Die Entwicklung der Kolloidwissenschaften - Christian
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Die Entwicklung der Kolloidwissenschaften - Christian
1 Die Entwicklung der Kolloidwissenschaften Ein historischer Abriß Klaus Beneke Institut für anorganische Chemie Christian-Albrechts-Universität Kiel [email protected] Inhalt: Kolloidwissenschaften bis 1800 2 Latex wird zu Kautschuk, Kautschuk zu Gummi 4 Zeittafel, Latex wird zu Kautschuk, Kautschuk zu Gummi 10 Über Baumwolle zu den ersten Kunststoffen 16 Die Entdeckung der Polymerisation 25 Von den Polymeren zu den Makromolekülen 31 Weiter Beispiele der Kolloidwissenschaften bis zur Gründung der Kolloid-Gesellschaft 1922 Der 1. Weltkrieg 47 56 2 Kolloidwissenschaften bis 1800 Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 7-9 Auch heute findet man in einem modernen Lehrbuch der Grenzflächen- und Kolloidchemie Phänomene, mit denen schon unsere Vorfahren konfrontiert waren (DÖRFLER, 1994, 2002). Kolloidwissenschaft wurde unbewußt schon im Altertum betrieben. Da diese über Gebiete der Physik, Chemie, Pharmazie, Medizin, Botanik, Geologie, Mineralogie und Technik hinweggreift, ergibt sich für die Kolloidwissenschaften ein weites Spektrum. Kosmetika und Duftstoffe, Heilmittel, alkoholische Getränke (vor 5000 v. Chr.), Papyrus (um 4000 v. Chr.), Tinten, Waschmittel (vor 3000 v. Chr.), Pigmente, Metallherstellung (Eisen um 2500 v. Chr.), Glasherstellung (um 5000 v. Chr.), Gegenstände aus Ton, um nur einige zu nennen, kannte man in Mesopotamien und Ägypten (BENEKE, 1995). Das Phänomen der Spreitung monomoLeonardo da Vinci lekularer Schichten war bekannt, man konnte es aber nicht deuten. Es wurde zur Ölwahrsagung der Priester in Mesopotamien ausgenutzt (TABOR, 1980; VOLKE, 1991; BENEKE, 1995). Das Phänomen der Kapillarität wird dem Universalgelehrten und Maler Leonardo da Vinci (1482 - 1519) zugeschrieben. Er beschrieb 1490 das Emporsteigen von Flüssigkeiten in engen Röhrchen. Auf laminare Strömung und Turbulenz stieß er beim Kanalbau und bei der Konstruktion von Wassermühlen (DANNEMANN, 1921; BENEKE, William Harvey 1995). 3 Diese Kapillarität findet in der Klärung des Blutkreislaufes ihren Fortgang. Dadurch angeregt, untersuchte der englische Theologe Stephan Hales (1677 - 1761) Pflanzen, ob dort ein entsprechender Vorgang stattfände (BENEKE, 1995). Mit dem Phänomen der Kapillarität beschäftigten sich Mediziner wie William Harvey (1578 - 1657), Giovanni Borelli (1608 - 1679), Marcello Malpighi (1628 - 1694), Mathematiker und Physiker wie Galileo Galilei (1564 - 1642), Evangelista Torricelli (1608 - 1647), Edme Mariotte (1620 - 1684), aber auch Mineralogen wie René-Just Haüy (1743 - 1822) und Chemiker wie Louis Joseph Gay-Lussac (1778 – 1850), um nur einige zu nennen (BENEKE, 1995). An diesem Beispiel der Kapillarität sieht man, wie verflochten die Kolloidwissenschaften mit den unterschiedlichen Bereichen der Naturwissenschaft war und ist. Marcello Malpighi Literatur BENEKE K (1995) Zur Geschichte der Grenzflächenerscheinungen - mit ausgesuchten Beispielen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, IV: 1-141. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft (1995). Verlag Reinhard Knof, Kiel DANNEMANN F (1921) Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange. Band 2, 2. Auflage. Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig. Neudruck Dr. M. Sändig, Wiesbaden, 1971: 84; 194-200 DÖRFLER H-D (1994) Grenzflächen- und Kolloidchemie. VCH Verlagsgesellschaft mbH, Weinheim, (1994), 600 Seiten DÖRFLER H-D (2002) Grenzflächen und kolloid-disperse Systeme. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York (2002), 982 Seiten VOLKE K (1991) Die Ölwahrsagung der Babylonier aus chemischer Sicht. Das Altertum 37: 115-120 TABOR D (1980) Babylonian lecanomancy: An ancient text on the spreading of oil ion water. J Colloid Interf Sci 75: 240-245 4 Latex wird zu Kautschuk, Kautschuk zu Gummi Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 9-14 Es war sicher eine Zufallsbeobachtung, als man feststellte, daß es Pflanzen, Bäume und Sträucher gab, welche beim Anschneiden einen milchähnlichen Saft absonderten. Diesen Latex (lat.: latex = Flüssigkeit; nicht Milch = lac) findet man bei uns im Löwenzahn, in vielen Emphorbiaarten und in den Gummibäumen in unseren Wohnzimmern. An der Luft gerinnen einige dieser Säfte zu mehr oder weniger klebrigen, elastischen Massen. Diese Latices bestehen aus mikroskopisch kleinen Feststoffkügelchen, welche in Wasser dispergiert sind und sich beim Trocknen durch den Verlust des Wassers zu einer festen Masse zusammenlagern („koagulieren“, lat.: coagulatum = geronnen). In Südamerika und Ostasien fand man, daß die Rinde der Bäume mehr und mehr Latex lieferte je öfter sie angeschnitten wurde. So nannten die Maya diese Bäume weinendes Holz (caa = Holz, o-chu = weinen). Dieser Name der Maya, caa-o-chu, wurde von den Franzosen auf die feste Masse, den caoutchouc, auf deutsch Kautschuk übertragen. Schon sehr früh wurden die auffälligsten Eigenschaften des Kautschuks, Elastizität und Klebrigkeit genutzt. Im 11. Jahrhundert spielten die Maya bei kultischen Ballspielen mit Bällen aus koaguliertem Kautschuk. Im 16. Jahrhundert bestrich man in Mexiko Gewebe mit Latex und erhielt wasserdichte Stoffe, in Asien wurde zur gleichen Zeit Kautschuksaft als Vogelleim verwendet. Die Verschiffung von Latex nach Europa scheiterte daran, daß er auf den langen Reisen koagulierte. Charles-Marie de la Condamine (1701 1774) brach 1734 zu einer Peru-Expedition auf, um die Erdkrümmung am Äquator zu messen. Charles-Marie de la Condamine Von der Westseite Südamerikas durchquerte er die Anden und gelang zu dem Amazonasbecken. Dabei traf er an den Ostabhängen 5 der Kordilleren Indianerstämme an, die den koagulierten Milchsaft eines Baumes (Castilla ulei) zum Abdichten von Booten sowie zur Herstellung von Fackeln benutzten, und für die Kinder kneteten sie auch Bälle daraus. Von dieser Reise brachte er Proben von Naturkautschuk und Cuare mit. Er berichtete 1745 in Paris erstmals über Kautschuk und legte Proben vor. Dieser blieb aber zunächst eine exotische Rarität. 1761 hatten die Franzosen L. Hérrisant und der Chemiker Pierre Joseph Macquer (1718 - 1785) mit Terpentinöl und Ether ein Lösungsmittel für Kautschuk gefunden (Macquer, 1761). 1770 erhielt der Kautschuk von Edward Nairne seinen englischen Namen rubber. Nairne hatte gefunden, daß sich Kautschuk zum Ausradieren von Bleistiftstrichen eignete (engl.: to rub = reiben). 1791 gelang es Samuel Péal in England, mit Kautschuk beschichtete Gewebe herzustellen. Der Schotte Charles McIntosh (1766 - 1843) erkannte 1823, daß auch Naphta, die aromatenreiche Fraktion des Erdöls, als Lösungsmittel geeignet ist. Dadurch erfand er ein wasserabstoßendes Gewebe. In England werden Regenmäntel noch heute McIntoshs genannt (ELIAS, 1985). Das Wort naptu (Erdöl) benutzten schon die Babylonier um 500 v. Chr.. Der Nachteil der Regenmäntel war, daß sie besonders bei warmen Wetter klebten. Heute weiß man, daß diese Eigenklebrigkeit eine direkte Folge der chemischen und physikalischen Struktur der dem Kautschuk zugrundeliegenden Makromoleküle ist. Zu jener Zeit vermutete man jedoch, daß die Klebrigkeit von einer im Kautschuk befindlichen Flüssigkeit herrrühre. Man versuchte, den Kautschuk zu trocknen. Der Engländer Thomas Hancock kam 1819 auf die Idee, frisch geschnittene Kautschukstücke, die immer wieder verklebten, wenn man sie zusammenpreßte, wieder aufzureißen. Dazu konstruierte er zwei mit Stacheln besetzte Walzen, die sich gegeneinander drehten, und zwischen denen der Kautschuk immer wieder aufgerissen wurde. Da keine Flüssigkeit im Kautschuk war, konnte diese auch nicht entweichen. Aber auf diese Weise behandelter Kautschuk war längst nicht so zäh, und man konnte viel leichter verschiedene Stoffe zufügen. Diese Mastifikation des rohen Kautschuks wird heute auf der Walze bei Temperaturen von 100° C bis 170° C in Gegenwart von Sauerstoff und unter Zusatz von Mastifizierungsmitteln (Thiophenole und Charles Goodyear 6 deren Zinksalze, Dixylyldisulfide, Pentachlorthiophenol, auch Zinksalze höhermolekularer, ungesättigter Fettsäuren) durchgeführt (RÖMPP, 1983; ELIAS, 1985). Aber auch Wärme trocknete den Kautschuk nicht. Wenn man ihn zu hoch erhitzte, wurde er zu einer übelriechenden Masse. Seit 1831 versuchte der Amerikaner Charles Goodyear (1800 - 1860) dem Kautschuk ein Trocknungsmittel zuzusetzen, welches die klebrigmachende Flüssigkeit aufsaugen sollte. Dabei verwendete er auch Schwefel als Zusatz. Aber auch gelindes Erwärmen dieser Mischung brachte keinen Erfolg. Durch Unachtsamkeit blieb ein kleines Stück dieser Kautschuk-Gummi-Mischung über Nacht in Kontakt mit einem heißen Ofen. So erhielt Goodyear 1839 einen hoch-elastischen Gummi, dessen Klebrigkeit verschwunden war; die Vulkanisation war erfunden. Es dauerte fünf Jahre, bis er einen Finanzier für seine Erfindung fand, so daß er 1844 ein Patent anmelden konnte (GOODYEAR, 1844). Thomas Hancock hatte inzwischen für den gleichen Prozeß ein englisches Patent erlangt und gab ihm den Namen Vulkanisation, da Hitze und Schwefel dem römischen Gotte Vulkan zugeschriebene Attribute waren. Unter Vulkanisation im weiteren Sinne versteht man heute Vernetzungsreaktionen von Elastomeren aus Natur- oder Synthesekautschuk. Durch Zugabe von Vulkanisationsmitteln (vorwiegend Schwefel) werden bei der Umwandlung von Kautschuk aus dem hauptsächlich überwiegend plastischen in den elastischen Zustand die Doppelbindungen gelöst und Schwefel-Brückenbindungen zu den Nachbarmolekülen geknüpft. Bei Weichgummi benötigt man 1 bis 4%, bei Hartgummi über 20 % Schwefel (RÖMPP, 1983; ELIAS, Kautschukgewinnung 1985). Goodyear begründete damit die Gummiindustrie, und der Verbrauch an Kautschuk stieg sprunghaft an. Wurden im Jahre 1825 nur 38 Tonnen verbraucht, waren es im Jahre 1840 388 Tonnen und 1870 schon 8 000 Tonnen. Dieser Kautschuk wurde von wildwachsenden Bäumen der Gattungen Castilla elastica und Castilla ulei hauptsächlich in Brasilien gewonnen. Diese Bäume gehören zu der Familie der Moraceae den Maulbeergewächsen. Einige der brasilianischen Enrico Caruso Kautschukbarone wurden dabei sehr reich und 7 ließen sich ihre Kulturbeflissenheit einiges kosten. So wurde ein Opernhaus aus importiertem italienischen Marmor mitten im Amazonas-Dschungel gebaut, in dem der berühmteste Operntenor seiner Zeit, Enrico Caruso (1873 - 1921), seine Arien schmetterte. Dieses Spektakel ist sehr schön in dem Film Fitzgeraldo von Werner Herzog, mit Klaus Kinski in der Hauptrolle, dargestellt. Unter den Compositen erlangte der Guayule-Strauch Mexikos bis heute eine, wenn auch nur geringe Bedeutung. Von den Löwenzahngewächsen enthält KokSaghys Kautschuk-Latex. Diese Pflanze gedeiht in mittleren bis nördlichen Vegetationszonen, und wurde in Rußland zeitweise angebaut. In Ostasien gewann man eine geringe Menge an Kautschuk aus Ficus elastica, dem Gummibaum, der bei uns in den Wohnzimmern steht. England versuchte, diesen Ficus elastica in Singapur für die Kautschukproduktion zu kultivieren. Der Erfolg blieb aus, die Bäume versiegten nach mehrmaligem Anzapfen. Ein weiteres Experiment mit Apocynaceen, Lianengewächsen aus Zentralafrika, Kautschuk zu gewinnen, scheiterte um 1860 ebenfalls. Der Kurator am Museum für Pharmazie in London, J. Collins, konnte 1869 durch intensive Untersuchungen feststellen, daß sich Hevea brasiliensis am besten für die Zucht in Plantagen eignete. Brasilien hatte ein Monopol auf Wildkautschuk, und durch Ausfuhrverbote für Pflanzen bzw. Samen wollte man dieses erhalten. 1873 versuchte Collins, ungefähr 2 000 Samen aus Brasilien herauszuschmuggeln, doch die Ladung erlitt Schiffsbruch. Schließlich gingen von 200 illegal ausgeführten Samen in England ein Dutzend auf. Davon wurden sechs Pflanzen nach Kalkutta geschickt, die aber alle eingingen. Der englische Kaffeepflanzer Sir Henry Wickham brachte unter Bananenblättern versteckt, 1876 im Auftrag von Collins 70 000 Samen der Hevea brasiliensis nach England. Sir Henry Wickham Davon gingen 2 800 Samen an und 1 900 wurden in Ceylon weitergezüchtet. Diese bildeten den Grundstock für Plantagenkautschuk, zuerst auf Ceylon, dann in anderen ostafrikanischen Ländern (ELIAS, 1985). Bei Hevea brasiliensis kommunizieren die Milchröhren untereinander, so daß grätenmusterähnliche Einschnitte, die bei vorsichtiger Anbringung nur die Rinde verletzen, nicht aber das Kambium beschädigten, genügen, um den Milchfluß über eine 8 längere Zeit aufrechtzuerhalten. Das Wachstum der Bäume wird wenig beeinträchtigt, da das Kambium ein teilungsfähiges Gewebe ist, das für das Dickenwachstum verantwortlich ist und in den Hölzern nach innen Holz-, nach außen Rindenzellen bildet. Anders verhält es sich bei Castilla elastica und Castilla ulei. Bei diesen sind die Milchsaftröhren ungegliedert, und beim Anschneiden des Stammes fließt nur in unmittelbarer Umgebung der Wundstelle Milchsaft aus. Da in den Röhren ein Überdruck vorliegt, spritzt einTeil der weißen Flüssigkeit bereits im Moment der Stammverletzung heraus. Durch mehrere Schnitte wird drei- bis viermal im Jahr geerntet, wobei die Bäume nachhaltig geschädigt werden. Außerdem mindert ein erhöhter Harzgehalt (4 bis 9%) des Castilla-Kautschuks seinen Wert. Die ersten vier Tonnen Plantagenkautschuk kamen 1900 auf den Markt, während 54 000 Wildkautschuk im gleichen Jahr gewonnen wurden. Da Plantagenkautschuk kostengünstiger, einheitlicher und weniger verunreinigt ist, hat er Wildkautschuk praktisch völlig verdrängt. Die Produktion von Naturkautschuk belief sich im Jahre 1985 auf 3 800 000 Tonnen. Diese Menge wäre wohl kaum von Waldläufern zu erzielen gewesen, abgesehen von den hohen Vegetationsschäden, welche durch wiederholtes Anzapfen von Castilla elastica und Castilla ulai entstanden wären. Insgesamt hätte der Naturkautschuk nur ein Drittel des Weltbedarf an Kautschuk von 13 000 000 Tonnen abgedeckt (ELIAS, 1985). Gleichzeitig, aber unabhängig von der Entwicklung Goodyears, entwickelte sich die Luftbereifung von Fahrzeugen. Robert William Thomson führte am 17. März 1847 in London einen luftbereiften Pferdewagen vor (THOMSON, 1845). Aber diese Erfindung fand im Zeitalter der Pferdefuhrwerke keinen Durchbruch und wurde vergessen. Der irische Tierarzt John Boyd Dunlop (1840 - 1921) John Boyd Dunlop mußte sie 1888 erneut machen. Er umwickelte das Rad einer Laufmaschine (Draisine) seines Sohnes mit Gummistreifen und füllte den so entstandenen Schlauch mit Luft. Dunlop begründete 1889 die Rubber Dunlop Company (DUNLOP, 1888). Diese Erfindung kam zur rechten Zeit, fiel sie doch zusammen mit dem Beginn der Entwicklung des Automobils. Heute werden rund 65% des Kautschuks für die Reifenherstellung verwendet. 9 Produktion von Natur- und Synthesekautschuk 1830 - 1950 (Gröne, 1988) Jahr 1830 1850 1890 1900 1910 1920 WildKautschuk t 160 1 500 29 000 54 000 62 000 39 000 1930 1940 1945 1950 21 000 - PlantagenKautschuk t 4 8 000 305 000 (1915-1918) 800 000 1 389 000 268 000 1 780 000 Synthetischer Kautschuk t 3 000 Gesamt 40 000 866 000 534 000 821 000 1 429 000 1 134 000 2 314 000 t 160 1 500 29 000 58 000 70 000 347 000 Auf die Entwicklung des Synthesekautschuks BUNA und dessen chemischer Industrie, in Deutschland hauptsächlich die I. G. Farben AG mit ihren BUNA-Werken, wird in diesem Beitrag nicht näher eingegangen, und auf den Artikel von H. Gröne hingewiesen (GRÖNE, 1988). 10 Zeittafel Latex wird zu Kautschuk, Kautschuk zu Gummi (nach Häberlein, 2002) Lange bevor ein weißer Mann seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte und über unermesslichen Gold- und Silberschätzen den unscheinbaren Kautschuk nicht beachtete, wußten die Ureinwohner Mittelamerikas - die Azteken und Mayas sowie die kriegerischen Eingeborenenstämme der “Grünen Hölle” des Amazonasstromes vielfältige und nützliche Dinge aus der Milch des “weinenden Baumes” zu formen. Aus seinem milchigen Saft fertigten die Eingeborenen Schuhe, Flaschen und Bälle. Jahr 1495 1519 1751 1761 Ereignis Christoph Kolumbus (1451 - 1506) sah auf seiner zweiten Reise in die Neue Welt auf Haiti Indos mit einem elastischen Ball spielen. Hernando Cortez (1485 - 1547) sah bei der Eroberung Mexikos in den prunkvollen Ballspielhäusern des Aztekenfürsten Montezuma (1466 - 1520) dem Spiel der springenden Bälle zu. Durch dessen Aufzeichnungen erhält Europa erstmals Kenntnis von dem hier unbekannten elastischen Material. . Die französischen Wissenschaftler Charles-Marie de la Condamine (1701 - 1774) und C. F. Fresneau berichten über den Kautschuk und bringen diesen in Europa wieder in Erinnerung. Die französischen Forscher Pierre Joseph Macquer (1718 - 1785) und L. A. M. Hérrisaut lösen Kautschuk in Ether und Terpentin. Dabei stellen sie fest, daß dieser nach dem Verdunsten wieder diesselben Eigenschaften zeigt wie vor dessen Auflösung. Macquer bestrich mit dem gelösten Kautschuk Wachsformen und konnte durch Abschmelzen des Wachses die ersten Formartikel wie Gummieschläuche und Gummischuhe herstellen. 1765 J. A. C. Charles dichtet mit gelöstem Kautschuk Textilien ab, das die Brüder Montgolfier u. a. nutzten um ihre Heißluftballone herzustellten (1783). 1770 Der Mechaniker Edward Nairne entdeckt per Zufall den Radiereffekt als er mit einem Stück Kautschuk über eine Bleistiftskizze strich und diese ausradierte. J. Priestley berichtete erstmals darüber. Nairne verkauft Kautschukstücke unter dem Namen “rubber“ (Reiber), die unter dem Namen “India rubber“ bekannt wurden. 1791 Samuel Peal erhält in London das erste Patent zur Herstellung gummierter Gewebe. Dabei wurde der in Terpentin gelöste Kautschuk bei der Kälte steif und in der Sonne 1803 klebrig, wobei ein unangenehmer Geruch verbreitet wurde. In Paris wurde die erste Fabik zur Herstellung elastischer Bänder für Hosenträger, 1819 Strumpfbänder u. a. gegründet. Thomas Hancock, ein Engländer, entdeckt die Mastifikation und konstruiert eine 1823 Knetmaschine die er “Mastifikator“ nennt. Der Schotte Charles McIntosh (1766 - 1843) verbessert das Verfahren von Samuel 11 1824 1826 Peal und gilt als Vater der wasserdichten Stoffe. Als Lösungsmittel für den Kautschuk verwendete er Benzol, bestrich damit eine Leinwand und klebte auf die bestrichene Fläche ein zweites stück Leinwand. McIntosh stellte auch die ersten regendichten Mäntel her die den Namen “McIntosh“ in England bis heute tragen. In Österreich gründet J. N. Reithofer die erste Kautschukwarenfabrik auf dem europäischen Kontinent. Michael Faraday (1791 - 1867) erkannte erstmals, daß Kautschuk aus einem Kohlenwasserstoff mit je fünf Kohlenstoffatomen aufgebaut ist, der 1860 Isopren genannt wurde. Faraday M. (1826) Quart J Sci 21: 19 1830 1839 1845 1846 1849 1856 1860 Der Weltkautschukverbrauch (Wildkautschuk) beträgt 150 Tonnen. Der Amerikaner Charles Goodyear (1800 - 1860) machte per Zufall die wichtigste Entdeckung für die Verwertung des Kautschuks. Mit Schwefel vermischter Kautschuk verwandelt sich unter bestimmter Hitzeeinwirkung in Gummi. 1843 erhielt Thomas Hancock dafür ein Patent, da Goodyear das Geld dazu fehlte. Goodyear wurde später in einem Patentstreit die Priorität zugesprochen. Der Schotte Robert William Thomson meldet beim Londoner Patentamt den ersten Luftreifen an. Alexander Parkes entdeckt die Kaltvulkanisation (Parkes-Prozess) mit Schwefelmonochlorid. William Elliot gründet in Berlin die erste deutsche Gummiwarenfabrik. Weltkautschukverbrauch 7 000 Tonnen. Bei der Trockendestillation des Naturkautschuks erhielten W. Gregory (1835) und Carl Himly (1811 - 1885) im Jahre 1838 verschiedene Kohlenwasserstoffe, von denen einer den Siedebereich 33 bis 40 °C hatte. Sie nannten ihm Faradayin. Greville Williams gewann dieses Produkt reiner und ermittelte einen Siedepunkt von 37 °C. Er fand auch die richtige Summenformel (C5H8) und nannte es Isopren. Die Konstitution des Isoprens wurde 1897 von W. Ipatjev und W. Euler aufgelärt. Euler gelang auch 1898 die Synthese dieses wichtigen Abbauprodukts und Bausteins von Naturstoffen. Gregory W (1835) Ann Chem 16: 61; Himly C (1838) Ann Chem 27: 40; Williams C. G. (1860) Phil Trans Roy Soc [London] 150: 241; Ipatjev W, Wittorf N (1897) J Prakt Chem 55: 1; Euler W (1897) Ber Dtsch Chem Ges 30: 1889; Euler W (1897) J Prakt Chem 57: 131 1861 1873 1876 1878 1879 Brasiliens Kautschukmoniopol trieb die Preise in die Höhe. Kautschuk wurde zeitweilig teurer als Silber. J. Collins versuchte ungefähr 2 000 Samen des Hevea brasiliensis aus Brasilien zu schmuggeln, doch die Ladung erlitt Schiffsbruch. Henry Wickham brachte auf abenteuerlichen Wegen 70 000 Samen der Helvea brasiliensis nach England. Ca. 2 800 Pflanzen wurden nachdem sie in England angegangen waren auf Plantagen in Ceylon und Malaysia gebracht, wobei ca. 1 900 Pflanzen aufgingen. Diese bildeten den Grundstock für die ersten Kautschukplantagen. Herstellung der ersten Tennisbälle. Der Franzose G. Bouchardat zeigte den grundsätzlichen Weg zur Herstellung von 12 1884 Kautschuk durch Polymerisation, indem er flüssiges aus trockener Destillation von Kautschuk gewonnenes Isopren in einem mehrere Monate dauernden Prozess in eine kautschukähnliche Masse überführte. Der Engländer W. A. Tilden stellt für Isopren eine Strukturformel auf. Tilden W A (1884) J Chem Soc 45: 410 1888 1889 1890 1893 1894 1895 1896 1900 1909 1910 1912 1915 1923 1923 Der Tierarzt John Boyd Dunlop erfand unabhängig von R. W. Thomson den FahrradLuftreifen. 550 kg Plantagenkautschuk erschienen auf dem Markt William Barlett erfand den Reifenwulst. Erste Cordgewebekonstruktion für Reifen. Die Gebrüder Michelin in Frankreich entwickelten die erste brauchbare Konzeption eines demontierbaren Luftreifens für Automobile. Dunlop rüstet das erste Automobil mit Luftreifen aus. Goodrich konstruiert den ersten Luftreifen in den USA. J. Kondakow, ein russischer Chemiker, wandelt Dimethylbutadien, das chemisch leichter zugänglich war als Isopren, durch langwierige Wärmebehandlung in ein elastisches Polymerisat mit allerdings unzureichendem Erscheinungsbild um. Dabei handelte es sich um den ersten vollsynthetischen Kautschuk, der allerdings in seiner Zusammensetzung vom Naturkautschuk abwich. Der deutsche Chemiker Fritz Hofmann (1866 - 1956) erfand den ersten brauchbaren synthetischen Kautschuk (Polyisopren) und erhielt das erste Patent auf diesem Gebiet. Carl Dietrich Harries (1866 - 1923) und unabhängig davon die englischen Chemiker F. E. Matthews und E. Strange entdeckten, daß sich die Polymerisation durch den Einsatz von Alkalien, vor allem von Natrium, erheblich beschleunigen ließ. Damit war die Basis für eine großindustrieelle Synthesekautschukproduktion gelegt. Die starke Motorisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ den Kautschukpreis auf 28 Mark/kg steigen. Der Weltkautschukbedarf betrug 100 000 t. Da größere Mengen Plantagenkautschuk auf den Markt kamen, fiel der Preis in der Folge wieder ab. Herstellung der ersten Reifen aus vollsynthetischem Isopren-Kautschuk. Der damalige Chef der Farbenfabriken Bayer, Geheimrat Carl Duisberg (1861 - 1935), fuhr mit diesen Reifen ohne Panne von Leverkusen zu einer Tagung nach Freiburg im Breisgau. Diese Leistung fand auch das Interesse von Kaiser Wilhelm II., der die Wagen seines Marschalls mit solchen Reifen ausrüsten ließ. Bedingt durch den Ausbruch des Krieges lief bei Bayer in Leverkusen die erste großtechnische Anlage zur Herstelung von Syntheskautschuk (Methylkautschuk) an. Bis 1918 wurden 2 500 t Methylkautschuk hergestellt. Nach 1918 wurde die Produktion wieder eingestellt. Erste Ballonreifen in den USA und Deutschland. Verwendung von Cordgewebe für den Reifenunterbau. Bei der inzwischen gegründeten IG-Farbenindustrie wurde die Synthesekautschukforschung wieder aufgenommen. Butadien wurde mit Natriumkatalysatoren zu einem Synthesekautschuk polymerisiert, der den Namen BUNA erhielt. Dieses eingetragene Warenzeichen findet noch heute für viele Synthesekautschuk-Typen Verwendung. 13 1926 1929 1930 1933 1936 1937 1941 1942 1943 1947 1948 1949 1951 1952 1953 1954 1955 Gründung der Deutschen-Kautschuk-Gesellschaft (DKG). Der Chemiker Walter Bock entwickelte die Emulsionspolymerisation von Butadien und Styrol und legte damit den Grundstein für die wirtschaftliche Nutzung des Synthesekautschuks. Der Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR; von englischen “StyreneButadiene-Rubber”) ist der heute am meisten verwendete Synthesekautschuk. Dieser wird vorwiegend für die Reifenherstellung verwendet. Erich Konrad und Eduard Tschunkur entwickelten den öl- und benzinbeständigen Butadien-Acrylnitril-Kautschuk (NBR). In den USA entwickelt Wallace Hume Carothers (1896 - 1937) bei Du Pont den ozon- und witterungsbeständigen sowie flammwidrigen Chloroprenkautschuk (CR), der 1932 zunächst als Duprene, später als Neoprene auf den Markt kam. Der Naturkautschukpreis liegt bei 0.32 RM/kg, dem niedrigsten Preis aller Zeiten. Kunstseidenkord für die Reifenherstellung In Schkopau, einer kleinen Stadt in Mitteldeutschland, wurde das erste BUNA-Werk der Welt eröffnet. Weitere Anlagen entstanden in Leverkusen, Ludwigshafen und Marl-Hüls. Erster deutscher BUNA-Reifen. Otto Bayer (1902 - 1982) entdeckte in Leverkusen die Polyadditionsreaktion von Diisocyanaten mit zweiwertigen Alkoholen zu Polyurethanen (PUR). Diese wurden unter anderem zur Herstellung der hochelastischen, damals I- Gummi genannten Produkten verwendet. In den USA wurden große Synthesekautschuk-Werke zur Produktion von SBR unter der Kontrolle der Regierung gebaut (Government-Rubber). Der äußerst kälteflexible und hochtemperaturbeständige Siliconkautschuk wird in den USA entwickelt. Die deutsche BUNA-Jahreserzeugung liegt bei 120 000 t. Entwicklung von Butylkautschuk (IIR), ausgehend von Polyisobutylen bei Standart Oil of New Jersey. Super-Ballon-Reifen. Einstellung der westdeutschen Synthesekautschuk-Erzeugung auf Beschluß der Alliierten. Entwicklung des besonders wärmebeständigen und resistenten Fluorkautschuks (FPM) bei Du Pont in den USA: Entwicklung des Stahlgürtelreifens bei Michelin in Frankreich. Entwicklung des öl- und wärmebeständigen Acrylatkautschuks (ACM) bei Goodrich. Aufhebung des Produktionsverbots für Synthesekautschuk in Deutschland. Ein Kilogramm Naturkautschuk kostete 8 DM. ´Wiederaufnahme der Synthesekautschukherstellung bei den BUNA-Werken Hüls in Marl, Westfalen. Entwicklung von chlorsulfoniertem Polyethylen (CMS) bei Du Pont. In den USA gelang mit der großtechnischen Herstellung von cis-1,4-Polyisopren (IR) erstmals die Entwicklung eines Synthesekautschuks, der in der Molekularstruktur dem Naturkautschuk gleicht. Das Verfahren wurde anschließend auch bei der Herstellung von stereospezifischem Polybutadien (BR) angewandt. Weltkautschukverbrauch 2 880 000 t. Davon entfielen 1 485 000 t auf die USA und 14 1958 1959 1960 1961 1962 1965 1968 1970 1971 1973 1975 1978 1979 1981 1985 1986 1987 1989 1990 180 000 t auf die Bundesrepublik Deutschland. Die Welterzeugung von Synthesekautschuk stieg auf eine Million t an. Inbebriebnahme einer neuen Fabrikationsanlage für 120 000 Jahrestonnen StyrolButadien-Kautschuk (SBR) bei den BUNA-Werken Hüls. Entwicklung von Ethylen-Propylen-Kautschuk (EPM, EPDM) durch Guilio Natta (1903 – 1979) und G. Crespie auf Basis von Ziegler-Katalysatoren. Zum erstenmal überflügelt Synthesekautschuk mit 2.65 Millionen Tonnen die Weltproduktion von Naturkautschuk mit 2.08 Millionen Tonnen. H. Bartl und J. Peter entwickelten bei Bayer in Leverkusen den Ethylen-VinylacetatKautschuk (EVM). Entwicklung von Block-Copolymeren auf Basis Styrol und Butadien durch Shell, die zu den ersten thermoplastischen Elastomeren (SBS) führten. Produktaufnahme von cis-1,4-Polybutadien bei Hüls. Die Verwendung dieses Kautschuks als Mischkomponente bei der Reifenherstellung verbesserte das Abriebverhalten, die Kälteflexibilität und das Alterungsverhalten der Reifen. Entwicklung des besonders kraftstoff- und ozonbeständigen Epichlorhydrinkautschuks (CO, ECO) bei Goodrich. Weltkautschukverbrauch 7 650 000 t, davon 64% Synthesekautschuk. Entwicklung von thermoplastischen Polyurethan (TPE-U) bei Bayer in Leverkusen. Beginn der Herstellung von Ethylen-Propylen-Kautschuk (EPDM) bei Hüls. Entwicklung von thermoplastischen Copolymeren auf Basis Alkylenterephthalaten und Alkylenglykolen (TPE-E) durch G. K. Hoeschle und W. K. Witsiepe bei Du Pont. Entwicklung von Polynorbornenkautschuk (PNR) bei CdF-Chemie. Einführung von Ethylen-Acrylatkautschuk (EAM) durch Du Pont. Entwicklung neuartiger thermoplastischer Elastomere auf Basis vernetzter EthylenPropylen-Kautschuk/Polyolefinverschnitten (TPE-O) durch A. Y. Coran und R. Patel , Monsanto. Entwicklung von thermoplastischem Naturkautschuk durch Verschnitt vernetzter Produkte mit Polyolefinen durch R. Mullins. Einführung von hydriertem Nitrilkautschuk (H-NBR) als neue, besonders resistente und hitzebeständige Kautschukklasse durch Bayer. Entwicklung von Polytertrafluorethylen/Polyolefin-Verschnitten (Aflas) als Kautschuke für höchstresistente Gummiteile von Asahi Glas, Japan. Einführung eines neuen amorphen thermolplastischen Chlorolefinelastomeren (Alcryn) durch Du Pont. Entwicklung eines höchst resistenten Fluoralkoxyphosphazenkautschuks (PNF) durch Ethyl Corporation. Einführung von Nitrilkautschuk/Polyolefinverschnitten als thermoplastischem NBR durch Monsanto. Einführung von thermoplastischem Polyether-Polyamid-Block-Copolymeren (TPE-A) durch Atochem. Einführung eines Ethylen-Chlorsulfonierten Polyethylen-Copolymeren (ECSM) durch Du Pont. Einführung einer neuen Klasse von thermoplastischern Elastomeren auf Basis Polyamid/Reaktivkautschuk-Verschnitten durch Du Pont. 15 Weltkautschukverbrauch 15.8 Millionen Tonnen, davon 67% Synthesekautschuk. Bis 1994 wird die jährliche Zuwachsrate auf 2.1% geschätzt. Die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist vor allem durch stetige Zunahme des Kautschuksverbrauchs und des Anteils der Synthesekautschuke im Gesamtverbrauch gekennzeichnet. Wie die Zeittafel vor allem der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, werden in zunehmendem Maße Möglichkeiten genutzt, Synthesekautschuke für ganz bestimmte Anwendungsbereiche unter Hervorhebung gewünschter Eigenschaften quasi „nach Maß” herzustellen. Ungeachtet aller Fortschritte bei der Entwicklung neuer Synthesekautschuke hat der Naturkautschuk seine Bedeutung behalten. Er wird als Allround-Kautschuk in der Summe seiner Eigenschaften von keinem Synthesekautschuk übertroffen und ist für zahlreiche Anwendungsbereiche nach wie vor erste Wahl. Literatur DUNLOP J B (1888) British Patent 10 607 (1888/1888) ELIAS H G (1985) Große Moleküle, Plaudereien über synthetische und natürliche Polymere. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg: 5-11, 29-36 GOODYEAR CH (1844) US-Patent 3 633 (1844/1844) GRÖNE H (1988) Kautschuk - der Weg zu Hüls. Lichtbogen, Hauszeitschrift der HülsGesellschaften 1/37 Nr. 207: 4-17 HÄBERLEIN M (2002) Zeittafel der Kautschukgeschichte. URL:http://www.fbv.fh-frankfurt.de/mhwww/KAT/kautschukgeschichte.htm (07.06.2002) MACQUER P J (1761) Seine Kautschukuntersuchungen sind nachzulesen in: Historie de l´Académie (1763): 49 Historie de l´Académie (1768): 58 Mémoires de l´Academie (1768) 209 RÖMPPS Chemie Lexikon (1983) 8. Auflage THOMSON R W (1845) British Patent 10 990 (1845/1845) 16 Über Baumwolle zu den ersten Kunststoffen Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 14-22 Mit der Gummiindustie entwickelte sich auch die Faserindustrie. Schon seit Urzeiten verwendeten die Menschen Fasern, die älteste verwendete Faser ist vermutlich die Wolle von Wildtieren. Schafe und Ziegen wurden seit ca. 9000 v. Chr. gezüchtet. In Babylon kannte man Wollkleidung seit ca. 4000 v. Chr. Baumwolle kannten die Ägypter wahrscheinlich schon ca. 12000 v. Chr.; in Mexiko fand man Baumwollgewebe aus der Zeit um 5700 v. Chr. Der Gebrauch von Webstühlen war bereits um 4400 v. Chr. in Ägypten bekannt (Elias, 1992). Diese Textilfasern waren Wolle, Seide, Baumwolle, Flachs und Leinen, Hartfasern wie Hanf, Jute oder Kopek. Aus diesen machte man Textilien, so z. B. aus Wolle wie - in der Natur - einen kälteabweisenden Schutz. Mit Baumwolle dadegen, dem Samenhaar eines subtropischen, zu den Malvengewächsen gehörenden Busches (Gossypium), hatte man Schwierigkeiten beim Verarbeiten, aber bereits die Babylonier webten aus Baumwolle Textilwaren. In Indien nutzte man den Baumwollanbau früher als anderswo. Im ältesten klassischen Hinweis auf Baumwolle schrieb der griechische Geschichtsschreiber Herodot (490 - etwa 425420 v. Chr.) in erheiternder Unkenntnis: „Außerdem tragen daselbst wilde Bäume statt der Früchte eine Wolle, die an Schönheit und Güte die Schafwolle übertrifft, und die Inder tragen Kleider von dieser Baumwolle“. Durch die Kriege im Vorderen Orient machten die Römer Bekanntschaft mit der auf Bäumen wachsenden „Wolle“. Im Mittelalter übernahmen die Araber die Kunst der Inder, die Baumwolle zu feinen Gewändern zu weben und zu verarbeiten. Das arabische Wort quttan lieferte das das englische Wort cotton (DURANT, 1969; RÖMPP, 1983). John Mercer (1791 - 1866), Sohn eines Webers, selbst Garnspuler und Weber, eignete sich durch Parkinsons Chemical Pocket Book autodidaktisch chemisches Wissen an und fand in Antimonsulfid den ersten Farbstoff, der Baumwolle orange färbte. Dieses Verfahren wurde benutzt, brachte Mercer aber keinen finanziellen Nutzen. Später arbeitete er in einer Druckerei, verbesserte die Indigofärberei und machte eine Reihe weiterer, das Färben betreffende Erfindungen. Ab 1844 behandelte er Baumwolle, Papier und andere pflanzliche Materialien mit Natronlauge, 17 Schwefelsäure und Zinkchlorid. Dabei entdeckte er, daß gespannte Baumwolle, mit Natronlauge behandelt, schrumpft und stark glänzende Fasern mit erhöhter Reißfestigkeit ergibt. Die Baumwolle wird auch durchscheinender und nimmt die Farbstoffe besser auf. Mercer meldete das Mercerieren 1850 zum Patent an, das aber erst 1895 in die industrielle Praxis eingeführt wurde. Anselme Payen (1795 - 1871), der Sohn eines Fabrikbesitzers, über dessen Leben wenig bekannt ist, beschäftigte sich überwiegend mit praxisbezogenen Themen. Erst leitete er eine Rübenzuckerfabrik in Vaurigrad bei Paris, später eine chemische Fabrik bei Paris. 1829 wurde er an die École Centrale des Arts et des Manufactures in Paris berufen. Ab 1835 wurde er Nachfolger von Jean Baptiste Dumas (1800 - 1884) als Professor für industrielle Chemie an dieser Hochschule, 1839 kam er in der gleichen Stellung an das Conservatoire des Arts et Métiers. Zunächst beschäftigte sich Payen mit Bleiverbindungen und ihrer Anwendung als AnAnselme Payen strichmittel. Im Jahre 1822 veröffentlichte er einen Artikel, in dem er den Gebrauch von Kartoffeln zum Vermeiden von Kesselstein beschrieb und damit vielleicht die heutige diesbezügliche Verwendung von Stärke anregte. Danach durchbrach er das niederländische Boraxmonopol, indem er aus toscanischer Borsäure und Natriumcarbonat weißes, gut kristallisiertes Borax herstellte. Dieses Produkt wurde von der Industrie erst abgelehnt, da man dort an ein weniger reines Produkt gewöhnt war. Payen ließ es daher für den Verkauf nachträglich bräunlich färben und den Glanz abstumpfen. In der Zuckerfabrik setzte er erstmals TierJean Baptiste Dumas kohle zum Entfärben der Zuckerlösung ein. Auch beschäftigte sich Payen mit Lebensmittelanalytik und der Anwendung von Düngemitteln. Ab 1833 begann er mit seinen Forschungen über Stärke und Emzymchemie, wobei er die α-Amylase (er nannte sie Diastase) entdeckte. Er verfolgte die Veränderungen der Stärke im Verlauf des Pflanzenwachstums und fand 18 heraus, daß nach der Behandlung von Holz mit Salpetersäure und anschließender Natriumhydroxidlösung eine Substanz zurückbleibt, welche er les cellules, Cellulose, nannte. Diese Cellulose führte Payen 1839 durch Behandlung mit konzentrierter Schwefelsäure in Dextrose über. Er stellte fest, daß Cellulose, Stärke und Zucker die gleiche chemische Zusammensetzung haben. In der Baumwolle fand er ebenfalls Cellulose. Auch erkannte er, daß Holz keine einheitliche Substanz ist. Durch Behandeln mit Salpetersäure erhielt er aus Holz eine kohlenstoffhaltige Substanz, welche er für ein Gemisch hielt. Er nannte sie eingelagerte Substanz, heute heißt sie Lignin (BENEKE, 1998). Cellulose ist chemisch gesehen ein Zucker, allerdings ein polymerisierter Zucker, so daß er nicht süß schmeckt. Sie ist die Gerüstsubstanz der Pflanzen und verdankt diese Eigenschaften ihrem makromolekularem Aufbau (RÖMPP, 1983). Das Papier wird aus Holz hergestellt und ist damit ein Cellulose-Papier. L. Figuier zeigte 1846 vor der Französischen Akademie der Wissenschaften, daß sich Papier beim Eintauchen in Schwefelsäure, ähnlich wie Baumwolle beim Mercerisieren, stark verfestigte. Dieses künstliche (vegetablische) Pergament fault im Gegensatz zu dem aus Tierhäuten gewonnenen, echten (tierischen-) Pergament nicht und wird nicht von Insekten befallen. W. E. Gaine erhielt 1853 für dieses Verfahren ein englisches Patent (ELIAS, 1985). 1859 erhielt der Engländer Thomas Taylor ein Patent, indem er Lagen von Papierbögen unter Einwirkung von Zinkchlorid und Druck zu einem widerstandsfähigen Material zusammenpreßte. Phänomenologisch ähnelt dieser Prozeß dem von Nelson Goodyear, dem Bruder von Charles Goodyear, benutzten Verfahren Naturkautschuk mit viel Schwefel in Hartgummi (Ebonit) umzuwandeln. Hier ging man aber von Papierfasern aus und nannte das Produkt Vulkanfieber. Dieses Vulkanfieber wird noch heute z. B. zur Herstellung von Koffern verwendet. Diese Verfahren zum Herstellen von mercerisierter Baumwolle, künstlichem Pergament und Vulkanfieber sind eher physkalische Umwandlungen, die chemische Natur der Makromoleküle der Cellulose wird kaum geändert. Christian Friedrich Schönbein Anders ist es aber, wenn man Baumwolle nicht allein mit Schwefelsäure, sondern mit einer Mischung Schwefelsäure und Salpetersäure behandelt. Dieses zufällige Experiment des Chemieprofessors Christian 19 Friedrich Schönbein (1799 - 1868) passierte 1846, als er aus Unachtsamkeit in der Küche seiner Wohnung eine Flasche mit einer Mischung aus Schwefelsäure und Salpetersäure zerbrach, und die Flüssigkeit auf den Boden spritzte. Er nahm den nächstbesten Putzlappen, die Baumwollschürze seiner Frau, und putzte den Boden auf. Sofort wusch er die Schürze mit Wasser aus und hängte sie zum Trocknen vor dem Ofen auf, wo sie explodierte, in Flammen aufging und verbrannte. Die Baumwolle hatte sich in Schießbaumwolle, chemisch gesehen Cellulose in Cellulosenitrat (Nitrocellulose) umgewandelt. Bei der Herstellung großer Mengen Schießbaumwolle kamen viele Menschen ums Leben (ELIAS, 1985). Cellulosenitrat löst sich in vielen organischen Lösungsmitteln, während Cellulose in ihnen unlöslich ist. Unter gelindem Erwärmen kann man es zu harten, elatischen Objekten verformen. Alexander Parkes (1813 - 1890) arbeitete ohne technische und chemische Vorkenntnisse als Leiter einer Gießerei und übernahm 1857 Aufbau und Leitung eines Werkes, welches nahtlose Metallrohre und Druckwalzen herstellte. Parkes meldete 1840 sein erstes Patent an, das Versilbern von Blumen. Diese behandelte er in der reduzierenden Lösung von Phosphor in Schwefelkohlenstoff, und anschließend tauchte er sie in Silbernitratlösung ein. Er beschrieb 1843 die Anreicherung und Abtrennung von Silber aus Blei durch Zusatz kleiner Mengen Zink. Die Kaltvulkanisation von Kautschuk mit in Schwefelkohlenstoff gelöstem Schwefeldichlorid (Parkes-Verfahren) entdeckte er 1846. Er erarbeitete Methoden zum Überziehen von Metallen mit Legierungen und erkannte als einer der ersten, daß geringe Phosphorzusätze die Zugfestigkeit und Korrosionsbeständigkeit von Legierungen verbessern. 1851 entwickelte er eine Methode, Zink und Silber durch Destillation zu trennen. Blei und Zink trennte er durch Luftoxidation. Auch versuchte er, Zink und Zinn aus Eisenschrott zurückzugewinnen. Parkes fand 1852 ein Verfahren, um aus Cellulosenitrat einen Plastikstoff herzustellen. Dazu setzte er dem Cellulosenitrat Ricinusöl, Campher und Farbstoffe zu und nannte seine Produkte Parkesite. Diese erregten großes Aufsehen und wurden mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Nach der Patenterteilung 1865 und unter großem Kapitalaufwand ging die Firma 1867 wegen technischer Schwierigkeiten pleite (ELIAS, 1985). Daniel W. Spill der alkoholische Lösungen von Campher verwendete, und amerikanische bzw. englische Patente dafür besaß, war genauso wenig erfolgreich. Der Amerikaner John Wesley Hyatt (1837 - 1920) verbesserte die vorher genannten Verfahren und bekam 1869 ein Patent zur Herstellung von Celluloid anerkannt. Er verwendete eine Mischung von Cellulosenitrat und Campher ohne Ricinusöl und ohne Alkohol. Diese Mischung kann bei mäßigen Temperaturen zu harten Objekten mit glatter Oberfläche verformt werden. Mit dieser Erfindung gewann Hyatt den Preis von 10 000 $, welcher ausgesetzt war, um bessere Billardkugeln her- 20 zustellen. Bis dahin wurden Billarkugeln ausschließlich aus Elfenbein hergestellt. Dieses Elfenbein war als natürlich gewachsener Elfenbeinzahn inhomogen und die Kugeln wiesen unebene Oberflächen auf, welches die Stöße mit dem Queue wenig berechenbar machten. Diese Unebenheiten versuchte man vor Hyatts Erfindung durch Aufbringen eines Überzuges aus reinem Cellulosenitrat zu beseitigen. Der Effekt war, daß bei zu hartem Anstoßen der Überzug explodierte: dieses bewog oft die Billardspieler im Wilden Westen, rasch den Revolver zu ziehen! Diese Erfindung von Hyatt, die Herstellung von Celluloid, überlebten viele Elefanten, die sonst wegen des Elfenbeins getötet wurden; die Erfindung trug erheblich zum Tierschutz bei. Später wurde die Herstellung von Billardkugeln aus Celluloid durch Bakelite abgelöst. Joseph Wilson Swan (gest. 1914) in England erfand mit Thomas Alva Edison (1847 1931) in den USA 1878 die Glühfadenlampe. Während Edison seinen Glühfaden aus Bambusfaser herstellte, fertigte Swan einen Glühfaden aus Cellulosenitrat, den er durch Denitrierung erhielt. Dazu löste er die Nitrocellulose in Essigsäure und drückte die Lösung durch Düsen in ein Alkoholbad. Er erhielt monofile Fäden und nannte sie artifical silk (künstliche Seide). Die textile Bedeutung dieser Erfindung verfolgte Swan nicht weiter, aber er gilt als der Erfinder der Kunstseide, der er auch den Namen gab (SWAN, 1883; ELIAS, 1992). Die französische Seidenraupenindustrie war durch eine Krankheit der Seidenraupen gefährdet. Louis Marie Hilaire Bernigaud, Comte de Chardonnet (1839 - 1924), setzte die Thomas Alva Edison Erfindung von Swan 1884 in den technischen Maßstab dem Spinnen von Kunstseide (Chardonnnet-Seide, Nitrocellulose-Seide; Nitro-Seide Collodium-Seide) um, die wegen ihres Glanzes „Reyon“ genannt wurde. Chardonnet gründerte 1890 in Besançon die erste Kunstseidenfabrik. Charles Fredrick Cross (1855 - 1935), Sohn eines Direktors einer Seidenfabrik, studierte Chemie am Kings College in London, Polytechnikum Zürich und am Owens College Manchester, wo er unter der Leitung von Sir Henry Enfield Roscoe (1833 1915) und Carl Ludwig Schorlemmer (1834 - 1892) arbeitete. Hier lernte er Edward Charles Bevan (1856 - 1921) kennen und schloß mit ihm eine lebenslange Freundschaft. 21 Cross arbeitete ab 1879 als Chemiker bei der Barrow Flax & Jute Company in Barrow-in-Furness und untersuchte Faserstrukturen und Cellulosederivate. Bevan begab sich nach dem Studium 1879 in die Papierindustrie und widmete sich der Celluloseforschung. Er veröffentlichte 1882 seine Ergebnisse, die industrielle Verwertbarkeit versprachen. Bevan und Cross gaben daraufhin im Jahre 1883 ihre Industrieanstellungen auf und begannen am Jodrell Laboratory in London gemeinsam grundlegende Arbeiten über Cellulose und deren Umsetzungen. Im Jahre 1885 gründeten Cross und Bevan das auf Papier spezialisierte Konsultationsunternehmen Cross & Bevan in New Courts, Lincoln´s Inn. Cross war auf der Suche nach löslichen Celluloseverbindungen und konnte 1889 Celluloseacetat und 1890 Cellulosebenzoat herstellen. Im Jahre 1892 gelang Cross, Bevan und Clayton Beadle die Entwicklung des Cellulose-Xanthogenat-Verfahren. Dabei wurde Holzbrei mit Natronlauge und Schwefelkohlenstoff zu Cellulosexanthogenat umgesetzt und dieses wurde in verdünnter Alkalilauge gelöst (Viskose). Aus der Viskose wurde im Schwefelsäurebad die Cellulosexanthogensäure freigesetzt, aus der sich unter Abspaltung von Schwefelkohlenstoff die Cellulose zurückbildete. Zuerst wurde diese als Füllstoff und Überzug für Papier und Textilien benutzt. Zur Verwertung gründeten Cross, Bevan und Beadle das Viscose Sydicate (CROSS ET AL., 1892, 1893). Auf Anfrage von C. H. Stearn, der sich für neue Glühfädenmaterialien interessierte, begannen Cross, Bevan, Stearn und Topham mit Spinnversuchen, in deren Verlauf sie die Notwendigkeit des mehrtägigen „Reifens“ der Viskoslösung erkannten. Stearn stellte aus der nach dem Cellulose-Xanthogenat-Verfahren gelöste Viskose durch Ausfällen in Ammoniumchloridlösung Kunstseidenfäden her (STEARN, 1898). Erst M. Müller machte das Spinnverfahren durch ein Spinnbad aus Schwefelsäure und Natriumsulfat wirtschaftlich (MÜLLER, 1905). Cross, Bevan und Mitarbeiter gründeten 1903 das Viscose Spinning Syndicate zur Verwertung des Viskoseseidenverfahrens in den USA, Frankreich und Deutschland. Cross widmete sich weiterhin der Vervollkommnung des Viskose-Verfahrens einschließlich der Nutzung der Abwässer. Wallace Hume Carothers Cross und Bevan schrieben 1887 das 22 Buch Text Book of Papermaking und Cross 1895 das Buch Cellulose, an Outline of the Chemistry of the Structural Elements of Plants. Die ersten vollsynthetischen Fasern wurden von Wallace Hume Carothers (1896 1937) hergestellt. Am 28. Februar 1935 konnte er das Polyamid 6.6 (Nylon) aus Hexamethylendiamin und Adipinsäure herstellen, das sich aus der Schmelze unzersetzt zu Fäden ziehen ließ. Durch nachträgliches Strecken erhielten die Fäden eine ungewöhnliche Festigkeit. Die ersten Nylonstrümpfe gab es ab Mai 1940 (CAROTHERS, 1937; BENEKE 1999). In Deutschland konnte Paul Schlack (1897 - 1987) von der I. G.-Farben am 28. Januar 1938 durch Polymerisation von ε-Aminocaprolactam mit salzsaurer 6Aminocapronsäure als Katalysator das Polyamid Perlon herstellen (SCHLACK, 1938). Der Benediktinerpater Wolfgang Seidel (1492 - 1562) beschrieb die Herstellung eines schönen Horn aus Casein (lat.: caseus = Käse), einem wichtigen Bestandteil der Milch. Das Protein wurde mit Lauge behandelt, warm verformt und die gewünschte Gestalt durch Eintauchen in kaltes Wasser fixiert (ELIAS, 1992). Emery Edwin Childs, ein Amerikaner, erhielt 1885 ein Patent zur Herstellung Paul Schlack plastischer Massen. Geronnene Milch wurde von der Molke befreit, mit heißem Wasser bis zur Klebrigkeit und Entfernung der Fette geknetet und schließlich durch Zusatz von Farben und Porzellanpulver in Formen gepreßt. Wilhelm Krische una Adolf Spitteler setzten dieser Masse Formaldehyd zu und erhielten 1897 eine hornartige Masse. Dieses Kunsthorn nannten sie Galalith d. h. Milchstein (griech.: gala = Milch, lithos = Stein) (SPITTELER, KRISCHE, 1897). Beim Gerinnen von Milch für die Käseproduktion wird das Casein in Gegenwart von Calciumionen mit Lab koaguliert. Kuhmilch enthält ungefähr 3% Casein in kolloidaler, milchig opaleszierender Lösung. Lab (Labferment, Chymosin, Rennin) ist eine Bezeichnung für eine Carboxyl-Protease (Molmasse ca. 40 000) die als inaktives Proezym in der Schleimhaut des Labmagens von Saugkälbern entsteht (RÖMPP, 1983). 23 Diese Kunststoffe waren halbsynthetische Produkte, da man von natürlichen Produkten ausging. Den ersten vollsynthetischen Kunststoff stellte Leo Hendrick Baekeland (1863 - 1944) her. Baekeland wurde in Gent (Belgien) geboren, wo er 1886 Professor für Chemie wurde. Der erste Preis bei einem Universitätswettbewerb bescherte ihm 1887 eine Reise an französische, deutsche, englische und amerikanische Universitäten. Während der Reise 1889 in die USA, beschloß er, dort zu bleiben. Baekeland arbeitete zunächst in einer Fotofirma, gründete aber bald sein eigenes Unternehmen „Velox“. Er entwickelte ein Fotopapier für Schnellkopierverfahren; seine Ergebnisse verkaufte er 1899 an Eastman Kodak Co. In seinem Privatlabor beschäftigte er sich zunächst mit Problemen der angewandten Elektrochemie, ab 1905 mit den schon 1872 durch Adolf von Baeyer (1835 - 1917) beschriebenen Phenol-Formaldehyd-KondensationsproAdolf von Baeyer dukten (Baeyer, 1872). Dabei konnte Baekeland durch stufenweise Kondensation von Phenol und Formaldehyd in Gegenwart basischer Katalysatoren unter Hitze und Druck einen unlöslichen, unschmelzbaren Kunststoff, den Bakelit, herstellen. Dieser Bakelit war der erste vollsynthetische, hochmolekulare Duroplast oder Duromer (griech.: duros = hart), welches aus monomeren Bausteinen hergestellt wurde. Seine besonderen Eigenschaften, er eignete sich hervorragend als elektrischer Isolator, führten ihn der technischen Verwertung zu. Am 25. Mai 1910 wurde bei Berlin das erste Kunstharzunternehmen, die Bakelit GmbH, gegründet. Im Oktober folgte die General Bakelit Com. In den USA und 1911 die Bakelit Ltd. in England (BAEKELAND, 1907, 1908, 1909 a, b). Cellulosenitrat kann in der Hitze zu Körpern verformt werden, die ihre Gestalt beim Abkühlen beibehalten. Durch erneutes Erwärmen können sie in andere Formen gebracht werden. Dieses läßt sich beliebig oft wiederholen. Diese Stoffe nennt man im Unterschied zu den Duroplasten, Thermoplaste (griech.: thermos = warm, plasein = bilden, formen). Literatur BAEKELAND L H (1907) US-Patent 942 699 (1907/1909) BAEKELAND L H (1908) D R P 233 803 81908/1911) 24 BAEKELAND L H (1909a) J Ind Eng Chem 1: 149 BAEKELAND L H (1909b) Chemiker Z 33: 317, 326, 347, 358 BAEYER A (1872) Ber Dtsch Chem Ges 5: 25, 280, 1094 BENEKE K (1998) Anselme Payen (1795 - 1871). In: Biographien und wissenschaftliche Lebensläufe von Kolloidwissenschaftlern, deren Lebensdaten mit 1995 in Verbindung stehen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, VII. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1998: 18-20 BENEKE K (1999) Wallace Hume Carothers (1896 - 1937) In: Biographien und wissenschaftliche Lebensläufe von Kolloidwissenschaftlern, deren Lebensdaten mit 1996 in Verbindung stehen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, VIII. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1999: 245-254 CAROTHERS W H (1937) (Du Pont) US Patent 2 130 948 (1937/1938) CROSS C F, BEVAN E J, BEADLE C (1892) (Viscose Syndicate) British Patent 8 700 (1892/1893) CROSS C F, BEVAN E J, BEADLE C (1893) J Soc Chem Ind 12: 516 DURANT W (1969) Kulturgeschichte der Menschheit II. Das Vermächtnis des Ostens II. Editions Rencontre, Lausanne: 267-268 ELIAS H G (1985) Große Moleküle, Plaudereien über synthetische und natürliche Polymere. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg: 5-11, 29-36 ELIAS H G (1992) Makromoleküle, Band 2. Technologie. 5. völlig neubearbeitete Auflage. Hüthig und Wepf Verlag, Heidelberg: 308-309, 502 MÜLLER M (1905) D R P 187 947 (1905/1907) RÖMPPS CHEMIE LEXIKON (1983) 8. Auflage SCHLACK P (1938) (IG Farben) D R P 748 253 (1938/1940) SPITTELER A, KRISCHE W (1897) D R P 127 942 STEARN C H (1898) D R P 108 511 (1898/1899) SWAN J W (1883) British Patent 5 978 (1883/1884); D R P 30 291 (1884/1885) 25 Die Entdeckung der Polymerisation Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 22-26 Die Ägypter balsamierten schon vor über 3000 Jahren ihre Toten ein. Dazu wurden über 20 verschiedene Produkte wie Palmwein, Natron, Strohhäcksel oder Sägespäne, Flechten, Nilschlamm, Wacholderöl, Salben, Myrrhe, Zimt, Kassia, Bienenwachs, Gummi, Henna, Zwiebeln, Asphalt, Holzteer, Leinen und Harze verwendet (VOLKE, 1993). Bei der Untersuchung der Mumie von Ramses II. (1300 - 1233 v. Chr.) fand man eine Art Bauchschild. In diesem befanden sich Harze, eine Füllung aus Zypressen- und Tannenspänen, Pfefferkörner, mit Kamillenöl präparierte Zweige und zwei Arten Lotus, Solanaceen (Nicotiana), Korbblütler und Amaryllidaceen wie die Tazette (Narcissus tazetta) (FAURE, Mumie Ramses II. 1995). Auch benutzten sie zum Einbalsamieren ein aromatisches Harz, Storax (Styrax), den sie aus dem Holz des Baumes Liquidambar orientalis gewannen. Dieses Storax wurde in verschiedenen Formen gehandelt, u. a. auch als "flüssiger Storax", eine dunkelgraue Masse von zäher Konsistenz. Noch heute wird Storax zur Aromatisierung von Parfümen, zur Gewinnung von Zimtalkohol und in der Medizin als antiseptisches Expektorans verwendet. Um eine Verwechslung zu vermeiden, wird darauf hingewiesen, daß es sich nicht um das Baumharz der Styraxbäume (Styracaceae) handelt, dessen Baumharz als Benzoeharz bezeichnet wird (RÖMPP, 1983; ELIAS, 1985). Plinius d. Ä. (23/24-79) schrieb in seiner Naturalis historia (Naturkunde) über Storax (PLINIUS SECUNDUS, 1975): 26 „Syrien erzeugt dort, wo es oberhalb von Phönikien Judäa am nächsten liegt, in der Gegend von Gabala, Marathos und des Berges Kasion [Dschebel Akra] bei Seleukeia den Storax. Der Baum hat den gleichen Namen [wie das Harz] und ist der Quitte ähnlich; seine Harzträger haben zuerst einen herben, dann einen angenehmen Geschmack; im Innern hat er Ähnlichkeit mit einem Rohr und ist voll Saft. Zu ihm fliegen um den Aufgang des Hundssterns kleine geflügelte Würmer und nagen ihn an, weshalb er mit Holzmehl verunreinigt ist. Außer dem an den oben genannten Orten vorkommenden Storax lobt man noch den von Pisidien, Sidon, Zypern, Kiliklen und Kreta. Der von Amanos in Syrien wird am wenigsten von den Ärzten verwendet, aber mehr von den Salbenhändlern. Gleich, wo er herstammt, man bevorzugt den, welcher eine rötliche Farbe hat und fettig zäh ist; schlechter ist der bräunliche und mit einer grauen Schicht überzogene. Man verfälscht ihn mit dem Zedernharz oder Gummi, auch mit Honig und bitteren Mandeln; alle diese Zusätze bringt man durch den Geschmack heraus. Der Preis für den besten beträgt 17 Denare. Auch in Pamphylien kommt er vor, ist aber trockener und weniger saftreich". C. Neumann unterwarf dieses flüssige Storax einer Wasserdampfdestillation (um 1786) und erhielt ein etherisches Öl (NEUMANN, 1786). J. F. Bonastre bestätigte dies 1827 (BONASTRE 1827, 1830). Eduard Simon gab diesem Öl den Namen Styrol und beobachtete 1839, daß es sich beim Erhitzen in eine feste, gelatinöse Masse verwandelte. Diese Erscheinung war außergewöhnlich, da Flüssigkeiten beim Erhitzen normalerweise in Dampf und nicht in feste Stoffe übergehen. E. Simon vermutete eine chemische Reaktion; da er aber keine andere Substanz zugegeben hatte, kam für ihn nur der Sauerstoff der umgebenden Luft in Frage, und so postulierte er einen Oxidationsprozeß. Das Produkt nannte er Styroloxid (SIMON, 1839). John Blyth und August Wilhelm August Wilheln Hofmann Hofmann (1818 - 1892) fanden 1845, daß es sich bei der Reaktion nicht um eine Oxidation handelte und nannten das angebliche Styroloxid Metastyrol (grch.: meta = hinter), es trat ja nach dem Styrol auf. Sie fanden auch für Styrol und Metastyrol die gleiche Zusammensetzung, nach heutiger Schreibweise acht Kohlenstoff- und acht Wasserstoff-Atome (BLYTH AND HOFMANN, 1845). Dieser Befund war nicht ungewöhnlich, denn schon Jöns Jakob Berzelius (1779 - 1848) hatte an Weinsäuren beobachtet, daß chemische Substanzen trotz 27 gleicher chemischer Zusammensetzung verschiedene physikalische Eigenschaften haben können. Diese Stoffe nannte er zunächst Polymere (grch.: poly = viele, meros = Teilchen). Ein Jahr danach, 1830 präzisierte J. Berzelius den Begriff. Stoffe mit verschiedenen Eigenschaften, aber gleicher Zusammensetzung, nannte er nun Isomere (griech.: isos = gleich). Nur Isomere, die bei gleicher Zusammensetzung verschiedene Molekülgrößen besaßen, sollten Polymere genannt werden. Als Beispiele polymerer Substanzen nannte J. Berzelius Ethylen (C2H4) und Butylen (C4H8 = 2·C2H4") (BERZELIUS, 1830, 1832, 1833). Marcelin Berthelot (1827 - 1907) nannte den Übergang von Styrol zum Metastyrol 1866 Polymerisation. Dabei blieb offen, wie man sich die chemische Struktur des Metastyrols, das 1929 Polystyrol genannt wurde, vorzustellen hatte (STAUDINGER, BRUNNER, FREY, 1929). M. Jöns Jakob Berzelius Berthelot entdeckte auch die Rückverwandlung des festen Produktes (Polystyrol) in das ursprüngliche, flüssige Produkt (Styrol) bei höherer Temperatur und nannte diese Reaktion Depolymerisation. Er fand auch, daß die Polymerisation des Styrols durch Katalysatoren beschleunigt werden kann (BERTHELOT, 1866a,b, 1867, ELIAS, 1985). Unter Polymerisation verstand man damals, daß sich Moleküle ohne Änderung der relativen Zusammensetzung ineinander umwandeln. Heute versteht man darunter eine sich wiederholende Addition von Monomeren an eine wachsende Kette, d. h. eine Reaktion mit Zunahme der Anzahl Atome pro Molekül. Styrol war aber nicht die einzige Substanz, welche derartige Polymerisationen einPierre Eugene Marcellin Berthelot ging. Charles Adolphe Wurtz (1817 - 1884) stellte 1859 durch Umsetzung von Ethylenchlorhydrin mit Kaliumhydroxid das bei Zimmertemperatur gasförmige, Ethylenoxid her. Aus diesem erhielt er eine Reihe flüssiger Substanzen, welche ebenfalls mehr oder weniger gleich zusammengesetzt waren (Polyethylenoxide) (WURTZ, 1859, 1860). 28 A.-V. Lourenco ließ 1859 Ethylenoxid mit Ethylhalogeniden reagieren und isolierte aus der Reaktionsmasse Substanzen mit Polymerisationsgraden bis zu n = 6. Dabei stellte er fest, daß sich die Bruttozusammensetzung derartiger Verbindungen mit steigendem n immer mehr derjenigen des reinen Ethylenoxids näherte, obwohl Ethylenoxid gasförmig, die Oligoethylenoxide aber flüssig waren. Er beobachtete auch, daß mit zunehmendem Polymerisationsgrad n die Viskosität anstieg. Für diese Produkte stellte A.-V. Lourenco eine Kettenformel in der heutigen Valenzstrichschreibweise auf (LOURENCO, 1859, Adolphe Wurtz 1860, 1863): n H2C CH2 (CH2 CH2 O) n (n = 1-6) O O Ethylenoxid → Polyethylenoxid Diese Kettenformeln wurden für eine Reihe von Verbindungen postuliert, so auch für die Polymeren der Acetylsalicylsäure (KRAUT, 1869), der p-Hydroxybenzoesäure (KIEPL, 1883) und der Hydroxypivalinsäure. Diese Verbindungen werden heute als Polyester bezeichnet, in den genannten Arbeiten wurde die Kettenstruktur aber nicht bewiesen (ELIAS, 1985). F. E. Matthews erhielt 1911 das erste Patent für die Verwendung von Metastyrol zur Herstellung von Lack und Gebrauchsgegenständen (MATTHEWS, 1911/1912). In der Fußnote der Arbeit Über hochpolymere Verbindungen von Hermann Staudinger (1881 - 1965) heißt es „Wir nennen das Produkt, statt wie früher Metastyrol, Hermann Staudinger Polystyrol, um eine einheitliche Nomenklatur durchzufahren, da es sich um ein hochpolymeres Produkt handelt" (STAUDINGER, BRUNNER, FREY, 1929). 29 Franz Mark Bei der I. G. Farben in Ludwigshafen entwickelten Hermann Franz Mark (1895 - 1992) und K. Wulff ein einfaches und damit billiges Herstellungsverfahren für Styrol, indem sie Ethylbenzol an Metalloxiden dehydrierten (MARK, WULFF, 1929/1932, BENEKE, 1998) K. Wulff und E. Dorrer arbeiteten ebenfalls in Ludwighafen ein kontinuierliches Polymerisationsverfahren aus (WULFF, DORRER, 1930/1936). F. Posner übertrug fast gleichzeitig das Spritzgussverfahren für Metalle auf die Polystyrol-Verarbeitung (POSNER, 1929/1931). Damit wurden fast gleichzeitig drei Voraussetzungen für die technische Erzeugung dieses Chemiewerkstoffes geschaffen: billige Erzeugung des Monomeren, kontinuierliches Polymerisationsverfahren und wirtschaftliche Herstellung von Formteilen. Literatur BENEKE K (1998) Hermann Franz Mark (1895 - 1992). In: Biographien und wissenschaftliche Lebensläufe von Kolloidwissenschaftleern, deren Lebensdaten mit 1995 in Verbindung stehen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, VII. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1998. Verlag Reinhard Knof ,Nehmten: 127-132 BERTHELOT M (1866a) Compt Rend 63: 788 BERTHELOT M (1866b) Bull Soc Chim France 6: 294 BERTHOLET M (1867) Bull Soc Chim France 7: 274 BERZELIUS J J (1830) Ann Physik 19: 305, 326 BERZELIUS J J (1832) Körper von gleicher Zusammensetzung und verschiedenen Eigenschaften. Berzelius Jahresberichte 11: 44 BERZELIUS J J (1833) Isomerie. Unterscheidung von damit analogen Verhältnissen. Berzelius Jahresberichte 12: 63 BLYTH J, HOFMANN A W (1845) Ann Chem 53: 289 BONASTRE J F (1827) J de Pharm 13: 149 BONASTRE J F (1830) J de Pharm 16: 88 ELIAS H-G (1985) Große Moleküle. Plaudereien über synthetische und natürliche Polymere. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg (1985): 2-12, 29-36 FAURE P (1995) Magie der Düfte. Eine Kulturgeschichte der Wohlgerüche. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co, KG, München (1995): 36 30 KIEPL A (1883) J Prakt Chem 28: 193 KRAUT A (1869) Ann Chem Pharm 150: 1 LOURENCO A-V (1859) Compt Rend 49: 619 LOURENCO A-V (1860) Compt Rend 51: 365 LOURENCO A-V (1863) Ann Chim Phys 67: 273 MARK H, WULFF K (1929/1932) D R P 550 055 (I. G. Farben) MATTHEWS F E (1911/1912) British Patent 16 278 NEUMANN C (1786) A dictionary of practical and theoretical Chemistry. London PLINIUS SECUNDUS D. Ä. (1975) Naturalis Historia/Naturkunde. R. König, G. Winkler (Hrsg). Artemis Verlag München und Zürich POSNER F (1929/1931) D R P 540 552 (Legrit GmbH) RÖMPPS CHEMIE LEXIKON (1983) 8. Auflage SIMON E (1839) Ann Chem 31: 265 STAUDINGER H, BRUNNER M, FREY K (1929) Ber Dtsch Chem Ges 62: 241 VOLKE K (1993) Die Chemie der Mumifizierung im alten Ägypten. Chemie in unserer Zeit 27: 42-47 WULFF K, DORRER E (1930/1936) D R P 634 278 (I. G. Farben) WURTZ A (1859) Compt Rend 49: 813 WURTZ A (1860) Compt Rend 50: 1195 31 Von den Polymeren zu den Makromolekiilen Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 26-38 Thomas Graham (1805 - 1869) benutzte 1861 für Stoffe in Lösungen, die nicht durch Membranen permeierten (lat.: permeare = durchgehen, durchwandern) wie Leim, Albumin, Stärke, Dextrin, erstmals das Wort Kolloide im Unterschied zu den Kristalloiden, die echte Lösungen bildeten. Das Wort Kolloid stammt vom griechischen kolla, was Leim bedeutet (GRAHAM, 1861, 1862; BENEKE, 1994). Später stellte man fest, daß auch kristallisierende Stoffe unter bestimmten Bedingungen kolloidale Lösungen bilden (OSTWALD WO., 1907; VON WEIMARN, 1907). H. Hlasiwetz und J. Habermann postulierten 1871 hohe Molmassen für Proteine und Polysaccharide und schlossen daraus, daß es sich um Polymere handelte. Die Methoden, um Thomas Graham dieses nachzuweisen, fehlten ihnen (HLASIWETZ UND HABERMANN, 1871). Die Verfahren zur Molmassenbestimmung waren chemische Nachweise, welche aber versagten, denn, wie beim flüssigen Styrol und beim festen Metastyrol gezeigt, fand man, daß Stoffe ganz unterschiedlichen Verhaltens gleich zusammengesetzt waren (BLYTH AND HOFMANN, 1845). Francois-Marie Raoult (1830 - 1901) erkannte um 1882 Gesetzmäßigkeiten zwischen Erstarrungspunkten bzw. Dampfdrücken von Lösungen und ihren Konzentrationen. Das 1. Raoultsche Gesetz sagt aus, daß die molare Gefrierpunktserniedrigung und die molare Siedepunktserhöhung für alle nicht dissoziierenden gelösten Stoffe einen konstanten, d. h. von der Natur des gelösten Stoffes unabhängigen Wert besitzen. Das 2. Raoultsche Gesetz erklärt, daß der Molenbruch des gelösten Stoffes der relativen Dampfdruckerniedrigung gleich ist (RAOULT, 1882, 1884, 1885, 1886a,b) . 32 Auf die grundlegenden Arbeiten von Moritz Traube (1826 - 1894) (TRAUBE, 1866), Friedrich Wilhelm Philipp Pfeffer (1845 - 1920) (PFEFFER, 1877; BENEKE, 1998a) und Hugo de Vries (1848 - 1935) (DE VRIES, 1884), baute Jacobus Henricus van't Hoff (1852 - 1911) seine fundamentalen Arbeiten Die Gesetze des chemischen Gleichgewichts für den verdünnten, gasförmigen und gelösten Zustand auf (VAN´T HOFF, 1886, 1887, 1888). Im 1. Kapitel Die Gesetze des chemischen Gleichgewichts, beweist J. H. van't Hoff die Proportionalität zwischen Konzentration und osmotischem Druck in verdünnten Lösungen (Gesetz von Boyle). Weiterhin findet er auch eine Proportionalität zwischen osmotischem Druck und absoluter Temperatur (Gesetz von Gay-Lussac). Daraus folgert er, daß die Zustandsgleichung idealer Gase auch für verdünnte Lösungen von Nichtelektrolyten gilt: p . V = n . R . T. Die Moleküle des gelösten Stoffes verhalten sich demnach so, als ob sie im Lösungsmittelvolumen als ideales Gas vorlägen. Im 2. Kapitel dieser Abhandlung, Eine allgemeine Eigenschaft der Materie, belegt J. H. van't Hoff die Gültigkeit Jacobus Henricus van't Hoff des Gesetzes von Avogadro auch für Lösungen. Die allgemeine Gaskonstante in Lösungen hat denselben numerischen Wert wie in Gasen. Damit ist es möglich, den osmotischen Druck eines gelösten Stoffes vorauszuberechnen. Im 3. Kapitel, Elektrische Bedingungen des chemischen Gleichgewichts, wird die Beziehung zwischen der elektromotorischen Kraft E einer reversiblen galvanischen Kette und der chemischen Gleichgewichtskonstante -E = RT lnK beschrieben. J. H. van't Hoff erhielt 1901 für diese Theorie der verdünnten Lösungen (osmotische Lösungstheorie) den ersten Nobelpreis für Chemie. Durch diese Gesetze von Raoult und van't Hoff für die Beziehungen zwischen Dampfdruck und Molenbruch bzw. osmotischem Druck, Konzentration, Temperatur und Molmasse, erhielt man für Kautschuk, Stärke und Cellulosenitrat sehr hohe Molmassen zwischen 10 000 und 40 000 g/mol (GLADSTONE AND HIBBERT, 1888, 1889a,b; BROWN AND MORRIS, 1888, 1889). Diese großen Werte wurden von vielen angezweifelt, fanden doch einige Forscher für die "gleichen" Stoffe unterschiedliche Molmassen. Durch das Raoultsche Gesetz wurde eine Proportionalität zwischen Dampfdruck und Konzentration, durch das van't Hoffsche Gesetz eine solche zwischen osmotischem Druck und Konzentration gefordert. Diese Postulate wurden von den 33 kovalent aufgebauten Kristalloiden mit der damaligen Meßgenauigkeit erfüllt, nicht aber von den Kolloiden. Heute weiß man, daß beide Beziehungen nur Grenzgesetze für unendlich kleine Konzentrationen sind. So ist die Konzentrationsabhängigkeit scheinbarer, d. h. über die Grenzgesetze berechneter Molmassen bei niedermolekularen Substanzen die Regel und nicht die Ausnahme. A. Nastukoff erkannte 1900 den durch Wechselwirkungen zwischen Gelöstem und Lösungsmittel bedingten Effekt bei ebullioskopischen Messungen und schlug eine Extrapolation auf die Konzentration des Gelösten vor (NASTUKOFF, 1900). W. A. Caspari erhielt 1914 durch eine ähnliche Extrapolation an Naturkautschuk eine Molmasse von 100 000 (CASPARI, 1914). Einige frühe Bestimmungen von Molmassen natürlicher Polymere (ELIAS, 1985) Substanz Molmasse Methode Jahr Autoren Naturkautschuk 6 000-12 000 1888 Naturkautschuk 100 000 1914 Gladstone und Hibbert Caspari Hämoglobin 16 700*) 1886 Zinoffsky Hämoglobin 68 000 1925 Svedberg Hämoglobin 66 700 1925 Adair Eialbumin 14 000 1891 Eialbumin Eialbumin Eialbumin 17 000 73 000 34 000 1908 1910 1919 Sabanjoff und Alexander Herzog Herzog Sörensen Eialbumin 43 000 1925 Sörensen Eialbumin 45 000 Osmotischer Druck Osmotischer Druck Chemische Analyse Ultrazentrifugation Osmotischer Druck Gefrierpunktserniedrigung Diffusion Diffusion Osmotischer Druck Osmotischer Druck Ultrazentrifugation 1925 Svedberg und Nichols *)Hämoglobin besteht aus vier, etwa gleich großen Untereinheiten; die Analyse bezieht sich auf eine Untereinheit. 34 Gefunden von Zinoffsky: für die Untereinheit „C712 H1130 0245 N214 S2 Fe“ (M = 16 728) d. h. für Hämoglobin C2848 H4520 O980 N856 S8 Fe4" (M = 66 912) Heutiger Wert für menschlisches Hämoglobin „C3108 H4602 0890 N742 S12 Fe4 " (M = 67 209) Bereits 1826 hatte Michael Faraday (1791 - 1867) die Bruttoformel C5H8 für Naturkautschuk aufgestellt, die auf eine Doppelbindung pro Einheit hinwies (FARADAY, 1826a,b). Dies bot sich aus der Partialvalenzhypothese an, welche nach Johannes Thiele (1865 - 1918) bei Substanzen mit konjugierten Doppelbindungen gültig sei (THIELE, 1899, 1900). Durch Ozonisierung des Naturkautschuks und anschließende Hydrolyse des Ozonids bestätigte Carl Harries (1866 - 1923) dies und nahm daher 1905 einen Dimethylcyclooctadien-8-Ring als Kautschukgrundstruktur an (HARRIES, 1904, 1905a,b). Da bekannt war, daß assoziierende Substanzen viel höhere Siedetemperaturen als nichtassoziierende Stoffe hatten und Kautschuk nicht destillierbar war, sprach dies Michael Faraday für eine über Partialvalenzen zusammengehaltene, niedermolekulare, ringförmige Verbindung. Samuel Pickles (1878 - 1962) schlug im Gegensatz zu anderen Forschern schon 1910 die noch heute gültige Kettenstruktur für Kautschuk vor. Als Konstitutionsbeweis führte er die erste, gezielte polymeranaloge Umsetzung aus, indem er Brom an die Doppelbindungen des Naturkautschuks addierte. Er erhielt ein Kautschukbromid mit ebenfalls kolloidalen Eigenschaften. Da sich dabei die Molekülgröße nicht änderte, faßte er den Naturkautschuk als echtes chemisches Molekül und nicht als physikalisches Assoziat auf. Diese Arbeit fand aber keine große Beachtung (PICKLES, 1910). Außer für Naturkautschuk wurden für viele organische kolloide Verbindungen Ringformeln aufgestellt, so auch für Cellulose. Durch die Annahme cyclischer Verbindungen ließ sich erklären, daß man keine Endgruppen fand. 35 Hermann Staudinger (1881 - 1965) hatte bei den von ihm untersuchten Ketenen Dimere aus zwei Molekülen erhalten. Diesen schrieb er eine cyclische Grundstruktur von Cyclobutan-Derivaten aus vier Kohlenstoff-Atomen zu und sprach sich gegen Molekülkomplexe aus (STAUDINGER, 1912). Georg Schroeter (1869 - 1943) sah diese Dimere jedoch als Molekülkomplexe an (SCHROETER, 1916). H. Staudinger stellte die Argumente für kovalente Bindungen zusammen und postulierte 1920 die Existenz von Molekülketten als Riesen- bzw. Makromoleküle. Eine solche Kette mußte an ihren Enden verschiedene Atomgruppen aufweisen. Diese Endgruppen fand man aber nicht. H. Staudinger begründete dies dadurch, daß die Reaktionsfähigkeit der Endgruppen mit steigender Molekülgröße abnehme und bei langen Ketten praktisch gleich Null sei (STAUDINGER, 1920). Er nahm an, daß die Reaktionsfähigkeit einer COOH-Gruppe am Ende einer Polymethylenkette mit 1000 CH3-Gruppen tausend mal kleiner als bei der Essigsäure ist. Heute weiß man, daß der Massenanteil der Endgruppen wegen der hohen Molmasse viel zu gering ist, um mit den damaligen Analysenmethoden erkannt zu werden. Abb.: a) veraltete Ringformel für Naturkautschuk b) moderne Schreibweise für Naturkautschuk CH3 CH2 CH==C CH2 CH2 CH==C CH2 CH3 ~ CH2 C ==CH CH2∼ CH3 a) b) Erst Paul J. Flory (1910 - 1985) räumte 1937 mit dem geistigen Hindernis zur Synthese von Makromolekülen auf. Er erkannte, daß die Reaktionsfähigkeit pro Gruppe mit steigender Molekülgröße nicht abnimmt. Man könnte sonst keine Makromoleküle herstellen, denn die Reaktionsfähigkeit wäre bei unendlicher Molekülgröße zu gering (FLORY, 1953, 1969). In weiteren Arbeiten versuchte H. Staudinger, seine Vorstellung von den organischen Kolloiden als echten Makromolekülen experimentell nachzuweisen. Zu diesem Zweck versuchte er 1922 die Hypothese der sogenannten ersten Mizellartheorie 36 zu widerlegen, daß bei den organischen Kolloiden kleinere Ringe durch Partialvalenzen zusammengehalten wurden. Dazu wurde Naturkautschuk hydriert, und der resultierende Hydrokautschuk sollte der Mizellartheorie zufolge keine kolloidalen Eigenschaften aufweisen, da er keine Doppelbindung mehr besitzt. Die kolloidalen Eigenschaften blieben aber genauso wie bei den Bromierungsversuchen von S. Pickles erhalten (PICKLES, 1910; STAUDINGER, 1922). Bei der Hydrierung von Polystyrol zu Polyvinylcyclohexan blieb der kolloidale Charakter erhalten. Daraus schloß H. Staudinger, daß diese organischen Kolloide aus vielen, über kovalente Bindungen verknüpften Atomen bestehen, also echte „Makromoleküle" sind (STAUDINGER, 1924). Da bei kovalenten Bindungen die Bindungsstärke viel größer ist als bei van der Waalsschen Bindungen, sollten derartige Molekülkolloide im Gegensatz zu den Assoziationskolloiden ihren kolloidalen Charakter in allen Lösungsmitteln beibehalten (STAUDINGER, 1926, STAUDINGER, FREY, STARCK, 1927). Diese Beweise wurden zum großen Teil nicht akzeptiert. Über kryoskopische Bestimmungen der Molmasse von Naturkautschuk in Campher erhielt man Werte von 1 400 bis 2 000 (PUMMERER, NIELSEN, GÜNDEL, 1927), während H. Staudinger am hydrierten Kautschuk 3 000 bis 5 000 gefunden hatte. Es sprach Einiges gegen die Vorstellung von Molekülkolloiden, u. a. auch röntgenographische Untersuchungen. Die Röntgendiagramme eines großen Teils dieser organischen Kolloide ähnelten mehr denen von Flüssigkeiten als denen niedermolekularer Kristalloide. Bei denjenigen mit mehr kristallitähnlichem Röntgendiagramen wurde nur eine kleine kristallographische Einheitszelle gefunden. Aus Messungen an homologen Reihen niedermolekularer Substanzen war bekannt, daß die Größe der Einheitszelle der Molmasse direkt proportional war. Man konnte sich nicht vorstellen, daß eine kleine Elementarzelle trotz hoher Molmassen gefunden werden konnte. Paul Flory Kurt H. Meyer (1883 - 1952) und Hermann Franz Mark (1895 - 1992) sprachen sich dagegen auf Grund röntgenographischer Untersuchungen gegen die Existenz von Ringen und für die Annahme von Kettenstrukturen aus. Das Hauptlabor der IG Farben in Ludwigshafen hatte ein gut ausgestattetes Röntgenlabor. In einer ersten Arbeit beschäftigten sie sich mit der Struktur der Cellulose (MEYER UND MARK, 1928a). Über die Röntgendaten gelangten sie zu einem Bild der Faser als langem Makromolekül, das aus entlang der Faserachse orientierten 1,4-o-glykosidisch verknüpften 37 Basiseinheiten bestand. Die damit gewonnene Auffassung vom Bau der Cellulose vertrug sich gut mit den physikochemischen Eigenschaften. Frühere vorgeschlagene Modelle von aggregierten kleineren Struktureinheiten konnten dies nicht leisten. Weitere Arbeiten über die Strukturen des Seidenfibroins (MEYER UND MARK, 1928b) und des Chitins (MEYER UND MARK, 1928c; REINEMER UND HUBER, 1995) folgten. Bei Kautschuk fanden K. H. Meyer und H. Mark eine Kristallitlänge von 30 - 60 nm. Die Annahme, daß Moleküle nicht länger als ein Kristallit sein könnten, ergab nur Molmassen von 5 000 bis 10 000 (MEYER UND MARK, 1928d). Durch osmotische Messungen hatte man Molmassen des Naturkautschuks von 150 000 bis 300 000 gefunden. Diese wurden als Molmassen der solvatisierten Ketten gedeutet, später als Molmassen von Mizellen. Im Gegensatz zur ersten nahm die sogenannte zweite Mizellartheorie Ketten statt Ringe und bereits höhere Molmassen an. Der eigentliche kolloidale Charakter der Lösungen sollte immer noch durch Assoziation solcher Ketten zu größeren Verbänden hervorgerufen werden (ELIAS, 1985, BENEKE, 1998b). H. Staudinger betonte dagegen, daß Kristallitlänge nichts mit Moleküllänge zu tun habe. Da eine Kristallstruktur sehr von der Konstitution der Verbindungen abhängt, versuchte er seine Anschauung durch „polymeranaloge“ Umsetzungen gesättigter Verbindungen zu beweisen. So ließ sich unverzweigtes Polyvinylacetat durch Verseifung zu Polyvinylalkohol und dieser durch Veresterung in Polyvinylacetat überführen (STAUDINGER, FREY, STARCK, 1927). Für diese Polymeranaloga wurden in verschiedenen Lösungsmitteln gleiche Polymerisationsgrade erhalten. Daher war es sehr unwahrscheinlich, daß durch die unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen Polymer und Lösungsmittel Assoziationskolloide vorlagen (STAUDINGER UND HUSEMANN, 1937). Dieser heftig geführte Streit zwischen H. Staudinger auf der einen Seite, und H. Mark und K. H. Meyer auf der anderen Seite, der mit Briefwechseln und vor allem in Fachzeitschriften belegt ist und sehr polemisch diskutiert wurde, fand zwischen 1927 bis etwa 1936 statt (Priesner, 1980). Auf den Streit zwischen H. Staudinger und Wolfgang Ostwald (1883 - 1943) und H. Staudinger und Raphael Eduard Liesegang (1869 - 1947) wird hier nicht näher eingegangen. Bei der Polymerisation des Styrols vermutete man eine stufenweise Anlagerung an einen aktiven Keim undefinierter chemischer Natur (STAUDINGER UND URECH, 1928), den man später als Radikal identifizierte (CHALMERS, 1934; STAUDINGER UND FROST, 1935); doch blieb der Startschritt offen. Es wurde die Anlagerung von Radikalen an das Monomere diskutiert, ebenso ein Ablauf über aktive Komplexe zwischen z. B. Styrol und Dibenzoylperoxid (MELVILLE, 1937; SCHULZ UND HUSEMANN, 1937). Durch Markierung der Initiatoren konnte dieses Problem gelöst werden, indem nachgewiesen wurde, daß das markierte Initiatorfragment als Endgruppe in das 38 Polymer eingebaut wird (PRICE, KELL, KRED, 1941, 1942; KERN UND KÄMMERER, 1942; BARTLETT UND COHEN, 1943). H. Staudinger arbeitete hauptsächlich mit synthetisch hergestellten Makromolekülen welche er als Modelle für biogene vorkommende Makromoleküle verstanden wissen wollte. Deshalb verfolgte er auch die neuesten Entwicklungen bei kolloidalen biologischen Substanzen. Umgekehrt kümmerten sich die Biochemiker nicht um die Streitereien bei den synthetischen organischen Kolloiden. Warum dies so war, kann man nicht sagen. Gegen die Mizellartheorie sprachen auch biochemische Ergebnisse. So konnte James Batcheller Sumner (1887 - 1955) nach fast neunjähriger Arbeit aus dem Samen der südamerikanischen Pflanze Canavalia ansiformis (Jackbohne) im Jahre 1926 das Enzym Urease, und John Howard Northrop (1891 - 1975) 1930 Pepsin kristallisieren. Beide erhielten 1946 den Nobelpreis für Chemie. Diese Enzyme bilden kolloidale wäßrige Lösungen. Damit wurde die Hypothese widerlegt, daß Kolloide nur unter Verlust ihrer kolloidalen Eigenschaften kristallisiert werden könnten (SUMNER, 1926; NORTHROP, 1930). The(odor) Svedberg (1884 - 1971), Nobelpreisträger für Chemie 1926, konnte in den Jahren James Batcheller Sumner 1927 bis 1940 mit Hilfe der von ihm erfundenen Ultrazentrifuge (sie erreichte 40 000 Umdrehungen in der Minute, heutige Ultrazentrifugen erreichen bis 80 000 U/min) zeigen, daß sich kolloidale Lösungen von Proteinen bei verschiedenen Temperaturen und in unterschiedlichen Salzlösungen in Bezug auf die Molmasse als monodisperse, einheitliche Verbindungen erwiesen (SVEDBERG UND RINDE, 1924: SVEDBERG UND PEDERSEN, 1940; BENEKE, 1997). In diesen Ultrazentrifugen werden Teilchen Gravitationsfeldern bis zum 500 000fachen Betrag des Erdfeldes ausgesetzt. Im Vergleich dazu werden Astronauten beim Start ca. dem Neunfachen der Gravitation ausgesetzt. The Svedberg entwickelte nicht nur die Ultrazentrifuge, sondern auch die dazuThe(odor) Svedberg gehörende Theorie. Damit war es möglich, aus den Sedimentationsgeschwindigkeiten die Molmassen von Enzymen zu bestimmen. Da 39 man bei verschiedenen Lösungsbedingungen (Salztyp, Salzkonzentration, Temperatur) die gleiche Molmasse des Enzyms erhielt, bedeutete dies, daß die hohen Molmassen nicht durch Nebenvalenzen zwischen kleinen Molekülen zustande kommen konnten, sondern es sich um Makromoleküle handelte. Arne Wilhelm Kaurin Tiselius (1902 1971), ein Schüler Svedbergs, der Nobelpreisträger der Chemie 1948, fand 1938 bei Enzymen mit der von ihm entwickelten Methode der Elektrophorese immer die gleiche Ladung pro Masse, was dem Verhalten der anorganischen Assoziationskolloide widersprach. Dies untermauerte die Vorstellung, daß Enzyme Makromoleküle seien (TISELIUS, 1938; BENEKE, 1997b, 1999b). H. Staudinger hatte keine teure Ultrazentrifuge zur Verfügung, sondern machte seine Untersuchungen mit Hilfe der preiswerteren Viskosimetrie. Diese damals einfache experimentelle Methode hatte aber eine weit kompliziertere Theorie, sicher komplizierter als dies H. Staudinger annahm. Arne Wilhelm Kaurin Tiselius A.-V. Lourenco hatte beobachtet, daß bei Polyethylenoxiden die Viskosität mit der Molekülgröße zunahm (LOURENCO, 1859, 1860, 1861). Aus der Viskosität makromolekularer Schmelzen kann man tatsächlich auf deren Molmasse schließen. Diese Schmelzviskositäten waren aber so hoch, daß H. Staudinger sie mit den damaligen Mitteln nicht recht messen konnte. Dieses wollte er auch nicht, denn er hatte vor, die Molmasse einzelner Makromoleküle zu bestimmen und nicht noch zusätzlich alle Wechselwirkungen, welche Moleküle in einer Schmelze aufeinander ausüben können. Der Viskositätsbeitrag eines einzelnen Moleküls war nur in verdünnter Lösung zu erhalten, nicht in der Schmelze. Denn je verdünnter die Lösung, umso weniger Moleküle sind pro Raumeinheit vorhanden und umso weniger können sie wechselwirken. Die Viskosität einer Lösung setzt sich in erster Näherung aus zwei Anteilen zusammen, dem des Gelösten und dem des Lösungsmittels. Dabei muß man, um ersteren zu erhalten, den Anteil des letzteren von der Gesamtviskosität subtrahieren. Auch muß man noch relativieren, indem man durch die Viskosität des Lösungsmittels teilt, so daß sich die sogenannte spezifische Viskosität ergibt. Mit der Konzentration des Gelösten steigt die Viskosität an, teilt man durch diese, erhält man die reduzierte Viskosität. Deren Werte werden gegen c aufgetragen und auf c = 0 extrapoliert. 40 Da sich H. Staudinger die Makromoleküle als starre Ketten vorstellte, müssen sie von außen gesehen wie ein zylinderförmiges Stäbchen aussehen. Wurde eine neue Monomereinheit hinzugefügt, so sollte die reduzierte Viskosität um einen Betrag zunehmen, der der Molmasse MR der Monomereinheitproportional ist, und der Molmasse M des Makromoleküls direkt proportional sei. Auf diese Weise wurden im Arbeitskreis von H. Staudinger viele Substanzen auf diese einfache Art untersucht. Die erhaltenen Aussagen wurden aber sehr angezweifelt. Walter Haller (geb. 1905) wies 1931 nach, daß diese Annahme bei kettenförmigen Riesenmolekülen nicht stimmte, denn diese sind nicht starr, sondern können sich um ihre Kettenbindungen drehen (HALLER, 1931). Daraus folgerte Werner Kuhn (1899-1963), daß die Makromoleküle keine Stäbchen, sondern Knäuel bilden. Nimmt man einen Wasserschlauch, so ist ein kurzes Stück Schlauch steif und erscheint stäbchenförmig; lange Schläuche krümmen sich in alle Richtungen, sie verhalten sich wie ein zweidimensionales Knäuel (KUHN 1930; ELIAS, 1985). Auch hatte Lars Onsager (1903 - 1976) schon 1932 theoretisch nachgewiesen, daß langgestreckte Ellipsoide, als die man die Stäbchen auch auffassen konnte, Werner Kuhn bedeutend höhere reduzierte Viskositäten hatten als sie Staudinger experimentell fand. Heute weiß man, daß bei starren Stäbchen ohne Brownsche Molekularbewegung die reduzierte Viskosität nicht mit der Molmasse, sondern mit dem Quadrat der Molmasse zunimmt. Bei Knäueln ist die reduzierte Viskosität etwa der Wurzel aus der Molmasse proportional. Die Idee des kettenförmigen Aufbaus von Substanzen wie Naturkautschuk, Cellulose, Polystyrol und Polyvinylchlorid setzte sich Anfang der dreißiger Jahre allmählich durch. Die Vorstellung der Staudingerschen Schule von den Stäbchen wurde beim 60. Geburtstag von H. Staudinger 1941 noch belegt, als man dort tönte: "...die Kuhnschen Knäuel sind uns hier ein Greuel“. Die Existenz von Makromolekülen wurde nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr angezweifelt (ELIAS, 1985). Heute kennt man viele Makromoleküle. Eine neuere Gruppe sind die Dendrimere (grch.: dendron = Baum; Polymer: poly = viel, meros = Teil). Durch kontrolliertes Wachstum extrem große Verbindungen herzustellen, geht auf H. Staudinger in den dreißiger Jahren zurück, indem er identische Untereinheiten (Monomere) zu langen, spaghettiartig verknäulten Strängen verkettete. Die 41 Dendrimere sind nach Maß herstellbare, baumartig verzweigte Makromoleküle. Durch genau einstellbare Größe und Struktur lassen sie vielfältige Einsatzmöglichkeiten in Gentechnik, Pharmazie, chemischer Verfahrenstechnik und Umweltschutz erwarten (TOMALIA, 1995). Einige frühe industrielle Polymere (ELIAS, 1985) Polymer Jahr der Entdeckung Jahr der Einführung in die Industrie Typsche Anwendungsgebiete Thermoplaste aus abgewandelten Naturstoffen Cellulosenitrat (Celluloid) Celluloseacetat 1846 1869 Messergriffe, Brillengestelle Fotographische Filme, Verpackungsfolien 1865 1927 Polyvinylchlorid 1838 1914 Polyvinylidenchlorid Polystyrol 1838 1839 1939 1930 Polymethylmetha-crylat Polyethylen 1880 1932 1928 1939 Einkaufsbeutel, Fensterrahmen, Kunstleder Verpackungsfolien Behälter, Schaumstoffe, Spielzeug Lampen, Schilder Abfallsäcke, Flaschen 1897 1904 Bijouteriewaren 1901 1906 1926 1909 Schutzüberzüge Elektrische Isolatoren 1839 1850 Autoreifen Thermoplaste, vollsynthetisch Duroplaste aus abgewandelten Naturstoffen Casein/Formaldehyd (Galalith) Duroplaste, vollsynthetisch Alkylharze Phenol/Formalde-hyd (Bakelit) Kautschuk, natürlich Naturkautschuk, Vulkanisation 42 Kautschuke, vollsynthetisch Polyisopren Polybutadien 1879 1911 1955 1929 Autoreifen Autoreifen Die IUPAC (Internationale Union für Reine und Angewandte Chemie) definiert heute ein "Polymer als eine Substanz, die aus Molekülen aufgebaut ist, die sich durch vielfältige Wiederholung von konstitutiven Einheiten auszeichnen und die so groß sind, daß sich ihre Eigenschaften bei Zugabe oder Wegnahme einer oder weniger der konstitutiven Einheiten nicht wesentlich ändern" (ELIAS, 1990). Sir William Jackson Pope Als Nachfolgeorganisation der 1911 gegründeten Association Internationale des Sociétés Chimiques, deren erster Präsident Wilhelm Ostwald Wilhelm Ostwald war (1853 - 1932), machte Sir William Jackson Pope (1870 - 1939) nach dem 1. Weltkrieg im Jahre 1919 mit der Gründung der International Union for Pure and Applied Chemistry (IUPAC) einen Neuanfang. Die Satzung wurde 1920 in Rom angenommen. Die Aufgabe der IUPAC besteht darin, die Zusammenarbeit zwischen den nationalen chemischen Gesellschaften und den Akademien zu pflegen und die Entwicklung der Chemie auf allen Gebieten zu fördern. Über die wissenschaftlichen, administrativen und finanziellen Fragen entscheidet der Rat der IUPAC (Council), wobei es für Sachfragen sechs Sektionen gibt. Der Council hält alle zwei Jahre im Rahmen eines IUPAC- 43 Kongresses eine Hauptversammlung ab. Das Publikationsorgan der IUPAC ist das Journal Pure and Applied Chemistry. 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Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 2: 76-83 47 Weitere Beispiele der Kolloidwissenschaften bis zur Gründung der Kolloid-Gesellschaft 1922 Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 38-44 Auf die philosophische Vorstellung von Demokrit (460 - 371 v. Chr.) gründet Carl Wilhelm von Naegeli das Wort Atom (grch.: atomos = unteilbar), daß alle Materie aus kleinsten Teilchen aufgebaut sein müsse, ohne weiter geteilt werden zu können. Die Natur dieser Teilchen blieb dabei offen. Amedeo Avogadro (1776 - 1858) prägte 1811 das Wort Molekül (lat.: kleine Masse) für die kleinsten Einheiten der Gase. Der Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli (1817 - 1891) bezeichnete 1858 damit die unter dem Mikroskop sichtbaren Bausteine der Stärke, keine Moleküle im heutigen Sinn, sondern biologische Strukturelemente. Um 1860 begannen Chemiker, das Wort Molekül im heutigen Sinne als chemische Verbindung aus zwei oder mehr Atomen zu benutzen. C. W. von Nägeli taufte 1879 seine Moleküle in Micellen (lat.: micellus = kleiner Krümel) um. Heute versteht man unter Micelle eine mehr oder weniger geordnete physikalische Zusammenlagerung kleiner Moleküle ohne Ausbildung chemischer Bindungen (NÄGELI, 1928; ELIAS, 1985). 48 Hans Schulze (1853 - 1892), er starb an einer Arsenwasserstoffvergiftung in Santiago de Chile, erkannte 1883, daß die Flockung von kolloidalen Systemen durch Elektrolytzusatz von der Wertigkeit der Elektrolyte abhängt (SCHULZE, 1882, 1883). William Bate Hardy (1864 - 1934) führte 1900 den Begriff des isoelektrischen Punktes ein (Schulze-Hardy-Regel) (HARDY, 1900a,b; BENEKE, 1997a,b). Raphael Eduard Liesegang (1869 - 1947) beschrieb 1896 periodische Fällungserscheinungen in Gelen in Form von konzentrischen Ringen oder Streifen (LIESEGANG, 1896, 1898). Diese von Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) Liesegang-Ringe (OSTWALD WI, 1897) bezeichneten periodischen Erscheinungen hatte R. E. Liesegang beim Eindiffundieren einer Silbernitratlösung in ein mit Kaliumdichromat versetztes Gel beobachtet. Charakteristisch ist dabei die konzentrische Anordnung um ein homogenes Silberdichromatzentrum sowie die scharfe Trennung zwischen ihnen Die Liesegang-Ringe treten in der belebten und unbelebten Natur auf, so bei Strukturbildungen in biologischen Systemen Raphael Eduard Liesegang und geologischen Vorgängen. Bei Kristallisationsvorgängen in Gelen konnte R. E. Liesegang 1910 analoge Strukturen beobachten. Damit gehört er zu den Entdeckern einer Klasse von chemischen dissipativen Strukturen, welche man heute als ReaktionsKonvektions-Strukturen bezeichnet (LIESEGANG, 1910, 1911, 1913, 1915; BENEKE,1997, 2000, 2001). Georg Bredig (1868 - 1944) stellte 1898 Liesegang-Ringe erstmals kolloidale Metalle in Lösungsmittel mit Hilfe des elektrischen Lichtbogens her (BREDIG, 1898). Richard Zsigmondy (1865 1929) beschäftigte sich ab 1898 mit der kolloidalen Verteilung des Goldes in Wasser. Dabei erkannte er die metallische Natur und die elektrische Ladung dieser Sole. Bei der Untersuchung von Cassiusschem Goldpurpur, welchen er durch Synthese aus kolloidalem Gold und kolloidalem Zinndioxidhydrat (Zinnsäure) herstellte, erkannte R. Zsigmondy die Schutzwirkung hydrophiler Kolloide gegen elektrolytische Koagulation und prägte dafür den Begriff Schutzkolloid. Ab 1918 beschäftigte er sich mit der 49 Ultrafiltration, welche er zur Größenbestimmung kolloidaler Teilchen einsetzte (BENEKE, 1995, 1997c,d) Um 1900 begann eine rasante Entwicklung der Kolloidwissenschaften. Henry Siedentopf (1872 - 1940) und R. Zsigmondy konnten diskrete Teilchen in Goldsolen 1903 mit dem Ultramikroskop durch Ausnutzen des Faraday-Tyndall-Effektes zeigen und bewiesen, daß deren Bewegung schneller war als die von Robert Brown (1773 - 1858) beobachtete (BROWN, 1828; SIEDENTOPF UND ZSIGMONDY, 1903; BENEKE, 1995). Erste Versuche die Brownsche Molekularbewegung quantitativ zu untersuchen machte 1900 Franz Exner (1849 - 1926) (EXNER, 1900). Dazu benutzte er einen Abbe´schen Zeichenapparat und verfolgte mit einer Nadel die BeweRobert Brown gungen, der auf einer berußten Glasplatte in Wasser suspendierten Gummiguttiteilchen. Die erhaltenen Kurven wurden optisch vergrößert und die Längen derselben mit einem Kurvenmesser ermittelt. Danach wurde unter Bezugnahme auf die Vergrößerung die Länge der Kurven auf ihre wirkliche Dimension reduziert und durch die ermittelte Zeit dividiert. Die erhaltenen Werte nannte F. Exner die GeschwindigBrownsche Molekularbewegung keit der Teilchen. Diese Methode war sehr von der Geschicklichkeit des Zeichners abhängig auch gab es gewisse mathematische Schwierigkeiten (SVEDBERG, 1910). Die molekularkinetische Theorie dieser Brownschen Molekularbewegung wurde unabhängig voneinander 1905 von Albert Einstein (1879 - 1955) und 1906 von Marian von Smoluchowski (1872 - 1917) ausgearbeitet (EINSTEIN, 1905, 1906; VON SMOLUCHOWSKI, 1906, 1913, 1914, 1915a,b,c,d; BENEKE, 1997e). Angeregt Marian von Smoluchowski durch die Erfindung des Ultramikroskops begann Jean Perrin (1870 - 1942) 1906 das Verhalten kolloidaler Lösungen zu untersuchen, konnte experimentell die molekularkine- 50 tische Theorie der Brownschen Bewegung bestätigen und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen verifizieren (PERRIN, 1909; KERKER, 1987; BENEKE, 1995) 1903 benutzte J. Perrin erstmals die Bezeichnung lyophile Kolloide (grch.: lyein = lösen, philos = lieb) für kolloidale Systeme, die durch Wechselwirkung mit dem Lösungsmittel stabilisiert wurden und nicht ausflockten. Anorganische kolloidale Substanzen wie die Oxidhydrate des Eisens und des Aluminiums unterschieden sich nicht allzusehr von ihren kristallisierten Formen. Substanzen können offenbar unter geeigneten Bedingungen in den kolloidalen Zustand übergehen und wieder in den nichtkolloidalen Zustand zurückgeführt werden. Das Postulat, Kolloide seien demnach allgemein mögliche Zustände der Materie und nicht spezifische Stoffe, wurde 1906 von Peter Paul (oder Petrovich) von Peter P. von Weimarn Weimarn (1879 - 1935) und unabhängig von ihm 1907 von Wolfgang Ostwald (1883 1943), aufgestellt (OSTWALD, WO., 1907; VON WEIMARN, 1907) Einen Vortrag vor der Russischen Chemischen Gesellschaft am 2. Februar 1906 beendete P. P. von Weimarn mit folgenden Hauptschlüssen (VON WEIMARN, 1906): I. „Durch Vergrößerung des Widerstandes gegen die Kräfte, welche die Teilchen in eine dem Kristall eigene Anordnung zu bringen streben, werden wir einen beliebigen Stoff in kolloidem Zustande erhalten; umgekehrt bei der Schwächung dieses Widerstandes wird sich ein beliebiger Stoff in kristallinischem Zustande ausscheiden". II. „Die kolloide, die amorphe und die Wolfgang Ostwald kristallinische Zustandsform sind für die Materie ebenso allgemein wie die Eigenschaft der Materie in den drei Aggregatzuständen zu existieren allgemein ist; wie die Erhaltung dieser letzteren bei allen Stoffen eines Aufwands von Mühe und Zeit und auch von immer mächtigeren Einwirkungsmitteln auf die Stoffe bedurfte und bedarf, so wird auch die Herstellung sämtlicher fester 51 Stoffe in der kolloiden, amorphen und der kristallinischen Zustandsform von denselben Faktoren bedingt". In seinem Buch schrieb P. P. von Weimarn dazu (VON WEIMARN, 1925): „Aus diesen Hauptschlüssen folgt, daß ich 1906 den Satz (nicht bloß die Vermutung oder den Gedanken) aufgestellt hatte, daß man die Lehre von den Kolloiden nicht als eine Lehre von einer "besonderen Welt" von Stoffen, sondern als eine Lehre von einem nicht weniger allgemeinen Zustand der Materie als die gewöhnlichen Aggregatzustände - gasförmig, flüssig, fest - aufzufassen hat". „Von meinen Zeitgenossen ist nur ein einziger Forscher von meinen Arbeiten in den Jahren 1906-1907 völlig unabhängig im Jahre 1907 zu einer ebenso allgemeinen Auffassung des kolloiden Zustands gekommen und hat eine volle Systematik der dispersen Systeme und der Kolloide, welche man tatsächlich als „natürliche“ Systematik bezeichnen kann, aufgestellt". „Dieser Forscher war Wolfgang Ostwald,...der 1907 einen Artikel „Zur Systematik der Kolloide“ publiziert hat, in dem er mit vollkommender Deutlichkeit vermittels einer höchst allgemeinen Deduktionsmethode zu der Ansicht gelangte, daß der Zustand, welchen man kolloid nennt, kein selbstständiger „vierter" Aggregatzustand der Materie, sondern ein ultramikro- und überultramikroskopischer Zustand der festen und flüssigen Aggregatzustände in flüssigem Medlum ist; ferner hat Wolfgang Ostwald darauf hingewiesen, daß sich auch gasförmige, flüssige und feste Stoffe in festen, flüssigen und gasförmigen Medien theoretisch in einem gleich „dispersen“ Zustand befinden können“. „Wolfgang Ostwalds Systematik kann als Endakt des Streites zwischen den Anhängern der Suspensions- und Lösungshypothesen angesehen werden, denn, wie früher gesagt, war bei diesem Streit die Streitfrage selbst falsch gestellt: die kolloiden Lösungen sind nämlich Zwischensysteme zwischen groben Dispersionen und wahren Lösungen". Dieses Postulat von Peter Paul von Weimarn und Wolfgang Ostwald kann man nachlesen in der 1906 von R. Ditmar, dem Inhaber des technisch-wissenschaftlichen Laboratoriums für Gummi- und Leim-Industrie in Graz, begründeten Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide, (später Kolloid Zeitschrift), die im Verlag von Steinkopff & Springer in Dresden erschien. Wolfgang Ostwald aus Leipzig übernahm zu Beginn des 2. Jahrgangs im Juli 1907 die Herausgabe dieser Zeitschrift und dankt dem bisherigen Herausgeber R. Ditmar, der „infolge von Überhäufung mit anderen Arbeiten seine redaktionelle Tätigkeit niederlegen mußte" (OSTWALD WO., 1907). Ab Band 2, Heft 7 (1908) erscheint vorgenannte Zeitschrift im inzwischen von Georg Springer abgetrennten Verlag von Theodor Steinkopff, Dresden, und erstmals trägt sie den Untertitel Kolloid Zeitschrift, der ab Band 13, 1913, der offizielle Titel wird. 52 Die Kollold Zeitschrift war die erste Fachzeitschrift, welche sich mit Phänomenen und Problemen der Kolloidwissenschaften beschäftigte. Erst 1935 folgte in der UdSSR das Kolloidnyi Zhurnal, 1945 das Journal of Polymer Science, 1946 in den USA das Journal of Colloid Science, heute Journal of Collold and Interface Science. Im Jahre 1947 folgten die Zeitschriften, Biochimica et Biophysica Acta und Die Makromolekulare Chemie. Erst in den (19)80er Jahren erschienen die Zeitschriften Colloids and Surfaces und Langmuir. Der Steinkopff-Verlag, heute in Darmstadt, brachte immer noch die Kolloid Zeitschrift, die sich jetzt Colloid and Polymer Science nannte, heraus und gehört seit dem 1. Januar 1980 zum Springer Verlag Berlin, Heidelberg, New York. Inzwischen erscheint die Colloid and Polymer Science im Springer Verlag in Heidelberg. James William McBain (1882 - 1953) erkannte 1911 die Seifenlösungen als in einem Gleichgewichtszustand vorliegende lyophile Kolloide und fand 1920 bei Natriumpalmitat die Koexistenz von einem klaren, öligen, flüssigen Sol, einem klaren, elastischen Gel und eines opaken (lat.: opacus = schattig, dunkel; abgeleitete Bezeichnung für undurchsichtig, trübe) festen Materials. Literatur BENEKE K (1995) Zur Geschichte der Grenzflächenerscheinungen - mit ausgesuchten Beispielen. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, IV: 1-141. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft (1995). Verlag Reinhard Knof, Kiel BENEKE K (1996) Kurzbiographie über Raphael Eduard Liesegang (01.11.1869 Elberfeld - 13.11.1947 Bad Homburg v. d. Höhe). URL: http://www.uni-kiel.de:8080/anorg/lagaly/group/klaus/d_klaus.htm BENEKE K (1997a) William Bates Hardy (06.04.1864 Erdington/England – 23.01.1934 Cambridge). In: Dispersionen und Emulsionen. Eine Einführung in die Kolloidik feinverteilter Stoffe einschließlich der Tonminerale. Von Gerhard Lagaly, Oliver Schulz, Ralf Zimehl. Mit einem historischen Beitrag über Kolloidwissenschaftler von Klaus Beneke. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1997: 526-527 BENEKE K (1997b) Hans Schulze (1853 Dresden - 24.11.1982 Santiago de Chile). In: Dispersionen und Emulsionen. Eine Einführung in die Kolloidik feinverteilter Stoffe einschließlich der Tonminerale. Von Gerhard Lagaly, Oliver Schulz, Ralf Zimehl. Mit einem historischen Beitrag über Kolloidwissenschaftler von Klaus Beneke. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1997: 533-534 BENEKE K (1997c) Georg Bredig (01.10.1868 Glogau - 24.04.1944 New York). In: Dispersionen und Emulsionen. Eine Einführung in die Kolloidik feinverteilter Stoffe einschließlich der Tonminerale. Von Gerhard Lagaly, Oliver Schulz, Ralf Zimehl. Mit einem historischen Beitrag über Kolloidwissenschaftler von Klaus Beneke. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1997: 520-521 53 BENEKE K (1997d) Richard Zsigmondy (01.04.1865 Wien - 23.09.1929 Göttingen). In: Dispersionen und Emulsionen. Eine Einführung in die Kolloidik feinverteilter Stoffe einschließlich der Tonminerale. Von Gerhard Lagaly, Oliver Schulz, Ralf Zimehl. Mit einem historischen Beitrag über Kolloidwissenschaftler von Klaus Beneke. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1997: 541 BENEKE K (1997e) Marian von Smoluchowski, Ritter von Smolan (28.05.1872 Vorderbrühl bei Wien - 05.09.1917 Krakau). In: Dispersionen und Emulsionen. Eine Einführung in die Kolloidik feinverteilter Stoffe einschließlich der Tonminerale. Von Gerhard Lagaly, Oliver Schulz, Ralf Zimehl. Mit einem historischen Beitrag über Kolloidwissenschaftler von Klaus Beneke. Steinkopff Verlag, Darmstadt, 1997: 534 BENEKE K (2000) Notice biographique de Raphael Eduard Liesegang (Elberfeld, 1er novembre 1869 - Bad Homburg v. d. Höhe, 13 novembre 1947). Ins Französische übersetzt von André Lange. URL: http://histv2.free.fr/cadrede.htm BENEKE K (2001) Der Raphael-Eduard-Liesegang-Preis. In: Die Preise der KolloidGesellschaft, Seite 18-26 URL: http://www.chemie.uni-essen.de/institute/wwwua/kolloidgesellschaft/pictures/preise.pdf BREDIG G (1898) Darstellung kolloidaler Metallösungen durch elektrische Zerstäubung. Angew Chem: 951-954 BROWN R (1828) A brief account of microscopical observations made in the month June, July, and August, 1827, on the particles contained in the pollen of plants; and on the general existance of active molecules in organic and inorganic bodies. Phil Mag 4: 161-173 EINSTEIN A (1905) Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen. Ann Physik 4. Folge 17: 549-560 EINSTEIN A (1906) Zur Theorie der Brownschen Bewegung. Ann Physik 4. Folge 19: 371-372 ELIAS H-G (1985) Große Moleküle. Plaudereien über synthetische und natürliche Polymere. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg (1985): 2-11, 29-36 EXNER F (1900) Ann Physik 4. Folge 2: 843-847 HARDY W B (1900a) On the mechanism of gelation in reversible colloidal systems. Proc Roy Soc [London] 66: 95-109 HARDY W B (1900b) A preliminary investigation of the conditions which determine the stability of irreversible hydrosols. Proc Roy Soc [London] 66: 110-125 KERKER M (1987) Jean Perrin. J Colloid Interf Sci 115: 291-294 LIESEGANG R E (1896) A-Linien. Liesegang´s Photograph Archiv 37 Nr. 801 (1. Nov. 1896): 321-326 LIESEGANG R E (1898) Chemische Reaktionen in Gallerten. Ed. Liesegang Verlag, Düsseldorf, 65 Seiten LIESEGANG R E (1910) Formung von Gelemn durch Kristalle. Kolloid Z 7: 96-98 54 LIESEGANG R E (1911) Die Entwicklungsgeschichte der Achate. Aus der Natur (Heft 16): 561 LIESEGANG R E (1913) Geologische Diffusionen. Theodor Steinkopff Verlag, Dresden und Leipzig, 180 Seiten LIESEGANG R E (1915) Die Achate. Theodor Steinkopff Verlag, Dresden und Leipzig, 122 Seiten NÄGELI C (1928) Die Micellartheorie. Auszüge aus den grundlegenden Originalarbeiten Nägelis. Zusammenfassung und kurze Geschichte der Micellartheorie. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Band 227. A. Frey (Hrsg), Verlag W. Engelmann, Leipzig 143 Seiten OSTWALD WI (1897) Besprechung der Arbeit von Liesegangs „A-Linien“. Z Physikal Chem 23: 356 OSTWALD WO (1907) Zur Systematik der Kolloide. Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 1: 291-300 OSTWALD WO (1907) Geschäftliche Mitteilung. Zeitschrift für die Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 2: 1 PERRIN J (1909) Ann de Chim et Phys 18: 5-114 SCHULZE H (1882) Schwefelarsen in wässriger Lösung. J prakt Chem 25: 431-452 SCHULZE H (1883) Antimontrisulfid in wässriger Lösung. J prakt Chem 27: 320-332 SIEDENTOPF H, ZSIGMONDY R (1903) Über Sichtbarmachung und Größenbestimmung ultramikroskopischer Teilchen, mit besonderer Anwendung auf Goldrubingläser. Ann Physik 4. Folge 10: 1-39 SVEDBERG T (1910) Die Methoden zur Messung der Brown´schen Bewegung. Z für die Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 7: 1-7 VON SMOLUCHOWSKI, M (1906) Zur kinetischen Theorie der Brownschen Molekularbewegung und der Suspensionen. Ann Physik 4. Folge: 21: 756-780 VON SMOLUCHOWSKI, M (1913) Einige Beispiele Brownscher Molekularbewegung unter Einfluß äußerer Kräfte. Bull intern de l´académie des sciences de Cracovie, Math Naturw Klasse A: 418-434 VON SMOLUCHOWSKI, M (1914) Studien zur Molekularstastistik von Emulsionen und deren Zusammenhang mit der Brownschen Bewegung. Sitzungsber der Kaiserl Akad der Wiss Wien, Math Naturw Klasse Abt IIa, Band 123, Dezember 1914: 2381-2405 VON SMOLUCHOWSKI, M (1915a) Über „durchschittliche maximale Abweichungen“ bei Brownschen Molekularbewegung und Brillouins Diffusionsversuche. Sitzungsber der Kaiserl Akad der Wiss Wien, Math Naturw Klasse Abt IIa, Band 124: 263-276 VON SMOLUCHOWSKI, M (1915b) Molekulartheoretische Studien über Umkehr thermodynamisch irreversibler Vorgänge und über Wiederkehr abnormaler Zustände. Sitzungsber der Kaiserl Akad der Wiss Wien, Math Naturw Klasse Abt IIa, Band 124: 330-368 55 SMOLUCHOWSKI, M (1915c) Notiz über die Berechnung der Brownschen Molekularbewegung bei der Ehrenhaft-Millikanschen Versuchanordnung. Physikal Z: 16: 318-321 VON SMOLUCHOWSKI, M (1915d) Über Brownsche Molekularbewegung unter Einwirkung äußerer Kräfte und deren Zusammenhang mit der verallgemeinerten Diffusionsgleichung. Ann Physik 4. Folge 47: 1103-1112 VON WEIMARN P P (1906) Der kolloide Zustand als eine allgemeine Eigenschaft der Materie. Vortrag vor der Russischen Chemischen Gesellschaft am 2. Februar 1906: In: J. Steinkopff (Hrsg), Konzepte der Kolloidchemie. Dr. Dietrich Steinkopff Verlag, Darmstadt: 18-22 VON WEIMARN P P (1907) Zur Lehre von den kolloiden, amorphen und kristallischen Zuständen. Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 2: 76-83 VON WEIMARN P P (1925) Die Allgemeinheit des Kolloidzustandes. Band 1, 2. Auflage. Verlag von Theodor Steinkopff, Dresden und Leipzig: 457-458, 488-494 VON 56 Der 1. Weltkrieg Auszug aus: Klaus Beneke (1996) In: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte Tagungen (mit ausgesuchten Beispielen der Kolloidwissenschaften). Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft, 1996: 45-50 Zu Beginn des Krieges, gingen die Vorlesungen an den Hochschulen zunächst relativ normal weiter, während bald darauf reduzierte Vorlesungen und Übungen abgehalten wurden, da viele Hochschullehrer an der Front bzw. in der Rüstungsindustrie eingesetzt wurden. Im Wintersemester 1912/13 wurde an folgenden deutschsprachigen Hochschulen Vorlesungen und Praktika der Kolloidchemie abgehalten (OSTWALD WO., 1912): Hochschule Dozent Thema Wissenschaftliche Arbeiten auf Universität Berlin L. Michaelis dem Gebiete der physikalischen Biochemie Universität Berlin G. Lockemann Chemie und Biologie TH Berlin J. Traube Die Eigenschaften der Kolloide Universität Breslau J. Meyer Entwicklung der Physik und Chemie in neuerer Zeit Spezielle anorganische Chemie, Universität Erlangen E. Jordis mit besonderer Berücksichtigung der Kolloide Universität Gießen C. Thomae Kolloidchemie und Ultramikroskopie Praktikum der anorgani-schen Universität Göttingen R. Zsigmondy und der Kolloidchemie TH Hannover G. Keppeler Die Tonindustrie. Keramisches Praktikum Universität Heidelberg E. Rohde Physikalische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pharmakologie Universität Kiel H. Schade Anleitung zu physikochemischen Arbeiten für Mediziner Universität Leipzig Wo. Ostwald Experimentelle Kolloidchemie 57 Universität München K. Meyer Kolloidchemie Universität Prag V. Rothmund Kolloide Lösungen TH Stuttgart P. Rohland Technologie der Mörtelmaterialien Universität Wien E. Pribram Physikalisch- chemische Grundlagen der Immunitätslehre und Serumtherapie Universität Wien Wo. Pauli, sen. Die Biokolloidchemie und ihre Anwendung Universität Wien K. Przibram Physik des Nebels Universität Wien E. Dittler Repitorium der Physikalischchemischen Mineralogie Universität Wien V. Grafe Die chemischen und chemischphysikalischen Grundbegriffe der Biochemie Universität Wien K. Przibram Allgemeine Eigenschaften der lebenden Substanz Im Vergleich dazu das Sommersemester 1914. Dabei wurden an folgenden deutschsprachigen Hochschulen Vorlesungen und Praktika der Kolloidchemie abgehalten (OSTWALD WO, 1914): Hochschule Dozent Thema TH Berlin O. Hauser Chemie der Kolloide mit ultramikroskopischen Übungen TH Dresden A. Lottermoser Experimentalchemie der Kolloide Universität Erlangen E. Jordis Spezielle anorganische Chemie und Kolloidchemie Universität Gießen C. Thomae Kolloidchemie und Ultramikroskopie Universität Göttingen R. Zsigmondy Kolloidchemie; Praktikum der anorganischen- und Kolloidchemie Universität Jena H. Ambronn Übungen zur Dunkelfeldbeleuchtung und Ultramikroskopie Universität Leipzig Wo. Ostwald Einführung in die Kolloidchemie Universität Prag L. Wagner Die Struktur der Materie Universität Wien Wo. Pauli, sen. Einführung in die physikalische Chemie und Methodik für Mediziner 58 Raphael Eduard Liesegang (1869 - 1947) leitete während des 1. Weltkrieges die Narkotikaabteilung des Sanitätsdepots in Frankfurt. Die Vorräte an Kautschuk gingen zur Neige, und so machte er viele Versuche, um Leukoplast ohne Kautschuk herzustellen. Daher trug er gewöhnlich bis zu 80 verschiedene Pflaster an seinem Körper, um sie miteinander zu vergleichen (LIESEGANG, 1919a,b,c). Ein dunkles Kapitel der Kolloidwissenschaften waren die Giftgaseinsätze der Deutschen Armee während des Ersten Weltkrieges. In den ersten Monaten nach Beginn des Krieges führte das KaiserWilhelm-Institut (KWI) für physikalische und Elektrochemie in Berlin Dahlem Untersuchungen auf dem Gebiet der Kampfstoffe durch. Fritz Haber (1868 - 1934), der Direktor dieses Instituts, hatte persönlich der obersten Heeresleitung den Einsatz von Giftgasen vorgeschlagen. Ab Februar 1916 arbeitete das KWI für physikalische und Elektrochemie nur noch für die Heeresverwaltung, welche für alle Kosten aufkam. So arbeiteten gegen Ende des Ersten Weltkrieges 150 akademisch Fritz Haber gebildete, auf Widerruf beamtete Mitarbeiter, rund 1 300 Unteroffiziere, Soldaten, Arbeiterinnen, Arbeiter sowie Hilfkräfte in dem in neun Abteilungen gegliederten Institut. Fritz Habers Leitspruch zu jener Zeit lautete: „Im Frieden für die Wissenschaft, im Krieg fürs Vaterland“ (VON LEITNER, 1993; BENEKE, 1994; STOLZENBERG, 1994; SZÖLLÖSI-JANZE, 1998). Erst wurde Chlor, am 15. Dezember 1915 erstmals Phosgen (Grünkreuz, COCl2) von den Deutschen bei Ypern (Belgien) gegen die französischen Truppen eingesetzt. Phosgen ist ein sehr gefährliches Atemgift, das selbst in geringsten Konzentrationen tödlich wirkt. Die tödliche Dosis wird durch Geruch nicht bemerkt. Die ersten Symptome zeigen sich in Atemnot, Husten und Tränenreiz. Der Tod tritt durch ein Lungenödem und durch Herzstillstand ein. Hierbei tritt Blutflüssigkeit in die Lungen. Der Tod kann auch noch viele Stunden nach dem Einatmen des Gases eintreten. Es folgte noch der Einsatz von Senfgas (Gelbkreuz, 2, 2´ Dichlordiethylsulfid; andere Trivialnamen: Gelbkreuz, Lost, Yperit, HD, Mustard). Senfgas ist ein Zellgift welches durch Kleider, Leder usw. in die Haut eindringt und die Zellen zum Absterben bringt. Auch die Briten und Franzosen setzten später Giftgase ein. 59 Um Giftgase einsetzen zu können, mußten die eigenen Truppen mit entsprechenden Gasschutzmasken ausgerüstet werden. Diese wurden in der Abteilung F des KW-Institutes unter der Leitung von Herbert Max Finlay Freundlich (1880 - 1941) entwickelt, wobei Richard Willstätter (1872 - 1942) an der Erforschung eines Füllstoffes beteiligt war. Carl Duisberg (1861 - 1935), Generaldirektor der Bayer AG, war nicht nur maßgebend an der Erprobung von Phosgen für den Giftgaseinsatz beteiligt, gleichzeitig setzte er sich stark für die Herstellung von Gasmaskeneinsätzen ein (BENEKE, 1994; STOLZENBERG, 1994, SZÖLLÖSI-JANZE, 1998). Auch dazu fehlte, wie vorher bei R. E. Liesegang beschrieben, infolge Rohstoffmangel der benötigte Kautschuk. Methylkautschuk, der Herbert Max Finlay Freundlich bei den Farbenfabriken Bayer entwickelt worden war, alterte zu schnell und wurde porös. Daher wurde Schafsleder vom Balkan mit Mineralölen imprägniert, was aber sehr sorgfältig durchgeführt werden mußte, um Dichtigkeit zu erreichen. Bei der Auergesellschaft wurde zur Glühlampenherstellung das Prinzip des Einschraubens der Lampe in eine Fassung verwendet. Diese vorhandenen Maschinen wurden für die Fabrikation der Filtereinsätze für Gasschutzmasken aus Weißblech auf die entsprechende Dimensionen umgestellt. Der Inhalt des Filters bestand in Deutschland aus trockenen Adsorbentien, während in England und Frankreich erst mit adsorbierenden Flüssigkeiten gearbeitet wurde, später aber auf das in Deutschland angewandte Prinzip umgestellt. Richard Willstätter Als erstes wurde eine Einschichtpatrone als Atemfilter benutzt; als Adsorbens benutzte man zunächst Diatomit, welches man durch Brennen von Holz bzw. Kork und Diatomeenschalen herstellte und damals als Wärmeisolierung verwandte. Danach kam Bimskies zum Einsatz, welchen man in der 60 vulkanischen Eifel in der Nähe von Neuwied fand. Man tränkte die eingesetzten Stoffe mit Pottasche zur Adsorption des Chlors. Danach wurde aus Holzkohle hergestelltes Kohlepulver auf den Bimsstein aufgebracht. Dieses sollte gegen Reizstoffe, wie Bromaceton und Xylylbromid, schützen (STOLZENBERG, 1994). Das folgende, verbesserte Atemfilter war eine ebenfalls von R. Willstätter eingeführte Dreischichtpatrone. Die erste Schicht bestand aus demselben Material, welches schon beim Einschichten-Chlorfilter verwandt wurde. Die zweite Schicht setzte sich aus gekörnter Aktivkohle zusammen, die in den Chemischen Werken in Aussig nach einem neuen Gasschutzmaske mit Behälter (1916-1918) Verfahren hergestellt wurde. In der dritten Schicht befanden sich Bimskies oder Diatomit, welche mit Hexamethylentetramin (Urotropin) und Diethylendiamin (Piperazin) getränkt waren. Letzteres sollte das aus dem Urotropin entstehende Formaldehyd adsorbieren (STOLZENBERG, 1994). Das größte Problem waren die Verzögerungen bei der Herstellung der Gasschutzmasken mit Filter. Die Filter mußten geprüft werden, um eine unbehinderte Atmung zu gewährleisten. Da dies von den Firmen nicht gewährleistet werden konnte, wurde die Prüfung am Kaiser-Wilhem-Institut in Berlin-Dahlem durchgeführt. Außer für Menschen wurden auch Gasschutzmasken für Pferde hergestellt, da diese im Ersten Weltkrieg noch häufig eingesetzt wurden. Während des Ersten Weltkrieges wurden im Leverkusener Werk 30 Millionen Gasschutzmaskeneinsätze hergestellt (BENEKE, 1994; STOLZENBERG, 1994). In der Zeit von 1915 bis 1918 wurden insgesamt 125 000 Tonnen Kampfstoffe eingesetzt, durch die 100 000 Menschen starben und 1.2 Millionen verletzt wurden (TELTSCHIK, 1992; BENEKE, 1994; STOLZENBERG, 1994). Am Ersten Weltkrieg waren über 65 Millionen Soldaten beteiligt. Es gab 8.5 Millionen Gefallene, 21 Millionen Verwundete und 7.8 Millionen Kriegsgefangene bzw. Vermißte. Der Waffenstillstand fand am 11. November 1918 im Wald von Compiènge statt. Im Friedensvertag von Versailles am 26. Juni 1919 wurden dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten die Alleinschuld des Krieges aufgebürdet. Hierauf beruhten die Ansprüche auf Reparationszahlungen, welche an die ehemaligen Gegner bezahlt werden mußten. Schon während des Ersten Weltkrieges kam es in vielen kriegsführenden Staaten, auch in Deutschland, zu gewaltigen Inflationen. Nach dem Ende des Krieges hatten viele Bürger ihren Besitz und ihr Kapital verloren. Die Geldentwertung nahm 61 rapide zu, und im November 1923 waren 1 Billion Papiermark auf den Wert einer Goldmark gefallen. In dieser menschlich und wirtschaftlich schweren Zeit, in der Deutschland noch gemieden wurde, aber in der Wissenschaft schon erste Kontakte mit dem Ausland geknüpft bzw. wieder aufgenommen worden waren, erschien im Juni 1922 in der Kolloid Zeitschrift der erste Aufruf zur Gründung einer „Kolloidchemischen 62 Gesellschaft“ und ein Beitrag von Wolfgang Ostwald „Wozu gründert man eine Gesellschaft“ (NN, 1922; OSTWALD WO., 1922). Die Gründung der Kolloid-Gesellschaft erfolgte schließlich am 15. September 1922 im überfüllten Großen Hörsaal des Physikalisch-chemischen Instituts der Universität Leipzig. Als erster Vorsitzender wurde der Herausgeber der Kolloid Zeitschrift Wolfgang Ostwald (1882 - 1942) gewählt, ein Amt das er bis zu seinem Tode inne hatte (BENEKE, 2001a,b,c). Die Kolloid-Gesellschaft feiert dieses Jahr ihr 80 jähriges Bestehen. Um mehr über die Kolloid-Gesellschaft, deren Tagungen, Preise und andere Hintergründe zu erfahren, siehe auf der Internet Seite der Kolloid-Gesellschaft unter: http://www.kolloidgesellschaft.de/ Literatur BENEKE K (1994) Hermann Staudinger - die Kritik am Gaskrieg im Ersten Weltkrieg und seine späteren Schwierigkeiten. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, II, 1-28. Mitteilungen der Kolloid-Gesellschaft (1994). BENEKE K (2001a) Wolfgang Ostwald - Mentor und Förderer der Kolloidwissenschaften. Unter: http://www.chemie.uni-essen.de/institute/wwwua/kolloidgesellschaft/pictures/ostwald3.pdf BENEKE K (2001b) Die Preise der Kolloid-Gesellschaft und ihre Preisträger. Unter: http://www.chemie.uni-essen.de/institute/wwwua/kolloidgesellschaft/pictures/preise.pdf BENEKE K (2001C) Die Tagungen der Kolloid-Gesellschaft. Unter: http://www.chemie.uni-essen.de/institute/wwwua/kolloidgesellschaft/pictures/preise.pdf LIESEGANG R E (1919a) Das Ankleben leukoplastähnlicher Pflaster an der Rückseite. Pharm Zentralhalle 60: 227-229 LIESEGANG R E (1919b) Die Herstellung einiger kautschukfreier Heftpflaster. Pharm Zentralhalle 60: 385-388 LIESEGANG R E (1919c) Die Toxidermie durch einige kautschukfreie Pflaster. Dermatol Wschr 68: 275-280 NN (1922) Aufruf von 46 Unterzeichnern zur Gründung einer „Kolloidchemischen Gesellschaft“. Kolloid Z 30: 353 OSTWALD WO (1912) Notizen. Vorlesungen über Kolloidchemie. Wintersemester 1912/13. Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 11: 208 OSTWALD WO (1912) Notizen. Vorlesungen über Kolloidchemie. Sommersemester 1914. Zeitschrift für Chemie und Industrie der Kolloide (Kolloid Z) 14: 280 OSTWALD WO (1922) Wozu gründet man eine Gesellschaft? Kolloid Z 30: 353-356 63 SZÖLLÖSI-JANZE M (1998) Fritz Haber 1868 - 1934. Eine Biographie. Verlag C H Beck, München STOLZENBERG D (1994) Fritz Haber, Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher Jude. Eine Biographie. VCH, Weinheim TELTSCHIK W (1992) Geschichte der deutschen Großindustrie. Entwicklung und Einfluß in Staat und Gesellschaft. VCH, Weinheim VON LEITNER G (1993) Der Fall Clara Immerwahr: Leben für eine humane Wissenschaft. C. H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung, München 64