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TOBIAS LENARTZ / GERD MÖRSCH / IVEN PASCHMANNS
RATTUS NORVEGICUS – EIN BLICK IN
DIE SAMMLUNG DAHLMANN
HERAUSGEGEBEN VOM
LEOPOLD HOESCH MUSEUM DÜREN
2009
2
INHALT
Einleitung................................................ 04
Die Kunst der Provokation...................... 14
Tjorg Douglas Beer.................................. 26
Werner Büttner........................................ 28
Zhang Dali.............................................. 30
Michael Deistler....................................... 32
Georg Herold.......................................... 34
Paul McCarthy........................................ 36
Jonathan Meese....................................... 38
Bjarne Melgaard...................................... 40
Stephan Mörsch....................................... 42
Markus Oehlen........................................ 44
Thomas Rieck.......................................... 46
Oliver Ross.............................................. 48
Gerd Stange............................................. 50
Thomas Zipp........................................... 52
Marcuse und der Protest.......................... 54
Impressum............................................... 62
3
RATTUS NORVEGICUS – DIE SAMMLUNG DAHLMANN
zu Gast im Leopold-Hoesch-Museum
‚Die Aufklärung konnte das Böse nicht wegblenden. Wo viel Licht ist,
erhöht es einfach seine Wattzahl.‘ Veit Loers(1)
Warum ist eine Ausstellung mit dem Namen einer Rattenart betitelt
und wirbt für sich mit einem schlammbraunen DIN A4 Plakat in
dessen Mitte – gerahmt von den Namen der ausgestellten Künstler
in goldfarbenen Lettern – jenes Nagetier thront? Ratten sind eine
Plage, neben Spinnen der Inbegriff von Ekel und Hässlichkeit, lästige
Stammgäste in Mülltonnen und städtischen Grünanlagen. Auch das
Plakat erinnert eher an ein Punkrockfestival und die bluttriefende
Typographie scheint eine Hommage an Horrorfilmposter der 1950er
zu sein.(2) Hat etwa – um bei den Worten Veit Loers zu bleiben – das
Böse seine Finger im Spiel? Fangen wir am Anfang an.
DIE WANDERRATTE – ERFOLG IM SCHATTEN DER
ZIVILISATION
Die Wanderratte – lateinisch rattus norvegicus – stammt ursprünglich
aus Zentralasien und Nordchina. Sie hat sich wie die Hausratte als
Kulturfolger des Menschen in alle Welt ausgebreitet, doch erst ca.
1000 Jahre später als ihre Verwandte. Die ältesten Knochenfunde der
Wanderratte in Deutschland werden auf das 9. und 10. Jh. datiert.
Im 18. Jh. begann ihr bis heute andauernder Siegeszug im Schatten
des Menschen, der zur Verdrängung der Hausratte führte. Bedingt
durch die veränderte Lebensweise der Menschen – moderne Häuser
und Kanalisation – konnte sich die Wanderratte stark vermehren. In
weniger modernen Siedlungen ist ihre Verbreitung dagegen beschränkt.
So ist rattus norvegicus noch heute etwa in Afrika nur in Groß- und
Hafenstädten anzutreffen. Sie schwimmt sehr gut und findet in der
Kanalisation moderner Großstädte ideale Bedingungen vor. In den
Laboren der modernen Wissenschaft ist sie als klassisches Versuchstier
nicht mehr wegzudenken.(3) Auch aus diesem Grund ist sie dem
Labormediziner und Kunstliebhaber Nicolaus Dahlmann bestens
vertraut.
DER SAMMLER – DIE WILDEN SECHZIGER UND SIEBZIGER
JAHRE DES 20. JH.
Das ‚Sammeln beginnt, wenn man die Bilder nicht mehr in der
Wohnung aufhängen kann‘ definiert bescheiden der Sammler Nicolaus
Dahlmann. Ein dynamischer, hochgewachsener Mann in Turnschuhen,
dessen Alter erst an der Farbe der Haare erkennbar wird. Der aus Düren
stammende Professor wanderte bereits in seiner Jugend über Düsseldorf
und Bonn nach Hamburg aus. Die Hansestadt hat es ihm angetan und
(1) Veit Loers: Ritter Tod und Teufel, in Ausst. Kat.: Jonathan Meese, Deichtorhallen Hamburg, Verlag Walther König, Köln 2006.
(2) Ein schönes Beispiel für diese Gattung sind die Poster des Films ‚Monster on the Campus‘ von 1958, der in Deutschland unter dem Titel ‚Der
Schrecken schleicht durch die Nacht‘ zu sehen war. Zahlreiche Filmplakate zu diesem Thema findet man unter www.monstrula.de. Das Dürener
Ausstellungsplakat wurde von Tjork Douglas Beer gestaltet.
(3) Dass ausgerechnet die wegen der Übertragung von Krankheiten gefürcheteten Nager als Versuchstiere der modernen Labomedizin für die
Bekämpfung von Krankheiten eine zentrale Stellung einnehmen, zeugt von den dialektischen Wendungen der Historie.
(4) Der listige Titel der Arbeit von Breuste bietet interessante Parallelen zu anderen Kunstwerken in der Sammlung, etwa solche von Beer, Meese und
Deistler. Sprachwitz findet sich in vielen Werken der Sammlung.
4
nicht nur seinen rheinländischen Dialekt gefärbt. Auf die Frage, warum
er als Sammler nicht den klassischen Weg gehe und alte Meister oder
Werke der Klassischen Moderne kaufe, antwortet Dahlmann schlicht
und zugleich mit einem frechen Lachen, dass es einfach spannender sei
nach vorne, statt nach hinten zu sehen.
Dahlmanns Sammelleidenschaft wurde durch eine Collage von Joseph
Beuys geweckt. Das war im zuletzt durch zahlreiche Ausstellungen, Filme
und Publikationen ausführlich gewürdigten Jahr 1968, erinnert sich der
Labormediziner heute. Er habe die damaligen gesellschaftspolitischen
Diskussionen und Umbrüche aufgesogen wie ein Schwamm – so
Dahlmann – und war fasziniert von der künstlerischen Umsetzung
dieser Themen. 1970 folgte der Ankauf einer Arbeit von Hans-Jürgen
Breuste. Es handelt sich um ein Werk mit dem Titel ‚Crux Kreuz
Leid Kummer‘,(4) das die zu Beginn der 1970er Jahre zunehmend ins
kollektive Bewusstsein tretende Umweltverschmutzung thematisiert.
Die Arbeit fasziniert den Sammler aufgrund ihrer subtilen Ambivalenz
bis heute. Bereits aufgrund seiner Stofflichkeit – das Werk besteht aus
Materialien, die die letzten Glieder der Verwertungskette darstellen –
vermittelt es die politische Botschaft des Künstlers, betont Dahlmann.
Politisches Engagement und ein Interesse an philosophischen Themen
waren die entscheidenden Kriterien für sein Interesse und den
Abbildung:
Ausstellungsplakat rattus norvegicus (2006),
Entwurf und Realisierung Tjorg Douglas Beer
5
Kauf der ersten Werke. Hinzugekommen sind Witz, Humor und
kunsttheoretische Relevanz. Er schätzt die inspira­tive Kraft der Kunst
und spricht von persönlicher Faszination und inneren Grundmelodien,
die ihn – wenn sie von einem Kunstwerk angesprochen werden – zum
Kauf bewegen. Es waren vor allem kleine, dem Budget und der Größe
des Studentenzimmers entsprechende Kunstwerke, die Dahlmann
während seines Medizinstudiums erwarb. ‚Im Gegensatz zu heute
war das Wort Wertsteigerung damals noch verpönt‘, kommentiert er
lachend die heutige Kunstszene.(5) Doch in den 1970er Jahren ließen
Familiengründung und wissenschaftliche Karriere zunehmend weniger
Spielraum für die begonnene Sammelleidenschaft und das Verfolgen
aktueller Positionen. Hinzu kamen kommerzielle, oberflächliche
Tendenzen im Kunstmarkt, erklärt Dahlmann aus heutiger Perspektive
diese Atempause. Seit dem Ende der 1990er widmet er sich wieder
intensiv seinem Interesse an und dem Sammeln von zeitgenössischer
Kunst.
Freundschaften zu Künstlern, regelmäßige Ausstellungsbesuche und
Akademierundgänge entflammten die Sammelleidenschaft von neuem.
Auch der inzwischen historische Blick auf die Kunst der 1960er und
1970er Jahre – der in den zahlreichen großen Retrospektiven des
letzten Jahrzehnts ermöglicht wurde – hatte großen Einfluss, berichtet
der Sammler. Inzwischen zählt die Sammlung über 300 Werke und
Dahlmann möchte nach wie vor nicht bestimmte Künstler, sondern in
die Breite sammeln.
KAUFEN HEISST FÖRDERN, AUSSTELLEN AUCH – KUNST
DARF NICHT IM DEPOT SCHMOREN
Das Fördern junger, noch nicht in Kunstszene und -markt etablierter
Positionen bedeutet für Dahlmann – wieder eine Parallele zum
umtriebigen Nager, der für seine große, äußerst effiziente Sorge um
den Nachwuchs bekannt ist – neben dem Ankauf einzelner Arbeiten
vor allem das Präsentieren der Werke. Einerseits ermöglicht der
Sammler jungen Künstlern durch Ankauf und Präsentation ihrer
Werke den Einstieg in den Kunstmarkt, andererseits unterstützt er auch
ältere, weniger etablierte Positionen. Dahlmann beweist Treue durch
regelmäßige Ankäufe und deren Präsentation im Zusammenhang mit
den prominenten ‚Zugpferden‘ der Sammlung.
In diesem Sinne stellte Dahlmann zunächst regelmäßig Teile der
Sammlung an seinem Arbeitsplatz in Hamburg aus. Natürlich kann
man hier protestieren und fragen, ob ein solcher Ort wohl der richtige
(5) Im Sinne dieses Seitenhiebs auf die Kunstszene kann auch das in Düren ausgestellte Bild Georg Herolds ‚Ohne Titel‘ (Kaviarbild) von 1990
verstanden werden. Die 1980er Jahre waren durch eine ähnliche Spekulations- und Kauflust auf dem Kunstmarkt gekennzeichnet wie die heutige.
(6) Weitere Indizien für das idealistische Engagement des Sammlers sind kleine, bewusst ohne großes Aufsehen vollzogene Spenden für
Ausstellungsprojekte und Kunstpreise. Den nach der ersten Ausstellung in Hamburg benannten Meilenstein-Preis vergibt Dahlmann in Kooperation
mit dem Leopold-Hoesch-Museum regelmäßig an junge Künstler. Verbunden mit einer Einzelausstellung wurde er zuletzt 2008 an die in Berlin
lebende koreanische Künstlerin SEO verliehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: SEO – The cologne paintings.
(7) Ähnlich den staatlichen Zulagen für Wohnungsbau und -erwerb förderten die Peills ihre Arbeiter und Angestellten beim Kauf von Kunstwerken
durch Zuschüsse. Mehr Informationen hierzu findet man im Ausstellungskatalog der Günther-Peill-Stiftung (1993) in einem Beitrag von Thomas
Deecke (Günther und Carola Peill, S. 12f.). Das Ausstellen am Arbeitsplatz hat sich inzwischen längst zu einer vor allem bei großen Unternehmen weit
verbreiteten Strategie beim Umgang mit Sammlungen etabliert. Ein gutes Beispiel hierfür ist u. a. die 2006 in Düren einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich gemachte Sammlung der Provinzial Versicherungsanstalten Rheinprovinz. Eine ausführliche Dokumentation der Sammlung und des
Ausstellungskonzeptes findet sich unter www.provinzial-kunst.de.
6
sei. Doch versteht man die ersten Ausstellungsprojekte als das, was sie
Dahlmanns Verständnis von Förderung entsprechend sind – idealistisch
motivierte Schritte hin zu einer breiteren Öffentlichkeit – erscheint die
Frage obsolet. Man kann das Präsentieren am Arbeitplatz – ganz im
Gegenteil zur eher rhetorischen Frage nach der Seriosität einer solchen
Ausstellung – durchaus als demokratisch motiviertes Mäzenatentum
im Sinne der Beuysschen Erweiterung des Kunstbegriffs verstehen. Was
wiederum als ein Indiz für Dahlmanns ‚Aufsaugen‘ der Gedanken der
1968er-Bewegung gelesen werden kann.(6)
Ein historisches Vorbild für dieses Engagement findet sich in Düren.
Carola und Günther Peill versuchten, durch das Aus- und Vorstellen von
Kunstwerken am Arbeitsplatz, Angestellte und Arbeiter ihrer Fabriken
zur Auseinandersetzung mit und zum Kauf von Kunstwerken zu
bewegen.(7) Zugegeben, natürlich haben – prozentual gesehen – nur sehr
wenige Mitarbeiter trotz der finanziellen Anreize der Peills tatsächlich
ein Kunstwerk erworben. Doch der intendierte, positive Einfluss auf
die Gestaltung der Produkte der Firma und auch auf den geistigen
Horizont der in der Regel zum ersten Mal mit zeitgenössischer Kunst
konfrontierten Mitarbeiter darf nicht unterschätzt werden und bedarf
in diesem Sinne einer besonderen Würdigung. Zeitgenössische Kunst
ließ und lässt sich nach wie vor trotz fragwürdiger Preisexzesse auf dem
Abbildung:
Abbildung:
Ausschnitt aus: Claudia Liekam: Nicolaus (2002),
Sammlung Dahlmann.
Links:
7
Kunstmarkt schwer vermitteln. Von Rodins ‚Balzac‘(8) zu den Dadaisten
über Césars ‚Compressions‘(9) und Vostells ‚Ruhender Verkehr‘(10)
bis hin zu Kippenberger und Koons – wobei sich die Liste der Künstler
beliebig fortsetzen und früher ansetzen lässt – zeigt sich eine Diskrepanz
zwischen zeitgenössischer und historischer Kunstrezeption.
Besonders deutlich wird dies etwa an den heute heute kanonischen
und postertauglichen Impressionisten oder Expressionisten. Vergessen
sind die wortgewaltigen Verrisse der zeitgenössischen Kunstkritik, die
die jungen Wilden und ihre ungewöhnlichen Bilder verspotteten. So
lässt sich die Bezeichnung ‚Impressionismus‘ auf den Kunstkritiker
Louis Leroy zurückführen, der 1874 in einer Ausstellungsbesprechung
Claude Monet als ‚Impressionisten‘ beschimpfte, weil er sich wie seine
Kollegen nur mit ‚flüchtigen Augenblicken‘ statt ewigen Wahrheiten
beschäftige. Zugespitzt könnte man sagen, dass es geradezu ein
Kennzeichen progressiver Kunst ist, in ihrer Zeit verkannt zu werden.
Doch wollen wir uns hier nicht weiter in Klischees verstricken. Den
Vorbehalten gegenüber zeitgenössischer Kunst entsprechend waren auch
in der Hamburger Klinik die Reaktionen auf die ausgestellten Werke
meist zurückhaltend bis ablehnend. Doch wurde ein Kunstwerk dann
einmal ausgetauscht – berichtet Dahlmann augenzwinkernd – wurde
es plötzlich vermisst. Ähnliches berichtet auch der Sammler Heinz
Berggruen in seinen Erinnerungen.(11)
EIN ERSTER MEILENSTEIN IN HAMBURG
2005 präsentierte Dahlmann seine Sammlung erstmalig einer breiteren
Öffentlichkeit unter dem Titel ‚Meilenstein‘ im Kunstverein HamburgHarburg. Das Konzept dieser ersten großen Ausstellung vereinte einen
Überblick auf die frühe Sammlungsgeschichte mit der gegenwärtigen
Situation und einem Ausblick auf die Zukunft. Einerseits wurden vor
allem Arbeiten der Fluxus-Bewegung von Künstlern wie Beuys, Vostell
und Staeck gezeigt. Andererseits war neben einigen Vertretern aus den
(8) Die Bronzeskulptur wurde vom frz. Verein zur Förderung der Literatur 1890 in Auftrag gegeben, Rodins Entwurf jedoch entrüstet abgelehnt.
1893-98 wurden mehrere Vor- und Zwischenstufen ausgeführt. Balzac wird in langer zeitloser Kutte dargestellt, was auf Kritik und Ablehnung des
Salons stieß. Erst nach einem jahrelangen Kampf fand man für die inzwischen als Meisterwerk Rodins anerkannte Skulptur einen angemessenen
Standplatz in Paris.
(9) Der französische Künstler César provozierte 1960 mit seinen ‚Compressions‘ genannten, zusammengepressten Autos einen handfesten Skandal
während der Pariser Kunstmesse. Inzwischen schmücken zahlreiche Compressions die Strandpromenade von Marseilles.
(10) Unter wütenden Protesten von Passanten betonierte Vostell 1963 ein vor einer Kölner Galerie parkendes Auto ein. Nach einer der Rodinskulptur
in nichts nachstehenden Odyssee durch die Stadt Köln befindet sich das von den Passanten in der Regel unbeachtete bzw. als solches nicht erkannte
Kunstwerk auf der vielbefahrenen Ringstraße.
(11) ,Eines Tages – in den späten fünfziger Jahren – erwarb ich ein wichtiges, großformatiges Bild von Picasso, ein Portrait von Dora Maar. (...)
Es schien mir das ideale Bild für den Platz über dem Kamin in meiner Wohnung. Ich ließ es mir nach Hause bringen und bat Jeanne, mir beim
Aufhängen zu helfen. Jeanne war entsetzt. Sie fand das Gemälde brutal, geradezu abstoßend. Sie konnte es nicht fassen, daß ich mit solch einer
‚Scheußlichkeit’ leben wollte. (...) Vier, fünf Monate später trat das ein, was ich mir Jeanne zum Trost ausgedacht hatte. Ein amerikanischer Sammler
kam zum Mittagessen (...), begeisterte sich für den Picasso und wollte ihn kaufen. Schweren Herzens entschloß ich mich zu diesem Schritt, und ein
paar Tage später erschienen die Transporteure (...). Als die Männer sich im Wohnzimmer zu schaffen machten, trat Jeanne aus der Küche (...) mit
Tränen in den Augen. ‚Aber Jeanne, was ist denn?’ fragte ich. ‚Das Bild – kommt es denn weg?’ ‚Es ist verkauft, Jeanne.’ Sie war bestürzt. ‚Ein so
schönes Bild, Monsieur!’.’ Berggruen, Heinz: Hauptweg und Nebenwege. Erinnerungen eines Kunstsammlers, Berlin 1996, S.138f.
8
Abbildung:
Abbildung:
Blick in den Ausstellungsraum, imVordergrund
Plakat des
anlässlich
der Ausstellung
Zhang
Dali:
100 chinese
(2002)
veranstalteten Punk-Rock-Konzertes
9
1980er Jahren eine kleine Auswahl an Neuerwerbungen von Künstlern
wie Amouzou Glipka, Burkhard Held, Franziska Hufnagel, Kailiang
Yang, Martha Soares, SEO und Stephan Kaluza zu sehen. Die hohe
Besucherzahl und das durchweg positive Medienecho bestärkten den
Sammler in seiner Leidenschaft und dem Willen, seine Sammlung
regelmäßig einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren.
Von da an war der Weg zurück nach Düren, in das prunkvolle
Museum seiner Kindheit, nicht mehr weit. Dahlmanns Idealismus
und Engagement stehen in guter Tradition des bürgerlichen
Kulturengagements der ehemaligen Stadt der Millionäre.(12) Zuletzt
bereicherte der aus Düren stammende, in Düsseldorf und international
zu Ruhm gelangte Galerist Hubertus Schoeller mit der nach ihm
benannten Stiftung die Kultur seiner Heimatstadt.(13) Und ohne die
großzügige Unterstützung der bereits erwähnten Mäzene und der nach
ihnen benannten Günther-Peill-Stiftung wäre die bereits von Beginn an
konzipierte Erweiterung des Museums nicht möglich gewesen.
DER NÄCHSTE SCHRITT
Im Leopold-Hoesch-Museum Düren wurde im Herbst 2006 erstmals
ein umfangreicher, auf die jüngere Sammlungsgeschichte fokussierter
Blick ermöglicht. Die Ausstellung ‚rattus norvegicus‘ bespielte den
gesamten linken Flügel des historischen Obergeschosses. Nach der
Hamburger Überblickschau wurde nun eine thematischer orientierte
Abbildung:
Blick über das opulente Treppenhaus auf den linken Flügel des historischen
Obergeschosses des Leopold-Hoesch-Museums.
Dort wurde die Ausstellung rattus norvegicus 2006 präsentiert.
(12) Diesen stolzen Titel erwarb die reiche Industriestadt gegen Ende des 19. Jh.
(13) Die zum 100jährigen Bestehen des Leopold-Hoesch-Museums 2005 erschienene Festschrift bietet einen umfangreichen Überblick auf die
Geschichte des Hauses und seiner Sammlungen. Zahlreiche andere Stiftungen bereichern neben den hier genannten das Museum seit seiner Gründung
und ermöglichen bis heute Ankäufe und die Realisierung von bedeutenden Ausstellungsprojekten.
10
Abbildung:
Plakat des anlässlich der Ausstellung
veranstalteten Punk-Rock-Konzertes
Abbildung:
Blick in den ersten Raum der Ausstellung
rattus norvegicus.
An der Wand ein Werk von Werner Büttner:
Die justitialen Probleme der Schöpfung
künden von ihrer Schönheit (1983).
Die Worte ‚IHR MUSEUM‘ sind Teil einer
Installation von Bettina Pousttchi (2005).
11
Auswahl bestehend aus 31 Werken präsentiert. Die Künstlerliste war
ebenso umfangreich wie prominent besetzt und ließ Liebhaber gefälliger
Kunst nichts Gutes ahnen. Womit wir wieder beim einleitenden
Gedanken vom Bösen wären. Denn Künstler wie Tjorg Beer, Werner
Büttner, Paul McCarthy, Georg Herold, Jonathan Meese, Gerd Stange
oder Thomas Zipp stehen nicht gerade in Verdacht, mit ihren Arbeiten
das klassisch Gute und Schöne zu feiern.
Ganz im Gegenteil scheint ein gemeinsames Anliegen dieser Künstler
eine Vorliebe für die oft absurd-hässliche Realität und der Protest
gegen diese zu sein. Erinnern wir uns an Dahlmanns Begründung für
den Kauf der ersten Werke – politisches Engagement und Interesse an
philosophischen Themen – deutet sich eine konzeptionelle Linie, ein
roter Faden innerhalb der Sammlung an. Es gibt viele Versuche, einen
gemeinsamen Nenner dieser Positionen, einen sie treffend abbildenden
Begriff zu finden: Neo-Dadaismus, Junge oder auch Neue Wilde, Neue
Gegenständlichkeit, Berliner Realisten, Protest- oder gar Politkunst.
PUNK – DIE WUNDERSAME METAMORPHOSE DER
WANDERRATTE
Hier schließt sich der Kreis und führt zurück zur Anfangsfrage
ausgehend vom Titel und dem ungewöhnlichen Plakat der Ausstellung
in Düren. Die Wanderratte hat in der jüngeren Kulturgeschichte
die Bedeutung eines Symbols für Protest und Rebellion gewonnen.
Angesichts ihres traditionell negativen Bildes, wie es einleitend
angedeutet wurde, kann zurecht von einem überraschen Wandel
gesprochen werden. Die hässliche, die teuflische Pest übertragende
Ratte – wunderbar klassisch in dieser Rolle ist sie noch 1979 in Werner
Herzogs ‚Nosferatu - Phantom der Nacht‘(14) zu sehen – ist seit Mitte
der 1970er Jahre zur Ikone einer Jugendbewegung geworden: Punk.
Punk bezeichnet eine Jugendkultur, die Mitte der 1970er in New York
entstand und bald danach international und besonders in London einen
Höhepunkt erlebte. Es handelt sich ursprünglich um eine Subkultur,
deren Anhänger sich durch eine rebellische Anti-Haltung, Verweigerung,
nonkonforme Kleidung und Verhaltensweisen auszeichneten. Das
Wort Punk ist – wie so oft – älter als allgemein vermutet wird. Bereits
Shakespeare bezeichnet mit ihm eine Prostituierte(15) und ausgehend
von der Definition ‚faules Holz‘ ergeben sich weitere Bedeutungen. Im
Englischen bezeichnet Punk allgemein etwas Niedriges, Minderwertiges
oder auch Unsinn. Auf Personen bezogen reicht die Bandbreite von
Anfänger über Strolch, Kleinkrimineller, Landstreicher bis hin zu
Abschaum und Dreck. In diesem Sinne entwickelte sich die Ratte zur
Ikone der Punkbewegung in den 1980er Jahren, war Symbol für Protest,
Provokation und subversive Systemkritik. Ein Bedeutungswandel findet
aber dementsprechend nicht statt, denn die Ratte wird gerade durch
diese negative Konnotation zur Ikone der Punkbewegung. Das Tier
spiegelt die Sicht der Gesellschaft auf die Außenseiter und Verweigerer,
die sich mit ihm zugleich ironisch als solche stilisieren.
(14) Herzogs liebster Feind Klaus Kinski spielt in Nosferatu die Figur Dracula. ‚Der Tod ist nicht alles. Es gibt Schlimmeres‘, sagt Kinski an einer
zentralen Stelle des Films – er meint das Leben.
(15) In seinem Stück Maß für Maß (1604).
12
Viele der in Düren gezeigten Kunstwerke lassen sich vor dem hier nur
angedeuteten Hintergrund erschließen. Und so trug die Ausstellung
2006 nicht von ungefähr den Namen der dem Labormediziner
Dahlmann bestens vertrauten Spezies. Neben einer Arbeit von
Michael Deistler ist auch das erste Album (1977) der bis heute
einflussreichen englischen New Wave Gruppe ‚The Stranglers‘ nach
ihr benannt – rattus norvegicus.(16)
G.M.
Abbildung:
Ausschnitt des von Jamie Reid gestalteten Covers für die Single
‚God Save the Queen‘ der Band ‚Sex Pistols‘ aus dem Jahre 1977.
(16) Der eigenwillige Musikstil der Stranglers, der meist als New Wave bezeichnet wird, obwohl er auch deutliche Punk- und Psychedelic-RockElemente aufweist, sorgte für Aufmerksamkeit. 1977 konnten sie bereits drei Singles in den britischen Top Ten platzieren. Die Stranglers provozierten
mit ihren Äußerungen, Auftreten und Texten, die ausländer- und frauenfeindlich zu sein schienen. Tatsächlich handelte es sich aber um eine zynische
wie ironische Entlarvung des gesellschaftsimmanenten Rassismus und Sexismus – Kunst als Spiegel der Gesellschaft.
Abbildung:
Plakat des anlässlich der Ausstellung
veranstalteten Punk-Rock-Konzertes
13
DIE KUNST DER PROVOKATION
Eine kleine Kurzgeschichte des Tabubruchs
Aus zeitgenössischer Perspektive erscheint die Geschichte des
Tabubruchs oder Skandals in der Kunst der westlichen Kulturen
zunächst eng verbunden mit dem Phänomen der industriellen
Massengesellschaft, wie sie sich in Europa im Laufe des 19. Jh.
entwickelte. Doch muss man sich wie so oft nur seines zeitlich wie
kulturell beschränkten Erfahrungshorizontes bewusst werden, um dessen
Grenzen überschreiten und sich so dem Kern der Dinge nähern zu
können.
Bei genauerer historischer Analyse lassen sich die Phänomene der
Massenkultur sicher nicht erst in antiken Metropolen wie Rom
konstatieren.(1) In diesem Sinne soll hier kurz stellvertretend an
einen prominenten antiken ‚Punk‘ erinnert werden. Er war von
Beruf Philosoph, ein Kyniker(2) um genau zu sein. Sein vermeintlich
rotzfreches Verhalten gegenüber einem der größten Kriegsherren der
Antike ist uns noch heute als Redewendung vertraut: ‚Geh mir aus der
Sonne!‘ sprach Diogenes von Sinope.(3)
Er war ein brillianter, von seinen Zeitgenossen als ‚Hund‘
beschimpfter Denker, der im Sinne einer nicht kurzfristig gedachten
Kulturgeschichte als einer der geistigen Urväter der Punk-Bewegung
verstanden werden kann.
Der Hintergrund der berühmten Redewendung ist die folgende, auf
Plutarch und Cicero zurückzuführende Anekdote. Sie hat sich über
die Jahrtausende tief ins kollektive Gedächtnis europäischer Kulturen
eingeprägt und ist aufgrund ihrer Aussagekraft und unzähligen
ihr gewidmeten Miniaturen, Gemälden und Stichen bis in die
Gegenwart präsent: Der Bettler im Fass und der antike Herrscher
im Gespräch.(4) Diogenes hatte sich bewusst für das Leben eines
Bettlers entschieden. Als er eines Tages von Alexander dem Großen
auf der Straße angetroffen und gefragt wurde, was er sich wünsche,
antwortete Diogenes ihm schlicht, er solle ein wenig zur Seite
treten – das war auch schon alles. Alexander wohlgesinnte Historiker
berichten, der Feldherr habe wie folgt geantwortet: ‚Wäre ich nicht
(1) Francesco Vezzolis Video ‚Caligula‘ aus dem Jahre 2005 bietet sich für einen Diskurs zu diesem Thema an. Das Werk des Künstlers ist eine
Täuschung, ein prominent besetzter, kinotauglicher Trailer für einen Film, der nicht existiert: Das Remake des Ende der 1970er Jahre entstandenen
‚Caligula‘-Films. Dieser Film war eine groteske Melange aus Kolportage und Pornografie, subtile Dekadenz fürs Auge.
(2) Auch die griechische Kultur kannte Dresscodes. So wie Tatoos, Irokesenschnitt, Sticker, Sicherheitsnadeln und die Ratte auf der Schulter den
Klischee-Punk der frühen 1980er kennzeichneten, hatten auch die Kyniker eindeutige Erkennungszeichen: Wanderstab, Rucksack und Essensschale.
Sie symbolisierten zugleich die Grundprinzipien des Kynismus – Kosmopolitentum, Autarkie, Bedürfnislosigkeit und freie Rede. Dass Diogenes
ein Extremist im positiven Sinne und kein Freund fauler Kompromisse war, bezeugt auch eine weitere Anekdote: Diogenes besaß nur eine Schale
zur Nahrungsaufnahme. Doch als er sah, wie ein Hund aus einer Pfütze trank, warf er auch die Schale weg. Andere Quellen berichten, er habe
einem Knaben abgeschaut, dass man auch aus der hohlen Hand trinken kann. Wichtig ist jedoch die Tatsache, dass der Philosoph wie der spätere
Ordensgründer Franziskus aus einer hohen Gesellschaftsschicht stammte – die Anekdote kann vor diesem Hintergrund auch als Hinweis auf seine
Herkunft verstanden werden.
(3) Er lebte ca. 395 - 323 v. Chr.
(4) Woher das sich zum Symbol für Diogenes entwickelte Motiv des Bettlers im Faß stammt und die Frage, ob es sich tatsächlich um eine von ihm
‚gelebte Szene‘ handelt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Beispielhaft für das Motiv ist ein Meisterwerk aus der Sammlung des Kölner
Wallraf-Richartz-Museums: ‚Alexander und Diogenes‘ (um 1630) von Gaspar de Crayer.
14
Abbildung:
Ausschnitt aus: Adolph Menzel: Alexander sitzt neben Diogenes in der Tonne auf einer Steinbank
(aus Illustrationen zu den Werken Friedrichs des Großen), 1846-1857,
Quelle: ArteMIS, Ludwig-Maximilians-Universität, München.
15
Alexander, wollte ich Diogenes sein!‘(5) Ein Schelm, wer Schlechtes
dabei denkt...
Wie schroff Diogenes die Geste des makedonischen Königs auch
abgelehnt haben mag, sei ebenso wie die Glaubwürdigkeit der Reaktion
Alexanders an dieser Stelle dahingestellt.(6) Wir bevorzugen die
freche Variante, da sie Diogenes Ruf und der nach ihm benannten
Philosophie-Schule gerechter wird. Seine unkonventionelle
Lebensweise brachte dem Philosophen - hier zeigt sich die Parallele
zum postmodernen Punk langsam – den Spottnamen ‚Kyon‘ – Hund –
ein. In dieser Tradition nannte man die Anhänger seiner Philosophie
zunächst pejorativ Kyniker – Hunde. Sie trugen die Bezeichnung wie
ihre Geistesverwandten gegen Ende den 20. Jh. jedoch mit Stolz. Denn
‚die Missachtung sozialer Normen und Schranken, seine Suche nach
dem persönlichen Glück im Privaten und nicht in der Ordnung der
Polis‘(7) kennzeichnet das die Eigenverantwortlichkeit des Menschen
betonende Konzept des Philosophen.
Die Missachtung sozialer Normen und Schranken ist auch in der Kunst
ein Kennzeichen eines in allen Epochen vorhandenen, in der Regel
im Nachhinein als Avantgarde bezeichneten Typus von Künstlern.
Gerade die mit zahlreichen Normen und Schranken gefesselte Sexualität
eignet sich besonders gut für den Tabubruch, wie an dem folgenden
Beispiel deutlich wird. Im späten 16. Jh. schuf Agostino Carracci für
ein recht exklusives Publikum in der antiken Mythologie angesiedelte,
‚Lascivie‘ genannte Kupferstiche. Sie konfrontierten den Betrachter –
den Voyeur – mit eindeutigen Sex-Szenen. Diese für viele sicher
überraschend drastischen Darstellungen von Sexualität aus der frühen
Neuzeit, die – wie die Technik bereits andeutet – für eine breitere
Öffentlichkeit geschaffen wurden, rufen noch heute ‚verklemmte‘
Reaktionen hervor. Anhand der folgenden Abbildung und einem
Vergleich der dem Stich im 20. Jh. verliehenen Titel lässt sich einerseits
die Widerstandskraft überlebt geglaubter Normen und Schranken
ablesen. Andererseits wird zugleich – im Sinne des Impetus der in den
1960er Jahren ausgerufenen sexuellen Revolution – die ungebrochene
Notwendigkeit des Tabubruchs deutlich.
Obwohl das von Carracci geschaffene Bild der heimlichen Annäherung
und Selbstbefriedigung des Satyrs mit der schlafenden Nymphe eine
im Verhältnis zu anderen Stichen der Serie eher ‚zurückhaltende‘
Liebesszene zeigt, scheint es sogar professionelle Kunstbetrachter zu
irritieren. Während die einen Kunsthistoriker das Werk und die Geste
des Satyrs eindeutig als ‚Schlafende Nymphe mit onanierendem Satyr‘
bezeichnen, verwenden andere den schüchternen Titel ‚Satyr eine
schlafende Nymphe betrachtend‘(8) und beschrieben den Stich somit
(5) Die Reaktion könnte auch das Ergebnis antiker Imageberater sein, das sich Dank der Macht ihres Auftraggebers im Laufe der Zeit durchgesetzt
hat. Zensur und Propaganda haben auch sehr tiefe Wurzeln. Oder um ein wieder in der politischen Gegenwart angesiedeltes, bundesdeutsches Beispiel
zu wählen: Wer weiß heute noch, dass Jürgen Rüttgers 1994 Zukunftsminister war? Das aus der Zusammenlegung der Ministerien für Bildung und
Wissenschaft sowie Forschung und Technologie neu geschaffene Ministerium sollte die Innovationsfreudigkeit der Regierung symbolisieren und
wurde daher als ‚Zukunftsministerium‘ bezeichnet.
(6) ‚Geh mir jetzt ein wenig aus der Sonne‘ ist eine mögliche, höflichere Variante der Übersetzung der Lateinischen Variante ‚Nunc quidem paululum
(...) a sole.‘ (Cicero, Tusculanae disputationes, V, 92 und Plutarch XXXIII, 14, Diogenes Laertius, VI, 36).
(7) B. Zimmermann in: Metzler Philosophen Lexikon, Stuttgart 1995, S. 229.
(8) Der demütige oder auch schüchterne Blick des Satyrs und das Lächeln der Nymphe lassen Zweifel an der Tiefe ihres Schlafes und der
Heimlichkeit seiner Tat aufkommen. Insgesamt verbreitet das Bild eine sehr ruhige Atmosphäre und gewinnt durch die großen Stoffbahnen einen
surrealen Charakter.
16
Abbildung:
Ausschnitt aus:
Agostino Carracci: Lacivie, 1590-95,
British Museum, London, Quelle:
Diathek online, Universität Trier.
17
unkorrekt. Dass es sich hierbei nicht um eine Ausnahme handelt,
wird an einem weiteren ‚Titelpaar‘ deutlich: ‚Satyr und Nymphe beim
Geschlechtsakt‘ und ‚Satyr eine Nymphe umschließend.‘(9)
Welche Folgen diese zunächst amüsant erscheinende, in der Regel
wohl unbewusste Zensur für die Wissenschaft hat, wird deutlich, wenn
man sich die Funktion des Titels als ein wesentliches Kriterium der
Beschreibung bewusst macht. Das an den beiden Beispielen aufgezeigte
Verschweigen bzw. die falsche Beschreibung des Kunstwerks macht
ein Auffinden der Motive in einer auf (Titel-)Schlagworten basierten
Bildsuche unmöglich. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch das 2006
im Leopold-Hoesch-Museum gezeigte Multiple von Jonathan Meese
(‚Lolitadzioz‘, 2001) aus der Sammlung Dahlmann – eine magazinartige
Papiercollage mit vielen nackten Körpern – eine weitere Bedeutung:
Als ironischer Kommentar Meeses zur vermeintlich aufgeklärten,
‚übersexualisierten‘ Massenkultur begriffen, liefert es zugleich seine
Berechtigung für den Tabubruch. Ein Indiz dafür sind die teils
entrüsteten Reaktionen von Besuchern auf das Werk. Sie spiegeln
die bis heute gültige Sprengkraft des sexuellen Tabubruchs, trotz der
Omnipräsenz des Eros in den zeitgenössischen Massenmedien.(10)
Für eine kleine, in die nicht allzuferne Vergangenheit reichende
Geschichte der Provokation in der Kunst bietet es sich an, in der Mitte
des 19. Jh. zu beginnen, natürlich in Paris: Édouard Manets Gemälde
‚Olympia‘ (1863) zeigt eine blendend blasse junge Dame – eine
Kindfrau, wie sie etwa in Martin Scorseses Film ‚Taxi Driver‘ (1976)
oder Vladimir Nabokovs Skandalroman ‚Lolita‘ (1955) erscheint. Sie
liegt nackt auf einem Bett und schaut den Betrachter direkt an. Ihre
linke Hand ruht auf ihrem Schoß, während eine schwarze Dienstmagd
der Dame schüchtern einen Blumenstrauß darbietet. Schnell ahnt der
Betrachter, weniger durch die Nacktheit und die Haltung als durch den
ruhigen, aber sehr bestimmten Blick, der auf ihm ruht, dass es sich bei
dieser Geste um ein zutiefst unmoralisches Angebot handelt. Doch im
Gegensatz zu Scorseses Iris – ein vom Land nach New York geflohenes
Mädchen, das in der Straßenprostitution angekommen ist – handelt
es sich im Falle Manets um eine ‚Edel-Prostituierte‘, wie das Interieur
und die Dienstmagd andeuten. Die Empörung über die offen zur Schau
gestellte, verführerische Darstellung einer stadtbekannten Dame aus dem
Rotlichtmilieu war enorm. Verstärkt noch durch den Umstand, dass
Manet die Prostituierte wie eine Königin in Szene setzt. Der Künstler
zeigt sie in der klassischen Pose der Göttin Venus stellt damit alle
sozialen und moralischen Wertmaßstäbe und Hierarchien auf den Kopf.
Das Werk war ein echter Eklat.
Gustav Courbet radikalisierte den Ansatz Manets und präsentierte
dem nicht minder schockierten Pariser Salonpublikum seine Vision
vom Ursprung der Welt: Das 1866 entstandene Gemälde ‚L‘Origin du
monde‘, ein alle Distanzierungsmechanismen der klassischen Aktmalerei
sprengendes Werk, ist eine naturalistisch ausgeführte Nahaufnahme des
weiblichen Geschlechts – kurz ein echter Skandal!(11) Nur drei Jahre
(9) Zur ‚Ehrenrettung‘ der hier zitierten deutschsprachigen Kunsthistoriker sei auf die ebenso neutrale wie falsche Beschreibung des British Museum
verwiesen, das das Motiv wie folgt beschreibt: ‚Satyr looking at a sleeping nymph; to right a naked nymph lying on drapery on the ground asleep, with
a satyr bending over and looking at her‘ Quelle: Online-Datenbank des Museums. Dabei hatte Carracci selbst mit seinem Titel ‚Lascivie‘, abgeleitet
vom lateinischen Adjektiv lascivus (ausgelassen, mutwillig, leichtsinnig, üppig, geil) oder Verb lascivire (übermütig sein, ausgelassen sein, leichtsinnig
werden, sich gehen lassen), für die Serie von Stichen recht eindeutig den Kontext der Szenen beschrieben.
(10) Im Sinne der Objektivität muss betont werden, dass die Präsentation des Werks in der Vitrine allein seiner Fragilität geschuldet war. Die
Erfahrungen des Kurators mit Reaktionen von Besuchern auf andere, vermeintlich pornographische oder sexistische Kunstwerke in verschiedenen
Ausstellungen unterstützen jedoch den Aspekt der Schutzbedürftigkeit von an Tabus rührenden Kunstobjekten.
(11) Die Chronik der Aufbewahrungsorte und Präsentationsformen des Gemäldes sprechen Bände. Es wurde nicht nur an seinem ursprünglichen
Ausstellungsort immer verhüllt aufbewahrt. Im Landhaus des Philosophen und Psychoanalytikers Jacques Lacan, der letzte private Aufbewahrungsort,
18
nach dem Tumult um Manets verführerische Kindfrau ließ Courbet alle
‚Hüllen‘ fallen. Er positionierte das weibliche Geschlecht dem Titel des
Bildes entsprechend im Zentrum seiner Komposition.
Abbildung:
Ausschnitt aus: Edouard Manet: Olympia, 1863,
Musée d‘Orsay, Paris,
Quelle: Digitale Diathek, Justus-Liebig-Universität, Gießen.
Wie eine Antwort auf Courbets Ursprung lässt sich Constantin
Brancusis Skulptur ‚Prinzessin X‘ (1916) lesen: Eine sich scheinbar dem
Betrachter – dank einem Sockel annähernd auf Augenhöhe – entgegen
neigende Frauenbüste.(12) Die Form wurde von Brancusi jedoch
so stark abstrahiert, dass sich die empörten Gäste im Pariser Salon
des Indépendants mit einem riesigen Penis konfrontiert sahen. Das
Kunstwerk wurde umgehend aus der Ausstellung entfernt. Die Zensur
verwundert umso mehr, da es sich im Gegensatz zu Courbets Ursprung
nicht um eine bewusste Abbildung eines Geschlechtsteils, also eine
eindeutige Provokation, sondern nur um ein Missverständnis handelte.
(13) Auf dem Wege der radikalen Abstraktion schuf Brancusi ein geniales
Sinnbild des vollkommenen Androgynen: Die sich selbst betrachtende
Frau hatte sich in einen Penis verwandelt – Philosophie statt Porno.
Marcel Duchamp der faule Hund(14), der im Gegensatz zu seinem
Freund Brancusi bewusst und eindeutig als dadaistisch-surrealistischer
Provokateur auftrat, provozierte ein Jahr später in New York einen
weiteren, wohl kalkulierten Kunst-Skandal: Mit seinem intregant
inszenierten Readymade ‚Fountain‘ gelang es ihm, die vermeintlich
liberale Kunstszene, die die International Exhibition of Modern Art
im Grand Central Palace(15) organisiert hatte, vorzuführen. Da
hing das Bild hinter einem von André Masson gefertigten ‚Panneau-masque‘ (1955). Dabei handelt es sich um eine Vexierzeichnung, die durch das
Nachzeichnen der Umrisse des weiblichen Körpers entstand und als Hügellandschaft gelesen werden kann. Viele Autoren betonen den Einfluss des
Gemäldes auf das nicht minder skandalträchtige Spätwerk Marcel Duchamps ‚Étant donnés‘.
(12) Als ‚Prinzessin X‘ portraitierte er bereits 1909 eine Frau in Marmor, die sich nach vorne gebeugt im Spiegel betrachtet.
(13) Der Phallus ergab sich für Brancusi aus der weiteren Abstraktion der noch eindeutig als weibliche Figur zu erkennenden, gleichnamigen Skulptur
von 1909, wie Günter Metken formuliert: ‚Sieben Jahre später bleibt von diesem Inbild des Narzißmus nur noch die Halskrümmung mit der
Verdickung des Kopfes und der auch als Gesäß deutbaren Brust.‘ (Metken in: DIE ZEIT, 18/1995)
(14) Warum es sich bei Duchamp um einen genialen, philosophisch-motivierten Faulenzer handelt, hat Helen Molesworth aufgedeckt: Work
Avoidance – The Everyday Life of Marcel Duchamp‘s Readymades, in: Art Journal, Vol. 57, 4/1998, S. 51 - 61.
19
Duchamps Name in den Avantgardekreisen bereits berüchtigt war,
reichte er das Werk – ein abgesehen von der Signatur unverändertes,
gebrauchtes Pissoir – unter dem Pseudonym R. Mutt ein. Hinterlistig
heizte Duchamp die kontroverse Diskussion über das Werk in dem
angeblich juryfreien Kuratorium an, dem er selbst als ‚Hängekommissar‘
angehörte.
Der Skandal war perfekt, als man sich entschied, ‚Fountain‘ nicht
auszustellen und die juryinterne Debatte darüber in die Öffentlichkeit
gelangte.(16) Alles wurde von Duchamp gemeinsam mit seinem
Freund Alfred Stieglitz und dem einflussreichen Sammler W.
Arensberg geschickt inszeniert. Das Readymade galt schon bald als
ein Jahrhundertwerk und Duchamp zurecht als Meister einer in ihrer
Vielschichtigkeit kaum absehbaren, subversiven wie humorvollen Kunst.
(17)
Wieder in Paris ließ sich Duchamp mit tonsurartigem Haarschnitt und
Sternrasur am Hinterkopf sowie der obligatorischen Denkerpfeife im
Mund portraitieren und nannte die Arbeit später ‚Tonsure de 1919
Paris‘.(18) Eine dadaistische Hommage an den katholischen Klerus?(19)
Mit letzterem legte sich kurze Zeit später George Grosz an. Seine den
deutschen Militarismus thematisierenden Grafiken sorgten für einen der
berühmtesten Justizfälle der späten 1920er Jahre in Deutschland. Eine
Abbildung:
Ausschnitt aus ‚Tonsure de 1919 Paris‘ von Man Ray,
Collection Sylvio Perlstein, Antwerpen
(15) Es war die größte bis dahin gezeigte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in den USA.
(16) Siehe dazu Arturo Schwarz: The complete works of Marcel Duchamp, New York 1969, S. 466f.
(17) Hier können nur einige Interpretationsansätze zu ‚Fountain‘ erwähnt werden. Zunächst provoziert das Werk bereits aufgrund seiner – abgesehen
von Signatur und ‚Hängung‘ – scheinbar banalen Normalität. Es ist Pissoir, ein Readymade, das die Frage evoziert, ob bereits allein der Sockel (als
Stellvertreter des gesellschaftlichen Kontextes) das Objekt zum Kunstwerk macht? Dann das Pseudonym: Richard Mutt kann einerseits als schlicht
notwendige Tarnung für das Einschleusen des Werks, die Tarnkappe Duchamps für sein brilliantes Intrigenspiel gegen die New Yorker Kunstszene
verstanden werden. Aber Mutt (deutsch: Dussel, Trottel oder passend zu Diogenes auch Köter) ist mehr als der vermeintliche Trottel, dem es mit
seinem Kunstwerk gelingt, das begrenzte Kunstverständnis der vermeintlichen Avantgarde zu entlarven. Der Geniestreich besteht darin, dass die
Kunstszene sich selbst vorführt, sie hat sich öffentlich ‚in die Hose gemacht‘. Helen Molesworth betont in diesem Sinne, dass Fountain so auf dem
Sockel arrangiert wurde, dass einem fiktiven Benutzer sein Urin auf die Füße laufen würde. (Siehe Fußnote 14) Andere Interpreten betonen, das Werk
sei – wie sein Name nahelegt – eine Anspielung auf die Vagina. Eine Hommage an Courbets Ursprung?
20
von ihnen zeigt einen mit Gasmaske und Armeestiefeln bekleideten
Jesus am Kreuz. Darunter schrieb Grosz die unheilige Verbindung
von Kirche und Krieg betreffend: ‚Halt dein Maul und diene
weiter‘. Der Strafprozess dauerte drei Jahre. Grosz musste durch drei
Gerichtsinstanzen, um schließlich einen Freispruch zu erwirken.
Zuvor hatte bereits der ‚Dadamax‘ aus Köln – Max Ernst – die
Öffentlichkeit der Weimarer Republik gegen sich aufgebracht, als
er 1926 sein Gemälde ‚Jungfrau Maria verhaut den Menschensohn‘
präsentierte.(20) Die in einer pittura metafisica-ähnlichen Architektur
angesiedelte Szene lässt aus Sicht der Provokation kaum etwas zu
wünschen übrig: Eine mit reichlich weiblichen Formen versehene
Heilige Mutter versohlt dem komplett enthüllten Jesuskind mit
goldenen Locken so kräftig den Hintern, dass sein Heiligenschein zu
Boden fällt. Die Mutter scheint von ihrer Tat völlig unberührt zu sein.
Doch durch einen Wandausschnitt hinter ihr wird die ungeheuerliche
Tat von drei geheimnisvollen Herren beobachtet. Der Tumult um das
Werk und der Inhalt der Kölner Dompredigt nach der Vernissage war
heftig.(21)
Abbildung:
Ausschnitt aus: George Grosz:
Hintergrund: Maul halten und weiter dienen, 1927,
Quelle: Imago, Berlin.
Nicht nur den Klerus provozierten Luis Buñuel und Salvador Dalí mit
ihrem 1930 in Paris gezeigten Film ‚L‘Âge d‘Or‘, in dem Max Ernst den
Räuberhauptmann spielte. Der Film attackierte in einer bis dahin nicht
(18) Tonsur nennt man die geschorene Stelle auf dem Scheitel als Zeichen der Zugehörigkeit zum katholischen Klerus. Es stammt aus dem
Lateinischen, tonsura (das Scheren) bzw. tondere (scheren).
(19) Andere Quellen beziehen die Tonsur auf einen seiner frühen Texte, Fragmente, die das Drehbuch zum ‚Großen Glas‘ bilden. Dort ist die Rede
von einem ‚Scheinwerferkind‘, das Duchamp dieser Theorie zufolge mit einem ‚umgedrehten‘ Komet assoziierte.
(20) Das Werk befindet sich im Museum Ludwig in Köln.
(21) Das Bild war einer der vielen Aspekte, der das schlechte Verhältnis des Künstlers zu seiner katholischen Heimatstadt Brühl begründete.
21
gekannten, drastischen Blasphemie die Scheinheiligkeit der bürgerlichen
Gesellschaft und generierte einen der nachhaltigsten Kunstskandale der
Moderne. Nach der bereits tumultartigen Premiere konnte ‚L‘Âge d‘Or‘
nur noch sechs mal im stets ausverkauften ‚Studio 28‘ gezeigt werden.
Dann stürmten Rechtsradikale den Kinosaal und zerstörten diesen und
die parallel dort gezeigte Ausstellung surrealistischer Kunstwerke. Bereits
eine Woche nach dem Gewaltexzess des rechten Mobs wurde für ‚L‘Âge
d‘Or‘ ein Vorführverbot erlassen, das in Frankreich erst 50 Jahre später 1981 - aufgehoben wurde.
Dalis Gespür für die Produktivität des Skandals und sein enormes
Selbstvermarktungstalent – ‚le surrealisme c‘est moi‘ – machen ihn
zu einer Ikone der jüngeren Geschichte der Provokation. Seinem
nicht nur von Sigmund Freud(22) bezeugten Charme konnten selbst
Päpste nicht widerstehen. Sie luden Dali trotz seiner skandalösen
Jugendsünden zu Privataudienzen (Pius XII. 1949 und Johannes XXIII.
1959). Schade nur, dass der Künstler sich selbst durch seine offen
bekundete Sympathie für den Faschismus disqualifizierte.(23) Letzteres
ist wiederum ein Skandal, der weniger öffentlichkeitswirksam war und
Dalis Aufstieg zum populären Kunststar der Nachkriegskunst nicht
hindern sollte.
Im Oktober 1944 genoss Jean Dubuffet im Gegensatz zu den
Surrealisten den Schutz der Pariser Polizei. Die Stadt hatte sich
gerade erst wieder an Freiheit gewöhnt(24) als Dubuffet zum ersten
Mal in der Pariser Galerie Drouin ausstellte. Seine von der Kritik
als ‚Strichmännchen‘ verschmähten, in der Öffentlichkeit heftig
verissenen Bilder verursachten einen derartigen Skandal, dass sie
von der Polizei bewacht werden mussten. Auch Dubuffet war ein
bewusster Rebell, er klagte den repressiven Charakter des etablierten
Kunstverständnisses an und begründete 1945 das Konzept der Art
brut.(25) Francis Bacon dagegen erging es ähnlich wie zuvor Brancusi.
Sein düsteres Gemälde ‚Two Figures‘ (1953) zeigt zwei ineinander
verschlungene Ringer auf einem weißen, bettähnlichen Grund in
einem schwarzen Raum. Das einer Fotografie von Edward Muybridge
entlehnte Motiv wurde als eine Darstellung von Homosexualität
interpretiert und daher zum Opfer der Zensur. In diesem Sinne
befindet es sich auch heute noch in einer Privatsammlung.
In Berlin provozierten zu Beginn der ‚wilden‘ 1960er Jahre die
Jungen, von der oberflächlichen Scheinheiligkeit der entnazifizierten
Wirtschaftwundergesellschaft frustierten, nicht nur mit ihren
pandämonischen Manifesten gegen das Schöne und Glatte in der
(22) An seinen Freund Stefan Zweig schreibt Sigmund Freud nach Dalis Besuch: ‚Wirklich, ich darf Ihnen für die Fügung danken, die die gestrigen
Besucher zu mir gebracht hat. Denn bis dahin war ich geneigt, die Surrealisten, die mich scheinbar zum Schutzpatron gewählt haben, für absolute
(sagen wir zu fünfundneunzig Prozent wie beim Alkohol) Narren zu halten. Der junge Spanier mit seinen treuherzig-fanatischen Augen und seiner
unleugbar technischen Meisterschaft hat mir eine andere Einschätzung nahegelegt.‘ L. Salber: Salvador Dalí, Reinbek 2004, S. 23.
(23) Schon 1938 wurde Dalí wegen ‚Sympathien für den Nationalsozialismus‘ aus der Surrealisten-Bewegung ausgeschlossen und von seinen Kritikern
‚Hofnarr Francos‘ genannt. Dass es sich dabei nicht nur um eine Gegenreaktion auf den bei den Surrealisten verbreiteten Kommunismus handelte,
belegen zahlreiche Quellen und Handlungen Dalis. Noch 1975 schickte er dem altersschwachen Franco ein Glückwunschtelegramm anlässlich der
Exekution von fünf ETA-Terroristen.
(24) Am 25. August kapitulierten die in Paris eingekesselten deutschen Truppen. General von Choltitz war es gelungen, den Befehl Hitlers, nur
verbrannte Erde zurückzulassen, zu umgehen.
(25) Dubuffet wollte stets ein subversiver Außenseiter sein. Er lehnte es ab, seine Werke zwischen jene der von ihm als ‚Berufskünstler‘ geschimpften
Zeitgenossen zu hängen.
22
Abbildung:
Ausschnitt aus ‚L‘Âge d‘Or‘ von Luis Buñuel und Salvador Dalí,
Quelle: photofest
23
Kunst.(26) Die Werke von Georg Baselitz, der seine 1960 begonnene
Bildserie bezeichnenderweise ‚Helden‘ nannte, hielten der jungen
Bundesrepublik ihr hässliches Spiegelbild in Form von einsamen,
verkrüppelten Geschöpfen vor. Und da war er, der erste große Skandal
der deutschen Nachkriegskunst: ‚Schock in der Kunst-Galerie‘ titelte die
Bildzeitung am 3.10.1963.
Die beiden Gemälde ‚Die große Nacht im Eimer‘ und ‚Der nackte
Mann‘ verstörten und empörten die Öffentlichkeit. Denn die
monsterhaft erigierten Penisse der verstümmelten Figuren von Baselitz
spiegeln den schizophrenen Zustand der ‚Täternation‘, die sich – wie das
Verhältnis der riesigen Hände zu den recht kleinen Köpfen andeutet –
nur auf den materiellen Wiederaufbau zu konzentrieren schien. Sogar
in Köln, das sich zur international bedeutenden Kunstmetropole
nahe der kleinen und biederen Hauptstadt der BRD entwickelt hatte,
wurde noch 1970 angesichts der Ausstellung ‚happening & fluxus‘ dem
Kölnischen Kunstverein gedroht, ‚er werde brennen.‘(27)
Mitte der siebziger Jahre dann war der zunächst endgültige Höhepunkt
erreicht. ‚Pop-Art – Neuer Realismus – Conzept-Art – Land-Art –
Op-Art‘ steht auf dem Zettel, der neben der noch weißen Leinwand
hängt, aber ‚Wo stehts Du mit deiner Kunst Kollege?‘, fragte Jörg
Immendorf auf seinem gleichnamigen Gemälde von 1973. Ein Jahr
später gelang der US-Künstlerin Lynda Benglis mit einer listigen Aktion
in dem renommierten Kunstmagazin ‚Artforum‘ ein Skandal, der die
nach wie vor von Männern dominierte Kunstszene im wahrsten Sinne
des Wortes erregte. Für 3000 Dollar schaltete sie eine doppelseitige
Abbildung:
Ausschnitt aus ‚rattus norvegicus‘, LP-Cover
© The Stranglers / EMI
(26) Georg Baselitz und Eugen Schönebeck verfassten 1961 zusammen das (später so genannte) 1. Pandämonische Manifest, worin sie sich gegen die
etablierten modernen Kunstformen auflehnten. 1962 folgte das 2. Pandämonische Manifest (das eigentliche Pandämonium).
(27) Die Ausstellung wurde geschlossen und ohne die heftig umstrittenen Positionen von Hermann Nitsch und Otto Mühl neu eröffnet.
(28) Lynda Benglis, ‚Artforum Advertisement‘.
(29) Das SO36 startete im August 1978 mit dem zweitägigen Mauerbaufestival seinen Betrieb als alternativer Veranstaltungsort in Berlin. Das Festival
war eines der ersten großen NDW-Festivals. Doch bereits nach wenigen Monaten drohte der Konkurs und Martin Kippenberger und Andreas Rohe
übernahmen die Leitung. Sie suchten einen Brückenschlag zwischen Punk, New Wave und Kunst, wie er im Düsseldorfer ‚Ratinger Hof‘ gelungen
24
Anzeige und präsentierte sich darin vollkommen nackt, während
sie einen überlangen Penis vor ihr Geschlecht hielt und sich somit
ironisch in einen Künstler verwandelte.(28)
In der ‚freien Stadt Berlin‘ traf sich die nächste Generation junger
Rebellen nach Baselitz und Lüpertz: Martin Kippenberger und die
in der Sammlung Dahlmann vertreteten Künstler Georg Herold,
Markus Oehlen und Werner Büttner sind ihre prominentesten
Protagonisten. Ihre Kunst kennt keine (Gattungs-)Grenzen mehr.
Sie gründen neben Bands auch Ligen wie jene zur Bekämpfung
widersprüchlichen Verhaltens, das Zentralorgan der Liga Dum Dum
oder eine Samenbank für DDR-Flüchtlinge. Doch über bissigen
Humor hinaus ist die Auseinandersetzung dem gesellschaftlichen
Klima in der BRD entsprechend härter geworden.
Die Kunst befindet sich, wie das Scheitern des als ‚Konsumscheisse‘
verurteilten Programms Kippenbergers im SO36(29) beispielhaft
zeigt, inmitten der Kämpfe einer nicht nur am atomaren Abgrund
tanzenden Gesellschaft. Wie in den 1920er Jahren spiegelt sie
den Nihilismus der von Konsumismus, Rezession und dem
Glaubwürdigkeitsverlust gesellschaftlicher Utopien verstörten jungen
Generation. ‚Punk – Kultur aus dem Slums: brutal und hässlich‘
titelte das Magazin Der Spiegel 1977. Widerstand, Provokation
und humorvoller Skeptizismus sind Kennzeichen der wütenden
Avantgarde. Sie wird von der Kunstgeschichte mit Begriffen wie
‚Neue Wilde‘ und ‚Neoexpressionismus‘ und dem Streben nach
einer Erneuerung der Kunst in der Tradition von Dada und Fluxus
entsprechend als ‚Neo-Dadaismus‘ beschrieben.
Um den Titel dieser Kurzgeschichte gerecht zu werden, kann zuletzt
als Brücke in die Gegenwart auf die Vorbildfunktion der hier nur
stellvertretend für viele andere ausgewählten Künstler verwiesen
werden. Auch sie haben den Marsch durch die Institutionen angetreten,
sind Lehrer und Professoren geworden und prägten die folgenden
Generationen. Dass die Macht der Provokation und des Tabubruchs
trotz der zunehmenden Kommerzialisierung der Medien und der von
Marcuse beschriebenen Entsublimierung ungebrochen ist, beweisen
etwa die Aktionen von Künstlern wie Christoph Schlingensief (‚Tötet
Helmut Kohl‘ und ‚Chance 2000‘).(30) In diesem Sinne begrüßt und
schockiert auch Jonathan Meese auf dem Weg zu seiner ‚Diktatur der
Kunst‘ das Publikum regelmäßig mit dem sogenannten Hitlergruß. Mit
dieser Geste verstörte bereits Anselm Kiefer das Publikum, dessen jüngste
Opernkulissen nicht von ungefähr an die Kriegsruinen seiner Jugend
erinnern. Vor diesem Hintergrund kann Meese aus kulturhistorischer
Perspektive durchaus in der Tradition prominenter Narren-Figuren
wie Diogenes, Mulla Nasrudin oder Till Eulenspiegel gelesen werden:
Ein Schelm in schwarzer Adidas-Trainingsjacke, dessen Werke und
Aktionen neben der (Kunst-)Öffentlichkeit auch die Statistik des
Innenministeriums für rechtsextreme Straftaten manipulieren.
G.M.
war. Doch die Kreuzberger Anarcho-Punk-Szene lehnte die ‚Schickeria-Kunst‘ ebenso ab, wie die als zu hoch empfundenen Preise und Hausverbote
gegen einzelne Punks. Der Konflikt eskalierte und endete mit einem ‚Kommando gegen Konsumterror‘ genannten Überfall im November 1979.
Kippenberger beendete sein Engagement danach.
(30) Schlingensief wurde bei der Kunstaktion ‚Mein Filz, mein Fett, mein Hase‘ (documenta X 1997) von der Polizei festgenommen, da er
ein Schild mit der Aufschrift ‚Tötet Helmut Kohl‘ verwendete. Ein Jahr später gründete er die Partei ‚Chance 2000‘ und zog mit ihr in den
Bundestagswahlkampf.
25
TJORG DOUGLAS BEER
*1973 Lübeck
„Warum reisen Sie nicht? – Reisen Sie in das Land der Fliegen,
in das Land der wochenlangen Sandstürme, in das Land mit dem
Backofenklima, das Land der Lüge, der Honiggrimassen und der
raffinierten Berufsbettelei? Ins Land der Null und der großen
Nullifizierung?“
(Jean Dubuffet an Florence Gould, 1949)
In Sinne Dubuffets, mit dem Tjorg Beer nicht nur ungewöhnliche,
in der Regel bewusst trashige Materialien und kindlich-naive Figuren
gemein hat, reist Beer unermüdlich von Kontinent zu Kontinent. So
hat er sich im Laufe weniger Jahre mit vielbeachteten Interventionen
in internationalen Kunsträumen ein erstaunliches Renommee
erarbeitet. Aufgrund seines eigenen, durch Materialien und Motive
‚global‘ anmutendenden Oeuvres, wurde Beer bereits ins P.S.1 und
als New Talent zur Art Cologne eingeladen. Seine Umtriebigkeit
und sein Aufstieg – er ist Künstler, Kurator und betreut die von ihm
mitinitiierte Hamburger Sammlung ‚Taubenstraße‘ – kann durchaus
mit dem eines Kometen verglichen werden.
Die in Düren gezeigte, großformatige Wandarbeit ‚Nelenti‘ (2005)
der Sammlung Dahlmann bleibt auch bei genauer Betrachtung so
rätselhaft wie ihr Titel. Es ist eine Landschaft, doch bleibt ungewiss,
ob sie zerstört oder aufgebaut wird. Nelenti scheint einer fremden
Sprache zu entstammen, die nur mit Hilfe von Paratranslate – ein
Programm, das aus scheinbar zufälligen Buchstabenkombinationen
alle möglichen Aussagen generiert – zu entziffern ist. So meint etwa
‚nelen litaschi‘ ‚hell! nice saint‘ oder auch ‚this clean line.‘ Dieses
geheimwissenschaftliche wie sprunghafte Kombinieren findet sich
neben dem Duchampschen Sprachstil (etwa der in Düren gezeigte,
‚Parawahn/Einbau(r)egalité‘ genannte Raumteiler) auch in der
ungewöhnlichen Materialität der Werke.
Beers Markenzeichen sind Folien und Klebematerialien, die er neben
Öl und Lack wie Stift und Papier handhabt. Für seine Installationen,
Videos und Plastiken verwendet er objets trouvés: Plastikbecher
und -rohre, Tontöpfe, Alufolie und Blechdosen. Baumarkt statt
Boesner scheint geeignet, diesen bewusst trashig ausgeführten,
neodadaistischen Stilmix zu beschreiben. Vergleicht man diese
modernen Materialien mit den Kugelschreiberwerken Michael
Deistlers der 1980er Jahre oder ähnlichen Bildern Sigmar Polkes aus
1970ern, erscheinen sie als eine Erweiterung des Kunstvokabulars,
so wie sie zuletzt durch die unter dem Nouveau Réalisme
subsummierten Strömungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts erfolgte.
Der fruchtbare clash of cultures, der aus Beers Kunst-Jetset folgt, spiegelt
sich neben der Sprache auch den Motiven seiner Werke. So wie sich
die Materialien in allen globalen Metropolen finden und Baustoff für
Spielzeug oder Slumhütten sind, scheinen auch die politischen und
kunsthistorischen Verweise postnational: Die Figuren der ‚Camp Hope‘
(2008) genannten Installation tragen weiße Trainingsanzüge und
Kopftücher. Dank der Kufiyas (das palästinensische Kopftuch) liegt die
Vermutung nahe, dass es sich um Friedensaktivisten im Nahen Osten
oder G8-Gipfel-Gegner handelt. Sicher nicht zufällig erinnert die Plastik
‚Soldier 04/Ministry of Hope‘ (2008) abgesehen von den rosa Streifen
auf ihrer Uniform an UN-Truppen.
Beers monumentale, auf einem klassischen Sockel thronende Plastik
Hool‘ (2006, siehe Abbildung S. 29 und 47), ein sehniger Hund, der in
Düren den Betrachter wie das Bild Markus Oehlens anzugreifen schien,
verbreitet wie die ‚Fuck Revolution‘ (2003-04) genannte Reihe einen
aggressiven Skeptizismus. Doch muss stets ein ironisch distanzierendes
Augenzwinkern, das für den ‚homo ludens‘ Beer typisch ist, beachtet
werden: ‚The flickering mind tries to connect to alarmarama. Jump in
now and make it your own. Forever. Enjoy.‘(1)
(1) Beer in: Manana Resistance, 2006, S.3
G.M.
Abbildung rechts:
Tjorg Douglas Beer: Nelenti (2005)
Parawahn/Einbau(r)egalité (2006)
26
TJORG DOUGLAS BEER
2004 BFA, School of Fine Arts, Hamburg
2005 Stiftung Kunstfonds, Bonn
2005 Artist in Residence Program, Sapporo
2007 Stiftung Kunstfonds, Bonn
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Misanthropenkarussell/ Forgotten Bar Project,
Alp Gallery, Stockholm
Transzendenz Inc., Hospitalhof Stuttgart
Kunstpreis der Böttcherstraße, Neues Museum Weserburg, Bremen
2008 Camp Hope, Gallery Parkstrasse, Gstaad
Narkose #02, City Gallery, Heerlen
The Krautcho Club/In and Out of Place, 176 Gallery, London
Forgotten Bar Project, Galerie im Regierungsviertel, Berlin
Tjorg Douglas Beer, Stadsgalerij, Heerlen
The End was Yesterday, Kunstraum, Innsbruck
2007 Re-Escape, Contemporary Art Institute, Sapporo
Fish & Ships, Kunsthaus, Hamburg
Viewing Club, Phillipa Hatsplus, London
Vélada Santa Lucia, Santa Lucia, Maracaibo
Artists‘ Books - Transgression/Excess, Space Other, Boston
2006 Tohuwabohu II, Galerie Karlheinz Mayer, Karlsruhe
Tohowabohu, Erik Steen Gallery, Oslo
Mindmaking, Patricia Low Contemporary, Gstaad
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Himmelfahrtskommando, Arndt & Partner, Zürich
Hirnwaschanlage, Mitchell-Innes & Nash, New York
Wheely, Bonner Kunstverein, Bonn
This ain`t No Karaoke!, Haas Fischer, Zürich
Neue Kunst in Hamburg, Kunstverein, Hamburg
2005 Schnitte/Cuts, Produzentengalerie, Hamburg
Closer, Space Other, Boston
Troja Boja - Morgentaodde, Kunsthaus, Hamburg
Uagh, Autocenter, Berlin
2004 Tjorg Douglas Beer, Galerie Nomadenoase, Hamburg
Turmsturm, Nikolaj Contemporary Art Center, Kopenhagen
Kunstlichtkongress, Kunstraum Walcheturm, Zürich
2003 Asian Print Adventure,
Hokkaido Museum of Modern Art, Sapporo
Feine Ware I-III, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg
Aktion Brückenkopf, Hotel Bellville, London
2002 Trip to Bang Bang City,
CAI – Contemporary Art Institute, Sappor
Bifokal, Kunsthaus, Hamburg
2001 Bruder Poul sticht in See, Kunstverein Hamburg
72 Hours a Day, Ausstellungsraum Taubenstrasse, Hamburg
LITERATUR (AUSWAHL)
2009 Salonu Istanbul/Narkose #02, Revolver - Archiv für aktuelle Kunst
2006 Manana Resistance, Revolver - Archiv für aktuelle Kunst
2005 Transterroituale-Müller, Sammlung Taubenstrasse, Hamburg
2004 Kunstlichtkongressmagazin, Revolver - Archiv für aktuelle Kunst
Cheap Champagne, Material Verlag/Revolver - Archiv für aktuelle Kunst
Sammlung Taubenstrasse, Revolver - Archiv für aktuelle Kunst
Ausstellungsraum Taubenstrasse 1999-2002, Sautter & Lackmann, Hamburg
27
WERNER BÜTTNER
*1954 Jena
Polke ist dumm und lügt.
(Ausstellungskatalog, H. Nordhausen, 1978)
‚Jedes Leben ist auch ein verpfuschtes Leben‘ resümiert der
Autodidakt Werner Büttner, der es vom abgebrochenen Jurastudium
zur Professur an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) in
Hamburg brachte. An Selbstbewusstsein mangelt es dem ehemaligen
Jungen Wilden, der 1977 mit Albert Oehlen vor dem Berliner
Lotterleben nach Hamburg floh, nicht: ‚Unsereiner studiert drei
Semester und weitere fünf Semester kassiert er Bafög - und dann hat
er was fürs Leben gelernt.‘(1)
Vor diesem Hintergrund offenbart das in Düren – neben Meeses
von einer Vitrine geschützten Multiple – präsentierte Werk ‚Die
justitialen Probleme der Schöpfung künden von ihrer Schönheit‘
(1983) auch autobiografische Aspekte. Büttner kennt den Wahnsinn
der Justiz und ihre eigentümliche Schönheit. Indem er es als
solches vorführt, entlarvt der Künstler das absurd anmutende
Rechtsuniversum durch seine Kombination von comichaften
Linolschnitten mit Zitaten aus Urteilen und Gesetzestexten.
Büttner schlägt das System mit seinen eigenen Waffen, so wie er
1978 eine Anzeige anlässlich der Ausstellung bei Hilka Nordhausen
schelmenhaft abfing.
‚Ich habe einen Brief an die Staatsanwaltschaft geschrieben, in
dem ich mich entschuldigt habe, dass dieses Missverständnis nur
unserer Unfähigkeit als Maler zu verdanken ist. Ich schrieb, dass wir
eigentlich einen Feuerschlucker malen wollten und dass da jetzt ein
Punzenschlecker draus geworden ist, dass tut uns verdammt leid.
Daraufhin ist das Verfahren eingestellt worden‘, berichtet Büttner
vom Ausgang des Skandals.(1) Sigmar Polke dagegen – damals
Professor an der HBK – hatte ihm zum Übertünchen und einer
Schadensersatzklage geraten, wie der einleitend erwähnte Katalog
ironisch überliefert.
Daher verwundert es kaum, dass Meese, der als einer der
prominentesten Schüler Büttners gilt, so gekonnt wie humorvoll
mit dem Tabubruch spielt. Büttners Werk ist gekennzeichnet von
subtilem wie bissigem Humor. In bester Satiretradition nennt er
ein vor Regalen mit Totenköpfen positioniertes Schaf schlicht
‚Wachschaf‘ (2005). Über den Sprachwitz hinaus offenbart das Werk
den mit deutscher Geschichte Vertrauten den oft doppelbödigen
Charakter der Arbeiten Büttners. Hinter dem vordergründigen Humor
verbirgt sich ein zynischer Kommentar zu den vorgeblich unwissenden
Mittätern der Konzentrationslager, die als Wolkenschafe ins Reich
der Illusion verwiesen werden. Desillusion findet sich auch in dem
‚Irreversible Begeisterung‘ (2006) genannten Werk. Hier verbindet
Büttner ein Affengesicht, das aus einem gewitterwolkenartigen
Hintergrund herausschaut und über dem der kümmerliche Rest eines
Apfels schwebt, mit der Venus von Willendorf. Der Affe scheint für
die durch den Strunk der paradiesischen Frucht symbolisierte, geistige
Evolution – die Entfernung des Menschen von seinen animalischen
Wurzeln – nur ein wahnsinniges Grinsen übrig zu haben.
Sprache, die Zündkraft der Reibungsenergie von Bild und Wort, ist
ein wichtiger Bestandteil der Werke Büttners. An seinen Collagen
wird deutlich, warum die Jungen Wilden des Nachkriegsdeutschlands
wie die Fluxusbewegung häufig als Neodadaisten begriffen wurden.
Zynismus und Ironie bilden – wie die Feuerschlucker-Anekdote zeigt –
den Kern eines subversiven Skeptizismus. Mit ihm gelingt es Büttner,
der gefährlichen, weil bleiernen Schwere des politisch motivierten
Realismus – der ihn mit Albert Oehlen und Martin Kippenberger
verbindet – lustvolle Momente abzugewinnen. Doch wie gekonnt
Büttner mit dem Klischee von Kunst als elitärer und mystischer
Veranstaltung spielt und ironisch die Unmöglichkeit von Metaphysik
und Utopie kommentiert, erinnert letztlich wieder an Polkes ‚Höhere
Wesen‘.
(1) Büttner in Monopol 5/2008, S. 112f.
G.M.
Abbildung oben:
Werner Büttner: Die justitialen Probleme der Schöpfung künden von
ihrer Schönheit (1983), siehe Seite 11.
28
WERNER BÜTTNER
1974 Gründung Liga zur Bekämpfung widersprüchlichen Verhaltens
1977 Erste Ausgabe des Zentralorgans der Liga Dum Dum
1980 Gründung Samenbank für DDR-Flüchtlinge
1985 Annemarie-und-Will-Grohmann-Stipendium, Baden-Baden
1989 Professur, Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Privat - Wuppertaler Sammler der Gegenwart,
Von der Heydt Museum, Wuppertal
2008 Vertrautes Terrain - Aktuelle Kunst in und über Deutschland,
ZKM, Karlsruhe
2007 Un Fair/Trade,
Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz
2006 Kompromat, Kunsthalle Dominikanerkirche, Osnabrück
2005 Hello Cruel World, Kunstverein, Bremerhaven
2004 Welcome to accès interdit,
Fonds Regional d’Art Contemporain, Angouleme
2003 Verkehrte Welt, Deichtorhallen, Hamburg
2002 Klopfzeichen-Kunst und Kultur der 80er Jahre,
Museum der bildenden Künste, Leipzig
2001 Vom Eindruck zum Ausdruck - Grässlin Collection,
Deichtorhallen, Hamburg
1999 Zoom - Ansichten zur deutschen Gegenwartskunst,
Kunsthalle, Kiel
1998 Fast Forward: Image, Kunstverein, Hamburg
1997 Deutschlandbilder, Martin-Gropius-Bau, Berlin
1996 Einseitig gedeckter Tisch, Galerie Klosterfelde, Hamburg
1995 Heute scheint die Sonne in Strömen,
Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt
1994 O.T., Galerie Klemens Gasser, Bozen
1993 Miserere, Kunsthalle Ritter, Klagenfurt
1992 Malen ist Wahlen, Kunstverein, München
1991 Gullivers Reisen, Galerie Sophia Ungers, Köln
1990 Kampf dem Verderb, Jänner Galerie, Wien
1989 Neue Figuration - Deutsche Malerei 1960-88,
Kunstmuseum, Düsseldorf
What about having our mother back!, Kunstverein, Hamburg
1988 Les Années 80: À la Surface de la Peinture, Centre d‘ Art
Contemporain, Meymac
The BiNational/Amerikanische Kunst der späten 80er Jahre,
Kunsthalle, Düsseldorf
1987 Q.U.I, Villa Arson, Nizza
1986 Half an Hour of Modern Art, Metro Pictures, New York
1985 Kosmoprolet, Galerie Peter Pakesch, Wien
1984 Wahrheit ist Arbeit, Museum Folkwang, Essen
1983 Jenseits konstanter Bemühungen, Produzentengalerie, Hamburg
1982 Rechts blinken - links abbiegen, Realismusstudio 21, Berlin
1981 Junge Kunst aus Westdeutschland,
Galerie Max Hetzler, Stuttgart
1980 Finger für Deutschland, Atelier Jörg Immendorff, Düsseldorf
Mühlheimer Freiheit und interessante Bilder aus Deutschland,
Galerie Paul Maenz, Köln
1979 Elend, Kippenbergers Büro, Berlin
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Wetterfester Schmetterling, Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt
2003 Verkehrte Welt, Deichtorhallen, Hamburg
2002 Gitarren, die nicht Gudrun heißen, Galerie Max Hetzler, Berlin
29
ZHANG DALI
*1963 Harbin, China
‚I think I belong to the artists who raise questions, but do not solve
them.‘
(Zhang Dali in: Interview with CNN, 11.12.2006)
Die beiden in Düren gezeigten Arbeiten des Künstlers Zhang Dali,
das großformatige, an Polkes Rasterbilder erinnernde, dunkle Portrait
‚AK47‘ (2002) und der ‚100 chinese‘ genannte Epoxydharzabguss
eines Kopfes (2002), zeigen zwei zentrale Motive aus seinem frühen
Werk: Das Kürzel AK47 und der Kopf. Er begann als Sprayer in
Beijing Anfang der 1990er Jahre und ist inzwischen ein international
gehandelter Künstler. Vor Zhang schafften es nur Jackson Pollock
und Keith Haring bis auf die Titelseite des TIME-Magazin. Doch
seine Graffiti sind nicht wie die Banane des Sprayers Thomas
Baumgärtel Hinweise auf Kunst(-orte). Sie sind Zeichen für die
schleichende Zerstörung, eines Hauses, einer Stadt, einer Kultur.
‚After my graduation it was very difficult for me financially so I
couldn‘t hide in the studio dreaming about things. I wanted to
change reality into art, the things near me into art.‘(1)
Zhang sprühte schlichte, kindlich anmutende Profile auf Häuser
in Vierteln, die dem Wirtschaftsboom weichen müssen. Das
Profil ist ein traditionelles Symbol für den Dialog, es handelt sich
also um einen letzten poetischen Aufruf zum Überdenken der
Baumaßnahmen und ihren soziokulturellen Konsequenzen. Darüber
hinaus sind seine Graffiti und Tags subversive Reaktion auf die
offiziellen Zeichen, mit denen Abrisshäuser markiert werden. Eine
durchaus gefährliche Aktion, ein offensichtlicher Protest gegen den
Zeitgeist: ‚One day the police suddenly came to my house and asked
‚Is that painted by you?‘ and I said ‚no‘, I denied it. They said, ‚Who
do you think we are? We know everything‘ and then I said ‚yes‘. They
wanted to know what the graffiti was for, was it anti-government, was
it an organization or group that did it.‘(1)
Trotz Repressionen und der ihm inzwischen zur Verfügung
stehenden Mittel sprüht Zhang weiter und dokumentiert die Orte
seiner stillen Interventionen fotografisch wie ein Chronist. Neben
diesen als C-Print vertriebenen Werken zeigen Foto-Serien wie ‚A
second history, china history‘ (2005) mit Revolutionsmotiven der
Mao-Zeit, die durch eine Gegenüberstellung mit dem ‚Original‘ als
propagandistisch geschönte Bilder entlarvt werden, sein politisches
Engagement. Auch das zu Zhangs ‚Markenzeichen‘ gewordenene Tag
‚AK47‘ ist entgegen seiner Aussage – ‚It comes from a gang‘s name, I use
this to stand for the violence, this sort of violence doesn‘t just mean one
person hits another person‘(1) – eng mit Geschichte Chinas verbunden.
Er verwendet das Kürzel, wie das Bild der Sammlung Dahlmann zeigt,
zum einen als Basis von Rasterportraits. Zum anderen ist AK47 sein
Tag und da er die Orte aus dem zuvor genannten Grund mit Graffiti
versieht, gewinnt es über die von ihm genannte Gang-Gewalt hinaus
einen politischen Aspekt. AK47 ist die häufigst produzierte moderne
Schusswaffe der Welt. Von der chinesischen Variante wurden seit
1956 mehr als 10 Millionen hergestellt, die den Roten Garden und der
Volksbefreiungsarmee gute Dienste leisteten.
Wie komplex und subtil die Verweise in Zhangs Arbeiten trotz
vordergründig schlichten Motiven sein können, zeigt eine seine Graffiti
dokumentierende Fotografie aus der Serie ‚Demolition‘. Auf den
Resten einer weißen Abrissmauer, hinter der ein Turm die bedrohte
traditionelle chinesische Architektur zeigt, entdeckte der Künstler ein
Herbert von Karajan-Plakat. Auf dessen linke Seite sprühte Zhang das
Dialog-Profil, rechts davon sein Tag AK47. Alt und Neu, West und
Ost werden hier in pointierter Weise miteinander verbunden. Ein
idealistischer Aufruf zum Dialog über kulturelle Grenzen hinaus oder
zynischer Kommentar zu vergangenen wie aktuellen ‚Kulturrevolutionen‘
und deren Schattenseiten?
(Zhang Dali 2006) (1)
G.M.
Abbildung rechts:
Zhang Dali: AK47 (2002)
Siehe auch Abbildung Seite 9:
Zhang Dali: 100 chinese (2002)
30
ZHANG DALI
1983-1987 Studium der Malerei,
National Academy of Fine Arts & Design, Peking
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Pervasion, He Xiangning Art Museum, ShenZhen
Stairway to Heaven: From chinese streets to monuments,
Art Center, Kansas City
2008 China Gold, Musée Maillol, Paris
Re-Imagining Asia, Haus der Kulturen der Welt, Berlin
China Now - Lost in Transition, Eli Klein Fine Art, New York
Zeichen an der Wand - Neorealismus und Avantgarde im China
der 80er und 90er Jahre, Museum Groninger, Groningen
2007 Three Unities - Man and Beast - DDM Warehouse, Shanghai
Unexpected – Out of Control, Ku Art Center, Peking
Chinese Offspring, Chinese Contemporary Gallery, New York,
Red Hot!..., Houston Museum of Fine Arts, Houston
2006 China Now - Kunst in Zeiten des Umbruchs,
Sammlung Essl - Kunsthaus, Klosterneuburg
All Our Tomorrows - The Culture of Camouflage,
Kunstraum der Universität Lüneburg
Chinese Contemporary Sculpture Exhibition,
Museum Beelden aan Zee, Scheveningen
Zhang Dali - A Second History, Walsh Gallery, Chicago
2005 New Photography and Video from China,
Victoria and Albert Museum, London
The Game of Realism, Peking Commune Gallery, Peking
Xianfeng, Museum Beelden aan Zee, Scheveningen
Sublimation, Peking Commune Gallery, Peking
2004 Regeneration, Samek Art Gallery, Bucknell University, Lewisburg
Me!Me!Me!, The Court Yard Gallery, Peking
Between Past and Future, ICP, New York
Zhang Dali, Chinese Contemporary Gallery, London
2003 China-Germany Art, factory 798, Peking
Full Frontal: Contemporary Asian Artists,
The Logan Collection, Art Museum, Denver
2002 Headlines, Chinese Contemporary Art Gallery, London
Zhang Dali, Base Gallery, Tokyo
Asian Party, Global Game, Chinese Contemporary at ARCO, Madrid
Cross Pressures, Oulu City Art Museum, Oulu
2001 Contemporary Chinese Photography,
Finland Museum of Photography, Helsinki
Osaka Triennale, Osaka
Hot Pot, Kunstnernes Hus, Oslo
China Art Now, Singapore Art Museum, Singapore
2000 Dystopia + Identity in the Age of Global Communication,
Tribes Gallery, New York
AK-47, Courtyard Gallery, Peking
Fuck Off, Eastlink Gallery, Shanghai
Artistes Contemporains Chinois, Musee des Tapisseries,
Aix-en-Provence
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Zeichen an der Wand. Neorealismus und Avantgarde im China
der 80er und 90er Jahre, Museum Groninger, Groningen
Re-Imagining Asia - A Thousand Years of Separation,
Saqi Books, London
2007 China Art Book, Hrsg. Uta Grosenick/Caspar Schübbe,
Dumont, Köln
31
MICHAEL DEISTLER
*1949 Berne
Es ist in den letzten Jahren etwas still geworden um den wilden,
unverhohlen provokanten Michael Deistler, dessen drei
Kugelschreiberwerke – ‚rattus norvegicus‘ (1989), ‚Allzweckplane‘
(1981) und ‚Wer hier nicht denkt, muss lenken‘ (1981) – in Düren
so prominent im Rundgang des Obergeschosses ausgestellt wurden.
Und dass, obwohl der Hamburger Künstler sich stets in besten
Kreisen befand. Er war 1979 in Kippenbergers Berliner Büro zu
sehen. Später dann mit Kollegen wie Albert Oehlen, André Butzer,
Tim Berresheim und Markus Selg in der letzten Ausstellung
des Kölnischen Kunstvereins (‚Offene Haare, offene Pferde Amerikanische Kunst 1933-45‘, 2002), die in den mittlerweile
abgerissenen 1950er-Räumen stattfand. Diese inzwischen legendäre
Kölner Ausstellung war eine Hommage an Ivan Dambrowsky, einem
russischen Emigranten, der wie McCarthy als Entfant terrible der
amerikanischen Kunstszene gilt.
So wie Büttner wird Deistler dagegen als Vertreter einer Gruppe
von Künstlern der Hamburger Kunsthochschule gehandelt, die
sich seit Generationen mit Print, Schrift und Bild und deren
Verkettung beschäftigen. Das Werk, dessen Titel die Dürener
Ausstellung überschrieb, zeigt einen Totenkopf. Das Motiv erinnert
an Tourplakate von Punkbands Mitte der 1980er Jahre. Horizontal
gerahmt von einer groben, dem Raster geschuldeten Typografie
‚rattus norvegicus‘ blickt der Schädel vor giftgrünem Hintergrund
nach rechts – ein politischer Verweis?
Die anderen beiden in Düren ausgestellten Arbeiten lassen keinen
Zweifel an Deistlers Gesinnung aufkommen. In einer für die Zeit
typischen plakativen Art kombiniert er ein Hakenkreuz mit dem
schelmischen Kommentar ‚Wer hier nicht denkt, muss lenken‘. Und
das ‚Allzweckplane‘ genannte Werk thematisiert – wie bereits das
Camouflagemuster nahe legt – deutsche Klischees und Doktrinen
wie den Militarismus. Zugleich deutet es dank seines doppelbödigen
Titels einerseits auf einen genuin deutschen, weil kombinatorischen
Sprachwitz. Das Werk kann ebenso als zynischer Kommentar zur
Ambivalenz des menschlichen Erfindungsgeistes an sich gelesen
werden: man kann sich unter der Plane ebenso gut verstecken und
schützen, wie man sie für militärische Tarnung verwendet – AllZweck. So wie der Nistkasten zugleich eine Falle für den sich darin
ansiedelnden Vogel sein kann.
Bereits durch seine Technik – Kugelschreiber und Filzstift auf
gerastertem Papier – wird die Zugehörigkeit Deistlers zur zuvor
genannten Hamburger Tradition offenkundig. Besonders seine, dank
des verwendeten (Karo-)Papiers, an Werke gelangweilter Schüler
erinnernden Kugelschreiberzeichnungen führen dem Betrachter die
Basis des medialen Blicks – das Raster – vor Augen, so wie es zu
Beginn der 1960er Jahre Sigmar Polke mit seinen Raster-Bildern tat.
Kunsthistorisch betrachtet eröffnet sich hier zugleich das spannende
Feld der Frage vom Ornament als Bild und dem Bild als Ornament.
Doch auch dieser Aspekt ist wiederum geeignet, Deistlers Werk in einen
politischen, spezifisch deutschen Kontext zu verorten, wenn man ihn mit
Alois Loos Schriften, seiner Parole ‚Das Ornament ist ein Verbrechen‘
sowie der darauffolgenden Entwicklung der deutschen Kunstgeschichte
verbindet.
Im Stil der Reklame, deren plakative, eingängige Motive und Motti
die Botschaft den Konsumenten einschärfen sollen, schafft Deistler
stimmige Verbindungen von Form und Inhalt. Ihre Schlichtheit
ist kennzeichnend für den Aktionismus einer noch von scharfen
Gegensätzen – Punker und Popper oder alternativ linke und
revisionistisch rechte Gesinnung – geprägten Zeit: Die 1980er. Für sie
stehen die schrillgrüne Neonfarbe und der Totenkopf. Darüber hinaus
erinnert das Rechenheft-Raster an erste Computerspiele wie Pac-Man,
dessen bauklotzartige Ästhetik auch in Beers ‚Nelenti‘ als Referenz an die
eigene Kindheit gelesen werden kann.
G.M.
32
MICHAEL DEISTLER
1973-80 Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
1980-81 DAAD - Stipendium, Ägypten
1986 Hamburger Arbeitsstipendium
1989 Stiftung Kunstfond, Bonn
1994-95 Hans-Günther-Baas-Stipendium, Hamburg
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2006 rattus norvergicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Medium Fotografie, Galerie Löhrl, Mönchengladbach
2005 Deimos/Phobos - Notizen zur Landschaft,
Feld für Kunst, Hamburg
Nix wie weg, Galerie Hübner, Frankfurt
2. Internationales Lückerinnerungstreffen, WBD, Berlin
8 Nachkriegszeichner und ein Monitor,
Galerie Meyer Riegger, Karlsruhe
2003 Harakiri, Westwerk, Hamburg
Ebenholztränen, Kunsthaus, Hamburg
2002 Offene Haare, offene Pferde, Amerikanische Kunst 1933-45,
Kunstverein, Köln
2001 Zeichnungen und Malerei 1984-2005,
Sammlung Dr. Fellermann, Hamburg
Nordic Cryptomanic, Dr. Frieling, Hamburg
1999 Zwischenspiel, Maximilian Krips Galerie, Köln
1995 Kunststreifzüge, Kunsthaus, Hamburg
1994 3.3, Kampnagel, Hamburg
Keinzeit, Künstlerhaus Sootbörn, Hamburg
1993 Stadtfahrt, Hamburg
Michael Deistler, Westwerk, Hamburg
1991 Zehn Jahre junge Kunst in Hamburg, Kunstmuseet, Malmö
1990 Arbeiten auf Papier, Galerie Dörrie + Priess, Hamburg
Heimspiel, Kunstverein, Hamburg
11 Cities/11 Nations, Frieslandhal, Leeunwarden
1989 Zum 1. September 1939, KX auf Kampnagel, Hamburg
1988 Arbeit in Geschichte/Geschichte in Arbeit,
Kunsthaus/Kunstverein, Hamburg
World Fax 88, Kunstraum, Neuss
The show must go on, Galerie Dörrie + Priess, Hamburg
1987 Stipendiatenausstellung, Kunsthaus, Hamburg
1986 Haben und Halten, Speicherstadt, Hamburg
Galeristenblatt + Hans Kultur, Galerie Zwirner, Köln
Standpunkte, Kunsthalle, Hamburg
1985 Tiempo circular, Goethe Institut, Mexico-City
Hans Kultur präsentiert sich, NGbK, Berlin
Nur 3 Stunden, RZA Galerie, Düsseldorf
6xHamburg, Goethe Institut, Kairo & Athen
1984 Et in arcadia ego, Kunsthaus, Hamburg
Moderne Kunst nach 1980, Institut für Kunst, Hannover
Kalter Stern/Kalter Schweiss/Kalter Kaffee, Galerie Gugu Ernesto, Köln
1983 Künstlerräume, Kunstverein, Hamburg
1982 Lackbilder, Künstlerhaus, Hamburg
1981 Rundschau Deutschland, Klapperhof, Köln
Zeichnungen, Polaroids, Dia-Ton-Schau, Goethe Institut, Alexandria
1980 Finger für Deutschland, Atelier Immendorf, Düsseldorf
One night only, Danny Keller Galerie, München
Picknick am Atlantik-Wall und an der Maginot-Linie 7,
Kunstverein, Kassel
1979 Elend, Kippenberger Büro, Berlin
Abbildung:
Michael Deistler: rattus norvegicus (1989)
LITERATUR (AUSWAHL)
1995 45 minutes, NDR-Filmportrait, Hamburg
1991 Zehn Jahre junge Kunst in Hamburg, Kunstmuseum, Malmö
1984 Medium Fotografie, Galerie Löhrl, Mönchengladbach
33
GEORG HEROLD
*1947 Jena
‚Welche Erwartungen hat ein Betrachter an Kunst? Das ist doch viel
interessanter als irgendeine Interpretation.‘
(Georg Herold 2009) (1)
Die in der Ausstellung rattus norvegicus mit Arbeiten von Stange
und Ross in einem Raum gezeigten Werke Georg Herolds – ‚Ohne
Titel‘ (Kaviarbild, 1990), ‚Kurt und Karl‘ (2004) sowie das BacksteinObjekt (‚Ohne Titel‘, 1984) – bieten einen guten Überblick auf einen
Schwerpunkt in seinem Werk. Die neo-expressionistische Sprengkraft
der Jungen Wilden, zu denen Herold zählte und die sich neben der
Gründung von Bands oder Vereinen auch im Duktus ihrer Bilder
zeigt, findet sich hier in einer einfachen wie kunsthistorisch subtilen
Geste.
Der in Düren schlicht auf dem Boden positionierte Backstein (‚Ohne
Titel‘, 1984), scheint von hinten durch die Leinwand geworfen
zu sein – und ist doch immer noch mit ihr verbunden. Der Stein
ist, neben der Bedeutung als Zeichen rationalisierter Architektur,
ein (deutsches) Symbol für Wiederaufbau, das nicht nur auf jenen
der BRD zielt. Er kann allgemeiner als grundlegende Metapher für
das Aufbauen, die Werkgenese gelesen werden. Da es sich um ein
Werk vom Ende des 20. Jahrhunderts handelt, ist der aggressive
‚Durchbruch‘ auch vor dem Hintergrund experimenteller, der
Erweiterung des Kunstbegriffs dienender Attacken auf die Leinwand
der Moderne und den 1960ern (ZERO oder Lucio Fontana)
interessant.
Doch während jene mit Pfeil und Bogen oder Pistolen auf die
Leinwand schossen, wurde Herolds Angriff nicht frontal ausgeführt.
Hinterlistig scheint der Stein von der Rückseite her den Stoff
zerrissen zu haben, wie der Betrachter aufgrund der Position der
Leinwandfetzen schließen kann. Folgt man diesem Indiz, offenbart
das zunächst schlicht anmutende Werk vielfältige Facetten, die über
politische Aspekte hinaus auch kunsttheoretische Fragen evozieren:
Ist es ein Gemälde, eine Plastik, oder eine Installation? Entgegen
seinen vermeintlichen Vorsätzen – ‚Materialien, die eine eigene
Sprache sprechen, werden von mir grundsätzlich nicht benutzt.
Deshalb suche ich mir ungehobeltes, dummes Material, das keine
Fragen aufwirft‘ (2) – sorgt Herolds Werk für Kopfzerbrechen; seine
Selbstdeutung erscheint als Finte.
Werke wie ‚Kurt und Karl‘ oder das häufig variierte ‚Kaviarbild‘-Motiv
Herolds, ein kräftiger, mit Lack konservatorisch fragwürdig fixierter
Klecks der Feinkost, das im Jahre 1990 entstanden ein zynischer
Kommentar zum deutschen Einheitsrausch zu sein scheint, zeugen vom
subversiven Humor des Künstlers. Er verbindet ihn mit Büttner oder
Martin Kippenberger. Trotz seiner Beteiligung an Bands und Vereinen
war er stets mehr Solitär als Mitglied der Gruppen, wie er gewohnt
prägnant und ironisch auf der ‚Nebenlatte‘ genannten Arbeit 1984
notiert: ‚Gemeinsam sind wir Arschlöcher.‘
Manifeste wie das ‚Facharbeiterficken‘ (1982 mit Büttner und A.
Oehlen) und Ausstellungstitel wie ‚wo man kind‘ (2008) machen
deutlich, dass sich hinter Provokation und Sprachwitz stets ein um
Aktualität und Relevanz bemühter Geist steckt. Kennzeichen des seit
Mitte der 1990er Jahre an Akademien lehrenden Herold ist seine
unverkennbare (deutsche) Materialsprache, Dachlatten, Ziegelsteine,
Autolack.
Seine künstlerischen Experimente sind stets ernsthafte wie
selbstreferentiell-ironische Kommentare zu aktuellen Tendenzen in
Kunst, Gesellschaft und Politik. Dass er sich dabei einerseits in bester
Tradition und andererseits zugleich distanzierend auf verlorenem,
weil hoffnungslos idealistischen Boden befindet und darum weiß,
belegen humorvolle Werke und Titel wie ‚Künstlerische Medizin,
Patho-Ontologie / Cabinet patho-psychologique‘ (1995). Durch seine
erfrischend derbe wie feinsinnige Sprache gelingt es ihm, Klischee und
Pathos zu umschiffen – trotz plakativ provokantem Gestus.
(1) Herold in: Monopol 2/2009.
(2) Herold in: Wolkenkratzer Art Journal, 1/1988.
G.M.
34
GEORG HEROLD
1969-1973 Studium der Malerei, Halle
1974-1976 Studium der Malerei, München
1977-1978 Studium der Malerei, Hamburg
Seit 1993 Professur, Hochschule für Bildende Kunst, Frankfurt
Seit 2000 Professur, Akademie, Düsseldorf
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Art of Two Germanys/Cold War Cultures,
Deutsches Historisches Museum, Berlin
2008 Archeology of Mind, Konstmuseum, Malmö
Vertrautes Terrain - Aktuelle Kunst in und über Deutschland,
ZKM, Karlsruhe
Kavalierstart, Museum Morsbroich, Leverkusen
The Hamsterwheel, Konsthall, Malmö
...und immer fehlt mir was, und das quält mich, Werkstadt, Graz
2007 Im Wort, Kunsthalle, Göppingen
Georg Herold, Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Gent
wo man kind, Museum Ludwig, Köln
The Lath Picture Show, Friedrich Petzel Gallery, New York
2006 Kunst als Kommentar, Neues Museum, Nürnberg
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Transformation, Kunstmuseum Liechtenstein
Faster! Bigger! Better!, ZKM, Karlsruhe
2005 Georg Herold,
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden & Kunstverein, Hannover
What a life!, Museum Moderner Kunst Kärnten, Klagenfurt
Flashback - eine Revision der Kunst der 80er Jahre,
Kunstmuseum, Basel
Goetz meets Falckenberg, Sammlung Falckenberg, Hamburg
2004 Bollinger War’s, Anthony Reynolds Gallery, London
Für die Konstruktion des Unmöglichen - European Kunsthalle, Köln
Das große Fressen. Von Pop-Art bis heute, Kunsthalle, Bielefeld
Rhinegold - Art from Cologne, Tate Liverpool
2003 son of mom, Gabriele Senn Galerie, Wien
4 old works, Studio Fairhurst/Lucas, London
Blinde wehrt Euch!..., K21, Düsseldorf
Phantom der Lust - Visionen des Masochismus in der Kunst,
Neue Galerie, Graz
2002 OM, Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt
Sand in der Vaseline..., Kaiser Wilhelm Museum, Krefeld
Klopfzeichen, Kunst und Kultur der 80er Jahre..., Museum
Folkwang, Essen
Georg Herold, Kunstecke in der Tiroler Sparkasse, Innsbruck
2001 Big Nothing - Höhere Wesen..., Staatliche Kunsthalle,
Baden-Baden
Mutter-Kind-Vater, Goethe Institut, Palermo
Auktion‚ Genussgutscheine, Portikus, Frankfurt
WertWechsel. Zum Wert des Kunstwerks,
Museum für Angewandte Kunst, Köln
2000 Dein Wille geschehe ..., Haus am Waldsee, Berlin
I believe in Dürer, Kunsthalle, Nürnberg
First Biennale Buenos Aires, Museo Nacional de Bellas Artes,
Buenos Aires
Dinge in der Kunst des XX. Jahrhunderts, Haus der Kunst, München
Abbildung:
Georg Herold: Ohne Titel (1985)
LITERATUR (AUSWAHL)
2006 Kunst als Kommentar, Neues Museum, Nürnberg
2005 What a life!, Museum Moderner Kunst Kärnten, Klagenfurt
2003 Private - Corporate II, Sammlung Daimler/Chrysler Haus
Huth, Berlin
35
PAUL MC CARTHY
*1945 Salt Lake City
‚Body fluids are base material. Disneyland is so clean; hygiene is the
religion of fascism. The body sack, the sack you don’t enter, it’s taboo
to enter the sack. Fear of sex and the loss of control; visceral goo,
waddle, waddle.‘
(P. McCarthy 2003) (1)
Die im ‚Evening Sale‘ bei Christies am 12. November 2008 für über
2 Millionen versteigerte Bronzeplastik ‚Michael Jackson Fucked
Up‘ (2002) von Paul McCarthy dürfte ihrem neuen Besitzer trotz
der vielbeschworenen Kunstmarktkrise eine inzwischen ansehnliche
Rendite beschert haben. Es ist ein düsteres, nicht nur aufgrund der
monumentalen Maße, klassisch anmutendes Werk und zeigt den
tragischen Popheroen mit zwei Köpfen in traditioneller Pose auf
einem tumbenähnlichen Sockel sitzend. Das riesige, wie das zweite
komplett in Mullbinden gehüllte Haupt der Figur versinnbildlicht
die melancholische Konnotation des Titels und die empathische
Dimension der Arbeit.
Es handelt sich nicht um eine vermeintlich witzige Provokation
des als Enfant terrible der US-amerikanischen Kunst gefürchteten
McCarthy, wie man aufgrund des Titels mit dem tabuisierten F-Wort
auf den ersten Eindruck vermuten könnte. Die Plastik zeigt den von
Massenmedien verspotteten Pophelden, der seit Mitte der 1990er
Jahre zunehmend als monströser Freak dargestellt wurde. Subtil
verweist McCarthy mit einer schlichten Geste – ein Keil, der den
riesigen Kopf mit der geometrischen, antik anmutenden Nase vom
Körper trennt – auf den brutalen wie tiefen Sturz. Jackson ließ für
seine ‚HIStory World Tour‘ (1996/97) werbewirksam blasphemisch
hohe Statuen in europäischen Großstädten aufstellen.
(1993), dessen Penis sich spaghettiartig auf dem Boden ausbreitet.
Die in Düren passend in einem Raum mit Büttner, Meese und
Melgaard gezeigte Lithografie (Ohne Titel, 2005) McCarthys zeigt
seine oft beschriebene Nähe zum abstrakten Expressionismus, Wiener
Aktionismus und Action Painting, die in frühen Performances und
Videos besonders deutlich wird. Statt Blut verwendet er Ketchup,
Mayonnaise und andere Markenprodukte, die zu Ikonen USamerikanischer Konsumkultur geworden sind. Diese sind wie Sex und
Gewalt und die zu Freaks mutierten Comichelden und Märchenfiguren
markante Kennzeichen seines Oeuvres. Es steckt voller kunsthistorischer
(Minimal und Pop Art) wie gesellschaftskritischer (Freud und Marcuse)
Referenzen und Anleihen, die sich dem – in der Regel zunächst
irritierten – Betrachter erst auf dem zweiten Blick offenbaren.
McCarthy gelingt es auf diese Weise, eine wirkungsmächtige, weil
einprägsame Bildsprache zu kreieren, was sein bis heute andauernder
Einfluss auf zeitgenössische Künstler zeigt. Wie Bruce Naumans frühe
Werke kreisen seine aggressiven, sexuell provokativen und teils brutal
selbstzerstörerischen Werke um das Thema des menschlichen Körpers.
Sie treffen den voreilig urteilenden Betrachter wie ein Schlag ins
Genick – say goodbye to neverland.
(1) McCarthy in: BOMB-Magazin 84/2003)
G.M.
McCarthy thematisiert den einleitend erwähnten DisneylandFaschismus, die Schattenseiten des ‚American Way of Life‘, wie sie
auch am Schicksal des verstorbenen ‚King of Pop‘ deutlich werden,
bereits seit den 1960er Jahren. Doch entgegen dem Punk-Klischee ist
er nicht in erster Linie daran interessiert, Tabus zu brechen. Seine oft
zynische wie absurde, stetig wiederkehrende Betonung von Sex und
Gewalt richtet sich gegen die symbolische, sublimierte Gewalt, die
von Massenmedien und den in ihnen reproduzierten, konservativen
Familienwerten ausgeht. McCarthys künstlerische Untersuchungen
der Mechanismen dieser sozialen Strukturen sind vielschichtig und
bringen monströse, kopulierende Tierfiguren hervor, wie ‚Bear and
Rabbit on a Rock‘ (1992) oder den unheimlichen ‚Spaghetti Man‘
36
PAUL MCCARTHY
1969 Kunststudium Universität
Utah und San Francisco Art Institute (SFAI)
1972 Bachelor of Fine Arts Malerei am SFAI,
University of Southern California
1973 M.F.A. Film/Video/Intermedia,
University of Southern California
Seit 1982 Professur an der UCLA, Los Angeles
Abbildung:
Paul McCarthy: Ohne Titel (2005)
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Sonic Youth etc.: Sensational Fix, Kunsthalle, Düsseldorf
2008 Here Is Every, MoMA, New York
Paul McCarthy, Middelheimmuseum, Antwerpen
Central Symmetrical Rotation Movement,
Whitney Museum, New York
Head Shop/Shop Head, Stedelijk Museum, Gent
2007 Live/Work: Performance into drawing, MoMA, New York
Nothing Else Matters, De Hallen Haarlem, Haarlem
Kunst aus Los Angeles der 60er bis 90er Jahre,
Kunstverein, Braunschweig
There is never a stop and never a finish, Hamburger Bahnhof, Berlin
2006 Full House, Kunsthalle, Mannheim
Los Angeles 1955-85, Centre Pompidou, Paris
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Paul McCarthy, Moderna Museet, Stockholm
Faites vos jeux! Kunst und Spiel seit Dada,
Museum für Gegenwartskunst, Siegen
2005 Superstars, Kunsthalle, Wien
Wild Gone Girls, Frac, Ile-de-France, Paris
Multiple Räume - Film, Kunsthalle, Baden-Baden
LaLa Land Parody Paradise, Haus der Kunst, München
2004 Das große Fressen, Kunsthalle, Bielefeld
Paul McCarthy, CAC, Malaga
Brain Box - Dream Box, Van Abbemuseum, Eindhoven
Playlist, Palais de Tokyo, Paris
2003 Spiritus, Magasin 3, Kunsthalle, Stockholm
Paul McCarthy, Tate Modern, London
Bankett/banquete, Palau de la Virreina, Barcelona
M_ARS - Kunst & Krieg, Neue Galerie, Graz
2002 Clear Thoughts, Luhring Augustine Gallery, New York
Paul McCarthy - Video & Fotografie, Frans Hals Museum, Haarlem
Passenger - The Viewer as Participant,
Fearnly Museum of Modern Art, Oslo
Plus Ultra, Kunstraum, Innsbruck
2001 Let‘s Entertain - Life‘s Guilty Pleasures,
Museo Rufino Tamayo, Mexico City
Paul McCarthy, Villa Arson, Nizza
Extreme Connoisseurship, Harvard
University Art Museum, Cambridge
Paul McCarthy - Video & Fotografie, Kunstverein, Hamburg
2000 The Fashion Show, Los Angeles
Pinturas Amuebladas, Galeria OMR, Mexico City
Lost, Ikon Gallery, Birmingham
Around 1984, PS1, New York
LITERATUR (AUSWAHL)
2007 Franke/Knapstein: There is never a stop and never a finish, Köln
2003 Paul McCarthy at Tate Modern, London
2003 Engelbach: McCarthy, Paul, Hammer, Oranges,
Apple, Frankfurt a.M., Revolver Verlag
2000 Meyer-Hermann: Paul McCarthy - Dimensions of the Mind:
The Denial and the Desire in the Spectacle, Köln
37
JONATHAN MEESE
*1970 Tokio
Die Zukunft richtet sich niemals nach den widerlich nostalgischen
Befindlichkeiten des Menschen, der Mensch möge von sich absehen
und die Machtübernahme der Kunst liebevollst willkommen heißen.‘
(Meese in: Rolandseckmanifest, 2009)
festleg- und somit interpretierbar. Meese betont zugleich, dass seine
Selbstportraits keine individuelle Aussage beinhalten, es handele sich
vielmehr um ‚Staatsfratzen, Staatsgesichter, die keine Individualität mehr
haben.‘(2)
Meese, Meese, Meese ...
Im Falle Jonathan Meese fragt man sich schnell: Wie viele Meeses
gibt es eigentlich? Den bildenden Künstler, den Schauspieler (Das
Herz ist ein dunkler Wald), den Bühnenbildner (Kokain) und
den Autoren-Regisseur Meese (De Frau: Dr. Poundaddylein - Dr.
Ezodysseusszeusuzur). Seine Produktionswut und die diversen
Inspirationsquellen, von altnordischen Sagen bis zu zeitgenössischer
Science-Fiction, erwecken den Verdacht, es handele sich um einen
unruhigen Geist, der auf zu vielen Hochzeiten tanzt. Wäre da nicht
dieser Grundgedanke Meeses, nicht einmal dies und anderes mal
jenes zu machen, sondern immer alles. Sein primäres Ziel scheint zu
sein, alle Referenzen des Meese-Universums zu integrieren und somit
unzählige Möglichkeiten des gedanklichen Ab- und Ausschweifens
zu bieten. Auf diese Weise gelingt Meese die inhaltliche Ent- und
Umwertung von historischen Begriffen und Figuren. Ähnlich einer
Assemblage wecken die von ihm verwendeten Elemente mittels der
(Neu-) Kombination im Betrachter individuelle Assoziationen. Meese
verstärkt diesen Prozess, indem er Begriffe und Personen verwendet,
die oft eine eindeutig negative Konnotation haben. So verwirrt die
Gegenüberstellung von Charles Bronson, Pornographie, ‚Slayer‘
und Hitler den Betrachter und zwingt ihn zu weiter reichenden
Assoziationen.
Die in Düren gezeigten Selbstportraits der Sammlung Dahlmann
(‚Marquis des Sqawmeese im geöffneten Maul des Mädchenvampirs
Nassys‘ von 2002 und Werke der ‚Kapitano Bligh‘ Reihe von 2001)
verweisen auf einen bedeutenden Grundsatz in Meeses Denken. Das
Selbstportrait, vermeintlich das Persönlichste, was ein Künstler schaffen
kann, wird von ihm entindividualisiert und eröffnet dem Betrachter
somit Assoziationen fernab vom Offensichtlichen – Facetten des MeeseUniversums, dessen Kunstdiktatur keine eindeutigen Identitäten zu
kennen scheint.
Gedankenspiel wird inhaltliche Debatte und umgekehrt.
‚Alles ist Spielzeug. Das ist alles gewesen. Ob Kommunismus,
Nationalsozialismus, das alte Ägypten oder das alte Rom, nichts
kommt wieder. Wir sollten etwas anderes sich lostreten lassen,
der Vulkan der Kunst möge ausbrechen‘(1) fordert Meese. Er gibt
keine Interpretation vor und entzieht sich geschickt immer wieder
möglichen Einordnungen. Als wolle er sich dem immer wieder
auf seine Arbeiten angewendeten Begriff von der ‚individuellen
Mythologie‘ entziehen, bezeichnet Meese seine Kunst als Staatskunst
und versieht jeden zentralen Begriff mit dem Präfix ‚Staat‘
(Staatspornographie, Staatsideologie, Staatsobsession...). Doch er
erläutert nicht, wie er den Begriff versteht. Es macht keinen Sinn,
sich auf Max Weber, Franz Oppenheimer oder Niklas Luhmann
zu berufen – die Offenheit seines Systems wäre zerstört, er wäre
Meese entzieht sich jeder Definition oder der Eindeutigkeit
eines Konzeptes, das eine Annäherung an seine Werke auf einer
allgemeingültigen Ebene erlaubt. Meeses Kunst ist anziehend und
abstoßend zugleich. Durch die Offenheit des Systems und immer
wieder neu auftauchender Widersprüche kann die Kunst ständig neu
betrachtet werden. Damit entsteht ein gewisser Aspekt der Zeitlosigkeit,
der garantiert, dass auch, wenn sich niemand mehr daran erinnert, wer
Charles Bronson war, die Diktatur der Kunst als solche verstanden wird.
(1) Moritz Honert: ‚Der will nur spielen. Interview mit Jonathan Meese,
in: testcard #16: Extremismus (2007), S.162-168.
(2) Angela Lampe: ‚Der Wille zur Staatskunst – Ich bin breit mich
weiter zu verstricken’, in:
Kunstforum International, Bd.164 (2003), S.183.
I.P.
Abbildung rechts:
Jonathan Meese: Marquis des Sqawmeese im geöffneten Maul des
Mädchenvampirs Nassys (2002)
38
JONATHAN MEESE
1995-1998 Hochschule der Bildenden Künste, Hamburg
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Erzstaat Atlantisis,
Arp Museum - Bahnhof Rolandseck, Remagen
KölnSkulptur 5, Skulpturenpark, Köln
Crotla Presents, Lothringer 13 - Städtische Kunsthalle, München
2008 Vertrautes Terrain, ZKM, Karlsruhe
Fräulein Atlantis, Essl-Museum, Klosterneuburg
back to black - Schwarz in der aktuellen Malerei,
Kestner Gesellschaft, Hannover
2007 Marquis de Schnurkuss Milchmädch‘ Meesie (Babybouncer)
Die ultragroßen Abenteuer, Kunstraum, Innsbruck
No, future, Bloomberg Space, London
Konstellationen III, Städel Museum, Frankfurt
Mama Johnny, Deichtorhallen, Hamburg
Deutsche Geschichten, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
2006 rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Daniel Richter / Jonathan Meese, Kunsthaus, Stade
Memento Mori, Comme ci Comme ca II, Köln
Die 90er - Vom Künstlerbuch zur CD-ROM,
Neues Museum Weserburg, Bremen
2005 Képi Blanc - nackt, Schirn Kunsthalle, Frankfurt
Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF-Ausstellung,
Kunstwerke, Berlin
Baroque and Neobaroque, Domus Artium 2002, Salamanca
Sherwood Forest, De Hallen, Haarlem
2004 Das Bildnis des Dr. Fu Manchu,
Contemporary Fine Arts, Berlin
Sammlung Taubenstrasse, Kunsthaus, Hamburg
Solo Mortale, Kunstverein, Kassel
Partisanen der Utopie, Schloss Neuhardenberg, Berlin
2003 Warum!, Martin Gropius Bau, Berlin
L‘amour, Galerie Daniel Templeton, Paris
Grotesk!, Schirn Kunsthalle, Frankfurt
Deutschemalereizweitausendrei, Kunstverein, Frankfurt
2002 Young Americans, Contemporary Fine Arts, Berlin
Revolution, Kestner-Gesellschaft, Hannover
Brotherslasher, Ausstellungsraum Brotherslasher, Köln
Hossa, Centro Cultural Antratx, Mallorca
2001 Ziviler Ungehorsam - Sammlung Falckenberg,
Kestner-Gesellschaft, Hannover
Jonathan Meese, Galerie Leo Koenig, New York
Ausgesucht von Eva Schlegel und Erwin Wurm,
Galerie Krinzinger, Wien
Jonathan Meese, Centre d‘Art Contemporain, Fribourg
2000 The Return of Dr. Cyclops, Paolo Curti & Co., Mailand
Soldat Meese (Staatsanimalismus),
Maldoror-Turm, Museum Abteiberg, Mönchengladbach
L.A. ex, Museum Villa Stuck, München
Produktivität und Existenz, Kunstraum Bethanien, Berlin
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Diktatur der Kunst, Jonathan Meese (Erzmumin), Köln
2007 Jonathan Meese, Fräulein Atlantis, Klosterneuburg
2004 Don’t call us piggy, call us cum,
Galerie Hammelehle und Ahrens, Köln
2002 Revolution, Kestner-Gesellschaft, Hannover
2001 Jonathan Meese, Galerie Leo König, New York
2000 Sierhoden und Absinth - Erwin Meese,
Contemporary Fine Arts, Berlin
39
BJARNE MELGAARD
*1967 Sydney
‚Yes, we have declared war. Dead died because the trend people have
destroyed everything from the old black metal / death metal scene,
today death metal is something normal, accepted and funny and we hate
it.‘
(Øystein Aarseth alias Euronymous, in: Bad Faust Magazine 1992)
Auch sein Beitrag auf der documenta 12 war eine Hommage an einen
Musiker: Roger Baptist alias Rummelsnuff. Er gilt als eine Ikone der
deutschen Elektropunk- und Industrial-Szene, dessen beeindruckende
Muskelmassen das Zentrum der in Kassel ausgestellten Malereien und
Fotografien bildete.
Die in Düren vis-á-vis von McCarthys wilder Lithografie auf einem
weißen Sockel präsentierte Plastik Bjarne Melgaards könnte einem
skandinavischen Krimi entstammen. Der klassisch anmutende, von
Melgaard mit schwarzen Bemalungen und Statements wie ‚RUSSIAN
STEROIDS‘ oder ‚WE DIE TO SLOW‘ verfremdete Gipsabguss wirkt
wie das ungewöhnliche Artefakt am Tatort, das den Ermittlern den
entscheidenden Hinweis auf das Milieu liefert: Die Death Metal-Szene.
Letztere ist wie Punk längst im Sinne Marcuses Analyse als ‚Attitüde‘
ins Konsumsystem integriert worden. Ihre genuinen Inhalte wurden
Anfang der 1990er Jahre erfolgreich kommerzialisiert und entfremdet,
wie der einleitend zitierte Sänger Euronymous feststellte. Dass er
unter umstrittenen Umständen verstarb, steigerte den kommerziellen
Ausverkauf und den Kult-Status der norwegischen Black Metal-Band
‚Mayhem‘ nur noch.
Melgaards malerisches Werk umfasst Arbeiten von hoher
künstlerisch-technischer Virtuosität neben an Art brut erinnernde
Kinderzeichnungen. Doch das Bindeglied aller Arbeiten und Medien
des Künstlers – Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Digitale Kunst,
Installation, Environment und zahlreiche Cover für ihm nahestehende
Bands – sind die psychischen und leiblichen Abgründe des Menschen,
mit denen er den Betrachter in der Regel konfrontiert.
Auch die aus drei Figuren bestehende Gipsplastik wurde durch
Melgaards Übermalungen aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst.
Die beiden, die mittlere Figur flankierenden Männer, wirken durch ihre
Haltung und Attribute wie tatkräftige Handwerker oder Seemänner.
Doch durch die vom Künstler hinzugefügten schwarzen Augenringe
und tatooartigen Spuren auf den Armen kippt die Stimmung. Die
entschlossene Körperhaltung erscheint nun bedrohlich. Im Gegensatz zu
diesen beiden, nur halb aus dem Sockel ragenden Assistenzfiguren, steht
die zentrale Figur aufrecht und stützt ihre linke Hand auf einen langen
Stab. Ihr Körper ist bis auf die Hände und das Gesicht vollständig von
einem sakral anmutenden Gewand verhüllt und kann letztlich durch die
Verfremdungen Melgaards – das schwarze Gesicht und der Totenkopf
auf der Brust – nicht mehr eindeutig identifiziert werden. Ist es eine
weibliche Heiligenfigur oder doch ein zwiespältiger Wächter oder
Fährmann, wie druch den Stab angedeutet wird? Die Aufschrift ‚Just
want to be the cause of my own death‘ auf dem Rücken der Figur legt
den Verdacht nahe, dass es sich um einen gefallenen Engel oder eine
satanische Sirene handelt.
Melgaard ist, wie bereits der als eine Hommage an ‚Mayhem‘ zu lesende
Titel des Werks zeigt, eng mit der Black Metal-Szene verbunden.
Ob Graffiti, satanistische Symbolik, Splatterfilm oder ClubhouseÄsthetik: Angesichts von fiktiven Ritualmorden und dem Verbrennen
der Exponate scheint vor allem der scheinbar diabolisch motiverte
Tabubruch Programm zu sein. In diesem Sinne müssen Melgaards
Ausstellungen daher stets auch als Performance gelesen werden. Die zur
Vernissage oder im Ausstellungsbegleitprogramm auftretenden Bands
sind ein integraler Bestandteil seines Konzeptes.
‚Dead died – but never surrender‘ scheint die an Punk erinnernde
Botschaft der Performances und Werke Melgaards trotz bzw. angesichts
der von Marcuse als repressive Entsublimierung beschriebenen
Kommerzialisierungstendenzen zu sein.
G.M.
Abbildung rechts:
Bjarne Melgaard: Euronymous (2001)
40
BJARNE MELGAARD
1989-90 Kunstakademie, Warschau
1990-91 Statens Kunstakademi, Oslo
1991-92 Jan van Eyck Academie, Maastricht
1992-93 Rijksacademie van Beeldende Kunsten, Amsterdam
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Twilight Zone - Art Hits Design,
Kunstraum Niederösterreich, Wien
Loss of Control, MARTa, Herford
2008 Chickenhawk, Galerie Krinzinger, Wien
A Kidwhore in Manhattan - A Novel,
Galerie Guido W. Baudach, Berlin
Euro-Centric - Part 1, Rubell Family Collection, Miami
Oh My God!, Kunstlaboratorium, Vestfossen
2007 Aggression of Beauty II, Galerie Arndt & Partner, Berlin
Mommy`s Boy & Daddy`s Girl, Patricia Low Contemporary, Gstaad
You Always Move in Reverse, Leo Koenig, New York
Daydreams and Nightmares, Stenersen Museum, Oslo
2006 Minipigs in Space, Galerie Krinzinger, Wien
Die Jugend von heute, Schirn Kunsthalle, Frankfurt
Goethe abwärts - deutsche Jungs, Mönchehaus-Museum, Goslar
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Antisocial, Frac Auvergne, Clermont Ferrand
2005 With us against reality, or against us!, Galleri S.E., Bergen
Hallo Maybe, Haugar Museum of Art, Oslo
Cut Off - Collage als Dekonstruktion, Malkasten, Düsseldorf
Life is a Lonely Buffalo, Niels Borch Jensen Gallery, Berlin
Not a Painting Show, Stella Lohaus Gallery, Antwerpen
2004 Secrets of the 90s, Museum voor Moderne Kunst, Arnheim
Norwegian Art of the Last Decade,
Zacheta National Gallery of Art, Warschau
Central Station - Harald Falckenberg collection, Maison Rouge, Paris
Playlist, Palais de Tokyo, Paris
2003 The End of the Professional Teenager, Pollock Fine Art, London
Phantom der Lust, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz
Tattoo, Galerie Roger Pailhas, Marseille
The Painting never dries...,
Astrup Fearnley Museum of Modern Art, Oslo
2002 Black Low, MARTa, Herford
Interface to God, Kunsthalle, Kiel
Hommage an Rudolf Schwazkogler, Galerie Krinzinger, Wien
Nothing Special, Galerie Faurschou, Kopenhagen
2001 New Heimat, Kunstverein Frankfurt
Bjarne Melgaard, Galerie Krinzinger, Wien
2000 Civil disobedience - Sammlung Falckenberg,
Kestner Gesellschaft, Hannover
The myth of a young washing machine,
Museum of Contemporary Art Galleri Riis, Oslo
Rückblick und Ausblick, Kunstmuseum, Bonn
Organising Freedom - Nordic art in the 90s,
Charlottenborg udstillingsbygning, Kopenhagen
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Afterall, A Journal of Art,
Context and Enquiry (17/2008), London
2005 Hallo Maybe - Bjarne Melgaard, Haugar Vestfold Kunstmuseum
2002 Interface to God, Kunsthalle, Kiel
1997 Free from content, Stedelik Museum, Amsterdam
41
STEPHAN MÖRSCH
*1974 Aachen
So sah ich nach oben
Fand noch nicht einmal den Mond
Und diese Stadt war leise
Fast so still und sanft wie der Tod
(Fliehende Stürme, Spieler)
Treppenhäuser, Tiefgaragen, Straßenkreuzungen: Unorte und
Durchgangsräume begegnen uns auf den Zeichnungen von Stephan
Mörsch. Räume, die keine Lebensräume sind, die nicht zum
Verweilen einladen, sondern funktionale Transitzonen auf dem Weg
zur Arbeits-, Vergnügungs-, und Wohnstätte.
Menschen sind auf den Stadtbildern des Künstlers die Ausnahme
der Regel. Sie treten nahezu ausschließlich als Einzelne auf, meist in
der Rückansicht. Sie erinnern an die leise Verlorenheit der Figuren
Edvard Hoppers, teilen deren Ziellosigkeit. Und wie sich bei Hoppers
1946 entstandener ‚Einfahrt in die Stadt’ eine dunkle Tunneleinfahrt
in ein betonsteriles Tor zur Unterwelt verwandeln kann, wird bei
Mörsch die prosaische Sicherheitstür einer Tiefgarage – verdunkelt
und ins Bildzentrum gerückt – latent bedrohlich. Sie erhält den
fatalistischen Sog eines schwarzen Lochs, das jede Wahlfreiheit
versiegelt.
Hopper setzt die Unterhöhlungen des amerikanischen Traums
ins Bild. Ausgeführt an deren exemplarischen Ortschaften, dem
Produktionsmotor Großstadt und dem Refugium der viktorianischen
Kleinstadt. Er entdeckt Verlorenheit und Lebensleere auf der
Rückseite des aktionistisch vitalen Fortschrittsoptimismus. Dagegen
kann Mörsch als Chronist der Tristesse der westdeutschen Stadt
begriffen werden.
Seine Zeichnungen sind seismographische Aufzeichnungen des
Unbehagens, der Unheimlichkeit im öffentlichen Raum. Angesichts
seiner Straßenszenerien mag man sich an postapokalyptische
Filme wie den ‚Omega-Mann’ (1973) erinnert sehen. Doch wo
die grandiose Szenerie der Hochhausschluchten New-Yorks der
unaufhebbaren Einsamkeit des ‚last man on earth’ immer noch
einen Rest Heroismus gestattete, schrumpft sie bei Mörsch auf
das Mittelmaß bundesrepublikanischer Einkaufszonen. Die
metaphysische Dimension der Einsamkeit, wie sie Nietzsche, Rilke
und Camus noch beschworen, weicht bei Mörsch der Trivialität des
Alleinseins. Nur ausnahmsweise scheinen in der Trivialität quasi
metaphysische Momente auf. So kann der helle Lichtschein, der aus
einem U-Bahneingang auf die nachtschwarze Straße dringt, einen
epiphanisch-visionären Charakter erhalten.
Mörschs zeichnerische Arbeiten tragen einen eminent filmischen
Charakter. Ihr kontrastreiches Schwarz-Weiß erinnert an Film-Stills der
1950er und 1960er Jahre, an Neorealismus und Nouvelle Vague. So
kann man die seriellen, kleinformatigen Werke mit ihren wechselnden
Kamerawinkeln und Einstellungsgrößen auch als sequenzielle Bilderfolge
eines Storyboards lesen, als Momente einer Handlung, die nicht
geschieht. Thematisch wie formal kreisen die Werke um die Pole
Bewegung und Stillstand, um Zeitlichkeit. Auch wo sie Stillstand zeigen
sind es Aufzeichnungen, die aus der Bewegung, oft aus dem Gehen
entstanden sind und deren Entstehungssituation sich in das bildliche
Ergebnis eingeschrieben hat.
Neben den melancholisch gestimmten Graphitzeichnungen entstehen
modellhafte Plastiken, geprägt von lakonischem Humor und
hintersinnigem Witz. Ein Jagdhochsitz (Ohne Titel, 2007) wird auf
Modellgröße geschrumpft und gleichsam als minimale Übersicht
ironisiert: Entlarvung durch Miniaturisierung. Aber so wie er Charakter,
Struktur und Atmosphäre seiner Unorte, Zwischenräume und
Transitzonen zeichnerisch souverän einfängt, bildet Mörsch die rohe
wie fragile Holzkonstruktion des erniedrigten Hochsitzes in liebevoller
Detailgenauigkeit nach. Denn Mörsch zieht sich nie in Zynismus
zurück, sondern bewahrt auch in subtiler Kritik einen Moment von
Empathie.
Er verkleinert Wachhäusschen libanesischer Grenzsoldaten auf
Nistkastenformat, entdeckt in ihren unterschiedlichen Formen,
Größen und Bemalungen unerwartete Diversität in der Uniformität
des Militärischen. Thematisch korrespondieren die Hochstände und
Wachhäusschen mit den graphischen Arbeiten. Sie sind Orte gespannter
Aufmerksamkeit, potentieller Destruktion und zugleich Stätten
ausgedehnter Langeweile. Zwischenstationen wie eine Bushaltestelle,
Sinnbild eines Lebens im Wartestand. Aktivität und Passivität
kulminieren im Nullpunkt.
T.L.
42
STEPHAN MÖRSCH
1994-96 Geisteswiss. Studium, Universität Bonn
1996-98 Akademie Beeldende Kunsten, Maastricht
1998-04 Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
2003 Stipendium der Karl H. Ditze Stiftung
2005 Art Cologne, Förderkoje 2005
2006 Hamburger Arbeitsstipendium für Bildende Kunst
2006 Gastprofessur, Akademie der Bildenden Künste, Nürnberg
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Central Nervous Sytem NO. 2, Galerie im Regierungsviertel, Berlin
Bremerhaven - New York, Kunsthalle, Bremerhaven
2008 Tabularasa - The Driller Killer Artists,
Galerie im Regierungsviertel, Berlin
Zeichnen, Kulturbahnhof Eller, Düsseldorf
2007 Imaging the Distance, Ludwig Forum Aachen,
Arlington Art Centers
Transfer Türkei - NRW,
Ludwig Forum Aachen, Bochum, Münster, Istanbul
Otopark, Galerie Sfeir-Semler, Hamburg
Fish and Ships, Kunsthaus, Hamburg
2006 Site Samples # 1 & 2, Galerie für Landschaftskunst, Hamburg
Sculpture, Rental Gallery, New York
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Moving Home(s), Galerie Sfeir-Semler, Beirut
2005 Tauchfahrten, Kunsthalle, Düsseldorf
Modellräume, Städtische Galerie, Nordhorn
Stephan Mörsch, Galerie Sfeir-Semler, Hamburg
Deimos/Phobos, Feld für Kunst, Hamburg
2004 Kunst in der Börse, Hamburg
Kunstlicht Kongress, Kunstraum Walcheturm, Zürich
Tauchfahrten, Kunstverein, Hannover & Kunsthalle, Düsseldorf
Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen,
Galerie Adamski, Aachen
Sammlung Taubenstrasse, Kunsthaus, Hamburg
2003 Mobile Drawn, Kunsthaus, Zug
Feine Ware (eins bis drei), Plattform Taubenstrasse,
Kunstverein, Harburg
Tangente, plan b kunstraum, Hamburg
Aktion Brückenkopf/Bridgehead’,
Hôtel Bellville, London & Taubenstrasse, Hamburg
2002 Mullhollanddrive, Taubenstrasse, Hamburg
Does-a-line-lie? - Artgenda 2002 Zeichenexperiment,
Künstlerhaus Weidenallee, Hamburg
Eine zeichnerische Untersuchung,
Galerie für Landschaftskunst, Hamburg
Istanbul Gizmek – Drawn Istanbul, Asmalimescit Galerie, Istanbul
2001 >>re//MIR<<, art agents gallery, Hamburg
Stephan Mörsch, Borey-art gallery, St. Petersburg
2000 Seawater Proof Drawing Machine / Wissant - British Channel,
France
1999 Unfallzeuge gesucht - Radiogun, Galerie Haushaltskunst, Hamburg
1998 Suche nach meinem Doppelgänger, Kubus-Kunstparcours, Eupen
Abbildung oben: Stephan Mörsch: Ohne Titel (Modell von 2005)
Abbildungen unten: Stephan Mörsch: Ohne Titel (Zeichnungen von 2005/2006)
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Stephan Mörsch - Quedlinburg,
Gustav Mechlenburg Verlag, Hamburg
2006 Hamburger Arbeitsstipendium für Bildende Kunst 26/2006,
Hamburg
2004 Sammlung Taubenstrasse, Kunsthaus, Hamburg
2004 Tauchfahrten - Zeichnung als Reportage, Kunsthalle, Düsseldorf
1996 Künstler im Kreis Düren, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
43
MARKUS OEHLEN
*1956 Krefeld
‚Musste Jackson Pollock sterben und die Kommunistische Partei
verboten werden, damit Markus Oehlen existieren konnte?‘
Diedrich Diedrichsen (1)
Mit dieser Frage zielte Diedrich Diedrichsen auf den zeitgenössischpolitischen Kontext der Werke Oehlens. Hätte sich seine Kunst
anders entwickelt, oder hätte Oehlen es überhaupt für notwendig
befunden, sich künstlerisch auszudrücken, wenn er in einer
anderen Zeit, in einer anderen Gesellschaft aufgewachsen wäre?
Kein Zweifel besteht daran, dass Oehlen einer von starken
Umwälzungen betroffenen Generation entstammt. Er wuchs in
einer Welt auf, in der die Bedrohung zum Politikum und die
Politik zur Bedrohung wurde. Der Kalte Krieg kulminierte in
der Kubakrise als Oehlen zur Schule ging. Und zu allem Unheil
zentrierte sich der weltpolitische Umstand des Kampfes zweier
Weltanschauungen auf das geteilte Deutschland. Ein Land in zwei
Lager gerissen und Berlin als Zentrum des Irrsinns. Das Berlin
der 80er Jahre war nicht nur ein Ort an dem viele politische
Einstellungen und Meinungen aufeinandertrafen, sondern wurde
auch zum Ziel der Wehrdienstflüchtlinge und einer in den Tag
hinein lebenden Generation, die sich mit den Vorstellungen
ihrer Vätergeneration absolut nicht mehr identifizieren konnte.
Ein Nährboden also für Antihaltungen wie den Punk und
damit auch für eine Vielfalt von aus diesem resultierenden
und mit ihm einhergehenden Konzepten und Ideen.
Kennzeichnend für Oehlens Werk in jener Zeit sind politische
Provokation und ebenso provokative Musik. Er gehörte diversen
Punkbands an (z. B. ‚Fehlfarben‘ und ‚Mittagspause‘) und gründete
Institutionen wie die ‚Kirche der Ununterschiedlichkeiten‘ sowie
eine ‚Samenbank für DDR-Flüchtlinge‘ (gemeinsam mit Georg
Herold und Werner Buettner), die dem Ausdruck seiner politischen
und gesellschaftlichen Kritik dienten. Kennzeichend für die Neuen
Wilden ist ihre schelmenhafte, neodadaistische Provokation und
zynische Agitation, wie sie besonders an der ‚Samenbank‘ und an
Martin Kippenbergers ‚Sozialkistentransporter‘ (1989) deutlich wird.
Die sich auch im Duktus der Malerei spiegelnde, extreme
Expressivität beschreibt Diedrichsen, der mit Oehlen in Bands
spielte, rückblickend aus der Perspektive des Musikers: ‚Das
Schönste an diesen Bands war, dass wir so viele Ideen hatten,
dass sie nur in inadäquater Weise umgesetzt werden konnten.‘(1)
Dies gilt ebenso für die bildende Kunst. Die kopflastige Kunst des
vorangegangenen Jahrzehnts wurde abgelöst durch eine emotionalexpressive Malweise, die synchron zur Selbstbefreiung dieser
Generation zu verstehen ist. Diese Ausdrucksweise ist in der Malerei,
wie in der Musik als Rundumschlag zu verstehen und bedeutet
einen Bruch mit vorhandenen Konzepten und Vorstellungen.
Oehlens Arbeit ‚Ohne Titel‘ (1983) wirkt nach mehr als 25 Jahren
immer noch, wie ein frisches Graffiti – seine Pinselführung, die
Drippings und sich überlagernde Farb- und Formexplosionen zeugen
von einer schnellen, emotionalen Arbeitsweise. Obwohl es sich um
eine gegenstandslose Arbeit handelt, assoziiert sich durch Technik und
Ausführung eine inhaltlich-thematische Dimension. Der Betrachter
wird durch die Struktur unweigerlich an Wände in besetzten Häusern,
an Graffiti und an Farbbomben erinnert. Des Weiteren versucht er
Formen oder Umrisse zu erkennen, die jedoch nicht fassbar sind
– sie sind zerstört oder dekonstruiert, was unweigerlich dazu führt,
dass der Betrachter Zusammenhänge, Strukturen, Muster oder
Formen sucht, mit denen er sich dem vermeintlichen Inhalt des
Gemäldes annähern kann. Dies lässt sich ebenfalls mit dem Punk
vergleichen: die Musik, die Melodie, die Texte sind zerstörerisch,
wollen ein vorhandenes System zerschlagen, aber das Verhalten der
Punks ist in weiten Teilen sozial und konstruktiv. Das Gemälde
erscheint als Momentaufnahme: nach der Auflösung und vor dem
Neuanfang, aber schon mit Ideen und Perspektiven aufgeladen.
(1) Markus Oehlen ...desde 1956, in: Pinturas,
Ausst. Kat. Galeria Fucares, 1987.
I.P.
Abbildung rechts:
Markus Oehlen: Ohne Titel (1983)
44
MARKUS OEHLEN
1976-82 Kunstakademie, Düsseldorf
1976 Gründung der Liga zur Bekämpfung widersprüchlichen
Verhaltens
1981 Gründung der Kirche der Ununterschiedlichkeit
1987 Berliner Kunstpreis
2002 Professur, Akademie der Bildenden Künste, München
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Gesammelte Werke - die Achtziger, Galerie David, Bielefeld
2008 Passioniert provokativ, Pinakothek der Moderne, München
Aerobic 3, Galerie Hammelehle und Ahrens, Köln
pas de deux, Städtische Galerie Villa Zanders, Bergisch Gladbach
Vertrautes Terrain, ZKM, Karlsruhe
2007 Pensee Sauvage, Kunstverein,
Frankfurt & Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal
Markus Oehlen, Galerie Hohenlohe, Wien
Markus Oehlen - Neue Arbeiten, Galerie Hans Mayer, Düsseldorf
2006 Faster! Bigger! Better!, ZKM, Karlsruhe
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
abstract art now 1, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
Neue Malerei, Museum Frieder Burda, Baden-Baden
2005 Markus Oehlen - New Paintings, Galerie Asbaek, Kopenhagen
Meilenstein, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg
Löffelpogo!, Galerie Bärbel Grässlin, Frankfurt
State of the Art, State of Sabotage, Wien
2004 actionbutton, Russian Museum, St. Petersburg
Arbeiten auf Papier, Monika Sprüth Philomene Magers, München
Sammlung Falckenberg, FIAC, Paris
Markus Oehlen - Electric Beach, Galerie Hans Mayer, Düsseldorf
2003 Because if it‘s not love..., Institute of Visual Culture, Cambridge
Obsessive Malerei - Rückblick auf die Neuen Wilden,
ZKM, Karlsruhe
actionbutton, Hamburger Bahnhof, Berlin
Gar.net, Die Bank, München
2002 Kunstverein Malkasten, Düsseldorf
Markus Oehlen - Skulpturen, Kunstsammlungen, Chemnitz
Markus Oehlen, Galerie Suzanne Tarasieve, Paris
Zurück zum Beton, Kunsthalle, Düsseldorf
2001 Vom Eindruck zum Ausdruck, Deichtorhallen, Hamburg
Salons de Musique, Musée d’Art Moderne et Contemporain,
Strasbourg
Musterkarte, Goethe-Institut, Madrid
2000 Transfer, Centro Galego de Arte Contemporánea,
Santiago de Compostela
Der Ritt der sieben Nutten - Das war mein Jahrhundert,
Museum Abteiberg, Mönchengladbach
1999 Die Schule von Athen - Deutsche Kunst heute,
Tecnopolis, Athen
1998 Fast Forward - Image, Kunstverein, Hamburg
1997 Hommage à Kippenberger, Galéria Juana de Aizpuru, Madrid
1994 O.T., Galerie Klemens Gasser, Bozen
1987 Q.U.I., Villa Arson, Nizza
LITERATUR/DISCOGRAFIE (AUSWAHL)
2008 Markus Oehlen, König Verlag, Köln
1991 Markus Oehlen, Galerie Gisela Capitain, Köln
1984 Die Rache der Erinnerung, LP
1982 Kirche der Ununterschiedlichkeit, LP
1981 Mittagspause live, LP
1980 Herrenreiter, Single
1979 Ohne Titel, Doppelsingle
45
THOMAS RIECK
*1951 Hamburg
Der geschundene Körper, ein mit wenigen, schnell ausgeführten
Pinselstrichen auf durchtränktem Stoff von Thomas Rieck gemaltes
Wesen (ohne Titel, 1999) hat keinen Namen und erinnert durch
seine Haltung an die groteske Graphik Paul Klees ‚Zwei Männer
einander in höherer Stellung vermutend‘ (1903). Die scheinbar im
Übergang befindliche Kreatur, deren Füße und Hände zum Boden
streben, gewinnt durch die rohe Ausführung und den dreckigen
Träger einen bestialischen Charakter. Doch im Gegensatz zu der
im selben Ausstellungsraum in Düren gezeigten Plastik (‚Hool‘,
2005) von Beer, die von ihrem Sockel aus aggressiv den Betrachter
und die gegenüber positionierte Arbeit von Oehlen angreift, scheint
das Wesen von Rieck Opfer zu sein. Es wendet dem Betrachter das
verzerrte Gesicht zu. Haut, Körpersprache und unnatürliche Glieder
negieren die menschlichen Züge der Figur.
Auch die zweite im Saal zwischen Beer und Zipp präsentierte Arbeit
Riecks (ohne Titel, 2002) aus der Sammlung Dahlmann fügt sich in
diese Stimmung. Es zeugt zugleich – wie der als Träger für das zuvor
genannte Werk verwendete, profane Stoff – von der Vielseitigkeit
des Künstlers. Seine Bilder sind in der Regel das Ergebnis eines
langwierigen, vielfachen Überarbeitungsprozesses, motivisch und
technisch. Das Abfotografieren von Vorlagen führt zu Spiegelungen
und Verzerrungen. Lack, Kaffee und Fett stehen wie Tipp-Ex und
Filzstift gleichberechtigt neben klassischen Mitteln wie Kreide und
Öl auf Leinwand. Der Blick auf Riecks Werk offenbart eine virtuose
Technik, aufwendige Marmoriertechnik findet sich ebenso wie das
Durchtränken des Bildträgers. Das Beschmutzen, Durchstechen
und Zerkratzen des Malgrundes deutet auf eine unterschwellige
Aggressivität, die sich auch in den skurrilen Wesen als ein zentrales
Thema zeigt. In diesem Sinne sind sie der expressiven Zerrissenheit
und Deformation der Figuren Francis Bacons sehr nahe.
Der Technik- und Stilmix von Rieck harmoniert auf subtile Weise
mit dem Infragestellen der Realität und den Konditionen der
Wahrnehmung; die des Künstlers selbst und jene der Betrachter
seiner Bilder. Traum, Wahn und Wirklichkeit sind nicht zu
unterscheiden und verdeutlichen auf diese Weise die grundlegende
Fragilität vermeintlich objektiver Realitätskonzepte. Als Symbol für
diesen stetigen Wandel und die aus ihm resultierende Ungewissheit
können auch die mit Öl oder Lack auf Fotografien ausgeführten
und in diesem Sinne alchemistisch anmutenden Arbeiten Riecks
gelesen werden. Denn der fixierte fotochemische Prozess wird durch
die Übermalungen wieder gestartet und die den Künstler ursprünglich
inspirierende Vorlage mutiert. Im Laufe der Zeit verschwindet
sie gänzlich. In diesen technischen wie inhaltlichen Kontext des
immerwährenden Wandels fügt sich auch das Interesse Riecks für den
indischen Kulturraum, das sich in zahlreichen Motiven und Titeln (‚Ich
bin Du, Alles ist Alles‘, 1998 oder ‚Hinduhundi‘, 2006) zeigt.
Trotz solcher Titel, die eine ironische Distanz – wie etwa am
Ausstellungstitel ‚Goyayoga‘ deutlich wird – zu den tendenziell
düsteren Szenen schaffen, lässt die Werkschau eine klassisch anmutende
Konzentration auf den menschlichen Kopf als Motiv sichtbar werden.
Er ist die Quelle aller Konzeptionen von Realität, ob Wahn,
Wunsch oder vermeintlich objektive Wirklichkeit. In diesem Sinne
charakterisierte Arthur Schopenhauer in seinem 1818 veröffentlichten,
gleichnamigen Hauptwerk – ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ – den
Kern seiner Philosophie. Die Negation des Willens galt Schopenhauer
als Schlüssel für die Befreiung des Subjekts. Dieser Gedanke findet sich
in einem frühen Werk Riecks aus dem Jahre 1983: Eine Figur, deren
scheinbar entflammter Kopf sich aufzulösen droht, fragt den Betrachter
und sich selbst: ‚Why can‘t I stop thinking?‘
G.M.
Abbildung rechts:
Thomas Rieck: Ohne Titel (1999)
46
THOMAS RIECK
1973-80 Studium Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
1980 Stipendium Studienstiftung des Deutschen Volkes
1983 Hamburger Arbeitsstipendium
1985-86 Rom-Preis, Villa Massimo
1987 Arbeitsstipendium Kunstfonds e.V, Bonn
1992-93 Barkenhoff-Stipendium, Worpswede
1997-99 Vertretungsprofessur,
Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
1999 Gastprofessur Pentiment,
Akademie für Kunst & Gestaltung, Hamburg
2001-02 Cité Internationale des Arts-Stipendium, Paris
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Goyayoga, Galerie Renate Kammer, Hamburg
2008 Coincidentia Oppositorum,
SchauRaum Produzentengalerie, Hamburg
Ach so!, Makii Masaru Fine Arts, Tokio
2006 rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Ausschnitte deutscher zeitgenössischer Kunst,
Jeonbuk Province Art Museum, Korea
2005 Wunsch Indianer zu werden - Zeichnungen und Bilder,
Galerie Claudia Delank, Köln
Thomas Rieck, Kunsthalle Hamburg
Der weitere Blick - Photographie von Malern,
Galerie Claudia Delank, Köln
Meilenstein, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg
2004 Suche durch Summen, Kunstverein Harburg, Hamburg
2003 Harakiri Bonbon, 25 Jahre Künstlerhaus Hamburg, Hamburg
Thomas Rieck/Rolf Schanko - Bilder und Zeichnungen,
Galerie Claudia Delank, Köln
2001 Alone Ahead, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg
Body as Metaphor, Detroit Artist Market, Detroit
2000 Zeichnungen, Künstlerhaus, Hamburg
Thomas Rieck - Bilder und Zeichnungen,
Galerie Claudia Delank, Köln
1999 Thomas Rieck, Clifford-Smith Gallery, Boston
Thomas Rieck, Agentur für zeitgenössische Kunst, Hamburg
1998 Thomas Rieck, Klostergalerie, Zehdenick
Thomas Rieck, Galerie du Tableau, Marseille
Thomas Rieck, Galerie Hauptmann, Hamburg
1996 Thomas Rieck - Zeichnungen, Kunsthalle, Hamburg
Thomas Rieck, Galerie Claudia Delank, Bremen
1995 Erste Wahl, Kunstverein, Hamburg
10. Nationale der Zeichnung, Augsburg
1994 Nietzsche in der Bildenden Kunst,
Stiftung Weimarer Klassik, Weimar
1993 Thomas Rieck, Künstlerhaus Hamburg e.V, Hamburg
1991 Linie und Farbe, Galerie Pels-Leusden, Berlin
1990 Thomas Rieck, Micalady Gallery, Tokio
Hamburg - Leipzig, Emschertalmuseum, Herne
Thomas Rieck, Kunstzentrum, Hengelo
LITERATUR (AUSWAHL)
2005 Willkommen alter Mann, mit F. Fux und G. F. Gerlach,
Eigenverlag, Hamburg
2003 Renaissance, mit F. Fux und G. F. Gerlach,
Eigenverlag, Hamburg
1996 Zeichnungen, Kunsthalle, Hamburg
1993 Barkenhoff-Stipendiaten 1992/93, Schäfer Verlag, Hannover
1990 Menschenbilder,
Städtische Galerie im Schlosspark Strünkede, Herne
47
OLIVER ROSS
*1967 München
‚Humanes Erkenntniscolorit, schicksalslos bunte Konstellationen
einer poetologischen Supermarktmentalität statt sinnlich sittlicher
Geistesordnung?‘
(O. Ross 2007)
Die beiden Werke von Oliver Ross in der Sammlung Dahlmann –
(‚Hypothesa‘ (1999) und ‚Hypothetischer Seelenmüll im
archetypischen Stil‘ (2001/02) – muten an, als habe der für seine
Fallenbilder bekannte Daniel Spoerri sich weniger dem Nouveau
Réalisme als dem rauschhaften ‚Summer of Love‘ gewidmet. Während
die neonfarbenen Formen und Strukturen an Drogenvisionen
der 1960er und 1970er Jahre erinnern, collagiert Ross im Stil der
Fallenbilder Spoerris zeitgenössische Fundstücke auf den Malgrund.
Platinen, verschweißter Bierschinken, Zigarettenstummel und
Toastscheiben, dessen Schimmel mit der filigranen Malerei auf dem
Träger harmoniert und in einer geheimnisvollen wie komplexen
Struktur verbunden zu sein scheint. Die Frage nach dem Grund, das
Warum kreist wie die anderen Applikationen um die gegenstandslose
Mitte der Arbeit. Alles scheint in dieses Zentrum zu streben bzw.
wächst aus ihm heraus. Ein ironischer Kommentar zu der ewig
andauernden Suche des Menschen nach Ursprung und Sinn, zu den
Grundfragen der Philosophie?
Im Text ‚Hard Edge Hippie Brain‘ (2007) konstatiert der Künstler
einleitend ‚Gott ist Pleite‘ und fragt anschließend – wie oben zitiert –
nach einer sinnlich sittlichen Geistesordnung. Hinter der dadaistisch
anmutenden Materialschlacht des Künstlers verbirgt sich ein
philosophischer, ja ein aufklärerischer Ansatz, wie Anna Blume jr. in
ihrer Einführungsrede zur Ausstellung ‚Innenwelthypothese‘ im Jahre
2002 erläuterte.
Die seit Jahrtausenden andauernde Diskussion um das Verhältnis
von Außen- und Innenwelt und die Beschaffenheit der letzteren
ist ein zentrales Thema der Werke. Angeregt von der sogenannten
Innenwelthypothese des Philosophen Hermann Schmitz spielt Ross
mit klassischen Begriffen wie Ich, Seele, Subjekt oder Psyche und
verbindet sie in einer organisch anmutenden Struktur miteinander
und mit den aus dem Alltag herausgelösten, in diesem Sinne
zweckentfremdeten Gegenständen der Außenwelt. Subtil verweist
er – für in diesen philosophischen Diskurs Eingeweihte – auf die aus
Sicht der Phänomenologie problematische, in der Antike einsetzende,
strikte Trennung zwischen Subjekt und Außenwelt, die unsere
Vorstellungen und auch die Kunst bis in die Moderne beeinflusste.
Aus formaler Perspektive bieten die beiden in Düren ausgestellten
Werke von Ross etwa interessante Parallelen zu den ‚Kordelbildern‘
Markus Oehlens der 1990er Jahre. Diese aus auf Holz aufgeklebten,
bunten Baumwollfäden geschaffenen Werke zeigen abstrakte Muster
und Formen, die verschiedene Assoziationen hervorrufen. Ähnlich
den Maserungen einer Holzplatte sucht der Rezipient intuitiv nach
bestimmten Formen, so wie er in den abstrakten bis fantastischen
Szenen und Collagen von Ross nach deren inneren Zusammenhang
fahndet und bei genauerer Betrachtung Details entdecken kann, wie
etwa das Bewusstseinsschemata von Sigmund Freud.
Auch jüngere, mit dem Computer generierte oder klassisch
collagierte Werke mit Heroldschen Titeln wie ‚Wurst im Getriebe‘
oder ‚Analysediplom‘ (beide 2005) scheinen der Komplexität von
biologischen, technischen wie intellektuellen Systemen und den
Verbindungen zwischen ihnen gewidmet zu sein. Eine Referenz an die
Mensch-Maschine-Idee wie sie etwa von Futuristen, Dadaisten und
Surrealisten verfolgt wurde? Für diese Vermutung sprechen Fragmente
wie ‚Organmaschine‘ und ‚Innere Fabrik.‘ Auch die skurrilen, organisch
anmutenden Maschinen, die an Jules Vernes Romane, Ridley Scotts
‚Blade Runner‘ oder die psychedelische Reise der Beatles im ‚Yellow
Submarine‘ erinnern, deuten in diese Richtung. Im Jahre 2000,
also genau in der Zeit, als Ross an ‚Hypothesa‘ und ‚Hypothetischer
Seelenmüll im archetypischen Stil‘ arbeitete, formulierte eine bekannte
Hamburger Hip-Hop-Band in diesem Sinne: ‚Bitte knacken Sie mit den
Synapsen.‘
G.M.
Abbildung links:
Ausschnitt aus:
Oliver Ross:
Hypothetischer
Seelenmüll im
archetypischen Stil
(2001/2002)
rechts:
Oliver Ross:
Hypothesa (1999)
48
OLIVER ROSS
1993-99 Studium Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
2005 Künstler zu Gast in Harburg
2007 Arbeitsstipendium, Stadt Hamburg
2008 Gaststipendium,
Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer, Schlieren
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Cash Flow, White Trash Contemporary, Hamburg
2008 Stipendiaten 07, Kunsthaus, Hamburg
Wunschhirn, A.C. Kupper Modern, Zürich
Dessins de la Collection C. et J.-M. Salomon,
Salon du dessin contemporain, Paris
Petrovsky/Ross, Galerie Feurstein, Feldkirch
SCULPT-O-MANIA, Stadtgalerie, Kiel
Wir nennen es Hamburg, Kunstverein, Hamburg
2007 Radikal subjektiv,
Arthur Boskamp-Stiftung M.1, Hohenlockstedt
Hard Edge Hippie Brain, White Trash Contemporary, Hamburg
Artists‘ Books - Transgression/Excess, Space Other, Boston
Baroquissimo, Fondation pour l‘art contemporain,
Château d‘Arenthon, Alex
Eurasia One, Island6 Arts Center, Shanghai
Keine Zeichnung, kein Zeichner, Kunstverein, Rügen
Ornament und Verbrechen, Galerie Nikolaus Bischoff, Lahr
2006 Common Sense, Ausstellungsraum 25, Zürich
Mein Hirn will es so, Galerie in der Wassermühle, Trittau
Emergentia Multiplex, White Trash Contemporary, Hamburg
PHÄNO CUBE, Architekturbox, Hamburg
Onto-Locher, ArtFair, Köln
Drawing Now, White Trash Contemporary, Hamburg
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Mein Hirn will es so, Wassermühle,Trittau
2005 Index 05, Kunsthaus, Hamburg
Neuro Color, Kunstverein, Harburg
Fiesta de Inauguracion, Maracaibo, Venezuela
2004 Innenwelthypothese III, Ausstellungsraum 25, Zürich
Innere Entropie, Taubenstrasse, Hamburg
Leporello Visuello, Manuel Zonouzi, Hamburg
Psychochemie und Biophantasie, Einstellungsraum, Hamburg
Performancefestival, Ausstellungsraum 25, Zürich
Kunstlichtkongress, Kunstraum Walcheturm, Zürich
Sammlung Taubenstrasse, Kunsthaus, Hamburg
Wo ist mein Gehirn (chemicalmoonbaby), Villa Bechtler, Zürich
2003 Kosmophrenetisches Seelenmaterial, trottoir, Hamburg
2002 Seeyouatthepremierefair, Kongresszentrum Rauchstrasse, Berlin
Schönhaus: Noteingang, Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg
2001 Bauanleitung, Kunstraum Walcheturm, Zürich
2000 Problem Malerei, Kunstverein, Gütersloh
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Wir nennen es Hamburg, Kunstverein, Hamburg
2007 Baroquissimo, Fondation pour l’art contemporain Salomon
2006 Mein Hirn will es so, Wassermühle,Trittau
2005 Transterroituale Müller, Macaibo
2004 Kunstlichtkongress Magazin,
Sammlung Taubenstrasse, Hamburg
2000 Problem Malerei, Kunstverein, Gütersloh
49
GERD STANGE
*1954 Barby/Elbe
‚Nun merket auf und gedenket, ihr Menschen, hier liegen große und
kleine Gebeine, von Männern und von Frauen, von Rittern und
Knechten, jeder kann hier sein Ebenbild anschauen.‘
(Heidelberger Totentanz, 1485)
‚Spiel mir das Lied vom Tod‘ könnte in Anlehnung an Sergio
Leones Meisterwerk ein Untertitel der in Düren gezeigten Arbeit
Gerd Stanges ‚Tschernobyl (Totentanz)‘ (1986) aus der Sammlung
Dahlmann sein. In der Mitte der mit kräftigen, schwarzen
Pinselstrichen geschwärzten Leinwand hat Stange eine kleine
Drehorgel appliziert. Oberhalb von ihr findet sich eine hellere Fläche
im TV-Format. Dort tanzen an Penck erinnernde Figuren. Die
Orgel erinnert dabei an den Regler des Fernsehapparates, der die
Katastrophe – den ersten ‚live‘ übertragenen, atomaren Totentanz –
ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. So wie der Reigen des
Totentanzes eine Kreisbewegung beschreibt, die keine Entwicklung
kennt und daher Wiederkehr des ewig Gleichen, der Bewegung als
Stasis ist, kann auch die Orgel ihre Melodie lediglich wiederholen.
Das unschuldige Kinderinstrument wird bei Stange zum mahnenden
Symbol der drohenden Kontinuität, der (Selbst-)Vernichtung der
Menschheit. Unterhalb der Orgel finden sich drei verschiedene
Kreuze, Schwellensymbole, die vor Gefahren warnen. Stange
verwendet das Andreaskreuz als Menetekel des Strahlenunfalls. Die
Kreuze berühren einander und bilden zugleich die Verbindung
zu einer weiteren, am unteren Rand befindlichen dunklen Fläche
mit hellen Flecken. Dem Titel geschuldet liest man sie intuitiv als
Totenschädel.
Die im selben Raum gezeigte schwarze Wolke von Thomas Zipp
(ein Teil der Arbeit ‚Plant‘) zog etwa fünfzig Jahre nach ihrem ersten
Erscheinen wie eine biblische Plage über Europa. Ihre Quelle war der
Kernreaktorunfall in Tschernobyl, eine Stadt, die der (westlichen)
Welt bis zum 26.4.1986 nahezu unbekannt war. Der von Experten
wie Medien sogenannte Super-GAU, die nicht mehr beherrschbare
atomare Katastrophe, ließ Stange nicht mehr los. So wie die
Chronisten des späten Mittelalters den Totentanz in Miniaturen und
Holzschnitten festhielten, übertrug Stange seine düsteren Gedanken
auf die Leinwand und schuf neben dem bereits erwähnten Werk
im selben Jahr ein weiteres, ebenfalls in Düren gezeigtes Gemälde:
‚Tschernobyl (Mutation)‘.
Eine an Art brut erinnernde Figur spreizt ihre dürren Beine in die
unteren Ecken der Leinwand, die einen ungewissen, düsteren Raum
zeigt. Sie kann als groteskes Zerrbild von Da Vincis idealtypischem
Goldenen Schnitt, der die kosmologisch-mathematische Schönheit des
menschlichen Körpers maß und feierte, gelesen werden. Stanges Figur
dagegen hat mit ihren Händen auch ihre Handlungsfähigkeit verloren.
Sie hat sich durch die Konsequenzen ihrer Taten selbst zum Opfer
deformiert. Mit ihren Füßen hat sie ihre Standfestigkeit und auch die
Fähigkeit zu Fortschritt eingebüßt; unkontrollierter Fortschritt führt
zur Stasis? Der Leib ist aufgetrieben und erinnert an Fernsehbilder
verhungernder Kinder aus der früher sogenannten ‚Dritten Welt‘.
Auch der Penis der Figur ist zu unwirklicher Größe hypertrophiert und
baumelt impotent zwischen den amorphen Beinen. Doch die wie mit
weißer Kreide auf die Leinwand geschriebene Zahl 1986 ruft sofort das
Bild vom radioaktiven Niederschlag hervor. Das stufenartige, abstrakte
Element in der linken ‚Hand‘ erscheint nun wie ein Fragment der
zerstörten Jakobsleiter. Statt niederfahrenden Engeln strömt Gift vom
Himmel herab auf die Erde.
Auch die Plastik ‚Bagdad, Simone, Proust und der Krieg‘ (1991) lässt
Stange als zynischen Chronisten und Mahner – wer erinnert sich
noch an den ersten Golfkrieg und den daher abgesagten Karneval? –
erscheinen. Der Tatendrang des Künstlers – sein vita activa – zeigt sich
besonders deutlich an seinen zahlreichen ortspezifischen Aktionen und
Interventionen im öffentlichen Raum.
G.M.
Abbildung rechts:
Gerd Stange: Tschernobyl (Totentanz) (1986)
und Tschernobyl (Mutation) (1986)
Abbildung links:
Briefmarke der Deutschen Bundespost von
1964:
25 Jahre Entdeckung der Kernspaltung von
Otto Hahn und Fritz Straßmann
50
GERD STANGE
Freiakademisches Studium der Bildenden Künste
AUSSTELLUNGEN/AKTIONEN/INTERVENTIONEN IM
ÖFFENTLICHEN RAUM (AUSWAHL)
2009 Der Schachtelmensch, Emil Andresen Straße, Hamburg
2009 Draußen vor der Tür, Hörspiel von Wolfgang Borchert,
Subbühne, Hamburg
2007 mixed assortment, Galerie Carolyn Heinz, Hamburg
2006 rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Umbenennung Alte Leute Garten
(Ein Gartenstück für Rosa Luxemburg), Hamburg
weitersagen, Filmprojekt (Metropolis, Hamburg),
Hamburgische Kulturstiftung
2005 Erinnerungsfußball und Gartenstücke,
Galerie Carolyn Heinz, Hamburg
Literarischer Garten (Projekt), Eppendorf, Hamburg
Meilenstein, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg
2004 Ein Gartenstück für Rosa Luxemburg (Szenische Lesung,
Umbenennung), Hamburg
2002 Present Sounds (Installation, Projekt mit M. Batz),
Hamburg/Prag
2001 Gedenktafel Marie Beschütz (Installation, Umbenennung der
Schottmüller Schule in Marie Beschütz Schule), Hamburg
Poetik des Raums - Sammlung Ulla & Heinz Lohmann, Hamburg
2000 Sammlung Vogel C. & C,
Dokumentationszentrum Prora, Rügen
1997 Schützengraben - Soldatengraben, Nachdenkmal zum
Kriegerehrendenkmal, Licentiatenberg/Groß-Borstel, Hamburg
1996 Erinnerungsfußballspiel Chinesenstraße, Bolzplatz
Schmuckstraße, Hamburg
Rhythmisch Babylonische Wasserskulpturen (Installation),
Luftschutzbunker Eppendorf, Hamburg
1995 Subbühne - Ein anderes Mahnmal für Wolfgang Borchert,
Hamburg
1994 Schichtwechsel, Made in Hamburg 4, Kunsthaus, Hamburg
Aus der Eisenzeit - Übersetzungsformen der Moderne,
K3, Hamburg
1993 Die andere Reihenfolge des Denkens (SOFI-Performance),
Hamburg
1991 Mahnlicht gegen den Krieg (Aktion),
Mahnmal Verhörzelle Erika-Apotheke, Hamburg
Kunst gegen den Golfkrieg, Kunstverein, Hamburg
Bilder und Objekte 1984 - 1990, Galerie Kunststück, Hamburg
Drei Ikonen für die Katakomben, Abriss Galerie, Hamburg
1990 Mahnmal für die Geschwister Scholl,
Installation der Verhörzelle, Hamburg
1989 Terra nostra III. Verbinden - Musik - Literatur - Kunst,
Literaturhaus, Hamburg
1988 Terra nostra II. Bilder und Objekte, Literaturhaus, Hamburg
1987 Bilder, Fotografie und Objekte, Kunsthaus, Hamburg
1984 Terra nostra I. Experimentelle Fotografie, Galerie Rose, Hamburg
LITERATUR (AUSWAHL)
2009 Ein Gartenstück für Rosa Luxemburg, Abera Verlag, Hamburg
1995 Gunnar Gerlach, Thomas Sello, Gerd Stange: Verhörzelle und
andere antifaschistische Mahnmale in Hamburg, Hamburg
1994 Ludwig Seyfarth: Gerd Stange, Vom Geheimen, Fundstücke I
und I, in: Schichtwechsel, Ausst. Kat., Kunsthaus, Hamburg
1993 Christiane Benzenberg:
Denkmäler für die Widerstandsgruppe Weiße Rose, Bonn
1991 16.1.9Kunst gegen den Golfkrieg, Ausst. Kat.,
Kunsthaus, Hamburg
Mappenwerk Verhörzelle, Edition, Hamburg
51
THOMAS ZIPP
*1966 Heppenheim
Zum Werke, das wir ernst bereiten,
Geziemt sich wohl ein ernstes Wort;
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit munter fort.
(F. Schiller, Die Glocke, 1799)
‚Angesichts der Existenz von begrenzt rauschhaften Zuständen‘ – so
der Titel eines Werks von Thomas Zipp aus dem Jahre 2005 – und
den anderen in der Regel humorvollen wie komplexen Werken des
Künstlers wird der kriminalistische Spürsinn des Betrachters geweckt.
Die in Düren gezeigte, sechzehnteilige Arbeit ‚Plant‘ (2005) kann
nicht nur in diesem Sinne als typisch für Zipp angesehen werden.
Wie Elektronen umkreisen fünfzehn gerahmte Zeichnungen und
Collagen den zentralen Kern des Werks; eine scheinbar verkümmerte
Pflanze mit sechs Trieben, an deren Ende sich jeweils ein grünes
Blatt befindet. Während Zipp die Schwarz-Weiß-Fotografien
von vier Männern mit Hilfe von dadaistisch anmutenden
Augenbinden verfremdet, sind die Zeichnungen und technischen
Skizzen eindeutige Hinweise: Formeln und Zeichen deuten auf die
Atomphysik und frühe Kernspaltungs- und Kernfusionsexperimente.
Nun erschließen sich auch die maskierten Figuren. Es handelt
sich um Wissenschaftler, die entscheidend an der Entwicklung der
Atombombe beteiligt waren. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann
auch die an eine Kinderzeichnung erinnernde dunkle Wolke, die
sich über einem Berg ergießt, als eine zynische Chiffre für Fallout,
den radioaktiven Niederschlag, lesen. Und die im schwarzen Grund
wurzelnde dürre Pflanze erscheint als eine düstere Variante des
mythischen Baumes der Erkenntnis.
Veit Loers bezeichnete Zipps Ansatz als narrativen Konzeptualismus,
ein Erzählen der Geschichte der Ideologien und Utopien. In diesem
Sinne findet sich die Atombombe auch in der Installation ‚Dirty
Tree Black Pills‘ (2005) wieder. Die riesigen, vor einer idyllischen
Landschaft in Abendrot positionierten, schwarzen Pillen erinnern
aufgrund ihrer Form und Größe weniger an die mundgerechten aus
dem Drogenmilieu, sondern an die ersten Atombomben, die in der
Regel in vermeintlich verlassenen Inselregionen getestet wurden. Zipp
arbeitet gezielt dort, ‚when humor becomes painful‘ (so der Titel
einer Gruppenausstellung im Migros Museum, Zürich 2005). Er gilt
als Satiriker des Spießbürgerlichen und zurecht als philosophischer
wie humorvoller Zyniker, dessen fein gesponnene Referenzen sich
nicht scheuen, unter dreckig zugemalten Bierhallenlampen präsentiert zu
werden.
Die ‚tumb, tumb, tumb‘ (2005, Sammlung Boros) genannte
öde Landschaft Zipps erinnert nicht zufällig an die futuristische
Geräuschmusik ‚Zang Tumb Tumb‘ (1914) von Marinetti, eine
euphorische Hommage an den Krieg. Zipps ‚Geist ohne Körper‘
(2004) betitelte Glocke mit Totenkopf auf der Schweifung lässt sich
als subtiler wie ironischer Kommentar zu Schiller und dem Deutschen
Bildungskanon, zu vergangenem wie aktuellem Idealismus lesen. Sind
also letztlich Gut und Böse die zentralen Themen des Künstlers, das
‚Zeugs im Kopf‘ wie es Zipp nennt?
Eveline Bernasconi erkennt Humor und Ironie als Mittel zur Erzeugung
von Distanz zu historischen Referenzen in Zipps Oeuvre. In diesem
Sinne sind die dreckigen Pillen mehr als alte Atombombentypen,
wie sie Kubriks Dr. Strangelove entwarf, dessen Sonnebrille Vorbild
für die Augenbinden der Wissenschaftler in ,Plant‘ gewesen zu sein
scheint. Dirty pills, schmutzige Bomben, ist ein junger, tagespolitischer
Terminus, den das Bundesamt für Strahlenschutz wie folgt
definiert: Missbrauch von radioaktivem Material in Verbindung mit
konventionellem Sprengstoff. Eine Metapher für die zeitgenössische
Terrorismusphobie oder Anspielung auf die bittere Pille, die ‚der
Westen‘ nicht schlucken kann und will, deren Rezept er aber selbst
geschrieben hat? Zipps Universum ist verwirrend komplex und
faszinierend zugleich, ein subversiver Remix von Geschichte(n).
G.M.
Abbildung rechts:
Thomas Zipp: Plant (2005)
52
THOMAS ZIPP
1992-98 Freie Kunst, Städelschule, Frankfurt und Slade School,
London
2006 Gastprofessur, Hochschule der Bildenden Künste, Karlsruhe
2008 Professur, Universität der Künste, Berlin
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2009 Mens Agit Molem, Sammlung Goetz, München
Berlin2000, Pace Wildenstein, New York
ILSATIN, Galleria Francesca Kaufmann, Mailand
2008 Heavy metal - Die unerklärbare Leichtigkeit eines Materials,
Kunsthalle, Kiel
Sympathy for the devil, Musée d‘Art Contemporain, Montreal
Von Assig bis Zipp, Frisch, Berlin
Son of ... ,Musée des Beaux-Arts, Tourcoing
2007 Made in Germany, Kestner Gesellschaft, Hannover
Planet Caravan. Is There Life After Death?,
South London Gallery, London
Null Bock, Schickeria, Berlin
It takes something to make something, Portikus, Frankfurt
2006 Deformation of Character, PS1, New York
rattus norvegicus, Leopold-Hoesch-Museum, Düren
Rings of Saturn, Tate Modern, London
Faster!Bigger!Better!, ZKM, Karlsruhe
Geist über Materie, Patrick Painter Inc., Santa Monica
2005 Achtung! Vision: N.I.B., Alison Jacques Gallery, London
The Return of the Subreals, Kunstverein, Oldenburg
Man muss das Adjektiv abschaffen, Baronian_Francey, Brüssel
Security Check. Painting After Romanticism,
Galerie Arndt & Partner, Zürich
2004 actionbutton, Russian Museum, St. Petersburg
Heimweh, Haunch of Venison, London
Das Böse, Guardini Galerie, Berlin
Kommando Pfannenkuchen, Daniel Hug Gallery, Los Angeles
2003 Hands up, baby, hands up, Oldenburg, Kunstverein
Painting on the Roof, Museum Abteiberg, Mönchengladbach
Neroin, Maschenmode, Galerie Guido W. Baudach, Berlin
2002 Friede, Freiheit, Freude, Maschenmode, Berlin
Schöne Aussicht, Herr Schweins, Galerie Otto Schweins, Köln
Tiere, Elternhaus Thomas Palme, Immenstadt
2001 Montana Sacra (Circles 5), ZKM, Karlsruhe
Bis dass der Tod uns meidet, Galerie Hilger, Wien
The Ölwechsel, Transmission Gallery, Glasgow
Bayrle, Jensen, Neumeier, Vatter, Zipp,
Gesellschaft fur junge Kunst, Baden-Baden
LITERATUR (AUSWAHL)
2008 Son of ... ,Musée des Beaux-Arts, Tourcoing
2007 Is there life after death? A futuristic world fair,
Galerie Guido W. Baudach, Berlin
2006 Marc Prince: ‚Pluralism and the ‚isms of art history‘,
Art Monthly, 293/2006
2005 Achtung! Vision: Samoa, The Family of Pills &
The Return of the Subreals, Kunstverein, Oldenburg
When Humour Becomes Painful,
Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich
2004 Thomas Zipp, Neroin & The New Breed,
Galerie Guido W. Baudach, Berlin
53
MARCUSE UND DER PROTEST
STRANGULIEREN TUT ÜBERHAUPT NICHT WEH(1)
In Zeiten, in denen pubertierende, an ‚Dorfpunks‘ erinnernde,
sich selber aber als ‚Dorfrocker‘ bezeichnende Bands die
volkstümlichen Bühnen von Marianne und Michael stürmen
dürfen und in Hollywood produzierte Kinofilme sich der Karriere
vermeintlicher Punkbands wie ‚Green Day‘ widmen, ist es nicht
leicht zu differenzieren. Dies ist kein Zufall und nicht nur der
Tatsache geschuldet, dass gesellschaftliche Analysen – wie sie auch
die Kunstgeschichte liefert – von historischer Distanz zum Sujet
profitieren. Zum einen zeigt sich dieser Aspekt bereits am Begriff
Kunstgeschichte, zum anderen am Ringen der Disziplin mit der Frage,
inwieweit zeitgenössische Positionen ihr Anliegen sein können.
Im Folgenden wird trotz dieser Problematik und den Tendenzen
der Manipulation von Sprache im Orwellschen Sinne der Versuch
gewagt, zeitgenössische und bereits kanonisierte Kunstwerke vor dem
Hintergrund wesentlicher Gemeinsamkeiten zu einer Geschichte zu
verweben. Eine traditionelle Form der Kunstgeschichtsschreibung,
die nur auf den ersten Blick – die Fokussierung des roten Fadens auf
die Protestkultur – ungewöhnlich erscheint.
HERBERT MARCUSE MACHT KAPUTT – DIE ABSORPTION
DES PROTESTPOTENTIALS DER JUGENDKULTUR DURCH
DIE MASSENGESELLSCHAFT
‚Radios laufen, Platten laufen,
Filme laufen, TV‘s laufen,
Reisen kaufen, Autos kaufen,
Häuser kaufen, Möbel kaufen.
Wofür?‘
Im Gegensatz zu Theodor Adorno gilt Herbert Marcuse als
‚Studentenfreund‘. Der Philosoph ist aufgrund seines intensiven
Kontaktes und seiner öffentlichen Solidarisierung mit der
Protestbewegung der 1960er Jahre eine der schillerndsten Figuren
der sogenannten Kritischen Theorie.(2) Er legte wie Hannah Arendt
den Schwerpunkt auf das Handeln – vita activa(3) – und daher
hoffte und glaubte Marcuse an das kreative wie kritische Potential
der Studentenbewegung.(4) Während Adorno sich von barbusigen
Studentinnen provozieren ließ und somit oberflächlich dem Klischee
der konservativen akademischen Elite – der verstaubte Muff von
tausend Jahren – gerecht wurde, saß Marcuse inmitten der jungen
Revolutionäre. Der Philosoph sprach nicht nur mit den Studenten,
(1) So lautet der Refrain des Songs ‚Strangulieren‘ der deutschen Punkband ‚Angeschissen‘ (LP 1984). Die hanseatisch eingefärbte Stimme des Sängers
Jens Rachout prägt nach zahlreichen Zwischenstationen (nach Angeschissen folgten die Formationen ‚Blumen am Arsch der Hölle‘, ‚Dackelblut‘ und
‚Kommando Sonnenmilch‘) heute die Alben der Band ‚Oma Hans‘.
(2) Als Kritische Theorie wird die von der Frankfurter Schule entwickelte und vertretene Sozialphilosophie bezeichnet. Die drei
Hauptbeobachtungsfelder der Kritischen Theorie sind die Ökonomie, die Entwicklung des Individuums sowie die Kultur. In einer Kombination
marxistischer und psychoanalytischer Perspektiven wird die Gesellschaft kritisch betrachtet. Letztere wird nicht nur als Gesamtheit von Menschen
in einer bestimmten Zeit verstanden, sondern vielmehr als Verhältnisse, die dem Einzelnen gegenüberstehen und den Charakter und die
Handlungsmöglichkeiten der Menschen in weitaus stärkerem Maße formen, als diese zur Bildung der Gesellschaft beitragen können. Eine besondere
Mittlerrolle kommt daher der familiären Sozialisation und den Massenmedien bzw. der Massenkultur zu. Bekannte Vertreter der Theorie sind u.a.
Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Max Horkheimer und Marcuse.
(3) Der Begriff bezieht sich auf das philosophische, nicht vollendete Hauptwerk Hannah Arendts ‚Vita activa oder Vom tätigen Leben‘ von 1960
(engl. Original: The human condition, 1958). Dabei handelt es sich nicht um eine schlechte Übersetzung, sondern eine der Muttersprache Arendts
geschuldete Präzisierung, die durch den späteren – Arendt übersetzte das Werk selbst – deutschen Titel den Schwerpunkt ihrer Philosophie verdeutlicht.
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sondern sprach für sie. Er lieferte der Bewegung ein von ihr oft nur
unverstanden wiederholtes, statt erweitertes theoretisches Fundament,
das zum Treibstoff für die damals wie heute äußerst beliebte
Phrasendreschmaschine verkommen ist.(5) Der Unterschied ist nur,
dass diese dadaistisch anmutende Maschine nicht mehr das spielerische
Symbol einer mehr oder weniger bewussten, ironisch-subversiven
Protestkultur ist, sondern mehr denn je als integraler Bestandteil des
zeitgenössischen Politiktalks erscheint – die Reform der Reform. Doch
zurück in die Vergangenheit.
‚Züge rollen, Dollars rollen,
Maschinen laufen, Menschen schuften,
Fabriken bauen, Maschinen bauen,
Motoren bauen, Kanonen bauen.
Für wen?‘
In seinem 1964 veröffentlichen Buch ‚Der eindimensionale Mensch‘
beschreibt Marcuse aus heutiger Perspektive geradezu prophetisch
die Fähigkeit des etablierten Systems, sich oppositionelle Tendenzen
einzuverleiben. Letztere werden, so die Analyse des Philosophen, als
sinnentleerte, konsumierbare Phrasen in die Massenkultur integriert und
auf diesem Wege zugleich ihres subversiv-kritischen Potentials beraubt.
(4) Im Sinne der einleitend erwähnten ‚Differenzierungsproblematik‘ muss jedoch betont werden, dass bereits der Begriff ‚Studentenbewegung‘
problematisch ist, da er den Fokus auf eine bestimmte Gruppe lenkt und so das breite gesellschaftliche Spektrum der Proteste vernachlässigt.
(5) Als ‚Phrasendreschmaschine‘ bezeichnete man nicht erst in der Studentenbewegung die ebenso hohe wie alte Kunst, mit vielen Worten nichts
zu sagen. Zu Beginn der 1970er Jahre konnte man die ‚Maschine‘ dann kaufen, ein kommerzielles, an Fluxus-Editionen erinnerndes Produkt
mit den Varianten progressiv (Vorderseite) und konservativ (Rückseite). Das Drehen an den Rädern der Apparatur bringt zufällig generierte
Wortkombinationen hervor, die durch Schlitze ablesbar sind. Als beliebte Metapher und digitale Variante findet man sie heute z. B. unter www.
luftpiraten.de: ‚Nichts sagen und trotzdem intelligente Sprüche ablassen? Hier ist die Lösung! Das ultimative Management-Tool für den LaberSupergau gibts hier gleich in zwei Versionen, einer vollautomatischen Light-Version für rhetorische oder artikulative Formtiefs sowie einer manuellen
Comfort-Version, geeignet komplette Diplomarbeiten/Promotionsschriften mit fragwürdigen Inhalt zu füllen.‘
Abbildung oben:
CDU-Werbesingle Bundestagswahlkampf 1972: Hits aus BONNanza,
Quelle: Archiv für Christlich-Demokratische Politik
55
Dieser von Marcuse als ‚repressive Entsublimierung‘ bezeichnete
Prozess ist ein wesentliches Mittel der Herrschaft und des Machterhalts
in industrialisierten Massengesellschaften. Es handelt sich um ein
grundlegendes Instrument des gesellschaftlichen Zusammenhalts, wie
etwa die zeitgenössische Volksmusik oder auch der Umgang der DDR
mit Subkulturen wie der Punk-Bewegung zeigt.(6) Die folgenden, heute
nicht weniger aktuellen Worte Marcuses verdeutlichen den Kern seiner
These:
‚Wenn die Massenkommunikationsmittel Kunst, Politik, Religion
und Philosophie harmonisch und oft unmerklich mit kommerziellen
Mitteilungen vermischen, so bringen sie diese Kulturbereiche auf
einen gemeinsamen Nenner – die Warenform. Die Musik der Seele
ist auch die der Verkaufstüchtigkeit. Der Tauschwert zählt, nicht
der Wahrheitswert. In ihm faßt sich die Rationalität des Status quo
zusammen, und alle andersartige Rationalität wird ihr unterworfen.‘(7)
‚Bomber fliegen, Panzer rollen,
Polizisten schlagen, Soldaten fallen,
Die Chefs schützen, Die Aktien schützen,
Das Recht schützen, Den Staat schützen.
Vor uns!‘
Die hier eingefügten Liedtextfragmente stammen von der ersten
Single einer der einflussreichsten deutschen Rockgruppen der 1970er
und frühen 1980er Jahre: ‚Ton Steine Scherben‘.(8) Im Sommer
1970 strahlte die ARD auf einem prominenten Sendeplatz eine
Abbildung rechts:
CHANCE 2000, Wahlkampf-Flyer (1998)
© Büro Schlingensief / Volksbühne Berlin
(6) Während des VII. Parlamentskongresses der FDJ im Jahre 1963 verlautete das Jugendkommuniqué, das sich an die Jugend als ‚Hausherrn von
morgen‘ richtete: ‚Niemandem fällt es ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder TangoRhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen. Hauptsache, sie bleibt taktvoll.‘ (zitiert nach www.radio-geschichte-dt64.
de). Die Stasi unterwanderte die Punk-Szene und warb Musiker als Inoffizielle Mitarbeiter (bekannte Bands, in denen IM mitwirkten, sind, ,Sandow‘,
Namenlos‘, ,Restbestand‘ und ,Die Firma‘). Protagonisten wie etwa die Mitglieder der Band ,Namenlos‘ wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen
verurteilt. Andere wurden zum Wehrdienst eingezogen, Jüngere kamen in Heime für Schwererziehbare. Auf diese im Verhältnis zur BRD harten
Repression folgte schließlich auch die im Westen gängige Vereinnahmung durch den Kulturbetrieb: Einige Bands wurden ‚begnadigt‘ und im
offiziellen Jugendradio zugelassen. Diese Begnadigung von zuvor lästigen Querulanten bildet eine interessante Parallele zur Integration von Punk-,
Rock- oder Technoelementen, wie sich sich in der aktuellen Volksmusikszene zeigt.
(7) H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch, 1964, S. 77 (zitiert nach der Luchterhand-Ausgabe von 1977).
(8) Viele Texte der Band und aus Rio Reisers späteren Soloprojekten findet man unter www.riolyrics.de.
(9) Außerparlamentarische Opposition (kurz APO) beschreibt eine Opposition, die außerhalb des Parlaments stattfindet, weil sie entweder in den im
Parlament vertretenen oder sonstigen Parteien (noch) kein Sprachrohr hat oder nicht haben will. In der BRD verstärkte sie sich ab Mitte der 1960er
Jahre mit der Studentenbewegung, die mit der APO oft synonym gesetzt wird. Besonders in Universitätsstädten erreichten APO-Aktivitäten in den
Jahren 1967 und 1968 ihren Höhepunkt. Die häufig in Bezugnahme auf diese Zeit ihrer Hochphase auch ‚68er-Bewegung‘ genannte studentische
APO wurde im Wesentlichen durch den SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) getragen.
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Dokumentation mit dem Titel ‚Fünf Finger sind eine Faust‘ über die
Ziele der APO(9) aus. Der Film wurde mit Liedern einer bis zu diesem
Zeitpunkt namenlosen Musikgruppe unterlegt. Zahlreiche Zuschauer
riefen den Fernsehsender an und wollten wissen, von welcher Gruppe die
Musik stamme und wo man sie kaufen könne. Daraufhin produzierten
Ralph Steitz, Ralph Möbius (alias Rio Reiser), Wolfgang Seidel und Kai
Sichtermann, die sich fortan ‚Ton Steine Scherben‘(10) nannten, die
erste Schallplatte der verkürzt häufig nur ‚Scherben‘ genannten Band.
Die erste Single mit den beiden Songs ‚Macht kaputt, was euch
kaputt macht‘ und ‚Wir streiken‘ verkaufte sich bis zur Weihnacht
1970 über 6000 mal, was angesichts der erst im Entstehen begriffenen
Vermarktungsketten ein beeindruckender Erfolg war. Aus den zuvor
unbekannten 20jährigen Berlinern(11) waren ‚über Nacht‘ Protagonisten
einer erst im Entstehen begriffenen Subkultur geworden.(12) Ihre Texte
versprühten den Charme des ‚jugendlichen Glaubens‘ an die Möglichkeit
einen radikalen Wandels. Die romantische Idee der ‚Revolution der
(10) Der Name leitete sich laut Rio Reisers aus einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann ab: ‚Was ich fand, waren Ton, Steine,
Scherben‘. Im Buch ‚Keine Macht für Niemand‘ erwähnt Kai Sichtermann dagegen eine profanere Geschichte, derzufolge der Name bei einem
Brainstorming aus dem Namen ‚VEB Ton Steine Scherben‘ entwickelt wurde. VEB nannte man in der DDR einen ‚Volkseigenen Betrieb‘, eine
Rechtsform von Industrie- und Dienstleistungsbetrieben. Auch die westdeutsche Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden könnte Quelle gewesen sein.
(11) An dieser Stelle muss der Sonderstatus Berlins erwähnt werden. Die Mauer- und Frontstadt entwickelte sich im Laufe der 1960er und 1970er
Jahre aufgrund ihres rechtlichen Sonderstatus zu einem Exil für Wehrdienstverweigerer. Zehntausende wehrpflichtige BRD-Bürger entzogen sich der
Armee durch den Umzug nach Westberlin, was zu einem im Verhältnis zu anderen westdeutschen Großstädten extrem großen Protestpotential führte.
Noch 1999 erklärte ein Vertreter der Bundeswehr in einem Verfahren gegen einen Totalverweigerer: ‚Seit es Soldaten aus Berlin gibt, ist es an der
Tagesordnung, dass Soldaten den Dienst nicht antreten‘.
(12) Als Abschluss ihres Auftritts am 6.9.1970 (Love-and-Peace-Festival, Insel Fehmarn) spielten ‚Ton, Steine, Scherben‘ den Song ‚Macht kaputt,
was euch kaputt macht.‘ Dann stand plötzlich die Bühne, auf der zuvor Jimi Hendrix sein letztes Konzert gegeben hatte, in Flammen und das Festival
wurde abgebrochen. Auch wenn ‚Ton Steine Scherben‘ nicht – obwohl es als genialer Showeffekt plausibel erscheint – für den Brand verantwortlich
waren, erzählte man im Publikum, sie hätten die Bühne in Brand gesetzt. In Wirklichkeit war das Feuer die Rache von Tourhelfern, da die Veranstalter
mit der Tageskasse verschwunden waren. Diese vermeintlich radikale Aktion – eine vom Schicksal komponierte Performance? – fand in der Szene viel
Anerkennung und schlagartig war die Band ‚Ton Steine Scherben‘ bekannt.
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Masse‘ hatte eine zeitgenössische wie prägnante Stimme gefunden:
‚Allein machen sie dich ein,
schmeissen sie dich raus,
lachen sie dich aus,
und wenn du was dagegen machst,
sperr‘n se dich in den nächsten Knast.
Zu zweit, zu dritt, zu viern,
wird auch nix and‘res passiern. (...)
Zu hundert oder tausend
kriegen sie langsam Ohrensausen.
Sie werden zwar sagen, das ist nicht viel,
aber tausend sind auch kein Pappenstiel.
linksradikalen Szene, etwa ‚Keine Macht für Niemand‘ und ‚Macht
kaputt, was euch kaputt macht‘. Doch so wie die Abkürzung AK47
und die historische Figur Che Guevara haben auch sie sich ganz im
Sinne der von Marcuse beschriebenen, repressiven Entsublimierung
zu scheinbar inhaltsleeren, weil geschichtvergessenen T-Shirtmotiven
entwickelt. Der für sein Streben nach der Kunstdiktatur von vielen
gefürchtete Künstler Jonathan Messe konstatiert resigniert – scheinbar
vor dem Hintergrund der hier nur angerissenen Entwicklung der
außerparlamentarischen Opposition am Ende des 20. Jh. – passend zu
diesem Thema: ‚Von der Straße kann ich mir auch keine Revolution
mehr erhoffen, der Mensch schafft das nicht.‘(14)
PUNK‘S NOT DEAD IS DEAD
In dem Land, in dem wir wohnen,
sind aber ‚n paar Millionen.
Wenn wir uns erstmal einig sind,
weht, glaub ich, ‚n ganz anderer Wind. (...)
Und du weißt, das wird passieren,
wenn wir uns organisieren.‘(13)
Aus der Traum? Ist nach Gott nun auch noch der Protest wie die
politische Satire unbemerkt verstorben oder zumindest obsolet
geworden, weil sie offensichtlich längst von der Realität eingeholt
bzw. repressiv entsublimiert wurde? Einiges spricht für diese hier
lediglich angedeutete These, die dem alten Motiv von der ‚Verkehrten
Welt‘ nahe kommt. Letzteres zeigt sich z. B. in der folgenden Analyse
des Chefdesigners einer exklusiven Modemarke besonders deutlich:
Einige Titel und Textpassagen von ‚Ton Steine Scherben‘ sind bis in die
Gegenwart bekannte Slogans der außerparlamentarischen Linken und
‚Das Tempo der Vereinnahmung hat sich dramatisch erhöht: Punk
war jahrelang eine Gegenkultur, heute würde der Look sofort von
(13) Textfragmente des Liedes ‚Allein machen sie dich ein.‘ Der Song wurde 1971 für eine Fernsehsendung über die Jugend der 1970er Jahre
geschrieben. Er erschien zuerst als Folien-Single und später auf dem Album ‚Keine Macht für Niemand.‘
(14) D. Schönberger in: Kultur SPIEGEL 4/2007, S.14.
(15) Moritz Honert: ‚Der will nur spielen. Ein Interview mit Jonathan Meese‘. In: Behrens/Büsser/Engelmann/Ullmaier (Hg.): testcard #16/
Extremismus, S.162-168. Testcard ist eine kritische Anthologie zur Popgeschichte und -theorie. Artikel zu Musik, Film und zeitgenössischer Kunst
kreisen in jeder Ausgabe um einen wechselnden Themenschwerpunkt.
(16) Schönberger nennt das Label ‚Comme de Garcons‘ als Beispiel, dessen Guerilla-Shops eröffneten unberechenbar und verschwanden wieder. Das
Wort ‚Guerilla‘ bezeichnet die militärische Taktik, den (in der Regel überlegenen) Feind mit kleinen, selbstständig operierenden Kampfeinheiten
‚nadelstichartig‘ zu attackieren. Die Geschichte des in Tokio von Rei Kawakubo 1969 gegründeten Modelabels eignet sich vor dem Hintergrund der
Punk-Kultur besonders gut, da es sich – glaubt man dem Labelmythos – gegen die Kommerzialisierung der Mode wendet. Kritiker beschrieben die
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Hennes & Mauritz kopiert, und zwar, bevor er sich überhaupt richtig
entwickeln kann. Dass es diese Kultur des Anti, der Abweichung, des
Subversiven, aus der heraus Identität und Individualität entstehen,
nicht mehr gibt, ist traurig.‘(15) Auch das subversiv-kopierte
Guerilla-Shop-System(16) – wieder so eine ungewollte Hommage der
zeitgenössischen deutschen Sprache an die Phrasendreschmaschine
der 1960er Jahre – kleiner wie unabhängiger Modelabels wurde nach
kurzer Zeit von großen Konzernen imitiert. Es wurde ganz im Sinne
der von Marcuse beschriebenen, repressiven Entsublimierung seiner
Authentizität und somit seiner Kraft beraubt.
Abbildung:
Aufruf zum Sternmarsch nach Bonn gegen die Notstandsgesetze vom
Kuratorium „Notstand der Demokratie“
© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
Während die industriellen Massenkulturen der 1970er Jahre
subversiven Jugendkulturen noch Schonfristen von bis zu einem
Jahrzehnt gewährten, verkürzte sich die Phase des vielgescholtenen
Prozesses der Kommerzialisierung in den 1990er Jahren bereits auf
kaum mehr als ein Jahr. Diese Vereinnahmung lässt sich neben
der bereits erwähnten Modekultur besonders deutlich anhand von
innovativen, teils subversiven Musikgenres beobachten, was manche
Autoren zu dem wohl nostaligisch begründeten Fehlurteil verleitet,
Punk als letzte globale Jugendbewegung zu bezeichnen. So gelang
es der Musikindustrie und den Unterhaltungsmedien etwa, in einer
zuvor nicht gekannten Geschwindigkeit aus der im Underground
angesiedelten Grunge-Szene(17) einen von breiten Massen
konsumierbaren Musikstil zu kreieren.
Kollektionen als ‚postatomaren Fetzen-Look‘, ‚Hiroshima-Chic‘, ‚Quasimodo-Style ‚ oder ‚Armutsästhetik.‘ das Label präsentiert seine Kleider wie
(Kunst-)Objekte und nicht wie Waren, sie sind Teil eines Gesamtkonzepts, dass sich auch in der Architektur widerspiegelt, jedoch nicht nur in der
Innenarchitektur. ‚Comme de Garcons‘ war das erste Label, das Shops der Kollektion entsprechend von Architekten gestalten ließ. Die Idee fand
wiederum rasch viele Nachahmer, was Kawakubo dazu bewegte, das Konzept aufzugeben. Daraufhin folgten die Guerilla-Shops, die wiederum schnell
von Modekonzernen wie Adidas kopiert wurden.
(17) Der Begriff Grunge (engl. Schmuddel oder Dreck) kam bereits in den 1960er und 1970er Jahren auf, um den Stil von Bands wie ‚Neil Young &
Crazy Horse‘, ‚Iggy Pop & The Stooges‘ oder ‚The Velvet Underground‘ zu beschreiben, wurde zunächst jedoch nicht als ein Subgenre verstanden.
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KURT COBAIN IS, BUT PUNK‘S SAID TO BE NOT DEAD(18)
Konsumismus als Resignation? Die ewige Wiederkehr von Remix und
Revival oder etwa Revolution als Nostalgie, wie der zuletzt von der
Presse gefeierte Film ‚Dorfpunk‘ nach dem gleichnamigen Bestseller von
Rocko Schamoni?
Während der Irokesenschnitt auf Wunsch im Friseursalon um die Ecke
gestylt wird und Piraten neben Schiffen auch europäische Parlamente
entern und sich zugleich großen Kommunikationskonzernen als
Werbefigur anbieten, inszeniert Schorsch Kamerun an etablierten
deutschen Bühnen. Uwe Dag Berlin ist Schauspieldirektor an einem
Landestheater, Claudia Roth macht Bundespolitik und Vivienne
Westwood eroberte die Laufstege der Modeszene, möchte aber nicht
mehr auf den Titel ‚Queen of Punk‘ reduziert werden. Sie alle waren
in den 1980er Jahren ‚prominente‘ Punks. Und die Frage, wie sich
diese erste Generation der Punk-Bewegung gewandelt hat, welche
Impulse der heutige Kulturbetrieb ihnen verdankt und ob das ‚Erbe der
Rebellion‘ weiter wirkt, beschäftigt nicht nur die deutschen Feuilletons
seit einigen Jahren.(19) Auch die Entwicklung des 1981 in Berlin am
Tisch der legendären Kommune I gegründeten ‚Chaos Computer Club‘
kann in diesem Sinne als Beispiel dienen.
Doch vielleicht sollte man sich auf den Ursprung der Bewegung
konzentrieren, die Musikszene. Dafür bietet sich aus deutscher
Perspektive neben ‚Atari Teenage Riot‘ (ATR), die Ende der 1990er
Jahre erfolgreich Techno und Punk fusionierten, auch ‚Gudrun
Gut‘, die ehemalige Bassistin der Einstürzenden Neubauten, an.
Während ATR aufgrund von Sex, Drugs & Rock‘n Roll wie ein
zu heller Stern verloschen sind und in Compilations gefeiert bzw.
in den Soloprojekten von Alec Empire weiterleben, veröffentlicht
Gut unter ihrem ‚alten‘ Pseuydonym Soloalben wie Remixes. Sie
avancierte dank eines Portraits von Anja Frejya aus dem Jahre 1977
zuletzt gar zur Titelfigur des Wiener Ausstellungskatalogs ‚Punk - No
One is Innocent.‘ Und 2002 stellte Werner Büttner unter dem Titel
‚Gitarren, die nicht Gudrun heißen‘ in der Galerie Max Hetzler in
Berlin aus (was die in diesem Katalog angedeutete, enge Verbindung
zwischen Punk und der hier vorgestellten Kunst humorvoll belegt).
Darauf, dass es sich fernab von der künstlerischen Qualität und
Aussagekraft des Gut-Portraits auf dem Ausstellungskatalog um eine
gute, weil stimmige Wahl handelt, deutet auch ihre Zusammenarbeit
mit der international renommierten Kollegin Pipilotti Rist hin. Rist
wurde Ende der 1990er Jahre durch ihr Video ‚Ever Is Over All‘
(1997) bekannt. Darin flaniert eine junge Frau hypnotisch summend,
sie trägt ein hellblaues Sommerkleid und rote Schuhe. Doch bereits
nach kurzer Zeit entpuppt sie sich als eine verspielte, feenhafte
Anarchistin und demoliert parkende PKWs. Vor dem Hintergrund
der Flower-Power-Bewegung mutet es ironisch an, dass es eine Blume
ist, mit der die vermeintliche Fee in Rists Video so eindrucksvoll
(18) Kurt Cobain war der Sänger der wohl populärsten Grunge-Band der 1990er Jahre: ‚Nirvana‘. Punk‘s not dead dagegen ist der Titel des 1981
veröffentlichten Songs und gleichnamigen Albums der Band ‚The Exploited‘. Sie gilt als Stellvertreter der zweiten Punk-Generation in Großbritannien.
Ihre in sehr einfach gehaltener Sprache formulierten Texte thematisieren Arbeitslosigkeit, Krieg, Korruption, Machtmissbrauch, Faschismus und die
Trostlosigkeit der kapitalistischen Gesellschaft.
(19) Bereits 2002 wagte die Düsseldorfer Kunsthalle unter dem Titel ‚Zurück zum Beton‘ einen Blick auf die ‚Die Anfänge von Punk und New Wave
in Deutschland 1977-82‘. Internationaler ausgerichtet präsentierte die Kunsthalle Wien unter dem Titel ‚Punk - No One is Innocent‘ 2007 eine
umfangreiche Ausstellung zum Thema, die sich auf die Städte New York, London und Berlin konzentrierte.
(20) In den Händen hält die Frau eine langstielige, zepterartige Blume. Sie lächelt, hüpft und versprüht den Charme kindlicher Naivität. Dann
nähert sie sich einem parkenden Auto, holt aus und zertrümmert die Beifahrerfensterscheibe des Wagens mit der Blume. Sie zieht die ‚Waffe‘ zurück,
schmunzelt und geht summend weiter. Keiner der Passanten scheint davon irritiert zu sein. Eine Polizistin nähert sich langsam von hinten, während
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demonstriert, wie schön und zugleich befreiend Zerstörung sein kann.
(20)
Neben Gudrun Gut kann auch das kommerziell recht erfolgreiche
Duo ‚2raumwohnung‘ als ein weiteres Beispiel für die (musikalische)
Weiterentwicklung der ‚Punk-Generation‘ genannt werden. Inga
Humpe, Schwester der ‚Ideal‘-Sängerin Annette Humpe, entdeckte
in London zu Beginn der 1990er Jahre die Techno- und RaveBewegung. Eine Dekade später wurde der für die Tabakindustrie
produzierte Song ‚Wir trafen uns in einem Garten‘ zur Initialzündung
für ‚2raumwohnung‘, deren Alben(21) häufig als post-elektronischer
Chanson beschrieben werden.(22) Wie Gudrun Gut deutet
‚2raumwohnung‘ auf einen Wandel der Subkultur. Beide spiegeln
eine Tendenz konsumorientierter Massengesellschaften im
ausgehenden 20. Jh. wider: Die von der Soziologie häufig einseitig
als ‚verlängerte Adolenszenz‘ beschriebene Entwicklung, derzufolge
Subkulturen sich zunehmend von ihrer traditionellen Bindung an
Jugendkultur lösen. In diesem Sinne charakterisiert Tobias Rapp:
‚2raumwohnung spielen keinen Soundtrack der Rebellion. Ihre Musik
handelt vom Ausprobieren. Vom ewigen (!) Experiment des eigenen
Lebens.‘(23)
Abschließend zurück zu der einleitend erwähnten Band ‚Green Day‘.
Sie gelangte aufgrund der Eingängigkeit ihrer Songs, die sorgfältig
jede echte Härte und Sperrigkeit meidet, zu enormer Popularität.
Inzwischen gilt die Band als wegbereitend für das Anfang der
1990er begonnene und angesichts des berühmten Mottos
‚Punk‘s not dead‘ besonders zynisch erscheinende ‚Punk-Revival.‘
‚Die Musik der Seele ist auch die der Verkaufstüchtigkeit?‘(7)
schrieb Marcuse. Wie hätte er wohl den angekündigten,
als Kassenschlager konzipierten Kinofilm über ‚Green Day‘
kommentiert?
Der Kulturwissenschaftler Martin Büsser geht im Resümee
seiner Untersuchung über die Entwicklung der Punk-Bewegung
noch einen Schritt weiter und behauptet: ‚Kaum eine Bewegung
hat Krieg und Gewalt dermaßen zum Thema gemacht wie
Punk (...).‘ Büsser kommt zu dem Fazit, dass die vermeintliche
Antikriegshaltung im Punk gekippt ist: ‚Mit dem Moment,
wo Punk die eigene Verwundbarkeit abgelegt hat und im
permanenten Krieg nicht mehr bewusst Verlierer sein wollte,
sondern Profiteur des Krieges, ist Punk von der radikalsten
Kapitalismuskritik, die eine Pop-Subkultur vielleicht je erlebt
hat, zur völligen Teilnahme am System übergegangen.‘(24)
‚I don‘t wanna be an american idiot...‘ schallt es aus den MP3Playern junger Soldaten im sogenannten Krieg gegen den Terror.
G.M.
die Frau weitere Autoscheiben einschlägt. Die Polizistin kommt näher, schliesst zur Frau auf und grüßt sie freundlich, indem sie mit ihrem Zeigefinger
an ihren Hut tippt. Die Ordnungshüterin blinzelt, lächelt die Vandalin an und geht weiter. Nur das vermeintlich unschuldige Summen und Zerbersten
der Scheiben ist zu hören, es ist wie in einem Traum.
(21) 2009 erschien das sechste, ‚Lasso‘ genannte Album des Duos.
(22) ‚Alterslose Jugend‘ überschrieb ‚Der Spiegel‘ (30/2009, S. 125) treffend einen Artikel über das Duo.
(23) Martin Büsser, in: testcard #9: Pop und Krieg. Mainz, Ventil Verlag, 2000.
(24) in: ‚Der Spiegel‘ (30/2009, S. 125).
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IMPRESSUM
Dank an alle Helfer des Park-Punk-Festivals und
alle beteiligten Mitarbeiter des LHM
André Mager
Büro Schlingensief (Chance 2000)
CDU (Hits aus BONNanza)
Galerie Kammer Hamburg
Galerie Meyer Riegger Karlsruhe
Hildegard Lennartz
Osiris Pausch
Rio-Reiser-Archiv / Möbius Records (Ton Steine Scherben)
UBG (Bernd Profittlich - Hits aus BONNanza)
Volksbühne Berlin (Chance 2000)
Fotos:
Leopold-Hoesch-Museum, Düren / Anne Gold, Aachen
Sammlung Dahlmann, Hamburg
Texte:
Tobias Lenartz T.L.
Dr. Gerd Mörsch G.M.
Iven Paschmanns I.P.
Design / Layout:
Daniel Schäfers, TRANSPORTdesign, Köln
www.TRANSPORTdesign.de
Auflage: 500
Druck: www.diedruckerei.de
Herausgeber:
Leopold-Hoesch-Museum Düren
Hoeschplatz 1
52349 Düren
© 2009 bei den Autoren und Künstlern, TRANSPORTdesign,
den Fotografen und Institutionen sowie den an
entsprechender Stelle genannten Rechteinhabern
ISBN 978-3-925955-01-3
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