die schon die Römer für ihre heißen Quellen schätzten, war durch Elisabeth I. zu königlicher Beliebtheit aufgestiegen; im 18. Jahrhundert ermöglichte der Reichtum der Stadt eine spektakuläre architektonische Neugestaltung. Plätze, vornehme Reihenhäuser, Parks und großzügige Straßenzüge wurde um die alten Thermen und die knorrige Bath Abbey herum gebaut, nirgendwo in England vereinten sich Natur und Baukunst auf solch noble, klassizistisch-pompöse Weise. Seit einigen Jahren gab es schon ein Musikfestival in Bath; und gegen Ende der fünfziger Jahre witterte Ian Hunter, Menuhins englischer Manager, die Chance, mit dem Prominenzfaktor des Geigers und seiner einnehmenden Ausstrahlung das Festival auf kommerziell erfolgreiche Beine zu stellen. Menuhin stimmte zu und übernahm im Wesentlichen seine Ideen aus Gstaad: die Begegnung mit befreundeten Kollegen, die kammermusikalische Feinarbeit bei öffentlichen Proben, Programme aus alten und neuen Werken und die Förderung der Jugend. Neu war, dass die EMI viele der originellen Musiker-Kombinationen, die Menuhin in Bath zusammenbrachte, im Anschluss an das Festival ins Londoner Studio bat und damit vor allem Menuhins Bemühungen um barocke und klassische Werke festhielt. Mehr als siebzig Aufnahmen entstanden so, in denen Menuhin weniger als Solist denn als Partner und Dirigent auftrat ‒ es war der Anfang seines Abschieds vom Starwesen. Neu in Bath war aber auch die Einbeziehung von Diskussionen zwischen NichtKünstlern wie dem Philosophen Isaiah Berlin, dem Biologen Julian Huxley oder dem Schriftsteller Vladimir Nabokov. O-TON Yehudi Menuhin (0’53) Zum Beispiel in meinem Festival in Bath habe ich eingeladen Julian Huxley und Sir Isaiah Berlin und Nabokov und William Glock von BBC. Man hat ein paar Festivals gehabt schon in Bath, aber immer waren die von Konzertagenten organisiert, und man hatte Konzerte da, […] die man sonst auch in London hören konnte. Und ich fühle, es ist nicht eigenartig genug. Ein Festival sollte etwas dem Publikum geben und der Stadt, es soll Eigentümliches haben. Ich konnte meine besten Freunde und Musiker und Wissenschaftler einladen, ich kann die Musik spielen, die ich möchte. […] Und so habe ich Musik machen können ‒ nicht nur Geige spielen ‒, wie ich es mir vorstelle. Und es ist etwas anderes als andere machen, nicht vielleicht besser, aber es ist vielleicht doch interessant. Ich hatte viel Freude damit. [Das musikalische Selbstporträt ‒ Yehudi Menuhin, NDR 1960] MUSIK 7 Deutsche Grammophon LC 00173 463 665 2 Track 6 William Russo Drei Stücke für Blues Band und Sinfonieorchester op. 50, Nr. 2 Siegel-Schwartz-Band San Francisco Symphony Orchestra Leitung: Seiji Ozawa (Aufn. 1962) © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) 8‘58 www.kulturradio.de Yehudi Menuhin – 21. Folge Seite 6 von 6 AUTOR Ein Ausschnitt aus den Drei Stücken für Blues Band und Sinfonieorchester op. 50 vom amerikanischen Jazzposaunisten und Komponisten William Russo ‒ einem Komponisten, der Jazz und klassische Sinfonik auf höchst originelle Weise verschmolz. Es spielte die Siegel-Schwartz-Band zusammen mit dem San Francisco Symphony Orchestra unter Leitung von Seiji Ozawa. Und Yehudi Menuhin erinnerte sich sehr gut, wie er beim Bath Festival 1963 Russos Musik für Geige und Jazzorchester zusammen mit Musikern aus dem Jazz- und dem Klassikbereich aufführte ‒ und dabei enormen Spaß hatte. Neben den Ausflügen in den Jazz, neben Ballett und klassischer Kammermusik hat Menuhin als künstlerischer Leiter in Bath auch zahlreiche zeitgenössische Stücke uraufgeführt, die er meist selbst in Auftrag gab ‒ vielleicht ein Grund, warum sich auch Pierre Boulez, selbst einst der Motor der Avantgarde, in Bath blicken ließ und mit Menuhin das Violinkonzert von Alban Berg aufführte. In Bath entdeckte Menuhin seine Liebe zum Musiktheater und dirigierte mit Mozarts Così fan tutte erstmals eine Oper. Allerdings sprengten die Produktionskosten der Opernprojekte am Ende das knapp bemessene städtische Budget des Festivals. 1968, nach der zehnten Ausgabe, gab der künstlerische Leiter Menuhin seinen Posten auf und wechselte zum Windsor Festival, das er allerdings nur drei Jahre lang leitete. Die Arbeit wuchs ihm über den Kopf ‒ und wahrscheinlich hatte sich für ihn auch die ursprüngliche Festivalidee ein wenig verbraucht. Hören wir zum Abschluss einen Komponisten, den Menuhin in England häufiger gespielt hat als sonst auf der Welt. Denn der Italiener und Wahl-Pariser Giovanni Battista Viotti war seit seiner Flucht vor der Französischen Revolution nach London so zu sagen ein Einheimischer. Mehr als zwei Dutzend Violinkonzerte stammen aus seiner Feder ‒ zusammen mit dem Menuhin Festival Orchestra spielt Yehudi Menuhin das 16. Konzert eMoll in drei Sätzen. MUSIK 8 Warner LC 02822 0825646777815 Track 1-3 Giovanni Battista Viotti Violinkonzert Nr. 16 e-Moll G 85 Yehudi Menuhin, Violine Menuhin Festival Orchestra Leitung: Yehudi Menuhin (Aufn. 1975) 30‘04 AUTOR Giovanni Battista Viotti war ein fleißiger Komponist ‒ Yehudi spielte soeben sein 16. Violinkonzert in e-Moll, zusammen mit dem Menuhin Festival Orchestra. Die Festivals, die Menuhin seit Ende der fünfziger Jahre geleitet hat, existieren bis heute und haben sich im Laufe der Jahre dem gewandelten Umgang mit klassischer Musik angepasst. Menuhins Arbeit als Programmchef, Interpret und Maître de plaisir zwischen den Aufführungen war jedenfalls bahnbrechend für einen neuen Festivaltyp, der eng an eine Persönlichkeit gebunden ist. „Familientreffen und Experimentierfeld“ ‒ das war die 21. Folge unserer Menuhin-Huldigung im Kulturradio vom rbb. Das Manuskript finden Sie im Internet unter der bekannten Adresse: kulturradio.de. Und dann noch die herzliche Einladung zur nächsten Folge unter dem Titel „An die Jugend“. Einen schönen Sonntagnachmittag wünscht Ihnen Michael Struck-Schloen. © kulturradio vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) www.kulturradio.de