Dem Ich Stimmen geben: Pop Lyrics als Medium der

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Dem Ich Stimmen geben: Pop Lyrics als Medium der
Dem Ich Stimmen geben: Pop Lyrics als Medium der
Selbstdarstellung
Sibylle Moser
One thing is sure: though they have authors,
songs do not tell stories that belong to one person.
Ann Powers / Tori Amos
Einleitung
In einem Interview mit der Musikzeitschrift i-D bemerkt die Rocksängerin PJ
Harvey: „No matter what kind of music you make, you're gonna draw people
to you because people relate to what you’re saying“ (Blandford: 2004, 86). Als
intermodale, zwischen verschiedenen Sinneswahrnehmungen vermittelnde
Medienschemata, die den Hör- ebenso wie den Sehsinn ansprechen und kinästhetisch wirken, schaffen Songtexte in vielen Fällen eine Intimität zwischen
Autorin / Sängerin und Publikum, die zu einer bislang wenig beobachteten
medienspezifischen Konstruktion des „autobiographischen Pakts“ (LeJeune)
führt. Lyrics evozieren emotionale und kognitive Wirkungen bei HörerInnen,
die häufig auf der Gleichsetzung von ErzählerIn, lyrischem Ich und PerformerIn basieren. Während die Reichweite von gedruckter Poesie sehr begrenzt ist,
erreichen Pop Lyrics eine Vielzahl an HörerInnen und verbreiten Vorstellungen von weiblichem Selbst und Authentizität, die durch Geschlechterkonstruktionen in der Popkultur geprägt sind.
Der folgende Beitrag wird anhand des Konzepts des „medialen Embodiment“ medienwissenschaftliche Gründe für diese autobiographische Identifikation aufzeigen und am Beispiel ausgewählter Songs von PJ Harvey, Laurie
Anderson, Björk und Tori Amos den Zusammenhang zwischen Selbstkonstitution, Text und Medium sowohl aus produktions- wie aus rezeptionsästhetischer
Perspektive diskutieren. In Ablehnung schriftzentrierter Ansätze wird der Begriff der Autobiographie medial differenziert, eine Zugangsweise, die von der
Frage geleitet wird, wie sich Kommunikationstechnologien und Medienteilsysteme auf Formen und Funktionen poetischer Selbstdarstellungen auswirken,
wobei ich mich auf die akustische Ebene konzentriere. Ich werde zuerst das
Modell des „medialen Embodiment“ vorstellen und die medienspezifische
Verkörperung von sprachlicher Bedeutung beim Singen und Hören von Songtexten skizzieren. Anschließend sollen die verschiedenen Dimensionen medialer Verkörperung – kognitives, technologisches und soziokulturelles Embodiment – durch Songbeispiele der vier Performerinnen verdeutlicht werden.
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Vorweg sei noch darauf verwiesen, dass das Schreiben über intermodale,
schriftübergreifende Medienschemata nur begrenzt die Erfahrung des Hörens
von Songs oder die audiovisuelle Rezeption von Musik- und Konzertvideos
vermitteln kann. Den LeserInnen seien deshalb die Disco- und Filmographien
in den angeführten Biographien der vier Sängerinnen sowie die Homepages
der KünstlerInnen wärmstens zur ‚Ohren- und Augenweide’ empfohlen.
1. Songs als Medium der Selbstdarstellung
1.1 Songs als intermediale Sprachpraxis
Selbstdarstellungen in Rahmen von Songs werden traditionell im Gegensatz
zur Subjektwerdung durch den geschriebenen und gedruckten Text beobachtet
und häufig als volkstümlich bzw. als ‚populär’ eingestuft. So lässt sich ab dem
19. Jahrhundert eine Naturalisierung oraler Textformen im Rahmen romantischer Vorstellungen von Volkstum und Volkslied beobachten (Finnegan: 1977,
32f.). Entsprechend formiert sich das autobiographische Selbst nicht nur entlang der Differenz von Weiblichkeit und Männlichkeit, sondern ebenso entlang
der Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, (Live-)Performance
versus Aufzeichungspraxis (Auslander: 2004, 4f.) und Pop- versus Hochkultur
(Storey: 2003).
Die Autobiographie traditioneller Prägung gilt als genuin schriftbasiertes
Medienschema, das im Dienste bürgerlicher Individualisierung steht. Die Tradition der Selbstwerdung, wie sie dem Mann vorbehalten war, findet im Rahmen einer aufstrebenden Printkultur statt, in der die Entstehung des neuzeitlichen Subjekt- und Wissensbegriffs mit der Konstruktion des Buchautors als
Urheber von Sinn und Wirklichkeit zusammenfällt. Entsprechend finden sich
auch in den Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts prominent autobiographische Schreibweisen, welche die informelle Selbstdarstellung in Tagebüchern und Briefen aufgreifen und in den 1970er Jahren in das teleologische Entwicklungsschema der feministischen Bekenntnisliteratur integrieren
(vgl. Moser: 1999). Das autobiographische Selbst, so könnte man pointiert
sagen, ist eine Konstruktion auf dem Papier, die Erfindung einer Kultur, der es
– paradoxerweise – um die schriftliche Objektivierung, Standardisierung und
damit auch um die Kontrolle subjektiver Erfahrung geht (vgl. Hahn / Kapp:
1987). So scheint es etwa auch kein Zufall, dass der Protestantismus, der im
Zuge der Erfindung des Buchdrucks maßgeblich über Flugschriften verbreitet
wird, die individuelle Selbstkontrolle seiner lesekundigen Mitglieder forciert.
Während die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im 19.
Jahrhundert zum Ausschluss mündlicher Formen aus dem herrschenden Kanon
der schriftdominierten Literatur- und Geschichtswissenschaft führt, rücken
mündliche Formen in den 1960er und 1970er Jahren als legitime Forschungsobjekte ins Beobachtungsfeld der Wissenschaft. In der Erforschung popkultureller Medienangebote und im Rahmen der Oral History kommt das Medium
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Stimme zu neuen Ehren. Zur selben Zeit treten medientheoretische Bemühungen auf den Plan, welche die Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
benennen, sie ihrerseits jedoch nicht als Beobachtung unterscheiden. Medientheoretiker wie Marshall McLuhan und später Walter J. Ong definieren mündliche Kommunikation in striktem Gegensatz zu Schriftlichkeit und markieren
sie anhand ebenjener Eigenschaften, die den weiblichen ‚Geschlechtscharakter’ seit dem 19. Jahrhundert definieren. Die Kartierung der Wirklichkeit durch
die Dichotomie der Geschlechter findet ihre konsequente Fortsetzung in der
Bestimmung der Funktionsweisen von Rede und Schrift als „emotional versus
reflexiv“, als „empathisch versus distanzierend“ und als „(homöo-)statisch
versus dynamisch progressiv“ (Ong: 2002/1982, 37f.). Mündlichkeit wird als
„akustischer Raum“ (McLuhan / Fiore: 1996/67, 48) imaginiert, als dunkler
Sumpf („bog“, ebd.), der durch das aufgeklärte Licht des gedruckten Wortes
erleuchtet wird. Zumthor interpretiert die Stimme in diesem Argumentationsduktus als genuin weibliches Medium der vorsymbolischen Spracherfahrung.
Im Fahrwasser des französischen (Post-)Strukturalismus verweist er Anfang
der 1980er Jahre auf die Überschreitung der begrifflichen Grenzen der Sprache
durch die ritualisierte Wiederholung von Textbausteinen in Genres wie Litanei
und Rezitation und formuliert emphatisch:
In the depths, the plunge, the flight, then the ripping away that signifies for woman the passage from silence to speech: that flight of the body, let it all go, and
here it is that she expresses herself, is present entirely in her voice. The echo of a
terribly ancient song resonates herein, one prior to the prohibitions of the law,
prior perhaps to language itself – this is why she sings so spontanously (Zumthor:
1990, 68).
Die Beobachtung weiblicher Selbstkonstruktionen im Rahmen von Pop Songs
sieht sich entsprechend mit der Aufgabe konfrontiert, diese von ihren ideologischen Festschreibungen, seien sie ethnischer, klassenspezifischer oder geschlechtstypisierter Natur, zu befreien. Differenztheoretische Debatten der
zeitgenössischen Medientheorie verdeutlichen, dass mündliche Sprachpraktiken nicht im Gegensatz zu Schriftlichkeit operieren, sondern dass orale und
schriftliche Aspekte in allen Sprachformen auf unterschiedlichen Abstraktionsstufen vorkommen. So argumentiert etwa Jäger (2001) für die evolutionär
bedingte Audiovisualität der gesprochenen Sprache und Krämer weist auf den
konstitutiv hybriden Charakter der Stimme hin: „Sie ist eben zugleich Sinn und
Sinnlichkeit, Soma und Sema, Index und Symbol“ (Krämer: 2006, 290). Als
mündliches Medium par excellence changiert die Stimme zwischen sprachlicher Materialität und Konzeptualität, zwischen sinnlicher Spracherfahrung und
begrifflicher Bedeutungskonstruktion. Medienhistorisch kann davon ausgegangen werden, dass visuelle Markierungen als Vorläufer der Schrift bereits
vor der Ausprägung phonologischer Systeme auftraten. Die sprachliche Integration auditiver, visueller und kinästhetischer Erfahrung wird gerade in den
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intermodalen Beziehungen von Text, Ton und Bild bei der Performanz von
Songtexten sowie den ihnen korrespondierenden Rezeptionsformen greifbar.
Lyrics stellen eine Form der poetischen Praxis dar, die sowohl in Form von
Booklet- oder Internettexten als auch auf CDs, in Live-Performances oder als
Musikvideos zirkuliert. Die autobiographische Interpretation von Lyrics resultiert nicht zuletzt aus der engen Verknüpfung von versprachlichter Erfahrung
und nonverbaler Textperformanz. Beim Singen und Hören ermöglicht die
Intermodalität der musikalisierten Sprache die Materialisierung des Selbst
durch den Einsatz des Körpers als Medium. Die körperzentrierten Inszenierungsstile der Popkultur prädestinieren Songtexte dazu, Texte als Lebenserfahrungen auszuweisen und evozieren bei RezipientInnen häufig die Erwartung
der Authentizität der dargestellten Sachverhalte und ihrer Inszenierung durch
die jeweilige Sängerin. Lyrics materialisieren nonverbale, leibliche Aspekte
der Sprache, die durch Gestik und Prosodie Eingang in die Performanz von
Songs halten. So finden sich unter den Songs von Laurie Anderson viele Beispiele, welche die Intermodalität der Sprache in der Integration von Gestik,
Intonation und sprachlicher Musikalität reflektieren. In ihrem berühmtesten Hit
„O Superman“ (1981) etwa arbeitet Anderson mit der Synchronisation von
Text, Geste und Schattenspiel und setzt eine Aufnahme ihres Atemtons in
einer elektronischen Endlosschleife als Rhythmuselement ein.
Die leibliche Kommunikation von und durch Songs wird spätestens seit der
Erfindung des Phonographen (1877) durch die technologischen Möglichkeiten
der musikalischen Produktion und Rezeption verändert (Macho: 2006; Young:
2006). Soundtechnologien verändern räumliche und zeitliche Bezugsraster und
skalieren damit die Beziehung von Erfahrung, Geschichte und Körper. Die
Aufzeichnung der Stimme wird seit jeher als Mnemotechnik gefasst, welche
die Vergänglichkeit der Person durch die Konservierung ihres akustischen
Selbst überwindet (vgl. Macho: 2006, 139). Doch die Kommunikation mit den
Stimmen der Toten, dies zeigt bereits die phonographische Schrift, hält SprecherIn und HörerIn in unheimlicher Distanz. So reflektiert Anderson in "O
Superman" durch den Einbau der legendär gewordenen Textsequenz eines
Anrufbeantworters „Hi / I’m not home right now / But if you want to leave a
message / just start talking at the sound of the tone“ auf die Veränderung sozialer Beziehungen durch die technische Reproduktion der Stimme.
Der kurze Exkurs in die Mediengeschichte der Autobiographie zeigt, dass
der Einsatz von Kommunikationstechniken und Apparaten von spezifischen
epistemischen und ideologischen Interpretationen des jeweiligen Mediums
begleitet wird. Unterscheidungen wie die Differenz von Mündlichkeit und
Schriftlichkeit stellen potente semantische Eckwerte im „Kulturprogramm“
von Mediengesellschaften dar, die Handlungen und Kommunikationen mit
medienspezifischen, soziokulturellen Bedeutungen versehen (Schmidt: 2000,
33f.). In der Sprache und ihren kategorialen Begriffssystemen wird die kognitive Autonomie der Einzelnen durch die Erfahrung eines gemeinsamen soziokulturellen Bezugsraums durchbrochen. Die Etablierung von wechselseitigen
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Erwartungen bzw. Konventionen über popkulturelle Rhetoriken, technologische Umsetzungen und musikalische Gestaltungsformen verschiedener SongGenres ermöglicht die kulturell kodierte Kommunikation individueller Erfahrung durch Lyrics. So ist Andersons performanceartige Inszenierung von „O
Superman“ ohne intertextuelle Verweise auf den amerikanischen Lebensstil
nicht denkbar, ein Aspekt, der im Jahre 2001 im Fahrwasser vom 9/11 prägnant in der Wiederaufführung des Songs im Rahmen einer Konzerttour Andersons erfahrbar wurde.1 Zeilen wie „here come the planes / they are American
planes“ und „so hold me in your arms / your petrochemical arms“ markierten
den Text als Lebenserfahrung der passionierten New Yorkerin Anderson, die
20 Jahre zuvor mit ihrem 8-Minuten-Hit in prophetischer Weise die USA als
militärisch-wirtschaftlichen Machtkomplex portraitiert hatte.
Middleton unterscheidet für die verschieden Erscheinungsweisen von Sprache in Pop Lyrics drei kommunikative Funktionen (Middleton: 1990, 224f.).
Sprache wird in Songs bevorzugt als expressives Mittel zur Darstellung von
Gefühlen und Stimmungen („affect / expression“) eingesetzt. Diese Funktion
wird in „O Superman“ in Andersons elegischem Singduktus des Refrains deutlich. Zweitens arbeiten Songs häufig mit der Auflösung der Sprache in purer
Musikalität, wodurch Sprache, wie etwa bei Andersons elektronischem Einsatz
ihres Atemtons, zur Klanggeste („sound / gesture“) gerinnt. Drittens werden in
Songs wie „O Superman“ aber auch stories erzählt, kurze Geschichten, die
sich der mündlichen Rede annähern („story / speech“). Andersons gesamtes
Oeuvre ist von solchen kurzen narrativen Sequenzen, in denen sie autobiographische Erlebnisse zu „sing-and-tell-stories“ (Howell: 1992, 10) ästhetisiert,
durchzogen. Der Einsatz von Sprache als Expression, Klanggeste und Narration weist den Prozess der musikalischen Selbstkonstitution als einen Vorgang
aus, der die schriftzentrierte Fiktion eines kohärenten in sich geschlossenen
Selbst überschreitet. Identität wird beim Singen und Hören von Texten auch
und gerade als flüchtige Performanz eines Ichs beobachtbar, das sowohl reflexive Selbstinszenierung und affektive Selbsterfahrung, konkrete Mitteilung
und diffuse Stimmungsvielfalt verwirklicht.
In der Vertonung von Texten wird deutlich, dass der Körper als Medium
immer zugleich Instrument und Vollzug ist. Songs basieren einerseits auf
handlungsorientierten Gestaltungsmöglichkeiten und Medienkompetenzen wie
Singtechniken, andererseits stellen sie flüchtige Ereignisse mit spezifischer
emotionaler Qualität dar (Moser: 2005, 8f.). Will man autobiographische
Songtexte in ihrer medialen Eigenart verstehen, müssen die jeweiligen Auswirkungen der kognitiven, technologischen und soziokulturellen Verkörperung
von Sprache auf die Darstellung von Selbstkonzepten und die Konstruktion
von Identitäten berücksichtigt werden.
1
Live in Town Hall, NY, September 19–20, 2001, Nonesuch Records 2002.
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1.2 Geschlecht, Erfahrung und popkulturelle Kommunikation
Entscheidend für das Verständnis der autobiographischen Komponente von
Pop Songs ist die Tatsache, dass die Verquickung von Erleben, Erinnern und
Erzählen sich bei der Selbstdarstellung durch den Einsatz nonverbaler, vorbegrifflicher Dimensionen der Sprache verändert. Das Selbst wird in Songtexten
auf unterschiedliche Weise und anhand verschiedener Technologien in Sprache umgesetzt. Es operiert in den Lyrics einerseits sowohl als Erzählinstanz als
auch als lyrisches Ich; andererseits ist es in der leiblichen und technologischen
Verkörperung des Textes durch die Performerin präsent. Die Transformation
der Lyrics durch Konzert-Aufführungen, Studioaufnahmen oder auf Musikvideos demonstriert, dass das Ich eines Stücks in immer neuen Formen realisiert
wird, ein Phänomen, dass etwa im Vergleich verschiedener Live- und Studioversionen einzelner Songs von Tori Amos und in PJ Harvey erfahrbar wird. In
Versionen von Stücken wie „Professional Widow“ (1996) auf CD und im
Konzert scheint es, als würden verschiedene medialisierte ‚Performer-Toris’
die Bühnen musikalischer Selbstdarstellung betreten. Amos vermutet, dass
diese Bandbreite von musikalischen Selbstkonstruktionen die autobiographische Identifikation mit Songs möglich macht: „So much of what you do in
songwriting is role-playing [...]. The songs give me the ability to live a thousand lives. That’s why people keep trying to connect real life with our songs“
(Amos / Powers: 2005, 144).
Abb. 1: Amos / Powers: 2005, 57
Individuelle Lebenserfahrungen werden in der Popmusik in Form einschlägiger Medienschemata wie Folkballaden, Rocksongs oder Rapnummern inszeniert, die soziale Erwartungen im Hinblick auf die Darstellungsweisen und den
Realitätsstatus des autobiographischen Selbst bündeln. Als Medienschemata
verallgemeinern unterschiedliche Songarten Erfahrungen mit Medienangebo-
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ten induktiv zu Gattungskonzepten und machen popmusikalische Stile, Erzählweisen und Referenzmodi erwartbar (vgl. Schmidt / Weischenberg: 1994).
Prägnant zeigen sich gattungsbezogene Erwartungen in der Unterscheidung
von Pop und Rock, deren Wertung direkt mit der Geschlechterdichotomie
einhergeht. In seiner medientheoretischen Analyse von Live-Performances
weist Auslander darauf hin, dass Rock seine Bedeutung in erste Linie in Abgrenzung von Pop erfährt. In der nostalgischen Referenz auf die Jugendkulturen der 1960er Jahre wird Rock mit Unmittelbarkeit und Direktheit assoziiert:
The ideological distinction between rock and pop is precisely the distinction between the authentic and the inauthentic, the sincere and the cynical, the genuinely
popular and the slickly commercial, the potentially resistant and the necessarily
co-opted, art and entertainment (Auslander: 1999, 69).
Rock, so will es das Klischee, bringt echte Erfahrungen jenseits der Kulturindustrie ungeschminkt auf die Bühne, eine Beschreibung, die Auslander aus der
Selbstdarstellung von PerformerInnen und aus dem Diskurs von MusikkritikerInnnen und KulturtheoretikerInnen ableitet. Bechdolf weist in diesem Zusammenhang auf die männliche Konnotation des implizierten Authentizitätsbegriffs hin. Pop wird im Gegensatz zur Authentizität des Rock als artifiziell
und trivial abgewertet und häufig mit weiblichen Performerinnen und ihrem
Publikum verknüpft (Bechdolf: 1996, 284; vgl. Whitely: 2000, 6). Entsprechend werden Frauen von dem Medium Stimme in dem Augenblick entkoppelt, in dem dieses für das Projekt der popkulturellen Revolte eingesetzt und,
ähnlich wie die Schrift in der Romantik, zum Medium männlicher Individualisierung wird.
Und tatsächlich ist die Geschichte der Rockkultur seit den 1950er Jahren die
Geschichte einer männlich dominierten Rebellion, ein Aufstand der ‚zornigen
jungen Männer’ gegen das väterliche Establishment der Nachkriegszeit. Analog zu den politischen Studentenbewegungen der 1968er basiert diese Revolte
konstitutiv auf der Beibehaltung und Festschreibung traditioneller Geschlechterstereotype. Auch in der Populärmusik ist die „Geschlechterdialektik der
Aufklärung“ (Maihofer: 1994, 240) bis heute am Werk. Whitely weist auf die
weitgehende Absenz weiblicher Vorbilder im Progressive Rock der 1960er
und 1970er Jahre hin und meint: „In particular, the counter culture’s emphasis
on fraternal individualism resulted in a conservatism which promoted the traditional role of women as mother / nurturer“ (Whitely: 2000, 10). Performerinnen werden immer wieder auf die Rolle von singer / songwriter beschränkt
und texten genrebedingt tendenziell narrative Lyrics, die autobiographische
Rezeptionen erfahren – wobei viele Lyrics wie etwa die von Tori Amos sich
durch eine spezifische Opazität auszeichnen. Innovationen wie die Entwicklung des DJ-Künstlers im Bereich der elektronischen Musik bleiben bis in die
Gegenwart von männlichen Performern dominiert, da Entscheidungspositionen
in der Musikindustrie von Männern besetzt werden (vgl. O’Brian: 2002). Erst
in den 1980er Jahren entwickelt sich mit den Geschlechtsüberschreitungen von
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Stars wie Madonna oder Annie Lennox ein neues Selbstbewusstsein. Björk
demontiert in einem Interview als erster „Post-Rock-Star“ (McDonnel) den
Rockmythos mit lapidarer Ironie:
Die amerikanische Rock’n’Roll-Industrie ist konservativer als der Verband der
isländischen Elektriker [...] Mein Vater ist Chef der Gewerkschaft, darum weiß
ich, dass man sich anpassen muss. Jedes verdammte Jahr kommen neue Teile auf
den Markt. Wenn du mal Elektriker gelernt hast, musst du Kurse besuchen, um
den Anschluss nicht zu verlieren. Und das macht jeder auf der Welt so – außer
der amerikanischen Rock’n’Roll-Industrie. Die tragen einfach weiter ihre Jeans
und ihre schwarzen Motorrad-Lederjacken und hören sich Gitarrensoli an
(McDonnel: 2002, 47).
Die Entwicklung des Punk, unter dessen Flagge die vierzehnjährige Björk
1979 die Mädchenband Spit & Snot gründete, öffnete Frauen aufgrund seiner
provisorischen Instrumentierung eine vom Klischee männlicher Genialität
affizierte Rockkultur, eine Entwicklung, die in den 1990er Jahren im Riot
Grrrl-Movement resultierte (vgl. Baldauf / Weingartner: 1998). Ohne weiter
im Detail auf die Geschichte weiblicher Musikproduktion einzugehen, bleibt
festzuhalten, dass die Selbstdarstellung von Frauen durch Pop Lyrics sich an
der Geschlechtergeschichte der Popmusik abarbeitet und ihren Niederschlag
sowohl in den Texten wie in der Performanz von Songs findet. Das weibliche
Selbst konstituiert sich, nolens volens, auch in der popmusikalischen Kommunikation in Relation, Abgrenzung und Überschreitung seiner kulturellen Einordnung in die Ordnung der Geschlechter.
Diese Einordnung ist, das haben die Genderdebatten und Analysen der
1990er Jahre eindrucksvoll demonstriert, immer schon Maskerade und Rollenspiel. Gerade im Bereich der Popkultur wird die soziale Performanz des Geschlechts zur kulturellen Performance, werden Geschlechterrollen aufgeführt
und subvertiert. Weibliche Subjektivität erscheint damit in einer Vielfalt medialer Verkörperungen. Dabei spielen Faktizitätsanspruch und Fiktionalisierungsstrategien in je spezifischer Weise zusammen. Lyrics werden einerseits
im Rockdiskurs in ihrer Funktion als affektiver Ausdruck, Klanggeste und
narrative Rede als authentische Lebenserfahrung der Sängerinnen interpretiert.
Die Erwartung, dass Songtexte autobiographisch sind, zeigt sich in der leiblichen Inszenierung der Lyrics ebenso wie in der soziokulturellen Star-Identität
der Performerinnen (Middleton: 2000, 38). Andererseits ist diese Verkörperung immer bereits geschlechtlich bestimmt und konstituiert sich damit als
kulturelle Inszenierung männlicher und weiblicher Körper und ihrer Handlungsradien. Die Differenz von erzähltem und erzählendem Ich bei der ästhetisierten Performanz des Geschlechts wird durch die reflexive Beobachtung
medialer Verkörperung in den Dimensionen des kognitiven, technologischen
und soziokulturellen Embodiment greifbar.
Auslander unterscheidet im Anschluss an Frith drei Dimensionen des Selbst
von Pop-PerformerInnen: die empirische bzw. reale Person („real person“);
ihre Star Persona („star persona“); und schließlich die Verkörperung verschie-
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dener Figuren im Songtext („character“) (Auslander: 2004, 6f.). Da diese drei
Dimensionen im Normalfall in der Performanz eines Songs zusammenfallen,
ist die Konstruktion des autobiographischen Selbst in der Popmusik gleichermaßen naheliegend wie komplex:
Both the line between real person and performance persona and the line between
persona and character may be blurry and indistinct, especially in the case of pop
music performers whose work is heavily autobiographical. Even in the absence
of overt autobiography, however, these relationships can be complex and ambiguous (Auslander: 2004, 7).
Die Unterscheidung zwischen realer Person, Star Persona und Songfiguren
lässt sich unschwer an den gewählten Performerinnen exemplifizieren. So
werden etwa im massenmedialen Diskurs zu PJ Harvey oder Tori Amos Details verhandelt, die sich auf empirische Fakten ihrer realen Person beziehen.
Bezeichnenderweise sind diese im Gegensatz zu männlichen Pop-Performern
weitaus häufiger durch einen Fokus auf den Körper gekennzeichnet. Häufig
wird in Musikkritiken und Interviews etwa auf PJ Harveys geringes Körpergewicht oder auf Tori Amos’ Fehlgeburten Bezug genommen.
Diese Bezugnahme formiert sich immer schon in Form von öffentlichen
Medialisierungen, welche die realen Personen der Sängerinnen als Star Personas adressieren. Die Beschreibung der ‚realen Personen’ ist von Fantasien und
Spekulationen durchzogen, die besonders auch in der öffentlichen Verhandlung sozialer Beziehungen deutlich wird. Als Stars bilden die Sängerinnen mit
Kollegen aus dem Musik- und Kunstgeschäft pressetaugliche Paarformationen,
PJ Harvey etwa mit dem australischen Rockpoeten Nick Cave, Laurie Anderson mit der Popikone Lou Reed und Björk mit dem renommierten Künstler
Matthew Barney. Häufig wird die persönliche Privatheit auch musikalisch
inszeniert, so etwa in PJ Harveys legendärem Duett mit Nick Cave „Henry
Lee“ (1996) oder in Andersons Song „In Our Sleep“ (1994), in dem Lou Reed
die zweite Stimme singt und Gitarre spielt. Liebesbeziehungen werden also
meist öffentlich inszeniert, was nicht selten zur autobiographischen Interpretation von Songs führt. So schreibt etwa der Musikkritiker Ian Gittins zu Björks
Song „Hidden Place“ (2001) aus dem Album Vespertine:
'Durch den Ton wärmster Sorge / erreicht mich deine Liebe' haucht Björk am Anfang des Songs. Mit genau diesem Satz widmete sie Vespertine im Covertext
ihrem neuen Lover Matthew Barney in Manhattan. Sofort erkennt man, dass es in
'Hidden Place' um eine aufkeimende Beziehung geht, eine Liebe, die noch zu
schüchtern ist, sich so zu nennen (Gittins: 2003, 118).
Through the warmthest
Cord of care
Your love was sent to me
I’m not sure
What to do with it
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Or where to put it
I'm so close to tears
And so close to
Simply calling you up
I'm simply suggesting
We go to the hidden place
That we go to the hidden place
We go to the hidden place
We go to a hidden place
Now I have
Been slightly shy
And I can smell a pinch of hope
To almost have allowed once fingers
To stroke
The fingers I was given to touch with
But careful, careful
There lies my passion, hidden
There lies my love
I'll hide it under a blanket
I’ll keep it in a hidden place
I’ll keep it in a hidden place
Keep it in a hidden place
Keep it in a hidden place
He’s the beautifullest
Fragilest
Still strong
Dark and divine
And the littleness of his movements
Hides himself
He invents a charm that makes him invisible
Hides in the air
Can I hide there too?
Hide in the air of him
Seek solace
Sanctuary
In the hidden place
In a hidden place
In a hidden place
We’ll stay in a hidden place
Ooohh in a hidden place
We’ll live in a hidden place
We’ll be in a hidden place
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Lull it to sleep
Abb. 2: Björks „Hidden Place“ (2001), Videostills,, Regie: Inez van Lamsweerde & Vindoodh
Matadin
Dass Björk selbst kaum öffentlich über ihre privaten Beziehungen spricht und
die Künstlerin Inez van Lamsweerde für die audiovisuelle Inszenierung des
Songs einen surreal anmutendenden Musikclip kreiert, geht bei dieser realistischen Les- bzw. Hörart verloren. Lamsweerde setzt die Intimität des Songs in
extremen Close ups um und tastet mit der Kamera Björks Gesicht ab (Abb. 2).
Die Grenzen zwischen Privatheit und sozialem Außenraum werden in dem
Video in einer selbstbezüglichen Rückkopplungsschleife zwischen intimem
Innenraum und öffentlicher Körperoberfläche visualisiert: eine quecksilberartige Tränenflüssigkeit fließt aus Björks Augen und dringt durch die Körperöffnungen ihres Gesichts – Augen und Mund – zurück in sie ein.
Im Gegensatz zu den faktischen Inszenierungen in der Tagespresse basiert
die Darstellung der eigenen Person als „character“ entsprechend auf mimetischen Prozessen, die den Medienschemata der darstellenden Künste immer
schon immanent sind. Tori Amos etwa arbeitet häufig mit der künstlerischen
Fiktionalisierung ihrer Person, ein Zugang zur Identitätsproblematik, den sie
mit einer Auffächerung ihres Starimages in unzählige Facetten auf dem Album
Strange Little Girls (2001) auf die Spitze treibt. In 12 Coverversionen verleiht
sie dort Figuren aus den Songs männlicher Kollegen ihre Stimme und interpretiert sie durch spezifische Intonationen um. Im Booklet der CD inszeniert sich
Amos in verschiedenen Kostümierungen und das Album wird mit wechselnden
Titelbildern vertrieben.2 Sie selbst kommentiert diese Verbindung von Selbst
und musikalischer Inszenierung, ganz im Sinne von McLuhans Medienbegriff
(McLuhan: 1997/64), als „Erweiterung“ ihrer Person: „[...] you are constantly
gathering details for characters that could be an extension of yourself“ (Amos /
Powers: 2005, 129).
Die Lage des autobiographischen Selbst in der Popmusik gestaltet sich also
komplex. Das Ich von Songs formiert sich in der Beziehung von Fremd- und
2
Eine Galerie der verschiedenen CD-Cover von Strange Little Girls findet sich auf
http://www.yessaid.com/slggallery.html
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Selbstbeobachtungen im Rahmen der popkulturellen Kommunikation. Weibliche Identitäten resultieren aus einem vieldimensionalen Kommunikationsprozess, in dem sowohl aufseiten der Sängerinnen als auch aufseiten der HörerInnen und ZuschauerInnen kognitive, kommunikative und mediale Dimensionen
der Selbstdarstellung zusammenwirken. Sängerinnen inszenieren in ihren Texten neben Alltagserfahrungen und sprachlicher Leiblichkeit ihre Konstruktion
als Star Persona und fiktionale Songfiguren. Dabei müssen die Selbstwahrnehmung der Sängerinnen und deren Rezeption durch das jeweilige Publikum
keineswegs zur Deckung kommen. Amos bemerkt: „A strange set of coincidences can converge to bring your perception of you and other people's perception of you into a questioning state“ (Amos / Powers: 2005, 297).
Im Folgenden sollen am Beispiel einzelner Stücke mögliche Ausprägungen
der medialen Selbst-Verkörperung in den Dimensionen von Kognition und
Technologie vorgestellt und im Hinblick auf ihre soziokulturelle Interpretation
untersucht werden.
2. Kognitiv-leibliche Verkörperungen des Selbst
2.1 Selbst-Konstruktionen in der Songproduktion
Theorien zum kognitiven Embodiment öffnen den Blick für die Tatsache, dass
Sprache im Kern ein leibliches Phänomen ist. 3 Der Körper tritt durch die
Stimme in die Sprache ein, aber auch durch die Koordination von auditiven
und kinästhetischen Mustern, von Prosodie, Rhythmus und Körperbewegung.
Diese intermodale Koordination von Sinneserfahrungen wird gerade im Pop
Song durch die gestischen Dimensionen des Singens und Sprechens deutlich.
In ihrem Stück „White Lily“ (1986) etwa reflektiert Laurie Anderson durch
die Verknüpfung von Sprache, Bild und gestischer Körperbewegung auf die
Intermodalität sprachlicher Erfahrung (Abb. 3). In einem kurzen autobiographischen Text integriert sie sinnlich-materielle und begriffliche Dimensionen
der Sprache und vermittelt dadurch die hybride Natur sprachlicher Referenz.
Andersons leise und prononcierte Rezitation des Textes verwirklicht das sprechende Ich in rhythmischen Klang- und Körpergesten und situiert es in einem
Geflecht von selbstreferenziellen ikonischen Beziehungen: Anderson ahmt mit
der Prosodie ihrer Stimme die Dynamik der elektronischen Melodie nach und
verdoppelt ihre Körperbewegung durch einen Schatten und eine Computeranimation. Gleichzeitig verweist sie in der Anspielung auf Rainer Werner
Fassbinders Verfilmung von Döblins Montageroman „Berlin Alexanderplatz“
auf die kulturellen Diskurse, in denen diese ikonischen Prozesse symbolische
Bedeutung erlangen. Erinnerung, so wird in der musikalischen Performance
von „White Lily“ in der Zeitspanne von 76 Sekunden erfahrbar, ist die fragile
3
Zum Begriff des kognitiven Embodiment vgl. Varela / Thompson / Rosch: 1991, Ziemke:
2003 sowie die interdisziplinären Beiträge in Weiss / Fern Haber: 1999.
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Konstruktion eines Selbst an den Schnittstellen von sinnlicher Wahrnehmung,
situierter Zeichenperformanz und kultureller Konstruktion.4
What Fassbinder film is it?
The one-armed man
Comes into the flower shop and says:
What flower expresses
Days go by
And they just keep going by endlessly
Pulling you
Into the future?
Days go by
Endlessly
endlessly pulling you
Into the future.
And the florist says:
White Lily.
Abb. 3: Anderson: 1994, 220
Andersons Sprachpraxis an den Schnittstellen von künstlerischer Performance
und Song illustriert, dass die Stimme im Rahmen von Pop Performances auf
einem Kontinuum von Rede, Rezitation und Gesang operiert. So spricht beispielsweise auch Tori Amos häufig in ihren Konzerten ihr Publikum direkt an
und leitet Songs durch die Erzählung persönlicher Anekdoten ein. Dieses Kontinuum von Sprechen und Singen schafft einen musikalischen Raum der
Selbstdarstellung, der das singende Subjekt fragmentiert und von Performerinnen in vielfältiger Weise genutzt wird (Middleton: 2000, 38f.). Am anderen
Ende dieses stimmlichen Spektrums findet sich die Auflösung der begrifflichen Ebene in den Klanggesten extrem hoher Gesangsequenzen und in der
4
Zur detaillierten Analyse von „White Lily“ vgl. Moser: 2007.
198
Sibylle Moser
Transformation des Sprachmaterials durch Atmen, Stöhnen und Schreien.
Stilmittel wie die stimmliche Dehnung und die Melodisierung von Vokalen
interpretieren Texte musikalisch und schaffen dadurch Möglichkeiten affektgeladener Selbstdarstellung. Sie schlagen die Brücke zur vorsymbolischen Erfahrung der Sprache und münden in die Auslotung der emotionalen Wirkung von
Texten. In Acapella-Songs wie „Öll Birtan“ (2004) inszeniert Björk eine
Kunstsprache, die akustisch ihrer Muttersprache, dem Isländischen, erstaunlich
nahe kommt. Glossolalische Zeilen wie „hal / hal / hal / (tu tu)“ erinnern an
das zögernde Austarieren lautlicher Artikulation, die den frühkindlichen
Spracherwerb begleitet (Iverson / Thelen: 1999, 31f.) und die sich auch in der
Wiederholung von Silben, Lauten und Einwortsätzen in den Refrains vieler
Lyrics findet. Im rhythmischen Singen und beim Sprechen werden Atem und
Tonalität zu einem Strukturelement, das den Text mit der leiblichen Spur des
Sprachvollzugs versieht.
Abb. 4: Blandfort: 2004, 124
Die Physiologie des Gesangs bindet die sprachliche Artikulation damit an die
Leiblichkeit von Atmung, Muskelanspannung und Körperbeherrschung (vgl.
Sundberg: 2000) und kennzeichnet das Selbst als Schwellenphänomen an der
Grenze von konkreter Körpererfahrung und begrifflicher Abstraktion. Die
Errichtung sprachbasierter Klangräume dehnt die eigene Identität in den sozialen Raum und zeigt, dass Identitäten an den Rändern von Innen- und Außenwelten fluktuieren, dass die sprachliche Artikulation subjektiver Wirklichkeitserfahrung durch die Fremdwahrnehmung der sozialen Anderen gebrochen
wird. So konturiert etwa Amos in einer Live-Version von „Professional Widow“ (1996) mit der enormen Bandbreite ihres Stimmspektrums die emotiona-
Dem Ich Stimmen geben
199
len Untiefen sozialer Rollenzuschreibungen und PJ Harvey mimt in „Kamikaze“ (2000) mit eskalierender Stimme den Selbstmordpiloten, der das lyrische
Ich jagt: „Kamikaze – you can’t touch me – Kamikaze!“ Im Rückgriff auf die
brachialen Singstile des ‚Cock-Rock’ gelingt es Harvey, Weiblichkeitskonstruktionen der Popkultur durch eine männlich konnotierte Bühnenpräsenz
aufzubrechen. Während sie die großen Authentizitätsgesten des Rock’n Roll
wählt und mit weiblicher Erotik durchdringt, wird ihre Selbstinszenierung als
Rockband „PJ Harvey“ durch die Tatsache, dass diese Subjektposition traditionellerweise Männern vorbehalten war, gebrochen. In einem Remake von
„Satisfaction“, das Harvey und Björk 1994 bei der Verleihung der Brit Awards
zum Besten gaben, wird die ironische Brechung des Rockgestus reflexiv. Die
beiden singen den Hit der Rolling Stones beinahe bewegungslos und verzichten völlig auf die Begleitung durch Schlagzeug und kreischende E-Gitarren.
Die berühmte Zeile des Refrains „I can't get no satisfaction“ erfährt durch das
signifikante Zusammenspiel der Stimmen von Björk und Harvey eine weiblich
konnotierte Erotisierung, welche die hysterische Performanz von Mick Jagger
durch die subtile Polyphonie der beiden Performerinnen konterkariert.5
In der erotischen Dimension der Produktion und Rezeption von Songs manifestiert sich wohl am deutlichsten die Verquickung von Rock, Authentizität
und Geschlechterwirklichkeit. Im traditionellen Spannungsfeld der Unterscheidung von Rockkultur und klassischer Musik wiederholt sich die abendländische Trennung von Körper und Geist, von körperlicher Entgrenzung und
Selbstdisziplin. In Genres wie R ‚n’ B und Soul wird die Erwartung, dass die
Partizipation an der Rockkultur ungezügelte Sexualität verspricht, mit dem
ethnischen Stereotyp, dass Schwarze körperbetonter seien, fortgeschrieben
(Frith: 1996, 123f.). Auch innerhalb solcher genrespezifischen Bestimmungen
unterscheidet sich die Repräsentation weiblicher Sexualität in vielen Fällen
von der männlichen Selbstdarstellung erotischen Begehrens. Genres wie Hard
Rock, Heavy Metal oder Rap sind mit Klischees harter Männlichkeit behaftet,
während Pop-Performerinnen bis heute häufig als Begehrensobjekte inszeniert
werden. Weibliche Performance-Körper bewegen sich in einem Minenfeld von
kulturellen Erwartungen und Genrekonventionen, zu denen jede Sängerin
jeweils im Rahmen ihrer genrespezifischen Selbstinszenierung Stellung bezieht. So figurieren Andersons Selbstinszenierungen als androgyne „MultiMediatrix“ (McCorduck: 1994), die Anfang der 1980er Jahre im Fahrwasser
der New Yorker Performance Art entstanden, als bewusste Überschreitung
stereotyper weiblicher Körperkodierung.
Frith grenzt sich vom traditionellen Körper-Geist-Dualismus der Musikbetrachtung ab und betont den allgemein sexuellen Charakter von Musik, eine
Einschätzung, die in vielen Selbstaussagen von Björk, Tori Amos und PJ Harvey bestätigt wird. Harvey meint programmatisch „Music for me is a very
sexual thing, it’s very physical. It affects your whole body, not just your ears
5
Zur Live-Performance der legendären „Satisfaction“-Version: www.youtube.com.
200
Sibylle Moser
and your head, it operates your bowels, your legs, everything“ (Blandford:
2004, 91). Dabei sind explizit erotische Inhalte nur eine Spielart der fundamentalen leiblichen Involviertheit musikalischer Kommmunikation. Es ist die
Selbstvergewisserung durch die Erfahrung von Gegenwart und Präsenz, die für
die erotische Intensität musikalischen Erlebens verantwortlich zeichnet: „In the
end, music is ‚sexy’ not because it makes us move, but because (through movement) it makes us feel; makes us feel (like sex itself) intensely present“
(Frith: 1996, 144). Die erotische Dimension sprachlicher Selbstdarstellung in
der Musik resultiert aus der Möglichkeit, Zeit rhythmisch zu strukturieren und
zu erfahren, also genau jene epistemische Dimension der eigenen Identität zu
materialisieren, die für die autobiographische Konstruktion von Selbstkonzepten zentral ist.
2.2 Selbst-Konstruktionen in der Songrezeption
Die Schwebe zwischen der Materialität der Stimme und der konzeptuellen
Bedeutung von Songtexten findet ihre Entsprechung in den Rezeptionsweisen
von HörerInnen und ZuschauerInnen. Auch in der Songrezeption changiert die
Textverarbeitung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und symbolischer Interpretation (Moser: 2005, 141). HörerInnen geben sich einerseits völlig der musikalischen Auflösung der Sprache durch die Stimme hin, was sich in der Tatsache zeigt, dass Lyrics häufig falsch, fragmentiert oder überhaupt nicht gehört
werden (vgl. Ballard / Dodson /Bazzini: 1999; Frith: 1996, 164). Ergebnisse
einer qualitativen Rezeptionsstudie zu Andersons Stück „Kokoku“ (1986)
dokumentieren die Art und Weise, wie die Stimme als „Schwellenphänomen“
in der Wahrnehmung operiert. So formuliert etwa Martha, eine Künstlerin aus
Toronto, in einem Interview die Phänomenologie ihrer Hörerfahrung folgendermaßen:
[…] Hearing the meaning of the words was a little bit difficult, so again it wasn’t
like I was just listening to what she was saying with the music as the background,
I found my mind focusing more on the background and then a word would float
up and I would say, oh, well that’s an interesting line, you know so, I guess I
didn’t, I wasn’t listening to the song in terms of listening to the text of the song, I
was just listening to the song not so much through time, like from beginning to
end, but just, more like a space that you’re in, so you enter the space at the beginning of the song and you leave the space at the end of the song, but then
you’re just kind of in it, not so much of a journey, I guess (Moser: 2005, 114).
Songs werden in vielen Fällen als akustischer Hintergrund wahrgenommen,
der sich mit den Soundscapes des Alltags überblendet und verbale Bedeutungen in Fragmenten durch Töne und Rhythmen hindurch hörbar macht. Die
Ausblendung und/oder Fragmentierung von Lyrics bedeutet jedoch keineswegs, dass diese irrelevant sind. Im Gegenteil, musikalische und nonverbale
Qualitäten von Songtexten berühren HörerInnen emotional und können sie
dazu veranlassen, auf prägnante Textzeilen bzw. „vocal hooks“ (Middleton:
Dem Ich Stimmen geben
201
2000, 29) wie PJ Harveys exhaltierte Alliteration „Lick my Legs / I am on Fire
/ Lick my Legs / of Desire“ in „Rid of Me“ (1993) zu fokussieren und / oder
die Lyrics in Booklets oder im Internet nachzulesen. Wenn HörerInnen mit
einem Song vertraut sind und einen persönlichen Bezug zu ihm herstellen,
stellt die musikalische Erfahrung des Textes den intermodalen Erfahrungsraum
für potenzielle Bedeutungskonstruktionen dar.
Das Ich der Performerin bzw. der Lyrics kann dabei mehr oder weniger bewusst wahrgenommen und in verschiedenen Rezeptionssituationen von den
HörerInnen aktualisiert werden. Die autobiographische Identifikation mit der
jeweiligen Sängerin bzw. ihren Texten basiert auf medialen Prozessen, die
situationsspezifische kognitive und kommunikative Funktionen für die HörerInnen erfüllen und durch unterschiedliche Hörweisen aktualisiert werden.
Musiksoziologische und medienpsychologische Studien weisen darauf hin,
dass Musikhören eine potente „Technologie des Selbst“ (DeNora: 1999) ist,
die zur Handhabung von Emotionen, zur Regulation der persönlichen Energie
und bei der Identitäts- und Erinnerungsarbeit eingesetzt wird. Schramm untersucht als eine der wichtigsten Funktionen des Musikhörens das „MoodManagement“. Demnach scheinen viele Menschen ihre Stimmungen gezielt
mithilfe von Musik zu kontrollieren, etwa indem sie Traurigkeit oder Euphorie
bewusst durch die Auswahl eines Lieblingssongs verstärken oder konterkarieren: „Respondents make, in other words, articulations between musical works,
styles and materials on the one hand, and modes of agency on the other such
that music is to cast an aspired state“ (DeNora: 1999, 38).
Das Selbstbild, das Performerinnen ihren Fans vermitteln, ist in der Rezeption deshalb ebenso gebrochen wie in der Produktion. Es oszilliert zwischen
dem diffusen emotionalen Eintauchen in den Klangraum der Stimme und der
konkreten, oft literalen Identifikation mit der Performerin und ihrem Leben als
öffentliche Star Persona. So macht es etwa einen Unterschied, in welchem
Maß man jeweils eine involvierte oder eine analytische Haltung einem Song
gegenüber einnimmt (vgl. Schramm: 2005, 91f.). Hörerlebnisse können mehr
oder weniger den Körper einbeziehen, sie können dominant emotional oder
analytisch distanziert ablaufen. Beim Hören werden, ähnlich wie beim Fernsehen, parasoziale Beziehungen mit den durch die Stimme vermittelten Figuren
hergestellt. So fungieren die Selbstentwürfe von Sängerinnen als Rollenvorbilder und Identifikationsangebote für ihre Fans. Andererseits können RezipientInnen Selbstinszenierungen anhand verschiedener Signale als faktisch oder
fiktional einordnen und sie im Hinblick auf ihre Authentizität reflektieren.
Schramm betont im Anschluss an eine Reihe von AutorInnen, dass die Integration verschiedener, also affektiver und reflexiver, Hörweisen während eines
Hörerlebnisses die wahrscheinlichste Spielart der Musikrezeption ist.
Hörweisen variieren vermutlich auch mit dem jeweiligen popmusikalischen
Genre und seinem jeweiligen stilistischen Einsatz von Sprache. Als Medienschemata forcieren Song-Genres Erwartungen im Hinblick auf die Verarbei-
202
Sibylle Moser
tung von Songtexten. Der „Art Rock“ bzw. „Performance Pop“6 Laurie Andersons evoziert distanziertere, sprachzentrierte Hörweisen als etwa PJ Harveys
rockige Blues-Nummern. Björks frühe Dancefloor-Nummern werden vermutlich weniger auf ihre Lyrics hin rezipiert als die elegischen Balladen von Tori
Amos. In Experteninterviews zu Andersons „Kokoku“ weisen Kulturschaffende beispielsweise darauf hin, dass sie von Folk- und Protestsongs eher eine
denonative Botschaft kritischen Inhalts erwarten als etwa von Pop Songs aus
der Hitparade (Moser: 2005, 138). Diese Hinweise verdeutlichen, dass Medienschemata das Wissen davon bündeln, auf welche Weise in Songs Identitäten kommuniziert werden. Dabei handelt es sich keineswegs um fixe Strukturmerkmale, sondern um dynamische Prozesse kultureller Verhandlung. Auffassungen von popkulturellen Song-Genres können jeweils durch ästhetische
Verfahren verfremdet und neu kodiert werden. Die Infragestellung der Rockideologie durch Glamour Rock und Disco oder die Explosion elektronischer
Genres geben Anlass zur Vermutung, dass die Erwartung von Authentizität
auch im Rock tendenziell abnimmt.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es nur wenige empirische Rezeptionsforschungen zum Hören von Songs gibt und noch weniger zur intermodalen Verarbeitung von Selbst-Konstruktionen in Lyrics. Fragwürdig erscheint vor dem
Hintergrund dieser mageren Datenlage die Annahme, dass das Hören von
Popmusik notwendig körperlicher abläuft als das Hören von klassischer Musik, oder dass Frauen die besseren (Zu-)Hörerinnen seien, ein weitreichendes
Genderstereotyp, das Kerckhove in Rückgriff auf McLuhans Kontrastierung
von oraler und literaler Kultur auf der Basis einer einzigen psychologischen
Studie, die Anfang der 1980er Jahre durchgeführt wurde, konstruiert (Kerckhove: 1995, 115).
3. Technologische Verkörperungen des Selbst
3.1 Technologien der Stimmperformanz
Die Differenz von erlebtem und erzähltem Leben, die für jede autobiographische Selbstdarstellung konstitutiv ist, wird in der Popkultur in den verschiedenen Aufzeichnungspraktiken evident. Anderson bemerkte zu einer ihrer ersten
autobiographisch inszenierten Performances programmatisch: „The worst part
about it is that now I find I don't have one past but two – there’s what happened, and there’s what I said and wrote what happened. This can get confusing“ (Goldberg: 1976, 21). Jeder Akt symbolischer Selbstdarstellung unterscheidet die Wirklichkeit in die gelebte Erfahrung und die mediale Darstellung
6
So zwei der 24 Genrebezeichnungen, die meine InterviewpartnerInnen Laurie Andersons
Songs zuschrieben (Moser: 2005, 129).
Dem Ich Stimmen geben
203
des Selbst. 7 Die Rockideologie will es, dass man Live-Aufzeichnungen mit
Unmittelbarkeit assoziiert. Sie ist damit einem Realismus verhaftet, der Technologie im Gegensatz zu ‚natürlicher Authentizität’ definiert und medienepistemologisch naiv bleibt. Die Ausführungen zum kognitiven Embodiment verdeutlichen, dass semiotische Bedeutung im Allgemeinen und sprachliche im
Besonderen immer bereits durch den Körper als Medium des Lebens- und
Sprachvollzugs vermittelt ist. Im Rahmen konstruktivistischer Medienmodelle
erscheinen Kommunikationstechnologien nicht als Prothesen, die den Körper
als verobjektivierten Gegenstand erweitern, sondern als dynamische Ausweitung der strukturellen Kopplung von kognitiv-leiblichem Embodiment und
soziokultureller Umwelt. Soundtechnologien weiten in diesem Sinn die Möglichkeiten sprachlicher Artikulation aus und schaffen neue Erfahrungs- und
Kommunikationsräume.
So öffnet die Aufzeichnung ihrer Stimme Sängerinnen die Möglichkeit, das
Selbst in verschiedene Melodien und Tonhöhen aufzuspalten und damit eine
akustische Vervielfältigung ihrer ästhetischen Identitätskonstruktion zu erreichen. PJ Harvey erzielt auf ihrem Album Uh Huh Her (2004) mit dieser Technik eine Verdichtung ihrer Sprechpositionen, etwa bei Songs wie „It’s You“
und „The Slow Drug“. Die Verteilung ihrer Stimme auf verschiedene Tonspuren in „It’s You“ fächert PJ Harveys zentrales Thema, die Spielarten sexuellen
Begehrens, in verschiedene tonale Nuancen auf und materialisiert ihre ambivalente Natur durch die simultane Performanz des Textes in einer hohen, klaren
und einer dumpfen, dunklen Tonlage. Zeilen wie „Oh dearest young man /
teach me sweetheart / how to love you / I am a clever girl“ erhalten nicht zuletzt dadurch einen ironischen Unterton, dass die tiefe dumpfe Stimme des
lyrischen Ich die hohe sehnsüchtige zu kommentieren scheint.
Björk weitet mithilfe der technologischen Reproduktion ihr Ich zu wahren
‚Stimmorgien’ aus und spaltet es, etwa in ihrem Liebeslied „Pagan Poetry“
(2001), in eine erste und eine dritte Person:
Als der wirbelnde Techno-Sturm verebbt, gesteht sie der Welt ihre Liebe und
Leidenschaft unverblümt: ‚I love him, I love him, I love him’ [...] Wie zur Verteidigung wiederholt ein Chor gesampleter Björks ihre Zuneigung: ‚She loves
him, she loves him, she loves him’ (Gittins: 2003, 122).
Neben der musikalischen Bearbeitung der Stimme situieren Aufnahmetechniken das Ich eines Textes in einem medial definierten Koordinatensystem und
schaffen dadurch spezifische Raumerfahrungen. Legendär ist dabei Björks
Dancefloor-Nummer „There is more to life than this“ (1993), in dem eine
Refrainsequenz in einer öffentlichen Toilette aufgenommen wurde und den
hybriden Charakter dieses Raums an der Grenze zwischen Öffentlichkeit und
Privatheit für die Atmosphäre des Songs nutzt. Häufig werden Stimmen im
Studio zu solcher Klarheit perfektioniert, dass sie fokussierter wahrnehmbar
7
Am deutlichsten formuliert Anderson diese Einsicht wohl in ihrem berühmten Song „No
Pilot“ (1982) mit der Liedzeile: „This is the time / And this is the record of the time“.
204
Sibylle Moser
sind als im Alltag. Gittins zitiert eine Kritik des Musikmagazins Rolling Stone
zu Björks „An Echo, A Stain“ (2001): „Björks Schreie und Schnurren werden
mit so hallender Klarheit verstärkt, dass sie sogar in der Melodie zu atmen
scheint“ (Gittins: 2003, 123). Deutlich wird die Macht des Mikrofons aber
auch bei Acapella-Stücken, die gerade im Kontrast zu aufwändig arrangierten
Stücken ihre Wirkung entfalten. So rechnet Tori Amos mit ihrem in der Musikgeschichte einzigartigen Debut-Song „Me and a Gun“ (1991) mit ihrem
Vergewaltiger ab, indem sie ihn mit ihrer technisch ‚ungeschminkten’ Stimme
penetriert: „It was me and gun and a man on my back / but I haven’t seen Barbados so I must get out of this“.
Soundtechnologien können, nicht zuletzt durch die digitale ‚Bereinigung’
von Nebengeräuschen, die Stimme in den Vordergrund rücken, oder aber die
Figuren von Lyrics durch Soundeffekte wie Echos, Verzerrungen und Nachhalleffekte mit Raumdimensionen versehen, die spezifische Bedeutungspotenziale, wie die Vermittlung von Aggression verwirklichen (Vgl. Lacasse: 2000).
Mit der technologischen Implementierung wird die mediale Konstruiertheit des
singenden Ichs also sowohl invisibilisiert – etwa durch die Evokation von
Direktheit und Intimität durch eine erhöhte Klangqualität – als auch reflektiert,
beispielsweise aufgrund der Illusionsbrechung durch die Dramatisierung der
Stimme mit Klangeffekten.
3.2 Technologien des Hörens
Auch Hörweisen werden ähnlich wie die Produktion von Songs entlang der
Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie mithilfe der Differenz von Live-Performance versus Aufzeichnung beobachtet. Trotz der Auffassung, dass Live-Musik ein intensiveres Hörerlebnis garantiert – eine Vorstellung, die teilweise medienpsychologisch bestätigt und von RezipientInnen
auch im Hinblick auf Popmusik häufig formuliert wird – wird das Gros musikalischer Medienangebote über Tonträger und Radio rezipiert und bestimmt
damit „den größten Teil des täglichen Musikkonsums von zurzeit circa vier bis
fünf Stunden eines durchschnittlichen Erwachsenen“ (Schramm: 2005, 12).
Dabei hören vor allem Jugendliche CDs oder Platten, während mit steigendem
Alter der Radiokonsum zunimmt. CD-Sammlungen sind Identitätsmarker, die
ihre BesitzerInnen als TeilnehmerInnen von Jugendkulturen ausweisen und
Songs über soziokulturelle Diskurse mit einer Vielzahl anderer Medien wie
Homepages, Musikzeitschriften, Wikis oder Diskussionsforen verknüpfen.
Während das Hörerlebnis zumeist individuell bleibt, ermöglicht die digitale
Medienkonvergenz den einfachen Austausch von Musik und unterstützt die
Etablierung kollektiver Hörweisen und Interpretationen.
Die Songrezeption ist deshalb an den Schnittstellen von Mündlichkeit,
Schriftlichkeit und Audiovisualität angesiedelt und durch den schnellen Wechsel von Medien und simultane Mediennutzungen geprägt. Diese intermediale
Praxis verstärkt die Tendenz, Songs mit autobiographischen Informationen zu
Dem Ich Stimmen geben
205
ihren Performerinnen zu verknüpfen, da sie schriftbasierte Medien mit dem
Hörerlebnis integriert. Während das Hören auch nonverbale Aspekte in die
Selbst-Konstruktion einbindet, ermöglicht zum Beispiel das Lesen von CDBooklets eine intensivere hermeneutische Auseinandersetzung mit den Lyrics
sowie die Recherche von Hintergrundinformationen zu biographischen Daten,
Bandbesetzungen oder Aufführungskontexten (vgl. Moser: 2005, 125). Berichte zu Sängerinnen laden zu Klatsch und Tratsch ein und geben Aufschluss über
die aktuellsten Entwicklungen ihrer Karriere. Die massenmediale Diskursivierung ausgewählter Lebensfragmente, wie Affären, Schicksalsschläge oder
Suchtprobleme öffnen den HörerInnen demnach vielfältige intermediale Möglichkeiten der autobiographischen Konstruktion, die ihre Hörerlebnisse und die
Interpretation von Lyrics mit Informationen zu den Performerinnen auf Homepages, im Fernsehen oder in Musikmagazinen integrieren. Der Aktualitätsanspruch von Massenmedien schürt den Eindruck, hautnah am Star zu sein und
seine bzw. ihre gelebte Gegenwart direkt mitzuerleben.
Komplementär zu diesen massenmedialen Konstruktionen ermöglichen
Soundtechnologien wie Walk- und Discman und der Siegeszug der Mp3Player es, die Identität von Performerinnen, die in der Rezeption von ihren
Fans konstruiert wird, in einen Raum zu überführen, der die Grenze zwischen
Privatheit und Öffentlichkeit neu verhandelt. Die Mobilisierung des Hörens
trägt die Intimität der Stimmen in den öffentlichen Raum und kontrolliert diesen durch die Abschirmung des eigenen Erlebens von der Außenwelt. Mobile
Soundtechnologien geben RezipientInnen die Möglichkeit, in Eigenregie die
aufgezeichneten Stimmen in ihre Alltagsinszenierung zu integrieren. HörerInnen kontrollieren die Kontingenz des Alltags und bestimmen selbst, mit welchem Song sie welchen Tagesabschnitt oder welches aktuelle Ereignis begleiten wollen (vgl. Bull: 2001). Mp3-Player und ihre technischen Vorläufer ermöglichen damit eine Selbstbestimmung und Kontrolle des Hörerlebnisses, die
an den Rezeptionsmodus des „stillen Lesens“ in der bürgerlichen Lektüre des
19. Jahrhunderts erinnert (vgl. Schön: 1987). Die Kopfhörer platzieren die
Stimmen direkt im Ohr der HörerIn und erweitern dadurch ihr Selbsterleben.
Ähnlich wie beim Gebrauch des Handys entspricht diese Ausdehnung des
leiblichen und soziokulturellen Raums einer „Kommunikation am Körper“
(Krämer: 2006, 273). Die Hörapparatur unterstützt die Evokation von Stimmungen und schaltet unerwünschte Faktoren der Umwelt akustisch aus oder
drängt sie in den Hintergrund. Sie bietet damit eine effiziente Form des
‚Selbst-Managements’.
Häufig operiert das mobile Hören auch als Erinnerungsmedium bzw. als
‚auditory mnemonic’ (Bull: 2001, 185) und begünstigt die Aktualisierung
intensiver Lebensmomente (DeNora: 1999, 45f.). Viele Walkman-UserInnen
speichern Songs systematisch auf mobilen Tonträgern und wählen sie gezielt
als akustischen Erlebnisraum und als Erinnerungsanlass. Die Verknüpfung von
Lebenssituationen mit musikalischen Medienangeboten hat damit eine neue
technologische Stufe erreicht. Die mobile technologische Verkörperung auto-
206
Sibylle Moser
biographischer Kommunikationen transzendiert Raum und Zeit und weist der
Selbstdarstellung der Performerin eine neue Rolle im Leben der HörerIn zu.
Die Mobilisierung von Erinnerungsanlässen wird zur Inszenierung einer neuen
Lebensgeschichte, in der die Stimme der Sängerin den Alltagshorizont der
RezipientIn durchdringt und ihre unmittelbare Gegenwart prägt. Die asymptotische Annäherung von Lebensaufzeichnung und Erleben kulminiert in der
Aktualität des Hörerlebnisses: Während die HörerIn dem Soundtrack ihres
Lebens lauscht transformieren sich die Stimmen des Songs in das Selbst ihrer
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